Lebendige Religionspädagogik: Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie im Religionsunterricht 9783495817971, 9783495487976


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion
1.1. Vier Konzentrationslager und der letzte Segen der Mutter
1.2. Ablehnung jeder Kollektivschuld
1.3. Suizidprävention für Wiens Schülerinnen und Schüler
1.4. Der junge Arzt Viktor Frankl am Otto-Wagner-Spital ›Am Steinhof‹
1.5. Praktiziertes Judentum
1.6. Synchronisation in Birkenwald
2. Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht
2.1. Die »kopernikanische Wendung«
2.2. Menschenbild – Dimensionalontologie
2.3. Charakter – Person – Persönlichkeit
2.3.1. Charakter
2.3.2. Person
2.3.3. Persönlichkeit
2.4. Werte und Wertfühlen – Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn
2.5. Die tragische Trias
2.6. Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung
2.7. Gewissen
3. Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie
3.1. Jugendzeit – Krieg
3.2. Beginn der akademischen Laufbahn
3.3. Universität in Montpellier
3.4. Wissen, was ich wirklich war
3.5. ›Heimliche‹ Biografie
4. Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht
4.1. Umsturz in der Phänomenologie
4.2. Der Begriff ›Leben‹
4.3. Passivität und Passibilität bzw. Ur-Passibilität
4.4. Inkarnation
4.5. Körper – Leib – Fleisch
4.5.1. Körper
4.5.2. Leib – Leiblichkeit
4.5.3. Fleisch
4.6. Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei
5. Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht: Kompatibilität zweier unterschiedlicher Zugänge zum ›Phänomen Mensch‹ durch einen radikalen Perspektivenwechsel
5.1. Radikaler Perspektivenwechsel
5.2. Dynamik und Unberechenbarkeit des (Religions-) Unterrichts
5.2.1. Dynamik
5.2.2. Unberechenbarkeit
5.3. Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle
5.3.1. Leid und Freude in der Lebensphänomenologie
5.3.2. Leid und Freude in der Existenzanalyse
5.3.3. Perspektive: Religionsunterricht
5.4. Ein absolutes NEIN zu jeglicher Objektivierung des Menschen
5.5. Abschied vom Ursächlichkeitsdenken
5.6. Die Problematik unserer Vorstellungen
5.7. Leiblichkeit
5.7.1. Sexualität
5.7.2. Sport
5.7.3. Leiblichkeit und Gewalt
5.7.4. Implizite Leiblichkeit
5.7.5. Caro cardo salutis
5.8. Wenn das Leben nicht mehr fragt
5.8.1. Selbstverneinung – Das Leben kehrt sich gegen sich selbst
5.8.2. Leben ohne Warum – Das Leben als absoluter Selbstwert
5.9. Pädagogik
5.9.1. Existenzielle Pädagogik – personale Pädagogik
Pädagogische Hochschule Kärnten
Eva Maria Waibel
Günter Funke
Jugendhilfeeinrichtung Elisabethstift
5.9.2. Pädagogik bei Michel Henry
5.9.3. Personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik
5.9.3.1. Ausgangspunkt: Die ›Person‹
5.9.3.2. Existenzielle Dimensionen
5.9.3.3. Kontrapunkt: lebensphänomenologische Radikalität
6. Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer: Unterrichten im ›Flow‹
6.1. Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹&ga;?
6.1.1. Die Haltung geistigen Schauens
6.1.2. Vor-Fühlen und Nach-Denken
6.1.3. Die Falle der Feststellung ›So ist es!‹
6.2. Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung
6.3. Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht
6.3.1. Offenheit und Verweilen in der Hingabe
6.3.2. Der Mut, Bekanntes hinter sich zu lassen und sich vom Anderen ›gefangen nehmen‹ zu lassen
6.3.3. Das Vertrauen, dass das, was sich zwischen uns zeigt, uns auch trennt
6.3.4. Zeit, Geduld und Demut
6.3.5. Existenzielle Anamnese
6.3.6. Der lebensphänomenologische Blick
6.4. Persönlichkeitsbildung – ein Berufsleben lang
Ausklang
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Internet-Quellen
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Lebendige Religionspädagogik: Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie im Religionsunterricht
 9783495817971, 9783495487976

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Seele, Existenz und Leben Band 26

Joachim Hawel

Lebendige Religionspädagogik Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817971

.

B

Joachim Hawel

Lebendige Religionspädagogik Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Dieser Band beschäftigt sich mit der Bedeutung der Existenzanalyse von Viktor Frankl und der Lebensphänomenologie von Michel Henry in Hinblick auf ihre Relevanz für christliche Religionspädagogik. Die Anthropologien dieser beiden Richtungen, die zum Teil stark divergieren, und deren zentrale Erkenntnisse über die Fragen nach dem Leben bieten eine Fülle von Möglichkeiten, durch die sich im Religionsunterricht zeitgemäße Zugänge eröffnen können. Von der Erarbeitung einer existenziell-lebensphänomenologisch-personalen Pädagogik kommt Hawel schließlich zur Frage, welche Grundzüge eine phänomenologische Haltung bei ReligionslehrerInnen den SchülerInnen gegenüber auszeichnen.

Der Autor: Joachim Hawel (geb. 1956), 25 Jahre Religions- und Deutschlehrer an verschiedenen Schulen in Innsbruck, seit 2008 Hochschullehrer an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Edith Stein in Innsbruck und Stams mit Lehrtätigkeit in der Ausbildung bzw. in der Fort- und Weiterbildung von ReligionslehrerInnen.

https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Seele, Existenz und Leben Band 26:

Joachim Hawel

Lebendige Religionspädagogik Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Seele, Existenz und Leben Herausgegeben von Günter Funke und Rolf Kühn in Zusammenarbeit mit dem Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin (www.guenterfunkeberlin.de) sowie dem Forschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br. (www.lebensphaenomenologie.de)

VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48797-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81797-1

https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.

2. 2.1. 2.2. 2.3.

2.4. 2.5. 2.6. 2.7.

Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier Konzentrationslager und der letzte Segen der Mutter . Ablehnung jeder Kollektivschuld . . . . . . . . . . . . . Suizidprävention für Wiens Schülerinnen und Schüler . . . Der junge Arzt Viktor Frankl am Otto-Wagner-Spital ›Am Steinhof‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktiziertes Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchronisation in Birkenwald . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »kopernikanische Wendung« . . . . . . . . . . . . Menschenbild – Dimensionalontologie . . . . . . . . . Charakter – Person – Persönlichkeit . . . . . . . . . . 2.3.1. Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werte und Wertfühlen – Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn . . . . . . . . Die tragische Trias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung . . . . . . . Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 21 23 26 27 30

. . . . . . .

37 37 41 49 50 51 53

. . . .

54 58 65 74

5 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Inhalt

3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie Jugendzeit – Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . Beginn der akademischen Laufbahn . . . . . . . . . Universität in Montpellier . . . . . . . . . . . . . . Wissen, was ich wirklich war . . . . . . . . . . . . ›Heimliche‹ Biografie . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

80 82 85 87 93 97

4.

Ausgewählte Themen der Radikalen Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht Umsturz in der Phänomenologie . . . . . . . . . . . Der Begriff ›Leben‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Passivität und Passibilität bzw. Ur-Passibilität . . . . . Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körper – Leib – Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1. Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2. Leib – Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3. Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

98 98 102 105 108 112 113 115 118 120

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.

4.6.

5.

5.1. 5.2.

5.3.

5.4. 5.5. 5.6.

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht: Kompatibilität zweier unterschiedlicher Zugänge zum ›Phänomen Mensch‹ durch einen radikalen Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . Radikaler Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . Dynamik und Unberechenbarkeit des (Religions-)Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Unberechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle . . . 5.3.1. Leid und Freude in der Lebensphänomenologie . 5.3.2. Leid und Freude in der Existenzanalyse . . . . . 5.3.3. Perspektive: Religionsunterricht . . . . . . . . . Ein absolutes NEIN zu jeglicher Objektivierung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied vom Ursächlichkeitsdenken . . . . . . . . . . Die Problematik unserer Vorstellungen . . . . . . . . .

6 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

. 127 . 127 . . . . . . .

130 130 133 135 137 141 144

. 145 . 150 . 154

Inhalt

5.7. Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1. Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2. Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.3. Leiblichkeit und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . 5.7.4. Implizite Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.5. Caro cardo salutis . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8. Wenn das Leben nicht mehr fragt . . . . . . . . . . . . . 5.8.1. Selbstverneinung – Das Leben kehrt sich gegen sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.2. Leben ohne Warum – Das Leben als absoluter Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9. Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.1. Existenzielle Pädagogik – personale Pädagogik . . . 5.9.2. Pädagogik bei Michel Henry . . . . . . . . . . . . 5.9.3. Personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.3.1. Ausgangspunkt: Die ›Person‹ . . . . . . . . . . 5.9.3.2. Existenzielle Dimensionen . . . . . . . . . . . 5.9.3.3. Kontrapunkt: lebensphänomenologische Radikalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer: Unterrichten im ›Flow‹ . . . . 6.1. Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹ ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1. Die Haltung geistigen Schauens . . . . . . . . . 6.1.2. Vor-Fühlen und Nach-Denken . . . . . . . . . 6.1.3. Die Falle der Feststellung ›So ist es!‹ . . . . . . . 6.2. Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung . 6.3. Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1. Offenheit und Verweilen in der Hingabe . . . . 6.3.2. Der Mut, Bekanntes hinter sich zu lassen und sich vom Anderen ›gefangen nehmen‹ zu lassen . . . 6.3.3. Das Vertrauen, dass das, was sich zwischen uns zeigt, uns auch trennt . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4. Zeit, Geduld und Demut . . . . . . . . . . . . . 6.3.5. Existenzielle Anamnese . . . . . . . . . . . . . 6.3.6. Der lebensphänomenologische Blick . . . . . . .

159 161 166 167 170 173 174 178 181 187 194 200 207 210 213 215

6.

. 221 . . . . .

223 225 227 228 231

. 240 . 241 . 243 . . . .

246 248 250 251 7

https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Inhalt

6.4. Persönlichkeitsbildung – ein Berufsleben lang . . . . . . .

253

Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

8 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Vorwort

Mit diesem Band »Lebendige Religionspädagogik« betreten wir in der Reihe »Seele, Existenz und Leben« sozusagen Neuland, denn die Pädagogik war bisher nur am Rande in Einzelbeiträgen vertreten. Eine Pädagogik, gegründet oder wesentlich mitbestimmt von Existenzanalyse und Lebensphänomenologie ist bisher eine Randbemerkung. Das ist erstaunlich, denn die öffentliche Debatte um Schule – Bildung – Pädagogik ist heftig und führt von Reform zu Reform. Pisa, Vergleichstest, Effizienzstudien, all das ist wichtig. Wenn jedoch dies die einzig gültige Weise des pädagogischen Arbeitens ist, wird sich das Fehlen der Grundlagen immer deutlicher in auftretenden Problemen des schulischen Alltags zeigen, wie nicht zu übersehen ist. Denn Themen wie z. B. Person-Sein – Sinnfindung – Lebensaffektion besitzen kein ausreichendes Gewicht in der schulisch-pädagogischen Debatte. Es ist mir deshalb eine große Freude, dass mit diesem Band andere Wege und ergänzende Möglichkeiten der pädagogischen Arbeit aufgezeigt werden. Nicht ein neues Verhalten soll antrainiert werden. Das Erwerben einer »phänomenologisch-pädagogischen Haltung« wird in seiner enormen Bedeutung für die pädagogische Arbeit – neben Didaktik und Rahmenplan – mit Recht angemahnt. Dieses Erwerben kann nur durch Übung gelingen, und all dieses Üben benötigt einen tragenden Grund, der stets aufzuspüren ist in der eigenen Lebendigkeit, die sich immer mit anderen Lebendigen lebenssteigernd verbinden will. Die Pädagogik kann ein wunderbarer Ort für diese Lebenssteigerung sein, wenn bedacht wird, dass das Leben selbst die Quelle aller Bildung ist. Wir als Herausgeber sind Joachim Hawel sehr dankbar, dass er diesen Weg aufzeigt, dass er Viktor E. Frankl und Michel Henry zusammen bringt, im Hintergrund immer begleitet von seiner täglichen Erfahrung in Schule und Hochschule, und vor allem von seiner großen Liebe zur Musik und deren profunden Kenntnis. Günter Funke 9 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Einleitung

Die religionspädagogischen Überlegungen dieses Bandes aus der Reihe »Seele, Existenz und Leben« sind hervorgegangen aus meiner langjährigen Erfahrung und Gewissheit, dass die Existenzanalyse von Viktor Frankl und die Radikale Lebensphänomenologie von Michel Henry eine unschätzbare Bereicherung für den Religionsunterricht sind. Die beiden Denkansätze können einen wichtigen Beitrag zum ›Gelingen‹ des Religionsunterrichts leisten, wobei berücksichtigt werden muss, dass es kein eindeutiges Kriterium für dieses Gelingen gibt, da jede Lehrerin bzw. jeder Lehrer etwas anderes als gelungen empfindet. Ebenso betrifft die radikale Subjektivität des Empfindens jede Schülerin bzw. jeden Schüler, ob eine Schulstunde als gelungen bezeichnet werden kann. Grenzen zwischen evangelischer und katholischer Religionspädagogik werden hier bewusst nicht scharf bzw. überhaupt nicht gezogen, da einerseits die Religionspädagogik beider Konfessionen mit ähnlichen zeitgeschichtlichen Problemen zu kämpfen hat und andererseits die existenziellen Dimensionen von Religionsunterricht keine konfessionellen Unterschiede kennen. Daher fallen in diesem Band etwaige Differenzierungen innerhalb des Christentums weg – der Text ist auch ein Plädoyer für (moderne) christliche Religionspädagogik und für (zeitgemäßen) Religionsunterricht. Meine ›Beheimatung‹ innerhalb der katholischen Theologie soll selbstverständlich transparent sein, nicht zuletzt um jegliche ›Vereinnahmung‹ anderer Positionen auszuschließen. Es ist meine Überzeugung, dass das ›Fach‹ Religion in der Schule, vor allem auch in der öffentlichen Schule, nicht nur eine ›Daseinsberechtigung‹ oder einen guten ›Platz‹ hat, sondern dass Religion im schulischen Konzert für unsere Welt unverzichtbar ist: der Verlust des Religiösen in der Schule wäre ein Verlust für die gesamte Pädagogik. Diese zunächst als Behauptung oder als These formulierte Überzeugung erfährt in diesem Band eine Fülle von Argumenten, an 11 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Einleitung

denen erkennbar ist, welche Form von Begleitung junger Menschen schwerpunktmäßig in Religion besonders gut aufgehoben, manchmal vielleicht sogar nur dort so möglich ist. Auf zwei verschiedene Blickwinkel sei zu Beginn hingewiesen, die sich wie ein roter Faden durch diesen Band ziehen. Zum einen ist es die Bedeutung der Person der Lehrerin bzw. des Lehrers. Niemand ist als Person ersetz- oder austauschbar, das Unterrichtsgeschehen hängt wesentlich von der ›Eigenart‹ bzw. von der Authentizität der Lehrenden ab, die ›lebenslange‹ Weiter- und Persönlichkeitsbildung erweist sich als eine selbstverständliche Selbstverpflichtung. Daher fließt in diesen Band auch viel Biografisches aus 25 Jahren Religionsunterricht an diversen Schulen in Innsbruck ein. Das Nachdenken über Unterrichtsprozesse kann gar nicht von der eigenen Person absehen und will auch nicht die eigene Person zurücknehmen. Das Verfassen des letzten Kapitels über die ›phänomenologische Haltung‹ wäre ohne eigene Erfahrungen und ohne eine fundierte Reflexion dieser Erfahrungen nicht möglich. Zum anderen möchte ich exemplarisch kurz skizzieren, wie sich der ›Ort‹ der Schülerinnen und Schüler speziell im (katholischen) Religionsunterricht in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten gewandelt hat. In den meisten Lehrplänen (in Österreich) wird spätestens seit dem Jahr 2000 betont, dass jeder Schüler bzw. jede Schülerin Subjekt im Unterricht ist, dessen bzw. deren Anliegen, Nöte und Sehnsüchte die Arbeitsweisen im Unterricht mit-prägen müssen. Und sehr prägnant wird inzwischen in allen Lehrplänen formuliert: »In der Mitte des Religionsunterrichts stehen die Schülerinnen und Schüler, ihr Leben und ihr Glaube. Daher sind Inhalt des Religionsunterrichts sowohl das menschliche Leben als auch der christliche Glaube, wie er sich im Lauf der Geschichte entfaltet hat und in den christlichen Gemeinden gelebt wird. Lebens-, Glauben- und Welterfahrungen der Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer werden dabei aus der Perspektive des christlichen Glaubens reflektiert und gedeutet. Dieser Glaube hat in Jesus Christus seine Mitte.« 1

Die Akzentverschiebung im Vergleich zu früheren Lehrplänen ist deutlich: Die Schülerinnen und Schüler stehen in der Mitte, sie sind nicht (mehr) ›Objekt‹ oder ein ›Ausgangspunkt‹ im Religionsunterricht, von dem aus sie zu einem Ziel geführt werden müssten. Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht an Berufsbildenden Höheren Schulen. Approbiert von der österreichischen Bischofskonferenz im Juni 2003. S. 2.

1

12 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Einleitung

Ebenso werden die Lebens- und Glaubens-Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer in den Unterrichtsprozess hineingenommen bzw. mitgedacht, die immer auf Augenhöhe mit den SchülerInnen stehen: Existenziell gibt es kein Gefälle zwischen LehrerIn und SchülerIn, was nicht verwechselt werden darf mit der ›Aufgabenverteilung‹ in der Schule, wo die Lehrenden selbstverständlich in ›hierarchischer Unterscheidung‹ zu den Studierenden stehen: Diese Unterscheidung darf nicht verwischt oder verschleiert werden. Sowohl die Existenzanalyse als auch die Radikale Lebensphänomenologie weisen auf die Problematik hin, dass wir Menschen dazu neigen, uns Vorstellungen ›von etwas‹ oder ›von jemandem‹ zu machen. Diverse Vorstellungen vom Unterrichtsgeschehen bzw. vom Erreichen bestimmter Unterrichtsziele in Bezug auf existenzielle Fragen und Themen bergen die Gefahr in sich, von einer pädagogischen Machbarkeit auszugehen und so den SchülerInnen als Person bzw. in ihrer Ipseität nicht gerecht zu werden. In mehreren Abschnitten dieses Bandes wird auf die unvermeidbare Spannung hingewiesen, die zwischen einer guten Unterrichtsplanung bzw. -vorbereitung und dieser Nicht-Machbarkeit liegt. Diese Spannung wird sich nie wirklich auflösen lassen, eine gewisse Ent-Spannung könnte dadurch ermöglicht werden, dass in der Schule ein ›gutes‹ Umgehen mit dem Scheitern und eine Kultur des Fehlermachens ›zugelassen‹ und dann auch ›eingeübt‹ werden. Da das Scheitern zum Menschen gehört, gehört der Umgang damit ›kultiviert‹, damit der Mensch, der in irgendeiner Hinsicht scheitert, nicht seine Würde vor den anderen Menschen und vor sich selbst verliert. Der Sport bietet oft solche negativen Beispiele, wenn die Grenze zwischen Sieg und Niederlage das Kippen von ›Lob in höchsten Tönen‹ zu ›nichts mehr wert sein‹ bedeutet. Ein guter Umgang mit dem Scheitern geht davon aus, dass ›nur‹ unsere ›Vorstellungen von etwas‹ scheitern, nicht wir selbst in unserer Lebendigkeit und im Leben selbst. Das Leben selbst kann nicht scheitern. An vielen Schulen, sowohl in Deutschland als auch in Österreich, bemüht man sich im Sinne einer modernen Pädagogik zunehmend mehr um eine Kultur, in der das Fehlermachen bzw. das Scheitern nicht (mehr) als Unglücksfall gesehen werden, den man vermeiden hätte können, sondern als zum menschlichen Leben notwendig dazugehörend. Es wäre wünschenswert, dass eine solche Schulkultur sich nicht auf ›besondere‹ Schulen oder auf Schulver13 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Einleitung

suche beschränkt, sondern zum pädagogischen Standard für alle Schulen wird. Aus den Ansätzen von Viktor Frankl und Michel Henry lässt sich schließlich eine ›personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik‹ entwickeln, die im Verlauf dieses Bandes entfaltet wird. Sie will in mehrfacher Weise eine ›lebendige‹ Pädagogik bzw. Religionspädagogik sein: Zum einen ist sie kein (geschlossenes) System, sondern zielt auf eine phänomenologische Haltung beim Unterrichten. Zum anderen muss sie von jeder Lehrerin bzw. von jedem Lehrer je neu ›zum Leben erweckt‹ werden – in größtmöglicher Authentizität und in radikaler Subjektivität. Schließlich birgt diese Pädagogik den Lebens-Begriff sowohl der Existenzanalyse als auch der Radikalen Lebensphänomenologie und will Türen und Perspektiven öffnen, die sich unserer Vorstellungen entziehen. Den verschiedenen Denkansätzen, auf die sich diese Arbeit bezieht, liegen unterschiedliche anthropologische Grundvoraussetzungen zugrunde und somit auch unterschiedliche methodische Zugänge und unterschiedliche Begrifflichkeiten. Manche Aspekte des Menschenbildes des einen Autors können mit wesentlichen Aspekten des Menschenbildes des anderen Autors nur schwer in Verbindung gebracht werden, zum Teil widersprechen sie einander sogar. Ich werde diese Unterschiede aus Gründen, die sich zum Großteil aus der Dynamik des Religionsunterrichts heraus verstehen lassen, benennen und nebeneinander stehen lassen. Es wäre nicht zielführend, einen für den Religionsunterricht wertvollen Ansatz deshalb zu vernachlässigen, weil ein anderer Autor dem widerspricht. Mein Bezugspunkt ist stets der Religionsunterricht, den ich im Lichte einer ›personal-lebensphänomenologisch-existenziellen Pädagogik‹ betrachte.

14 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

1. Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

In der Biografie von Viktor Frankl finden sich zahlreiche Belege, die eine besondere Aufmerksamkeit auf Religion hin eröffnen. Er, der im jüdischen Glauben aufgewachsen und erzogen war, trug seine Religiosität einerseits niemals öffentlich zur Schau, andererseits versteckte er sie nicht, wenn es darum ging, etwas Wesentliches zu sagen. Einige seiner Schriften weisen im Titel dezidiert einen Religionsbezug auf, vor allem das Buch ›Ärztliche Seelsorge‹ aus dem Jahr 1946 und seine Dissertation ›Der unbewusste Gott‹ aus dem Jahre 1948. Ohne ein Grundwissen über Religion und ohne Verweise auf die Dramatik seines Jude-Seins lässt sich Vieles, was Frankl geschrieben und gesagt hat, nicht in seiner Tiefe ausloten. Die Daten für dieses Kapitel sind zum Großteil der Frankl-Biografie von Haddon Klingberg 1 entnommen, deren deutsche Erstausgabe 2002 erschienen ist. Klingberg, selbst klinischer Psychologe und Professor für Psychologie in Chicago, besuchte Vorlesungen von Frankl, nahm mit dem Begründer von Logotherapie und Existenzanalyse selbst Kontakt auf und hatte die Gelegenheit zu ausgiebigen Interviews, die diesem Buch zugrunde liegen.

1.1. Vier Konzentrationslager und der letzte Segen der Mutter 2 Der Name Viktor Frankl ist untrennbar verbunden mit seinen Erfahrungen in Konzentrationslagern und mit seinen Auseinandersetzungen mit diesen Erfahrungen, die wiederum direkt verbunden sind mit den Aufzeichnungen »… trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psycho-

1 Vgl. Klingberg, Haddon: Das Leben wartet auf dich. Elly & Viktor Frankl. Wien/ Frankfurt/Main 2002. 2 Vgl. ebd. S. 149–175.

15 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

loge erlebt das Konzentrationslager«. 3 Der folgende Abschnitt will nicht eine Chronologie seiner KZ-Geschichte wiedergeben, sondern der Fokus soll auf seine Haltung gegenüber seiner Familie gerichtet werden und auf die ›Entdeckung‹ der dritten Wertkategorie, der Einstellungswerte. Als Juden wurden Viktor Frankl, seine Frau und seine Eltern am 25. September 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Am 19. Oktober 1944 wurde er von Theresienstadt nach Auschwitz II gebracht, das auch Birkenau genannt wurde und 3 km von Auschwitz entfernt war. Einige Tage später wurde er in das KZ-Kommando Kaufering III und am 5. März 1945 in das Lager Türkheim, ein Außenlager des KZ Dachau, transportiert. Am 27. April 1945 befreite ihn die US-Armee aus Türkheim. An dem schicksalhaften Tag der Entwurzelung aus der Wiener Heimat, dem 24. September 1942, wurde Viktor Frankl zunächst am Kopf kahlgeschoren. Seinem Vater wurden Kopfhaare und Bart abrasiert, sodass der Sohn seinen Vater nicht wiedererkannte und eine Entwürdigung verspürte, als führe man Mörder ins Gefängnis. Alle zur Deportation bestimmten Juden wurden mit dem gelben Stern auf der Brust und mit den letzten Resten ihrer Habe in offene Lastwagen verfrachtet, als habe man Abfall geladen. Durch johlende Passanten hindurch brachte der Lastwagen die Menschen zum Aspangbahnhof, von dem aus der Transport ins erste Lager durchgeführt wurde. Frankl, der als Psychiater nicht unbekannt war, wurde beauftragt, den Waggon mit den psychisch Kranken ärztlich zu betreuen. Diese Betreuung wurde ihm beinahe zum Verhängnis, als er bei seiner ›Visite‹ von einem Abteil zum anderen von einem SS-Mann mit Gewehr bedroht wurde, da dieser meinte, Frankl wolle fliehen. Frankl rief ihm blitzartig zu: »›Ich bin der Psychiater für die psychisch Kranken in diesem Wagen und wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.‹ Ich hätte auf dem fahrenden Zug mir nichts dir nichts abgeknallt werden können!« 4 Vom nächstgelegenen Bahnhof zu Theresienstadt, Bauschowitz, marschierten alle, die zu Fuß gehen konnten, ins Konzentrationslager. Bei diesem Marsch ins Konzentrationslager beschreibt Frankl, wie sein Vater als frommer Jude »in heiterer Stim-

Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München 20 2000. 4 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 155. 3

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Vier Konzentrationslager und der letzte Segen der Mutter

mung […] schicksalsergeben« 5 diesen Weg geht. Wichtig war ihm, den Kopf nicht hängen zu lassen und seinen Sohn in eben dieser Haltung zu bestärken: »Immer nur heiter, Gott hilft schon weiter.« 6 Diese Haltung verhalf Viktor Frankl in all den Jahren, nicht aufzugeben, sich immer wieder eine Zeit ›nach‹ dem KZ auszumalen und schließlich zu überleben. Die erste Erfahrung von direkter körperlicher Brutalität musste er gleich am ersten Tag in Theresienstadt machen: Ein SS-Mann befahl ihm unsinnige, nicht leistbare Arbeiten, fügte ihm schließlich zweiunddreißig Verletzungen zu und ließ ihn in die Baracke zurückbringen, wo ihn seine Frau Tilly, eine erfahrene Krankenschwester, versorgte. Fast absurd klingt es, dass Frankl am selben Abend von seiner Frau in eine andere Kaserne gebracht wurde, um ihn durch eine Veranstaltung mit bekannten Prager Jazzmusikern abzulenken: »Der Kontrast zwischen den unbeschreiblichen Torturen am Vormittag und dem Jazz am Abend war typisch für unsere Existenz mit all ihren Widersprüchen von Schönheit und Hässlichkeit, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit.« 7

Im Ghetto Theresienstadt hielt Frankl als erfahrener Psychiater sogar Vorträge. Auf der Ankündigung eines Vortrags 8 , die Hadden Klingberg als Fotokopie zu Verfügung bekam, standen folgende Themen: • • • • • • • • • •

5 6 7 8

Schlaf und Schlafstörungen Wie erhalte ich meine Nerven gesund? »Lebensmüdigkeit« und Lebensmut in Theresienstadt Leib und Seele Psychologie des Alpinismus Rax und Schneeberg Ärztliche Seelsorge Soziale Psychotherapie Das Existenzproblem in der Psychotherapie Von sonderbaren Menschen und merkwürdigen Tatsachen (Aus den Erfahrungen eines Nervenarztes)

Ebd. S. 157. Ebd. S. 157. Ebd. S. 159. Vgl. ebd. S. 162.

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Diese Aufzählung lässt den Schluss zu, dass Frankl einerseits nie den Humor verloren hatte, andererseits über ein Maß an Reflexionsfähigkeit verfügte, das ihm die ›Selbstdistanzierung‹, die zum Repertoire der Existenzanalyse gehört, ermöglichte bzw. erleichterte. Neben der Ankündigung des eben genannten Vortrags steht ein Satz, den Frankl mit der Hand dazugeschrieben hat: »Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigt, äußere Schwierigkeiten oder innere Beschwerden zu überwinden – als: das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben.« 9 Etliche ›äußere Schwierigkeiten‹ sollten auf Frankl in den Jahren der Konzentrationslager noch zukommen. Nach wenigen Tagen wurde die Familie Frankl getrennt. Es gab eine eigene Kaserne für Frauen, in die seine Frau Tilly, deren Mutter und Frankls Mutter untergebracht wurden. Die alten Leute bekamen eine eigene Baracke zugewiesen, in der Frankls Vater seine letzte Zeit verbrachte, und Frankl selbst wurde als Arzt in die so genannte »Geniekaserne« 10 gebracht, von wo aus er für psychisch kranke Patienten zur Betreuung geschickt wurde. Wenn auch Frankl seine Frau Tilly immer wieder sehen konnte, so waren doch die Sozialstrukturen für ein Familienleben zerstört oder zumindest stark eingeschränkt; unter den Verwandten herrschte dennoch, vielleicht auch gerade wegen dieser Umstände, ein starker Zusammenhalt. Der Gesundheitszustand von Frankls Vater Gabriel verschlechterte sich zunehmend, er lebte inzwischen in jenem Krankenzimmer der Kaserne, in dem Viktor wohnte und arbeitete. In dieser letzten Zeit litt Gabriel Frankl immer wieder unter Atemnot und Erstickungsangst. Sein Sohn, der das mit ansehen musste, traf eine Entscheidung, um den Vater in den Tod zu begleiten und ihm weitere Qualen zu ersparen. Er spritzte dem Einundachtzigjährigen am 13. Februar 1943 seine letzte Ampulle Morphium, die er »bis ins Lager Theresienstadt schmuggeln konnte« 11 und beschreibt kurz und bewegend die Abschiedsszene: »Ich fragte ihn: ›Hast du noch Schmerzen?‹ ›Nein.‹ ›Hast du noch irgendeinen Wunsch?‹ ›Nein.‹ ›Willst du mir noch irgendetwas sagen?‹ ›Nein.‹ Dann küsste ich ihn und ging. Ich wusste, dass ich ihn nicht mehr lebend wiedersehen würde. Aber ich hatte das wunderbarste Gefühl, das man sich vorstellen kann: Ich hatte das Meinige getan. Ich war der Eltern wegen in Wien geblieben, und

Ebd. S. 162. Ebd. S. 163. 11 Ebd. S. 165. 9

10

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Vier Konzentrationslager und der letzte Segen der Mutter

jetzt hatte ich ihn in den Tod begleitet und ihm unnötige Todesqualen erspart.« 12

Frankls Mutter Elsa trauerte um ihren Mann und erhielt etwas Trost durch einen tschechischen Rabbiner, der ihr versicherte, ihr Mann sei ein »Zaddik« 13 , ein ›Gerechter‹ gewesen. Viktor hatte zu seiner Mutter ein inniges Verhältnis. Jedes Mal, wenn er sie sah und sich von ihr wieder verabschieden musste, küsste er sie, »dass sie, falls sie sich nicht wiedersehen sollten, diese Erinnerung an seine Liebe und Zuneigung bewahrte«. 14 Elsa Frankl, inzwischen fünfundsechzig Jahre alt, blieb in Theresienstadt, als Viktor und seine Frau Tilly wahrscheinlich am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz II abtransportiert wurden. Der Abschied von der Mutter war selbstverständlich von der Angst begleitet, einander möglicherweise nie wieder zu sehen. Viktor bat seine Mutter um ihren Segen, den sie ihm aus tiefster Seele zurief mit den Worten: »Ja! Ja! Ich segne dich!« 15 Wenige Tage nachher wurde Elsa Frankl von Theresienstadt nach Auschwitz abtransportiert. Erst nach der Befreiung durch die US-Armee aus dem Lager Türkheim, einem Außenlager von Dachau, erfuhr Viktor Frankl, dass seine Mutter sofort nach ihrer Ankunft in Birkenau umgebracht wurde, und zwar im »Duschraum« 16 nach einem minutenlangen Martyrium durch das Zyklon-B-Gas. »Obwohl er nie darüber hinwegkam, wie sie gestorben war, dachte er jedoch stets an den letzten Segen, den sie ihm in Theresienstadt gegeben hatte.« 17 Frankls Frau Tilly ließ sich aus Loyalität zu ihrem Mann freiwillig gemeinsam mit ihm nach Auschwitz-Birkenau transportieren, obwohl dieser sie anflehte, es nicht zu tun. Auf dem großen Lager-Gelände wurden bis zu 100 000 Gefangene unter unmenschlichsten Umständen untergebracht 18 . Es gab Ratten und alle Arten von Krankheiten, die Wasserversorgung reichte nicht aus und die Schornsteine prägten das Erscheinungsbild mit. Viktor und Tilly wussten, dass sich hier niemand um die Inhaftierten kümmert, und sie erlebten voll bitterer Ironie ihre letzten gemeinsamen Minuten. 12 13 14 15 16 17 18

Ebd. S. 165. Ebd. S. 166. Ebd. S. 166. Ebd. S. 178. Ebd. S. 204. Ebd. S. 204. Ebd. S. 179–185.

19 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

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»Als wir uns trennten, sahen wir einander ganz ruhig an, denn mit einer solchen Situation werden die Gefühle nicht fertig. Wir nahmen unsere Eheringe und warfen sie weg. In so einem Augenblick trotzt man entweder der Situation oder man stirbt – man widersetzt sich sogar schon, wenn man einander unter derartigen Umständen einfach voller Liebe zulächelt.« 19

Erst nach seiner Befreiung aus Türkheim erfuhr Frankl vom Tod seiner Frau im Frauenlager von Bergen-Belsen. Sie war eine von 60 000 lebenden Gefangenen, doch war sie auf Grund ihrer Unterernährung zu schwach, sich wieder zu erholen und gesund zu werden. Tilly gehörte zu den 20 000 ›Überlebenden‹, die nach der Befreiung an den verschiedensten Krankheiten starben. »Sie brach im Lager Hohne bei Belsen zusammen und besaß nicht mehr die Kraft, die Freiheit zu genießen, nach der sie sich so gesehnt hatte. Für sie kam diese Freiheit zu spät.« 20 Viktor Frankl selbst ›erlebte‹ vier Mal eine Selektion in Auschwitz-Birkenau, die zweite durch Josef Mengele 21 , der für seine medizinischen Experimente bekannt war. Nach der vierten Selektion wurde Frankl zur Arbeit für das Lagersystem in Dachau bestimmt, der Transport führte dann ins Lager Kaufering III. Er und viele andere Gefangene mussten schwerste körperliche Arbeit verrichten, auch die Kälte machte ihnen zu schaffen. Man hat sich wegen dieser Eiseskälte nie ausgezogen, das bedeutet unter anderem, dass man in die Kleider urinierte und dieses Urinieren wegen des bisschen Wärme ›genoss‹. Am 5. März 1945 wurde Frankl in das vierte und letzte KZ gebracht, nach Türkheim bei Dachau, was sich als lebensrettend erwies, denn es handelte sich um ein »Schonungslager« 22 für Kranke, wo er durch Aspirin sein hohes Fieber senken konnte und wieder zu Kräften kam. In Kaufering wäre Frankl seiner Überzeugung nach sicher umgekommen, so überlebte er in Türkheim die letzten sieben Wochen des Kriegs und damit der Gefangenschaft. Die Gefühle bei der Befreiung aus diesem Lager am 27. April 1945 lassen sich schwer in Worte fassen. In seinem Buch »… trotzdem Ja zum Leben sagen« Ebd. S. 181. Ebd. S. 208. 21 Josef Mengele (1911–1979) war ein deutscher Mediziner und Anthropologe, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und von Mai 1943 bis Januar 1945 als Lagerarzt in Auschwitz eingesetzt wurde. Er nahm dort die Selektionen vor, überwachte die Vergasung von Opfern und führte medizinische Experimente an Häftlingen durch. Er starb, nie wegen seiner Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, in Brasilien. 22 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 194. 19 20

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Ablehnung jeder Kollektivschuld

wird manches in religiös poetischer Sprache ausgedrückt, zum Beispiel die Eindrücke beim Gehen durch die Landschaft. »Du weißt in diesem Augenblick nicht viel von dir und nicht viel von der Welt, du hörst in dir nur einen Satz und immer wieder denselben Satz: ›Aus der Enge rief ich den Herrn, und er antwortete mir im freien Raum.‹ Wie lange du dort gekniet hast, wie oft du diesen Satz wiederholt hast –, die Erinnerung weiß es nicht mehr zu sagen. […] Aber an diesem Tage, zu jener Stunde begann dein neues Leben – das weißt du. Und Schritt für Schritt, nicht anders, trittst du ein in dieses neue Leben, wirst du wieder Mensch.« 23

Zu diesem Zeitpunkt weiß Viktor Frankl noch nicht, dass seine Mutter vergast wurde, dass seine Frau unmittelbar nach der Befreiung gestorben ist, dass sein Bruder und dessen Frau umgekommen sind und dass die Eltern seiner Frau die Konzentrationslager auch nicht überlebt haben.

1.2. Ablehnung jeder Kollektivschuld Viele Menschen hat verblüfft, dass Viktor Frankl nach dem Krieg den Menschen in Wien, in Österreich und in Deutschland ohne Ressentiment und Hass begegnen konnte, vor allem jenen Menschen, die man nicht als ›Täter‹ bezeichnet. Bereits während der Zeit in den vier Konzentrationslagern betonte Frankl ganz klar: »[In] allen Gruppen [findet man] gute, anständige Menschen […] – sogar gelegentlich in der SS. […] Es überschneiden sich eben die Grenzen! So einfach dürfen wir es uns nicht machen, dass wir erklären: die einen sind die Engel und die andern sind Teufel.« 24

Oft hat er erlebt, dass Häftlinge einander verraten haben und dass Mitglieder der Lagerleitung den Gefangenen Lebensmittel, Decken und Medikamente heimlich gegeben haben. Besonders wichtig war ihm, dass jene Generationen, die während der Zeit des Nationalsozialismus entweder zu jung waren, um sich schuldig machen zu können, oder noch gar nicht geboren waren, niemals im Sinne einer Sippenhaftung zur Verantwortung gezogen werden können. So sei in diesem Abschnitt zur Biografie von Viktor Frankl auf seine viel be-

23 24

Frankl, Viktor E.: … trotzdem Ja zum Leben sagen. München 20 2000. S. 143. Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 197.

21 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

achtete Rede 25 am Wiener Rathausplatz hingewiesen, die er 1988 anlässlich des Gedenkens zum ›Anschluss Österreichs an das NaziDeutschland‹ vor 35000 Menschen gehalten hat. Die Gedankenfolge dieser Rede sei hier kurz zusammengefasst. •

• • • • •









Er nennt die Familienangehörigen, die in verschiedenen Konzentrationslagern umgekommen sind, und bittet darum, kein Wort des Hasses zu erwarten. Er lehnt ein kollektives Schuldig-Sprechen ab, nicht zuletzt deshalb, weil er die Täter zumindest nicht persönlich kennt. Schuld kann nur persönliche Schuld sein, niemals ›rückwirkende‹ Schuld. Ein klares Nein zu jeder Sippenhaftung. Kollektive Verfolgung kann (junge) Leute Nazis oder Neonazis in die Arme treiben. Seine Liebe zu Österreich ist ungebrochen. In der Zeit der Verfolgung wollte er seine alten Eltern nicht alleine zurücklassen. Es gab im damaligen Österreich Menschen, die vielen Juden das Leben gerettet haben. Vielleicht waren es nur wenige, jedoch setzt Widerstand Heroismus voraus, den man nur von einem einzigen Menschen verlangen kann – von sich selbst! Diejenigen, die selbst in Konzentrationslagern waren, urteilen im Allgemeinen viel milder über Opportunisten. Man muss diejenigen bewundern, die es gewagt haben, Widerstand zu leisten. Es gibt nur zwei Menschenrassen: die ›Rasse‹ der anständigen und die ›Rasse‹ der unanständigen Menschen. Diese ›Rassentrennung‹ verläuft quer durch die Nationen und innerhalb jeder Nation quer durch alle Parteien. Jede Nation ist holocaustgefährdet, wenn ein politisches System die Unanständigen an die Oberfläche schwemmt. Das ›MilgramExperiment‹ hat das eindrucksvoll aufgezeigt. Es gibt nur zwei Typen von Politikern: jene, die glauben, der Zweck heiligt jedes Mittel, und jene, denen Frankl zutraut, die Stimme der Vernunft zu hören und über alle Gräben hinweg einander die Hände zu reichen.

Diese Rede ist wortgetreu im Internet dokumentiert unter www.zeitwort.at »Jede Nation ist holocaustfähig!« URL: http://zeitwort.at/index.php?page:Thread&thread ID=4579 [10. 10. 2014].

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22 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Suizidprävention für Wiens Schülerinnen und Schüler

Die kurze Zusammenfassung dieser Rede ist wichtig, um den biografischen Einblick in das Leben von Viktor Frankl mit der späteren Geschichte zu verbinden. Sie bietet die Möglichkeit, einige wesentliche Punkte im Zusammenhang deutlicher aufzeigen zu können. Auch hat sie einen guten ›Sitz‹ in einem mit anderen Fächern vernetzten Religionsunterricht.

1.3. Suizidprävention für Wiens Schülerinnen und Schüler 26 Frankl widmete sich bereits während des Medizinstudiums unter anderem den beiden Schwerpunkten Depression und Suizid. Im Alter von 21 Jahren engagierte er sich für die Gründung von Jugendberatungsstellen: Junge Menschen in seelischer Not, insbesondere zur Zeugniszeit, sollten unentgeltlich bei verschiedenen Ärzten, Psychologen und Seelsorgern Hilfe finden können. Friedrich Torbergs Roman »Der Schüler Gerber« 27 , der mit dem Suizid eines Schülers endet, der glaubt, die Matura nicht bestanden zu haben, hat historische Hintergründe, die durch Frankls Tätigkeit in der Suizidprävention eindrucksvoll unterstrichen werden. Speziell in Wien gab es in der Zwischenkriegszeit zahlreiche Suizidfälle von SchülerInnen (damals gebrauchte man vorwiegend die Bezeichnung ›Selbstmord‹), die Frankl sehr beschäftigten und dazu veranlassten, etwas dagegen zu unternehmen. Während sich zum Beispiel Alfred Adler mit der Sinnfrage vor allem im Zusammenhang mit der Vorbeugung und Verhütung von Schäden beschäftigte, die durch Sorgen, Nöte und Beschwerden bei seelisch gesunden Menschen entstehen können, stellte Frankl die Sinnfrage ins Zentrum seiner Arbeiten zur Suizidprävention. »Bereits 1926 hatte er, angeregt durch das Vorbild der von Wilhelm Börner in Wien gegründeten Lebensmüdenberatungsstellen, in zahlreichen Publikationen auf die Notwendigkeit der psychologischen Betreuung Jugendlicher hingewiesen.« 28 26 Vgl. Wiesmeyr, Otmar/Battyány, Alexander (Hg.): Sinn und Person. Ausgewählte Beiträge zur Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor E. Frankl. 2006 Weinheim/Basel. S. 15–18. 27 Der Roman »Der Schüler Gerber« wurde 1930 unter dem Originaltitel »Der Schüler Gerber hat absolviert« veröffentlicht. Die Kurzform des Titels hat sich vor allem durch die Verfilmung verbreitet. 28 Wiesmeyr, Otmar/Battyány, Alexander (Hg.): Sinn und Person. 2006. S. 16.

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Andere Betreuungsangebote richteten sich in erster Linie an Eltern und Erzieher und eben nicht an die Jugendlichen selbst. Dazu betont Frankl: »Wer die Psychologie des Jugendlichen näher kennt, weiss gut genug, was die letzte und ausschlaggebende Ursache (der Not der Jugendlichen) ist, nämlich die Tatsache, dass dem jugendlichen Menschen bei uns heutzutage sehr wenig Gelegenheit geboten wird, über jene Lebensfragen, die ihn bedrängen, und jene Konflikte, die ihm alles bedeuten, mit Menschen von reifem Urteil und Hilfsbereitschaft sich auszusprechen, um über sie hinwegzukommen.« 29

Für Frankl ist es wichtig, dass Jugendliche mit ihren Sorgen nicht alleine gelassen werden; er sieht die Notwendigkeit, Jugendberatungsstellen zu schaffen, und stellt sich offensiv einer öffentlichen Diskussion: »[W]ir wollen ihre Errichtung zur Diskussion stellen und ihre Verwirklichung möglichst rasch und tatkräftig fördern. Denn: Zeit ist – Leben.« 30 Der bewusste und spielerische Umgang mit Sprache zieht sich durch fast alle Schriften und mündlichen Aussagen von Viktor Frankl, wie hier in der Umpolung der Redewendung ›Zeit ist Geld‹ in ›Zeit ist – Leben‹ zu sehen ist. Gerade durch solche ›Verfremdungen‹ kann auf etwas aufmerksam gemacht werden, das für den Betroffenen ›zum Greifen nahe‹ werden kann. Ab dem Jahr 1928 organisiert Frankl sein Ziel verfolgend Jugendberatungsstellen, zunächst in Wien und dann auch in anderen europäischen Städten. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Unentgeltlichkeit und die Anonymität der zu Betreuenden. Orte für diese Einrichtungen waren »Wohnungen oder Praxen der freiwilligen Helfer […] – so auch Frankls elterliche Wohnung in der Czerningasse 6 in Wien-Leopoldstadt, die in sämtlichen Publikationen und Flugblättern als Kontaktadresse der Leitung der Jugendberatungsstellen ausgewiesen wird.« 31 Die Nachfrage nach Aussprachen und Beratungen war offenbar sehr groß, die Erfolge konnten sich sehen lassen. Frankl berichtet von rund 900 eigenen Beratungsfällen, in denen er mit »Lebensüberdruss und Selbstmordgedanken« 32 konfrontiert war. Die Parallelität zum Roman von Friedrich Torberg »Der Schüler Gerber« ist signifikant. Frankl berichtet über jene ansteigende Zahl von Selbstmorden, die von Schülern in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Zeugnisverteilung 29 30 31 32

Ebd. S. 16. Ebd. S. 16. Ebd. S. 16. Ebd. S. 17.

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Suizidprävention für Wiens Schülerinnen und Schüler

verübt wurden: Für diese kritische Zeit des Schuljahresendes organisierte er »die erste Sonderaktion zur Schülerberatung.« 33 Diese Jugendberatung wurde als Permanenzdienst eingerichtet; interessant ist dabei unter anderem, dass die Schulbehörde positiv auf diese Initiative reagiert. Nicht ohne Stolz sagt Frankl: »Vorläufig freuen wir uns darüber, dass der Stadtschulrat unsere Aktion begrüßt hat.« 34 Frankl konnte wirklich darauf stolz sein, dass die Zahl der Suizidfälle von Schülern stark abnahm: »1931 wurde erstmals seit Jahren kein Schülerselbstmord in Wien verzeichnet.« 35 Dies brachte ihm natürlich viel Anerkennung, auch in der Presse. Zum Schluss sei hier erwähnt, dass sich Frankl nach diesen Erfolgen mit anderen Formen von Not eingehend beschäftigt hat. In den zentralen Konzepten der Logotherapie und Existenzanalyse beschreibt er zum Beispiel »die seelische und geistige Not der Arbeitslosen, die er nicht nur sozial und wirtschaftlich deutet, sondern maßgeblich auch auf ein defizitäres Sinnbewusstsein zurückführt.« 36 Der Wille bzw. die Sehnsucht des Menschen nach Sinn im Leben wird zum Zentrum des Denkansatzes von Frankl, mit dem die drei Wertkategorien – die Erlebniswerte, die schöpferischen Werte und die Einstellungswerte bei nicht behebbarem Leid – in direktem Zusammenhang stehen. Zu einer Chiffre für das Fehlen von Sinn wird die Rede vom existenziellen Vakuum, in das unter anderem auch Arbeitslose fallen können. Wenngleich sich Frankl schmerzlich bewusst war, nicht in der Lage zu sein, »die ökonomische Stellung des Jugendlichen zu ändern« 37 , so war er dennoch davon überzeugt, dass der Mensch in der Lage ist, seine Einstellung dazu zu ändern bzw. zu gestalten und dadurch einen Wert zu verwirklichen, eben einen Einstellungswert, wie er es über seine Zeit in den Konzentrationslagern eindrucksvoll beschrieben hat. Frankl meinte, der Berater eines jugendlichen Arbeitslosen »soll eine derartige Umstellung des Betreffenden herbeiführen, dass dieser die Fähigkeit erlangt, seine Not zu ertragen, wenn es nötig ist, und zu beheben, wenn es möglich ist.« 38

33 34 35 36 37 38

Ebd. S. 17. Ebd. S. 17. Ebd. S. 17. Ebd. S. 18. Ebd. S. 18. Ebd. S. 18.

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1.4. Der junge Arzt Viktor Frankl am Otto-Wagner-Spital ›Am Steinhof‹ An der Landes-Heil- und Pflegeanstalt ›Am Steinhof‹ in Wien, an der Frankl von 1933 bis 1937 gearbeitet hatte, leitete er jenen Pavillon, der vor allem suizidgefährdete Menschen beherbergte. Er war sehr beeindruckt von der Architektur der Steinhof-Klinik, die von Otto Wagner 39 , einem Mitbegründer des Jugendstils, entworfen wurde, und bezeichnete die »Kirche am Steinhof« 40 , die sich bis heute am höchsten Punkt des Geländes erhebt, als Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Religion. 41 Jedes Detail, so Frankl, berücksichtige die Bedürfnisse psychisch kranker Menschen, der »Ehrfurcht einflößende Kirchenraum« 42 vermöge selbst Kranke mit schweren psychischen Störungen zu beruhigen und in eine heitere Stimmung zu versetzen. Der junge Arzt mochte diesen Kirchenraum wegen seiner Einfühlsamkeit für diesen außergewöhnlichen Ort. Mit einigen Motiven der Buntglasfenster von Koloman Moser 43 – in den beiden von ihm gemachten Fenstermosaiken sind die Werke der Barmherzigkeit dargestellt – war Frankl sehr vertraut, da er als gläubiger Jude im überwiegend katholischen Wien lebte und sich stark mit dem Zusammenhang von Psychologie und Religion auseinandersetzte. Gerade auch in dieser Zeit ›Am Steinhof‹ wehrte sich Frankl vehement gegen den Psychologismus 44 von Alfred Adler, dem Frankl vorwarf, hinter allem »nichts als Masken« 45 zu sehen, neurologische Motive, die alles als unecht bzw. uneigentlich erscheinen lassen. »Religion sei ›nichts weiter als‹ die Furcht des primitiven Menschen vor kosmischen Gewalten. Die großen geistigen Schöpfer werden dann als NeurotiOtto Koloman Wagner (1841–918) war der bedeutendste österreichische Architekt, Architekturtheoretiker und Stadtplaner Wiens in der Belle Epoque bzw. um das Fin de siècle. 40 Die Kirche zum heiligen Leopold, besser bekannt unter »Kirche am Steinhof« oder »Otto-Wagner-Kirche«, wurde auf Wunsch Kaiser Franz Josephs auf dem 144 ha Areal der Heilanstalt für Nerven- und Geisteskranke am Steinhof (14. Bezirk) für die dortigen Patienten errichtet. Die Kirche ist dem hl. Leopold geweiht. Sie wurde in den Jahren 1904–1907 nach Plänen von Otto Wagner erbaut. 41 Vgl. Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 104. 42 Ebd. S. 104. 43 Koloman Moser, 1868–1918, war ein österreichischer Maler, Grafiker, Kunsthandwerker und Mitbegründer der Wiener Secession. 44 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 110. 45 Ebd. S. 110. 39

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Praktiziertes Judentum

ker oder Psychopaten abgetan. Mit einem erleichterten Aufatmen kann man sich nach solcher ›Demaskierung‹ durch solchen ›entlarvenden‹ Psychologismus endlich gestehen, dass z. B. ein Goethe ›eigentlich auch nur‹ ein Neurotiker war. Diese Denkrichtung sieht nichts Eigentliches, d. h. sie sieht eigentlich nichts. Weil etwas irgendwann Maske war oder irgendwo Mittel zum Zweck, deshalb soll es schon immer nur Maske, nur Mittel zum Zweck sein? Sollte es nichts Unmittelbares, nichts Echtes, Ursprüngliches geben können?« 46

Für Frankl war also bereits in jungen Jahren Religion keine Neurose, wie etwa von Sigmund Freud betont wurde, kein maskenhaftes Mittel zum Zweck, sondern etwas Ursprüngliches, Echtes, etwas Positives, das für die Menschen zum großen Wert werden kann. In den dreißiger Jahren stand er im Kreise von Psychiatrie und Psychotherapie mit dieser Haltung mehr oder weniger alleine da. 47 Am Steinhof, wo Frankl auch einmal Theodor Innitzer 48 als Gast empfing, eine Begegnung, an die er sich später gerne erinnerte, setzte er sich vermehrt mit Religion auseinander und auch mit der negativen Sichtweise von Religion durch Sigmund Freud. »[Er] teilte Freuds Unduldsamkeit gegenüber der Religion nicht und war selbst längst kein Atheist mehr. Nicht zuletzt aufgrund seines persönlichen Wegs zum Glauben hegte er eine große Wertschätzung für Religion im Allgemeinen und eine besondere Bewunderung für seine frommen Eltern sowie für gläubige Menschen.« 49

1.5. Praktiziertes Judentum 50 Die Welt, in der Frankl aufwuchs – dies war vor allem die Stadt Wien – war eine Welt, in der der Antisemitismus, besser gesagt der Anti-

Ebd. S. 110. Vgl. ebd. S. 110. 48 Theodor Innitzer, 1875–1955, war von 1932 bis 1955 Erzbischof von Wien. Unter dem Diktat von Gauleiter Josef Bürckel gaben Innitzer und die österreichischen Bischöfe am 18. März 1938 eine Loyalitätserklärung ab, die von der NS-Propaganda missbraucht wurde. Seine Bemühungen, zum Schutz der Kirche mit den NS-Machthabern Abmachungen auszuhandeln, endeten spätestens am 8. 10. 1938, als HJ und SA das Erzbischöfliche Palais stürmten. Innitzer errichtete in der NS-Zeit eine »Hilfsstelle für nichtarische Katholiken«. 49 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 115. 50 Vgl. ebd. S. 34–73. 46 47

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Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

judaismus, bereits spürbar war. Alfred Adler 51 zum Beispiel, in dessen Nachbarschaft die Frankls wohnten, konvertierte 1900 zur protestantischen Kirche, um seine Denkansätze ›besser‹ verbreiten zu können. Sigmund Freud 52 blieb zwar bei seiner jüdischen Identität, wollte allerdings »nicht den Eindruck erwecken, seine Psychoanalyse sei etwas ausschließlich Jüdisches«. 53 Die Eltern von Viktor Frankl, Gabriel Frankl und Elsa Lion, waren »fromme Juden, die nur koschere Speisen aßen, an Jom Kippur fasteten und täglich beteten. Sie waren aber nicht orthodox und praktizierten ihren Glauben ähnlich wie die Reformjuden in den Vereinigten Staaten.« 54 Den Antisemitismus bekamen sie einerseits immer wieder zu spüren, andererseits hatten sie auch viele nichtjüdische Freunde und Kollegen, und die Eltern vermittelten ihren Kindern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Das ›unauffällige‹ Einhalten von religiösen Vorschriften durch die Eltern hat Viktor Frankl offenbar geprägt, der die Balance zwischen Jude-Sein und dieses niemals Zur-Schau-Stellen stets bewahrt hat. Eine Szene 55 in der elterlichen Wohnung hat Viktor Frankl seinem Interviewpartner eindrucksvoll geschildert, in der er seinen Vater beim Beten störte. Der Vater absolvierte jeden Morgen das jüdische Gebetsritual mit den Gebetsriemen aus schwarzem Leder, die am linken Arm festgebunden wurden. Auch die Lederkapseln, die das »Sch’ma Israel« 56 enthielten, legte er an Herz und Stirn. Bei dieser ›Gebets-Störung‹ fragte der damals fünf- oder sechsjährige Viktor, ob er »den lieben Gott küssen dürfe« 57 : Diese Kapsel mit der Schriftrolle war für ihn gleich Gott, da er wusste, dass sie eigens für das Gebet angefertigt war. »Wenn ich die Kapsel küsste, küsste ich Gott. Es war kein bloßes Symbol. Auf einer primitiven Vorstellungsebene habe ich tatsächlich Gott geküsst. Damals gab es für mich keinen Unterschied zwischen Symbol und dem, wofür es stand

Alfred Adler (1870–1973): österreichischer Arzt und Psychotherapeut. Er ist der Begründer der Individualpsychologie. 52 Sigmund Freud (1856–1937): österreichischer Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturkritiker und Religionskritiker. Er ist der Begründer der Psychoanalyse. 53 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 40. 54 Ebd. S. 45. 55 Vgl. ebd. S. 46. 56 »Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig. Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen.« 57 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 47. 51

28 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Praktiziertes Judentum

[…] Aber gleichwohl wusste ich, dass die Symbole von Menschen gemacht worden waren.« 58

Diese ›Szene‹ vermag – neben vielen anderen biografischen Daten – die Bedeutsamkeit von Religion für Viktor Frankl zu unterstreichen, nicht zuletzt dadurch, dass der ›alte‹ Frankl sie in seiner Erinnerung so bedeutsam schildert. Auch lässt sich aufzeigen, welchen Einfluss die Vorbildwirkung eines Menschen hat, den man liebt: Frankl hat selbst dieses Gebetsritual und insgesamt sein Judentum ein Leben lang ›im Stillen‹ praktiziert. Sehr wichtig war für ihn nach seinem Eintritt ins Gymnasium die Feier der Bar Mizwa 59 , womit er als vollwertiges Mitglied in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen wurde mit der Pflicht, die Gebote Gottes zu erfüllen. Die Verantwortung, die er damit übernahm, wurde zu einem Eckpunkt seines Lebens und Denkens. Das Kapitel 2 ›Die Schulzeit 1916–1924‹ der von Klingberg verfassten Biografie endet mit einem interessanten Hinweis: »Aber einer der wichtigsten Rettungsanker seines Lebens wurde bisher stets unterschätzt. […] Der Glaube und die Hoffnung, die ihm seine Eltern vermittelt hatten, waren Viktors Anker in den Stürmen seines Lebens.« 60

Offensichtlich zieht sich dieses Thema ›Geborgenheit in der Religion‹ durch alle Interviews durch und zeigt einen Frankl, der, sonst kein scheuer Mensch, über die Intimsphäre Religion zurückhaltend und scheu spricht, deren Spuren in seinem Werk wohl implizit erkennbar sind, jedoch dieses ›Praktizieren im Stillen‹ durchtragen. Die einschneidenden Erfahrungen in den Konzentrationslagern und die Erfahrung, überlebt zu haben, wie es im Buch »… trotzdem Ja zum Leben sagen« sehr stark zum Ausdruck kommt, spiegeln dieses Durchtragen der religiösen Wurzeln existenziell hautnah wider.

Ebd. S. 47. Mit »Bar Mizwa« wird eine der wichtigsten Ereignisse im religiösen Leben eines jüdischen Mannes bezeichnet. Ab seinem 13. Geburtstag ist ein Bub »Bar Mizwa«, was so viel wie »Sohn des Gebots (oder der Pflicht)« heißt und bedeutet, dass er nun alle Rechte und Pflichten eines erwachsenen Gemeindemitglieds hat. 60 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 72 f. 58 59

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Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

1.6. Synchronisation in Birkenwald Der letzte Teil dieser ›biografischen Splitter‹ ist Frankls dramatischer Skizze »Synchronisation in Birkenwald – Eine metaphysische Conférence« gewidmet, die 1948 in der Zeitschrift »Der Brenner« unter dem Pseudonym »Gabriel Lion« 61 erschienen ist. Laut der Witwe von Viktor Frankl hat er das Stück ein Jahr nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager im Jahr 1946 wie in einer Vision in wenigen Stunden niedergeschrieben. Es spiegelt mehrere eigene Erfahrungen aus verschiedenen Konzentrationslagern wider, gewidmet ist es »Dem toten Vater« 62 – als Pendant zum Buch »… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager«, das »Der toten Mutter« 63 gewidmet ist. In einer fiktiven ›metaphysischen‹ Conférence ringen die drei Philosophen Sokrates, Spinoza und Kant unhistorisch gleichzeitig, daher synchronisiert, um die Frage nach Sinn angesichts einer Welt voll Gewalt, in der zwei Weltkriege die sogenannte Moral der Menschen vollständig ruiniert haben. Sie betrachten das Geschehen ›von oben‹, ebenso wie die bereits verstorbene Mutter der beiden sich im KZ befindenden Brüder Karl und Franz. Die drei Philosophen stellen das Leben als eine Bühne dar. Sie beobachten vor allem den Häftling Franz bei seinem Kampf, sich trotz Folter und Aussichtslosigkeit nicht selbst aufzugeben. Eine bittere Ironie entsteht eben durch den ›Bühnen-Charakter‹ des Geschehens: Sokrates meint, nur durch ein Theaterspiel, nur durch konkrete Bühnenfiguren lassen sich die Menschen ansprechen, indem man ihnen aus ihrer eigenen Wirklichkeit etwas vorführt, damit sie ihre eigene Wahrheit aufspüren. »Wir tun einfach so, als ob uns ein Bühnenautor erfunden hätte und als ob wir von Bühnenschauspielern dargestellt würden – (…) kein Mensch wird ahnen, daß wir uns nur in die Schauspieler sozusagen hineingezaubert haben, und daß wir den angeblichen Verfasser des Stückes bloß mißbraucht haben – köstlich, wie? Dabei ist das Publikum noch der am meisten Betrogene: wir lassen heute das Publikum spielen – nämlich die Rolle des Zuschauers. Und sie werden sehen: sie ahnen nichts davon, daß sie spielen, und daß wir – wirklich sind – und das, was sich jetzt hier abspielen wird, auch wirklich ist! (…) Ich will Das Pseudonym ›Gabriel Lion‹ setzt sich aus dem Vornamen von Frankls Vater ›Gabriel Frankl‹ und dem elterlichen Namen seiner Mutter ›Elsa Lion‹ zusammen. 62 Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. S. 149. 63 Ebd. nicht bezeichnete S. 13. 61

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Synchronisation in Birkenwald

den Leuten ein Bild aus der Hölle vorführen und ihnen beweisen, daß der Mensch noch in der Hölle Mensch bleiben kann.« 64

Und diese Hölle ist ein Konzentrationslager, das im Stück »Birkenwald« genannt wird, in das sich die drei Philosophen begeben, ungesehen (weil unhistorisch synchronisiert) von den Häftlingen und von der Lagerleitung. Meisterhaft versteht es Frankl, mehrere Dimensionen bzw. Perspektiven im Ringen um Sinn miteinander zu verschränken: Er selbst, Frankl, ist Initiator, Autor und Regisseur dieses ›Bühnengeschehens‹ ; durch die Schauspieler spielt er die verschiedenen Argumentationen in Bezug auf Sinn schmerzlich durch; und letztlich durchleidet er sein eigenes Ringen um einen Sinn im Leid in der Geschichte der beiden Brüder Franz und Karl zwischen den beiden Polen des Unbedingt-am-Leben-bleiben-Wollens und des Einen-Opfertodsterben-Dürfens. Eine Schlüsselfigur ist der ›Schwarze Engel‹, der in zwei Welten spielt bzw. agiert. In der ›oberen‹ bzw. ›transzendenten‹ Welt außerhalb von Geschichte wird er, obwohl er sich dagegen wehrt, dazu bestimmt, die Rolle eines folternden SS-Mannes einzunehmen, vor allem dadurch, dass die bereits verstorbene Mutter der beiden Brüder Franz und Karl ihre Söhne zu sich holen will, damit diese nicht länger die Hölle des KZ ertragen müssen. In der ›unteren‹ Welt, der konkreten menschlichen Geschichte, führt er diesen Auftrag aus, schlüpft in die Rolle eines SS-Mannes und und foltert Karl zu Tode, womit er den Wunsch der Mutter zumindest zu 50 % erfüllt. Dieses Foltern wird in diesem Stück letztlich als ›Prüfung der moralischen Standfestigkeit‹ bezeichnet. »Ich muß hinab – ich muß zu ihnen. (…) Die Frau hat da eine Eingabe gemacht. Sie will ihre Söhne bei sich haben. (…) Ich muß hin zu ihnen; sie prüfen. (…) Als SS-Mann – ausgerechnet. (…) Ich muß sie quälen – bis aufs Blut quälen. Dann wird man sehen, was an ihnen ist.« 65

Karl besteht diese ›Prüfung‹, er verrät keine Namen von anderen Häftlingen, um niemanden der Tortur auszuliefern, und wird letztlich zu Tode gefoltert – die Mutter begrüßt und umarmt ihn in der ›anderen‹ Welt. Franz, der von seiner Einstellung eigentlich eher dazu ›prädestiniert‹ war, sich zu opfern, muss weiterleben:

64 65

Ebd. S. 159 f. Ebd. S. 169.

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Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

»Wozu soll ich weiterleben – jetzt – so?! (…) Ist das die Gnade? Gnade wäre der Tod gewesen. Aber das Weiterleben? Wozu soll ich es überleben – dieses Sterben?! (…) Ich bin verurteilt – zum Leben verurteilt. (…) Ich bin verurteilt (…) zum Fortführen dieses Drecklebens. Aber es soll kein Dreckleben bleiben: ich will es fruchtbar machen, und ich werde vollenden, was ich begonnen habe, und nicht früher werde ich enden – jetzt weiß ich es.« 66

Immer wieder beschäftigt er sich mit seinem toten Bruder: »Der Karl hat wohl schon seine Ruh – ich noch lange nicht. – Ich werde sie auch nicht finden, bevor …« 67 Franz führt mit seinem Mithäftling Paul ein tiefes und emotionales Gespräch über Gewalt, Hass und Vergeltung, über die Bedeutung des biblischen Kains-Mals, das vielfach als ›den Mörder eindeutig-erkennen‹ missverstanden wurde und wird, obwohl es ein Symbol für den göttlichen Schutz vor Vergeltung ist; Franz ist davon überzeugt, dass man die Kette sprengen muss, Hass mit Hass und Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Nachdem er diese Einstellung klar formuliert hat, verschwinden die drei Philosophen und das Stück ist zu Ende. »Synchronisation in Birkenwald« beinhaltet Elemente der Tradition von Brechts epischem Theater, wenn etwa die drei Philosophen Sokrates, Spinoza und Kant das grauenhafte Geschehen im Konzentrationslager praktisch ohne Emotion ›kommentieren‹ und das Verhalten der Häftlinge vor allem in Bezug auf ihre Ethik sachlich ›analysieren‹. Neben der Folterszene, die Karl nicht überlebt, diskutieren sie zum Beispiel über den Sinn des Lebens, über den Sinn von Leiden und über die Frage, wie man all das im Rahmen von Vorlesungen mit Studierenden an einer Universität analysieren könnte. Die Aussagen von »Synchronisation in Birkenwald« reihen sich in Frankls ethische Grundmotive ein: • • •

Selbst im Leiden kann der Mensch noch einen Sinn sehen. Das Leiden gehört zum Leben. Man soll die Täter nicht verurteilen, sondern auch ihnen zumindest einen Rest von Menschlichkeit ›unterstellen‹. Es ist sinnvoll, nicht Rache zu üben, sondern die Kette der Gewalt durch Verzeihen zu durchbrechen.



66 67

Ebd. S. 194 f. Ebd. S. 183.

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Synchronisation in Birkenwald

• • • • •

Nicht der ›Erfolg‹ einer Handlung ist entscheidend, sondern die ›richtige‹ Einstellung. Auch in der ›Hölle‹ kann der Mensch Mensch bleiben. Leid kann in eine menschliche Leistung umgewandelt werden. Das Menschliche wird immer wieder ›geprüft‹. Die Menschlichkeit kann gewinnen. Viele sind anständig geblieben.

Mit ›Birkenwald‹ – als Verfremdung bzw. Verknüpfung der Namen ›Birkenau‹ und ›Buchenwald‹ – ist noch etwas in Bezug auf Viktor Frankl untrennbar verbunden. Der Titel seines populären Buches »… trotzdem Ja zum Leben sagen« stammt aus einem Text, der von einem Häftling im Konzentrationslager Buchenwald geschrieben worden ist: Der jüdische Autor Fritz Löhner-Beda 68 verfasste Ende 1938 im Konzentrationslager Buchenwald im Auftrag des dortigen Lagerkommandanten Rödel den Text des »Buchenwaldlieds«, das dann täglich mehrere Stunden von den Häftlingen auf dem Appellplatz gesungen werden musste. Vertont wurde der Text von seinem Mithäftling, dem Wiener Komponisten Hermann Leopoldi 69 , der das KZ überlebte, während Löhner-Beda, nachdem er am 17. Oktober 1942 nach Auschwitz transportiert wurde, im Rahmen einer Zwangsarbeit im Buna-Werk der IG Farben am 4. Dezember 1942 erschlagen wurde, da er, bereits 59-jährig und völlig entkräftet, die von ihm erwartete Arbeitsleistung nicht mehr erbringen konnte.

Fritz Löhner-Beda: Das Buchenwaldlied 70 Wenn der Tag erwacht, eh’ die Sonne lacht, Die Kolonnen ziehn zu des Tages Mühn Hinein in den grauenden Morgen. Und der Wald ist schwarz und der Himmel rot, Fritz Löhner-Beda (1883–1942) stammt aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie aus Böhmen. Er schrieb Gedichte, Kurzprosa, satirische Texte zum aktuellen Zeitgeschehen und avancierte zum gefeierten Librettisten, der u. a. den Operettentext für Franz Léhars »Das Land des Lächelns« schrieb. 69 Hermann Leopoldi (1888–1959) stammt aus einer jüdischen Wiener Familie und war ein gefeierter Komponist, Kabarettist und Klavierhumorist. 70 Löhner-Beda, Fritz: Das Buchenwaldlied. URL: www.wider-des-vergessens.org/ index.php?option=com...view [10. 07. 2015]. 68

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Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

Und wir tragen im Brotsack ein Stückchen Brot Und im Herzen, im Herzen die Sorgen. O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, Weil du mein Schicksal bist. Wer dich verließ, der kann es erst ermessen Wie wundervoll die Freiheit ist! O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen, Und was auch unsere Zukunft sei – Wir wollen trotzdem »ja« zum Leben sagen, Denn einmal kommt der Tag – Dann sind wir frei! Unser Blut ist heiß und das Mädel fern, Und der Wind singt leis, und ich hab sie so gern, Wenn treu, wenn treu sie mir bliebe! Und die Steine sind hart, aber fest unser Schritt, Und wir tragen die Picken und Spaten mit Und im Herzen, im Herzen die Liebe! O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, Weil du mein Schicksal bist. Wer dich verließ, der kann es erst ermessen Wie wundervoll die Freiheit ist! O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen, Und was auch unsere Zukunft sei – Wir wollen trotzdem »ja« zum Leben sagen, Denn einmal kommt der Tag – Dann sind wir frei! Und die Nacht ist kurz und der Tag ist so lang, Doch ein Lied erklingt, das die Heimat sang, Wir lassen den Mut uns nicht rauben! Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut, Denn wir tragen den Willen zum Leben im Blut Und im Herzen, im Herzen den Glauben! O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, Weil du mein Schicksal bist. Wer dich verließ, der kann es erst ermessen 34 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Synchronisation in Birkenwald

Wie wundervoll die Freiheit ist! O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen, Und was auch unsere Zukunft sei – Wir wollen trotzdem »ja« zum Leben sagen, Denn einmal kommt der Tag – Dann sind wir frei! »… trotzdem Ja zum Leben sagen«, ist also eine Sequenz aus dem Refrain des Buchenwaldliedes. Frankl hat die ersten beiden Wörter dieser Zeile »Wir wollen« durch drei Punkte ersetzt, vielleicht deshalb, da er dieses ›Ja zum Leben‹ bereits gesagt bzw. gelebt hatte. Pädagogisch eröffnet »Synchronisation in Birkenwald« mehrere interessante Zugänge. Nach Ansicht von Theaterpädagogen eignet sich dieses Stück auch für ein anspruchsvolles Schultheater. Im Sinne eines fächerübergreifenden Unterrichts könnten vor allem die Gegenstände Religion, Philosophie, Deutsch und Geschichte zusammenarbeiten. Dies wirft interessante Fragen auf, wie zum Beispiel: Wer ist jeweils Akteur oder Zuschauer eines Geschehens? Das Stück verbindet bitteren Ernst (Gewalt im KZ) und Humor (die gegenseitigen Sticheleien der drei Philosophen), was Reflexionsfähigkeit und Selbstdistanzierung erfordert. Schließlich wirft es von einer unkonventionellen Seite Fragen nach Theodizee und Pathodizee auf, vor allem durch die Figur des »Schwarzen Engels«. • • • • • •

Wer ist der Schwarze Engel bzw. wer könnte er sein? Ist der Schwarze Engel auch ein Engel im ›üblichen‹ Sinn? Wie verhalten sich unsere Vorstellungen von »Schwarzer Engel« und »Todesengel« zueinander? Lässt sich Gewalt, wie sie im KZ erfahren wurde, auch als von Gott geschickte Prüfung begreifen? Birgt die Figur des Schwarzen Engels die Möglichkeit, Leid zu rechtfertigen? ›Darf‹ nur jemand, der selbst gelitten hat (wie Frankl im KZ) ›so‹ über einen Schwarzen Engel sprechen, nachdem er diesem Leid einen Sinn abgerungen hat?

Diese Auswahl möchte andeuten, dass es sich lohnt, solche Fragen zu stellen, auch wenn sich wesentliche existenzielle oder religiöse Fragen der eindeutigen Beantwortbarkeit entziehen. Da die Figuren von »Synchronisation in Birkenwald« weder Charaktere im herkömm35 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Viktor Emil Frankl – Biografische Splitter in ihrem Bezug zu Religion

lichen Sinn noch konkrete historische Figuren sind, sondern als Vertreter einer Geisteshaltung zu verstehen sind, gilt das ebenso für den Schwarzen Engel, der sich, wie es im Stück dargestellt wird, vergebens dagegen wehrt, die Rolle eines SS-Mannes zu übernehmen, jedoch nicht die Freiheit (und nicht die Macht?) besitzt, das zu verhindern – er muss ›mitspielen‹ wie eine Schachfigur, die vom Spielleiter bzw. vom Spieler einmal in diese, dann in jene Position gebracht wird. Mit diesem spannenden Detail ist die Spur nach Frankls biografischen Splittern in ihrem Bezug zu Religion in diesem Band beendet. Wie dem Wort Splitter zu entnehmen ist, liegt nur eine kleine Auswahl vor, die mir für mein Anliegen besonders relevant erscheint. In der Religionspädagogik gilt das ›Lernen an Biografien‹ als wertvolles Element, für die eigene Biografie etwas fruchtbar zu machen. Dass sich die Biografie von Viktor Frankl dafür besonders gut eignet, entspricht auch meiner langjährigen Unterrichtserfahrung.

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2. Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Ein zeitgemäßer Religionsunterricht wird nie an den Schülerinnen und Schülern vorbei geplant und durchgeführt. Es braucht ein großes Repertoire an Herangehensweisen an die verschiedenen Themen des Lehrplans, damit die SchülerInnen Zugänge finden und im Idealfall einen Bezug zu ihrem eigenen Leben entdecken können. Die folgende exemplarische Auswahl an Themen der Existenzenzanalyse basiert auf meiner Erfahrung von 25 Jahren Religionsunterricht. Oftmals konnte speziell durch die Miteinbeziehung des Ansatzes von Frankl eine Türe zu den SchülerInnen geöffnet werden.

2.1. Die »kopernikanische Wendung« 1 Die Rede von der ›kopernikanischen Wendung‹ – oft auch als ›kopernikanische Wende‹ bezeichnet – lässt durch die Wortwahl auf einen Paradigmenwechsel schließen, etwas vorsichtiger eingeschätzt zumindest auf einen deutlichen Perspektivenwechsel. Wie durch Kopernikus ein neues Weltbild zur Sprache kam, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne, so spricht Frankl im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens davon, dass man ihr eine kopernikanische Wendung geben müsse: »Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat.« 2

Diese Formulierung beinhaltet eine Fülle von Aspekten, die sich in vielen anderen Themen fortsetzen. Die starke, fast apodiktische BeFrankl, Viktor E.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankfurt am Main 4 1997. S. 96. 2 Ebd. S. 96. 1

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

hauptung, dass der Mensch nicht zu fragen habe, weil er selbst der ›Befragte‹ sei, steht im Zusammenhang mit jenen Aussagen zur Frage nach dem Sinn des Lebens, in denen Frankl ›feststellt‹, dass diese Frage falsch gestellt sei, sie sei schlechthin sinnlos. Er unterscheidet die eine ›Frageweise‹, wenn sehr vage ›das‹ Leben gemeint sei, von einer anderen, wenn konkret ›je meine‹ Existenz zur Sprache komme. Ausgehend von der Struktur des Werterlebens, wo der Mensch jeweils ›nur‹ einen konkreten Wert erleben und verwirklichen könne, schließt Frankl, dass es nur ›konkrete‹ Antworten auf ›konkrete‹ Lebensfragen gebe, deren ›Beantwortung‹ nur in ›Verantwortung‹ geschehen könne: »[I]n der Existenz selbst ›vollzieht‹ der Mensch das Beantworten ihrer eigenen Fragen.« 3 Die wichtigen Fragen stelle nach Frankl also das Leben, und zwar beinhalte jede Situation, die der Mensch erlebe, die ›Frage‹ bzw. mehrere Fragen an den Betroffenen: Was empfindest du? Wie denkst du darüber? Welchen Wert spürst du? Welche Haltung nimmst du ein? Was sagt dir dein Gewissens-Organ? Kannst du den Sinn der Situation für dich deuten? Was wirst du tun? Diese Fragen sind hier in ›Zeitlupe‹ gestellt, und im Idealfall können sie in Zeitlupe beantwortet werden, wie zum Beispiel im Kontext einer Unterrichtsstunde. Es sei darauf hingewiesen, dass die ›Beantwortung‹ in vielen Situationen natürlich keine Zeitlupe erlaubt, sondern blitzschnell erfolgt; die Einübung in Langsamkeit – wie im Sport oder beim Üben eines Instruments – bereitet den Menschen darauf vor, auch in der Schnelligkeit, beim Sport in einem Wettbewerb oder in der Musik bei einem Konzert, keinen Schritt zu übergehen; in diesem Zusammenhang spricht die Existenzanalyse von einer Haltung, die sich der Mensch im Laufe des Lebens erarbeiten könne und müsse. Dieses Erarbeiten hat mehrere Dimensionen: Erstens fließen alle Erfahrungen, die der Mensch im Lauf des Lebens macht, wie von selbst in eine Haltung ein. Zweitens braucht es, wie es im letzten Kapitel über die ›phänomenologische Haltung‹ noch ausführlich dargestellt wird, eine klare Entscheidung, an der eigenen Haltung fortan arbeiten zu wollen, durch Bildung, durch Fort- und Weiterbildung, durch die Arbeit an der eigenen Persönlichkeitsentwicklung, durch Supervision und durch die von Frankl empfohlene Selbstdistanzierung. Drittens braucht es die Auseinandersetzung mit einer theoretischen Fundierung, die bei allem Tun und Reflektieren ein erkennbarer Bezugspunkt sein muss. Im Sinne meines Ansatzes 3

Ebd. S. 96.

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Die »kopernikanische Wendung«

sind dies vor allem Frankls Existenzanalyse, Michel Henrys Lebensphänomenologie und die sich daraus entwickelnde ›personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik‹. Das Tun oder das Nicht-Tun des Menschen ist letztlich seine ganz persönliche Antwort, die immer mit Sinn und mit Werten zu tun hat. Der Mensch muss ver-antworten, was er tut oder nicht tut, und kann sich durch niemanden ersetzen lassen, will er authentisch – will er personal bleiben. Der Begriff ›Leben‹ bedarf hier einer genaueren Betrachtung. 4 Wenn Frankl vom ›Sinn des Lebens‹ spricht, dann versteht er unter ›Leben‹ das »faktische Leben bzw. das gegebene Dasein.« 5 Wenn vom ›Leben selbst‹ die Rede ist, ist »ein fakultatives Leben, […] das Dasein als ein aufgegebenes« 6 gemeint. Laut Frankl ›wird‹ der Mensch immer, niemals ›ist‹ er, das Sein schlechthin ist für ihn die ausschließliche Kategorie Gottes: ›Ich bin, der ich bin‹. Für den Menschen gelte: ›Ich bin, der ich werde‹ oder ›Ich werde, der ich bin.‹ Dahinter steht für ihn »die Realisierung der jedem einzelnen Menschen vorbehaltenen Wertmöglichkeit« 7 , die Realisierung des ›Ich-selbst-Werdens‹. Der Sinn des Daseins ist immer ein konkreter Sinn, nie ein abstrakter Sinn, daher bevorzugt Frankl auch, vom ›Sinn im Leben‹ zu sprechen, vom ›partikulären Sinn‹, die Kategorie ›Sinn des Lebens‹ ist nach seiner Überzeugung für den Menschen eine unerreichbare und daher sinnlose Utopie: »Sobald die Sinnfrage jedoch aufs Ganze geht, wird sie sinnlos. […] Die Frage nach dem absoluten Sinn zu beantworten, ist der Mensch außerstande. […] Daran scheitert die Sinnfrage, sobald sie aufs Ganze geht. Denn das Ganze ist eo ipso nicht mehr überschaubar.« 8

Die Unterscheidung zwischen ›Sinn des Lebens‹ und ›Sinn im Leben‹ ist theologisch relevant und kann zu interessanten Auseinandersetzungen im Religionsunterricht führen. Bibeltexte, eigenes Erlebtes bzw. Reflektiertes und die Überlegungen von Frankl, der immer wieder betont, kein Theologe zu sein, können bei der Sinn-Thematik in

4 Vgl. Frankl, Viktor E.: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Bern 2 1998. S. 199–202. 5 Ebd. S. 199. 6 Ebd. S. 199. 7 Ebd. S. 199. 8 Ebd. S. 200.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

besonderer Weise zueinander in Beziehung gebracht werden. Dabei ist auch zu beachten, dass für viele Menschen, gerade auch für junge Menschen im Schulalter, zunächst die Frage nach dem Glück bzw. nach dem Glücklich-Werden im Vordergrund steht. Einen Text aus dem Alten Testament möchte ich hier anführen, der die Bandbreite der Sinn- bzw. Glück-Frage gut zum Ausdruck bringt und auch mit den ›Ohren von Viktor Frankl‹ gelesen werden kann. Der Text stammt aus dem Buch ›Prediger‹ bzw. ›Kohelet‹ und ist zeitlos aktuell. »Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne? Eine Generation geht, eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit. Die Sonne, die aufging und wieder unterging, atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht. Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind. Alle Flüsse fließen ins Meer, das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, kehren sie zurück, um wieder zu entspringen. Alle Dinge sind rastlos tätig, kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues – aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren und auch an die Späteren, die erst kommen werden, auch an sie wird es keine Erinnerung geben bei denen, die noch später kommen werden. Ich, Kohelet, war in Jerusalem König über Israel. Ich hatte mir vorgenommen, das Wissen daraufhin zu untersuchen und zu erforschen, ob nicht alles, was unter dem Himmel getan wurde, ein schlechtes Geschäft war, für das die einzelnen Menschen durch Gottes Auftrag sich abgemüht haben. Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: Das ist alles Windhauch und Luftgespinst. Was krumm ist, kann man nicht gerade biegen; was nicht da ist, kann man nicht zählen. Ich überlegte mir Folgendes: Ich habe mein Wissen immerzu vergrößert, sodass ich jetzt darin jeden übertreffe, der vor mir über Jerusalem geherrscht hat. Oft konnte ich Wissen und Können beobachten. So habe ich mir vorgenommen zu erkennen, was Wissen wirklich ist, und zu erkennen, was Verblendung und Unwissen wirklich sind. Ich erkannte, dass auch dies ein Luftgespinst ist. Denn: Viel Wissen, viel Ärger, wer das Können mehrt, der mehrt die Sorge. Ich dachte mir: Auf, versuch es mit der Freude, genieß das Glück! Das Ergebnis: Auch das ist Windhauch. (…) Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, (…) eine Zeit zum Töten / und eine

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Menschenbild – Dimensionalontologie

zum Heilen, (…) eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz, (…) eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden.« 9

Dieser Text aus dem Alten Testament lässt sich mit mehreren Gedanken bzw. Lebenseinstellungen Frankls in Verbindung bringen, der seiner jüdischen Wurzeln stets treu geblieben ist. »Kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. / Alles ist Windhauch. / Es gibt eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz.« Speziell dieser letzte Satz erinnert an die frühe Szene im Konzentrationslager, wo Frankl nach einer unbeschreiblichen Tortur am Vormittag mit seiner Frau am Abend eine Veranstaltung mit bekannten Prager Jazzmusikern besuchte, um sich ›abzulenken‹. Die Erfahrungen aus den Konzentrationslagern und sein Beruf als Arzt führen bei Frankl dazu, auch oder gerade vom Leid her zu denken. Er sieht die Parallelität zwischen der Frage nach dem Sinn des Lebens und der Frage nach dem Leid. Wenn wir diejenigen sind, die zu antworten haben, weil wir selbst die vom Leben Befragten sind, dann sei auch die Frage nach dem Sinn des Leidens sinnlos bzw. falsch gestellt. »[W]ieder [sind] wir es […], die da gefragt werden […]: er hat nicht zu fragen, sondern hat zu antworten, er hat die Frage zu beantworten, er hat die Prüfung zu bestehen – er hat das Leiden zu leisten. […] Die Antwort, die der leidende Mensch durch das Wie des Leidens auf die Frage nach dem Wozu des Leidens gibt, ist allemal eine wortlose Antwort: aber – wiederum: diesseits der Gläubigkeit an einen Übersinn – ist sie die einzig sinnvolle Antwort.« 10

Viele Fragen nach Glück und viele Fragen nach Leid, vor allem die Wozu-Fragen, lassen sich rational nicht beantworten. Eventuell finden sich ein paar Spuren der biblischen Rede vom ›Windhauch‹ in der ›wortlosen Antwort‹ von Frankl.

2.2. Menschenbild – Dimensionalontologie Frankl hat sich vehement gegen jedweden Reduktionismus gewandt, wie der Mensch zu verstehen sei. Viele Reduktionismen resultierten aus den Spezialisierungen in der Forschung, die weder per se schlecht noch aufzuhalten seien. Das Problematische besteht für ihn darin, 9 10

Koh bzw. Prediger 1,3–2,1 bzw. 3,1–3,8 (Einheitsübersetzung der Bibel). Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 241.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

dass auf Grund von speziellen Erkenntnissen vom Menschen generelle Aussagen getroffen würden. »Heute leben wir in einem Zeitalter der Spezialisten, und was sie uns vermitteln, sind bloß partikuläre Perspektiven und Aspekte der Wirklichkeit. Vor den Bäumen der Forschungsergebnisse sieht der Forscher nicht mehr den Wald der Wirklichkeit.« 11

Auf der Strecke bleibt, dass die einzelnen Forschungsergebnisse »zu einem einheitlichen Welt- und Menschenbild verschmelzen.« 12 Dass das Rad der Geschichte auch in Bezug auf Forschung nicht zurückgedreht werden könne, ist für Frankl selbstverständlich. »[A]ber die Gefahr liegt gar nicht darin, dass sich die Forscher spezialisieren, sondern darin, dass die Spezialisten – generalisieren. Wir alle kennen die sogenannten terribles simplificateurs. Ihnen an die Seite stellen ließen sich nun die terribles généralisateurs, wie ich sie nennen möchte.« 13

Der Verrat an der ganzheitlichen Sicht des Menschen komme durch die Redewendung »nichts als« 14 zum Ausdruck. Als Beispiele nennt Frankl den genetischen Reduktionismus 15 , ein physikalisch monistisches Menschenbild, in dem Phänomene wie Freude, Glaube, Liebe, Seele »nichts anderes sind als Molekültänze oder – Quantensprünge« 16 , oder den analytischen Pandeterminismus 17 . Jede Form von Reduktionismus bezeichnet er als »gelehrten Nihilismus«. 18 Er stellt zur Frage nach Determiniertheiten einen eigenen biografischen Bezug zu seiner Zeit in den Konzentrationslagern her, in denen er diverse ›Bedingtheiten‹ des Menschen schmerzlich zu spüFrankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 41. Ebd. S. 41. 13 Ebd. S. 41. 14 Ebd. S. 41. 15 Der genetische Reduktionismus geht davon aus, dass der Mensch nichts als das Produkt seiner genetischen Anlagen ist. 16 Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 79. 17 Der Pandeterminismus geht davon aus, dass alles determiniert ist. Frankl geht selbst davon aus, dass der Mensch in vielen Hinsichten determiniert, also Bedingungen unterworfen ist, mag es sich um biologische, psychologische oder soziologische handeln. In diesem Sinne ist der Mensch keineswegs frei – er ist nicht frei von Bedingungen, er ist überhaupt nicht frei von etwas, sondern er ist frei zu etwas, will heißen frei zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen, und ebendiese menschliche Möglichkeit ist es, die der Pandeterminismus eben ganz und gar übersieht und vergisst. 18 Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 42. 11 12

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Menschenbild – Dimensionalontologie

ren bekam. Und als »Überlebender von vier [Konzentrations-]Lagern« 19 weiß er um die Freiheit des Menschen, »sich über all seine Bedingtheit hinauszuschwingen und selbst den ärgsten und härtesten Bedingungen und Umständen entgegen-zutreten, sich entgegenzustemmen, kraft dessen, was ich die Trotzmacht des Geistes zu nennen pflege.« 20 Diese Trotzmacht des Geistes klingt fast bei allen Texten von Frankl durch; diese Trotzmacht des Geistes ließ ihn selbst das Trauma von Konzentrationslagern überleben; diese Trotzmacht des Geistes versuchte er in seinen Patienten zu wecken; und diese Trotzmacht des Geistes wird wachgerüttelt durch die Beschäftigung mit der Existenzanalyse. Nicht zuletzt deshalb war es mir immer ein großes Anliegen im Religionsunterricht, die SchülerInnen mit dieser Trotzmacht des Geistes in Berührung zu bringen und sie zu unterstützen, ihre eigene Trotzmacht zu entwickeln. Aus diesem Denken bzw. aus diesen Erfahrungen heraus entfaltet Frankl seine Dimensionalontologie. 21 Er beruft sich dabei auf die Ontologie von Nicolai Hartmann 22 und auf die Anthropologie von Max Scheler 23 , die bereits jene Unterscheidung trafen, die für die Existenzanalyse von größter Bedeutung wird, nämlich die Unterscheidung von Leiblichem, Seelischem und Geistigem. 24 Die menschliche Existenz wird als »unitas multiplex« 25 bezeichnet. Frankl skizziert sein »imago hominis« 26 , sein Menschenbild mit Hilfe von geometrischen Analogien. Dabei stellt er seine Dimensionalontologie vor und erläutert deren zwei Gesetze. Mit der folgenden Abbildung 27 soll das erste Gesetz verdeutlicht werden.

Ebd. S. 45. Vgl. ebd. S. 45 f. 21 Vgl. ebd. S. 46–51. 22 Nicolai Hartmann (1882–1950) war ein deutscher Philosoph und Professor für Philosophie. Er gilt als Fundamentalontologe, als bedeutender Vertreter des kritischen Realismus und als einer der wichtigen Erneuerer der Metaphysik im 20. Jahrhundert. 23 Max Scheler (1874–1928) war ein deutscher Philosoph und Soziologe, der sich besonders mit der materialen Wertethik beschäftigte. 24 Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 46. 25 Ebd. S. 46. 26 Ebd. S. 46. 27 Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 126. 19 20

43 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

»Ein und dasselbe Ding, aus seiner Dimension heraus in verschiedene Dimensionen hinein projiziert, die niedriger sind als seine eigene, bildet sich auf eine Art und Weise ab, dass die Abbildungen einander widersprechen. Projiziere ich beispielsweise das Trinkglas da, geometrisch ein Zylinder, aus dem dreidimensionalen Raum heraus in die zweidimensionalen Ebenen des Grund- und Seitenrisses hinein, dann ergibt dies im einen Falle einen Kreis, im anderen Falle jedoch ein Rechteck.« 28

Frankl wendet nun dieses Gesetzes auf den Menschen an und hält fest, dass der Mensch, wenn er um die Dimension des spezifisch Humanen, die dritte Dimension, reduziert und in die zweidimensionalen Ebenen der Biologie oder der Psychologie projiziert wird, sich auf eine Art und Weise abbildet, dass die Abbildungen einander widersprechen. »Denn die Projektion in die biologische Ebene ergibt somatische Phänomene, während die Projektion in die psychologische Ebene psychische Phänomene ergibt.« 29 Beide zweidimensionalen Bilder, Kreis und Rechteck, würden dem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit nicht gerecht. In der nächsthöheren Dimension sei erst das spezifisch Humane zu finden. Das andere seien eben Projektionen. Die Anschaulichkeit durch den geometrischen Vergleich ist beeindruckend und für den Unterricht sehr fruchtbar. Viele SchülerInnen kennen es, auf etwas reduziert zu werden, etwa auf eine Eigenschaft, auf ein ›Fehlverhalten‹ oder auf ein körperliches Merkmal. Sie spüren, dass diese Reduktion ihnen nicht gerecht wird und leiden darunter. Umgekehrt reduzieren wir selbst oft andere Menschen um 28 29

Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 46–47. Ebd. S. 48.

44 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Menschenbild – Dimensionalontologie

wesentliche Dimensionen, die darunter dann zu leiden haben. Mit Hilfe der Dimensionalontologie können wir vielleicht behutsamer an die Frage ›Was ist der Mensch?‹ herangehen. Mit der folgenden Abbildung 30 soll das zweite Gesetz verdeutlicht werden.

»Verschiedene Dinge, aus ihrer Dimension heraus in ein und dieselbe Dimensionen hinein projiziert, die niedriger ist als ihre eigene, bilden sich auf eine Art und Weise ab, dass die Abbildungen mehrdeutig sind. Projiziere ich beispielsweise einen Zylinder, einen Kegel und eine Kugel aus dem dreidimensionalen Raum heraus in die zweidimensionale Ebene des Grundrisses hinein, dann ergibt dies in jedem Falle einen Kreis. Nehmen wir an, es handle sich um die Schatten, die der Zylinder, der Kegel und die Kugel werfen, dann sind die Schatten insofern mehrdeutig, als ich aus ihnen, die ja die gleichen sind, nicht darauf schließen kann, ob es ein Zylinder, ein Kegel oder eine Kugel ist, was sie wirft.« 31

Diese geometrischen Vergleiche verdeutlichen auch, dass ein jeweiliges Bild in einer niedrigen Dimension keineswegs falsch ist. Die Bilder, Frankl nennt sie »die in den niedrigeren Dimensionen gewonnen Befunde« 32 , stünden nach wie vor in Geltung. Die Wissenschaft habe ja auch die Pflicht, die Multidimensionalität der Wirklichkeit auszuklammern, die Wirklichkeit auszublenden, aus dem Spektrum der Wirklichkeit eine Frequenz herauszufiltern. 30 31 32

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 126. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 47 f. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 127.

45 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

»Der Wissenschaftler muss die Fiktion aufrechterhalten, als ob er es mit einer unidimensionalen Realität zu tun hätte. Aber er muß auch wissen, was er tut, und das heißt, er muss um die Fehlerquellen wissen, an denen vorbei er die Forschung zu steuern hat.« 33

Mit solchen Bildern bzw. Vergleichen lässt sich im Religionsunterricht gut arbeiten, besonders an Berufsbildenden Höheren Schulen. Die SchülerInnen sind Zeichnungen und Projektions-Denken gewohnt, sie wissen, dass man ein Detail mit der Gesamtwirklichkeit nicht verwechseln darf. Jedoch gerade an Schulen mit technischem oder wirtschaftlichem Schwerpunkt geschieht dies immer wieder, oftmals gefördert durch typenbildende Fächer. Der Gefahr der Verabsolutierung von Technik zum Beispiel, die in vielen Lebensbereichen bereits Realität geworden ist, unterliegen viele Schüler selbst. Mit ihnen die jeweils nächste Dimension zu entdecken, ist eine große Aufgabe des Religionsunterrichts. Der Mensch als Einheit besitzt für Frankl also wesenhaft drei Dimensionen: die somatische, die psychische und die geistige Dimension. Die andernorts geläufige Unterscheidung von Körper und Seele – oder Leib und Seele – wird hier um eine dritte Dimension erweitert. Frankl betont an vielen Textstellen, wie wichtig ihm ist, den Menschen dennoch als Einheit zu sehen. »[Die Kunst] wurde einmal als Einheit in der Mannigfaltigkeit definiert; analog, meine ich, ließe sich der Mensch als Mannigfaltigkeit in der Einheit definieren. Trotz aller Einheit und Ganzheit des Wesens Mensch gibt es eine Mannigfaltigkeit von Dimensionen, in die hinein er sich erstreckt, und in sie alle hinein muss ihm die Psychotherapie folgen. Nichts darf da unberücksichtigt bleiben – weder die somatische noch die psychische noch die noetische Dimension.« 34

Dasselbe gilt meines Erachtens nach für die Schule, wo keine Dimension unberücksichtigt bleiben sollte: Zum Beispiel gibt das Fehlen von Kulturfächern wie Musik oder Bildende Kunst an den Höheren Technischen Lehranstalten dem Religionsunterricht ein spezielles Profil, diese Mehrdimensionalität aufleuchten zu lassen; das gegenwärtig spürbare Zurückdrängen des Faches ›Bewegung und Sport‹ zugunsten sogenannter ›wichtigerer‹ Fächer in Bezug auf eine Berufsausbildung hinterlässt ebenso Spuren, die sich vielfach für die Entwicklung von jungen Menschen als sehr negativ erweisen können. 33 34

Ebd. S. 127. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 13.

46 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Menschenbild – Dimensionalontologie

Das spezifisch Menschliche ist für Frankl die noetische, die geistige Dimension, er nennt sie auch »die Dimension der Freiheit« 35 , der Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen. »Und so wird sich denn auch ein Mensch erst als ein wirklicher Mensch erweisen, wenn er sich in die Dimension der Freiheit aufschwingt.« 36 In Bezug auf diese noetische Dimension des Menschen geht Frankl von einer Prämisse aus, die er auch als »psychiatrisches Credo« 37 bezeichnet: Der Geist, die geistige Dimension, könne nicht erkranken. Damit ist der »Glaube an das Fortbestehen der geistigen Person auch noch hinter der vordergründigen Symptomatik psychotischer Erkrankungen« 38 gemeint. Dahinter steht die Anschauung, dass die Person als geistiges Phänomen jenseits der Alternative von gesund und krank existiere. Geist könne nicht erkranken. Was erkranken könne, seien die physischen Organe, welche die Person in ihrer Geistigkeit erscheinen ließen bzw. zum Ausdruck brächten: das Gehirn des Menschen, sein Nervensystem. »Geistes«-Krankheiten im eigentlichen Sinne der noetischen Dimension gibt es für Frankl nicht. Dahinter steht auch das Wissen, dass das neuronale Netz des Gehirns mit seinen Milliarden von Nervenzellen das Phänomen ›Geist‹ nicht produziert, dass vielmehr umgekehrt der an sich existierende personale Geist durch das Gehirn gespiegelt, durch das Gehirn zum Ausdruck gebracht und auf diese Weise kommunikativ wird. Das Gehirn habe Frankl zufolge instrumentelle Funktion. Es sei das Instrument, die Person in ihrer Geistigkeit ›sichtbar‹ zu machen. Der Begriff ›Person‹ ist bei Frankl genau hier angesiedelt. Die Person des Menschen ist seine geistige Dimension, er nennt sie auch geistige Person, der er den psychophysischen Organismus gegenüberstellt, also die somatische und die psychische Dimension. Am Beispiel einer Psychose verdeutlicht Frankl sein ›Credo‹ : »Nun, dass gerade die Psychose eigentlich eine Somatose ist, also eben keine Erkrankung des eigentlichen Geistes, der geistigen Person, wissen wir bereits. Es ist also keineswegs die geistige Person, die da ›an‹ der Psychose ›erkrankt‹ ist – womit nicht bestritten wird, dass sie ›unter‹ der Psychose ›leidet‹. Erkranken – überhaupt: krank sein, kann vielmehr einzig und allein der psychophysische Organismus; er ist es demnach, der von der Psychose affiziert ist.« 39 35 36 37 38 39

Ebd. S. 14. Ebd. S. 14. Frankl, Viktor. E.: Der Wille zum Sinn. Bern 1972. S. 110. Ebd. S. 110. Ebd. S. 107.

47 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Diese Prämisse, dass die geistige Person nicht erkranken kann, hat weitreichende Konsequenzen für viele Lebensbereiche. Ich möchte diese Prämisse für das Umfeld Schule in den Blick nehmen. Schule ist ein Lebensraum für SchülerInnen und LehrerInnen und eine Institution. Schule beschränkt sich nicht auf Unterricht: Als Lern- und Lebensraum, in dem Menschen viel Zeit verbringen, birgt sie die Möglichkeit für viele Formen von Erfahrung, für Entwicklung, für Scheitern und Krisenbewältigung, für den Erwerb von Wissen und Kompetenzen, für Freundschaft und ein gleichgültiges Nebeneinander, für Mobbing und Füreinander-Einstehen, für Ausbildung und Bildung. Das Wort Schule leitet sich aus dem griechischen Wort σχολή ab, das folgende drei Bedeutungsspektren aufweist 40 : (1) Anhalten, Rast, Muße, Arbeitslosigkeit, freie Zeit, Nichtstun, Müßiggang; (2) Beschäftigung in Mußestunden, Studium, Vorlesung; (3) Ort, wo der Lehrer Vorträge hält; Schule. Die Besinnung auf die erstgenannte Bedeutung ›Muße‹ wirft Fragen auf, die einen immanent existenzanalytischen Charakter haben. • • •





Können und dürfen SchülerInnen in ihrer Schule Muße erleben? Welchen Platz haben ›freie Zeit‹ und ›Nichtstun‹ in den Konzepten von Schule? Wie lassen sich Muße und Leistung in ein ausgewogenes Verhältnis bringen, in dem die Entwicklung von SchülerInnen – die eine inhomogene Gruppe von Menschen bilden – optimal gefördert werden kann? Wie gut geht die jeweilige Schule darauf ein, dass jede Schülerin bzw. jeder Schüler und jede Lehrerin bzw. jeder Lehrer ein mehrdimensionales Wesen ist, deren innerster Kern die geistige Person ist? Hat die (geistige) Person jeder und jedes Einzelnen einen guten Platz im Rahmen der Institution Schule?

Diese Fragen sind zugleich ›rhetorische‹ und ›echte‹ Fragen. ›Rhetorisch‹ sind sie in dieser Hinsicht, dass für den Religionsunterricht, wie er hier in den Blick genommen wird, eine eindeutige Option gilt, die Vgl. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. Wien 1954. S. 725.

40 5

48 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Charakter – Person – Persönlichkeit

zu einer klaren Haltung führt: SchülerInnen können und sollen Muße erleben; freie Zeiten sollen in der Schule genügend Platz haben; Muße und Leistung lassen sich in ein ausgewogenes Verhältnis bringen; die Schule kann der Mehrdimensionalität des Menschen genug Raum geben; auch in einer Institution wie Schule hat die geistige Dimension einen ›guten‹ Platz, der nicht zuletzt auch in den die Schulen betreffenden verschiedenen Gesetzestexten festgehalten ist, wie zum Beispiel im § 2 des österreichischen Schulorganisationsgesetztes 41 zu lesen ist. ›Echt‹ sind die Fragen dadurch, dass um all das immer wieder gekämpft werden muss und dass es in diesem Kampf immer wieder ein Scheitern gibt. Wenn diese Fragen ›wach‹ bleiben, dann ist deren ›Beantwortung‹ eine Aufgabe für das gesamte Berufsleben einer Lehrerin bzw. eines Lehrers.

2.3. Charakter – Person – Persönlichkeit Viktor Frankl stand zu dem prominenten Psychiater bzw. Philosophen Rudolf Allers 42 in einem »philosophischen Schüler-Lehrer-Verhältnis« 43 , er greift einige Gedanken seines Vorbildes auf und entwickelt sie weiter. 44 Neben dem Person-Begriff (Der Mensch als geistige Person) sei hier jene Formel von Allers genannt, die er um einen dritten Akzent erweitert. Die Formel von Allers lautet: »Der Mensch ›hat‹ einen Charakter, aber er ›ist‹ eine Person.« 45 Die Ergän-

»Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.« 42 Rudolf Allers (1883–1963) war ein österreichisch-amerikanischer Psychiater und Philosoph, der sich mit den philosophischen Grundlagen der Medizin und medizinischen Psychologie, der Scholastik und psychotherapeutischen Richtungen auseinandersetzte. Als Vertreter einer existentialistischen Psychiatrie nimmt Allers in seinen Schriften Bezug auf Denker der phänomenologischen Tradition seit Edmund Husserl, darunter etwa Viktor Frankl, Jean-Paul Sartre, Max Scheler, Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty. 43 Kühn, Rolf: Sinn – Sein – Sollen. Cuxhaven/Dartford 3 1995. S. 13. 44 Als Beispiel seien hier zwei Werke von Allers genannt, auf die Frankls Ideen deutlichen Bezug nehmen: Allers, Rudolf: Heilerziehung bei Abwegigkeit des Charakters. Einsiedeln-Köln 1925. Allers, Rudolf: Das Werden der sittlichen Person. Freiburg 1929. 45 Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 204. 41

49 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

zung durch Frankl lautet: Der Mensch »›wird‹ eine Persönlichkeit« 46 . In diesem Abschnitt werden die drei Größen ›Charakter‹, ›Person‹ und ›Persönlichkeit‹ etwas ausführlicher skizziert, wobei angemerkt sei, dass Frankls Person-Begriff auch in anderen Kapiteln zur Sprache kommt. Alle drei Themen – Charakter, Person und Persönlichkeit – spielen im Religionsunterricht eine wichtige Rolle: Die SchülerInnen sind mit den Charakteren ihrer MitschülerInnen und mit jenen ihrer LehrerInnen täglich konfrontiert, manchmal ihnen auch ausgesetzt, und die Frage, ›ab wann‹ man von einer Persönlichkeit spricht bzw. wie ›man‹ selbst zu einer Persönlichkeit wird, beschäftigt viele von ihnen, auch wenn dies nicht immer explizit mit Worten geschieht.

2.3.1. Charakter 47 Frankl ordnet den ›Charakter‹ der ›seelischen‹ Dimension zu, während die ›Person‹, wie es bereits aufgezeigt wurde, zur ›geistigen‹ Dimension gehöre. Für Frankl ist der Charakter dasjenige am Menschen, dem er sich selbst gegenübergestellt finde: Die geistige Person sei mit dem seelischen Charakter konfrontiert. Aus der Dimensionalontologie wissen wir, dass nur das Geistige im Menschen frei ist. Der Charakter des Menschen sei gebunden an Erbanlagen, er sei etwas »Geschaffenes« 48 , was den Schluss zulassen könnte, man habe eben einen bestimmten Charakter und könne dagegen nichts unternehmen. Dem widerspricht Frankl vehement. Er betont, dass die Person dem Charakter gegenüber frei sei, ihn also gestalten könne und, wenn man die Kategorie ›Verantwortung‹ heranzieht, ihn auch gestalten ›müsse‹. Was der Mensch also aus seinen Anlagen mache, gehöre wiederum in die Sphäre der Freiheit, sodass es nicht zulässig sei, in Bezug auf seinen Charakter von ›Schicksal‹ zu sprechen. Frankl unterscheidet sehr klar das ›So-Sein‹ vom ›Anders-Können‹ : Den Menschen auf das So-Sein zu fixieren bedeute entweder, ihm die Würde zu nehmen, oder es ziele auf eine permanente Ausrede des Nichtanders-Könnens ab, weil es eventuell zu anstrengend sei, sich der Freiheit zu bedienen, und der Mensch daher lieber nach einem Sündenbock für sein Handeln suche: 46 47 48

Ebd. S. 204. Vgl. ebd. S. 144–146. Ebd. S. 144.

50 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Charakter – Person – Persönlichkeit

»[D]er Charakter, auf den ich mich berufe, wird im gleichen Augenblick zu einem Sündenbock: im Augenblick, da ich von ihm rede, rede ich mich auf ihn auch schon aus.« 49

Was der Mensch aus sich mache, nennt Frankl seinen Charakter. Frage man danach, ob und wie sehr sich ›vorausberechnen‹ ließe, wie ein Mensch sich in dieser oder jener Situation verhalten werde, so zeige sich, dass diese Berechenbarkeit oft nicht gegeben sei. Weil die Person, also das geistig Freie im Menschen, wesentlich unberechenbar sei, ließe sich höchstens eine Vorahnung konstruieren, wie ein Mensch in einer bestimmten Situation wahrscheinlich handeln würde, das tatsächliche Verhalten ließe sich jedoch nicht vorhersagen: »[D]enn letzten Endes verhält sich der Mensch eben gar nicht ›aus seinem Charakter heraus‹, sondern nimmt seine Person zu allem und jedem und so denn auch zum eigenen Charakter erst noch Stellung.« 50

Die Person ist für Frankl die letzte und wichtigste Instanz, die eine Entscheidung für eine bestimmte Handlung treffe und die ermögliche, dass der Mensch über sich selbst entscheiden könne. Natürlich ist sich Frankl bewusst, dass der Mensch »dies nicht immer faktisch tut«; 51 die fakultative Möglichkeit für eine personale freie Entscheidung sei jedoch immer gegeben, daher wird an der Aussage von der Person als der letzten Instanz festgehalten. »So gehört der eigene Charakter mit zu dem, wovon der Mensch als Person frei ist oder zumindest frei sein kann.« 52

2.3.2. Person »›Person‹ nennen wir von vorherein überhaupt nur das, was sich – zu welchem Sachverhalt auch immer – frei verhalten kann.« 53 In der Existenzanalyse ist ›Person‹ der Schlüsselbegriff für den Menschen, Person sei das Geistige und Freie im Menschen, ihr Wesen sei Freiheit und Verantwortung, sie sei der existenzielle Kern des Menschen. Frankl spricht meistens von der »geistigen Person« 54 . Zum Person49 50 51 52 53 54

Ebd. S. 146. Ebd. S. 144 f. Ebd. S. 145. Ebd. S. 145. Ebd. S. 143. Vgl. ebd. S. 107.

51 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Begriff gehöre noch die Einmaligkeit bzw. Unverwechselbarkeit jedes Menschen, die Frankl besonders wichtig zu sein scheint, da er sie oftmals wiederholt: »Person-sein (menschliches Dasein, Existenz) heißt absolutes Anders-sein. Denn die wesentliche und werthafte Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen bedeutet ja nichts anderes, als dass er eben anders ist als alle anderen Menschen.« 55

Von diesem Person-Begriff aus entwickelt Frankl seine gesamte Anthropologie: 56 Die Person sei ein Individuum, sei eine Einheit und daher nicht teilbar; sie wolle sich ausdrücken; sie begreife sich von der Transzendenz her; sie sei mehr als das, wodurch sie sich ausdrücke und darstelle; sie sei dialogfähig. Der Person-Begriff hat in der Geschichte der Philosophie und der Theologie einen großen Wandel erlebt, auf den hier im Detail nicht eingegangen werden kann. Unser heutiges Reden von ›Person‹ baut auf diese Geschichte weitgehend auf, die Menschenrechtserklärung von 1948 hätte ohne diese Entwicklung wesentliche Paragraphen nicht formulieren können. In Bezug auf die Existenzanalyse von Viktor Frankl sei ein Aspekt dieser Begriffs-Geschichte aufgegriffen: die Herleitung des Wortes ›Person‹ aus dem lateinischen ›persona‹ bzw. ›per-sonare‹. Das lateinische Wort ›persona‹ bezeichnete ursprünglich die Maske eines Schauspielers, der durch Schlitze im Bereich seines Mundes durch diese Maske hindurchgesprochen hat, um hörbar zu sein; dies wurde als ›per-sonare‹ – als hindurchtönen – bezeichnet. Frankl greift diese Metapher auf und betont, die Person des Menschen, also sein innerer Kern, müsse durch seine Leiblichkeit hindurchtönen, was nur dann möglich sei, wenn der Mensch keine ›Maske‹ – nicht im Sinne eines Schauspielers, sondern im Sinne des Sich-Verstellens – trage, also authentisch sei. Dieses ›Personieren‹, das Durchtönen der eigenen Person durch die Leiblichkeit, betreffe jeden Bereich der Leiblichkeit. Beispielsweise bezogen auf die Sexualität spricht Frankl sogar von der Gefahr einer Neurose durch das Sich-Verstellen: »Aber nicht nur in Richtung auf die Person des Partners wäre, vom Standort einer Prophylaxe der Sexualneurosen aus betrachtet, die möglichste ›PerFrankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 116. Vgl. Khinast, Günter: Existenzanalyse und Logotherapie (Veröffentlichungen des Pädagogischen Institutes des Bundes für Oberösterreich). Linz 2000. S. 231–239.

55 56

52 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Charakter – Person – Persönlichkeit

sonierung‹ der Sexualität wünschenswert, sie ist es auch in Richtung auf die eigene Person.« 57

Im Religionsunterricht spielt das Thema der Authentizität, des EchtSeins bzw. des Eine-Maske-Tragens selbstverständlich eine große Rolle. Im Zusammenhang mit der ›persona‹ und dem ›per-sonare‹ gibt es hilfreiche didaktische Möglichkeiten, dass SchülerInnen etwas ›erleben‹ und ›spüren‹ können. Eine davon hat sich bereits mehrfach gut bewährt. Jeweils eine Schülerin bzw. ein Schüler spricht durch eine ›Maske‹ – hergestellt aus einem einfachen, etwas festeren Blatt Papier, das in Kopfgröße zugeschnitten und mit Sprech-Schlitz (und Seh-Schlitzen) versehen wird und mit einem Gummiband am Kopf befestigt werden kann – einen Text, etwa ein Gedicht oder einen selbstgewählten Text, der für die Vortragende bzw. für den Vortragenden von Bedeutung ist. Der Text wird zu den MitschülerInnen gesprochen. Die Herausforderung besteht darin, sowohl den Text verständlich vorzutragen als auch zu versuchen, den eigenen Zugang zum Text den HörerInnen zum Ausdruck zu bringen. Die Lehrperson sorgt dafür, dass die Atmosphäre in der Klasse eine gute Aufnahmefähigkeit ermöglicht und dass jede und jeder Vortragende gleich ›ernst‹ genommen wird. Das ist eine Möglichkeit, über ›Person‹ nicht nur zu sprechen, sondern eine Erfahrung zu ermöglichen. Wichtig ist, und damit berührt man wiederum eine existenzanalytische Dimension, dass im anschließenden Gespräch über diese Einheit die Intimsphäre aller Beteiligten gut geschützt wird, denn jede/r hat etwas von sich ›gezeigt‹ und sich damit auch ›ausgesetzt‹.

2.3.3. Persönlichkeit 58 »Indem sich die Person, die einer ›ist‹, mit dem Charakter, den einer ›hat‹, auseinandersetzt, indem sie zu ihm Stellung nimmt, gestaltet sie ihn und sich immer wieder um und ›wird‹ Persönlichkeit.« 59

Nach dieser anthropologischen Dimension ist die ›Persönlichkeit‹ eines Menschen etwas Hohes, das man sich erarbeiten muss durch Auseinandersetzung mit sich selbst, durch das konsequente Stel57 58 59

Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 203. Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 145. Ebd. S. 204.

53 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

lung-Nehmen allem gegenüber, was einen das Leben fragt, und durch die gute Verbindung von Authentizität und personalem Umgehen mit anderen Menschen. Persönlichkeit ist für Frankl gebunden an die Prägung durch Werte und Sinn. Die vorhin erwähnte ›Freiheit der Person‹ bedeutet für ihn letztlich auch die ›Freiheit zur Persönlichkeit‹, die vor allem zwei Aspekte beinhalte, nämlich die bereits besprochene ›Freiheit vom Charakter‹ von der eigenen Faktizität und die »Freiheit zur eigenen Existentialität« 60 . ›Existenz‹ im Sinne der Existenzanalyse zielt immer auf eine Freiheit zum Anders-Werden, orientiert an Werten, die der Mensch verwirklichen will und kann, und an die damit verbundenen Sinn-Erfahrungen. Die Freiheit zum Anders-Werden setzt die Freiheit vom So-Sein voraus. Die zweite ermöglicht Selbstbesinnung, die erste ergreift der Mensch in der Selbstbestimmung. An dieser Stelle lässt sich prägnant formulieren, wie sich Existenzanalyse und Logotherapie auf einen Punkt bringen lassen: »Was die Existenzanalyse letztlich will, ist solche Selbstbesinnung des Menschen auf seine Freiheit, und was die Logotherapie letztlich will, ist diese Selbstbestimmung des Menschen aufgrund seiner Verantwortlichkeit und vor dem Hintergrund der Sinn- und Wertewelt, eben des ›Logos‹ und Ethos.« 61

Der Bezug zu wichtigen Lehrplanthemen aus dem Religionsunterricht ist hier evident: Logos und Ethos, Freiheit und Verantwortlichkeit, Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, Werte, Sinn und Ethik, das Ringen um ein ›gutes‹ Umgehen mit Leid und Scheitern, die Einzigartigkeit jedes Menschen und die allein Gott vorbehaltene Kongruenz von Dasein und Sosein in seiner Selbstaussage: ›Ich bin, der ich bin‹.

2.4. Werte und Wertfühlen – Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn »Den Sinn des Daseins erfüllen wir – unser Dasein erfüllen wir mit Sinn – allemal dadurch, dass wir Werte verwirklichen.« 62 Dieser oft zitierte Satz von Frankl verknüpft das Erleben von Sinn untrennbar 60 61 62

Ebd. S. 145. Ebd. S. 145. Ebd. S. 202.

54 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Werte und Wertfühlen – Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn

mit der Verwirklichung von Werten. Er bezeichnet das Verwirklichen von Werten als ›Wege zum Sinn‹, drei dieser Wege, er nennt sie die drei »Wertkategorien« 63 , ziehen sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. • •



Die erste Kategorie bezieht sich auf unser Schaffen, unser Gestalten und Mitgestalten von Welt: die ›schöpferischen Werte‹. Die zweite Kategorie spricht vom Erleben des Menschen, wie er die Welt in sich aufnimmt, alle Schönheiten und Situationen, die auf ihn zukommen: die ›Erlebniswerte‹. Die dritte Kategorie wird vor allem im nächsten Abschnitt noch vertieft. Sie bezieht sich auf all jene Situationen des Erleidens, wo man gegen dieses Leid nichts mehr aktiv ›tun‹ kann: die ›Einstellungswerte‹ bei Leid, Schuld und Tod, der ›tragischen Trias‹.

Diese drei Kategorien sind so evident und selbsterklärend, dass jeder Schüler bzw. jede Schülerin sie verstehen und für das eigene Leben zumindest in den ersten beiden Kategorien zahlreiche Beispiele finden kann. Die Kategorie der schöpferischen Werte hängt unter anderem mit unserer täglichen Arbeit zusammen, mit unseren Berufen und Tätigkeiten, die von der Gesellschaft sehr unterschiedlich bewertet und sehr unterschiedlich bezahlt werden. Frankl weist eindringlich darauf hin, dass jede Arbeit bzw. jede Tätigkeit wertvoll ist, dass es nicht darauf ankommt, wo ein Mensch im Berufsleben steht, sondern wie er arbeitet, wie er seinen Platz ausfüllt. Im Schaffen, nicht nur im beruflichen, sondern in jeglichem Schaffen, gibt es unbegrenzte Möglichkeiten für Sinn-Erfahrung. Jeder Beitrag eines Schülers bzw. einer Schülerin kann als schöpferischer Wert gesehen werden, jedes Gespräch, das von keinem anderen Menschen kopiert werden kann, stellt einen schöpferischen Wert und somit einen breiten Weg für das Erleben von Sinn dar. Die Kategorie der Erlebniswerte beinhaltet ebenso eine unbegrenzte Sinnfülle, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dazu gehört unter anderem das Erleben von Schönem, das immer subjektiv ist und sein muss, was bedeutet, dass dieses Erleben nicht durch Vergleiche abgewertet werden sollte. Jede erlebte Form von Zuwendung und Liebe, die immer Geschenkcharakter hat, jedes Auf63

Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 81–84.

55 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

nehmen von Natur und Kunst, wo ich in Resonanz komme, und alles andere, was sich meiner Machbarkeit entzieht und mir ein Erlebnis bereitet, bilden die unendlichen Sinn-Möglichkeiten für diesen Bereich. Schließlich spricht Frankl von der Kategorie der Einstellungswerte, die mit seinen Erfahrungen in den Konzentrationslagern und mit seinen beruflichen Erfahrungen als Arzt verbunden sind. Er ›bewertet‹ die Einstellungswerte als »höher […] als die schöpferischen Werte und die Erlebniswerte« 64 , betont allerdings, dass er die beiden anderen Kategorien dadurch nicht abwerten, sondern darauf hinweisen will, dass jeder Mensch in Situationen kommen kann, die von ihm das Letzte abverlangen. »Die Verwirklichung von Einstellungswerten setzt – soll sie eine Leistung darstellen – Leiden und Leidensfähigkeit voraus.« 65 Leidensfähigkeit, Frankl spricht auch davon, »sein Kreuz auf sich« 66 zu nehmen, bedeutet, an der Haltung zu arbeiten, dass die menschliche Existenz nie sinnlos sein kann. »Wer vermöchte die Sinnträchtigkeit des Leidens auszudeuten? Die Wertmöglichkeiten sowohl des Schaffens als auch des Erlebens mögen begrenzte sein und als solche sich ausschöpfen lassen: die Sinnerfüllbarkeit des Leidens ist unbegrenzt. Schon darum sind die Einstellungswerte den schöpferischen und den Erlebniswerten an sittlicher Höhe überlegen.« 67

Mir scheint wichtig, darauf hinzuweisen, dass Frankl immer betont, dass er in Zusammenhang mit den Einstellungswerten stets von ›nicht vermeidbarem‹ oder ›nicht bekämpfbarem‹ Leid spricht. Für ihn gehört es zur Verantwortung des Menschen, Leid zu lindern, zu bekämpfen und zu beseitigen, wo immer es möglich ist. Gerade als Arzt war das für ihn selbstverständlich. Frankl hat sich hinsichtlich der Thematik ›Werte‹ sehr intensiv auch mit Max Scheler auseinandergesetzt und bezieht sich häufig auf ihn, beispielsweise im Kapitel »Wert und Lust« 68 in der ›Ärztlichen Seelsorge‹. In Scheler, dem er selbst nie begegnet ist, sah er »einen wesentlichen Verbündeten im Kampf gegen Biologismus, Psychologismus und Soziologismus«. 69 Ein Gedanke von Scheler bekommt 64 65 66 67 68 69

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 17. Ebd. S. 204. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 83. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 203. Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 184–193. Khinast: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 32.

56 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Werte und Wertfühlen – Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn

in der Existenzanalyse eine besondere Bedeutung, nämlich das ›Fühlen von Werten‹. Scheler spricht von »Reichtum oder […] Enge unserer Fühlfähigkeit für Werte« 70 und ordnet sie unseren Gefühlszuständen zu: »Dieser Zusammenhang von Wert, Wertfühlen und Gefühlszustand gilt nun aber auf allen Stufen der zugehörigen materialen emotionalen Gebiete – hinauf bis in die höchsten.« 71

Frankl spricht zudem auch von ›Wertberührung‹ oder ›Wertbegegnung‹ 72 und greift ein berühmtes Zitat von Romano Guardini 73 auf: »Wert ist der Kostbarkeitscharakter der Dinge, auf ihn antwortet die Werterfahrung; jenes spezifische, nicht weiter rückführbare Berührtsein und InSchwingung-Kommen des Geistes, aber nicht des theoretischen Geistes, des Verstandes, sondern des würdigen Geistes, das ist eben des Herzens.« 74

Dieser Zugang zu Werten enthält insbesondere folgende Gesichtspunkte: • •

• • •



Werte sind nicht an den Intellekt gebunden. Werte können nicht ›verordnet‹ werden, da der Mensch von ihnen ›berührt‹ wird, was sich jeder Intentionalität, jeder Machbarkeit, entzieht. Werte können ›gefunden‹ werden, wenn der Mensch für Wertberührung offen ist. Werten kann man überall ›begegnen‹. Das Berührt-Sein von einem Wert, dem man ›begegnet‹ ist, eröffnet die Möglichkeit, diesen Wert zu verwirklichen. Vor dieser Verwirklichung steht die eigene ›Stellungnahme‹. Werte können letztlich nie ›verglichen‹ werden. Eine WerteHierarchie, die von ›höheren‹ und ›niedrigeren‹ Werten spricht, zieht notwendigerweise die Abwertung der Menschen mit sich, die in die Kategorie ›niedriger Wert‹ fallen.

70 Scheler, Max: Gesammelte Werke, Band 2. Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik. Neuer Versuch in der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Bern 1954. S. 257. 71 Ebd. S. 261. 72 Vgl. Khinast: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 129 f. 73 Romano Guardini (1885–1968) war katholischer Priester, Philosoph und Dogmatiker. 74 Zit. nach: Guardini, Romano: Romano Guardini-Lesebuch. Ausgewählt von Ingeborg Klimmer. Mainz 1985. S. 192.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Im Kontext von Religionsunterricht und Schule beinhaltet dieser Zugang zu Werten einen nicht zu unterschätzenden Sprengstoff. •

In Abgrenzung von der geläufigen Rede von ›Wertevermittlung‹ führt das konsequente Weiter-Denken der Existenzanalyse von Frankl meines Erachtens zum klaren Widerspruch: Werte lassen sich nicht ›vermitteln‹, weder in der Bildungs-Institution Schule als Ganzes noch im speziellen Rahmen des Religionsunterrichts. Schule muss und kann zum Fühlen von Werten sehr viel beitragen, alle schulischen Fächer und Aktivitäten stellen Möglichkeiten für Wertbegegnung und Wertberührung dar. Die einzelnen Fächer dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, keine Fach darf als »weniger wichtig« abgewertet werden. Lehrerinnen und Lehrer sind in einer Schule im Sinne der bereits erwähnten σχολή 75 dazu ›innerlich verpflichtet‹, ihre eigene Wertberührung zu ›zeigen‹ und damit ›Wertangebote‹ zu machen. Da man in der Lernforschung davon ausgeht, dass die Nachahmung, die ›Mimesis‹, einen wesentlichen Beitrag zum Lernen darstellt, liegt es nahe, Mimesis mit Wertberührung im schulischen Kontext in Verbindung zu bringen. Der ›Kostbarkeitscharakter‹ der ›Dinge‹ lässt sich zum Beispiel im Rahmen einer technischen Schule so lesen, dass ein Bogen vom Werkstattunterricht über die technischen Theoriefächer bis zu den Allgemeinbildenden Fächern, zu denen auch der Religionsunterricht gehört, gespannt wird, wo die Anforderungen an die SchülerInnen, deren Erfüllung sich im Kontext von Regelschulen in Noten ausdrückt, mit den fast unendlichen Möglichkeiten des Werterlebens im Einklang sein können. Das betrifft alle drei Wertkategorien: die Erlebniswerte, die schöpferischen Werte und die Einstellungswerte.







2.5. Die tragische Trias 76 »Es gibt nun keine Lebenssituation, die wirklich sinnlos wäre. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die scheinbar negativen Seiten der menschlichen Existenz, insbesondere jene tragische Trias, zu der sich Leid, Schuld und Tod zu-

75 76

Vgl. Kapitel 2.2. Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 292.

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Die tragische Trias

sammenfügen, auch in etwas Positives, in eine Leistung verwandelt werden können, wenn ihnen nur mit der rechten Haltung und Einstellung begegnet wird. Es versteht sich von selbst, dass nur das unabwendbare und unabänderliche Leiden eine Sinnmöglichkeit in sich birgt, während es sich andernfalls weniger um Heroismus als um bloßen Masochismus handeln würde.« 77

Frankl hat es selbstverständlich für wichtig und unbedingt notwendig erachtet, jenes Leid zu verhindern, das abwendbar ist, und gegen jedes Leid anzukämpfen, dessen Linderung oder Beseitigung möglich ist. Das nicht zu tun, wäre für ihn ›bloßer Masochismus‹. Somit beziehen sich die folgenden Ausführungen auf ›unabwendbares und unabänderliches Leid‹. Frankls Behauptung, dass es keine wirklich sinnlose Lebenssituation geben kann, stellt eine große Herausforderung für jeden Menschen dar, der das Gefühl der Sinnlosigkeit bereits verspürt hat. Dabei ist festzuhalten, dass dieser Satz nicht isoliert gesehen werden darf, er steht am Ende einer langen Kette von Erfahrungen, Reflexionen, Überlegungen und Erkenntnissen, ohne die er etwas apodiktisch klingen mag. Frankl selbst kennt den Kampf der Hoffnungen gegen die Verzweiflung 78 , er weiß, »dass im Unglück der Lebenssinn notwendig, aber nicht hinreichend ist zum Überleben. Wie man an seinen eigenen konkreten Erfahrungen sehen kann, gibt es ebenso entscheidende Faktoren wie Glück, Schicksalswendungen oder die Vorsehung und zufällige Elemente, auf die wir keinen Einfluss haben.« 79

Und Frankl kennt auch das Gefühl der Sinnlosigkeit und sogar den Gedanken an Selbstmord. 80 Als er einige Monate nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager vom Tod seiner Mutter und seiner Frau erfuhr, erreichte er einen absoluten Tiefstpunkt, an dem der Gedanke an Selbstmord auch bei ihm da war. Er erfuhr, dass seine Mutter sofort nach ihrer Ankunft in Birkenau umgebracht worden war. Sie musste sich – wie eintausend andere Gefangene – nach der Selektion »entkleiden und in den ›Duschraum‹ zwängen. Es dauerte siebzehn Minuten, bis die Opfer an dem Zyklon-B-Gas starben.« 81 Später erfuhr Frankl auch vom Tod seiner Frau Tilly. 82 Sie überlebte Birke77 78 79 80 81 82

Ebd. S. 292. Vgl. Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 202. Ebd. S. 202. Ebd. S. 204. Ebd. S. 204. Vgl. ebd. S. 207 f.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

nau, sie erlebte die Befreiung von Bergen-Belsen durch britische Truppen, sie war jedoch zu geschwächt, um sich noch zu erholen, und starb – wie wahrscheinlich weitere 20 000 Menschen – nach der Befreiung an Unterernährung und an verschiedenen Krankheiten. »Sie brach im Lager Hohne bei Belsen zusammen und besaß nicht mehr die Kraft, die Freiheit zu genießen, nach der sie sich so gesehnt hatte. Für sie kam diese Freiheit zu spät.« 83

In dieser Situation erlebte Frankl an sich selbst die Bedeutung eines Ausspruchs von Friedrich Nietzsche 84 , den er prägnant umformulierte, in einen neuen Kontext stellte und schließlich zu seinem eigenen Motto erhob: »Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.« 85 Im Kapitel »Etwas wartet« aus »… trotzdem Ja zum Leben sagen« spricht Frankl von der Unvertretbarkeit bzw. Unersetzbarkeit jedes einzelnen Menschen und der damit verbunden Verantwortung gegenüber die auf ihn wartenden Werke bzw. gegenüber die auf ihn wartenden liebenden Menschen; diese Unvertretbarkeit bedeutet die Verantwortung zum Weiterleben: »Er weiß eben um das ›Warum‹ seines Daseins – und wird daher auch fast jedes ›Wie‹ zu ertragen vermögen.« 86 Ein ›Warum‹ – öfter ist auch die Rede vom ›Wozu‹, um die Frage nach dem Sinn noch stärker zu betonen, 87 – war seine Weiterarbeit am Buch »Ärztliche Seelsorge«. »Jetzt, da ich wusste, dass meine Familie bis auf meine Schwester in Australien nicht mehr existierte, war dieses Vorhaben das Einzige, woran mir noch lag, bevor ich sterben würde. Aber ich beschloss, nicht Selbstmord zu begehen – zumindest nicht, bevor ich mein erstes Buch Ärztliche Seelsorge überarbeitet hatte.« 88

Der Verlust seiner Eltern, seiner Frau und vieler anderer Menschen im KZ gehört zu zwei Kategorien der ›tragischen Trias‹ : Der Tod ist endgültig und das erlittene Leid ist nicht wieder gut zu machen. Die dritte Kategorie, die nicht-wieder-gut-zu-machende Schuld, begegnet Ebd. S. 208. Der Satz von Friedrich Nietzsche (1844–1900), auf den sich Frankl bezieht, lautet: »Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? – Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.« Nietzsche, Friedrich: Götzendämmerung. Sprüche und Pfeile, S. 12. 85 Klingberg: Das Leben wartet auf dich. 2002. S. 169. 86 Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. 2000. S. 129. 87 Vgl. Khinast: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 83. 88 Ebd. S. 209. 83 84

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Die tragische Trias

Frankl vorwiegend im therapeutischen Kontext: Viele seiner PatientInnen suchten ihn auf, weil sie mit ihrer eigenen Schuld nicht fertig wurden, um ›gut‹ weiterleben zu können. Die Unmöglichkeit einer Wiedergutmachung lähmte vielfach deren Vitalität, Lebenswillen und die Erfahrung von Sinn durch Verwirklichung von Werten. Die Logotherapie hat ein therapeutisches Repertoire entwickelt, wie betroffene Menschen damit umgehen können, um wieder in eine Vitalität zu kommen, um wieder Sinn-Erfahrungen erleben zu können. Der dafür notwendige therapeutische Prozess kann Jahre in Anspruch nehmen, und es muss auch eingeräumt werden, dass sich nicht in jedem Fall der gewünschte ›Erfolg‹ einstellt. In seinem Buch ›Der leidende Mensch‹ berichtet Frankl von etlichen Fall-Geschichten aus seiner Praxis, wo die Therapie ›gefruchtet‹ hat. Er spricht sich für einen »tragischen Optimismus« 89 aus, den man entwickeln könne, um ›trotzdem Ja zum Leben sagen‹ zu können, auch wenn einem unausweichliche Schuld nicht erspart geblieben sei. Das Leben könne trotz aller tragischen Aspekte einen Sinn haben, noch mehr, trotz aller Tragik einen Sinn »behalten« 90 . Im Falle von Schuld bedürfe es der Transformation durch Wandlung, die mit guter therapeutischer Begleitung möglich sei. Ein Beispiel für das Umgehen mit Schuld eignet sich besonders gut für den Religionsunterricht; in einem österreichischen Religionsbuch für 17-jährige SchülerInnen ist dieses Beispiel dokumentiert. Es wird berichtet, dass Viktor Frankl einmal in den USA einen Vortrag vor Schwerstverbrechern im Zuchthaus von St. Quentin in San Francisco gehalten hat. Ein Häftling hat in einem Interview nachher folgende Aussage getätigt: »Wissen Sie, wir hören von denen [= Psychologen und Psychiatern] immer wieder: Ihr seid die armen Opfer eurer Kindheit, eurer familiären Erlebnisse, die Kindheit, die Kindheit, die Erlebnisse: Das hängt uns – wörtlich – wie ein Mühlstein am Genick herum, das wollen wir nicht hören. Frankl hat anders gesprochen. Er hat uns gesagt, Leute, ihr seid Menschen, daher seid ihr frei. Ihr habt die Freiheit gehabt, schuldig zu werden. Einen Blödsinn zu begehen. Aber vergesst nicht, ihr habt jetzt die Verantwortung dafür, dass ihr über euch selbst hinauswachst.« 91

89 90 91

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 51. Ebd. S. 51. Ebd. S. 12.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Als Ergänzung sei hier aus dieser Rede Frankls, auf die der Häftling Bezug nimmt, ein längerer Textabschnitt zitiert, der einen etwas anderen Wortlaut beinhaltet: »Ihr seid Menschen, genau so wie ich, und als solche seid ihr frei und verantwortlich. Ihr habt euch die Freiheit genommen, einen Unsinn, eine Untat zu begehen, schuldig zu werden. Wollt ihr euch nicht auch zur Verantwortung bekennen, über die Schuld hinauszuwachsen? Ihr kennt die Statue of Liberty. Die steht an der Ostküste eures Landes. Wie wär’s, wenn ihr hier an der Westküste eine Statue of Responsibility errichten würdet?« 92

Diese Rede von Frankl hat die Schüler sehr beeindruckt. Die Frage einiger Schüler, die sich im Anschluss an die Lektüre im Lehrbuch direkt aufgedrängt hat, betraf die Möglichkeit, wie man denn über seine Schuld hinauswachsen könne. • • •

Was heißt überhaupt, über seine Schuld hinauszuwachsen? Ist das überhaupt möglich? Wie geht das?

Sich zur Verantwortung zu bekennen, das war den Schülern großteils einsichtig – jedoch über die Schuld hinauswachsen? Das stieß auf besonderes Interesse. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie im Religionsunterricht christliche Theologie bzw. theologische Fragestellungen mit ›außertheologischen‹ Orten der Erkenntnis in eine enge Verbindung treten können. Aus meiner Erfahrung wird ein theologischer Zugang zu Themen oftmals durch ›loci alieni‹, in diesem Fall durch die Existenzanalyse, bereichert oder erst ermöglicht. Die folgende Skizze, 93 die von rechts unten nach links oben gelesen werden muss, zeigt die ›tragische Trias‹ im Zusammenhang mit dem dreidimensionalen Menschenbild, mit der existenziellen Dynamik um das Thema Sinn und den drei Wertkategorien, die als ›Wege Biller, Karlheinz/Stiegeler, Maria de Lourdes (Hg.): Wörterbuch der Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor E. Frankl: Sachbegriffe, Metaphern, Fremdwörter. Wien/Köln/Weimar 2008. S. 697 f. 93 Diese Skizze wurde im Bildungshaus St. Michael im Zuge der Fortbildungs-Lehrgänge »Personale Gesprächsführung« von Günter Funke an alle TeilnehmerInnen verteilt. Laut Funke, der selbst dabei war, hat Frankl diese Skizze während einer Vorlesung in Wien an der Tafel entwickelt. 92

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Die tragische Trias

zum Sinn‹ bezeichnet werden. Die Grundlage für diesen Entwurf bildet das dreidimensionale Menschenbild. 94 Da die noetisch-humane Dimension als die entscheidend menschliche erachtet wird, steht sie als oberstes und führt zur ›existenziellen Dynamik‹. Nur in der geistigen Dimension sei der Mensch frei, daher ist dort die ›Freiheit des Willens‹ angesiedelt, die den Willen zum Sinn ermögliche, damit Sinn im Leben verwirklicht werden könne. Tod

Einstellungswerte

schöpferische Werte

Erlebniswerte

Sinn im Leben

SELBSTTRANSZENDENZ

Wille zum Sinn

SELBSTDISTANZIERUNG noëtisch-humane Dimension

Freiheit Des Willens Menschenbild

Existenzielle Dynamik

Wege zum Sinn

Leid

TragischeTrias

Schuld

psychische Dimensionen somatische Dimensionen

Innerhalb der existenziellen Dynamik wirken noch zwei Faktoren mit, die im folgenden Kapitel genauer besprochen werden, an denen jeder Mensch sein Leben lang arbeiten kann: Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz. Selbstdistanzierung meint das (humorvolle) Absehen von sich selbst, sich selbst gegenüber treten zu können, um einen anderen Blickwinkel auf Ereignisse zu bekommen. Mit dem 94

Vgl. Kapitel 2.3. dieses Bandes.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Wort Selbsttranszendenz wird der hohe ethische Wert der Hingabe an eine Aufgabe oder Person benannt. Selbsttranszendenz ermögliche erst, über sich hinaus mit anderen Menschen in eine ›echte‹ Beziehung treten zu können. Beide, Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz, sind für Frankl notwendig, um Sinn im Leben verwirklichen zu können. 95 Es sei hier erneut betont, dass das ›Verwirklichen‹ von Sinn nichts mit dem ›Machen‹ von Sinn zu tun hat, da die Voraussetzung für jedwede Sinn-Erfahrung eine Wertberührung ist, die sich der eigenen Machbarkeit entzieht. Für den Religionsunterricht in der Schule ist es selbstverständlich wichtig, nicht bei extremen Beispielen, wie dem KZ oder dem Gefängnis St. Quentin, stehenzubleiben, sondern Beispiele aus dem Alltag der SchülerInnen aufzugreifen und an diesen mit Frankls Ansatz zu arbeiten. Erfahrungen von Tod brechen immer wieder in den Schulalltag herein und rufen nach einer Stellungnahme. Nach Erfahrungen von Schuldig-Werden muss nicht lange gesucht werden, wobei die Dynamik der Schuldabschiebung, des Schuld-von-sich-Weisens meines Erachtens voranschreitet, was das Gespräch darüber, wie wir mit Schuld umgehen können, zwar schwieriger, jedoch noch wichtiger macht. Und beim Thema ›Leid‹ ist es wichtig zu unterscheiden, ob es unabwendbar ist oder bekämpft werden kann bzw. sollte. Frankl hat sich klar gegen jeden blinden Fatalismus gestellt und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es einem – für ihn nicht akzeptablen – Masochismus gleichkomme, abwendbares Leid nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. 96 Ich möchte noch einmal kurz auf die vorherige Skizze eingehen. Mit Hilfe dieser Skizze lässt sich in kompakter Form ein wesentlicher Kern der Existenzanalyse erläutern, ohne eine Verkürzung oder Vereinfachung vorzutäuschen. Diese wenigen Begriffe, es sind lediglich 18 Wörter bzw. Wortgruppen, sind Überschriften für große Kapitel des Mensch-Seins, für zentrale anthropologische und religiöse Fragen. Dahinter steht ein konkreter Mensch mit seiner Biografie, dessen Einsichten in die Fragen, die das Leben stellt, bis heute sowohl aktuell sind als auch diskutiert und weiterentwickelt werden. In pädagogischen Kontexten lässt sich mit Skizzen wie dieser gut arbeiten, da

95 96

Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 59. Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 292.

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Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung

gutes Anschauungsmaterial eine didaktisch wertvolle Bedeutung hat und auch entsprechende Möglichkeiten für Lernprozesse bietet.

2.6. Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung Unter ›Selbsttranszendenz menschlicher Existenz‹ versteht Frankl »den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder er selbst ist, – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst; im Dienst an einer Sache – oder in der Liebe zu einer anderen Person! Mit anderen Worten: ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergisst.« 97

Für Frankl gehört zum Ganz-Mensch-Sein das Über-sich-hinausWachsen, das Sich-selbst-Transzendieren, eine spezifisch humane Dimension und Fähigkeit, die jedes reduktionistische Menschenbild, vor dem er stets warnt, ad absurdum führt. Der letzte Satz aus dem vorigen Zitat (»Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergisst.«) erinnert stark an die Worte aus dem Neuen Testament: »Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber seine Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.« (Mt 16, 24–25) ›Ganz selbst werden‹ (so Frankl) korrespondiert hier mit dem biblischen ›das Leben gewinnen‹ : beides setzt voraus, über sich selbst hinauszuwachsen – im Dienst an einer Sache oder aus Liebe zu einer Person. Damit wird die Selbsttranszendenz auch in Verbindung mit Selbstverwirklichung 98 gebracht, womit aufgezeigt werden soll, dass jede ›echte‹ Selbstverwirklichung Selbsttranszendenz notwendig voraussetzt: Wer Selbstverwirklichung anstrebe, würde sich selbst nur verfehlen. Selbstverwirklichung stelle sich laut Frankl von selbst ein, wenn der Mensch Sinnerfüllung erfahre, indem er in einer Sache ganz aufgehe oder sich einer anderen Person ganz hingebe. Der Wille zum Sinn

97 98

Ebd. S. 201. Vgl. ebd. S. 101 f.

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spiele somit auch hier eine zentrale Rolle, das Verhältnis zwischen ›Sinn‹ und ›Sein‹ wird eindeutig benannt: »[D]er Sinn muss jeweils dem Sein voraus sein – nur dann nämlich kann der Sinn das sein, was sein eigener Sinn ist: Schrittmacher des Seins zu sein! Umgekehrt sackt Existenz in sich selbst zusammen, wofern sie nicht sich selbst transzendiert, indem sie über sich selbst hinauslangt auf etwas jenseits ihrer selbst.« 99

Als Kurzformel ließe sich sagen: Gelebte Selbsttranszendenz ermögliche als ›Geschenk‹ die Selbstverwirklichung durch die Erfahrung von Sinn. Frankl weist darauf hin, dass die Rede vom ›Willen zum Sinn‹ nicht »im Sinne eines Appells an den Willen« 100 missverstanden werden darf. Sinn-Erfahrung lässt sich nicht manipulieren und ›erzeugen‹, wenngleich die Werbe-Industrie dies oftmals zum Inhalt hat und vielen Menschen kurzfristig das Gefühl gibt, sie könnten Sinn ›machen‹. 101 Der Appell, Sinn zu wollen, zu intendieren, ist für Frankl widersinnig, da die Erfahrung von Sinn immer Geschenkcharakter hat. ›Wille zum Sinn‹ bedeutet in Logotherapie und Existenzanalyse die der geistigen Person eingeborene Ausrichtung, Sinn erleben bzw. erfahren zu wollen und zu können. Der Begriff der Selbsttranszendenz erfährt bei Frankl noch eine zweite Dimension. Indem er aus all seinen Beobachtungen ableitet, dass das Leben »seinen Sinn erst aus anderen, nichtbiologischen Bezügen« 102 erhält, attestiert er diesen Bezügen ein transzendentes Moment: »Das Leben transzendiert sich selbst […] ›in die Höhe‹ – indem es einen Sinn intendiert.« 103 So stünden die Selbsttranszendenz des Menschen und die Selbsttranszendenz des Lebens in einer engen Beziehung zueinander. Für beide gelte, dass sie auf ein übergeordnetes Ganzes ausgerichtet seien, das Frankl mit dem Ganzen eines Mosaiks vergleicht, dem die Einzigartigkeit jedes einzelnen Steinchens gegenüberstehe, das diesem Mosaik seinen Wert verleihe: Der vom Leben intendierte Sinn sei erst vom Ganzen her erkennbar, der Mensch, der dieses transzendente Moment lebt, lebe behutsamer und offener auf Sinn hin. Ebd. S. 103. Ebd. S. 101. 101 Die Erfahrung, dass der ›gemachte‹ Sinn eben kein Sinnerfahrung ermöglicht, kann laut Existenzanalyse in letzter Konsequenz zum existenziellen Vakuum führen. 102 Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 113. 103 Ebd. S. 113. 99

100

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Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung

Frankl sieht die Selbsttranszendenz menschlicher Existenz auch biologisch verortet und repräsentiert, indem er zum Beispiel auf das menschliche Auge zu sprechen kommt. 104 Die Tatsache, dass das Auge sich selbst nicht wahrnehmen, nicht ›sehen‹ kann – abgesehen von seiner ›Abbildung‹ im Spiegel – erweitert er zur Aussage, dass auch das Auge selbsttranszendent sei. Wie das Auge seine Bedeutung erst dadurch erhalte, dass es die Umwelt wahrnehme, so verwirkliche der Mensch im analogen Sinn »sich selbst, wenn er sich selbst übersieht, sei es, dass er einem Partner sich hingibt, sei es, dass er in einer Sache ›aufgeht‹«. 105 Dieses Sich-selbst-Übersehen oder Sich-selbst-Vergessen als conditio sine qua non für die Selbstverwirklichung des Menschen wird von Frankl an anderer Stelle auch als »jenes fundamentalontologische Charakteristikum menschlichen Daseins« 106 bezeichnet: Der Mensch sei auf die Welt hin orientiert, innerhalb derer er nach Sinnverwirklichung suche, oder auf einen anderen Menschen hingeordnet, den er lieben könne. In beiden Fällen intendiere er nicht die Selbstverwirklichung, die er so verfehlen würde, sondern er verwirkliche Werte, die ihm durch die Erfahrung von Sinn die Selbstverwirklichung ermöglichten. Weiter bezieht Frankl die Thematik der Selbsttranszendenz noch auf Situationen von Krieg und Folter. 107 Er selbst hat in vier Konzentrationslagern erfahren, dass es keinen ausreichenden Wert darstellt, bloß zu überleben; das reine Am-Leben-Bleiben wurde als sinnlos erlebt, ja als unmöglich. Da Mensch-Sein immer bedeute, auf etwas ausgerichtet bzw. hingeordnet zu sein, das man nicht wieder selbst ist, galt das auch für diese Extremerfahrungen in Dachau und Auschwitz. Es gilt, so haben es Militärpsychiater in aller Welt bestätigt, folgende Grundthese: Jene Kriegsgefangenen waren am ehesten fähig zu überleben, »die auf Zukunft hin orientiert waren, auf ein Ziel in der Zukunft, auf einen Sinn, den in der Zukunft zu erfüllen es galt«. 108 In seinem Buch »… trotzdem Ja zum Leben sagen« nennt Frankl einige Aspekte seiner Orientierung auf Zukunft hin, die ihn letztlich die Konzentrationslager überleben ließen, beispielsweise der Gedanke, seine Frau wiederzusehen, oder die Absicht, an seiner ExistenzVgl. ebd. S. 201. Ebd. S. 201. 106 Frankl, Viktor E.: Der unbewußte Gott. Psychotherapie und Religion. München 10 2010. S. 83. 107 Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 41. 108 Ebd. S. 41. 104 105

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

analyse weiter zu arbeiten, um sie zu veröffentlichen, oder auch die Vorstellung, vor einem Publikum über die Erfahrungen im KZ zu sprechen. All dies trug dazu bei, über das Katastrophale hinauszukommen, es zu ›transzendieren‹. Der gegenüberliegende Pol zur Selbsttranszendenz ist für Frankl die Selbstdistanzierung: »Diese seine Fähigkeit charakterisiert und konstituiert den Menschen als solchen.« 109 Er nennt es eine menschliche ›Fähigkeit‹, »von sich selbst abzurücken« 110 , sich selbst gegenüberzutreten. Das geschehe zum Beispiel im Humor, dem gerade in therapeutischen Prozessen ein hoher Stellenwert zukomme. In diesem Zusammenhang kreiert Frankl als therapeutisches Mittel schlechthin die »paradoxe Intention« 111 , die von der »paradoxen Intervention« 112 zu unterscheiden ist. Die paradoxe Intention fordert die PatientInnen geradezu auf, sich in paradoxer Weise genau das herbeizuwünschen, wovor sie Angst haben. So könnten sich die Betroffenen von einer neurotischen Angst distanzieren, das Symptom werde gleichsam objektiviert. 113 Wichtig für diese Form der Therapie ist die ›Distanz zum Symptom‹, die, wenn die Therapie erfolgreich ist, eine Umstellung in der Einstellung zum neurotischen Verhalten herbeiführt. Drei Beispiele 114 seien hier kurz zur Verdeutlichung angeführt. •

Eine Frau leidet an Klaustrophobie, Agoraphobie, Höhenangst, an Angst beim Überschreiten von Brücken und unter Angstzuständen in Aufzügen. Sie wird – im Sinne der paradoxen Intention – von einem fachkundigen Therapeuten angewiesen zu kollabieren und sich vorzunehmen, so ängstlich wie möglich zu sein. Nach einigen Wochen der Therapie erklärt sie ihrem Arzt,

Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 231. Ebd. S. 231. 111 Die paradoxe Intention ist eine von Viktor Frankl entwickelte psychotherapeutische Methode, in der der Klient dazu angeleitet wird, eine neurotische Verhaltensweise mit dem Ziel ihrer Überwindung absichtlich auszuüben. Mittels dieser Technik lässt sich nach Frankl der Teufelskreis der Erwartungsangst, also der Angst vor der Angst, durchbrechen. 112 Die paradoxe Intervention ist eine psychotherapeutische Methode, die in den 1970er Jahren besonders in der systemischen Therapie als Mittel eingeführt wurde, um paradoxe Kommunikation aufzulösen. Bei der Symptomverschreibung wird das als problematisch verstandene Verhalten gefördert. 113 Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 207 f. 114 Vgl. ebd. S. 234 f., S. 207 f. und S. 231 f. 109 110

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Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung





dass sie sich zum Beispiel im Aufzug so bemühe zusammenzufallen und panische Angst zu haben, jedoch ›gelinge‹ ihr das nicht mehr. Ein Platzangstkranker, der beim Ausgehen von der Angst geplagt ist, ihn könne der Schlag treffen, wird vom Arzt angewiesen sich vorzunehmen, beim Verlassen des Hauses auf der Straße vom Schlag getroffen zusammenzusinken. Dazu soll er sich selbst sagen, dass dies ja schon so oft passiert sei und heute sicher wieder passiere. Bei diesem Vorsatz kommt ihm zu Bewusstsein, wie wenig seine Angst eine Realangst ist. Eine Studentin leidet unter Tremorphobie (Angst zu zittern), die vor allem dann auftritt, wenn der Anatomieprofessor den Seziersaal betritt. Sie nimmt sich vor, dem Professor beim nächsten Mal zu zeigen, wie gut sie zittern kann, ihm geradezu etwas ›vorzuzittern‹. Auch in diesem Fall führte »der heilsame Wunsch« 115 zur Heilung.

In den meisten Fällen gehört zum Heilungsvorgang auch Humor bzw. ein Lachen, das Distanz schaffen kann. Der ›heilsame Wunsch‹, das zu verstärken, was man loswerden will, sei ja nicht ernsthaft gemeint, »aber es kommt ja nur darauf an, dass man einen Augenblick lang ihn hegt; der Patient lacht zumindest innerlich in sich hinein, im gleichen Augenblick, und hat das Spiel gewonnen. Denn dieses Lachen, aller Humor, schafft Distanz, lässt den Patienten von seiner Neurose sich distanzieren. […] und schließlich wird er es lernen, seiner Angst ins Gesicht zu lachen.« 116

Nun ist es wichtig, die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung auch außerhalb des therapeutischen Kontextes in ihrer Bedeutung zu sehen. Dazu sei auf die Dimensionalontologie 117 rückverwiesen, die von den drei Dimensionen des Menschen – Körper, Psyche und Geist – spricht. Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung ist für Frankl, die »Fähigkeit des Menschen, sich vom Psychophysicum zu distanzieren«, 118 also von jenen beiden ›Dimensionen‹, Körper und Psyche, denen gegenüber der Mensch nicht frei sei. Ausschließlich die geistige Dimension, so Frankl, sei das Freie im Menschen und mache unser Person-Sein aus. Zum ›Psychophysicum‹ gehören auch die Triebe, denen der 115 116 117 118

Ebd. S. 232. Ebd. S. 232. Siehe Kapitel 2.2. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 148.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Mensch nicht blind ausgeliefert sei: »Schließlich macht dies ja das Menschliche am Menschen aus: dass sich der Mensch von den Trieben distanzieren kann und nicht mit ihnen identifizieren muss.« 119 Im Zusammenhang mit der Fähigkeit der geistigen Person, sich dem Psychophysicum entgegenzustellen, ist die Rede von der »Trotzmacht des Geistes« 120 angesiedelt. Diese ›Trotzmacht‹, die in den Bereich der Freiheit des Menschen gehöre, ermögliche dem Menschen eine personale Stellungnahme zu allem, was auf ihn zukomme. Vor allem mit Hilfe dieser ›Trotzmacht‹, sagt Frankl, habe er die Konzentrationslager überlebt. Neben den Trieben, von denen der Mensch sich im Sinne der personalen Stellungnahme distanzieren könne, nennt Frankl noch weitere psychophysische Befindlichkeiten: Schmerz, Angst, Trauer und Ärger. Zur Angst sei hier jenes Beispiel erwähnt, das oftmals herangezogen wird, wenn es um das Überwinden von psychischen Hindernissen geht. Der junge Viktor Frankl war vom Bergsteigen fasziniert, es stellte einen Wert dar, von dem er berührt war, jedoch hatte er Höhenangst. Mit seinem viel zitierten Ausspruch »Ich brauche mir nicht alles gefallen zu lassen, auch nicht von mir selbst!« 121 macht er darauf aufmerksam, dass der Mensch in der Lage sei, durch eine Wertberührung Barrieren zu überwinden, indem sich die Trotzmacht des Geistes stärker erweise, als es das Psychophysicum zuzulassen scheine. Indem sich Frankl seiner eigenen Angst gegenüberstellte, sich von ihr distanzierte, konnte er, berührt vom Wert des Bergsteigens und Kletterns, durch seine Stellungnahme die Höhenangst überwinden. Das Klettern wurde für ihn zu einer Kraftquelle bis ins hohe Alter, und als Wortspiel mit Blick auf Sigmund Freuds Tiefenpsychologie spricht man auch von der ›Höhenpsychologie‹ Viktor Frankls. Der Begriff der ›Stellungnahme‹ ist untrennbar mit dem Begriff der ›Selbstdistanzierung‹ verbunden. ›Stellungnahme‹ als personaler Akt bezeichnet den ›Beitrag‹ der Person im »personalen Dreieck« 122 . Der Mensch sei mit einer Situation konfrontiert, die einen ›Eindruck‹ auf ihn mache. Mit seiner Stellungnahme ›bewerte‹ er diesen Eindruck als Person authentisch und, wie vorhin analysiert, in ›Selbst119 120 121 122

Ebd. S. 148. Ebd. S. 148. Zit. nach: Khinast, Günter: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 271. Khinast, Günter: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 288.

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Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung

distanzierung‹. Diese Stellungnahme bestimme das weitere Vorgehen des Menschen durch die Entscheidung für einen bestimmten ›Ausdruck‹ ; das könne ein Handeln oder auch ein Nicht-Handeln bedeuten. Die Bewegung von der Stellungnahme zum Ausdruck sei ein Akt der ›Selbsttranszendenz‹. Die folgende Skizze 123 zeigt das personale Dreieck, das Alfried Längle zur Veranschaulichung der Stellungnahme entworfen hat. ›SD‹ steht für Selbstdistanzierung und ›ST‹ für Selbsttranszendenz. Die Skizze zeigt eine Bewegung, die täglich auf jeden Menschen unzählige Male ›zutrifft‹ oder von ihm zu ›leisten‹ ist. Stellungnahme SD

Eindruck









123

ST

Ausdruck

Ein Mensch ist mit etwas konfrontiert: mit einem anderen Menschen; mit einem Wort; mit einer Aufforderung; mit etwas, das ihn lockt; mit etwas, das ihn abstößt; mit Gewalt; mit Krankheit; mit Streit; mit dem Wecker; mit einem Sonnenaufgang; mit Musik; mit einem Berg an Arbeit; mit irgendeinem ›Eindruck‹ des ›täglichen‹ Lebens. Der Mensch bezieht zu diesem Eindruck Stellung: Wie wirkt das auf mich? Was fühle ich? Was ist von mit gefragt? Wie geht es mir damit? Wie sehr freut mich das? Wie sehr belastet mich das? Wie sehr betrifft es mich? – Dabei hilft ihm die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, sich selbst gegenübertreten zu können, um Distanz zu gewinnen. Nach dieser ›Stellungnahme‹ ›entscheidet‹ sich der Mensch, ob er handelt oder nicht, wie er handelt und was er genau tut. – Dabei hilft ihm die Selbsttranszendenz, über sich hinauszukommen, sich zu transzendieren. Jetzt erst kommt es zum ›Ausdruck‹ dessen, wofür der Mensch sich entschieden hat: antworten, arbeiten, nichts tun, zurückschlagen, zum Arzt gehen, ein Medikament nehmen, dem Chef Ebd. S. 288.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht



die Meinung sagen, mit der Arbeit zu beginnen, schnell zu arbeiten, langsam zu arbeiten, zu schweigen, eine Arbeit zu verweigern, der eigenen Freude Ausdruck zu verleihen – u. v. a. Wenn der Mensch keinen Schritt ›übergangen‹ hat, vor allem sich selbst nicht übergangen hat, ist er ›authentisch‹, handelt er ›personal‹.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Dynamik dieser Skizze ein ideales personales Geschehen darstellt: Ohne (personale) Stellungnahme wird der Ausdruck weder dem Menschen in seiner Einzigartigkeit noch der Situation in ihrer Einzigartigkeit gerecht. Oftmals handeln Menschen reflexartig auf einen Eindruck hin und ›tun‹ etwas im Sinne des Ausdrucks, indem sie sich selbst ›übergehen‹. In diesem Fall fehlen sowohl Selbstdistanzierung als auch Stellungnahme, im Ausdruck ist die Person somit nicht erkennbar. Der Satz ›Man tut so …‹ ersetzt dann das personale Geschehen. In der personalen Stellungnahme verbinde die Person den Eindruck mit dem Eigenen, bevor der Eindruck zu einem Ausdruck gebracht werde. Sie integriere die Empfindung, die der Eindruck ausgelöst hat, sie integriere die Resonanz auf eine mögliche Wertberührung und nehme Bezug zu den anderen Werten der eigenen Lebenszusammenhänge. Beim genauen Hinschauen auf den Eindruck brauche es Selbstdistanzierung, die Entscheidung für einen Ausdruck brauche die Selbsttranszendenz. Aus der Dynamik des personalen Dreiecks gehe hervor, dass Selbstdistanzierung die Voraussetzung für Selbsttranszendenz ist und dass beide Bewegungen die Fähigkeit des authentischen Umgehen-Könnens und Sich-in-Beziehung-Bringens der Person ausmachen. Frankl formuliert in Bezug auf diese Dynamik: »Das Geistige geht wesensmäßig niemals in einer Situation auf; vielmehr ist es immer imstande, von einer Situation – statt in ihr aufzugehen – ›abzustehen‹ : Abstand zu nehmen, Distanz zu gewinnen, sich einzustellen zur Situation. Erst aus diesem Abstand heraus hat das Geistige Freiheit, und erst aus dieser seiner geistigen Freiheit heraus vermag der Mensch, sich so oder so zu entscheiden: für oder gegen eine Position, für oder gegen eine Disposition, eine Charakteranlage oder eine triebhafte Veranlagung; mit einem Wort: erst aus dieser seiner geistigen Freiheit heraus vermag der Mensch, einen Trieb zu bejahen oder zu verneinen – je nachdem.« 124

124

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 143.

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Selbsttranszendenz und Selbstdistanzierung

Selbstdistanzierung gehört für Frankl auch zum Bereich ›Charakter‹, demgegenüber, wie es bereits skizziert wurde, der Mensch Freiheit habe, ihn zu formen: Der Mensch, der die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung nutze, entscheide laut Frankl letztlich selbst über seinen Charakter. Entsprechend dem inneren Konnex von Biografie und Werk geht Frankl auch in Bezug auf Selbstdistanzierung auf das Thema der Folter ein. Er unterscheidet zunächst die Stellungnahme zu einem erlittenen Leid vom ursprünglichen Schmerz, von der ursprünglichen Angst und von allen anderen ursprünglichen Befindlichkeiten. Es gibt »Verzweiflung über das Traurigsein – Angst vor der Angst – Ärger wegen des Ärgers – oder […] ›Schmerz über den Schmerz‹. Hier haben wir es eben überall zu tun mit einer sekundären Stellungnahme.« 125

Dann geht er auf die Situation eines Verhörs mit Folter ein, in dem ein Mensch unter Schmerzen aufschreit und zusammenzuckt, was im Einklang stehe mit dem Vorgang der Folter. Der Organismus des Menschen sei so konstituiert, dass er zusammenzucke und aufschreie, wenn ihm Schmerzen zugefügt werden. Doch dann kommt Frankl wieder auf die Trotzmacht des Geistes zu sprechen, die den Menschen dazu führen könne, nicht automatisch so zu handeln, dass man zwingend der weiteren Folter entgeht: »Aber dass dieser gefolterte Mensch der Folter trotzt, indem er trotz Folter keine Namen preisgibt, sondern schweigt: das leistet das Geistige.« 126 In diesen Zeilen schwingt etwas mit, das sich dem allgemeinen Diskurs einigermaßen entzieht. Die Zeilen können gelesen werden als persönliches Zeugnis auf Grund von Erlebtem, vor dem man eher ins Schweigen kommt. Auch die vielen Berichte, die es über Märtyrer gibt, an die zu denken hier nahe liegt, ringen mir als Leser höchsten Respekt und Betroffenheit ab. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, hier die Argumentation von Frankl – selbst Opfer und Arzt – zu studieren, um mehr von der Trotzmacht des Geistes zu verstehen. Dieses Geistige ist es, das es ›leistet‹, trotz Folter zum Beispiel keine Namen preiszugeben. »[Es] ist die ›Trotzmacht des Geistes‹, und sie erstreckt sich genau bis dorthin, wo der gequälte Mensch vollends das Bewusstsein verliert, wo er in – Ohnmacht fällt: So wie das Zucken des Gefolterten und der Aufschrei des Gequälten eigentlich ein Zucken und ein Aufschrei des Organismus sind, aber nicht der Person, so ist diese Ohnmacht eine Ohnmacht des Psychophysicums und

125 126

Ebd. S. 149. Ebd. S. 150.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

nicht des Geistes; denn in dieser Ohnmacht dokumentiert sich ja letztlich die Trotzmacht des Geistes.« 127

Die Schlussfolgerung, dass im Bewusstlos-Werden eines Gequälten noch einmal diese Trotzmacht des Geistes zu erkennen sei, weist darauf hin, dass Viktor Frankl als Arzt und Psychologe die schrecklichen Erlebnisse in den Konzentrationslagern neben dem ›OpferSein‹ noch einmal unter anderen, wissenschaftlichen Gesichtspunkten ›sehen‹ konnte. Dass viele dieser Gesichtspunkte in Logotherapie und Existenzanalyse eingeflossen sind, gibt diesen beiden Richtungen eine ganz besondere ›Note‹ bzw. ›Färbung‹. Für den Religionsunterricht ist der ›Sitz‹ dieser Themen evident. Das Bezogen-Sein auf Mitmenschen und Welt, wie es die Selbsttranszendenz durchbuchstabiert, birgt eine Fülle an Zugängen zu zentralen Themen des Lehrplans, ebenso die Rede von der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung. Letzteres kann auch auf ganz persönliche Themen der SchülerInnen bezogen werden, die dem Religionsunterricht jene Spannung und Aktualität verleihen, die ihm auch ein Stück Legitimation im Kontext einer säkularisierten Schule geben.

2.7. Gewissen In seiner »Allgemeinen Moraltheologie« 128 weist Helmut Weber 129 darauf hin, dass es keine einheitliche Auffassung von ›Gewissen‹, einem Schlüsselbegriff der christlichen Theologie, gibt. 130 In der jüngeren Philosophie wurden besonders die Theorien von Sigmund Freud und C. G. Jung diskutiert und rezipiert, die Aussagen im Rahmen der Entwicklungspsychologie erfuhren viel Resonanz und das Vatikanum II hat einen Gedanken aus den Menschenrechten, den der Gewissensfreiheit, ausdrücklich festgehalten. Im Artikel 16 der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et Spes« wird formuliert: »Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben Ebd. S. 150. Vgl. Weber, Helmut: Allgemeine Moraltheologie. Ruf und Antwort. Graz/Wien/ Köln 1991. 129 Helmut Weber (1930–2005) war von 1966–1997 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät in Trier. 130 Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 171–186. 127 128

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Gewissen

seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird.« (16,9). Und dann folgt der Satz: »Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.« (16,10). Damit ist theologisch geklärt, dass der Mensch seinem Gewissen folgen ›muss‹, es ist die letzte und wichtigste Instanz für sein Handeln, betrifft seine Würde, und er wird einmal danach gerichtet werden, ob er diesem Gewissen gefolgt ist. Der Gewissensbegriff von Viktor Frankl trägt die Kurzformel: »Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ.« 131 »[Es ist ein] Souffleur, der einem ›eingibt‹, in welcher Richtung wir uns zu bewegen haben, in welcher Richtung wir vorzugehen haben, um an die Sinnmöglichkeit heranzukommen, deren Verwirklichung eine gegebene Situation uns abverlangt«. 132

In Kenntnis und Abhebung von Sigmund Freud unterscheidet Frankl zwischen ›Gewissen‹ und ›Über-Ich‹ 133 : Während das Über-Ich – als gespeicherte Summe aller tradierten sittlichen Werte und Normen – den Menschen mit Schuldgefühlen, Zwängen, Erwartungen und Verboten konfrontieren könne, begleite einen das Gewissen als guter Freund, der fordert, doch nie überfordert, und der für uns als Orientierungshilfe zur Sinnverwirklichung fungiere. Daher bezeichnet Frankl dieses menschliche »Urphänomen« 134 Gewissen als ein (angeborenes) Organ, das für den Sinn zuständig ist. In dieser Sprechweise gibt es kein ›schlechtes Gewissen‹, das einen plagt, wenn man etwas ›falsch‹ gemacht hat, sondern einen »Instinkt […], der – wie wir gesehen haben – den Menschen zu seinen eigensten Lebensaufgaben hinführt«. 135 Wegbereiter 136 für dieses Verständnis von Gewissen ist Rudolf Allers, der bereits für Frankls Analysen zu ›Person, Charakter und Persönlichkeit‹ als geistiger Vater erwähnt wurde. Frankl erweitert Allers’ Analysen zu Gewissen und verbindet diese mit ›Wert‹, mit ›Sinn‹ und mit seinem Person-Begriff. Für ihn ist das Gewissen prä131 132 133 134 135 136

Ebd. S. 15. Ebd. S. 58. Vgl. ebd. 143 f. Frankl: Der unbewußte Gott. 2010. S. 23. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 96. Vgl. Kühn: Sinn – Sein – Sollen 1995. S. 100–116.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

logisch 137 , da es im geistig Unbewussten wurzelt. Er zeigt dieses geistig Unbewusste 138 als eine Größe neben dem triebhaft Unbewussten auf und spricht vom »unreflektierten Vollzug« 139 . Gewissen als menschliches Urphänomen ist in dieser Konzeption somit »prälogisch« 140 und »prä-reflexiv« 141 , die Erkenntnisart ist die ›Intuition‹, ein tiefes Wissen um das eigene Wesen und den Sinn im Leben. Allerdings räumt Frankl ein, dass das Gewissen den Menschen auch irreführen könne, da es der Endlichkeit, der ›condition humaine‹ unterworfen sei: »[B]is zum letzten Augenblick, bis zum letzten Atemzug weiß der Mensch nicht, ob er wirklich den Sinn seines Lebens erfüllt oder nicht vielmehr sich nur getäuscht hat.« 142

Dem Wagnis könne der Mensch also nicht entkommen, seinem Gewissen folgen ›müsse‹ er dennoch. Es ist in Bezug auf dieses Sichirren-Können vielleicht paradox und dennoch konsequent zugleich, wenn Frankl sagt, es gebe im eigentlichen Sinn keine Gewissenskonflikte, denn »was einem das Gewissen sagt, ist eindeutig. Der Konfliktcharakter wohnt vielmehr den Werten inne«, 143 da es Situationen gebe, in denen der Mensch vor eine Wertewahl gestellt sei. In diesem Fall zähle eben die vorhin erwähnte ›Intuition‹ 144 , die auch als Akt der Schau bezeichnet werden könnte, die begleitet werde von einem Gefühl dessen, was richtig ist. Gegenwärtig ist öfter die Redeweise zu hören, dass dies oder jenes Sinn ›macht‹. Aus Frankls Existenzanalyse geht demgegenüber sehr klar hervor, dass man Sinn nicht ›machen‹ kann, er kann ›gefunden‹ werden: »Sinn muss aber nicht nur, sondern kann auch gefunden werden, und auf der Suche nach ihm leitet den Menschen das Gewissen. […] Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren.« 145 137 Vgl. Frankl, Viktor E.: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München 1980. S. 66. 138 Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 134 f. 139 Ebd. 1998. S. 134. 140 Frankl: Der unbewußte Gott. 2010. S. 23. 141 Vgl. ebd. S. 23. 142 Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 77. 143 Ebd. S. 80. 144 Vgl. ebd. S. 76. 145 Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 15.

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Gewissen

Frankl geht von zwei Prämissen aus: In jeder Situation gebe es einen ›verborgenen‹ Sinn, und der Mensch könne diesen Sinn ›aufspüren‹. Wenn das Gewissen jenes ›Organ‹ ist, das dem Menschen die Fähigkeit für dieses ›Aufspüren‹ verleiht, dann ergibt sich der Umkehrschluss, dass dieses Organ jeweils dann nicht ›funktioniert‹ oder ›krank‹ ist, wenn der Mensch diesen je einmaligen und einzigartigen Sinn nicht findet. Die pointierte Rede vom »existentiellen Vakuum« 146 hat hier ihren Ort, jene Erfahrung von Sinnlosigkeit, mit der ein Logotherapeut häufig konfrontiert ist. Frankl stellt fest: »Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unseren Zeitalter muss es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen zu verfeinern, so dass der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die 10 Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, muss der Mensch instand gesetzt werden, die 10000 Gebote zu vernehmen, die in den 10000 Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert.« 147

Diese ›Verfeinerung‹ des Gewissens lässt sich mit ›Gewissensbildung‹ in Beziehung bringen, die im religiösen Kontext eine wichtige Aufgabe hat; das Problem des Sinnlosigkeitsgefühls jedoch ist mit ›Gewissensbildung‹ allein noch nicht gelöst. Frankl, der von sich als Therapeut sagt, dass er tagtäglich mit diesem ›Phänomen‹ der inneren Leere konfrontiert sei – er nennt es »ein Gefühl einer abgründigen Sinnlosigkeit des Daseins« 148 – hat seiner Therapieform, der Logotherapie, gerade diesen Namen gegeben, weil er die Frage nach ›Sinn im Leben‹ für die zentrale Frage aller Menschen hält. Logotherapie ist eine Therapie ›vom Sinn her‹ oder ›auf Sinn hin‹ : beide Richtungen sind inkludiert. Die Logotherapie bietet ein großes Repertoire an Möglichkeiten zu erreichen, dass die Patientin bzw. der Patient ihr bzw. sein Sinn-Organ ›Gewissen‹ wieder ›gebrauchen‹ kann, dass es wieder zum ›Wegweiser‹ bzw. zum ›guten Freund‹ oder zur ›guten Freundin‹ wird. Neben den bereits erwähnten Eigenschaften des Gewissens, prälogisch und prä-reflexiv zu sein, kommt eine dritte hinzu. Es sei auch

146 147 148

Ebd. S. 16. Ebd. S. 16. Ebd. S. 11.

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Ausgewählte Themen der Existenzanalyse und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

›prä-moralisch‹ 149 , da es »aller expliziten Moral wesentlich vorgängig ist«. 150 Diese Bezeichnung könnte missverstanden werden, verwechselt man ›prä-moralisch‹ mit ›a-moralisch‹. »Tatsächlich geht der Logotherapeut nicht moralistisch, sondern phänomenologisch vor. Und tatsächlich fällen wir keine Werturteile über irgendwelche Tatsachen, sondern machen Tatsachenfeststellungen über das Werterleben des schlichten und einfachen Menschen – er ist es, der immer schon darum weiß, was für eine Bewandtnis es hat mit dem Sinn des Lebens, der Arbeit, der Liebe, und, last but not least, des tapfer durchgestandenen Leidens.« 151

Die Gewissensentscheidung eines Menschen kann ihn in Konflikt zu allgemeinen oder speziell religiösen Werten bringen. Das bedeutet, dass sich die Frage der Moral oder des moralischen Handelns erst ›nachher‹ stellt, nachdem das Sinn-Organ einen Weg angezeigt hat. Wie ein Mensch dann letztlich handelt, entscheidet er laut Frankl durch seine Stellungnahme, denn der Mensch ist nach Frankls Anthropologie auch dem Gewissen gegenüber frei: »[D]iese Freiheit besteht einzig und allein in der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, nämlich: aufs Gewissen zu hören oder es in den Wind zu schlagen.« 152 Diese Freiheit der Person in ihrer Stellungnahme gehört für Viktor Frankl zum innersten Kern des Menschen, sie zeichnet ihn geradezu als Menschen aus. Das Urphänomen Gewissen ist für Frankl direkt verbunden mit der Frage nach Gott. In seinem Buch »Der unbewußte Gott« setzt er sich mit dem Glauben und mit verschiedenen Formen von Atheismus auseinander, er bringt die Logotherapie in Beziehung zur Theologie. Bezogen auf das Thema Gewissen trägt ein eigenes Kapitel den Titel »Die Transzendenz des Gewissens« 153 . Die Bezeichnung ›unbewusster Gott‹ begründet Frankl in Zusammenhang mit einer ›unbewussten Gläubigkeit‹ des Menschen: »Unsere Formel vom unbewussten Gott meint also nicht, dass Gott an sich, für sich, sich selbst – unbewusst sei; vielmehr meint sie, dass Gott mitunter uns unbewusst ist, dass unsere Relation zu ihm unbewusst sein kann, nämlich verdrängt und so uns selbst verborgen.« 154

149 150 151 152 153 154

Vgl. Frankl: Der unbewußte Gott. 2010. S. 23. Ebd. S. 23. Ebd. S. 17. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 80. Frankl: Der unbewußte Gott. 2010. S. 39–45. Ebd. S. 47.

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Gewissen

In Bezug auf das Urphänomen Gewissen ist die Rede von der Stimme des Gewissens, die zu uns spricht. Und, analog zur Formel der ›kopernikanischen Wendung‹, hält Frankl fest: »Das Sprechen des Gewissens ist jedoch jeweils ein Antworten. Hier erweist sich der religiöse Mensch psychologisch gesehen als einer, der zum Gesprochenen den Sprecher hinzu erlebt, also gleichsam hellhöriger ist als der Nichtreligiöse.« 155

Die Nähe zur Theologie ist hier evident, wenngleich Frankl stets betont, nicht theologisch zu argumentieren, da er kein Theologe sei. Er sagt auch sehr klar: »Ärztliche Seelsorge soll kein Ersatz für Religion sein.« 156 In Bezug auf den Intimbereich Religion zeigte er sich, wie aus seiner Biografie deutlich hervorgeht, eher scheu. Das Zwiegespräch mit Gott im Gewissen setzt für Frankl »Gott als ein persönliches Wesen« 157 voraus, als Personalität schlechthin, »als das erste und letzte Du« 158 . Wenn vorhin vom Gewissen als ›guten Freund‹ die Rede war, wird der Gedanke nun fortgesetzt: »In der Zwiesprache mit seinem Gewissen – in diesem intimsten Selbstgespräch, das es gibt – ist ihm sein Gott der Partner.« 159 Nicht zuletzt auf Grund dieser Nähe zur Theologie, nämlich Gott als ›Partner in diesem intimsten Zwiegespräch‹ zu bezeichnen, bietet sich an, im Religionsunterricht beim Thema ›Gewissen‹ auch auf Frankl zurückzugreifen. So entspricht es eben meiner persönlichen Erfahrung, dass gerade Beiträge von Nicht-Theologen, die wichtige religiöse Themen, wie zum Beispiel ›Gewissen‹ aufgreifen, den Religionsunterricht vertiefen und bereichern können.

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Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 96 f. Ebd. S. 269. Frankl: Der unbewußte Gott. 2010. S. 305. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 305. Ebd. S. 97.

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3. Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie

»Die Biografien liefern die Verflechtung von Orten, Daten, Namen, Begegnungen und schließen oft die Person in eine Kette von kategorischen ›Wie‹ ein, welche alle aus einer Warum-Erklärung hervorgehen, indem sie vorgeben, den Schlüssel zu einem Leben zu liefern – zu jenem Leben, von dem andere die Zeugen sind. Wir fassen den Menschen jedoch nicht durch den Blick der Zeugen, seien diese auch noch so nah oder verstohlen. Michel Henry identifiziert sich nicht mit dieser Liste von Erscheinungen und verweigert es, sich darin einschließen zu lassen.« 1

Mit diesen Worten beginnt Isabelle Thireau-Decourmont ein kurzes Kapitel über Michel Henry, das einem Interview mit dem französischen Philosophen aus dem Jahr 1999 entstammt. Ins Deutsche übersetzt wurde der Text von Rolf Kühn. Thireau-Decourmont wählte für dieses kurze Kapitel die ungewöhnliche Überschrift »Michel Henry – innere Biografie, heimliche Biografie« 2 , die sich aus der Dynamik der Radikalen Lebensphänomenologie selbst verstehen lässt. Es gibt von Michel Henry keine ausgiebige bzw. systematische Biografie, sondern mehrere kurze biografische Überblicke mit einigen wichtigen Daten, manche ausschließlich in französischer Sprache. Dass es keine vollständige Biografie gibt, mag mit einem zentralen Gedanken Henrys in Zusammenhang stehen: Im Zuge seines Bemühens, dem rein phänomenologischen Leben wieder einen Ort, eine Bleibe zu geben, weist er nachhaltig darauf hin, dass das Leben in seinem Innersten bedroht ist durch die fortschreitende Objektivierung unserer Wirklichkeit. Sebastian Knöpker formuliert diesen Gedanken von Michel Henry prägnant:

Thireau-Decourmont, Isabelle: Michel Henry – innere Biographie, heimliche Biographie. In: Kühn, Rolf/Nowotny, Stefan (Hg.): Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur. Freiburg/München 2002. S. 11. 2 Ebd. S. 11. 1

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Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie

»Die Ortlosigkeit des Lebens ergibt sich daraus, dass wir dazu tendieren, das Leben durch Stellvertreter und Äquivalente zu ersetzen: Fühlen kann demnach als biochemischer Prozess aufgefasst werden, die Arbeit als bloßes Hervorbringen von Produkten, der gefühlte Leib als Körper, also als Ding unter Dingen, die gelebte Zeit als physikalische Abfolge von Ereignissen, der gelebte Raum als dreidimensional Ausgedehntes, die eigene Biografie als chronologische Sammlung von Fakten und so weiter. Henry sagt vor diesem Hintergrund, dass die Wirklichkeit des Lebens von quantitativen Größen einer objektiven Wirklichkeit, der Zeit, dem Geld, dem Recht etc. aufgesogen wird, so dass es in seinem Innersten bedroht ist.« 3

Im Folgenden zeichne ich trotz dieser Bedenken einige mir wichtig erscheinende Lebensstationen von Henry mit dem Wissen nach, dass die ›chronologische Sammlung von Fakten‹ noch keine Biografie ist. So vermittelt dieses Kapitel keine Biografie im üblichen Sinn, ich verknüpfe vielmehr biografische Splitter mit philosophischen Inhalten. Es handelt sich mehr um die »Entwicklungslinie eines Werkes« 4 , vielleicht könnte man sagen: eines Lebens-Werkes. Dabei stütze ich mich auf folgende Quellen: erstens auf das kurze Kapitel »Michel Henry – ein biographischer Überblick« in Sebastian Knöpkers 2012 erschienen Buch »Michel Henry, Eine Einführung«. Zweitens auf das Kapitel »Michel Henry – innere Biographie, heimliche Biographie« von Isabelle Thireau-Decourmont aus dem Sammelband »Kühn/Nowotny (Hg.): Michel Henry, Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur. München 2002«. Drittens beziehe ich mich auf einen französischen Text 5 ohne Angabe einer Verfasserin bzw. eines Verfassers, der laut Rolf Kühn wahrscheinlich auf die Witwe Henrys zurückgeht. Meine ehemalige Französisch-Lehrerin Mag.a Elisabeth Arroyabe aus Innsbruck hat mir diesen Text dankenswerter Weise ins Deutsche übersetzt. Da mehrere dieser biografischen Daten in unmittelbarer Beziehung zum philosophischen Werk Michel Henrys stehen, können sie einen Beitrag leisten, manchen Gedankengängen dieses Philosophen besser folgen zu können.

3 4 5

Knöpker, Sebastian: Michel Henry. Eine Einführung. Düsseldorf 2012. S. 11. Thireau-Decourmont: Michel Henry. 2002. S. 11. Vgl. http://amichelhenry.free.fr/biographie.htm [10. 09. 2013].

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Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie

3.1. Jugendzeit – Krieg Michel Henry wird am 10. Januar 1922 in Haiphong, einer Stadt im damaligen Französisch-Indochina – im heutigen Vietnam – geboren. Sein Vater, ein Marinekommandant der französischen Armee, stirbt bei einem Verkehrsunfall, als er, Michel, der jüngere Sohn, 17 Tage 6 und sein älterer Bruder eineinhalb Jahre alt sind. Die Ehefrau des Verunglückten bleibt zunächst in Haiphong und widmet ihre Zeit und ihre Energie ihren beiden Kindern und verzichtet damit, wie schon vorher bei ihrer Hochzeit, ein zweites Mal auf eine mögliche Karriere als Pianistin. Henry erinnert sich in Bezug auf seine Kindheit vor allem an ausgiebige Kinderspiele im großen Garten und an lange Meeresüberquerungen, wenn die Familie zur Sommerfrische nach Frankreich und dann wieder zurück nach Französisch-Indochina gereist ist. Mit Haiphong verbindet ihn zeitlebens die Liebe zu den alten asiatischen Zivilisationen, zum Stil dieser Monumente und zu seinen Denkmälern. Die Übersiedlung nach Frankreich beginnt für Henry zunächst mit seinem Aufenthalt bei Freunden in Anjou, bis er zu seinem Großvater nach Lille zieht, der dort Chefdirigent des Orchesters des Konservatoriums ist. Dann zieht die Familie nach Paris, wo seine Mutter bis zu ihrem Tod im Jahre 1967 lebt. Henry wächst in einem der Kunst zugeneigten großbürgerlichen Umfeld auf. In der Schule in Paris gilt Henry als herausragender Schüler, wie sein Literaturprofessor betont. Er schließt die Schule mit der Matura ab und wendet sich dann fast ausschließlich der Philosophie zu; er betritt die »berauschende Welt der Ideen« 7 , die er nie mehr verlassen wird, und studiert Philosophie an der Universität in Lille. Besonders angetan ist er von den Kursen seines Professors Jean Hyppolite, mit dem ihn später eine Freundschaft verbinden und dessen Nachfolge an der Sorbonne ihm mehrmals angeboten wird, was er jedoch nicht annimmt. Seine ausschließliche Leidenschaft für die Philosophie führt zunächst dazu, dass Michel Henry als Lehrer an Höheren Schulen arbeitet. Im Winter 1942/1943 verfasst er seine Magisterarbeit mit dem Titel »Das Glück des Spinoza« 8 , die jedoch wegen kriegsbedingten Papierman6 7 8

Isabelle Thireau-Decourmont spricht von 3 Jahren. Thireau-Decourmont: Michel Henry. 2002. S. 12. »Le bonheur de Spinoza« (Das Glück des Spinoza) – ursprünglicher Titel von Hen-

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Jugendzeit – Krieg

gels und wegen der deutschen Zensur nicht veröffentlicht wird; dies geschieht erst nach dem Kriegsende 1945/1946. Der Krieg wird für Henry prägend: Er schließt sich, seinem Bruder folgend, der sich im Widerstand gegen die deutschen Besetzer in der Gruppe »Free French« 9 engagierte, einer Untergrundbewegung 10 von Intellektuellen an. Dadurch entgeht er auch dem »Service du travail obligatoire« 11 , einer Zwangsarbeit für das damals von den Deutschen besetzte Frankreich; die »Desertion vom Arbeitsdienst hätte die Erschießung bedeutet, wäre er gefangen worden.« 12 Sein Code-Name in der Resistance ist ›Kant‹, da er als einzige Lektüre die ›Kritik der reinen Vernunft‹ von Immanuel Kant in seinem Gepäck trägt. Auch lässt ihm seine Mitgliedschaft in dieser Partisanenbewegung genug Zeit, seinen Studien weiterhin nachzugehen. Unter dem Pseudonym ›Kant‹ erledigt Henry Botengänge für die Übermittlung von Informationen und teilweise auch Waffen, die ihn durch ganz Frankreich führten. »Ich sollte Leuten, welche ich nicht kannte, ein Paket übergeben. […] Ich bin den größten Teil der Nacht durchmarschiert und erschöpft habe ich mich auf einen Stein gelegt, um mich gegen die Feuchtigkeit des Bodens zu schützen. […] Bei der Ankunft am Gehöft habe ich ihnen mein Paket gegeben. Ich wollte ihnen etwas Nahrung abkaufen, Brot, Butter, Eier, Fleisch. Sie haben es mir gegeben, ohne etwas dafür zu verlangen.« 13

Ein Artikel über die deutsche Jugend in der Zeitung seines Widerstandsringes, mit dessen Abfassung er beauftragt war, wäre Henry beinahe zum Verhängnis geworden. Er benutzte als Quelle dafür Enzyklopädien, deren Richtigkeit er glaubte, obwohl die Kriegspropaganda auch schon bis dort vorgedrungen war. Als die Deutschen in

rys Diplomarbeit aus dem Jahr 1942. 1944 wurde diese Arbeit unter dem Titel »Le bonheur chez Spinoza« (Das Glück bei Spinoza) in: Revue d’histoire de la Philosophie 39 (1944), S. 67–100 und 41 (1946), S. 187–225 veröffentlicht, was der ursprünglichen Intention des Autors nicht vollständig entsprach. 9 Free French (oder Forces françaises libres oder France libre) waren französische Truppen, die im Zweiten Weltkrieg nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 an der Seite der Alliierten weiter gegen das nationalsozialistische Deutschland, dessen Verbündete und das Vichy-Regime kämpften. Gegründet wurde die Gruppe 1940 in London von Charles de Gaulle. 10 Diese Untergrundbewegung trug den Namen »Sektion Perikles«. 11 Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 17. 12 Thireau-Decourmont: Michel Henry. 2002. S. 13. 13 Ebd. S. 13.

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eine Versammlung eindrangen und unter anderem auch diesen Artikel mitnahmen, waren sie von der »Objektivität« 14 überrascht und ließen die Partisanen, darunter auch Henry, wieder frei, die an sich hätten erschossen werden sollen. »Es ist sein Glück bei diesen Missionen, in Paris oder Lyon in Bibliotheken gehen zu können, um dort seine Studien fortzuführen.« 15 Die Mitglieder der Widerstandsbewegung halten sich zunächst im Gebirge nahe Lyon auf und verlagern ihren Einsatz bei Wintereinbruch in die Stadt, die komplett von den Agenten des SS-Mannes Klaus Barbie 16 kontrolliert wird, der wegen seiner Grausamkeiten auch die Bezeichnung ›Schlächter von Lyon‹ trägt. 40 Jahre später – im Februar 1983 – wird er als Siebzigjähriger von der bolivianischen Regierung an Frankreich ausgeliefert, wo er im Zuge des ›Barbie-Prozesses‹ 1987 wegen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Die Zeit in der Resistance in den Fängen von Klaus Barbie hinterlässt bei Michel Henry tiefe Spuren, grauenvolle Erinnerungen; das Wort ›Untergrund‹, das in seinen Schriften einen prominenten Platz einnimmt, steht in direktem Zusammenhang mit diesen Erlebnissen: Leben sei nur im Untergrund möglich. »In der Tat, ich habe heimlich im Untergrund (dans la clandestinité) gelebt, als der Krieg zu Ende war. […] Jedes Leben ist heimlich.« 17 Das hat einen wesentlichen Einfluss auf seine Sichtweise von allem, was mit dem ›rein phänomenologischen Leben‹ zusammenhängt, denn aus dem »heimlichen Untergrund« 18 ist er niemals hervorgetreten. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass das letzte Kapitel des Buches »Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik« die Überschrift ›Untergrund‹ trägt.

Ebd. S. 14. Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 17. 16 Nikolaus »Klaus« Barbie alias Klaus Altmann war ein mehrfach verurteilter SSKriegsverbrecher. Über ihn wird berichtet, er habe mit Vergnügen gefoltert und gemordet, die Übernahme seines Kommandos in Lyon soll er mit dem Satz »Ich bin gekommen um zu töten!« untermauert haben. Aus den Prozess-Akten des »BarbieProzesses« geht hervor, dass er sich mit der Standard-Formel »Ich habe nichts zu sagen« in ein dauerhaftes Schweigen flüchtete. 17 Thireau-Decourmont: Michel Henry. 2002. S. 16. 18 Ebd. S. 16. 14 15

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Beginn der akademischen Laufbahn

3.2. Beginn der akademischen Laufbahn Nach Kriegsende widmet er sich ausschließlich seinen philosophischen Studien, um sich auf eine akademische Laufbahn vorzubereiten. Er absolviert die ›Agrégation‹, das ist die Vorbereitung für die Aufnahme in den höheren Schuldienst an Gymnasien als Lehrer für Philosophie; seinen Schuldienst tritt er in Casablanca an. Er beginnt 1945 seine Doktorarbeit in Philosophie mit dem Ziel, sich durch eigene philosophische Reflexionen auf die universitäre Laufbahn vorzubereiten. Die finanziellen Beihilfen durch diverse Stiftungsstipendien waren allerdings begrenzt, und so muss er bis 1960 zwischenzeitlich durch Unterrichten seinen Lebensunterhalt verdienen. Während eines Aufenthalts im Schwarzwald 1960 besucht er Martin Heidegger auf dessen Hütte in Todtnauberg, das Werk »Sein und Zeit« 19 kennt er bereits. Nach langen Gesprächen mit dem bereits prominenten Philosophen Heidegger entfernt er sich von dessen Denken. Er sieht in dessen Philosophie und im Denken vieler anderer Philosophen den großen Mangel, dass die ›klassische‹ Phänomenologie zu sehr vom Außen bestimmt ist, von der Frage nach dem Zusammenhang von Bewusstsein und Welt. Er ortet vermehrt die Lücken dieser intellektualistischen Philosophie. Henry spricht vom Fehlen der Inbetrachtnahme des Lebens so, wie es jeder empfindet. Durch sein Eingehen auf dieses Empfinden, das er als radikal subjektiv bezeichnet, überwindet er den herkömmlichen Dualismus von Körper und Geist. Er vereint, was nie hätte getrennt werden dürfen, nämlich den ›subjektiven Körper‹ (den »subjektiven Leib« 20 ) und das, was er schließlich »Fleisch« 21 nennt. Den Boden für seine Philosophie, die ›Philosophie der konkreten Immanenz‹, bereitet ihm Maine du Biran. 22 Seine aus zwei Teilen bestehende Doktorarbeit veröffentlichte Henry 1963 mit dem Titel ›L’Essence de la manifestation‹ (Das Wesen der Erscheinung), gefolgt von der Zusatzschrift, die 1965 unter dem »Sein und Zeit« ist das Hauptwerk der frühen Philosophie von Martin Heidegger (1889–1976). 1927 erschienen, gehört es seitdem zu den Jahrhundertwerken der Philosophie im 20. Jahrhundert. 20 Im Französischen: »corp«; auf Übersetzungsprobleme wird im Kapitel »Inkarnation« (4.4.) noch genauer eingegangen. 21 Im Französischen: »chair«. 22 Maine du Biran (1766–1824), auch »Francois Pierre Gonthie«: französischer Philosoph. 19

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Titel ›Phénoménologie et philosophie du corps‹ (Phänomenologie und Philosophie des Leibes) veröffentlicht wird. 23 ›Das Wesen der Erscheinung‹ wird für Michel Henry zum wichtigsten Forschungsgebiet. Trotz Bewunderung für Edmund Husserl 24 , dessen Phänomenologie ihn stark prägt, entfernt er sich auch von dessen Denken durch die Abkehr von der »Intentionalität des Bewusstseins« 25 , die damals die große zeitgenössische Entdeckung war. Jean Paul Sartre 26 und Maurice Merleau-Ponty 27 waren für ihn prominente französische Erben dieses Denkansatzes, die sich in der Verlängerung der klassischen Philosophie der Griechen nur der unpersönlichen Beziehung von Bewusstsein und Welt widmeten. Diese ›klassische‹ Philosophie übersehe, so Henry, das Wesentliche der Realität, nämlich das absolut phänomenologische Leben, in dem jedes Individuum zum Sein geboren werde, das nie außerhalb von sich selbst sei. Einerseits stellt für ihn die Ipseität 28 im Beweis der ontologischen Passivität eine unmittelbare Gewissheit dar 29 , andererseits stellt sich Henry gegen die damals in Mode kommende »Krise des Subjekts« 30 , die er als Unterprodukt der ›Philosophie der Repräsentation‹ sieht. Seine Gutachter, Jean Hyppolite 31 , Jean Wahl 32 , Paul Ricœur 33 , Ferdinand Alquié 34 und

In Frankreich besteht eine Doktorarbeit aus einer Haupt- und einer Nebendissertation, in welcher ein Kapitel der Hauptdissertation vertieft wird. 24 Edmund Husserl (1859–1938): Philosoph und Mathematiker, gilt als Begründer der Phänomenologie. 25 Unter »Intentionalität des Bewusstseins« versteht man die Gerichtetheit des Bewusstseins auf einen Gegenstand. Für Husserl gibt es kein reines Subjekt und kein reines Objekt, beide sind für ihn stets verbunden durch den Akt des Bewusstseins, in dem die Gegenstände konstituiert werden. 26 Jean Paul Sartre (1905–1980): französischer Romancier, Dramatiker, Philosoph und Publizist. 27 Maurice Merleau Ponty (1908–1961): französischer Philosoph und Phänomenologe. 28 Mit dem Begriff »Ipseität« wird die &›&Selbstheit« des Menschen bezeichnet, womit man begrifflich vermeidet, von der Vorstellung eines »gedachten« Selbst zu sprechen. 29 »Passivität« weist darauf hin, dass sich die Ipseität jedes Individuums allein durch »Affektion« ergibt, niemals durch »Intention«. 30 Jaques Derrida u. a. sprechen vom »Tod des Subjekts«. 31 Jean Hyppolith (1907–1968), französischer Philosoph. 32 Jean Wahl (1888–1974), französischer Philosoph. 33 Paul Ricœr (1913–2005), französischer Philosoph. 34 Ferdinand Alquié (1906–1985), französischer Philosoph. 23

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Henri Gouhier 35 sind im Februar 1963 stark beeindruckt durch seine Art der philosophischen Beweisführung, die mit dem Abbau bestehender Systeme beginnt, um am Ende einer rigorosen phänomenologischen Reduzierung, die mit neuen und klar definierten Begriffen arbeitet, neue Perspektiven zu eröffnen.

3.3. Universität in Montpellier 1956 heiratet Michel Henry Anne, 1960 bewirbt er sich erfolgreich für eine Stelle an der Universität in Montpellier und wird zum Maitre de Conférence (Privatdozent) und schließlich zum Professor für Philosophie ernannt, obwohl ihm die Nachfolge von Jean Hyppolith an der Sorbonne angeboten wird. Die geringere Arbeitsverpflichtung in Montpellier, die ihm mehr Zeit für das eigene Forschen einräumt, die Liebe zur schönen Umgebung, die ihn an Griechenland erinnert, und die Möglichkeit, die für ihn unverzichtbaren Sportarten 36 auszuüben, halten ihn dort bis zu seiner Emeritierung 1982, obwohl ihn mehrmals der Ruf nach Paris an die Sorbonne und auch nach Kanada an die Universität in Québec ereilt. Henry wird allerdings lange Zeit »nicht so wie Michel Foucault, Paul Ricœr oder Emmanuel Lévinas zu einer intellektuellen Leitfigur des damaligen Frankreich, sondern war nur einem kleineren Kreis von Interessierten bekannt.« 37 1965 beginnt Henry mit Studien zu Karl Marx, mit dem er sich anlässlich seiner Lehramtsprüfung beschäftigt hatte, und arbeitet das ›Genie des Denkers Marx‹ heraus, das seines Erachtens oftmals zu primär politischen Zwecken bis zur Unkenntlichkeit, vor allem in den Erscheinungsformen des Marxismus, missbraucht wurde. Reisen in kommunistische Länder, Tschechoslowakei, Ungarn und Ostdeutschland, bestärken seine Sichtweise vom Misserfolg dieses katastrophalen ›Denkansatzes‹, des Marxismus, nämlich in autoritärer Weise eine Gesellschaft auf rationaler Basis gründen zu wollen, ohne sich um das Individuum zu kümmern. Die Erklärung der eigentlichen Philosophie von Marx verlange eine langatmige Untersuchung; sei-

Henri Gouhier (1898–1994), französischer Philosoph mit dem Schwerpunkt Philosophiegeschichte. 36 Michel Henry übte mehrere Sportarten aus: Bergwandern, Skifahren, Kanufahren und Tennis. 37 Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 18. 35

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nem eigenen Denken sehr nahe scheinen Henry Marx’ Gedanken über die Subjektivität der lebendigen Arbeit. Jean Hyppolith, dessen Freund er inzwischen geworden war, drängt ihn, diese Arbeit über Marx zu vollenden, wenngleich er selbst durch seinen plötzlichen Tod nur die ersten Seiten kennen lernen kann. Die Marx-Studie stellt die erste Anwendung der Philosophie von Michel Henry dar, nämlich die ›Immanenz des konkreten Lebens‹ in Bezug auf Wirtschaft und Geschichte herauszuarbeiten. Zu einer Zeit, da die Macht der Sowjetunion noch unangetastet ist, verwirrt dieses ›störende‹, von einem Außenseiter veröffentlichte Buch die Medien von jeder Seite: von links, da es die Fundamente des Marxismus betrifft, die als ›Gesamtheit der Fehlinterpretationen‹ von Marx bezeichnet werden, und von rechts, da das Buch Karl Marx gewidmet ist, den Henry als einen der entscheidendsten Denker des Abendlandes bezeichnet. Ein Grund für diese Klassifizierung ist der Wahrheitsbegriff, den Marx nicht mehr theoretisch, sondern im praktischen Tun verortet, wie etwa am Phänomen ›Arbeit‹. Henry ist es wichtig, sich neben seinen philosophischen Studien auch der fiktionalen Literatur zu widmen, um sich auch in anderer Weise über das Leben auszudrücken. Seine Erzählung »Der junge Offizier« 38 , die er bereits 1947 verfasst hat, handelt von der Unmöglichkeit, der Existenz des Menschen eine logische Struktur zu geben. Diese philosophische Erzählung ist stark durch Kafka und Kierkegaard 39 geprägt. Sein zweiter, 1976 veröffentlichter Roman »Liebe mit geschlossenen Augen« 40 beschreibt den Niedergang einer glanzvollen Kultur, die an einen Höhepunkt gelangt war, durch die Wende einer Gemeinschaft gegen sich selbst: ein wiederkehrendes Phänomen des 20. Jahrhunderts, das von ihm in Anlehnung an den russischen Dichter Mandelstam 41 als das ›Jahrhundert der zerbrochenen Wirbelsäule‹ bezeichnet wird. Die Kritik hat auf diesen Roman zum Teil negativ reagiert, da man nur eine Anprangerung der VorkommHenrys ideal-realistischer Frühroman »Der junge Offizier« lautet im französischen Original »Le jeune Officier«. 39 Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 18. 40 »Liebe mit geschlossenen Augen«, im französischen Original »L’amour les yeux fermés«, wird von Rolf Kühn als Kulturvision bezeichnet. 41 Ossip Emiljewitsch Mandelstam (1891–1938) war ein russischer Dichter und Vertreter des »Akmeismus«, einer russischen Literaturströmung, die Mystik und Symbolismus zugunsten einer Gegenständlichkeit und Klarheit der Darstellung ablösen wollte. 38

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nisse des Mai 1968 42 gesehen und nicht wahrgenommen hat, dass durch die Nicht-Zeitgebundenheit des Romans der Finger auf alle Beispiele von menschenunwürdigem Tun, wie zum Beispiel auf die Vorfälle von Peking, 43 gelegt wird. Sein nächster Roman »Der Sohn des Königs« 44 aus dem Jahr 1981 legt auf symbolische Weise die Bedingungen des subjektiven Lebens dar. Für diesen Roman durchforscht Henry aktuelle psychiatrische Literatur, wie die Werke von Pierre Janet 45 , um seine Figuren glaubhaft als ›Wahnsinnige‹ bzw. als ›Psychotiker‹ darzustellen. Zugleich schreibt er an einer 1985 veröffentlichten »Genealogie der Psychoanalyse«, in der das Aufkommen des Begriffs des Unbewussten im Denken des Okzident thematisiert wird. Ursprünglich war für dieses Werk der Titel »Der verlorene Anfang« vorgesehen, der als Untertitel schließlich beibehalten worden ist: Die Umgestaltung des Affektes im Unbewussten durch eine ganze philosophische Tradition wird hier analysiert. 1987 veröffentlicht Henry seine Kulturkritik »Die Barbarei« 46 , in der er von der durch die Entwicklung der Technik unterstützten Zerstörung der Kultur durch die naturwissenschaftliche Ideologie, zum Beispiel durch den Positivismus, spricht. Diese, so der Autor, vervielfache sich als selbsttreibende Kraft der modernen Zeit, sie richte Vieles zugrunde und entfremde alle Formen der Existenz: Arbeit, Wirtschaft, Freizeit, Erziehung und Ethik – das Gesamt der menschlichen Handlungen. Henry bezieht sich in seiner Kritik auf seinen eigenen Begriff von Kultur, der durch seine ›Philosophie der Immanenz‹ geprägt ist. Weil sich die Kultur nicht auf die Kenntnisse von Künsten beschränke, sei sie vor allem fortwährende Umgestaltung des Lebens, das von seinem Wesen her auf Selbststeigerung abziele. Kultur, die zur Selbststeigerung führe, sei positive Entwicklung der Mai 1968, auch »Pariser Mai« genannt, war das Zentrum der 68er Bewegung in Frankreich, in der vor allem in Straßenschlachten ungezügelte Gewalt zum Ausbruch kam. 43 Mit den Vorfällen in Peking ist die Kulturrevolution durch Mao-Zedong angesprochen. 44 Im »Sohn des Königs«, im französischen Original »Le Fils du roi«, geht es, so Rolf Kühn, um Wahrheit unter der Form des Wahnsinns. 45 Pierre Janet (1859–1947) war ein französischer Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut. Mit seinen Werken wie »Der Geisteszustand des Hysterischen« aus dem Jahr 1894 erlangte er über die Grenzen hinaus Berühmtheit. 46 Vgl. Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Freiburg/ München 1994. 42

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ganzen Existenz des Menschen. Die gegenwärtige Selbstzerstörung hingegen, der Henry vehement entgegentreten will, bezeichnet er provokant als ›Barbarei‹. Als Kenner und Liebhaber von plastischer Kunst und Malerei hat sich Michel Henry intensiv unter anderem mit den Schriften und Kunstwerken von Wassily Kandinsky 47 beschäftigt, dem Begründer der abstrakten Malerei. In seinem Werk aus dem Jahr 1988, »Das Unsichtbare sehen«, entwickelt Henry seine Vorstellungen von Kunst als Ausdruck des subjektiven Leibes, die den Reichtum und die Unterschiedlichkeit der Subjektivität aufweise. Die abstrakte Kunst bzw. auch jede Malerei, die sich vom Naturalismus und Realismus entferne, lasse im Licht des Sichtbaren die affektiven Tonalitäten des unsichtbaren Lebens sehen. 1990 sammelt Henry unter dem Titel ›Materiale Phänomenologie‹ Texte, die die Prinzipien seiner eigenen Phänomenologie betonen: die Unterscheidung von materialer und hyletischer Phänomenologie 48 und das Scheitern der klassischen, auf ein Außen bezogenen Phänomenologie. 1996 zeichnet sich der klare Bruch mit der intentionalen Phänomenologie durch sein Werk »Ich bin die Wahrheit« 49 ab. Im selben Jahr entsteht auch sein letzter, als philosophische Erzählung bezeichneter Roman »Der indiskrete Kadaver« 50 , der durch einen konkreten Fall von Machtmissbrauch in der Politik, von schmutzigem Geld und von Ränken der Polizei inspiriert worden war und dem Andenken an die Macht der Wahrheit gewidmet ist. Das Wesentliche liegt für Henry allerdings anderswo; sein Werk »Ich bin die Wahrheit« eröffnet und vervollständigt eine neue Phase seiner Phänomenologie, die seine Ontologie festigt: Jedes lebende Wesen komme zum Sein durch Gott, durch ein absolutes Leben, wie es das Johannesevangelium bezeuge, weil dieses Leben Gott sei. ›Leben‹, ›Wort Gottes‹ und ›Wahrheit‹ seien vereint, ohne die streng Wassily Kandinsky (1866–1944), russischer Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker, gilt als einer der Wegbereiter der abstrakten Kunst bzw. des abstrakten Bildes. 48 Mit dem Begriff »hyletisch« sind alle subjektiven Leistungen, die affektiv dem reflexiven Bewusstsein vorausliegen, gemeint. Mit dem Begriff »material« wird das originäre Empfangen des Lebens als Passibilität bzw. als Leiblichkeit bezeichnet. »Materie« ist für Henry das Radikalere als »Hyle«, was auch als »Stoff« und bei Kant als »Empfindung« bezeichnet wird. 49 Im Französischen: »C’est Moi la Vérité«. 50 Henrys letzter Roman »Der indiskrete Kadaver«, im französischen Original: »Le Cadavre indiscret«, spricht, so Rolf Kühn, von Totem als lebendiger Spur der Wahrheit. 47

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reduktiven philosophischen Methoden zu vernachlässigen. Dieses Leben sichere jedem einzelnen Menschen seine Würde, seine Verantwortung und seine Gleichheit als ›Sohn‹ 51 bzw. als ›Kind Gottes‹. Nur die Ursprungsgemeinschaft im Sinne des Johannesevangeliums, das unsichtbare Leben, könne laut Henrys Analyse eine sichtbare Gemeinschaft überhaupt rechtfertigen. Die Rede vom ›Untergrund‹ ist auch hier deutlich spürbar. Indem Michel Henry noch einmal das Problem des Lebens bis zu seiner Grenze weiterdenkt, vollendet er seine Betrachtungen in seinem vorletzten Werk »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches«, in dem er auf einer anderen Ebene die Frage nach dem Leib wieder aufnimmt, die er bereits in seinem ersten Werk »Philosophie und Phänomenologie des Leibes« angegangen war. In seiner konsequenten Umkehrung der klassischen Phänomenologie heißt ein entscheidender Akzent nun: Das Unsichtbare geht dem Sichtbaren voraus – Gott ist viel sicherer als die Welt – und wir auch! »Fleisch« 52 wird jetzt zu seinem Schlüsselbegriff der Radikalen Lebensphänomenologie; es ist eine erweiterte Wiederaufnahme des Begriffs des subjektiven Leibes und bedeutet für Henry die Öffnung hin auf die Realität. Es begründe die Freiheit und die Fähigkeit des Menschen, sein eigenes Können umzusetzen; das Fleisch trage die Urintelligibilität 53 des Lebens in sich. Henry analysiert zum Beispiel das Phänomen Angst in Bezug auf erotische Beziehungen und spricht vom Scheitern des absoluten Verlangens, den Anderen, den Geliebten, in der Vereinigung dort berühren zu wollen, wo er sich selbst erfährt, die Lust des Anderen dort erreichen zu wollen, wo dieser sich selbst erreicht. Dieses Begehren könne eben nicht gelingen, da die »Begehrensströme« 54 der Liebenden immer voneinander getrennt blieben. Henry weist auch auf die Gefahr hin, dass die Sexualität in ›Mechanik‹ umschlägt und der Andere damit zum ›Gegenstand‹, zum Auf der leiblich-sinnlichen bzw. auf der kulturellen Ebene hat das Geschlechtsspezifische seine große Bedeutung, auf der transzendentalen Ebene hingegen nicht, da sich hier die reine Affektivität als Passivität zeigt. In diesem Zusammenhang fehlen bei Henry somit die sonst üblichen gegenderten Formen in den Texten. 52 Im Französischen »chair«. 53 Mit »Intelligibilität« werden alle Verständnis-Vollzüge bezeichnet; Urintelligibilität bedeutet ein Verstehen, das nicht mehr gebunden ist an Kategorien des intentionalen Verstehens, also ein affektives und leibliches Verstehen. 54 Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Freiburg/München 2002. S. 334. 51

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›Objekt‹ wird. 55 Der ›sensuelle Leib‹ ist für ihn die einzige Gegebenheit in der Welt, wo das Begehren als Lebendigkeit im Anderen erfüllt werden könne. Das Begehren möchte den Anderen dort empfinden, wo er sich selbst empfindet, was für Henry nicht möglich ist, da das Begehren den Anderen nie ›einholen‹ könne, was eben zum ›Misserfolgserlebnis‹ führe. Dieser ›Misserfolg‹, der auch als ›Mangel‹ empfunden werde, könne in eine ›Mechanik‹ umschlagen. Hier würde man auch vom ›objektiven‹ Leib sprechen. Für Henry gibt es eine ›Erotik des Unsichtbaren‹, in der das ›absolute Begehren‹ aufgehoben sei, wodurch der Mensch der Fixierung auf die Körperlichkeit ›entgehen‹ könne – dann könne man von ›Liebe‹, sprechen, mit ›nichtphänomenologischem‹ Vokabular auch von ›personaler Liebe‹. Für Henry ist das Leben gut, wenn es ohne Warum ist und wenn es in seiner Immanenz bleibt. Wie Eurydike unter dem Blick des Orpheus löse es sich auf, wenn es gesehen werde. Das Leben sei unsichtbar wie Gott. Die Inkarnation mache dem Menschen seine unsichtbare Herkunft ›sichtbar‹. Unser Fleisch, das in seiner Sichtbarkeit nur ein opaker Körper sei, ist für Henry in seinem Pathos bzw. in seinem Empfinden die »Parusie« 56 des Absoluten. Das Buch »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches« endet mit den Worten: »Glücklich die Leidenden, welche vielleicht nichts anderes mehr als ihr Fleisch haben. Die Ur-Gnosis 57 ist die Gnosis der Einfachen.« 58 Michel Henrys Werke finden oftmals bei jenen Menschen Gehör, die in unserer realen Welt, die eingebettet ist in einen Materialismus, der viel Unbefriedigtheit schafft, eine andere Auffassung von Leben suchen, mit anderen Worten: die nach geistlichen bzw. spirituellen Werten suchen. Hier kommt eine andere, nämlich eine phänomenologische Fundierung von Leben, Kultur, Religion, Ethik, Praxis, anders gesagt vom Miteinander der Menschen, zum Tragen. Sein letztes Werk »Worte Christi« 59 , in dem er die Sprache der Menschen dem Wort Gottes gegenüberstellt, widmet Henry einem Vgl. ebd. S. 329–343. Vgl. ebd. S. 372 f. 57 »Ur-Gnosis« meint das gleiche wie »Ur-Intelligibilität«. Der Begriff »Gnosis« darf bei Henry nicht historisch verstanden werden im Sinne von gnostischen Weltverständnissen, er will »Gnosis« nicht in diesem Sinne »rehabilitieren«. Hingegen ist ein leiblich materialer Wahrheitsvollzug gemeint, der in der Formulierung »Gnosis der Einfachen« enthalten ist. 58 Henry: Inkarnation. 2002. S. 413. 59 Im Französischen: »Paroles du Christ«. 55 56

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breiteren Publikum. Er verwendet dort den einfachen Diskurs von Meister Eckhart, der ihn ein Leben lang inspiriert. Die letzten Korrekturen für »Worte Christi« geschehen vom Spitalsbett aus, bevor er am 3. Juli 2002 mit ›Mut und Hellsichtigkeit‹, wie es seine Frau Anne ausdrückt, stirbt. Eine geplante Schrift über die ›Geheime Subjektivität‹ konnte Henry nicht mehr verwirklichen.

3.4. Wissen, was ich wirklich war Paul Ricœur 60 , der Henry als Denker jenseits von Modeströmungen sehr geschätzt hat und mit ihm befreundet war, spricht von einer einzigen Triebfeder dieses Philosophen: »Wissen, was ich wirklich war.« 61 Ricœur betont, dass die Philosophie des Intellektualismus, in der er ausgebildet wurde, die das Individuum als freies Subjekt versteht, das die Welt darstellt und ordnet, nicht dem entsprochen hat, was er konkret lebte. Das Nicht-Gedachte der gelebten Realität, das er erahnt hatte, fand er erst wieder in der modernen Phänomenologie. Noch einmal sei hier die Zeit in der Resistance während des Zweiten Weltkriegs erwähnt, die Michel Henry so sehr geprägt hat. Die Erfahrungen in der Resistance rufen bei vielen seiner Kameraden eine Politisierung hervor; für Henry dagegen führen sie zur Entschlossenheit, einen anderen Weg weiterzugehen. Die Erfahrung des Sich-verstecken-Müssens, des Verbergen-Müssens, was man dachte, und vor allem zu verbergen, was man tat, führte ihn zur Schlussfolgerung, dass sich das wahre Leben in der Weise offenbare, dass es unsichtbar sei. In den schlimmsten Augenblicken, wenn die Welt grausam wird, empfindet Henry in sich ein Geheimnis, das zu schützen ist und das ihn schützt: Ein ›älterer‹ Ausdruck als jener der Welt bestimme unsere Voraussetzung als Mensch bzw. unsere menschliche Bedingung. Nichtsdestotrotz hat Henry die Öffentlichkeit keineswegs gescheut, er bekleidete gerade im universitären Bereich öffent-

Paul Ricouer war von 1969–1970 Rektor an der neu gegründeten Universität ParisNanterre. Durch die Pariser Studentenproteste geriet er zwischen die Fronten von Studierenden und Staat. 61 »Wissen, was ich wirklich war«, auf Französisch »savoir ce que j’étais vraiment«: Dieser Satz stammt von Henry selbst, er hat ihn in einem Interview und in einem unveröffentlichten Tagebuch preisgegeben auf die Frage, was ihn am meisten beschäftigt hat. 60

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liche Ämter. Ihn als eine ›abgeschottete‹ Persönlichkeit zu sehen, würde auf einem klaren Missverständnis beruhen. Den Menschen als politisches Wesen zu bestimmen, ist ihm allerdings nicht mehr möglich. Die Gewalt der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg stelle die Geschichte in den Vordergrund, aber der Mythos der Gesellschaft sei dadurch unwiederbringlich beeinträchtigt. Die Gesellschaft sei zum Entsetzlichen der Waffengewalt, zur Denunziation, zum Schwarzmarkt, zur Folter, zum grausamen Tod für viele und zur Angst für alle geworden. Das Heil fand für Henry gerade im Geheimnis einer Gemeinschaft statt, die sich auf die vertraute Begegnung beschränkte, zum Beispiel in Familie und Freundschaft; hingegen war die durch den Geheimdienst geprägte Welt immer schon von Infiltration und Verrat bestimmt. Von diesem Moment an versteht Henry, dass das Heil des Individuums nicht von der Welt zu ihm kommen könne. Henry hat nie das Gewicht der Geschichte verkannt, weder die Rückschritte noch die Glückszeiten noch die wunderbare Kraft, die es vermag, Ideologien zu verhindern. Aber er betrachtete die Geschichte in der Perspektive des Lebendig-Geschichtlichen, von dem sie nur die äußere Erscheinung ist. Ihre kollektive Aktivität sei das Ergebnis von einzelnen Individuen, ihre großen Bewegungen seien die sichtbare Oberfläche des unsichtbaren Lebens. Die Komplexität dieses Zusammenhangs untersuchte er in seiner großen Studie über Marx, in der ›Barbarei‹ und in der Schrift ›Vom Kommunismus zum Kapitalismus‹. Seine Reisen in ganz Europa dienten nicht nur dazu, Fresken, Bilder und Architektur zu sehen und immer wieder zu sehen, sondern auch direkt dazu, Taten der Kultur und Untergänge der Kultur zu beurteilen. Jede dieser Analysen beruhe auf dem Rückgriff auf das Prinzip, das in ihnen wirke. Seit 1945 ist die unsichtbare Wirklichkeit des Individuums das Ziel seiner Überlegungen: ›Wissen, was ich wirklich war‹ beruhe auf einer tiefen Erforschung der Art und Weise, wie man das Leben tief in sich spürt. Wenn Henry exemplarisch eine Vielzahl von philosophischen Systemen in Frage stellt, dann tut er dies, um besser verstanden zu werden mit Hilfe des schon Bekannten, und nicht dazu, um seine Philosophie auf einem konzeptuellen Schachbrett zu spielen, wo nur der Klügste bzw. der Intelligenteste triumphiert. Dieser ›Beweis‹ aus dem Leben selbst lässt ihn von vorneherein die Trennung von Körper/Objekt und Geistigem/Spirituellem ablehnen. Der subjektive Leib sei identisch mit dem Ego, er sei der Ort der Offenbarung, und 94 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Wissen, was ich wirklich war

so schreibt er in seinem ersten Essay, dass unser Leib ein Wissen sei, das nichts voraussetzt, damit der Horizont der Wahrheit des Seins offen ist – der Leib sei das Fundament und der Ursprung dieser Wahrheit. Dieses Verständnis von Leiblichkeit als empfundene Wahrheit wird zur prägenden Größe. Daher ist das Affiziert-Sein, dieses Erscheinen vom Erscheinen, das Ziel der phänomenologischen Reduktion. Das Affiziert-Sein sei die Art und Weise, in der das Wesen sich empfange. Es sei nicht ein Sich-Richten auf – also nicht intentional – sondern ein In-sich-ankommen-Lassen dessen, was sich durch sich selbst offenbart. Von diesen Überlegungen aus lässt sich verstehen, warum für Henry ›Passivität‹ und der daraus abgeleitete Begriff der »Passibilität« ausschließlich positiv konnotiert sind. Einerseits verdanke sich der Leib in seiner Selbstaffektion keiner Außenheit, andererseits werde das menschliche Sein im Leben empfangen, es habe sich niemals selbst herbeigebracht. Die Passivität komme von dieser Gabe, sie werde als solche empfunden, und gleichzeitig beinhalte sie ein ›Ich kann‹, eine Ermutigung zur Anstrengung, zur Steigerung, zur Selbststeigerung. Als Feind von lauten Neologismen verwendet Henry bekannte Begriffe, deren Sinn er stets neu definiert. Er überwindet die klassische Vorstellung der psyché, die noch in den Köpfen vieler Menschen herrscht, er bevorzugt die Rede von »Mich« bzw. »Sich«, von der Steigerung dieses »Mich« bzw. »Sich«, und er spricht konsequent nicht mehr von ›man‹. Die Gewissheit der Ipseität sei Teil jener inneren Bewegung und müsse nicht mit dem Rückgriff auf eine Repräsentation oder Vergegenwärtigung bewiesen werden. Es sei eine Offenbarung ohne Distanz, die nichts zu tun habe mit dem, was gemeinhin als Interiorität 62 bezeichnet wird, mit dem Blick auf das Innere von sich selbst gewandt, als ob so etwas möglich wäre, als ob man sich verdoppeln könne als Zuschauer, vom Bewusstsein und dem Objekt ›Sich‹ in der Größenordnung der Vergegenwärtigung. Dieser Offenbarung ohne Distanz sei die Flut psychischer Zustände fremd, wie sie Bergson 63 »Interiorität« – übersetzbar mit »Innerlichkeit« – ist letztlich identisch mit »Immanenz«. Das »innere Leben« ist Offenbarung, die Offenbarung ist »Ur-Gnosis« als »Ur-Intelligibilität«. 63 Henri Bergson (1859–1941): französischer Philosoph, gilt neben Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey als bedeutendster Vertreter der Lebensphilosophie. Er vertritt in Bezug auf die Flut psychischer Zustände folgende Auffassung: Da Zeitmomente nicht wirklich beharren können, zeigt sich, dass der Wille, psychische Zustände 62

95 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie

ähnlich beschreibt, auch fremd in Bezug auf ihre Abfolge im Bewusstsein. Das konkrete Ego, das im Buch »Das Wesen der Erscheinung« 64 beschrieben wird, hafte an sich, es bewege sich in seiner Wesenheit. Michel Henry hat die Bedingungen des Lebenden verglichen mit jenen eines Schwimmers, der vom Meer getragen wird. Das Leben trage uns. Er will die für die Ipseität des Menschen konstitutiven Begriffe metaphysisch und nicht psychologisch verstanden wissen, Begriffe wie Leiden, passiv sein, empfangen sein. Genießen oder sich-erfreuen heißt für Henry ›Selbststeigerung des Lebens‹ in der Erkenntnis dieser Ipseität. Wachsen sei eine ›Anstrengung‹, die ins Innere gehe, und die nicht von außen bestimmt werde. Die Affektivität dürfe nicht verwechselt werden mit Sinnlichkeit oder mit der Art und Weise, wie die verschiedenen Gefühle sind. Sie charakterisiere die Gabe aller Bewegungen des Lebens einschließlich jener des Intellekts, sie sei gegenwärtig hinter jedem Verstehen und beruhe auf der ersten Affektivität, die ihr Werk bereits vollbracht habe, wenn sich die Welt erhebe. Die Neuzentrierung auf das Subjekt als phänomenologische Subjektivität, die dem Nihilismus entgegen stehe, der dem gegenwärtigen Denken zugrunde liege, hat Henry dazu geführt, die großen Fragen des Lebens neu und anders zu bedenken. Seine Studie zum Beispiel, die den wahren Marx wiederherstellen will, hat von dieser ontologischen Schicht profitiert: Er betont die leibliche Subjektivität der lebendigen Arbeit, die das Prinzip der Ökonomie sei. Die ›progressive Entartung‹ durch den Intellektualismus der Affekte und die Entfremdung des gegenwärtigen Lebens durch die Ideologie der (technischen) Naturwissenschaften, die für die Zerstörung der Kultur verantwortlich zeichnen, sind die zentralen Gegenstände seiner Beschäftigung. Er legt besonderen Wert auf eine Rehabilitierung des unsichtbaren Lebens mit seinen wahren Erscheinungen, wie Angst, Furcht, Begehren, Kraft, Macht und anderen Grundtrieben. Er definiert das ›Tun‹ neu, die Freiheit, das Böse, die erotische Beziehung, die Kunst und die Beziehung zu Gott. Seine letzten Bücher heben – treu seiner phänomenologischen Methode – die Metaphysik und die Religion auf eine andere Ebene, um sie zu vertiefen, und

abzählbar zu machen, nur realisiert werden kann, wenn die ursprüngliche Zeit, die reine Dauer, in den Raum projiziert wird. 64 Auf Französisch: »L’Essence de la manifestation«.

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›Heimliche‹ Biografie

nicht, um ihnen zu widersprechen. In dieser Richtung muss man sich seinen letzten Schriften über das christliche Denken nähern.

3.5. ›Heimliche‹ Biografie Hier sei noch einmal auf die einleitenden Worte zum Kapitel ›Michel Henry: Innere Biografie – heimliche Biografie‹ hingewiesen: Dass es von Michel Henry keine ausgiebige Biografie gibt, hängt, wie bereits erwähnt wurde, auch damit zusammen, dass er sich dagegen gewehrt hat, durch eine chronologische Sammlung von Fakten in eine ›Objektivität‹ hineingezwungen zu werden, gegen die er mit seinen Mitteln ein Leben lang gekämpft hat. Mir war es wichtig, diese Bedenken zu berücksichtigen und wesentliche biografische ›Daten‹ im Kontext seiner Radikalen Lebensphänomenologie zu lesen, um diese besser verstehen zu können. Das Thema ›Untergrund‹ scheint mir diesbezüglich ein besonders sensibles Beispiel zu sein: Einerseits lässt sich ohne das Wissen um den Hintergrund der Kriegserfahrung die Bedeutung vom ›Untergrund‹ in seiner Philosophie viel weniger ausloten, andererseits kann die ›Nennung von Fakten‹ niemals das Ausmaß und die Tiefe des von Henry Erlebten bzw. Empfundenen wiedergeben. Die radikale Subjektivität des Menschen wehrt sich gegen Vergleiche, die sich sprachlich und im Bereich der Kommunikation kaum vermeiden lassen. Ein mögliches ›Das kenne ich auch! Mir ist es auch ›so‹ ergangen!‹ durch den Gesprächspartner hinterlässt bei vielen Menschen, die etwas sehr Persönliches erzählen, oft einen schalen Geschmack. Das eigene Empfinden wehrt sich oftmals gegen eine solche Vereinnahmung dieses Ausdrucks von Empfindung; die radikale Subjektivität lässt dieses ›Mir ist es auch so ergangen‹ letztlich nicht zu. In solchen Situationen zieht sich vielleicht jemand zurück; in der Sprache von Henry könnte man auch sagen, der betroffene Mensch zieht sich in den ›Untergrund‹ zurück. Im Kontext von Schule ist es ein Phänomen, das sich gegenwärtig stark ausbreitet, dass sich Schülerinnen und Schüler ›zurückziehen‹, um den messenden und vergleichenden Blicken der anderen zu entgehen. In Kapitel 6 wird auf dieses Phänomen noch näher eingegangen.

97 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

4. Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religionsunterricht

Was mich dazu geführt hat, die Lebensphänomenologie in den Kontext des Religionsunterrichts zu stellen, basiert auf meiner ungewöhnlich starken Resonanz und Wertberührung durch das Kennenlernen der Radikalen Lebensphänomenologie, gerade auch in Bezug auf ihre Relevanz für den Religionsunterricht. Es eröffneten sich zum einen eine Reihe von Brücken zu Themenfeldern, die den Religionsunterricht und vor allem die ReligionslehrerInnen direkt betreffen. Zum anderen verfolgte ich als Mitarbeiter in der Religionspädagogischen Fortbildung die Idee, Henrys Lebensphänomenologie interessierten ReligionslehrerInnen durch eine Reihe von Seminaren zugänglich zu machen, vor allem gemeinsam mit Rolf Kühn, der mir den Zugang zu Michel Henry und zu dessen Werk eröffnet hat. Diese Fortbildungsseminare dienen einerseits der Persönlichkeitsbildung und der Professionalisierung von Religionspädagoginnen und -pädagogen, anderseits betreffen sie auch direkt Inhalte des Religionsunterrichts, wie im Folgenden anhand von ausgewählten Themen aufgezeigt wird.

4.1. Umsturz in der Phänomenologie Der erste Teil des Buches »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches« 1 trägt die Überschrift ›Der Umsturz der Phänomenologie‹. Henry nennt dort ein wesentliches Prinzip von Edmund Husserl: »Wieviel Schein, soviel Sein.« 2 Da diese Aussage, so Henry, auf Grund der doppelten Bedeutung 3 des Ausdrucks ›Schein‹ – darunter könne man den erscheinenden Inhalt oder seine Erscheinung als sol1 2 3

Vgl. Henry: Inkarnation. 2002. S. 43–148. Ebd. S. 51. Vgl. ebd. S. 51.

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Umsturz in der Phänomenologie

che verstehen – einen zweideutigen Charakter hat, wird der Satz umformuliert zu »Wieviel Erscheinen, soviel Sein«. 4 Die ›klassische‹ Phänomenologie geht davon aus, dass sich etwas im Sein finden muss, um mir erscheinen zu können. »Gerade durch das Erscheinen selbst ist Sein.« 5 Diese scheinbare Selbstverständlichkeit durchbricht Henry im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach dem reinen Erscheinen. Er stellt fest, dass im vorhin dargelegten Denken der Phänomenologie ihr Platz vor der Ontologie gegeben wird, indem die letztere der ersten untergeordnet wurde, um der Ontologie ein gesichertes Fundament zuzuweisen. »Was ist, oder wovon man sagt, dass es ist, entgeht in der Tat jedem Einwand, sobald es uns auf unbezweifelbare Weise erscheint.« 6 Henry wendet nun ein, dass die Fragen, worin das Erscheinen bestehe bzw. wie es erscheine, phänomenologisch unbestimmt blieben. Man müsse zu jener Instanz zurückgehen, welche ihm das Erscheinen erlaube. Die Schwäche dieser Unbestimmtheit 7 bestünde darin, die rein phänomenologische Materie nicht zu kennen, aus der jedes Erscheinen in dem Maß gemacht sein müsse, dass es in sich selbst und zuvor erscheint. »Solange jedenfalls das Erscheinen in sich selbst unbestimmt bleibt, bleibt auch die Bestimmung des Seins selbst durch es unbestimmt.« 8 Ebenso kritisch sieht Henry das zweite Prinzip der Phänomenologie »Zu den Sachen selbst« 9 , das Husserl formuliert hat. »[Das bedeute,], das unmittelbar Gegebene in seiner Unmittelbarkeit zu betrachten; befreit von den fortwährenden Interpretationen und Wissensarten, welche die Gefahr mit sich bringen, es zu verdecken, sich zwischen es und uns zu stellen.« 10

Henry fragt daher in Abgrenzung von Husserl nach dem Erscheinen selbst, nach dem »reinen Erscheinen« 11 , das uns in seinem Selbsterscheinen gewissermaßen an die Hand nimmt, »um uns tatsächlich bis zu ihm zu führen«. 12 Er spricht von der »verheerenden Reduktion

Ebd. S. 51. Ebd. S. 52. 6 Ebd. S. 53. 7 Vgl. ebd. S. 53 f. 8 Ebd. S. 53. 9 Ebd. S. 54. 10 Ebd. S. 54. 11 Ebd. S. 55. 12 Ebd. S. 55. 4 5

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Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

allen ›Erscheinens‹ auf das Erscheinen dieser Welt«, 13 er nennt es ein »verborgenes Vorurteil der Voraussetzungen der Phänomenologie«, 14 das den Offenbarungsmodus des Fleisches verdunkle, wie ihn der Evangelist Johannes in seinem Prolog so unüberbietbar formuliere: »Und das Wort ist Fleisch geworden« (Joh,1,14). Die Logik der phänomenologischen Aussage von Husserl »Zu den Sachen selbst« durchbricht Henry durch den Hinweis, dass dieses ›zu‹ die Wirklichkeit eines intentionalen Bewusstseins voraussetze, während der Gegenstand »außerhalb des Bewusstseins verwiesen wird«. 15 ›Intentionalität des Bewusstseins‹ bedeute nach Husserl, dass das Bewusstsein auf einen Gegenstand oder einen Sachverhalt gerichtet ist, wobei es kein reines Subjekt und kein reines Objekt gebe: Alle Akte des Bewusstseins seien sinnstiftend und konstituierten überhaupt erst ihre Gegenstände. Diesem Denken widerspricht Henry sehr scharf. Er spricht von der »Innerlichkeit des Bewusstseins«, 16 die gerade nicht als Intentionalität verstanden werden könne, sonst wäre sie »nichts anderes mehr als jene Bewegung, durch welche sie sich ins Außen entwirft«. 17 Die Kritik an der Intentionalanalyse Husserls ist ein Angelpunkt für das weitere Denken von Henry. Er weist nach, 18 dass die Erkenntnisprozesse der Menschen im Alltag, in den Wissenschaften und in der Forschung wohl das Sehfeld unaufhörlich größer werden lassen und folglich jeweils zu einer ›Horizonterweiterung‹, zu einer neuen Evidenz, zu einem neuen Sehen führen. Jedoch stellt sich für ihn die dringlichere Frage: »Wie offenbart sich die Intentionalität, welche alle Dinge offenbart, an sich selbst?« 19 Er will zu einem anderen Offenbarungsmodus als das Sehenlassen der Intentionalität vordringen, zu einer »Offenbarung, deren Phänomenalität nicht mehr die des ›Außen‹, dieses Vordergrundes an Licht wäre, welches die Welt ist«. 20 Nun skizziert Henry das, was er den ›Umsturz der Phänomenologie‹ nennt. Wenn im Folgenden von ›Fleisch‹ die Rede ist, dann ist immer der Johannesprolog mitzuhören, in dem Henry den Höhe13 14 15 16 17 18 19 20

Ebd. S. 57. Ebd. S. 57. Ebd. S. 61. Ebd. S. 62. Ebd. S. 62. Vgl. ebd. S. 64 f. Ebd. S. 65. Ebd. S. 65.

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Umsturz in der Phänomenologie

punkt von Lebensphänomenologie ›entdeckt‹ hat, zugespitzt im Satz: »Und das Wort ist Fleisch geworden« (Joh, 1,14). Seine These besteht darin, »dass kein Fleisch imstande ist, im Welterscheinen zu erscheinen«. 21 »Das ›es gibt‹, das ›es ist‹, kann nicht sagen, was ist, was ›es gibt‹, und zwar, weil es niemals imstande ist, es in der Existenz zu setzen.« 22 Das bedeutet die Abkehr der vorhin dargestellten ›Intentionalität‹ und stellt das Grundprinzip der klassischen Phänomenologie schwerwiegend in Frage. Dadurch werde »das Sein frei« 23 gegeben. Das Welterscheinen ist für Henry ohnmächtig, im Sein das zu setzen, dem es zu erscheinen gewähre. Das bedeute letztlich, dass das in der Welt Erscheinende keineswegs existiert, »ja noch stärker: Weil es in der Welt erscheint, existiert es nicht. Hier wird das Prinzip ›Wieviel Erscheinen, soviel Sein‹ nicht nur in Frage gestellt, sondern eigentlich umgestürzt.« 24

In diesem Zusammenhang spricht Henry von der Dürftigkeit des Welterscheinens, das auch von der Sprache deutlich gemacht werde. Die Sprache bringe den Mangel des Erscheinens erneut hervor, wenn sie »sehen lassen muss, worüber sie spricht und was sie davon sagt«. 25 Henry nennt das einen trennenden Abgrund, den die dichterische Sprache – anders als die Alltagssprache – geradezu enthülle, »weil das, wovon sie spricht, im Unterschied zur gewöhnlichen Sprache niemals da ist«. 26 Die vom Dichter herbeigerufenen Dinge (er zitiert als Beispiel das Gedicht ›Ein Winterabend‹ von Georg Trakl, zu dem Heidegger einen Kommentar geschrieben hat, wo u. a. von Schnee, vom Fenster, von Abendglocken die Rede ist.) 27 würden gegenwärtig, ohne unter den uns umgebenden Dingen einen Platz einzunehmen. »Gegenwärtig sind sie darin, dass sie erscheinen, sofern sie durch das Dichterwort geboren wurden; abwesend darin, dass sie der Wirklichkeit beraubt bleiben, obwohl sie erscheinen. Das Prinzip der Phänomenologie lautet jetzt: ›Wieviel Erscheinen, soviel Unwirklichkeit‹.« 28

21 22 23 24 25 26 27 28

Ebd. S. 69. Ebd. S. 72. Ebd. S. 72. Ebd. S. 72. Ebd. S. 75. Ebd. S. 75. Ebd. S. 75 f. Ebd. S. 76.

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Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

Diese Überlegungen bzw. Analysen sind auch vor dem Hintergrund der Kriegserlebnisse von Michel Henry zu sehen und – nicht zuletzt daraus resultierend – unter der Berücksichtigung seines Kampfes gegen die »Ortlosigkeit des Lebens« 29 , also seines unermüdlichen Einsatzes, dem Leben wieder einen Ort zu geben. Dieser Aspekt weist die Bedeutung der Lebensphänomenologie für den Religionsunterricht klar auf. Die Fragen nach dem Leben, nach der Wirklichkeit, nach dem Alles-ins-Bild-bringen-Wollen, nach dem Primat der Sichtbarkeit, wie es zum Beispiel durch den Gebrauch von Facebook und anderen Social Media täglich zu beobachten ist, sind große Themen im Religionsunterricht. Der Denkansatz der Radikalen Lebensphänomenologie kann diese Themen vertiefen und dazu beitragen, sie von mehreren Seiten zu beleuchten.

4.2. Der Begriff ›Leben‹ Die Radikale Lebensphänomenologie trägt in ihrer Bezeichnung den Begriff ›Leben‹, wodurch sie sich von der ›klassischen‹ Phänomenologie auch sprachlich unterscheidet. Diesem Begriff muss man zuerst auf der Spur sein, damit der Boden für das Verständnis der weiteren Überlegungen vorbereitet ist. ›Leben‹ ist durch eine innere Logik einer der zentralen Begriffe der Radikalen Lebensphänomenologie. Für Michel Henry ist Leben die »Instanz des ursprünglichen Erscheinens«. 30 Er weist in seiner Philosophie die »Offenbarung des unsichtbaren Lebens in seiner rein phänomenologischen Materie« 31 auf, die er in Anlehnung an den Johannesprolog »Und das Wort ist Fleisch geworden« als ›Fleisch‹ bezeichnet. Das Erscheinen des Lebens sei nicht über einen intentionalen Bezug vermittelt, sondern geschehe unmittelbar und immanent. Die ursprüngliche Phänomenalisierung bestehe nicht darin, dass das Leben sich auf gegenständliche Weise einem Bewusstsein gebe, sondern dass das Leben sich unmittelbar sich selbst gibt, ohne dass das ›Licht einer bewussten Reflexion‹ dazwischentrete. Die Unmittelbarkeit und die Immanenz zählten zu den wesentlichsten Kennzeichen: Das Le-

29 30 31

Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 11. Vgl. Kühn, Rolf: Leben. Eine Besinnung. Freiburg/München 2004. S. 21 f. Henry: Inkarnation. 2002. S. 53.

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Der Begriff ›Leben‹

ben, so Henry, gebe sich unmittelbar, es sei ein unmittelbares Phänomen, das der Mensch, der diese Überlegungen anstellt, zuerst an sich selbst erfahre, und zwar in der Art und Weise, wie er sich selbst erscheine. Dieses Erscheinen des Lebens liege nicht in der Macht des Subjekts. Es sei diese Instanz des ursprünglichen Erscheinens, die Henry als ›Leben‹ bezeichnet. Die Unmittelbarkeit schließt jede ›Vermittlung‹ bzw. jedes ›Dazwischen‹ aus, eben auch die Vermittlung durch ein Bewusstsein, die Vermittlung durch eine Intentionalität. Hier ist wichtig, den Blick auch darauf zu richten, wie Henry die Begriffe ›Transzendenz‹ und ›Immanenz‹ gebraucht. 32 Er versteht ›Transzendenz‹ nicht nur im Sinne der zeitgenössischen Phänomenologie als das Ins-Außen-Kommen der Welt oder was sich darin zeigt, nicht im Sinne der philosophischen Tradition, die von Gott als Baumeister des Universums oder als Schöpfer spricht, dessen Schöpfung außerhalb seiner selbst zu sehen ist, und auch nicht im theologischen Sinn der Überschreitung der endlichen Erfahrungswelt auf deren göttlichen Grund hin. Henry spricht letztlich vom Absoluten: »Transzendenz bezeichnet die Immanenz des Lebens in jedem Lebendigen. Weil die Immanenz die Selbstoffenbarung jedes Lebendigen betrifft, insofern sie sich in der Selbstoffenbarung des absoluten Lebens vollzieht, findet sie ihre phänomenologische Möglichkeit und somit ihre konkrete Verwirklichung in jener Ur-Passibilität, in welcher das absolute Leben sich ursprünglich an sich selbst offenbart.« 33

Dem Begriff der ›Ur-Passibilität‹, eine der wenigen Wort-Neuschöpfungen von Henry, ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Entscheidend ist hier der Zusammenhang von ›Transzendenz‹ und ›Immanenz‹, wobei zu betonen ist, dass im Sprachgebrauch Henrys mit ›Immanenz‹ immer die ›Immanenz des Lebens‹ bzw. die ›Immanenz des absoluten Lebens‹ gemeint ist und nicht die Immanenz des Bewusstseins wie bei Husserl. Gemeint ist eine phänomenologische ›Wirklichkeit‹, die sich – so das scheinbare Paradoxon – der Sichtbarkeit entziehe. Mit ›Immanenz‹ bezeichnet Henry auch eine Grundbedingung jeden Könnens, jeder ›Bewegung‹ und jeder ›Berührung‹. »In dieser radikalen Immanenz des Lebens, welche das Berühren-können in dessen Selbstbesitz versetzt, schöpft letzteres nicht nur die Möglichkeit seines

32 33

Vgl. ebd. S. 195. Ebd. S. 195.

103 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

eigenen Könnens, sondern in dieser Immanenz des Lebens – und zunächst in ihr – beruht das Vermögen, sich zu bewegen; und unabhängig von diesem, außerstande, sich zu bewegen, wäre das Bewegen-können ohnmächtig.« 34

Dieser Sprachgebrauch macht auch deutlich, was mit der Formulierung gemeint ist, Henry kämpfe dafür, dem Leben wieder einen Ort zu geben. Der phänomenologische Lebensbegriff Henrys darf, was bereits deutlich geworden ist, nicht biologisch missverstanden werden: Mit Leben ist nicht etwa die belebte Natur als der Gegenstand der Biologie gemeint, sondern ein Phänomen, das vor aller wissenschaftlichen und alltäglichen Erfahrung der Gegenständlichkeit liegt. Und noch einmal sei die Formulierung in Erinnerung gerufen, dass der Mensch, der diese philosophische Überlegung anstellt, das Leben zuerst an sich selbst erfährt, und zwar in der Art und Weise, wie er sich selbst erscheint. Leben als transzendentales Phänomen gründet für Henry in der sich niemals in der Sichtbarkeit offenbarenden »›Nacht‹ unseres Fleisches« 35 . Das Leben sei der immer unsichtbare Grund von allem, was ist, war oder wird. In den Lehrplänen für den Religionsunterricht wird eine Reihe von Themen formuliert, die hier direkt ansetzen können, wie zum Beispiel »Was mir Halt gibt«; »Das Befreiende der Gottesbeziehung«; »Verwirklichung eigener Vorstellungen«; »Menschenbilder«; »Menschenwürde«; »Auferstehung im Leben«; »Technik und Machbarkeit«; »Konsum/Konsumismus«; »Lebensförderliche Weltgestaltung«; »Kulturprägende Wirkungen des Christusereignisses«; »Erfahrungen des Scheiterns«; »Selbstannahme«; »Sinn menschlicher Arbeit«. Die pädagogische und didaktische Arbeit mit diesen Themen vor dem Hintergrund der Lebensphänomenologie ist nicht Thema dieses Bandes. Ich beziehe mich vor allem auf die wesentlichen Aspekte der vorhin angeführten Themen bzw. Themenbereiche, da sie den innersten Kern der Lebensphänomenologie berühren.

34 35

Ebd. S. 224. Ebd. S. 421.

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Passivität und Passibilität bzw. Ur-Passibilität

4.3. Passivität und Passibilität bzw. Ur-Passibilität In der Lebensphänomenologie hat der Begriff »Passivität« 36 eine besondere Bedeutung. Mit Passivität wird die Geworfenheit des Menschen bezeichnet, der man nicht ausweichen kann, die man nicht verweigern und vielleicht nicht einmal ›annehmen‹ kann. Es ist unsere leibgebundene Situiertheit in der Welt; Michel Henry spricht auch von der ›Ipseität‹ des Menschen. Zu den Grundfragen des Menschen gehöre das Empfinden von Passivität: »In der ursprünglichen Übereinstimmung mit sich selbst kann die Leiblichkeit als Ipseität weder ihrem Sein noch ihrem Handeln entfliehen.« 37 ›Passivität‹ bedeute die Erfahrung des Sich-Ertragens 38 oder das Ausstehen in der Bedürftigkeit des Lebens vor aller Freiheit. Sich selbst nicht entfliehen können, sich ertragen müssen, zum Beispiel im Leid, weist darauf hin, dass sich die Lebensphänomenologie besonders mit allen Fragen, die in Zusammenhang mit Leid, Schmerz und Gewalt stehen, eingehend auseinandersetzt. Henry spricht von »jener radikalen Passivität, welche sowohl jede Empfindung wie unser Leben insgesamt betrifft, bevor ein einziger Augenblick es uns erlaubt hätte, uns auf es zu richten, um es entgegenzunehmen oder zu verwerfen, ihm Ja oder Nein zu sagen«. 39

Die so verstandene ›Passivität‹ darf allerdings nicht verwechselt werden mit dem Verständnis der Alltagssprache, in der ›passiv‹ zunächst einmal der Gegensatz von ›aktiv‹ ist. ›Passiv‹ im lebensphänomenologischen Sinn ist nicht der Gegensatz von ›aktiv‹, es weist darauf hin, dass wir in allen Lebensvollzügen zuerst von einer ›Gegebenheit‹ ausgehen müssen. In jeder ›Berührung‹, die wir im Sprachgebrauch des Alltags als ›aktiv‹ bezeichnen würden, lässt sich für Henry diese Passivität nachweisen. Er erklärt das am Beispiel der Berührung der Hand einer jungen Frau: »[Diese Hand ist] ebenso wie die meine – nichts Objektives. Meine ›eigene‹ Hand ist ein immanentes Nehmen-können, welches sich an seiner eigenen unsichtbaren Grenze stößt, während die Hand der jungen Frau nichts anderes 36 Vgl. Henry, Michel: Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie. Freiburg/München 1992. S. 41 f. 37 Ebd. S. 42. 38 Vgl. Kühn, Rolf: Geburt in Gott. Religion, Metaphysik, Mystik und Phänomenologie. Freiburg/München 2003. S. 36 f. 39 Henry: Inkarnation. 2002. S. 268.

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Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

als diese Grenze für mich ist: jenes widerständige Kontinuum, das sich aktiv meiner Bewegung widersetzt, wenn zum Beispiel jene Hand einen antwortenden Druck ausübt oder sich auf meiner Hand schließt.« 40

Henry nennt das die »durchkreuzte Dynamik meines Ich-kann«. 41 Hier werden sehr behutsam und sehr genau Abläufe des täglichen Lebens untersucht, wodurch unser Blick auf das vermeintlich Selbstverständliche gestört wird. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Ich ein Du ›berührt‹ ? Michel Henry spricht dann von einer zweifachen Passivität 42 des Menschen hinsichtlich der Welt. Von der Passivität hinsichtlich der Welt als solcher müsse die Passivität hinsichtlich des sich in einem solchen Horizont zeigenden Weltgehalts, der sich zeigenden Gegenstände unterschieden werden. »Die Passivität dieser beiden Bezüge beruht in ihrer Sinnlichkeit.« 43 Durch den Bezug zwischen Passivität und Sinnlichkeit kommt die lebensphänomenologische Färbung des Begriffs ›Passivität‹ noch einmal stärker zum Ausdruck. Letztlich ist die Rede von der radikalen Passivität des Lebens des Menschen hinsichtlich des rein phänomenologischen Lebens selbst. Von ›Passivität‹ ist nun ›Passibilität‹ zu unterscheiden, eine Wortschöpfung von Michel Henry. Dahinter steht ein Wortspiel: passibilité und possibilité – letzteres bedeutet ›Möglichkeit‹, ›Können‹ oder ›Fähigkeit‹. In ›passibilité‹ sind zwei Wörter bzw. zwei Bedeutungen mitzuhören: ›passiv‹ und ›possible‹ – ein Können in der Passivität. ›Passibilität‹ setzt bei der ›Passivität‹ an. »Der Begriff der Passibilität besagt daher prinzipielles Sich-ertragen-müssen vor jedem, in benennbares Leiden umschlagenden Bedürfen.« 44 Passibilität bedeute immer fleischliche Passibilität, und Leben heißt im Sinne der Passibilität immer, sich selbst empfindend zu erfahren, und dieses SichEmpfinden als Sich-Erfahren sei immer unmittelbar. Die Lebensphänomenologie spricht auch von einer »Urgeburt in unserer Passibilität« 45 und betont, dass es stets nur ein konkretes Bedürfen als Passibilität gebe, ein je singuläres, nicht ein vom jeweiligen Augenblick

40 41 42 43 44 45

Ebd. S. 330. Ebd. S. 330. Vgl. ebd. S. 360. Ebd. S. 360. Kühn: Geburt in Gott. 2003. S. 42. Ebd. S. 55.

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Passivität und Passibilität bzw. Ur-Passibilität

abgehobenes oder mit anderen Augenblicken vergleichbares Bedürfen. Rolf Kühn nennt diese lebendige Singularität in Anspielung auf Martin Heidegger die »Je-Meinigkeit« 46 oder die »pathisch-selbstaffektive Subjektivität« 47 . In Henrys Buch »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches« ist zudem von der »Ur-Passibilität« 48 die Rede. »[Die Ur-Passibilität gehört] dem absoluten Leben als seine ›Natur‹ selbst zu […]; als jene phänomenologische Materie, worin sich sein ursprüngliches In-sich-selbst-kommen vollzieht. […] Kein Lebendiger ohne Leben, aber auch kein Leben ohne Ur-Passibilität seiner Ur-Offenbarung.« 49

Henry, der sich in diesem Buch vor allem auf den Begriff ›Fleisch‹ aus dem Johannesevangelium bezieht, zeigt mit dem Begriff der Ur-Passibilität die Verbindung von ›Fleisch‹, ›absolutem Leben‹ und ›Empfinden‹ auf: »In der Ur-Passibilität des absoluten Lebens ist jegliches Fleisch empfindend (passible). In ihr ist es möglich. Ein Fleisch ist in der Tat nichts anderes als die Passibilität eines endlichen Lebens, welches seine Möglichkeiten in der UrPassibilität des unendlichen Lebens schöpft.« 50

Passibilität bezeichnet somit lebensphänomenologisch das Wesen des Menschen als ein Sich-erleiden-Können. Durch das Wort ›Können‹ wird deutlich, dass der sich erleidende bzw. sich ertragende Mensch von all den Möglichkeiten oder Potenzialitäten nicht abgeschnitten ist. Den Übergang zwischen Passibilität und Vermögen schaffe das Begehren. Ich begehre auf Grund meines sich wandelnden Bedürfens, ohne selbst aktiv zunächst dieses begehrende Bedürfen als solches herbeigerufen zu haben. Das Bedürfen des Menschen korrespondiere mit dem Mich-Akkusativ, von dem sowohl Emmanuel Lévinas als auch Michel Henry sprechen. Jedes ›Ich‹ lebe in dem originären Gefühl, »nicht nur seinen ›Zuständen‹ gegenüber passiv zu sein, und seien es die aktivsten, sondern vor allem auch seiner eigenen ›Bedingung‹ gegenüber passiv zu sein – das heißt im letzten gegenüber sich-selbst, was genau durch den Begriff der Passibilität getroffen ist.« 51 46 47 48 49 50 51

Ebd. S. 59. Ebd. S. 59. Henry: Inkarnation. 2002. S. 193. Ebd. S. 193 f. Ebd. S. 269. Ebd. S. 61.

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Das Bedürfen sei also lebensphänomenologisch kein Mangel, wie es eventuell dem empirischen Ich erscheinen mag. Das Bedürfen bilde vielmehr das eine, unaufkündbare Leben als Sich – »das heißt im eigentlichsten Sinne eine Gabe als Selbstgebung.« 52 Hier erreicht die Lebensphänomenologie meines Erachtens einen Höhepunkt, nämlich durch den Hinweis auf den Gabe-Charakter des Lebens, eine Gabe als Selbstgebung. Hier sei wieder Rolf Kühn zitiert, der die Lebensphänomenologie von Michel Henry stetig weiterentwickelt und unter anderem auf Religion hin weiterbuchstabiert: »Es gibt kein anderes Leben, auch nicht in der Variante der Fiktion, wenn Leben auf diese Weise Sich-erfahren in ursprünglicher Passibilität bedeutet: passivste Hinnahme seines Ge-geben-seins, um selbst weiterhin ›Gabe‹ zu bleiben, nämlich lebendig-kulturelles Ins-Werk-setzen-können als Modalisierung von allem, was die transzendental-affektive Erfahrung in ihrer Geburt aus dem Leben heraus ›leisten‹ kann.« 53

Sich als Gabe zu erleiden und zu erleben ziele also darauf ab, selbst Gabe zu sein und zu bleiben. Und das Gabe-Sein drücke sich im Letzten in jeglicher Art von Kultur aus. Alles, was der so verstandenen Kultur entgegenstehe, also nicht aus dem Leben selbst stamme, sei – so nennt es Michel Henry – Barbarei.

4.4. Inkarnation Da der Begriff ›Inkarnation‹ in mehreren Religionen verwendet wird, muss hier auf die spezifisch christlich-theologische Bedeutung hingewiesen werden: Menschwerdung bzw. Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus. Michel Henry nennt eines seiner Werke »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches«. Zunächst sei hier aufgezeigt, wie Michel Henry Theologie und Philosophie einander gegenüberstellt und wo bzw. wie er sein Werk »Inkarnation« ansetzt. Das zu erhellen, verlangt nach einigen grundlegenden Analysen. »Philosophie und Theologie konkurrieren nicht miteinander; sie geben sich als zwei unterschiedliche Disziplinen.« 54 Diese Aussage ist umso wichtiger, als Henry drei bedeutende Werke in unmittelbarer Nähe zur christlichen Theologie verfasst hat und gerade deshalb auf 52 53 54

Kühn: Geburt in Gott. 2003. S. 70. Ebd. S. 70 f. Henry: Inkarnation. 2002. S. 399.

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Inkarnation

diese Unterscheidung großen Wert legt: »›Ich bin die Wahrheit‹. Für eine Philosophie des Christentums« aus dem Jahr 1996, »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches« aus dem Jahre 2000 und »Christi Worte: Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung« aus dem letzten Lebensjahr 2002 bilden die drei großen Werke, die von der intensiven Beschäftigung Henrys mit der christlichen Religion zeugen. In »Inkarnation« betont er mehrmals, dass er sich in seinem Essay streng an den philosophischen Gesichtspunkt halten 55 und stets auf der philosophischen Ebene bleiben werde. Meines Erachtens ist sich Henry bewusst, dass diese Unterscheidung von den Leserinnen und Lesern nicht immer eindeutig erfasst wird: »Ein Zweifel wird sich in den Geist des Lesers einschleichen. Worum wird es genau in diesem Essay gehen: um Philosophie, Phänomenologie – oder um Theologie? Wir werden im Verlauf unserer Analysen jeweils unterscheiden, was zu der einen oder anderen Disziplin gehört, bevor wir in unserem Schluss das Problem ihres Verhältnisses zueinander stellen werden.« 56

Dieser eben zitierte Gedanke lässt die Möglichkeit offen, dass es durchaus ›Grenzüberschreitungen‹ zwischen den Disziplinen geben kann. In diesem Band gehe ich allerdings nicht auf mögliche theologische Diskurse ein, die sich aus Henrys Schriften ableiten ließen. Das würde einen anderen Fokus verlangen, der jenen des Religionsunterrichts bzw. der Religionspädagogik verlassen müsste. »Die Existenz im Fleisch, die ›Inkarnation‹ als fleischliches Leibsein zu erhellen, ist Ziel dieses Buches. Das Fleisch als originär subjektiver Leib ist nicht der sichtbare Körper, sondern die Bedingung, um das Leibsein als Lebendigsein überhaupt zu erfahren. Denn wenn unser Leib Leid verspürt oder sich erfreut, und zwar dank ununterbrochen sich wandelnder Empfindungen, so ruht der Grund hierfür im immanenten Empfindenkönnen seiner selbst als ›passiblem Fleisch‹«. 57

Das ›Fleisch‹ als nicht sichtbarer Körper, weil es nicht imstande ist, im Welterscheinen zu erscheinen, ist der Referenzpunkt von Henrys Überlegungen, die er – in Abhebung von der Phänomenologie Husserls – als ›Umsturz der Phänomenologie‹ bezeichnet. Es gibt keinerlei Zugang zum Leben im Außer-Sich, es gibt nur Zugang zum Leben, indem wir Zugang zu uns selbst haben. Und »dieser Selbstbezug, die-

55 56 57

Vgl. ebd. S. 31 f. Ebd. S. 41. Ebd. Einleitungstext (nicht bezeichnete Seite 2).

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ser Zugang zu uns selbst, geht uns voraus; er ist das, woraus wir hervorgehen«. 58 ›Inkarnation‹ als fleischliches Leibsein bedeutet für Henry, dass das Fleisch als originärer subjektiver Leib die Bedingung sei, um das Leibsein als Lebendigsein überhaupt zu erfahren. Die Verse aus dem Prolog des Johannesevangeliums »Und das Wort ist Fleisch geworden«, die Henry auch als johanneische Ur-Intelligibilität bezeichnet, stellen für ihn die entscheidende Wende in Bezug auf die antike Welt dar: dieses göttliche Wort bringe dem Menschen das Heil. »Indem es ein Fleisch annahm, welches dem ihren glich, und sich somit mit ihnen identifizierte, wird dieses Wort es ihnen auch ermöglichen, sich mit ihm zu identifizieren, wie es selber Gott zu werden. Wie kann das Fleisch gleichzeitig der Ort der Verdammnis und des Heiles sein? Die Phänomenologie des Fleisches stößt hier an ihre Grenze; nur eine Phänomenologie der Inkarnation ist in der Lage, uns aufzuklären.« 59

Henrys Anspruch ist überaus hoch, und es bedarf der Zusammenschau von »Inkarnation«, »Ich bin die Wahrheit« und »Christi Worte«, um dem Anspruch folgen zu können. Wenn man die christliche Identifikation der Wahrheit mit dem Leben bis zu ihrer radikalen Aufklärung führt, »dann bezeichnet sie die Selbstoffenbarung des Lebens (= die Offenbarung Gottes) in der Ipseität eines ursprünglichen Sich als phänomenologischem Modus seines Vollzugs«. 60

Henry arbeitet heraus, was die Inkarnation offenbart: Einerseits offenbare sie die »gegenseitig phänomenologische Innerlichkeit von Vater und Sohn« 61 , andererseits offenbare sie unsere eigene Zeugung im Leben, unsere »transzendentale Geburt« 62 , die uns unser KindGottes-Sein offenbare. Der Glaubensakt von uns Menschen sei, so wird betont, kein Denkakt, der in der Klarheit seiner Evidenz jedes Zweifeln-Können ausschließe. ›Ich glaube an Christus‹ bedeutet für Henry »Ich bin der Wahrheit gewiss, die in Ihm ist« 63 , und zugleich bedeute es, sich der Wahrheit gewiss zu sein, die in jedem Du sei, was voraussetze, dass seine ihm eigene Wahrheit in mir sei, und zwar 58 59 60 61 62 63

Ebd. S. 138. Ebd. S. 263. Ebd. S. 287. Ebd. S. 407. Ebd. S. 408. Ebd. S. 410.

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Inkarnation

»jene dem göttlichen Wort eigentümliche Wahrheit: die Wahrheit des Lebens, die Ur-Intelligibilität, von der wir sprechen«. 64 Damit ist der vorhin erwähnte Dreischritt aufgewiesen: Inkarnation – Wahrheit – Wort. Die johanneische Unterscheidung von Leben und Welt muss stets mitgedacht werden beim Lesen bzw. Verstehen dieser philosophischen Texte. Wenn man diese Unterscheidung mitdenkt und nachvollzieht, erkennt man auch den schmalen Grat einer möglichen häretischen Unterstellung, wie sie zum Beispiel Meister Eckhart widerfahren ist, auf den sich Michel Henry ausdrücklich bezieht. »In der Welt erhebt der Mensch seine zerbrechliche und unsichere Silhouette; jene Silhouette, mit der man ihn naiverweise identifiziert, welche man für die seines Körpers hält.« 65

Dagegen betont er konsequent und nicht müde werdend, dass der Körper des Menschen letztlich lebendiges Fleisch sei, »ein unsichtbares Fleisch, nur im Unsichtbaren des Lebens und von letzterem aus verstehbar«. 66 Das will Inkarnation aussagen, dass »unser wirkliches Fleisch urintelligibel [ist]; es wird in sich innerhalb der Offenbarung vor der Welt offenbart, welche dem Wort des Lebens (Verbe de Vie) eigen ist, von dem Johannes spricht«. 67

Diesen beispiellosen Begriff des Fleisches, durch den das Christentum erst wahres Christentum sei, arbeitet Henry mit seiner Philosophie bzw. mit seiner Radikalen Phänomenologie heraus. Die Mystik von Meister Eckhart ist hier zum Greifen nahe, wenn vom ›Leben ohne Warum‹ die Rede ist. Die Selbstoffenbarung des Lebens brauche kein Warum, lasse kein Warum zu, weil das Leben dieses letzte Prinzip an Intelligibilität und Rechtfertigung in sich trage. Das Leben erfrage von nichts und niemandem ein Warum, von keinem Außen, von keiner Wissenschaft. Abschließend sei hier direkt auf Meister Eckhart verwiesen, den Michel Henry im Kapitel ›Das Leben ist ohne Warum. Das Leben ist gut‹ in seinem Buch »Inkarnation« zitiert und seine eigene Arbeit als phänomenologische Verwurzelung 68 des Mystikers aus dem Mittelalter bezeichnet: 64 65 66 67 68

Ebd. S. 410. Ebd. S. 139. Ebd. S. 139. Ebd. S. 403. Vgl. Reaidy, Jean: Die Geburt im Leben bei Meister Eckhart und Michel Henry. In:

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»Und wiederum ist kein Leben so schlimm noch so beschwerlich, dass der Mensch nicht dennoch leben wolle. […] Aber: Warum lebst du? Um des Lebens willen, und du weißt dennoch nicht, warum du lebst. So begehrenswert ist das Leben in sich selbst, dass man es um seiner selbst willen begehrt.« 69

Im Religionsunterricht spielen Auseinandersetzungen mit WarumFragen eine große Rolle, sei es im Kontext von Sinn-Fragen oder im Zusammenhang mit diversen Theodizee-Fragen. Die Vertiefung dieser Auseinandersetzung durch die Radikale Lebensphänomenologie kann weitere Türen öffnen, gerade auch durch das In-Frage-Stellen des Warum-Fragen-Stellens.

4.5. Körper – Leib – Fleisch Zur hier vorgestellten Terminologie müssen mehrere Aspekte beachtet werden. Erstens gibt es einen alltäglichen Sprachgebrauch, der sich von der lebensphänomenologischen Sprache unterscheidet. Zweitens zeigen sich manche Schwierigkeiten durch das Übersetzen aus dem Französischen, denn nicht für jeden Begriff gibt es ein eindeutiges Äquivalent im Deutschen. Drittens verwenden andere Autoren bzw. andere Philosophen dieselben Begriffe durchaus unterschiedlich. Viertens gibt es durch Michel Henry Uminterpretationen wichtiger Begriffe der klassischen Phänomenologie. Als fünften Aspekt kann man noch Übersetzungsfragen in Bezug auf das Neue Testament anführen: Deutschsprachige Übersetzungen (aus dem Lateinischen oder Griechischen) klingen oftmals anders als Übertragungen von Bibeltexten aus dem Französischen in die deutsche Sprache. Auf diese Probleme und Schwierigkeiten wird hier nicht näher eingegangen, an einzelnen Stellen jedoch verwiesen, wenn es um wesentliche Aussagen geht. Michel Henry nimmt eine Dreiteilung der Leiblichkeitsrealität vor und unterscheidet zwischen Körper, Fleisch und Leib. 70 Damit wird eine Erscheinungsordnung sowohl im Sichtbaren artikuliert, womit die Außenheit der Welt und ihr Körper gemeint ist, als auch im Unsichtbaren, womit das Pathos des Lebens als Fleisch gemeint ist. Kühn, Rolf/Laoureux Sébastien (Hg.): Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens (Seele, Existenz und Leben, Bd. 6). Freiburg/München 2008. S. 159–185. 69 Henry: Inkarnation. 2002. S. 353 f. 70 Vgl. ebd. S. 419 f.

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Körper – Leib – Fleisch

Wenn vom Menschen vor allem im Kontext von Theologie als leibseelischer Einheit gesprochen wird, dann wird einerseits implizit die Gewissheit mittransportiert, dass man den Menschen nicht in Leib und Seele ›teilen‹ solle, wie es in verschiedenen Denkrichtungen, zum Beispiel in gnostischen Positionen, geschehen ist. Andererseits schwingt implizit eine ›alte‹ Frage mit, was den Menschen über seinen ›Leib‹ oder ›Körper‹ hinaus zum Menschen ›macht‹. Mit dem biblischen Begriff ›Fleisch‹ wird jedenfalls diese ›Einheit‹ ausgedrückt. Das französische Wort ›chair‹ wird für Texte von Michel Henry mit ›Fleisch‹ übersetzt. Wie im Kapitel ›Inkarnation‹ ausführlich analysiert wurde, bezeichnet es den nicht sichtbaren Körper als Bedingung, um das Leibsein als Lebendigsein überhaupt zu erfahren. Dagegen wird in anderen philosophischen Traditionen der Begriff ›Leib‹ im Französischen mit ›chair‹ übersetzt, so zum Beispiel bei Maurice Merleau-Ponty. 71 Das französische Wort ›corps‹ kann ›Körper‹ und ›Leib‹ bezeichnen, womit einige Verwechslungsmöglichkeiten aufgezeigt sind. Bei Husserl etwa gibt es den Begriff ›Leibkörper‹ im Zusammenhang mit Ich/Welt und Anstrengung/Widerstand. Bei der Übertragung der Texte von Michel Henry ins Deutsche weist Rolf Kühn darauf hin, dass er ›corps‹ mit ›Leib‹ übersetzt, wenn die ›originäre Subjektivität‹ gemeint ist, hingegen dann mit ›Körper‹ übersetzt, wenn der eigene/ subjektive Leib als ›Ding‹ von außen wahrgenommen oder empfunden wird. Es bleiben, so die Aussage des Übersetzers Rolf Kühn, dennoch Zweifelsfälle für die Übersetzung bestehen, denen er entweder durch die Doppelnennung Leib/Körper oder durch die Bezeichnung (Leib-)Körper begegnet. 72 Im Folgenden gehe ich auf die Leiblichkeitsrealität ein, die durch die drei deutschsprachigen Begriffe ›Körper‹, ›Leib‹ und ›Fleisch‹ eine differenzierte Sichtweise erfährt.

4.5.1. Körper Henry spricht von ›Körper‹ vor allem in einem bio-organischen Sinn. Er nennt ihn die verdinglichte Entäußerung des Leibes, wenn er als Objekt unter den Blick der messenden Erfahrung falle. In diesem Vgl. ebd. S. 183 f. Vgl. Kühn, Rolf: Zum Leibbegriff Michel Henrys. In: Henry: Inkarnation. 2002. S. 417–422.

71 72

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Sinne wird der Begriff ›Körper‹ analog für alle sichtbaren ›Gegenstände‹ gebraucht, die eben messbar, zählbar, zur Schau stellbar, den Blicken ausgeliefert, etc. sind. Mehrfach war bereits die Rede von der galileischen Methode, Henry nennt sie die ›galileische Reduktion‹ 73 , die die Naturwissenschaften zum Maß aller Dinge mache, was seinen Ursprung im 17. Jahrhundert dadurch habe, dass die sinnliche Welt zum Gegenstand einer radikalen Kritik geworden sei. Die traditionelle Auffassung des Körpers wäre so erschüttert gewesen, dass der sinnliche Körper als Täuschung dargestellt wurde, wohingegen man das ›wirkliche Universum‹ als nicht aus Körpern dieser Art bestehend gesehen habe. Wenn der sinnliche Körper, »jener Körper, den man sehen, berühren, fühlen und hören kann, der Farben, Gerüche, Tastsowie Tonqualitäten usw. besitzt«, 74 nur eine Täuschung sei, dann könne die Erkenntnis des Universums auch keine sinnliche Erkenntnis sein. Der sinnliche Körper werde durch einen ›wissenschaftlichen‹ Körper substituiert, was eine neue Ära eröffne: Das Ansinnen einer wissenschaftlichen materiellen Technik, »nämlich den wahrhaftigen Zugang zum Menschen zu liefern, ihn im Innersten seines Seins aufzusuchen – bis hinein in seine Lust, im Herzen seines Leidens oder seiner Verzweiflung, seines Lebens oder seines Todes«. 75 Durch diese Darstellung wird noch deutlicher, wogegen Henry in seiner Radikalen Lebensphänomenologie kämpft bzw. wofür er kämpft: dem Leben wieder einen phänomenologischen Ort zu geben. Im Begriff ›Körper‹ schwingt diese Problematik des galileischen Prinzips mit, diese Reduktion auf jene ausgedehnte materielle Welt, in der nur das Messbare und Zählbare wirklich zähle und die Subjektivität und Sinnlichkeit nicht mehr den ihr gebührenden Platz habe. Es ist deutlich spürbar, dass der Begriff ›Körper‹ hier einen Beigeschmack bekommt, der ein kritisches Hinschauen und Hinhören auf unsere Welt provoziert. Dieser Beigeschmack findet sich in manchen Begriffen und Redewendungen des Alltags, hier in einer exemplarischen Auswahl: Gesunder Körper, kranker Körper, schöner und weniger schöner Körper, geschundener Körper, Herzeige-Körper, körperbetont, körpergerecht, Körperkontakt, körperliche Anstrengung, Kör73 74 75

Vgl. Henry: Inkarnation. 2002. S. 155–157. Ebd. S. 156. Ebd. S. 157.

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Körper – Leib – Fleisch

perkult, Körperkultur, Körpertraining, Körperertüchtigung, körperlich bzw. körperlos, Körperbeherrschung, gestählter bzw. abgehärteter Körper, Körpermaß, Körperbehinderter, Körpergebrechen, Körpererziehung, Körperwelten, Körper-Algebra, Körpersprache, Körpergeruch, Körperberechnung, Himmelskörper, Fremdkörper, Klangkörper, Resonanzkörper. Im Sinne der Messbarkeit, die für den Körper zutrifft, wird auch davon gesprochen, wie das »Ans-Licht-Zerren« 76 den Menschen beschämen, ihn seiner Würde berauben kann. Wichtig ist hier meines Erachtens eine gute Unterscheidung. Die bildgebenden Verfahren zum Beispiel in der Medizin sind ohne naturwissenschaftliche Forschung und ohne Technik nicht möglich; die Dankbarkeit, dies nutzen zu dürfen, steht für mich außer Zweifel. Dagegen ist der Wahnsinn – diese Bezeichnung halte ich für adäquat – des Alles-ins-Bild-bringenWollens eine große Gefahr für uns Menschen, wenn vor allem oder sogar nur mehr das zählt, was sich in der Welt zeigt. Das galileische Prinzip der nicht-sinnlichen ausgedehnten Körper verbunden mit der Prämisse der klassischen Phänomenologie – ›wieviel Schein, soviel Sein‹ – stellen eine große Gefahr dar, dem radikal subjektiven Empfinden und dem aus dem Leben geborenen Menschen seine ›Heiligkeit‹ zu nehmen.

4.5.2. Leib – Leiblichkeit Der Begriff Leib bedarf einer genauen Unterscheidung. Henry sagt, dass der Leib nicht das sei, was gesehen, berührt oder gefühlt werde, sondern er vielmehr dieses Vermögen zu sehen, dieses Vermögen zu berühren und dieses Vermögen zu fühlen sei 77 , das mir alle Dinge eröffne, insbesondere meinen ›Objekt-Leib‹. Der Leib sei somit kein Weltgegenstand, sondern das Vermögen, welches uns auf die Welt hin öffne und so das Prinzip unserer Erkenntnis sei. Henry spricht vom fundamentalen ›Ich kann‹. Julia Scheidegger schreibt über das Leiblichkeits- Konzept von Henry: 76 Vgl. Schadt, Martin: Psychiatrie und Lebensphänomenologie. In: Funke, Günter/ Kühn, Rolf/Stachura, Renate (Hg.): Existenzanalyse und Lebensphänomenologie (Seele, Existenz und Leben, Bd. 3). Freiburg/München 2006. S. 15. 77 Vgl. Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 34.

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»Michel Henry möchte mit seiner Leiblichkeitskonzeption vor allem zeigen, dass sich unser Leib zweifach phänomenalisiert: zum einen in der Welt als ein Ding unter anderen Dingen, zum anderen aber, und grundlegender, als Selbsterscheinen unserer Subjektivität jenseits der Welt- und Selbstwahrnehmung.« 78

Zur ersten Phänomenalisierung gehöre der in der Begrifflichkeit dieses Kapitels verwendete Ausdruck ›Körper‹ als physikalische Einheit, die zweite ziele auf den Begriff ›Leib‹, der man selbst sei. Henry gehe der Frage nach, wie ein Mensch zur Gewissheit kommen könne, selbst Leib zu sein. Streng philosophisch gesehen könne diese Gewissheit auf kein empirisches Wissen zurückgehen, 79 der Leib sei auch kein ›Besitzgegenstand‹, den man ›haben‹ oder eventuell auch ›nicht haben‹ könnte. Somit entspringe, streng philosophisch, die Gewissheit unserer Eigenleiblichkeit einer transzendentalen Wissens-Quelle: Die Erfahrung, leiblich zu sein, sei kein Wissen ›von‹ etwas, sie sei »vielmehr die vor aller Welt- und Selbstwahrnehmung erlebte Erfahrung der Identität meiner Subjektivität mit meiner Leiblichkeit«. 80 Da die Leiblichkeit unveräußerliche Innerlichkeit sei, lasse sich beispielsweise sagen: »Mein Leib ist die Hand, mit welcher er sein Dasein bezeugt, indem er sie bewegt. Mein Leib ist das Tun, so wie ich es in seiner unmittelbaren Erfahrung lebe. Ich bin hineinversetzt in ein ›Ich-Können‹, welches ich selbst bin.« 81

Die Gewissheit unserer Leiblichkeit erlebten wir als ›unmittelbare Erfahrung‹, das ›Was‹ dieser Erfahrung sei »die Empfindung der Kraft« 82 , was mit dem physikalischen Kraftbegriff nicht verwechselt werden dürfe. Diese ›Kraftempfindung‹, die an anderer Stelle als ›Ich kann‹ bezeichnet wurde, sei ein ›Sich-Wissen‹, eine ›Bewegung‹, die nicht mit einer ›Ortsbewegung‹ verwechselt werden dürfe: Sie sei vielmehr »die Bedingung der Möglichkeit von Ortsbewegungen«. 83 Bewegung im lebensphänomenologischen Sinn bedeute deren innere

Scheidegger, Julia: Michel Henry. Transzendentale Leiblichkeit. In: Alloa, Emmanuel/Bedorf, Thomas/Grüny, Christian/Klass, Tobias (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Tübingen 2012. S. 101. 79 Vgl. ebd. S. 102. 80 Ebd. S. 103. 81 Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 38. 82 Ebd. S. 103. 83 Ebd. S. 104. 78

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Körper – Leib – Fleisch

Struktur; die Begriffe ›Bewegung‹ und ›Kraftempfindung‹ werden äquivalent verwendet. Ein entscheidender Punkt an der so verstandenen Leiblichkeit scheint zu sein, dass sie ein ›Vermögen‹ und ein ›unmittelbares Wissen‹ sei, Leiblichkeit sei die Möglichkeit, die Welt zu erkennen, uns auf die Welt hin zuzubewegen. Henry spricht von der Selbstaffektion des Lebens. Darin lässt sich ein ›passiver‹ und ein ›aktiver‹ Aspekt erkennen und unterscheiden: ›Passiv‹ ist das Empfangen dieses rein potenziellen Vermögens, ›aktiv‹ ist das Erlebnis der jeweiligen Aktualisierung dieses Vermögens. Die »nicht vorgestellte Gewissheit der möglichen Realisierung« 84 komme wesentlich dem Leib zu. In exemplarischer Auswahl möchte ich auch zum Begriff ›Leib‹ weitere Begriffe, Komposita und Redewendungen nennen, die, abhängig vom jeweiligen Sprachgefühl, sehr unterschiedliche Assoziationen auslösen können. Im schulischen Kontext, insbesondere im Religionsunterricht, ist es wichtig, über Sprache zu reflektieren, Sprachgefühl zu schulen, unterschiedlichen Sprachgebrauch wahrzunehmen und nicht zuletzt Sprache einzuüben im Wissen, was sie auch bewirken kann. Mit Leib und Seele dabei sein, gesegneten Leibes sein, etwas am eigenen Leib erfahren, jemandem auf den Leib rücken, wie auf den Leib geschrieben, auf den Leib zugeschnitten, Leibesübung, der Leib Christi, leibhaftig, Leib und Leben wagen, gut bei Leibe sein, bei lebendigem Leibe, mir etwas vom Leibe halten, sich die Seele aus dem Leib schreien, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, Leibeskraft, Leibgericht, entleiben.

Einen weiteren Begriff möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen: das ›Leibgedächtnis‹, das gegenwärtig in der medizinischen und psychotherapeutischen Forschung einen immer größeren Stellenwert einnimmt. Der Leib als andauerndes und nicht nur je aktuelles Wissen sei laut Henry »die primäre Form von Gedächtnis. […] Das leibliche Gedächtnis ist die Gesamtheit der je erfahrenen Kraftempfindungen.« 85 Die für uns Menschen tragische Seite des Leibgedächtnisses zeigt sich zum Beispiel bei traumatischen Erfahrungen, die eben im Leib ihren ›Ort‹ haben: Ein Trauma manifestiert sich im gesamten Leib. Lebensphänomenologisch gilt ein einzelner Akt zwar immer als unwiederbringlich vergangen, »was hingegen nie vergangen ist, ist das Schema des Akts selbst, weil jeder Akt der 84 85

Ebd. S. 105. Ebd. S. 108.

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permanenten Möglichkeit der Aktualisierung eines Vermögens entspringt«. 86 Diese Zeitlosigkeit ist eines der Probleme der TraumaTherapie, zu deren Weiterentwicklung weltweit geforscht und gearbeitet wird. Die Einsichten Michel Henrys in die Fragen der Leiblichkeit eröffnen länger schon neue Zugänge zur Trauma-Forschung und zur Weiterentwicklung von Trauma-Therapien.

4.5.3. Fleisch Der Begriff ›Fleisch‹ erfährt im alltäglichen Gebrauch ebenso verschiedene Facetten wie ›Körper‹ und ›Leib‹. Einige Beispiele dafür seien hier genannt, die wiederum im Kontext von Religionsunterricht sehr hilfreich sein können, feine Unterschiede herauszuarbeiten und auf den speziellen Sprachgebrauch der Lebensphänomenologie vorzubereiten. Ein viertel Kilo Fleisch, Gammelfleisch, genmanipuliertes Fleisch, Fleischtransport, Fleischproduktion, Fleischbeschau, sein eigen Fleisch und Blut, ein Mensch aus Fleisch und Blut, sich ins eigene Fleisch schneiden, vom Fleisch fallen, weder Fisch noch Fleisch, sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens sehnen, sein Fleisch zu Markte tragen, ein Fleisch sein, sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an, Fleischeslust, dem Fleische erliegen, es wurde viel nacktes Fleisch gezeigt, das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.

Im Kapitel ›Inkarnation‹ war bereits ausgiebig vom ›Fleisch‹ die Rede, hier sollen noch einige ergänzende Aspekte einfließen. Ausgehend von dem zentralen neutestamentlichen Satz »Und das Wort ist Fleisch geworden« entwickelt Henry seine Philosophie des Fleisches: Das ›Fleisch‹ als subjektiver Leib sei die Bedingung, um das Leibsein als Lebendigsein zu erfahren. Da der Leib und das Fleisch keine Weltgegenstände seien, müsse es eine tiefe Verbindung von Leib und Fleisch geben. ›Fleisch‹ ist für den ›späten‹ Henry wahrscheinlich der Schlüsselbegriff schlechthin. Er spricht von der immanent pathischen Urleiblichkeit, die eine rein praktische oder absolut subjektive Gegebenheit sei, deren phänomenologische Materialität als ›Fleischlichkeit‹ die Selbstgebung des Lebens an sich selbst im Sinne der ›Passibilität‹ beinhalte. Mit dem Begriff der ›Passibilität‹ erreicht Henry die eigentlich entscheidende, radikalphänomenologische Verbindung von Leben 86

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und Fleisch, insofern alles lebendige Fleisch allein im Leben geboren werde, und zwar als ipseisierte Urleiblichkeit, das heißt als ›Sich‹. Es gebe kein Leben ohne dieses, das Lebenspathos ertragende Fleisch im Sinne der »Ur-Passibilität«. 87 Auffallend bei diesem Ansatz ist, dass an Stelle vom ›Ich‹ immer vom ›Mich‹ die Rede ist, also ein grammatikalischer Akkusativ, der das reine Empfangen des Lebens zum Ausdruck bringen will, wo das ›Ich‹ eben keinen Zugriff habe: die »ipseisierte Urleiblichkeit« 88 als ›Sich‹. Noch deutlicher wird dieses Denken in der Redeweise von der »Nacht unseres Fleisches«. 89 In dieser ›Nacht‹ ereigne sich das zentrale »›Selbstvergessen‹ des Lebens«. 90 Einmal mehr eine eindringliche Formulierung dafür, dass wir absolut keinen Zugriff haben – auf das Leben und auf den Menschen! Und konsequent wird betont, dass sich das Leben in der Welt nicht zeigen könne. Die Welt der ›Vorstellungen‹ sei die Welt der Sichtbarkeit. Wenn sich das ›Selbstvergessen in der Nacht unseres Fleisches ereigne‹, dann sei jede ›Vorstellung beendet‹. Die Leiblichkeit als lebendiges Fleisch könne in ihren innersten Modalitäten und Verwirklichungen gerade nicht vor das Licht der Vorstellungen gebracht werden. Jeder diesbezügliche ›Versuch‹ sei ein brutales ›Ans-Licht-Zerren‹, also ein Akt der Gewalt. Da das Fleisch sich der Sichtbarkeit entziehe und auch der Leib nicht gesehen, berührt und gefühlt werden könne, beziehe sich dieses Ans-Licht-Zerren, dem wir Menschen gegenwärtig mehr und mehr ausgeliefert sind, auf den ›Körper‹, der durch das bereits erwähnte galileische Prinzip zum ›Ding‹ gemacht worden ist, fern jeder Sinnlichkeit, fern jeder Lebendigkeit. Wenn über Leid und Gewalt bzw. über Freude und Kultur gesprochen wird bzw. über das ›Erleben‹ und ›Erfahren‹ von Leid und Gewalt, von Freude und Kultur, dann betritt man mit Michel Henry eine Dimension, in der seine Analysen besonders stark angefragt sind: Was und wie erlebt bzw. empfindet jeder einzelne Mensch in seinem fleischlichen Leib-Sein bzw. in seiner sichtbaren Körperlichkeit? Solchen individuellen Fragen muss sich die Lebensphänomenologie stellen bzw. aussetzen, wenn sie dem Anspruch der ›radikalen Subjektivität‹ für jeden Menschen zu jedem 87 88 89 90

Henry: Inkarnation. 2002. S. 195. Ebd. S. 419. Ebd. S. 421. Ebd. S. 421.

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Augenblick gerecht werden möchte. Der Hinweis auf die unendlich vielen Situationen, in denen all die Menschen auf dieser Welt standen und stehen, möge hier genügen, da es keine Situation gibt, die ›stellvertretend‹ auf andere Situationen übertragen werden kann. Die ›Mühe‹ und ›Anstrengung‹, die allem Tun, aller Kultur immanent ist, gilt auch in diesem Kontext.

4.6. Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei Michel Henry schreibt in den einleitenden Zeilen seiner Kulturkritik »Die Barbarei« aus dem Jahre 1987 folgenden Text: »Eine neue Barbarei durchdringt unsere Gesellschaft, da erstmals Wissen und Kultur auseinanderfallen. Seit dem ›Galileischen Projekt‹ will die Naturwissenschaft die allein objektive Erkenntnis sein und klammert die sinnlichen Naturqualitäten wie die damit verbundene Subjektivität aus: d. h. unser Leben selbst. Weil die Kultur besonders die Lebenssteigerung als Kunst, Religion und Ethik ist, findet sie sich so aus der Moderne ausgeschlossen.« 91

Ausgehend von seinem radikalen Lebensbegriff – das Leben als ›absolut phänomenologisches Leben‹ – unterscheidet Michel Henry zwischen dem ›Wissen der Wissenschaft‹ und dem ›Wissen des Lebens‹. 92 Die Wissenschaften, vor allem die mathematischen Naturwissenschaften, sieht er mit Skepsis und großer Besorgnis, 93 da er feststellt, dass dort von der Sinnlichkeit, mit anderen Worten vom Leben abstrahiert werde. Henry kritisiert an den Naturwissenschaften, dass sie vorgäben, das wahre Sein der Empfindungen zu erfassen, in Wirklichkeit aber das Empfinden völlig ausklammerten. Er meint, bei aller Notwendigkeit von naturwissenschaftlichen Methoden bräuchte und dürfte man das Empfinden niemals ausschließen, weil man letztlich das Leben selbst ausschließe und alles, was in irgendeiner Weise zu ihm gehöre. Henry warnt eindringlich davor, die Lebenswelt auf die Wissenschaftswelt zu reduzieren, und betont, dass es ein Denken gebe, das imstande sei, diese Reduktion »zu untersagen« 94 , nämlich ein Denken, das »die Lebenswelt in ihrer BesonderDer Autor über sein Buch. In: Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Freiburg/München 1994. S. 2. 92 Vgl. Henry: Die Barbarei. 1994. S. 173. 93 Vgl. ebd. S. 151–188. 94 Ebd. S. 154. 91

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Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei

heit zu fassen« 95 imstande sei. Ohne diese Korrektur bedeute das ›Wissen der Wissenschaft‹ eine radikale Revolution, »die die Humanitas des Menschen umstürzt und wodurch über dessen Wesen die ernsthafteste Bedrohung schwebt, der es seit Geschichtsbeginn ausgesetzt ist.« 96

Dagegen falle das ›Wissen des Lebens‹ mit der jeweiligen Handlung eines Menschen zusammen, »da es nichts anderes als deren Selbstaffektion ist. Ein solches Wissen, das im Tun beschlossen ist und mit ihm zusammenfällt, haben wir als das Wesen eines jeden Handlungswissens charakterisiert.« 97 Henry nennt in seiner Kulturkritik »Die Barbarei« mehrere Beispiele für ein so verstandenes Lebens- bzw. Handlungswissen, das vor allem jeder Form des Tätig-Seins innewohne, »die man für ›instinktiv‹ hält: der ursprünglichen Vertrautheit des Menschen im Umgang mit der Erde: der Möglichkeit, sich auf ihrem Boden zu halten, zu gehen, zu arbeiten; dem erotischen Verhalten; der Ausübung der Sinne und der Bewegungen im Allgemeinen; dem verschiedenen Vermögen der Subjektivität wie Einbildung, Gedächtnis usw. In all diesem Tätig-Sein verwirklicht sich nichts anderes als der Vollzug des Lebens, seine Selbstverwirklichung und seine Selbststeigerung – seine Kultur.« 98

Hier setzt er den Begriff der ›Selbststeigerung des Lebens‹ an: Selbststeigerung sei der Selbstverwirklichung des Lebens immanent, sie verwirkliche sich als ›Kultur‹. Für Henry ist es wesentlich, den Begriff ›Kultur‹ nicht auf Spitzenleistungen der Menschen zu reduzieren, also nur auf die ›herausragenden genialen Werke‹, sondern ihn so zu bestimmen, dass er sich auf das Leben insgesamt ausdehnt und »jedem seiner Bedürfnisse innewohnt, um von ihm untrennbar zu sein«. 99 In der Kultur komme also das Leben im Innersten zu sich selbst – in seiner »Selbststeigerung der absoluten Subjektivität«. 100 Kultur ist für Henry jede Handlung oder jede ›Praxis‹ jedes Menschen – daher spricht er von der absoluten Subjektivität – zu jedem Augenblick, wenn das Leben zu sich komme und sich nicht durch ›Barbarei‹ selbst verneine. ›Absolute Subjektivität‹ sei gerade in dieEbd. S. 154. Ebd. S. 173. 97 Ebd. S. 173 f. 98 Ebd. S. 174. 99 Ebd. S. 283. 100 Ebd. S. 283. 95 96

121 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

sem Zusammenhang ein wesentlicher Verständnisschlüssel: Jeder Mensch empfinde sich je einzigartig als ›Subjekt‹ und einzigartig in der jeweiligen Situation. Kein Empfinden sei somit ›übertragbar‹, nicht von Mensch zu Mensch und nicht von Situation zu Situation – daher die tragende Bedeutung von ›absoluter‹ Subjektivität. Wenn Henry in Zusammenhang mit Selbststeigerung von ›Bewegung‹ spricht, dann ist nicht der physikalische Bewegungsbegriff gemeint, sondern die Bewegung ›vor‹ jeder Bewegung, also die Ermöglichung jeder Bewegung, mit anderen Worten die ›Intuition‹ zu jeder möglichen Bewegung. Dieses ›Bewegungs-Wissen‹ besitzt für Henry noch kein Objekt: »[D]as Wissen, die Hände-zu-bewegen; das Wissen, die Augen-zu-wenden – das heißt das Lebenswissen – hat auf keinerlei Weise noch in irgendeiner Hinsicht etwas Objektives. Es besitzt kein Objekt, weil es in sich keinen Bezug zum Objekt trägt, weil sein Wesen nicht dieser Bezug ist.« 101

In jedem Kulturvorgang vollziehe sich diese Bewegung, »und zwar insofern das Bedürfnis die erprobende Erfahrung des Erleidens durchquert, um in ihm und durch dieses die Steigerung zu sein«. 102 Der Kulturbegriff wird von Henry vor allem auf drei Bereiche hin buchstabiert, auf Kunst, Ethik und Religion. In all diesen Bereichen sei der Mensch eingebunden in eine affektive Gemeinschaftlichkeit mit allem Lebendigen, in ein ›Mitpathos‹, in dem sich das absolute Leben selbst als Feier erfahre und empfinde. •

Kunst, die aus dem Leben komme, sei immer Selbststeigerung des Lebens. Ethik, die aus dem Leben komme, sei immer Selbststeigerung des Lebens. Religion, die aus dem Leben komme, sei immer Selbststeigerung des Lebens.

• •

Diese Selbststeigerung nennt Henry »die Fortsetzung des ununterbrochenen Prozesses, durch den das Leben sich kultiviert, das heißt sich einem anderen Prozess anvertraut, nämlich dem seines ewigen Ankünftigwerdens in sich selbst«. 103 In dieser Steigerung bzw. 101 102 103

Ebd. S. 95. Ebd. S. 286. Ebd. S. 302 f.

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Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei

Selbststeigerung »hat die Anstrengung ihren Platz inne«, 104 das InsTun-Kommen von uns Menschen, unsere Kultur. Jede Kultur trage in sich das Bedürfnis zur Steigerung, zur Realisierung aller ›Angebote‹, was eben mit ›Anstrengung‹ verbunden sei: »mehr zu sehen, mehr zu empfinden, mehr zu lieben, mehr zu handeln«. 105 Als ein Beispiel für dieses ›mehr‹ bzw. für diese Steigerung bzw. Bewegung nennt Henry das Betrachten einer Barockfassade, das »im Leib des Betrachters das Erwachen virtueller Bewegungen hervorruft«. 106 Der Sitz aller so verstandenen Bewegungsabläufe sei die »Selbstumschlingung des Lebens« 107 , die zugleich übermächtig sei. Bei der Frage nach dem Woher dieser Übermächtigkeit verwendet Henry den wiederum nicht physikalisch zu verstehenden Begriff der ›Energie‹ 108 . Energie bedeute hier die nicht unterdrückbare Erfahrung der unendlichen Möglichkeiten, die nicht unterdrückbare Erfahrung der Steigerung, die sich »bis zum Übermaß mit sich selbst belädt«. 109 Energie bedeute, dass die Selbststeigerung des Lebens von ihrem Wesen her auf unbegrenzte Wiederholung angelegt sei. Und diese Energie wolle befreit werden, indem man ihr freien Lauf lasse, ihr Sein zu entfalten. Jedes Handeln, das aus diesem freien Lauf heraus geschehe, sei Kultur, sei »Selbstrealisierung der Subjektivität in der vollzogenen Wirktatsächlichkeit ihrer Selbstaffektion«. 110 Die Lebensenergie wolle genutzt werden und sich frei entfalten; die Rede ist vom ›Pathos der Trunkenheit‹ in der Selbstumschlingung des Lebens. Die Kehrseite dieser Selbststeigerung, von der Henry immer wieder auch in poetischer Sprache spricht, wird mit unterschiedlichen Vokabeln zum Ausdruck gebracht: Neben dem Begriff ›Barbarei‹ wird auch von der ›Selbstverneinung des Lebens‹, von der ›ungenutzten Energie‹ oder vom ›Festhalten im Erleiden‹, das sich nicht mehr auf ein Erfreuen hin übersteigt, gesprochen. Die Rede ist von einer »tiefen Malaise« 111 , die die Existenz berühre und durchziehe. Das Sein, das nicht ausgeschöpft werden könne, habe zum Grund seiner selbst 104 105 106 107 108 109 110 111

Ebd. S. 283. Ebd. S. 287. Ebd. S. 287. Ebd. S. 288. Vgl. ebd. S. 281 f. Ebd. S. 281. Ebd. S. 281 f. Ebd. S. 289.

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Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

keinen Zugang mehr, die Lebensenergie bleibe ungenutzt, jenes ›Mehr‹, von dem vorhin gesprochen wurde, könne sich nicht mehr frei verwirklichen. Henry verdeutlicht, dass eine Energie, die nicht ausgeübt werden könne, gleichsam verdrängt sei. ›Verdrängt‹ bedeutet, die Energie sei nach wie vor da und komme ›anders‹ als in der Selbststeigerung zum Ausdruck: »[Die Energie] besteht […] in der Verdrängung weiter, da sie sich selbst gegeben, mit sich selbst beladen ist, und zwar mit einer Last, die insofern in jedem Augenblick schwerer wird, als die Energie sich zu keinem Augenblick in das Erfreuen der Steigerung umkehrt, weil sie eben im Individuum kein Wirken hervorruft, das ihm wie ihr eigenes Wirken entspräche. In sich selbst zur Unbeweglichkeit gebannt, ihrem reinen Leid ausgeliefert und darauf eingeschränkt, lebt die Energie im Gegenteil dieses als das Unerträgliche, dem sie sich jedoch nicht entziehen und vor dem sie nicht fliehen kann.« 112

Hier werden mit drastischen Worten Erfahrungen von Unerträglichkeit benannt und analysiert, denen so viele Menschen anscheinend oder offenbar ausgeliefert sind. Unbeweglich dem Leid ausgeliefert zu sein, ist eine mögliche Umschreibung von Folter und von einem Dasein in Angst und Isolation. Die großen ›Leistungen‹ des Alltags und der Kunst sind nicht mehr möglich, der für die Steigerung des Lebens ungenutzte Energieanteil wird auf der Ebene des Unerträglichen größer und mit ihm das, was vorhin als die ›Malaise‹ schlechthin bezeichnet wurde: die Selbstverneinung des Lebens. Die ›Malaise‹ bestehe darin, dass alle Kultur – Kunst, Ethik und Religion – von der Steigerung des Lebens abgeschnitten sei, die Barbarei ist für Henry der Schlusspunkt der Steigerung. Deshalb hat die Dringlichkeit, die der Radikalen Lebensphänomenologie und im Speziellen der Kulturkritik innewohnt, ein klares Ziel, nämlich dem rein phänomenologischen Leben wieder einen Ort zu geben. Wenn das Leben durch Stellvertreter und Äquivalente ersetzt werde, das Empfinden und Fühlen aus dem (natur-)wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werde, dann fielen Wissen und Kultur auseinander und der Mensch verliere den intuitiven Zugang zum Lebenswissen. Am Ende des letzten Kapitels aus seiner Kulturkritik ›Die Zerstörung der Universität‹ spricht Henry vom intellektuellen und geistig-spirituellen Vermögen der Menschheit:

112

Ebd. S. 290.

124 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei

»[Dieses Vermögen sei] traditionellerweise von jenen verantwortet [worden], die in sich die große Bewegung der Lebenssteigerung vollzogen und es als ihre Aufgabe ansahen, sie in einer möglichen Wiederholung anderen weiterzuvermitteln. Dieses Vermögen ist den Gelehrten und Intellektuellen von neuen Lehrern entrissen worden, welche die blinden Diener des Universums der Technik und der Medien sind, nämlich von den Journalisten und den Politikern.« 113

Hinter dieser Aussage, die wohl auch als eine zu undifferenzierte und pauschale Verallgemeinerung bezeichnet werden kann, steht eine Auseinandersetzung, die nur aus der Biografie von Michel Henry zu verstehen ist, auf deren kultur- und wirtschaftspolitische Hintergründe ich hier nicht eingehe. Die entscheidenden Aspekte und die Metaphern aus diesem Zitat lassen sich im Umfeld Schule meines Erachtens sehr gut zur Diskussion stellen. • •







Was empfinden SchülerInnen, die sich mit Kultur beschäftigen, als ›intellektuelles und geistig-spirituelles Vermögen‹ ? Welche Menschen haben ihrer Meinung nach diese Verantwortung früher wahrgenommen und wer nimmt sie gegenwärtig wahr? Wer sind für die SchülerInnen die ›blinden Diener des Universums der Technik‹, die das vorhin erwähnte Vermögen an sich reißen und viel mehr die Banalitäten füttern als der Kultur des Lebens ›dienen‹ ? Wie beurteilen junge Menschen die negative Sichtweise des Fernsehens bzw. der Fernsehzuschauer durch Michel Henry, der diese ›neue Zivilisation des Bildes‹ geißelt, die dem »gesellschaftlichen Dogma unterworfen« 114 sei, wodurch wir nur mehr ›rezeptiv‹ seien? Und schließlich – wenn ›Wissen‹ und ›Kultur‹ so eindeutig einander gegenübergestellt werden – stellt sich im Umfeld Schule auch angesichts der vielen Debatten über Bildung zunehmend stärker die Frage, welchen Stellenwert das sogenannte ›Lebenswissen‹ hat.

Es gibt keine übereinstimmende Meinung darüber, was als Lebenswissen bezeichnet werden soll. Es gibt auch keine übereinstimmende 113 114

Ebd. S. 364. Ebd. S. 364.

125 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ausgewählte Themen der Lebensphänomenologie und ihr ›Sitz‹ im Religions-

Meinung darüber, für welches ›Wissen‹ die Schule zuständig ist oder sein soll, abgesehen von ›Fertigkeiten‹ wie Sprache und Mathematik oder von ›Kulturbereichen‹ wie Philosophie und Geschichte. Gerade am Fach Religion entzündet sich unaufhörlich die Debatte über dessen Existenz-›Recht‹ im öffentlich schulischen Kontext. So muss der Diskurs darüber, welches Wissen und welches Lebenswissen in der Schule unverzichtbar sind, stets geführt werden, was sich letztlich auch in den Lehrplänen widerspiegeln wird. Im Hinblick auf das Vokabular von Michel Henry – Kultur versus Barbarei – würden wohl die meisten Schülerinnen und Schüler eine eindeutige Haltung artikulieren: Die Schule darf kein Ort der Barbarei sein, sie muss Lebensraum und ein Ort der Kultur sein, sie kann bzw. sollte ein Ort der Selbststeigerung des Lebens sein. Zum Schluss sei noch ein Aspekt erwähnt, der das Gegensatzpaar ›Barbarei‹ und ›Selbststeigerung des Lebens‹ betrifft. Rolf Kühn weist darauf hin, dass die Grenze zwischen diesen beiden ›Polen‹ nicht eindeutig zu ziehen sei, man könne nicht ›von außen‹ beurteilen, ob ein bestimmtes Verhalten oder eine Gegebenheit entweder der Barbarei oder der Selbststeigerung des Lebens zugerechnet werden müsse. Mit dieser Unklarheit müsse man leben und lernen, damit umzugehen. Damit sei das radikal subjektive Empfinden noch einmal mehr unterstrichen.

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5. Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht: Kompatibilität zweier unterschiedlicher Zugänge zum ›Phänomen Mensch‹ durch einen radikalen Perspektivenwechsel 5.1. Radikaler Perspektivenwechsel ›Was können Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie für das Gelingen des Religionsunterrichts und für die Stärkung der Person der Lehrerin und des Lehrers leisten? Worin besteht der ›Mehr-Wert‹ für den Religionsunterricht?‹ Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die beiden Denkansätze von unterschiedlichen anthropologischen Grundvoraussetzungen ausgehen, methodisch zum Teil konträr vorgehen, auf anderen philosophischen Grundlagen aufbauen und sich auch durch das jeweilige spezifische Vokabular der direkten Vergleichbarkeit entziehen. Es lässt sich meines Erachtens gut begründen, einen für den Religionsunterricht wertvollen Ansatz eines Autors auch dann aufzugreifen, wenn ein anderer Autor, dem man wesentliche Impulse bereits verdankt, einen divergierenden Ansatz vertritt. Mein Bezugspunkt ist stets der als Pflichtfach an allen Schulen Österreichs etablierte Religionsunterricht, der im Lichte einer ›personal-lebensphänomenologisch-existenziellen Pädagogik‹ betrachtet wird. Dieser Band will aufzeigen, wie diese beiden Denkrichtungen einen bestimmten Stil des Religionsunterrichts nachhaltig prägen und ihn inhaltlich unterstützen können. Schließlich wird im letzten Kapitel ein ›Habitus‹ für LehrerInnen gegenüber den SchülerInnen skizziert, der sich zum großen Teil aus diesen beiden Quellen speist. In diesem Kapitel werden die beiden Denkansätze zueinander in Beziehung gesetzt, deren Gemeinsamkeiten erörtert und etwaige Grenzen in Bezug auf den Religionsunterricht herausgearbeitet. Es wird begründet, inwieweit die deutlichen Unterschiede gerade im Sinne eines lebendigen Unterrichts nebeneinander stehen können und, abhängig von der konkreten Unterrichtssituation, jeweils einen hilfreichen Bezugspunkt darstellen – einmal ist es die Existenzanalyse von Viktor Frankl und ein anderes Mal Michel Henrys Radikale 127 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Lebensphänomenologie. Eine Pädagogik, die sowohl die Existenzanalyse als auch die Radikale Lebensphänomenologie miteinbezieht, wird von mir als ›personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik‹ bezeichnet, die gerade kein geschlossenes einheitliches System darstellt, sondern stark von der intuitiven Kompetenz und von der Kreativität der Lehrenden abhängt. Die Dynamik und die ›Unberechenbarkeit‹ des Unterrichtsgeschehens stoßen hier auf eine nahezu unendliche Quelle, die einerseits diese Dynamik voraussetzt und andererseits die ›Unberechenbarkeit‹ als positive Gegebenheit integriert. Gerade am Phänomen der Unberechenbarkeit lässt sich zeigen, dass diese Pädagogik herausfordernd und nicht immer für die Lehrenden mit ›positiven Gefühlen‹ verbunden ist und oftmals auch Konflikte und harte pädagogische Arbeit mit sich bringt. Dass sie sich dennoch ›lohnt‹, ein Gewinn für den Religionsunterricht sein kann und der Lebendigkeit allen menschlichen Tuns entspricht, soll herausgearbeitet werden. Durch das Ziel in diesem Band, eine ›personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik‹ zu entwickeln, kommen auch eigene methodische Schritte zum Tragen. Die eigenen Unterrichtserfahrungen und religionspädagogischen Überlegungen fließen hier dezidiert ein. ›Perspektivenwechsel‹ ist in diesem Zusammenhang mehrfach zu verstehen. Ein Perspektivenwechsel betraf Frankls anthropologischer Zugang: Das Leben fragt, der Mensch ist gefragt zu antworten. Ein anderer betraf den Umsturz in Henrys Lebensphänomenologie: Das radikal phänomenologische Leben ist unsichtbar, ebenso jede individuierte Leiblichkeit. Der Perspektivenwechsel, der in diesem Kapitel notwendig ist, betrifft die konkrete Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht: Die bereits erwähnte Kreativität und Kompetenz der Lehrenden ist gefordert, wenn es gilt, einen Zugang zu jedem einzelnen Schüler bzw. zu jeder einzelnen Schülerin zu finden. So muss sich ein Unterricht in der Perspektive der Lebensphänomenologie sehr behutsam an SchülerInnen herantasten, damit er nicht zur abschreckenden Keule wird. Ebenso gilt es zu erspüren, in welcher Weise die Existenzanalyse mit den SchülerInnen in Berührung kommt, damit sie sich angesprochen fühlen. Im Lauf einer beruflichen Biografie sollten Lehrende sensibel werden für die je ›richtige‹ Perspektive in der jeweiligen Situation. Die Radikalität der Lebensphänomenologie besteht unter anderem darin, dass es keine Größe im ›Außen‹ mehr gibt, die zum bestim128 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Radikaler Perspektivenwechsel

menden Faktor werden könnte, kein Wert oder Sinn, kein ethisches System oder Moralvorstellungen, kein Welthorizont, der ein ›Dazwischen‹ zwischen Leben und dem einzelnen Menschen zuließe, keine ›Welt der Vorstellungen‹, die das Leben zum Anschauungsobjekt machen möchte. Diese Radikalität stößt im ›System Schule‹ auf etliche Schwierigkeiten, sofern man in diesem System ›lebt‹ und arbeitet, sie erfährt auch Grenzen in der gängigen Theologie und in der Religionspädagogik, denen man als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer verpflichtet ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass hier keine dogmatischen, bibeltheologischen, exegetischen oder moraltheologischen Perspektiven diskutiert werden. Für den Kontext Schule und für den Religionsunterricht stellt sich allerdings die Frage der Perspektive hier offensichtlich. Ist das ›System Schule‹ oder der ›Rahmen Religionsunterricht‹ ohne eine Größe im Außen denkbar bzw. ›vorstellbar‹ ? Meiner Einschätzung nach kann man an diese Frage differenziert herangehen. Ein ›System‹ wie die Schule wird derzeit ohne eine Bezugsgröße, die im Sinne des rein phänomenologischen Lebens immer ein Außen ist und bleibt, nicht auskommen. Dieses System, das im Beziehungsgeflecht mit vielen anderen Systemen steht, kann ›im Horizont der Welt‹ ohne eine Bezugsgröße nicht ›funktionieren‹, wobei mitgedacht werden muss, was im letzten Kapitel über das ›Funktionieren‹ in Bezug auf das Person-Sein des Menschen noch herausgearbeitet wird. Wenn das ›System Schule‹ nach eigenem Empfinden Strukturen schafft, die den SchülerInnen feindlich gegenüberstehen, dann wird man vielleicht versuchen, dagegen anzukämpfen, und, wenn man sich mit Michel Henrys Ansatz auseinandergesetzt hat, wahrscheinlich erkennen, was in diesem Kontext ›Barbarei‹ auch bedeuten kann. Das Wissen um die Selbstaffektion des Lebens, die keine Bezugsgröße im Außen zulässt, stellt die Lehrenden jedoch vor große Herausforderungen, wenn sie den ›weltlichen Horizont Schule‹ in den Blick nehmen. Im Religionsunterricht bzw. in den Lehrplänen für den Religionsunterricht gibt es zahlreiche Themen, die im streng lebensphänomenologischen Sinn eindeutige Außen-Größen darstellen, wie die großen Themen Sinn, Werte, Person oder Persönlichkeit. Hier sehe ich aus meiner Perspektive eine Grenze der ›Anwendbarkeit‹ der Radikalen Lebensphänomenologie. Da die eben angesprochenen Themenbereiche einerseits im Lehrplan fix verankert sind und ande129 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

rerseits die Arbeit mit und an ihnen im Religionsunterricht von hoher Qualität sein können, bleibe ich in Bezug auf sie bewusst im Rahmen der ›klassischen‹ Existenzanalyse. Wenn dabei Fragen auftauchen, in denen spürbar wird, dass die klassische Existenzanalyse eventuell an eine Grenze stößt, die durch die Lebensphänomenologie ›überwunden‹ oder überschritten werden könnte, dann soll diese Perspektive zum Tragen kommen. Das ist gemeint, wenn die Rede davon war, sensibel zu werden für die je ›richtige‹ Perspektive in der jeweiligen Unterrichts-Situation. So ein Perspektivenwechsel kann an die Wurzel gehen, also radikal sein.

5.2. Dynamik und Unberechenbarkeit des (Religions-) Unterrichts Dynamik und Unberechenbarkeit hängen vom Wesen her zusammen und sind oftmals aufeinander bezogen. Vielleicht sind es feine Nuancen zur Unterscheidung innerhalb desselben Geschehens, die jeweils einen eigenen Fokus haben. Mir erscheint es wichtig und spannend, die beiden Phänomene eigens in den Blick zu nehmen.

5.2.1. Dynamik Dass der Unterricht an einer Schule unabhängig vom Unterrichtsfach als ein dynamisches Geschehen beschrieben werden kann, in dem zahlreiche Einflüsse wirksam werden bzw. zusammenwirken, versteht sich von selbst. Allein der Faktor, dass die SchülerInnen in einer Klasse in ihrer Lebendigkeit, mit ihrer Biografie bzw. Tagesverfassung und in ihrem Wachstums- bzw. Entwicklungsprozess einem ständigen Wandel unterworfen sind, sprengt jede Möglichkeit einer statischen Sichtweise. Berücksichtigt man dazu die Wirkung der jeweiligen Lehrperson auf die einzelnen SchülerInnen, die sich von Augenblick zu Augenblick verändern kann, dann treffen sehr viele unbekannte Größen aufeinander, die sowohl inspirierend als auch überfordernd und sogar lähmend sein können. Die inhaltliche Vielfalt speziell im Religionsunterricht, die die SchülerInnen oftmals zu ganz persönlichen und auch intimen Stellungnahmen herausfordert, trägt ihrerseits zur Dynamik bei, wobei hier auch die von vielen ReligionslehrerInnen beklagte Gleichgültigkeit vieler SchülerInnen mitgemeint ist. 130 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Dynamik und Unberechenbarkeit des (Religions-) Unterrichts

Viktor Frankl spricht in der Ärztlichen Seelsorge von der existentiellen Dynamik 1 und drückt damit seine Überzeugung aus, dass der Sinn jeweils dem Sein voraus sein müsse. Für ihn müsse der Sinn »Schrittmacher des Seins« 2 sein; der Sinn schreite voran und weise dem Sein den Weg – dieses Geschehen bezeichnet er als existentielle Dynamik. In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwei Menschentypen, nämlich die Schrittmacher und die Ruhestifter: Erstere konfrontierten ihre Mitmenschen mit Werten und eben mit Sinn, während die Letzteren »versuchen, uns von der Bürde jeder Sinnkonfrontierung zu entlasten«. 3 Für einen ›gelungenen‹ Religionsunterricht liegt es auf der Hand, die Lehrenden als Schrittmacher und Schrittmacherinnen zu verstehen, als Mentoren und Mentorinnen, die die Schüler bzw. Schülerinnen zum Leben hin begleiten. Wenn der Sinn dem Sein voraus ist, dann kann das schwerwiegende Konsequenzen haben, wenn zum Beispiel einzelne oder mehrere Unterrichtsstunden als sinnlos erlebt werden. Sollte vom Empfinden her also die Sinnlosigkeit dem Sein voraus sein, würde die ›Dynamik‹ um einen zusätzlichen Faktor erweitert werden, der aus dem Blickwinkel einer Lehrperson eventuell nicht gleich wahrnehmbar ist und als pure Störung empfunden werden kann. Ist bei Frankl der Begriff der ›Dynamik‹ durchaus auch von der Physik her zu verstehen, der er sprachlich entlehnt ist, so trifft bei Henry eine derartige Herleitung nicht zu: Seine Begrifflichkeit ist, wie bereits an den Begriffen ›Kraft‹, ›Energie‹ oder ›Bewegung‹ aufgezeigt wurde, rein phänomenologisch zu verstehen und nicht physikalisch, biologisch oder psychologisch. So wird das Wort ›Dynamik‹ in der Lebensphänomenologie selten verwendet. Analog zum Wortgebrauch bei Frankl lässt sich meines Erachtens allerdings eine für Henry entscheidende Größe als ›Dynamik‹ verstehen, nämlich die transzendentale Affektivität, die darin besteht, dass sich zwei »affektive Tonalitäten« 4 gegenseitig so »umschlingen« 5 , dass sie sich in dieser unbedingten Einheit selbst manifestieren: das Sich-Erleiden und das Sich-Erfreuen. Für Henry gehören diese beiden Tonalitäten im Leben untrennbar zusammen. Die gleiche ›Dynamik‹ lässt sich Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 103 f. Ebd. S. 103. 3 Ebd. S. 104. 4 Knöpker, Sebastian: Was macht die Lebensphänomenologie aus? In: lebensphaenomenologie-blog.de/?p=258. [05. 07. 2014]. S. 1. 5 Ebd. S. 1. 1 2

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

auch mit dem Begriffspaar »Selbstmächtigkeit und Ohnmächtigkeit« 6 ausdrücken: Das Ineinander von Selbstmächtigkeit und Ohnmächtigkeit bestimmt laut Henry die Selbstaffektion der transzendentalen Affektivität. Selbstmächtigkeit wird üblicherweise mit der affektiven Tonalität der Freude und Ohnmächtigkeit mit der affektiven Tonalität des Leidens identifiziert. Wiederum sei auf einen Bezug zum Unterrichtsgeschehen hingewiesen: Sowohl für die meisten LehrerInnen als auch für die meisten SchülerInnen gehören die beiden ›Tonalitäten‹ der Selbst- und der Ohnmächtigkeit zum Erfahrungsschatz im Lebensraum Schule, und meistens sind die beiden Wirkweisen mit Freude oder mit Leid verbunden. Nicht immer gelingt es den ›Beteiligten‹, mit der Ohnmächtigkeit gut umzugehen. Bei SchülerInnen lassen sich als Begleiterscheinung zur Erfahrung von Ohnmächtigkeit oftmals Aggression, Resignation oder Rückzug beobachten. Problematische Verhaltensweisen bei LehrerInnen, wenn sie sich durch die Erfahrung von Ohnmächtigkeit vielleicht sogar in ihrer ›Rolle‹ bedroht fühlen, können fatale Auswirkungen haben: Wie nehmen SchülerInnen eine Lehrperson wahr, die aggressiv und dadurch vielleicht auch ungerecht ist? Wie empfinden SchülerInnen Lehrpersonen, die resigniert haben, von sich selbst nichts mehr erwarten und auf keinen Fall mehr ›Schrittmacher‹ sind? Wie geht es SchülerInnen, die ihre LehrerInen eventuell sogar als Menschen vor dem oder im Burnout wahrnehmen oder als Menschen mit Erschöpfungsdepression? Welche Dynamik wird ausgelöst, wenn Lehrpersonen ihre Leitungsfunktion nicht mehr wahrnehmen und diese den SchülerInnen überlassen oder gar übertragen? Die Feststellung von Michel Henry, dass die Tonalität der Ohnmächtigkeit eine notwendige Einheit mit der Tonalität der Selbstmächtigkeit bildet, lässt diese Unterrichtsbeobachtungen eventuell in einem anderen Licht erscheinen. Wenn diese beiden Tonalitäten notwendig eine Einheit bilden, lässt sich eine Einstellung zu ihnen erarbeiten, der im Kapitel über die ›phänomenologische Haltung‹ noch genauer nachgegangen wird. Und diese Einstellung, diese Haltung – vor allem von Lehrenden – verleiht den beiden Tonalitäten wiederum eine andere Qualität, nämlich die der Lebendigkeit und der Fülle. So paradox es klingen mag: Ohnmächtigkeit als eine Möglichkeit von Fülle zu empfinden, ist eine Option aus der Lebensphä6

Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 38.

132 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Dynamik und Unberechenbarkeit des (Religions-) Unterrichts

nomenologie, die sich auch theologisch vom Kreuzesgeschehen her herausarbeiten lässt. In seinem Werk »Inkarnation« wird dies von Henry vor allem philosophisch durchgedacht, auf die Berührungspunkte zur Theologie wurde in diesem Band schon mehrfach hingewiesen.

5.2.2. Unberechenbarkeit Die Unberechenbarkeit eines Unterrichtsgeschehens hängt einerseits mit dessen Dynamik direkt zusammen, andererseits geht sie meines Erachtens vom Erleben und vom Empfinden her noch einen Schritt weiter, denn Unberechenbarkeit kann eine Konnotation des ›Unheimlichen‹ haben: Das Gefühl, dass einem alles entgleitet, würden die meisten Lehrenden als sehr negativ beschreiben. Der Begriff der Dynamik hingegen lässt eventuell eine Türe offen, die auf ein Feld der positiven, lebendigen Spannung hinweist. Es vermittelt vielleicht auch einen sehr wünschenswerten Gegenpol zu ›Langeweile‹. Ein modernes Unterrichtsgeschehen ist offenkundig unberechenbar, denn die SchülerInnen sind mitgestaltende ›Subjekte‹ eines Lehr- und Lernprozesses. Die Lehrpersonen können nicht mit dieser oder jener Verhaltensweise ihrer SchülerInnen ›rechnen‹ und somit den Verlauf einer Unterrichtsstunde auch nicht einseitig planen. Das ist eindeutig positiv, denkt man etwa an noch nicht so lange zurückliegende Zeiten einer schwarzen Pädagogik oder an deren Ausläufer. Die SchülerInnen nicht ›berechnen‹ zu können bzw. mit keiner Verhaltensweise ›rechnen‹ zu können, ist auch eine unverzichtbare Grundlage des (modernen) Religionsunterrichts, in dem die SchülerInnen mit ihrer Lebens- und Glaubensbiografie ›in der Mitte‹ stehen. Die Unberechenbarkeit des Unterrichts hängt gegenwärtig auch zunehmend mit dem »heterogenen Klassenbild« 7 zusammen. Als soziale Gruppe entwickelt jede Klasse ihr eigenes Gruppenklima, was sich auf Kommunikationsabläufe und auf das Erreichen von Zielen auswirkt. »In jeder Schulklasse spiegelt sich die Vielfalt von Einstellungen zu Religion und Kirche. Abweisende, uninteressierte und indifferente Schüler treffen zuVgl. Hofmeier Johann: Fachdidaktik Katholische Religion. München 1994. S. 141– 143.

7

133 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

sammen mit interessierten, persönlich ringenden, auch kritischen und aggressiven Schülern, mit solchen, die hartnäckig ihre eigene Position rechtfertigen und nicht dialogbereit sind, aber auch mit Schülern, die fest an eine kirchliche Gemeinde gebunden sind oder sich ›auf dem Weg‹ wissen.« 8

Da der Subjekt-Charakter von SchülerInnen gerade im Religionsunterricht besonders gut erkennbar ist, ergibt sich durch diese Heterogenität ein großes Maß an Unberechenbarkeit, mit dem ReligionslehrerInnen umzugehen lernen müssen. Das kann ein schmerzlicher Prozess sein, der eine positive Herausforderung darstellen kann. Wichtig scheint mir zu sein, dass das Klassenklima in seiner Vielfältigkeit und eben auch Unberechenbarkeit eine religionspädagogische Bedeutung hat, denn »Kommunikationsvorgänge haben eine religiöse Dimension. Wie voneinander gedacht und aufeinander eingegangen wird, was miteinander getan wird, ist immer auch Ausdruck des eigenen Selbstgefühls und Ausdruck von Wertvorstellungen.« 9

Wenn dieser Hinweis des Regensburger Universitätsprofessors Hofmeier auf die Wertvorstellungen der SchülerInnen mit dem in Beziehung gesetzt wird, was Frankl über das subjektive Wertempfinden sagt, zeigt sich umso mehr, dass LehrerInnen mit keinem bestimmten Verhalten ihrer SchülerInnen ›rechnen‹ können: Wenn die SchülerInnen authentisch sind und ihrem Wertempfinden nachgehen, dann können sie dieses Empfinden gar nicht steuern, sie können sich nicht verstellen, auch nicht der Lehrperson ›zuliebe‹. Diese ›Unberechenbarkeit‹ ist somit ein Prinzip, auf das die Lehrenden vorbereitet werden sollten und das sie pädagogisch gut integrieren müssen. Frankl verwendet diese Vokabel ausdrücklich in Zusammenhang mit der ›geistigen Person‹. In seiner Gegenüberstellung von ›Person‹, ›Charakter‹ und ›Persönlichkeit‹ betont er, dass sich selbst aus dem Charakter eines Menschen keine Handlungen vorhersagen lassen, denn jede ›Berechnung‹, wie jemand handeln würde, übersehe eben die Dimension der geistigen Person: »Denn diese geistige Person des Menschen ist wesentlich unberechenbar. Ich kann jeweils höchstens wissen, wie sich ein Mensch in einer bestimmten Situation aus seinen Charakteranlagen verhalten würde. Niemals jedoch kann

8 9

Ebd. S. 141. Ebd. S. 143.

134 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle

ich voraussehen oder vorhersagen, wie er sich dann auch tatsächlich verhalten wird.« 10

Für die Lebensphänomenologie von Michel Henry ist ›Unberechenbarkeit‹ aus der Selbstaffektion des Lebens heraus ganz selbsterklärend zu verstehen. Sie entspricht dem Axiom, sich aller ›Vorstellungen‹ zu enthalten, da sich das Leben unseren Vorstellungen widersetzt und Menschen unter unseren Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen, massiv leiden können. Sich nach Vorstellungen zu richten, nennt die Lebensphänomenologie eine welthafte Instrumentalisierung, die letztlich in die Barbarei führe. Das inkarnierte Leben erfahre seine ständige Selbsterprobung, die unserem ›Zugriff‹ per se entzogen sei und in den beiden Modalitäten des Sich-Erleidens und des Sich-Erfreuens lebe, ob wir es wollen oder nicht.

5.3. Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle Im Religionsunterricht muss die Welt in all ihren Facetten zur Sprache gebracht werden: Von Freude und Hoffnung über den scheinbar eintönigen Alltag bis zu Trauer und Verzweiflung muss sich der inhaltliche Bogen spannen, will Religion mit dem lebendigen Menschen von heute zu tun haben, dem Menschen etwas ›sagen‹ und ihn auch begleitend unterstützen. Die Erfahrungen von Gewalt, die manche SchülerInnen selbst machen und die fast jeder Mensch täglich durch die Medien ins Haus geliefert bekommt, müssen thematisiert und dürfen auf keinen Fall verharmlost oder verschwiegen werden. Die Religion – in meinem beruflichen Kontext ist es das Christentum in katholischer Prägung – bzw. die Religionen müssen den vielfältigen Formen von Gewalt ›standhalten‹. Das bedeutet, deren Aussagen müssen von einem Verständnis des Phänomens Gewalt zeugen und in gewisser Weise eine ›Antwort‹ finden, wie der Mensch damit umgehen kann, wie er dem Phänomen Gewalt ›gut‹ begegnen kann. Religion, somit auch der Religionsunterricht, muss Menschen in deren Trauer und Verzweiflung ›treffen‹. Religion muss natürlich auch von begründeter Hoffnung und von Freude sprechen können. Die Überzeugung, dass Auferstehung und ›ewige‹ Freude als die wesentlichen Merkmale der christlichen Perspektive auf alle Phänomene dieser

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Frankl: Der leidende Mensch.1998. S. 144.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Welt das letzte Wort haben, muss im Religionsunterricht deutlich werden. Sowohl die Existenzanalyse als auch die Lebensphänomenologie beschäftigen sich intensiv mit den Themen Leid, Schmerz, Trauer und Gewalt. Dass Viktor Frankl die Einstellungswerte bei der tragischen Trias von Leid, Schuld und Tod so hoch bewertet, hat manchmal fälschlicherweise dazu geführt, dass man daraus eine ›Leidensverherrlichung‹ abgelesen hat. Im Blick auf das Gesamtwerk von Viktor Frankl und auf seine Biografie erweist sich dieser Vorwurf allerdings als völlig unhaltbar. Ähnliche ›Vorwürfe‹ bzw. Interpretationen gibt es in Bezug auf die Lebensphänomenologie von Michel Henry. Die Rede von der »ontologischen Dürftigkeit des Erscheinens der Welt« 11 löst bei manchen LeserInnen das Gefühl aus, als werte er diese Welt ab. Wenn er vom »Misslingen des Begehrens« 12 in Bezug auf Erotik spricht, könnte – bei oberflächlicher Lektüre – eine negative Sichtweise auf Erotik und in weiterer Folge eine negative Sichtweise auf Lebensfreude und Lebenslust gesehen werden, auch in Verbindung mit dem Vokabular ›sich-erleiden‹ bzw. ›Passivität‹. Auch der Umstand, dass in seiner Philosophie der Begriff ›Person‹ keine Rolle mehr spielt, kann zu einseitigen negativen Rezeptionen führen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass das Christentum sowohl im Lauf der Geschichte als auch gegenwärtig immer wieder im Verdacht stand bzw. steht, das Leiden zu mystifizieren, wenn nicht gar zu glorifizieren, was dem Wesen dieser Religion zutiefst widerspricht. ›Christentum versus Lebensfreude‹ – ist für viele Menschen eine gängige Prämisse, sich von dieser Religion abzuwenden oder ihr jegliche Relevanz für den Alltag abzusprechen. Die Aufschrift auf einigen Bussen in London »There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life.« 13 ist ein anschauliches Beispiel für diese negative Prämisse: ›Nur ohne Gott kommst du zum Genuss des Lebens!‹. Obwohl diese Prämisse theologisch unhaltbar und schlechthin falsch ist, lässt sie sich im öffentlichen Diskurs nicht nachhaltig widerlegen. Der gemeinsame Nenner dieser Beispiele für die einseitige Leseweise Henry: Inkarnation. 2002. S. 66. Ebd. S. 329. 13 Im Oktober 2008 initiierte die britische Journalistin Ariane Sherine eine Atheismus-Kampagne, die vor allem durch die Aufschrift auf Londoner Bussen »Wahrscheinlich gibt es keinen Gott. Hör auf, dir Sorgen zu machen, und genieße das Leben.« Aufsehen erregte und in andern Ländern Nachahmungen hervorgerufen hat. 11 12

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Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle

bzw. Rezeption von philosophischen Denkansätzen bzw. der christlichen Religion ist in diesem Kontext meines Erachtens eines der wichtigsten Themen bzw. eine der wichtigsten Fragen der Menschen: Wie sprechen wir über die Schattenseiten des Lebens, über Leid, Krankheit, Gewalt und Krieg, Folter, Armut, Hunger, Vertreibung, Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Vieles mehr? Wie sprechen wir darüber, wenn wir all das ernst nehmen, wenn wir einen Beitrag leisten wollen, dass die Menschen damit gut umgehen können? Und wenn wir zugleich nicht in jenes Fahrwasser geraten wollen, die Lebensfreude und all das ›Paradiesische‹, das in unserer Welt (auch) zu finden ist, zum einen gar nicht zu sehen, zum anderen es abzuwerten oder auch in einer depressiven Resignation keine Perspektive für ein ›Leben in Fülle‹ zu entwickeln, wie sprechen wir dann über diese Schattenseiten des Lebens bzw. der Welt? Im Folgenden soll der Schwerpunkt der Analyse jeweils auf ›und‹ gelegt werden: Leid und Freude.

5.3.1. Leid und Freude in der Lebensphänomenologie »Die Besonderheit der Ontologie Henrys gegenüber andern kulturkritischen Theorien besteht darin, dass der Ort des Lebens ›positiv als Tautologie‹ bestimmt wird. Das Leben ist das, was es an sich ist, lautet die Grundthese Henrys, und diese Selbstaffektion, die nicht aus sich heraustritt, wird von der transzendentalen Affektivität geleistet.« 14

In diesem Textabschnitt geht Sebastian Knöpker speziell darauf ein, dass in der Lebensphänomenologie Tautologien eine wichtige Rolle spielen, anders jedoch als sonst üblich – Tautologien werden oftmals als nichtssagend bezeichnet – als positiver Durchbruch für ein neues Verständnis zu sehen seien. Es gehe Henry um das Sich-Fühlen, das sich an sich selbst zeige, und nicht erst als Gefühl zu einer Wahrnehmung, zu einem Denken oder Wollen hinzutrete. Das Leben könne sich laut Henry als Fühlen vollgültig erfahren, als die Weise der Lebenserprobung schlechthin. Wie schon aufgezeigt, spricht die Lebensphänomenologie von einer Einheit der beiden affektiven Tonalitäten von Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen. Da diese

Knöpker, Sebastian: Was macht die Lebensphänomenologie aus? In: lebensphaenomenologie-blog.de/?p=258. [05. 07. 2014]. S. 2.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

beiden Tonalitäten untrennbar zusammengehören, entspringen sie der gleichen Quelle, dem Leben selbst. Ein weiterer Begriff muss hier hinzukommen: Widerstand. 15 Henry zeigt auf, dass alles Leben Widerstand ist. Er spricht von der Lebenskunst des Widerstands, die darin bestehe, Widerstände zu suchen, sie zu finden und sie entweder zu überwinden oder an ihnen zu scheitern. Lebendigkeit sei an das Überwinden von Widerständen gebunden, anders ausgedrückt an Reibung. Eine Welt ohne Reibung, ohne Widerstände, ohne Lebendigkeit sei schlechter zu ertragen als eine Welt voller stumpfer Widerstände, an denen man sich aufreibe. Ohne diese Herausforderung werde sich, so Henry, das Leben selbst zum Widerstand, am einfachsten auf die Weise, sich zu langweilen. Ein Schlüsselbegriff ist somit ›Lebendigkeit‹, die dem Menschen als Lebendigkeit eine Freude ist, die nicht im Gegensatz zu Leid und Schmerz steht, sondern eine Einheit mit diesen bildet. So gesehen, oder anders gesagt: So gefühlt bleibt die Daseinsfreude auch im Leiden bestehen, da das Leben unbedingt an sich selbst gebunden ist. Henry spricht von zwei entgegengesetzten Kräften, die eine Einheit bilden, die in sich widerständig ist: Das Unbedingt-von-sich-wegWollen und die unbedingte Selbstbejahung sind zwei Kräfte, die einander widerstreiten. Die Spannung, unbedingt von sich weg zu wollen, wenn das Leiden als nicht mehr erträglich empfunden wird, und nicht von sich weg zu können, da das Leben unbedingt an sich selbst gebunden ist, bedeutet für viele Menschen eine ›Zerreißprobe‹. Diese Zerreißprobe ist aus lebensphänomenologischer Sicht auch eine Weise der Selbsterprobung des Lebens, die wohl kaum freiwillig gewählt wird; sie ist einem als Widerstand aufgegeben. Henrys Zugang zum Leben, das sich nicht mehr an äußeren Realitäten orientiert, ermöglicht gerade in Bezug auf Leid und Schmerz eine neue Sichtweise und, so war er überzeugt, eine neue ›Fühlweise‹, eine andere Fühlweise, die sich von unseren ›üblichen‹ Erfahrungen unterscheidet. Es gebe eine Möglichkeit der Wandlung dieses Leidens in seinem Empfunden-Werden: Indem man nicht von kausalen und welthaften Gründen her empfindet, sondern von seinem ontologischen Grund her, ließen sich Gefühle von intentionalen Bestimmun»Widerstand« ist hier nicht physikalisch zu verstehen. Für Michel Henry ist die »letzte« Ermöglichung aller Welt-Widerständigkeit der Grundbezug zwischen Passibilität und Leib. Erst durch Passibilität bzw. Leiblichkeit bzw. Selbstaffektion des Lebens ist Welt-Widerstand möglich.

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Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle

gen des ›weil‹, ›wegen‹ oder ›wofür‹ befreien, wodurch sich die Lebensfülle aus dem Leben als affektive Größe selbst ergebe, unabhängig von einer welthaften Zuschreibung, was als ›Fülle‹ zu gelten habe. So kommt es zu einer Umkehrung der Kategorien Leere und Fülle durch das Teilnehmen am Subjektiven: Jeder erlebte Mangel und jede gelebte Leere vermöge sich nur so an sich zu manifestieren, als sei sie eine Fülle, und zwar die Fülle des Sich-an-sich-Zeigens. Das bedeute einen Übergang des Leidens in eine andere Tonalität wie des SichErfreuens. Im nicht-intentionalen Fühlen führe diese Umkehrung also vom Leiden zur Freude. Meines Erachtens ist das einer der entscheidendsten Punkte in der Radikalen Lebensphänomenologie, der gerade auch im Kontext des Religionsunterrichts einen starken Sitz im Leben hat: die Möglichkeit der Umkehrung von Leiden in Freude und das Empfinden von Fülle auch in der Leere und im Mangel, das an keinen objektivierbaren Weltbezug mehr gebunden ist. Dieser entscheidende Punkt ist allerdings zunächst eine theoretische Größe, deren Plausibilität zwar intellektuell vermittelt werden kann, vom Empfinden her allerdings jeweils eingeholt bzw. erprobt werden muss. Es erinnert mich stark an Berichte über Märtyrer, die ihr Martyrium in einer Weise ertragen (und ›bejaht‹) haben, wie es meiner ›Vorstellungskraft‹ – dieses Wort sei hier bewusst gebraucht! – schwer zugänglich ist. Die Worte Jesu vor seiner Verhaftung im Garten Getsemani »Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst (soll geschehen).« (Mk 14,36) können lebensphänomenologisch gelesen werden. Der ›welthafte‹ Kelch des Martyriums und des viel zu frühen Todes möge von Jesus genommen werden, ihm erspart bleiben, so bittet er verständlicher Weise seinen Vater. Doch dann ist es ihm möglich, das welthafte Paradigma zu verlassen und sein Geschick in die Hände des Vaters zu legen – mit den Vokabeln der Lebensphänomenologie könnte man sagen, sich in der Selbstaffektion des Lebens entgegenzunehmen. Das ist hart, denn der Kelch des Martyriums wird nicht von ihm genommen. Die christliche Theologie allerdings hat dieses Geschick immer schon ›vom Leben her‹ gesehen und – wenn auch der Ausdruck problematisch empfunden werden kann – ›positiv bewertet‹ und mit ›Erlösung‹ und ›Heil‹ in Verbindung gebracht. Die Osterfreude ist eines der prominentesten Beispiele für die Umkehr von Leid in Freude. Die Plausibilität dieser ›Umkehr‹ von Leid in Freude sei nun an einem alltäglichen Beispiel noch einmal angesprochen. Jemand hat 139 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

rasende Zahnschmerzen, Schmerzmittel helfen nicht und der Gang zum Arzt ist zeitlich noch entfernt. Lebensphänomenologisch gesehen kann dieser Mensch auch im Zahnschmerz seine Daseinsfreude empfinden, da seine Lebendigkeit ihm Freude ist. Er kann im Schmerz ›Fülle‹ empfinden als Fülle des Sich-ihm-Zeigens. Er kann sich von den intentionalen Gefühlen des ›weil‹ und von der welthaften Kausalität befreien und ins reine Empfinden kommen. Er wird vielleicht die widerständigen Kräfte des Unbedingt-von-sich-wegWollens und der unbedingten Selbstbejahung erfahren und schmerzhaft spüren, dass ihn das Leben unbedingt an sich selbst bindet. In dieser Haltung kann er schließlich – vielleicht oder hoffentlich – die Umkehrung vom Leiden zur Freude empfinden. Dieses Alltags-Beispiel kann aufzeigen, dass die Lebensphänomenologie etwas sehr Konkretes, anders gesagt etwas ›Praktisches‹ ist. Sie bedarf der Selbsterprobung und muss die Spannung aushalten, dass Menschen sehr unterschiedlich sind und in ihren je eigenen Biografien radikal subjektiv empfinden. Da der Gedanke der ›Vermittlung‹ der Lebensphänomenologie fremd ist, da jeder Mensch den gleichen ›Zugang‹ zur Quelle Leben hat, lassen sich diese sehr tiefgehenden Vollzüge auch nicht vermitteln. Es ist aus meiner pädagogischen Perspektive allerdings eine große Chance, die SchülerInnen damit vertraut zu machen, dass es neben dem – für die Welt der Werbung und des Konsums so hochgezüchteten – ›Teilhaber-Paradigma‹ auch das ›Paradigma der Lebensphänomenologie‹ gibt. Das Leben ist in seiner Selbstverständlichkeit zunehmend bedroht, da es von unzähligen ›Stellvertretern‹ verdrängt wird, von äußeren und quantifizierbaren Äquivalenten des Lebens, die sich daran machen, sich an dessen Stelle zu setzen. Das Leben ist bedroht, da das ›TeilhaberParadigma‹ meines Erachtens zum politischen und wirtschaftlichen Dogma geworden ist. Die Theologie und im Speziellen der Religionsunterricht können durch die tiefen Gedanken von Michel Henry unterstützt und bereichert werden. Es entspricht einer langjährigen Erfahrung, dass oftmals ein ›nicht-kirchlicher‹ bzw. ›nicht-theologischer‹ Zugang zu Themen die Bereitschaft der SchülerInnen, sich auf diese Themen einzulassen, fördert. Die Lebensphänomenologie von Michel Henry erweist sich als ein besonders gutes Beispiel für neue und unkonventionelle Zugänge zu vielen existenziellen Themen und Fragen der Menschen.

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Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle

5.3.2. Leid und Freude in der Existenzanalyse Zwei prominente Bücher von Viktor Frankl bringen bereits im Titel den Themenbereich ›Leid und Freude‹ zum Ausdruck: Seine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in vier Konzentrationslagern »… trotzdem Ja zum Leben sagen« und seine Darstellung der anthropologischen Grundlagen der Psychotherapie »Der leidende Mensch«. Im Titel des erstgenannten Buches weist das Wort ›trotzdem‹ auf die Spannung zwischen Leid und Freude hin. Der Titel des zweiten Buches ›verheißt‹ implizit, dass Möglichkeiten zum Umgang mit Leid thematisiert werden, um wieder zur Freude zu kommen. Frankls Texte bzw. Untersuchungen zu Leid und Schmerz haben viele Facetten; im Folgenden sollen die wesentlichen Elemente kurz skizziert werden. Die Frage nach Sinn ist in allen Werken von Frankl präsent, wenn nicht gar dominant. Der Frage nach ›Sinn im Leben‹ verwandt ist die Frage, welchen Sinn Leiden hat. Analog zum Begriff ›Theodizee‹ wird in »Der leidende Mensch« der Begriff »Pathodizee« 16 kreiert: »Ein letztes Problem: das Problem der Theodizee. Welch ein Anthropomorphismus ist doch die bloße Fragestellung der Theodizee! Während sich die Frage einer Pathodizee darauf beschränkt, zu fragen, welchen Sinn das Leiden habe, stellt die Theodizee die Frage, welchen Grund Gott gehabt hat, das Leiden und das Übel zuzulassen.« 17

Frankl stuft also die Frage nach dem Sinn von Leid als ›bescheidener‹ ein. Er geht, was in seiner Besprechung der Einstellungswerte deutlich wird, davon aus, dass Leid einen Sinn haben kann, und gibt der Leidfrage, sollte sie überhaupt lösbar sein – wie beim Thema Leben – eine kopernikanische Wendung, »indem wir uns dessen bewusst werden, dass wir es sind, die zu antworten haben und nicht zu fragen.« 18 Das Leiden ist also selbst eine Frage; es fragt uns, es will von uns eine Stellungnahme, der vom Leiden befragte Mensch »hat die Frage zu beantworten, er hat die Prüfung zu bestehen – er hat das Leiden zu leisten.« 19 Das ist ein sehr hoher Anspruch, der hier erhoben wird. Es

16 17 18 19

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 239. Ebd. S. 239. Ebd. S. 241. Ebd. S. 241.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

sei dahingestellt, ob alle Menschen diese ›Prüfung bestehen‹. Offen bleibt die Frage, was geschieht, wenn sie ein Mensch nicht besteht? Frankl, der, wie in seiner Biografie zu sehen ist, mit Leid umzugehen lernen musste, stellt allerdings die Frage nach dem Leid in einen größeren Zusammenhang, in den ›größten‹ Zusammenhang, der denkbar ist: »Und so geht auch die Rechnung des leidenden Menschen erst in der Transzendenz auf; in der Immanenz bleibt sie offen.« 20 Und er verbindet diesen Gedanken mit einem zweiten: »Von der Immanenz her ist der Mensch nicht zu verstehen. […] Aber auch von der Transzendenz her ist der Mensch […] nicht zu deuten, ohne dass wir in einen Anthropomorphismus hineinschlittern.« 21

Der hohe Anspruch der vorher zitierten zu bestehenden Prüfung kommt am Ende des Buches auf ein ›niedrigeres‹ Niveau, auf dem sich viele Menschen wahrscheinlich eher wiederfinden: »Die Antwort, die der leidende Mensch durch das Wie des Leidens auf die Frage nach dem Wozu des Leidens gibt, ist allemal eine wortlose Antwort; aber – wiederum: diesseits der Gläubigkeit an einen Übersinn – ist sie die einzig sinnvolle Antwort.« 22

Frankls Pathodizee wurde zum Teil sehr kritisch rezipiert. Man hat ihm einerseits vorgeworfen, er rechtfertige dadurch das Leid, und andererseits, er glaube, mit seiner Pathodizee die Theodizeefrage verabschieden zu können. Christine Görgen macht dagegen in ihrer Untersuchung »Pathodizee statt Theodizee?« 23 deutlich, dass Frankls Ansatz die Theodizee-Frage nicht ablöse, sondern eine sinnvolle Ergänzung derselben darstelle. Auf diese vor allem theologische Auseinandersetzung soll hier nicht näher eingegangen werden; die wesentliche Frage für diese Arbeit ist, welchen Umgang mit der Problematik des Leids Frankls Ansatz anbietet: Wird Leid durch seine Darstellung ›gerechtfertigt‹ oder gar ›verherrlicht‹, oder wird ein Weg aufgezeigt, mit unvermeidlichem Leid so umgehen zu können, dass ein betroffener Mensch befähigt wird, weiterleben und wieder Sinn im Leben erfahren zu können? Meine Beschäftigung mit der Exis-

Ebd. S. 241. Ebd. S. 240. 22 Ebd. S. 241. 23 Vgl. Görgen, Christine: Pathodizee statt Theodizee? Mensch, Gott und Leid im Denken Viktor E. Frankls. Wien 2013. 20 21

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Freude und Schmerz entspringen derselben Quelle

tenzanalyse in Verbindung mit meinen eigenen Erfahrungen in Lebens- und Sozialberatung führt zur letztgenannten Schlussfolgerung: Der betroffene Mensch ›kann‹ wieder Sinn im Leben erfahren. Dieses ›kann‹ ist wichtig, es lässt keinen Automatismus zu und es beinhaltet die Möglichkeit des Nicht-›Gelingens‹, auf das im Kapitel ›Wenn das Leben nicht mehr fragt‹ noch näher eingegangen wird. Die Beschäftigung mit dem Themenbereich ›Leid‹ im Religionsunterricht erfuhr für mich durch die Existenzanalyse, speziell durch die Arbeit mit den Einstellungswerten, eine Vertiefung der christlichen Theologie, die sonst in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Anders als bei Michel Henry wird ›Freude‹ in der Existenzanalyse nicht der gleichen ›Quelle‹ zugeordnet. Für Frankl ist Freude ein »intentionales Gefühl« 24 im Gegensatz zur Lust, die er zu den nicht-intentionalen Gefühlen zählt. Es ist ihm wichtig, Freude immer in Verbindung mit Werten zu sehen, sie sei niemals Selbstzweck, »sie selbst, als Freude, lässt sich nicht intendieren. Sie ist eine Vollzugswirklichkeit […] – nur im Vollziehen wertkognitiver Akte, also im Vollzug von intentionalen Akten des Werterfassens, ist sie realisierbar.« 25

Freude als intentionales Gefühl bedeutet für Frankl, dass sie jeweils einen ›Gegenstand‹, einen Wert intendieren müsse. Die Freude, die eben nicht machbar ist, stelle sich von selbst ein, wenn ein Wert verwirklicht werde, wenn ein Sinn im Spiel sei. »Freude kann aber das Leben nur dann sinnvoll machen, wenn sie selber Sinn hat. Ihr engerer Sinn kann jedoch nicht in ihr liegen. Tatsächlich liegt er außerhalb ihrer selbst. Denn Freude intendiert jeweils einen Gegenstand.« 26

Der unterschiedliche Zugang zur Freude zwischen Frankl und Henry wird hier deutlich: Henry ›kämpft‹ gegen jede Intentionalität, da sie der Selbstaffektion des Lebens widerspreche; auch die Rede von einem (intentionalen) Gefühl findet sich dort nicht. Und schließlich bilden Freude und Leid bei Henry eine Einheit durch die Bewegung zwischen sich-erfreuen und sich-erleiden.

24 25 26

Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 72. Ebd. S. 72 f. Ebd. S. 72.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

5.3.3. Perspektive: Religionsunterricht Im Religionsunterricht geht es selbstverständlich nicht darum, mit den SchülerInnen philosophische Positionen durchzuarbeiten, noch dazu so komplexe und auf fachspezifische Voraussetzungen aufbauende wie der Denkansatz von Michel Henry. In Bezug auf Theologie ließe sich analog formulieren, dass es auch nicht das Ziel des Religionsunterrichts ist, die SchülerInnen zu DogmatikerInnen oder BibeltheologInnen heranzubilden. Eine fundierte Dogmatik beispielsweise im fachlichen ›Köcher‹ zur Verfügung zu haben, ist hingegen wertvoll und für manche tiefgehenden und existenziellen Gespräche, auf die sich LehrerInnen gar nicht vorbereiten können, unverzichtbar. Bezogen auf diffizile philosophische Fragen ließe sich anmerken, dass es wertvoll ist oder sein kann, sich als Lehrperson mit solchen philosophischen, psychologischen und anthropologischen Fragen auseinanderzusetzen. Das Studium von Frankl und Henry bietet eine Möglichkeit, sich ein Repertoire für den Unterricht zu erarbeiten, mit SchülerInnen tiefgehende und existenzielle Gespräche führen zu können, die sich auf Themen beziehen, in denen man auf ›loci alieni‹ angewiesen ist. Eine Voraussetzung dafür ist, den Religionsunterricht für diese Bereiche hin zu öffnen, um SchülerInnen auch in dieser Weise ein Stück auf ihrem Lebens-Weg begleiten zu können. Hier sei sehr klar darauf hingewiesen, dass der Religionsunterricht eine therapeutische Dimension haben kann, wenn von LehrerInnen zusätzliche Kompetenzen erworben worden sind. Sehr deutlich sei hier auch auf die Unterscheidung zwischen ›Therapie‹ und einer ›therapeutischen Dimension‹ hingewiesen – den Religionsunterricht mit Therapie zu verwechseln, muss strikt abgelehnt werden; hingegen im Religionsunterricht eine heilende Dimension zu entfalten, entspricht dem Urauftrag des Christentums. Zum Themenbereich Leid und Freude sei nun abschließend noch einmal auf die Ansätze von Frankl und Henry eingegangen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtig immer stärker werdenden Spaß- und Eventgesellschaft halte ich es für wichtig, über die tiefe Dimension von Freude im Religionsunterricht ins Gespräch zu kommen. Anhand von Frankl lässt sich mit SchülerInnen sehr gut erarbeiten, dass Freude nicht intendiert werden kann, sondern dass sie uns als Frucht zufällt, wenn ein Wert verwirklicht wird. Ebenso wertvoll ist die Unterscheidung zwischen Freude und Lust. Zur Thematik Lust kann man im Unterricht mehrere Texte von Frankl aus der ›Ärzt144 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ein absolutes NEIN zu jeglicher Objektivierung des Menschen

lichen Seelsorge‹ direkt heranziehen; seine Sprache ist so klar, dass lediglich einige Fremdwörter zusätzlich erklärt werden müssen. Das Thema ›Leiderfahrungen – Umgang mit Leid‹ ist ebenso im Religionsunterricht durch die Existenzanalyse gut durchzuarbeiten, speziell mit den Wertkategorien. Auch im Sinne des ›biografischen‹ Lernens bzw. des ›Lernens an Biografien‹ bietet sich die Lebensgeschichte von Viktor Frankl an; in meiner Biografie als Religionslehrer gibt es hierfür mehrere gelungene Beispiele. Besonders in Erinnerung ist mir der völlig unerwartete Zugang von mir gegenüber sehr distanzierten Berufsschülern zu Auszügen von Frankls Biografie, woraus sich etwas entwickelt hat, auf das ich bis zum Ende des Schuljahres aufbauen bzw. zurückgreifen konnte. Mit Michel Henry lässt sich eindrücklich erarbeiten, dass Leid und Freude zwei affektive Tonalitäten sind, die sich so ›umschlingen‹, dass sie sich in dieser unbedingten Einheit sowohl selbst manifestieren als auch einen Erscheinungsgehalt haben. Sehr wertvoll erscheint mir die Unterscheidung zwischen dem ›Teilhaber-Paradigma‹, auf das wir durch Wirtschaft, Technik, Werbung und Konsum pausenlos eingestimmt werden, wo es permanent ›loser und winner‹ gibt, und dem ›lebensphänomenologischen Paradigma‹, welches darauf hinweist, dass es phänomenologisch weder Leere noch Mangel gibt: Die Trennung zwischen ›loser und winner‹ ist hier aufgehoben, da ›Leben‹ nicht mehr mit quantifizierbaren Äquivalenten verwechselt wird. Mit Henry lassen sich eventuell auch gegenwärtige Konflikte in unserer Welt ›anschauen‹ und besser ›verstehen‹ – nicht zuletzt durch den Hinweis auf die ›Dürftigkeit des Erscheinens der Welt‹. Für alle genannten Beispiele gilt, dass die Lehrenden feinfühlig und behutsam erspüren müssen, wann welcher Ansatz ›gefragt‹ ist.

5.4. Ein absolutes NEIN zu jeglicher Objektivierung des Menschen In einer modernen, aufgeklärten, demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Zeit scheint es selbstverständlich zu sein, den Menschen als Subjekt und als Person zu sehen und ihn auch so zu ›behandeln‹. In der Schule gilt dies grundsätzlich in gleicher Weise wie in jedem anderen Kontext. Die Besonderheit der Schule liegt jedoch darin, dass die meisten SchülerInnen in einem Alter den Unterricht besuchen, in dem Erziehung (noch) eine große Rolle spielt, die 145 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

›Beeinflussbarkeit‹ in hohem Maß gegeben ist und die LehrerInnen somit eine besondere Verantwortung haben. Eine weitere Besonderheit, die in dieser Form nur die Schule betrifft, stellt eine gesetzliche Regelung aus dem Jahr 1962 dar. Im ›Zielparagraph‹ des Österreichischen Schulorganisationsgesetzes wird von der Schule unter anderem verlangt, die SchülerInnen zu verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und zu demokratisch denkenden und handelnden Bürgern heranzubilden; das impliziert auch, den SubjektCharakter jedes Menschen bzw. sein Person-Seins zu achten. Da der Religionsunterricht dem christlichen Menschenbild verpflichtet ist, kommt ihm wesenhaft eine Vertiefung dieses SubjektCharakters bzw. des Person-Seins zu. Terminologisch werden hier weiterhin die Begriffe ›Subjekt‹ und ›Person‹ verwendet, obwohl, wie bereits aufgezeigt, diese Begriffe bei Michel Henry so nicht vorkommen und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie Philosophie oder Soziologie gegenwärtig auch kritisch gesehen werden. Die Gegenfolie zum Subjekt-Sein des Menschen ist sein ObjektSein bzw., und das ist hier das Entscheidende, die Gefahr seiner Objektivierbarkeit. Im Kontext von Schule gibt es mehrere Angriffsflächen für diese Gefahr: Notengebung, Vergleiche mit Leistungsergebnissen anderer SchülerInnen, Standardisierungen, Pauschalierungen – zum Beispiel in Bezug auf eine Klasse – Vorurteile und anderes. Sowohl die Existenzanalyse als auch die Lebensphänomenologie vertreten ein Menschenbild, in dem jeder einzelne Mensch wichtig und einzigartig ist, jeglicher ›Zugriff‹ auf seine Person als nicht rechtzufertigender Übergriff zurückgewiesen wird und in dem das subjektive Empfinden oberste Priorität hat. Frankl betont nicht nur den Wert und die Würde jedes einzelnen Menschen und benennt die Gefahren, dass Menschen politisch oder wirtschaftlich zu Objekten gemacht werden können, er weist auch auf diese Gefahren innerhalb seines Metiers der Psychologie und der Psychotherapie hin und unterscheidet deutlich Psychologie von Psychologismus: »Die Person wird also vom Psychologismus versachlicht, objektiviert. Wer jedoch von der geistigen Person so spricht, als ob sie bloße Sache wäre, der redet an ihr vorbei. Denn die Person entzieht sich dem versachlichenden Zugriff. Personale Existenz ist nämlich nicht restlos objektivierbar. […] Existenz ist nicht objektivierbar, sondern nur aufhellbar. Aber auch aufhellbar ist sie nur, weil sie sich selbst verständlich ist; Existenz hat Selbstverständnis.« 27 27

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 170.

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Ein absolutes NEIN zu jeglicher Objektivierung des Menschen

Eine andere Weise der Objektivierung verurteilt Frankl ebenfalls mit scharfem Vokabular, nämlich das Generalisieren von Aussagen über den Menschen oder reduktionistisches Denken, indem man die Mehrdimensionalität von Körper – Psyche – Geist nicht sieht oder bewusst leugnet. Diese Gefahr liegt für ihn auch im fortschreitenden Spezialisieren innerhalb der Wissenschaften, bei der der Blick auf das Ganze des Menschen immer mehr verloren geht. »Aber die Gefahr liegt gar nicht darin, dass die Forscher spezialisieren, sondern darin, dass die Spezialisten – generalisieren. Wir alle kennen die sogenannten terribles simplificateurs. Ihnen an die Seite stellen ließen sich nun die terribles généralisateurs, wie ich sie nennen möchte. Die terribles simplificateurs vereinfachen alles; sie schlagen alles über einen Leisten. Die terribles généralisateurs aber bleiben nicht einmal bei ihrem Leisten, sondern verallgemeinern ihre Forschungsergebnisse.« 28

Als Nihilisten gar bezeichnet Frankl jene Forscher, deren Verallgemeinerungen die Formel ›nichts als‹ enthalten: »Als Neurologe stehe ich dafür ein, dass es durchaus legitim ist, den Computer als ein Modell zu betrachten, sagen wir, für das Zentralnervensystem. Der Fehler liegt erst in der Behauptung, der Mensch sei nichts als ein Computer. Der Mensch ist ein Computer. Aber er ist zugleich unendlich mehr als ein Computer. Der Nihilismus demaskiert sich nicht durch das Gerede vom Nichts, sondern maskiert sich durch die Redewendung ›nichts als‹.« 29

Bedenkt man, dass Frankl diesen Text bereits Mitte des 20. Jahrhunderts verfasst hat, erkennt man seine ›seherische‹ Kraft, da sich das Spezialisieren und Generalisieren seither um ein Vielfaches potenziert hat. Im Kontext von Schule ist die Chance, den Menschen als Ganzes im Blick zu behalten oder in seiner Gesamtheit in den Blick zu bekommen, sehr hoch, besonders durch das vielfältige Angebot der Unterrichtsfächer. An der Höheren Technischen Lehr- und Versuchsanstalt in Innsbruck, an der ich über zwei Jahrzehnte unterrichtet habe, ist diese Chance der ganzheitlichen Sichtweise des Menschen wohl auch gegeben, jedoch ist sie bedrohter durch die oftmals höhere Bewertung der technischen Fächer gegenüber den allgemeinbildenden, von denen es manche gar nicht gibt, wie Musik, Psychologie, Philosophie oder Bildnerische Erziehung. An der HTL gilt zwar nicht 28 29

Ebd. S. 41. Ebd. S. 41.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

das Prinzip des ›nichts als‹ in Bezug auf Technik, dass der Mensch ›nichts als‹ ein technisches Wesen sei bzw. dass es am wichtigsten sei, sich mit Technik zu beschäftigen, jedoch war die Gewichtung innerhalb der Unterrichtsfächer immer wieder spürbar, wenn allgemeinbildende Fächer ›Zubringerdienste‹ leisten sollten, damit die Arbeit in den technischen Fächern gut oder besser ›funktioniert‹. Das galt zum Beispiel manchmal für das Fach Deutsch – die SchülerInnen sollten ›ordentlich‹ Deutsch lernen, um in der Welt der Technik auch sprachlich mitspielen zu können. Es galt manchmal auch für Religion – die SchülerInnen sollten lernen und wissen, wie man sich benimmt, damit in einem Betrieb alles reibungslos ›funktionieren‹ könne. Solchen Tendenzen der Objektivierung steht der Religionsunterricht sehr kritisch gegenüber. Die prophetische Dimension des Christentums ist hier auf den Plan gerufen, Widerstand zu leisten. Die vorhin erwähnten Texte von Viktor Frankl über Generalisierungen und Reduktionismen, seine Abhandlungen über subjektives Wertempfinden und Michel Henrys Eintreten für die radikale Subjektivität des Menschen in Bezug zur Selbstaffektion des Lebens können diesem Widerstand eine zusätzliche Sprache verleihen. Eine große Herausforderung für PädagogInnen besteht darin, beim Vergleich von Leistungen jedem einzelnen Schüler bzw. jeder einzelnen Schülerin gerecht zu werden. ›Leistungsbeurteilung‹ ist selbstverständlich ein eigenes großes Thema für die Schule, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann. Allerdings muss die Frage diskutiert werden, ob die beiden Denkansätze – Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie – sich letztlich gegen ein Bewerten in der Schule, also gegen Leistungsbeurteilung in Form von Noten aussprechen oder ob es eine Möglichkeit gibt, im bestehenden Schulsystem deren Anliegen integrieren zu können. Im derzeitigen österreichischen Schulsystem ist es kein Thema, nicht mehr zu bewerten. Oft wird auch gesagt, dass SchülerInnen wissen wollen, was eine Leistung wert ist; in diesem Kontext ist Bewerten etwas Positives. Hier sieht man ganz deutlich, dass sehr genau differenziert werden muss. Die erste wichtige Differenzierung gilt der Bewertung von Leistung und der Bewertung der Person. Es spricht für sich, dass das zweite immer eine Barbarei ist. Der Blick in die Schule hinein zeigt, dass das Bewerten der Person oft geschieht, durch eigene MitschülerInnen und bzw. oder durch LehrerInnen. Oft wird das Bewerten der Leistung mit dem Bewerten der Person vermischt, die sichtbare Note 148 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Ein absolutes NEIN zu jeglicher Objektivierung des Menschen

für eine Leistung ›tarnt‹ dann diese ›anderen‹ Motive. Wird diese Tarnung später durchschaut und entdeckt, wird dies meistens umso kränkender empfunden. Die zweite Differenzierung setzt innerhalb der Leistungsbeurteilung an. Die personale Pädagogik spricht hier von einem ›Bewerten ohne zu vergleichen‹. Moderne pädagogische Konzepte versuchen, diesen Weg zu gehen, dass es nicht einen Maßstab für alle SchülerInnen gibt, sondern ein je individueller gefunden werden soll. Das ist personal gedacht. Das ist auch aufwändiger, anstrengender, erfordert ein genaueres Hinschauen und braucht eigene Schulungen, auch fächerspezifisch. Eine Schule kann sich das leisten, wenn die Verantwortlichen das wollen. Und dann können sich auch die Lehrenden das leisten, noch mehr, sie müssen sich für diese differenzierte Leistungsbeurteilung einsetzen. Diese Unterscheidung beinhaltet letztlich auch den phänomenologischen Blick auf die Leiblichkeitsrealität: Der Leib als ein je individuelles ›Ich kann‹. Die gegenwärtigen Tendenzen zu Standardisierungen im österreichischen Schulsystem, beispielsweise die Formen der neuen standardisierten Reifeprüfung, werden ambivalent eingeschätzt. Einerseits widersprechen sie dem Subjekt-Charakter jeder und jedes Einzelnen, da der gleiche Standard für alle SchülerInnen im Staat Österreich gilt – das ist eine Form der Objektivierung, die vom Subjekt absieht, und zwar sowohl vom Subjekt jedes Schülers bzw. jeder Schülerin als auch vom Subjekt jedes Lehrers bzw. jeder Lehrerin. Andererseits kann so eine Standardisierung auch vor Willkür und Manipulation schützen, da sie mit einer Form der Leistungsbeurteilung gekoppelt ist, in der Manipulationen zum Beispiel durch ein parteiisches Korrigieren einer schriftlichen Arbeit auf Grund von Sympathie oder Antipathie verschiedenen SchülerInnen gegenüber viel weniger möglich sind als früher. Für ReligionslehrerInnen kann das vor allem bedeuten, diese Entwicklung mit offenen Augen zu beobachten, sich in den Diskurs einzubringen und die eigene Leistungsbeurteilung im laufenden Unterricht und bei der Reife- und Diplomprüfung im Blick auf den Subjekt-Charakter und auf das Person-Sein der SchülerInnen behutsam durchzuführen. Und nicht zuletzt kann es bedeuten, im prophetischen Sinn die Stimme zu erheben für die Würde des Menschen und gegen das Verdrängen des Lebens durch quantifizierbare oder andere Äquivalente. Wer sich mit der Existenzanalyse und mit der Lebensphänomenologie intensiv beschäftigt, wird tendenziell sensibler für das Wahrnehmen lebensfeindlicher 149 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Strukturen und für offene oder versteckte Formen der Barbarei, wie sie Henry eindringlich beschreibt. Die fortschreitende Objektivierung des Menschen verlangt immer wieder nach einem NEIN, das – so eine wichtige Ergänzung durch Günter Funke – stets mit einem JA zu einem Wert verbunden sein muss, will es kein leeres oder nichtssagendes Nein sein.

5.5. Abschied vom Ursächlichkeitsdenken »Mensch sein heißt immer, auch anders werden können«, 30 so der prominente und oft zitierte Satz von Viktor Frankl. Diese Überzeugung, zu der Frankl auf Grund der Reflexion seiner eigenen Biografie und durch die jahrelange Arbeit mit Patientinnen und Patienten als Therapeut gelangt ist, hat weitreichende Konsequenzen. Er spricht dem Menschen ein Maß an Freiheit zu, das nicht nur jeglichem Determinismus widerspricht, sondern auch die Frage oder Suche nach Ursachen für dieses oder jenes Verhalten in ein anderes Licht rückt. Hier ist selbstverständlich von einem Ursächlichkeitsdenken in existenziellen Kontexten die Rede: im zwischenmenschlichen Bereich, im Bereich des Entscheidens und Handelns, und nicht von Physik und Chemie oder von anderen naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern. Frankl leugnet auch nicht Kausalitäten in den beiden Dimensionen ›Körper‹ und ›Psyche‹ ; gerade als Arzt hat er genügend Beispiele von Abhängigkeiten erlebt. Er spricht von bleibenden geschlossenen »Kausalketten« 31 , die jeweils in einer höheren Dimension zugleich offen sind für eine »höhere ›Kausalität‹« 32 . Hier verweist er zur Veranschaulichung auf die Skizze (siehe Kapitel 2.2.) mit der Projektion einer Kugel aus dem dreidimensionalen Raum in die zweidimensionale Ebene: Das Sein, trotz aller Kausalität, sei wie ein offenes Gefäß bereitgestellt für die Aufnahme von Sinnhaftem. »Allemal ist es bereit, die höhere ›Kausalität‹ in sich eingehen zu lassen: eine höhere Ursächlichkeit – die höhere Wirksamkeit einer höheren Wirklichkeit.« 33 Frankl spielt hier sprachlich mit dem Begriff der Kausalität oder 30 31 32 33

Frankl, Viktor E.: Im Anfang war der Sinn. München 1986. S. 71. Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 122 f. Ebd. S. 122. Ebd. S. 123.

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Abschied vom Ursächlichkeitsdenken

der Ursächlichkeit. Die Durchbrechung des reduktionistischen Verständnisses von Kausalität bezeichnet er mit dem Wort ›höher‹, was letztlich auf die geistige Dimension des Menschen abzielt, auf sein Person-Sein, in dem der Mensch nach seiner Überzeugung frei ist. ›Mensch sein heißt immer, auch anders werden können.‹ An anderer Stelle wird auch vom ›anderen Handeln‹ gesprochen. Diesem ›anders‹ lohnt es sich nachzugehen. Grammatikalisch bzw. logisch folgt dem ›anders‹ ein ›als‹ : anders als erwartet, anders als gewohnt, anders als man sich es vorgestellt hat, anders als es sein ›dürfte‹ oder ›sollte‹, anders als es in der Psychologie beschrieben wird. Frankl bezieht sich unter anderem auf die Psychotherapie Sigmund Freuds, 34 der er ein Kausalitätsdenken unterstellt, das er für falsch hält. Für ihn geht dieses Kausalitätsdenken in die Richtung des vorhin erwähnten Reduktionismus und Psychologismus, die dem Menschen als geistiger Person nicht gerecht werden können. Die Kategorie der Kausalität sei dann in der von Alfred Adler begründeten Individualpsychologie durch die Kategorie der Finalität ersetzt worden, was er für eine Höherentwicklung gegenüber der Psychotherapie hält, für einen Fortschritt. Frankl hält schließlich eine weitere Stufe als Ergänzung für notwendig: Es müsse zum Müssen (Kategorie der Kausalität) und zum Wollen (Kategorie der Finalität) noch die Kategorie des Sollens hinzutreten, die die Verantwortung des Menschen anspreche, nämlich die Verantwortung gegenüber einem Sinn. 35 Echte Verantwortung hat, wie es im Begriff enthalten ist, mit Antwort zu tun, und im Antworten ist der Mensch, so die Überzeugung von Frankl, frei. »Das menschliche Dasein ist Verantwortlich-sein, weil es Frei-sein ist. Es ist ein Sein, das […] erst noch entscheidet, was es ist: es ist ›entscheidendes Sein‹.« 36

Frankl spricht auch vom Zwang zur Wahl unter den Möglichkeiten, dem der Mensch in keinem Augenblick entgehen könne: »Er kann nur so tun, ›als ob‹ er keine Wahl und keine Entscheidungsfreiheit hätte. Dieses ›Tun als ob‹ macht ein Stück der Tragikomik des Menschen aus.« 37

So ließe sich die Liste ›anders als‹ noch ergänzen durch: ›anders als ob der Mensch keine Wahl hätte‹. Die Fragen nach Handlungs-Kausalitäten, nach Freiheit oder Zwang, nach genetischer oder sonstiger De34 35 36 37

Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 26 f. Vgl. ebd. S. 56 f. Ebd. S. 120. Ebd. S. 120.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

terminierung, nach Unzurechnungsfähigkeit und Verantwortung stoßen im Religionsunterricht auf reges Interesse. Gerade hinsichtlich der Machtlosigkeit, die viele Menschen und gerade auch SchülerInnen gegenüber vielen Welt-Verhältnissen, wie Krieg, Klimawandel, Schulden, Armut etc., spüren, ist die Frage nach Möglichkeiten der Freiheit virulent. Das Menschenbild von Frankl, das das Kausalitätsdenken im existenziellen und zwischenmenschlichen Bereich radikal durchbricht, fördert und fordert, wenn die SchülerInnen pädagogisch gut geführt werden, zur eigenen Stellungnahme heraus und führt zum biografischen Lernen, zum Lernen an der eigenen Biografie und zum Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien 38 wie der eines Viktor Frankl. Michel Henry beschäftigt sich mit der Frage der Kausalität vor allem in der philosophischen Tradition von Aristoteles, Hume, Marx und Hegel, um nur einige zu nennen, auf die er sich bezieht. In diesem Diskurs geht es nicht primär um die Fragestellung von Frankl, wie weit der Mensch in seinem Handeln frei ist, ob er frei entscheiden kann oder von seiner Biografie her fast zwingend zu einer bestimmten Handlung getrieben wird. Henry stellt die Kausalitätsfrage sehr drängend in Bezug auf die politische Ökonomie; 39 seine Beschäftigung mit Karl Marx hat seinen Zugang zu unserer Geschichte stark geprägt. Ausgehend von der Selbstaffektion des Lebens und der Philosophie des Fleisches stellt sich in der Lebensphänomenologie die Frage nach der Kausalität des Handelns so gar nicht. Das Leben müsse nicht von seinem äußeren Sein in seiner Realität autorisiert werden, indem es an diesem verbrieften evidenten Sein teilnehme. Berührt wird die Thematik der ›Ursächlichkeiten‹ allerdings durch die Rede vom ›Teilhaber-Paradigma‹, dem wahrscheinlich sehr viele Menschen verschrieben sind. Da das Leben in unserer Welt unübersehbar von Teilhaberstrukturen beherrscht wird, gibt es Zwänge, Zwänge zur Partizipation an dem, was prinzipiell kein Leben vermitteln kann. Diese Zwänge lösen eine Kette von Kausalitäten aus, die dann ihre Relevanz verlieren, wenn man den eigenen Wert und die eigene Wirklichkeit nicht mehr durch die Teilhabe an dem Objektiven unter Beweis stellen ›muss‹, indem man das Leben durch Äquivalente der Vgl. Mendl, Hans: Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien. Religionspädagogische Anregungen für die Unterrichtspraxis. Donauwörth 2005. 39 Vgl. Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 46–49. 38

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Abschied vom Ursächlichkeitsdenken

Evidenz ersetzt hat, sondern wenn man die Lebensfülle aus dem Leben als affektive Größe in einem ›lebensphänomenologischen Paradigma‹ bezieht. Dass es in diesem Paradigma kein Ursächlichkeitsdenken im vorhin genannten Sinn mehr gibt, versteht sich von selbst. Die Arbeit an diesen Paradigmen im Religionsunterricht hat eine immanent spirituelle Dimension. Dass sich Michel Henry intensiv mit Meister Eckhart und damit mit der Mystik des Lebens beschäftigt hat, unterstreicht diesen Gedanken und weist auf einen weiteren ›Sitz der Lebensphänomenologie im Religionsunterricht‹ hin. Der ›Abschied vom Ursächlichkeitsdenken‹ erweist sich in dieser Leseart als ein Weg, den zu gehen es sich lohnt, den mit SchülerInnen zu thematisieren, eine spannende Aufgabe sein kann. Wenn sich auch Viktor Frankl und Michel Henry durch ihre je eigenen Fragestellungen und Interessen der direkten Vergleichbarkeit entziehen, lassen sich dennoch einige wesentliche Gemeinsamkeiten aufzeigen. Die Unterscheidung zwischen Teilhaber-Paradigma und lebensphänomenologischem Paradigma erinnert etwas an die Unterscheidung zwischen ›Haben‹ und ›Sein‹, der Erich Fromm ein eigenes Buch gewidmet hat. 40 Frankl kennt diese Unterscheidung selbstverständlich auch und greift sie konkret auf. 41 Seine Überzeugung ist, dass nur der authentische Mensch, mit anderen Worten der Mensch, der im Paradigma des Seins lebt, wirklich Mensch sei. Der authentische Mensch lebe sein Dasein im Verantwortlichsein angesichts seiner Endlichkeit, und dieses Verantwortlichsein als Antwort auf die Fragen, die das Leben stelle, kenne kein psychologistisches Ursächlichkeitsverständnis. Zuletzt sei noch der Blick auf die Verbindung von ›Ursächlichkeits-Denken‹ und dem Phänomen des ›Auf-alles-eine-Antwort-finden-Wollens‹ gerichtet. Im Kontext von Schule bekommen ›Antworten‹ eine spezifische Bedeutung. SchülerInnen, die auf eine im Prüfungsgespräch gestellte Frage keine Antwort wissen, müssen mit einer schlechten Bewertung rechnen. Wenn LehrerInnen auf Wissens-Fragen von SchülerInnen, die das eigene Fachgebiet betreffen, keine Antwort wissen, kann dies als peinlich oder befreiend empfunden werden. Hier beziehe ich mich vorrangig auf existenzielle Fragen, die sich oftmals einer eindeutigen Beantwortbarkeit entziehen oder überhaupt nicht beantwortet werden können, zum Beispiel Fragen in Vgl. Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart 1979. 41 Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 179–184. 40

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Bezug auf Beziehung, auf berufliche ›Visionen‹, auf Umgang mit Leid und Scheitern, auf Erfahrung von Sinn bzw. Sinnlosigkeit, auf den Umgang mit der eigenen Leiblichkeit, der eigenen Religiosität und vieles mehr. Aus der Existenzanalyse lässt sich verstehen, dass nicht auf alles eine Antwort gegeben werden kann und, was vielleicht noch wichtiger ist und was die moderne Pädagogik längst aufgenommen hat, dass nicht auf alles eine Antwort gegeben werden muss bzw. sogar nicht auf alles eine Antwort gegeben werden ›darf‹. Den SchülerInnen gute Fragen zu entlocken, ist pädagogisch ein hoher Wert. Und als Ergänzung sollte betont werden, dass dies nicht bedeutet, die SchülerInnen mit den unbeantworteten oder unbeantwortbaren Fragen alleine und im Stich zu lassen, sondern sie in diesem Ringen, das viele Fragen auslösen können, zu begleiten. Das ist ein Aspekt des ›diakonischen‹ Religionsunterrichts, von dem die moderne Religionspädagogik spricht. Dieses Begleiten der SchülerInnen im vorhin genannten Ringen um existenzielle Fragen ist auch ein Einüben in das In-Frage-Stellen des Ursächlichkeitsdenkens; es ist ein personaler Akt mit einer theologischen Dimension des Mitgehens und Da-Seins, wenn es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Es ist ein Stück Exodus, wo man einerseits mit nichts ›rechnen‹ kann oder andererseits mit allem ›rechnen‹ muss. Mit Michel Henry ließe sich hier der Gedanke verfolgen, dass auch in der ›Leere‹ die ›Fülle‹ gegeben sei. Wenn die Lebensphänomenologie einen Beitrag leisten kann, der biblischen Rede vom ›Leben in Fülle‹ eine weitere Sprachnuance bzw. einen weiteren ›Grund‹ zu geben, dann ist ihre Relevanz für den Religionsunterricht spürbar.

5.6. Die Problematik unserer Vorstellungen Sowohl die Existenzanalyse als auch die Lebensphänomenologie macht in Bezug auf alles, was mit unseren ›Vorstellungen‹ zu tun hat, sensibel. Diese Sensibilität im Religionsunterricht vermehrt einzubringen, kann sich als hilfreich erweisen, denn gerade am Begriff der Vorstellung haben sich im Unterricht wichtige Themen eröffnet oder entzündet, sodass dieses Wort zu einem Schlüsselbegriff des Problematischen geworden ist. »Du sollst dir kein Gottesbild machen«, so steht es in der Einheitsübersetzung der Bibel im Vers Ex 20,4. Anders ausgedrückt könnte der Satz lauten: ›Du sollst dir keine Vorstellung von Gott ma154 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Die Problematik unserer Vorstellungen

chen‹. Welchen Zündstoff dieses Wort aus dem Dekalog birgt, lässt sich gegenwärtig besonders gut nachweisen, wenn im Unterricht die abstrusesten Gottesvorstellungen zur Sprache kommen, gegen die man sich oft nur schwer wehren kann, da es kaum einen öffentlichen, für die breite Masse nachvollziehbaren Diskurs darüber gibt. Die bereits erwähnte Aufschrift auf Bussen in London und Wien im Jahre 2008 42 geht so weit, dass nur ohne Gott ein menschliches Leben in Freude möglich sei. Eine solche Gottesvorstellung mit dem biblischen Befund in Verbindung zu bringen, erweist sich als wichtiges Thema für den Religionsunterricht. Die Bewusstseinsbildung in Bezug auf die Gefahren, dass das Sich-von-jemandem-eine-Vorstellung-Machen ein a-personaler Akt ist, gehört meines Erachtens zum Kern der Bedeutung des biblischchristlichen Menschenbildes: »Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde« (Ex 20,4). ›Keine Darstellung von etwas auf der Erde‹ betrifft zuinnerst uns Menschen und kann paraphrasiert auch ›sich-keine-Vorstellung-von-einemMenschen-machen‹ bedeuten. Die Würde des Menschen, »Abbild Gottes« (Gen 1,26) zu sein, verlangt danach und weist jede Form von Objektivierung bzw. von Fixierung als nicht gottgewollt zurück. Setzt man den durch die christliche Theologie geprägten Person-Begriff mit dem ›personalen Miteinander‹, wie es Frankl beschreibt, in Beziehung, dann eröffnet sich ein weites Feld einer modernen Anthropologie, die als Grundlage für das Miteinander im schulischen (Religions-)Unterricht mehr als wünschenswert ist. Es scheint so zu sein, dass man ohne den Begriff der Vorstellung gar nicht auskommt; er ist in fast allen Lebensbereichen zu Hause: Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Wie stellst du dir den nächsten Urlaub vor? Wie stellst du dir deine Arbeit in diesem oder jenem Betrieb vor? Wie stellst du dir deine Teilnahme an diesem Wettbewerb vor? Wie stellst du dir ein gelungenes Fest vor? Wie stellst du dir deine Kinder vor? Wie soll ein Geschenk empfunden werden? Welchen Stellenwert soll die Schule haben? Was bedeutet es zu scheitern? Wie stellst du dir deine Partnerin bzw. deinen Partner vor?

Im selben Jahr, ein paar Monate später, war auf öffentlichen Bussen in Wien folgender Satz zu lesen: Es gibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Gott. Werte sind menschlich – auf uns kommt es an.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Bei all diesen Fragen, die endlos ergänzt werden könnten, kommt man zwingend auf die Frage der Schubumkehr: Was geschieht, wenn deine Vorstellungen nicht zutreffen? Selbstverständlich gibt es einen Sprachgebrauch dieses Wortes im rein positiven Sinn. Etwa wenn ein Architekt mit einer gut ausgeprägten Vorstellungskraft Entwürfe für ein Projekt zeichnen kann, um seinen Kunden visualisierte Möglichkeiten anzubieten. Oder wenn ein Techniker, der weiß, was technisch möglich ist, an einer Konstruktion arbeitet und sich durch seine gute Vorstellungskraft viel Zeit erspart. Oder wenn ein Komponist sich den Orchesterklang der Sinfonie, an der er gerade arbeitet, vorstellen kann, damit die Instrumentierung stimmt. Ich denke hier immer wieder an den gehörlosen Ludwig van Beethoven bei seiner Komposition der Neunten Sinfonie, die er nie – äußerlich mit seinen Ohren – hören konnte. Und ich denke an sein ›Erlebnis‹ der Uraufführung, bei der er leiblich anwesend war, ohne Orchester, Chor und Solisten zu ›hören‹, und ›lediglich‹ das Publikum vor Begeisterung toben sah! 43 All das, was hier mit dem Begriff der ›Vorstellung‹ zu beschreiben versucht wurde, soll weder in Frage gestellt noch in irgendeiner Weise abgewertet werden. Ganz im Gegenteil: Menschen, die ihre Vorstellungskräfte so einsetzen, verdienen nach meiner Überzeugung große Anerkennung. Und dennoch kann aufgezeigt werden, wie schon Viktor Frankl in seiner Existenzanalyse sehr eindringlich betont hat, dass viele unserer Vorstellungen, die eben nicht auf die vorhin genannten Beispiele oder auf Ähnliches zutreffen, viel Unheil schaffen können. Eine Vor-Stellung verdeckt den Blick auf die Wirklichkeit, sie steht im Wege, sie steht ›dazwischen‹. Vor allem dann, wenn ein Mensch oder die Prozesshaftigkeit menschlichen Tuns an unseren Vorstellungen gemessen und bewertet wird, geschehen oft Verletzungen. Wir werden im Dekalog eindringlich gewarnt: Du sollst dir kein Bild von Gott machen. Oder in anderen Formulierungen: ›Du wirst dir kein Bild von Gott machen.‹ – ›Du hast es nicht nötig, dir ein Bild von Gott zu machen, wenn du dich von Gott tragen lässt, auch im Leid.‹ Augenzeugen berichteten davon, dass Beethoven während der Uraufführung seiner Neunten Symphonie neben dem Orchester mit dem Rücken zum Publikum gesessen sei und nach dem Verklingen des letzten Tons den Applaus nicht gehört hätte. Erst eine Sängerin soll ihn dazu bewegt haben, sich umzudrehen, um den Applaus des Publikums wahrzunehmen. Vgl. dazu auch: http://www.planet-wissen.de/kultur_ medien/musik/beethoven/beethoven_neunte.jsp [18. 11. 2014].

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Die Problematik unserer Vorstellungen

Wie viele Menschen machen sich zum Beispiel Vorstellungen, wie der Ehepartner sein soll! Max Frisch 44 bringt sehr eindringlich das Sich-ein-Bild-Machen von Gott in Beziehung zum Sich-einBild-Machen vom Ehepartner: »›Du bist nicht‹, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, ›wofür ich Dich gehalten habe.‹ Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. […] Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – ausgenommen, wenn wir lieben.« 45

Vorstellungen verdecken nicht nur den Blick auf die Wirklichkeit, sie können Menschen auch manipulieren und Beziehungen zerstören. In diesem Sinne spricht auch die Lebensphänomenologie von Michel Henry vom ›Ende der Vorstellung(en)‹. Vorstellungen, die wir uns von anderen Menschen machen, können diese auf eine bestimmte Eigenschaft oder auf ein bestimmtes Verhalten fixieren; sie sprechen dem Menschen letzten Endes seine Würde und Lebendigkeit ab, weil dadurch »die Wirklichkeit des Lebens von den quantitativen Größen einer objektiven Wirklichkeit, der Zeit, dem Geld, dem Recht etc. aufgesogen wird, so dass es in seinem Innersten bedroht ist«. 46 Entscheidend ist die Unterscheidung, dass die ›Wirklichkeit des Lebens‹ und nicht »die Wirklichkeit als solche« 47 bedroht ist. Im Klassenverband ist dieses Fixieren leider häufig zu spüren. Von Beleidigung bis Mobbing reicht die Palette, die manchen SchülerInnen das Leben in der Klasse oder sogar in der Schule ›zur Hölle‹ machen kann. Das vermehrte Einbringen dieser Thematik in den Religionsunterricht könnte einen präventiven Charakter haben; inwieweit das ›gelingt‹, entzieht sich meiner Beurteilung. Mir scheint es jedenfalls sehr sinnvoll zu sein, sich vermehrt damit auseinanderzusetzen und die SchülerInnen dafür zu sensibilisieren. ›Epoché‹ 48 Max Rudolf Frisch (1911–1991), Schweizer Schriftsteller und Architekt. Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. Frankfurt 1985. S. 27 f. 46 Knöpker: Michel Henry. 2012. S. 11. 47 Ebd. S. 11. 48 Als Methode kennzeichnet Epoché bei Husserl die phänomenologische Reduktion, durch die zunächst den vorgefassten Urteilen über die äußere Welt die Geltung entzogen wird, um anschließend – unter Beiseitelassung der tatsächlichen Existenz – zu 44 45

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

ist hier ein Schlüsselbegriff. Er bedeutet eine Haltung des ›InneHaltens‹ bzw. des ›Ein-Haltens‹, wodurch der Fluss der natürlichen Welt- und Selbstgewissheit unterbrochen wird. Diese Epoché ist die Voraussetzung für die ›eidetische Reduktion‹, für das ›Einklammern‹ von Weltvorstellungen, von Bewertungen, von welthaften GeltungsKategorien. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Vorstellungen leugnen müssen, dass wir die sichtbare Welt leugnen, abwerten oder nicht ernst nehmen sollen. »Denn in dieser Epoché der Welt sind nur die empirische Welt und das darin eingeschriebene psychische Ich suspendiert, nur die Gehalte dieser Welt und der Glaube an sie, nicht aber die Welt selbst, der Horizont der Sichtbarkeit, wo sich alles zeigt, was geschaut werden kann.« 49

Zum ursprünglichen Bereich des Selbsterscheinens gelangt man nach Henry durch eine radikale »Gegenreduktion« 50 , das bedeutet die Aufhebung der Weltphänomenalität, ein Außer-Spiel-Setzen dessen, »was Galilei festgehalten hatte: jene Teile der Ausdehnung mit ihren idealen Begrenzungen, welche die Objekte sind.« 51 Durch das systematische Ausscheiden des subjektiven Empfindens aus jeglichem (wissenschaftlichen) Erkenntnisprozess, durch die »galileische Reduktion«, 52 geschieht laut Henry eine Objektivierung, die er letztlich als Barbarei bezeichnet, als rücksichtsloses In-Frage-Stellen der sinnlichen Natur. Epoché im phänomenologischen Sinn bedeutet, dass wir unsere Vorstellungen nicht mit dem Leben selbst verwechseln dürfen. Epoché macht uns aufmerksam, dass Wahrnehmungsurteile Vorstellungen sind, die den Blick auf das Leben verstellen: Der Fluss der natürlichen Welt- und Selbstgewissheit muss in der Epoché unterbrochen werden. ›Welt‹ ist immer an einen Horizont gebunden, an einen ›Horizont der Sichtbarkeit‹, der immer ›erweiterbar‹ ist. Jeder Horizont, den man erreicht, führt zu einem neuen Horizont, was ein endloses Unterfangen darstellt. Das Leben selbst, Gott, bedeutet in

Erkenntnissen über das Wesen des betrachteten Gegenstandes zu gelangen. Es gibt drei Stufen der phänomenologischen Reduktion: (1) das Einklammern von Geltung sowohl ontologisch als auch wertmäßig; (2) die eidetische Reduktion – das Vordringen zum Wesen eines Bewusstseinsinhaltes; (3) die Reduktion zum transzendentalen Ich. 49 Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 96. 50 Ebd. S. 279. 51 Ebd. S. 279. 52 Vgl. Henry: Inkarnation. 2002. S. 155–165.

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Leiblichkeit

der Sprache der Radikalen Lebensphänomenologie das Ende jedes Horizonts. Den vermeintlich ›weitesten‹ Horizont mit dem Leben selbst zu verwechseln, führe, so Michel Henry, letztlich zur Barbarei. 53 Die kritische Einschätzung von ›Vorstellungen‹ verbindet die beiden Denkansätze zutiefst; ›Vorstellung‹ spielt als ›negativer‹ Schlüsselbegriff eine zentrale Rolle: Wer sich Vorstellungen von etwas oder von jemandem macht, befindet sich automatisch in einem a-personalen (so Frankl) oder der Barbarei Tür und Tor öffnenden (so Henry) Habitus des Ursächlichkeitsdenkens, welches – gekoppelt mit der vorhin besprochenen Objektivierung des Menschen – lebensfeindlich und zerstörend sein kann. Mit SchülerInnen im Religionsunterricht über das große Thema der ›Vorstellungen‹ ins Gespräch zu kommen, halte ich für unverzichtbar. Frankl und Henry sind eine Fundgrube für Zugänge zu dieser Thematik und für Texte, die den SchülerInnen in höheren Schulstufen zumutbar sind.

5.7. Leiblichkeit »Der Körper hat Konjunktur. Als ausgestellter, gestaltbarer und gestalteter, verfüg- und verführbarer begegnet er uns täglich im Übermaß. Das Präsentieren und Zurichten von Körpern gehört zu den Punkten, an denen gesellschaftliche Praktiken sichtbar und spürbar werden.« 54

Mit diesen Worten leiten die Herausgeber ihren Band »Leiblichkeit« ein, in dem der Leibbegriff verschiedener Autoren, die Geschichte des Leibbegriffs und dessen Grenzen dargestellt werden. Auch die Unterscheidung zwischen Leib und Körper findet sich bereits in der Einleitung, um gleich den Blick auf die verschiedenen Phänomene zu schärfen: »Dieser Leib, den wir nicht nur haben, sondern der wir stets schon sind, unterscheidet sich insofern vom objektiven Körper, als wir nie um ihn herumgehen und ihn entsprechend nie völlig in den Blick nehmen können. Er lässt sich nicht vor uns stellen, sondern liegt gleichsam ›auf unserer Seite‹ und wird sowohl zum Medium unserer Orientierung in der Welt als auch zum Projek-

Vgl. dazu auch das Kapitel 4.6. »Selbststeigerung des Lebens versus Barbarei«. Alloa, Emmanuel/Bedorf, Thomas/Grüny, Christian/Klass, Tobias Nikolaus (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Tübingen 2012. S. 1.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

tor unseres Handelns. Gleichwohl fällt der Leib als gelebter Körper nicht unterschiedslos mit dem psychisch erlebten Körper in eins.« 55

Die Unterscheidung zwischen Körper und Leib ermöglicht ein differenziertes Sprechen über verschiedene Bereiche menschlicher Erfahrung. Die meisten SchülerInnen entwickeln eine hohe Sensibilität, wenn etwa vom Körper als physikalischer Einheit oder vom Leib als beseeltem Körper die Rede ist. Die eigene Unterrichtserfahrung hat vielfach gezeigt, dass diese Unterscheidung eine selbsterklärende Dimension hat, die einem zugänglich ist, weil oder sofern sie der eigenen Erfahrung entspricht. Im Folgenden wird der Begriff ›Leiblichkeit‹ als Überbegriff sowohl auf ›Körper‹ als auch auf ›Leib‹ bezogen, die Differenzierung erfolgt jeweils dort, wo sie zum Verständnis notwendig ist. Im Religionsunterricht ist Leiblichkeit ein Themenbereich mit vielen verschiedenen möglichen Bezügen. Ein aufmerksamer Blick muss auf die Erlebnis- und Erfahrungswelt der SchülerInnen gerichtet sein. Hier zeigt sich allerdings weder ein einheitliches noch ein vollständiges Bild: Erstens berührt die Thematik intime Lebensbereiche; nicht alle sind bereit, sich im Unterricht persönlich auf ›Leiblichkeit‹ einzulassen, zumal viele junge Menschen mit ihrem eigenen Körper unzufrieden sind – nicht zuletzt durch Idealisierungen in Werbung und Mode und durch MitschülerInnen, die solche Ideale verkörpern bzw. als deren RepräsentantInnen wahrgenommen werden. Zweitens befinden sich die SchülerInnen einer Klasse nie auf demselben Reife- und Entwicklungsniveau. Drittens hängt es von der jeweiligen Lehrperson und von der jeweiligen Beziehung zwischen LehrerIn und SchülerIn ab, inwieweit Gespräche im Unterricht überhaupt möglich sind, die nicht nur an der Oberfläche bleiben wollen. Viertens ist es von Bedeutung, welchen Zugang die Unterrichtenden selbst zu ihrer eigenen Leiblichkeit haben. Fünftens gelten niemals die gleichen Voraussetzungen in allen Unterrichtsstunden. Einen weiteren Bezugspunkt stellt die christliche Religion dar, in meiner Biografie ist es die katholische Kirche, die gerade von SchülerInnen oft als leibfeindlich gesehen wird und deren Aussagen zu brisanten Fragen, wie Sexualität und Empfängnisverhütung, Ehe, Abtreibung, Sterbehilfe u. a. m., oftmals wenig oder keine Relevanz mehr für junge Leute haben. Die folgenden Aspekte von Leiblichkeit erheben selbstverständlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.

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Leiblichkeit

Deren Auswahl entspringt einer Dringlichkeit, die sich aus der Reflexion des eigenen Religionsunterrichts ableitet.

5.7.1. Sexualität Das Thema ›Sexualität‹ betrifft implizit alle Schüler bzw. Schülerinnen, insofern sie sich zum größten Teil in einer spannenden Entwicklungsphase befinden, in der die jeweiligen MitschülerInnen bzw. die Beziehung zu ihnen eine wichtige Rolle spielen. Sexualität ist in Bezug auf Leiblichkeit eines der Hauptthemen; explizit kommt es vor allem dann zur Sprache, wenn es von der Lehrperson thematisiert wird, weil es im Lehrplan vorgesehen ist oder im Unterricht unüberhörbar bzw. unübersehbar zum Thema wird oder werden muss, oder, sofern ein Vertrauensverhältnis zwischen LehrerIn und SchülerIn gegeben ist, wenn SchülerInnen sich mit Fragen dazu einbringen und ›begleitet‹ werden wollen. Sexualität ist auch im öffentlichen Diskurs präsent, 56 der selbstverständlich in den Religionsunterricht hineinwirkt. Die deutsche Theologin Regina Ammicht Quinn beschäftigt sich in ihren ›Theologischen Reflexionen zur Ethik der Geschlechter‹ mit zahlreichen Aspekten, die diesen öffentlichen Diskurs mitbestimmen und über die Denkbahnen einer traditionellen Moraltheologie hinausführen. Sie stellt unter anderem fest: »Die traditionellen kirchlichen Lehren zur Sexualität werden bei Jugendlichen – auch bei Jugendlichen, die der Kirche nahestehen – kaum noch kritischargumentativ abgelehnt, sondern als ›irreale oder obskure Botschaften aus einer fernen Welt abgetan‹.« 57

Diese Tatsache hat selbstverständlich auch eine Auswirkung auf den Religionsunterricht, da laut Ammicht Quinn die Human- und Sozialwissenschaften, vor allem Psychoanalyse, Psychologie, Pädagogik und Sexualwissenschaften, oftmals den Platz der Theologie eingenommen hätten. Das habe zur Folge, dass Theologie und Kirche ihre traditionelle Funktion der Wertevermittlung im Bereich der Sexualität verlieren oder schon verloren haben. 58 Einen eigenen Abschnitt

Vgl. Ammicht Quinn, Regina: Körper – Religion – Sexualität. Mainz 3 2004. S. 21– 27. 57 Ebd. S. 251. 58 Vgl. ebd. S. 252. 56

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

widmet die Autorin dem Thema »Jugendsexualität«. 59 Die Dreiecksbeziehung von Liebe, Lust und Moral – an anderer Stelle wird von der Dreiecksbeziehung von Religion, Sexualität und Moral gesprochen – sei zerbrochen: Man könne nicht sagen, wo die Moral verlorengegangen sei; dieser Verlust sei ein Faktum. Die Rede von Liebe beziehe sich oftmals direkt auf den Geschlechtsverkehr als Liebesbeweis. Und die Lust verbinde oftmals sexuelle Lust mit Selbstbestätigung und Macht. Das Festhalten an der Dreiecksbeziehung, als sei sie ein harmonischer Dreiklang, sei das Festhalten an einer Utopie; sollte diese einen Ort bekommen, müsse man Religion, Sexualität und Moral neu bestimmen. Dies sei möglich, wenn man gemeinsame Schnittstellen und Berührungspunkte zwischen Religion und Sexualität wiederentdecke. Die Moral werde zum Krisenpunkt des Dreiecks und brauche eine neue Fragestellung »nach der Gestalt des moralischen Kontextes, der einen Dreiklang von Religion, Sexualität und Moral ermöglichen und hervorbringen könnte.« 60 Aus den Texten von Ammicht Quinn geht eindeutig hervor, dass Sexualität in den Kontexten von Leib und Körper erörtert werden muss; sie betreffe den ganzen Menschen in seiner Leiblichkeit. Viktor Frankl widmet dem Thema Sexualität große Aufmerksamkeit, und als Therapeut beschäftigt er sich auch eingehend mit sexualneurotischen Störungen. 61 Im Zusammenhang mit seiner Dimensionalontologie, die den Menschen als Ganzheit seiner somatischen, seiner psychischen und geistigen Dimension betrachtet, geht klar hervor, dass auch die Sexualität alle drei Dimensionen betrifft. Ausgedrückt wird dies unter anderem durch die Unterscheidung zwischen Sexualität, Erotik und Liebe. 62 Das Sexuelle sei kein Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel: Das Leibliche vermöge den Charakter eines Menschen und letztlich die Person zum Ausdruck zu bringen. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Sexualität und Liebe stellt Frankl fest: »Echte Liebe an und für sich bedarf des Körperlichen weder zu ihrer Erweckung noch zu ihrer Erfüllung; aber sie bedient sich des Körperlichen in Hinsicht auf beide.« 63

59 60 61 62 63

Vgl. ebd. S. 261–269. Ebd. S. 269. Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 193–198. Vgl. ebd. S. 168–178 Ebd. S. 175.

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Leiblichkeit

Es ist nicht zu übersehen, dass Frankl sehr idealistisch von Liebe und Sexualität spricht, manchmal entsteht der Eindruck, man könne ›nur‹ durch die richtige Einstellung die großen Probleme lösen. Im schulischen Kontext bietet die Existenzanalyse dennoch viele Möglichkeiten, über diese Themen mit den SchülerInnen ins Gespräch zu kommen, was an drei Beispielen noch aufgezeigt werden soll. Zur Unterscheidung zwischen Verliebtheit und Liebe sagt Frankl: »[B]loße Verliebtheit macht irgendwie blind; echte Liebe jedoch macht sehend. Sie lässt uns der geistigen Person des erotischen Partners ansichtig werden – in ihrer Wesenswirklichkeit ebenso wie in ihrer Wertmöglichkeit.« 64

Diese Unterscheidung, mit deren Hilfe mir im eigenen Unterricht oft gelungen ist, eine Sprache für das so zentrale Thema ›Liebe‹ zu finden, vermittelt keinen erhobenen moralischen Zeigefinger, sondern verweist darauf, genau hinzuschauen, was jemand empfindet, wie man etwas benennen und wie man sich durch Differenzierung weiterentwickeln kann. Das zweite Beispiel zielt auch auf ein genaues Hinhören und Hinspüren: »Die bloße Befriedigung des sexuellen Triebs bietet Lust, die Erotik des Verliebten bietet Freude, die Liebe bietet Glück. Darin gibt sich eine zunehmende Intentionalität kund. Lust ist nur ein zuständliches Gefühl; Freude jedoch ist intentional, also auf etwas gerichtet. Glück aber hat seine bestimmte Richtung – auf die eigene Erfüllung.« 65

Wenngleich solche Unterscheidungen etwas schubladenhaft wirken können, zeigen sie dennoch etwas Wichtiges auf und fordern Sprachgenauigkeit: Lust, Freude und Glück sind nicht identisch. Das gegenwärtig redundant gebrauchte Wort ›Spaß‹ könnte hier noch speziell auf seine Bedeutung hin untersucht werden, damit die Unterscheidung von Spaß und Freude deutlich wird. Als drittes Beispiel sei eine ›Kurzformel‹ von Frankl erwähnt, die die ›Jagd nach Lustgewinn‹ betrifft: »[W]o die Sexualität nicht mehr Ausdruck von Liebe ist, vielmehr Mittel zum Zweck bloßen Lustgewinns wird, [dort kann man beobachten, dass] dieser Lustgewinn auch schon scheitert; denn – um es zu pointieren – je mehr es dem Menschen um Lust geht, um so mehr vergeht sie ihm auch. Je mehr einer nach der Lust jagt, desto mehr verjagt er sie auch.« 66 64 65 66

Ebd. S. 186. Ebd. S. 186. Ebd. S. 197.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Diese Feststellung Frankls, die er auch im Zusammenhang mit dem steigenden Phänomen der Impotenz fast apodiktisch vorbringt, bietet wertvolle Möglichkeiten für den Religionsunterricht. Es geht nicht darum, solche Aussagen zu verteidigen oder deren Zutreffen zu beweisen, sondern ein Handwerkszeug zu bekommen, wie man über komplexe Sachverhalte reden kann, und in diesem Rahmen können die Einsichten von Viktor Frankl als die einer fachlichen ›Autorität‹ mit hohem Gewinn diskutiert werden. Zu diesem dritten Beispiel meint Frankl auch, eine »vernünftige Sexualpädagogik« 67 müsse auf die Gefahr hinweisen, dass junge Menschen als Konsumenten geradezu dazu dressiert würden, die Sexualität als Mittel zum Zweck des Lustgewinns zu gebrauchen. Dieser Gefahr müsse eine vernünftige Sexualpädagogik entgegenwirken. Die Lebensphänomenologie geht ihrer Anthropologie folgend einen andern Weg. Hier werden nicht im existenziellen oder im therapeutischen Sinn die Fragen diskutiert, die vorhin von Bedeutung waren: Wodurch unterscheiden sich Verliebtheit und Liebe? Wie entstehen Sexualstörungen? Worauf müsste eine vernünftige Sexualpädagogik achten? Was kann der Mensch intendieren und was nicht? Die Lebensphänomenologie fragt konsequent und streng reduktiv nach dem Wie des Erscheinens, in diesem Zusammenhang nach dem Wie des Erscheinens von Erotik und Begehren. In poetischer Sprache bezeichnet Henry die radikale Lebensimmanenz als »die Nacht der Liebenden« 68 , womit selbstverständlich nicht die Dunkelheit nach Sonnenuntergang oder die Dunkelheit eines Zimmers ohne Beleuchtung gemeint ist, sondern »das Unsichtbare des Lebens« 69 , das hier auf die Phänomenologie des Geschlechtsaktes bezogen wird. Henry fragt, worauf das erotische Begehren 70 des Menschen ziele. Dieses erreiche sein Ziel nicht, wenn das Begehren darin bestünde, das Leben des anderen in sich selbst erreichen zu wollen. Kein Trieb sei in der Lage, den Trieb des anderen in sich selbst zu erreichen; was der andere empfindet, bleibe jenseits dessen, was man selbst empfinde. Sollte das erotische Begehren im Geschlechtsakt das Empfinden des anderen erreichen wollen, müsse es laut Henry misslingen. Da die Unsicht-

67 68 69 70

Vgl. ebd. S. 191. Henry: Inkarnation. 2002. S. 331. Ebd. S. 31. Vgl. ebd. S. 332–337.

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Leiblichkeit

barkeit des Lebens alle Lebensbereiche betreffe, gelte dieses Grundaxiom, dass sich das Leben in der Welt nicht zeigen kann, auch für Erotik und Sexualität. »[I]n der Nacht der Liebenden befindet sich der Andere für jeden jeweils auf der anderen Seite einer Mauer, welche sie für immer trennt. Der Beweis dafür wird durch die Zeichen erbracht, welche die Liebenden während des Aktgeschehens aneinander richten, handle es sich dabei um Worte, Seufzer oder verschiedenartige Bekundungen.« 71

Henry geht es im Wesentlichen darum, darauf hinzuweisen, dass alles Lebendige nicht auf die objektive Erscheinung reduziert werden dürfe, also auf das, was man ›sehen‹ bzw. fotografieren kann. Biologische, chemische, physikalische und auch psychologische Gegebenheiten würden niemals das sichtbar machen können, was der ›Nacht der Liebenden‹ entspricht. Sehr vorsichtig spricht Henry von der Möglichkeit der Liebe im erotischen Verhältnis, sofern man davon absieht, das Empfinden des Anderen erreichen zu wollen. »Das erotische Verhältnis verdoppelt sich dann um einen rein affektiven Bezug, welcher der fleischlichen Paarung fremd ist und ein Verhältnis gegenseitiger Anerkennung, vielleicht der Liebe bildet, wobei letztere sowohl dem gesamten erotischen Geschehen vorausgehen, es sogar hervorrufen wie dessen Folge sein kann.« 72

Dieser Zugang der Lebensphänomenologie zu Sexualität unterscheidet sich in Vielem von dem der Existenzanalyse. Sein Bezugspunkt ist immer das rein phänomenologische Leben, das sich in der Welt nicht zeigen kann, während Frankl als Neurologe und Therapeut vom Sinn, vom Wert und vom Authentisch-Sein ausgeht. Die beiden Ansätze treffen sich meines Erachtens in der Nicht-Machbarkeit dessen, was beide als ›Liebe‹ bezeichnen, die immer Geschenkcharakter hat. Beachtenswert ist im vorhergehenden Zitat aus Henrys Inkarnation die behutsame Formulierung ›vielleicht der Liebe‹. Im Religionsunterricht bieten beide Ansätze eine gute Möglichkeit, ohne erhobenen Zeigefinger bzw. ohne moralische Kategorien über das Phänomen Liebe und über Sexualität zu sprechen.

71 72

Ebd. S. 333. Ebd. S. 335.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

5.7.2. Sport Für viele Schülerinnen und Schüler ist Sport ein signifikant wichtiger Aspekt ihres Selbstverständnisses. Sportliche Fähigkeiten bestimmen in nicht geringem Maß den Grad der Anerkennung im Klassengefüge, im Extremfall tragen sie dazu bei, ob jemand ›dazugehört‹ oder nicht bzw. ob er das Empfinden hat, dazuzugehören oder nicht. Dass Sport mit dem menschlichen Körper zu tun hat, versteht sich von selbst, wer Sport betreibt bzw. im Sport etwas erreichen will, muss trainieren und seinen Körper fordern, was viel Disziplin verlangt. Viktor Frankl, der selbst begeisterter Bergsteiger bzw. Kletterer war, vertritt die These, 73 dass sich Sport als menschliches Phänomen vor allem dadurch erklären ließe, dass der Mensch Spannungen suche in sinnvollen Aufgaben; es gehe dem Menschen um gesunde Spannungen, für die er bereit zur Askese sei – inmitten einer Gesellschaft des Überflusses. Durch Sport erzeuge der Mensch sowohl künstliche Not als auch künstliche Notwendigkeiten, letztlich und eigentlich rivalisiere er mit sich selbst, er sei sein eigener Konkurrent. Man könne nachweisen, dass sich sportliche Leistungen nur dort optimieren lassen, wo diese Einstellung vorherrsche. Diese Analyse unterstreicht, dass Sport ein ganzheitliches leibliches Phänomen ist, das über das rein Körperliche hinausweist. Und sie hilft auch zu verstehen, warum Sport für das Selbstverständnis vieler junger Menschen so wichtig ist. Die Analyse gibt auch Einblicke in Leiderfahrungen junger Menschen, die sich auf Grund ihrer schwächer ausgeprägten Sportlichkeit oder gar Unsportlichkeit an den Rand gedrängt fühlen. Ihr Wissen um die geringere Leistung im Verhältnis zu ihren MitschülerInnen – beim Schwimmen, Skifahren, Geräteturnen, im Fußball – immer quält sie der schmerzliche Vergleich mit den ›Besseren‹ oder den ›Stars‹ in der Klasse. Sind diese Schüler und Schülerinnen zur ›Askese‹ weniger oder nicht fähig? Werden sie vielleicht auch deshalb von manchen MitschülerInnen gering geschätzt, weil man ihnen diese Fähigkeit zur Askese abspricht? In der Lebensphänomenologie spielen solche Fragen kaum eine Rolle, was meines Erachtens deren Relevanz für die Thematik ›Sport‹ eher einschränkt. Wenn Michel Henry von der Leiblichkeit als »unveräußerlichte[r] Innerlichkeit« 74 spricht, weist er, stringent in sei73 74

Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 42–46. Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 38.

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Leiblichkeit

nem Denken, einerseits darauf hin, dass dieses Äußere für das Leben selbst nichts aussage, andererseits radikalisiert er das subjektive Empfinden: »Mein Leib ist die Hand, mit welcher er sein Dasein bezeugt, indem sie sich bewegt. Mein Leib ist das Tun, so wie ich es in seiner unmittelbaren Erfahrung lebe. Ich bin hineinversetzt in ein ›Ich-Können‹, welches ich selbst bin.« 75

Diese Radikalisierung bringt den Schmerz eines betroffenen Menschen noch wesentlich stärker zum Ausdruck: Wenn der eigene Leib zum Beispiel ›der Fuß ist‹, der kein gutes Fußballspiel ermöglicht, dann zeigt das die Ausweglosigkeit in der jeweiligen Situation noch deutlicher auf. Das Hinein-versetzt-Sein in ein ›Ich-Können‹ bedeutet dann das Hinein-versetzt-Sein in ein Nicht-Können. Wie an anderer Stelle bereits aufgezeigt wurde, bleibt Henry an diesem Punkt nicht stehen, für ihn gilt das ›Ich-Können‹ immer und zu jedem Augenblick, auch wenn es sich im Welt-Erscheinen als Nicht-Können zeigt. Im Leben, so Henry, gebe es nur ›Können‹, das Nicht-Können sei auch ein Können im streng lebensphänomenologischen Sinn bzw. im rein phänomenologischen Leben. Lässt sich dieser Denkansatz für einen jungen Menschen in seinem weltlichen Nicht-Können (zum Beispiel beim Fußball) fruchtbar machen? Und wenn ja – wie? So zeigen sich gerade am Thema Sport im schulischen Kontext Grenze und Kraft des Denkens von Henry. ›Grenze‹ bedeutet, dass es für betroffene SchülerInnen vielleicht sogar wie ein Hohn klingt, ihr ans Licht gezerrtes Nicht-Können als lebensphänomenologisches ›Ich-Können‹ zu empfinden. ›Kraft‹ bedeutet, dass dieser Blickwinkel des ›Ich-Könnens‹ zu jedem Augenblick eine Dimension beinhaltet, in der es keine Verlierer mehr gibt. Wenn eine lebensphänomenologisch geschulte Lehrperson mit betroffenen SchülerInnen so umgeht, könnte das zu einer Quelle für ein Potenzial werden, vom Sich-Erleiden zum Sich-Erfreuen zu gelangen. Diese Bewegung zeugt von einer theologischen Dimension, die den Kern des Christentums berührt.

5.7.3. Leiblichkeit und Gewalt Ein Referenzpunkt zu ›Leiblichkeit‹ bzw. ›Körperlichkeit‹, der vielleicht auf den ersten Blick als nicht unmittelbar zum Thema gehörend 75

Ebd. S. 38.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

ins Auge fällt, sei in Form der folgenden Fragen genannt: Wie und wo überall ›erleben‹ wir gegenwärtig Gewalt, in diesem Kontext vor allem physische Gewalt? Wie nehmen wir Berichte über Gewalt in den Medien wahr? Wie sehr prägt uns die ›bildliche‹ Erfahrung, dass Gewalt allgegenwärtig zu sein scheint? Wie sehr prägen oder beeinflussen uns zum Beispiel die Berichte und Bilder über die Gräueltaten der IS-Milizen in Syrien und im Irak, deren Gewalt Formen angenommen hat, die u. a. als Tabu-Bruch bezeichnet wurden, gemeint sind hier vor allem die Enthauptungen von Gefangenen vor laufender Kamera: Kann oder muss man das auch als ein intensiv ›körperliches (leibliches?) Phänomen‹ verstehen? Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Syrien und im Irak lässt sich eine Fülle weiterer Fragen aufwerfen. Anlässlich eines Vorkommnisses im September 2014 in Australien, das sich ähnlich auch in anderen Ländern ereignet hat, seien hier einige Überlegungen angestellt. Mehrere junge Menschen in Australien, die sich für den Dschihad begeistern ließen, hatten den Plan, willkürlich ausgewählte Menschen aus ihrem Land gefangen zu nehmen und vor laufender Kamera zu enthaupten – ihren Vorbildern aus dem Irak folgend. Einige Fragen dazu drängen sich mir auf: •







Ist dies ein weiteres ›spektakuläres‹ Beispiel von Mimesis, das sich vom Phänomen und von der Struktur her von anderen mimetischen Beispielen nicht unterscheidet, sondern nur durch den Grad an Brutalität? Ermöglichen Gewalt und Morden eventuell ähnliche Sinnerfahrungen, wie sie anhand von Viktor Frankls Existenzanalyse ausführlich dargestellt wurden? Kann oder muss man die Ausführung solcher Handlungen aus der Perspektive der ›Täter‹ auch als Erfahrungen von ›Wert‹ verstehen? Als eine besonders intensive Erfahrung von körperlicher ›Lebendigkeit‹ ? Welche ›Strategie‹ müsste zum Tragen kommen, sollte man zum Verstehen dieses Geschehens das heranziehen, was Henry über ›Energie‹ in Bezug auf die ›Selbststeigerung des Lebens‹ sagt?

Zur Verdeutlichung sei hier in Kürze Henrys Analyse wiedergegeben: Energie sei eine nicht unterdrückbare Erfahrung der unendlichen Möglichkeiten des Lebens, die nicht unterdrückbare Erfahrung der Steigerung, die

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Leiblichkeit

sich bis zum Übermaß mit sich selbst belädt. Diese Energie wolle befreit werden und, indem man ihr freien Lauf lässt, ihr Sein zu entfalten, sei sie Kultur. Die Kehrseite dieser Selbststeigerung sei die Barbarei, die Selbstverneinung des Lebens, die ungenutzte Energie, die am Erleiden festhält und sich nicht mehr auf ein Erfreuen hin übersteige. Das Sein, das nicht ausgeschöpft werden könne, habe zum Grund seiner selbst keinen Zugang mehr. Die nicht im Sinne der Kultur bzw. nicht im Sinne der Selbststeigerung des Lebens genutzte Energie bestehe in der Verdrängung weiter, mit sich selbst beladen, und zwar mit einer Last, die sich als Energie zu keinem Augenblick mehr in das Erfreuen der Steigerung umkehren könne. Vor dem Unerträglichen könne sich diese Energie nicht entziehen und nicht vor ihm fliehen.

Sollte diese Analyse auf das Beispiel der von den IS-Milizen angeworbenen australischen, vom Dschihad begeisterten und zum Morden bereiten Menschen zutreffen, könnte man überlegen, ob es im Sinne der Lebensphänomenologie hier eine Möglichkeit gibt, dieser Selbstverneinung des Lebens etwas ›entgegenzusetzen‹ und, sollte diese Frage bejaht werden können, nach solchen Möglichkeiten zu suchen. Dabei geht es natürlich nicht um die Frage, was wir im Irak, in Syrien oder in Australien tun könnten oder hätten tun können. Es geht darum, unsere nächste Umgebung in den Blick zu nehmen, vor allem uns selbst in unserer Lebenssteigerung bzw. hinsichtlich unserer ›ungenutzten Energie‹. Dieser Exkurs in die Zeitgeschichte soll darauf hinweisen, dass gerade im Religionsunterricht solche brisanten Themen und aktuellen Fragen selbstverständlich Platz haben und dass sowohl die Existenzanalyse als auch die Lebensphänomenologie besondere Möglichkeiten bereitstellen, darauf einzugehen. Meines Erachtens gehört gerade diese Problematik auch zum Themenfeld ›Leiblichkeit-Körperlichkeit‹, wobei die politischen, wirtschaftlichen und religiösen Dimensionen dieser Konfliktherde speziell in den Blick genommen werden müssten, wenngleich sie in diesem Abschnitt nicht weiter analysiert werden. Diese Thematik sollte in der Schule fächerübergreifend besprochen werden, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass ein großer Teil an Filmen, seien sie im Kino oder im privaten Bereich zu sehen, mit dem Phänomen Gewalt verbunden ist und von zahlreichen SchülerInnen konsumiert wird, zum Teil regelmäßig. Gewalt als leibliche Erfahrung hat eine aktive Dimension, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun, sie hat eine passive, wenn Menschen an sich selbst Gewalt erfahren, und sie kann eine 169 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

empathische Dimension entfalten, wenn man im Sinne des Mitpathos, des Mitleidens, selbst Leid empfindet, wenn man vom Leid anderer erfährt oder es miterlebt. Dieses Mitleiden kann bekanntlich auch körperlich als schmerzvoll erfahren werden, wenn eine besondere Nähe zum Leidenden gegeben ist oder wenn die ›Bereitschaft‹ bzw. die Fähigkeit mitzuleiden stark ausgeprägt ist. Die neuronale Forschung zu den Spiegelneuronen hat diesbezüglich interessante Ergebnisse geliefert. In jedem Fall betrifft es den ›ganzen‹ Menschen und nicht nur einen Aspekt von ihm, es betrifft den Menschen als leibliches Wesen in seiner Biologie und als Person, es betrifft den Menschen in seinem körperlichen Schmerz und in seiner Identität bzw. in seinem Sich-in-der Welt-Empfinden.

5.7.4. Implizite Leiblichkeit Diese Auswahl an Referenzpunkten zu Leiblichkeit – Sexualität, Sport und Gewalt – weist einerseits auf die Vielfalt an Zugängen zu diesem Themenbereich hin, andererseits lässt sich klar die Notwendigkeit aufzeigen, sich als ReligionslehrerIn mit dem Thema ›Leiblichkeit‹ intensiv zu beschäftigen. Nicht zuletzt ist man auch dem Lehrplan verpflichtet; viele Lehrplanthemen sind klar mit ›Leiblichkeit‹ verortet. Die meisten Themen verlangen implizit, dass sich die Lehrperson selbst mit ihrer Leiblichkeit auseinandergesetzt und einen ›Zugang‹ gefunden hat. Die Arbeit am eigenen AuthentischSein, wie sie in der Existenzanalyse beschrieben wird, ist mit verantwortlich, wie SchülerInnen beim ›Ringen um ihre Identität‹ begleitet werden können. Gerade die Veränderungen an Leib und Psyche, die die meisten SchülerInnen an sich selbst erleben, und die tatsächlichen oder erträumten Erfahrungen von ›Lieben und Geliebt-Werden‹ verleihen dem Thema Leiblichkeit oft eine besonders große Bedeutung und erfordern von den Lehrenden Aufmerksamkeit, Feinfühligkeit und pädagogische Kompetenz. Die Ansätze von Frankl und Henry dienen meines Erachtens auch dazu, diese Kompetenz zu fördern und zu erweitern. Unter ›impliziter Leiblichkeit‹ verstehe ich einen Aspekt des ›Inder-Welt-Seins‹ und des ›Im-Leben-Seins‹ des Menschen: Jeder Mensch ist ›da‹, ob er will oder nicht; er empfindet ›sich‹ und er empfindet ›etwas‹ zu jedem Augenblick, ob er will oder nicht; er oder ›etwas von ihm‹ ist für andere sichtbar und spürbar; er kommt in 170 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Leiblichkeit

Resonanz mit seinen Mitmenschen, und diese Resonanz geschieht zunächst zumeist non-verbal; jeder Mensch hat ein Wissen von sich selbst und spürt, dass seine Mitmenschen nur einen kleinen ›Bereich‹ von ihm ›sehen‹ oder ›wissen‹ können, dass ihnen das Wesentliche von ihm verborgen bleibt. In einer Schulklasse wie in jedem anderen Beziehungsgeflecht wirken alle Faktoren zugleich und führen zu verschiedenen Dynamiken, die niemand vollständig kennen und durchschauen kann. Das Wissen um dieses Nicht-Wissen verbindet alle ›Anwesenden‹. Das ›Spiel‹, so zu tun, als ob man das meiste von dieser Dynamik wüsste oder sie gar durchschaute, zeigt oftmals Machtverhältnisse auf, die viel Leid bewirken können. Existenzanalyse und Lebensphänomenologie bieten unterschiedliche Zugänge, dieses leibliche Da-Sein besser zu verstehen; einige wesentliche Akzente seien hier genannt. Für die Existenzanalyse ist Da-Sein »etwas Selbstverständliches« 76 , und zwar für Menschen mit dem uneingeschränkten und bejahten Grundgefühl »Ich bin da!« 77 Ich gehe hier nicht auf die Vielzahl an möglichen Grundwertstörungen ein, die dieses ›Ich bin da – und das ist gut so!‹ beeinträchtigen bzw. zerstören können, wenngleich nicht wenige SchülerInnen von solchen Störungen betroffen sind und einer therapeutischen Hilfe dringend bedürften. Wesentlich ist, dass das Dasein mit Raum-Nehmen 78 verbunden ist: Der Mensch braucht Raum für sein Eigenes und will seinen Raum selbst gestalten. ›Raum‹ hat in diesem Zusammenhang immer eine physikalische und eine existenzielle Dimension. Implizite Leiblichkeit in einer Schulklasse beinhaltet dieses selbstverständliche Raum-Einnehmen jeder Schülerin und jedes Schülers. Mit diesem Raum-Einnehmen sind viele Fragen und zum Teil auch Probleme verbunden, von denen hier einige stellvertretend genannt werden: • • • •

76 77 78

Kann sich jede/r in der Klasse ihren bzw. seinen Raum nehmen? Was geschieht, wenn sich jemand zu viel Raum nimmt? Was geschieht, wenn sich jemand zu wenig Raum nimmt? Wie geht man mit Übergriffigkeit und wie mit Raumnot um?

Khinast: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 194. Ebd. S. 194. Vgl. ebd. S. 195–202.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Es ist wichtig, für diese Fragen im Unterricht sensibel zu sein; die (implizit) leibliche Dimension verweist immer auf ein größeres Ganzes. Frankl als Therapeut kannte neben den Grundwertstörungen auch die Selbstwertstörungen, die immer auch eine leibliche Dimension haben und, wenn sie in einer Schulklasse auftauchen, die gesamte Klassengemeinschaft betreffen können. Sieht man von den möglichen Störungen in Bezug auf Grundwert oder Selbstwert ab, dann gibt es in jedem Klassenzimmer ein enormes Potenzial an Leiblichkeit: Alle SchülerInnen und die jeweilige Lehrperson bilden gemeinsam dieses Potenzial an Begegnungen, Erfahrungen, Störungen, Reibungen, Verletzungen und anderes mehr. In der Diktion von Frankl bedeutet das ungeahnte Möglichkeiten: »Das Leibliche ist bloße Möglichkeit. Als solche ist es irgendwie offen nach etwas, das diese Möglichkeit verwirklichen könnte.« 79 Die Analyse von Julia Scheidegger zu Henrys Begriff der Transzendentalen Leiblichkeit sei hier noch einmal aufgegriffen und vertieft. Die jedem Menschen innewohnende Gewissheit, Leib zu sein, könne kein empirisches Wissen ›von etwas‹ sein, sie entspringe der transzendentalen Wissensquelle, der »vor aller Welt- und Selbstwahrnehmung erlebten Erfahrung der Identität meiner Subjektivität mit meiner Leiblichkeit«. 80 Diese Erfahrung sei vor allem unmittelbar, und ihr Gehalt sei die Empfindung der Kraft. Daraus entspringe die bereits erwähnte Redeweise vom ›Ich kann‹, die man auch als ein ›Sich-wissen‹ bezeichnen könne. Henry frage nach der allen transzendentalen Erfahrungen eigenen Struktur, also nach der Ermöglichungsstruktur, und dies sei die Selbstaffektion, die »sowohl aktiv setzend als auch passiv empfangend ist«. 81 Zuletzt nennt Scheidegger noch zwei Aspekte von Henrys Leiblichkeit: »Wille und Leib bilden eine Einheit«, 82 was der leiblichen Subjektivität als das Sich-Wissen entspreche, und schließlich die für jeden Menschen relevante Erkenntnis, dass der Leib die primäre Form von Gedächtnis sei: »Das leibliche Gedächtnis ist die Gesamtheit der je erfahrenen Kraftempfindungen.« 83 Im Fokus dieser Überlegungen steht die implizite Leiblichkeit

79 80 81 82 83

Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 111. Scheidegger: Transzendentale Leiblichkeit. 2012. S. 103. Ebd. S. 105. Ebd. S. 108. Ebd. S. 108.

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Leiblichkeit

von Schülerinnen und Schülern in einer Klasse. Die Erkenntnisse der Lebensphänomenologie erscheinen mir hier als besonders wertvolle Zugangsweise zu den diversen Phänomenen, die im Lauf einer Schulstunde auftauchen können. Wenn sich eine Lehrperson mit den Themen ›Selbsterscheinen unserer Subjektivität‹, ›Identität von Subjektivität und Leiblichkeit‹ bzw. mit dem ›leiblichen Gedächtnis aller erfahrenen Kraftempfindungen‹ auseinandergesetzt hat, kann sie eventuell anders und kompetenter auf Bedürfnisse oder Störungen, die den Unterrichtsfluss unterbrechen, eingehen. Frankl und Henry gehen von je verschiedenen Fragestellungen aus, verfolgen mit ihren Denkansätzen unterschiedliche Ziele und stellen ein großes Repertoire des Verstehens zur Verfügung, das, je nach Lehrerin bzw. Lehrer und je nach Situation zu verschiedenen Handlungsmöglichkeiten im Unterricht einlädt.

5.7.5. Caro cardo salutis Als Abschluss des Kapitels ›Leiblichkeit‹ soll noch eine direkte Verbindung zur Theologie hergestellt werden, durch die die Thematik von einer anderen Seite noch einmal beleuchtet wird. »caro salutis est cardo« 84 [»Das Fleisch (bzw. der Leib) ist der Angelpunkt des (Seelen-)Heils.«], so formuliert es der altkirchliche Autor Tertullian am Anfang des dritten Jahrhunderts. Er hat das Ostermysterium auf diese Formel gebracht. Wenn auch Tertullian im Kontext seiner Zeit im Denken von Hölle und göttlicher Rache stark verhaftet blieb, so hat er, der sich unter anderem gegen gnostische Häresien artikulieren musste, dennoch etwas Wichtiges gesehen und zur Sprache gebracht: ›Ohne Leib geht nichts!‹ – am Fleisch vorbei gibt es kein Heil. ›Der Leib ist der Angelpunkt des Heils‹ oder, wie in anderen Übersetzungen: ›Der Leib ist der Schlüssel zum Heil, er ist die Türangel zum Heil‹. Ein Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist der Satz im Johannesprolog: »Und das Wort ist Fleisch geworden« (Joh 1,14). Gott ist in Jesus von Nazaret ein ›eingefleischter‹ Mensch geworden. Der Geist muss sich inkarnieren in uns, sonst geht unsere Menschwerdung ins Leere. Wenn man diese Gedanken angesichts der gegenwärtigen Berichterstattung über die zahlreichen Formen von Gewalt in 84

Tertullian: De ressurectione mortuorum VIII,3.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

unserer Welt, angesichts von Esoterik und fortschreitender Technisierung betrachtet, dann bekommt die Theologie, die die Leiblichkeit des Menschen ganz ernst nimmt – und vielleicht auch dazu beiträgt, dass die Menschen einander mit ›österlichen Augen‹ begegnen und sehen – eine brennende Aktualität. Viele Menschen geben dem Intellekt, einer vermeintlichen Spiritualität oder dem Primat, dass der Körper ›funktionieren‹ muss, einen so hohen Stellenwert, dass unser Leib – in allen seinen Bezügen, die hier mitgedacht werden sollen – immer mehr auf der Strecke bleibt. Gefühle, Leidenschaften und Bedürfnisse werden in vielen Kontexten ignoriert; man ist versucht zu sagen: Sie werden ›eingeklammert‹ oder ›ausgeklammert‹ in einem ontologischen(!) Sinn und nicht im phänomenologischen Sinn. Die Lebensphänomenologie spricht vom ›Einklammern von Welt‹ 85 , damit das Leben und die Lebendigkeit den Stellenwert bekommen, den sie vom Leben her haben: das Leben in Fülle. Und das gilt für jeden Menschen, für den kerngesunden und für den an Krebs erkrankten, für den sportlichen und für den bettlägerigen. Dieses Leben in Fülle – es sei deutlich darauf hingewiesen, dass nicht von der ›Welt in Fülle‹ die Rede ist, weder in der Bibel noch in der Lebensphänomenologie – ist uns nur im Fleisch gegeben. Und dieses Leben, so Michel Henry in unzähligen Textstellen, dränge permanent zur Selbststeigerung.

5.8. Wenn das Leben nicht mehr fragt Die bereits mehrfach genannte kopernikanische Wende Viktor Frankls, dass nicht wir das Leben fragen, sondern dass das Leben uns fragt und unser Person-Sein sich im Antworten ausdrückt, vermittelt zunächst etwas Befreiendes und Realistisches. Befreiend ist die Aufwertung der eigenen Freiheit und der Möglichkeit, Verantwortung als Antwort bzw. als ein Antworten zu verstehen. Realistisch ist der Umstand, dass es keine eindeutige Größe ›Leben‹ gibt, die eine Antwort auf eine Frage geben kann, es sei denn, jemand hört eine innere Stimme, die er als Stimme des Lebens oder als Stimme Gottes versteht oder deutet. Oder jemand deutet den Ratschlag eines Mitmen»Einklammern« (Epoché) in Bezug auf Leib oder Gefühl bedeutet lebensphänomenologisch nie ein ›Vergessen‹ oder ›Zerstören‹ dieser ›Wirklichkeiten‹, sondern es bedeutet eine Reduktion auf das jeweilige Phänomen in seinem Erscheinen.

85

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Wenn das Leben nicht mehr fragt

schen als ›Antwort des Lebens‹ oder als ›Antwort Gottes‹ auf eine Frage. Also ist es konsequent gedacht und realistisch, dass mir kein Außen eine Antwort auf meine drängenden existenziellen Fragen geben kann, sondern dass ich selbst danach ›suchen‹ muss, wie ich mich in dieser oder jener Lebenssituation verhalten werde. Die Formel ›Das Leben fragt uns – wir antworten‹ kann auch als etwas Belastendes empfunden werden. Sie kann als ein drohender Appell an unsere Verantwortung verstanden werden, eine sinnvolle Antwort auf drängende existenzielle Fragen finden zu müssen. In diesem Muss liegt oftmals eine Schwere, die zu tragen eine große Bürde darstellen kann, denn nicht jeder Mensch findet immer eine Antwort, die dem Appell gerecht wird. Bezogen auf das Umfeld Schule machen viele LehrerInnen die Erfahrung, dass manche Schülerin bzw. mancher Schüler direkt oder indirekt das Empfinden äußert: ›Mich hat niemand gefragt, auch das Leben nicht!‹ Oder anders formuliert: ›Ich bin nicht gefragt – von mir will niemand etwas!‹ Ist die Formel von Frankl, dass das Leben uns fragt, vielleicht zu idealistisch? Gilt die Formel nur für den ›Normalfall‹ und nicht in schweren Lebenssituationen? Es wäre wohl zu einfach, bei dieser knappen und eindimensionalen Art des Fragens stehen zu bleiben und diese Fragen mit einem einfachen ›Ja‹ oder ›Nein‹ abzutun: Wenn man sich intensiv mit der Existenzanalyse und mit der Logotherapie auseinandersetzt, wird deutlich, wie sehr sich Frankl mit den außergewöhnlichen und schweren Lebenssituationen beschäftigt und versucht hat, ein therapeutisches Repertoire zu entwickeln, das eben diese Situationen in den Blick nimmt. Nicht zuletzt schreibt er ausführlich über die »noogene Neurose« 86 , über existentielle Frustration, über das Sinnlosigkeitsgefühl und über das »existentielle Vakuum«. 87 Allein diese starken Vokabeln lassen meines Erachtens den einfachen Vorwurf nicht zu, Frankl wäre schlechthin zu idealistisch. Dennoch drängt sich auf, folgende Fragen zuzulassen: Was geschieht, wenn das Leben nicht (mehr) fragt? Was geschieht, wenn jemand es so empfindet, dass das Leben nicht (mehr) fragt? Günter Funke stellt aus seiner therapeutischen Praxis-Erfahrung heraus fest, 88 dass sich die soziokulturelle Situation seit Frankls Sinnhervorhebung verschoben habe; Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 16 f. und 32 f. Vgl. ebd. S. 18 ff. 88 Vgl. Funke, Günter/Kühn, Rolf (Hg.): Einführung in eine phänomenologische Psychologie (Seele, Existenz und Leben, Bd. 1). Freiburg/München 2005. S. 107. 86 87

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es gehe – zumindest in der westlichen Welt – nicht mehr ums Überleben, sondern um ein erfülltes individuelles Lebensgefühl. »Ziele und Sinnreferenzen sind in unserer gegenwärtigen Zivilisation mit interkulturellen Verschiebungen tausendfach vorhanden und können mit größter Freizügigkeit ergriffen werden – und doch erscheinen sie vielen zumeist als tot.« 89

Das bedeutet, dass die tausendfachen Sinnreferenzen für viele Menschen oftmals nicht in eine Sinnerfahrung einmünden, sondern geradezu das Gefühl von ›tot‹ mit sich bringen können. An anderer Stelle 90 wird festgehalten, dass man bei Frankl geniale Vorgriffe auf noch Ungedachtes erblicken könne, er jedoch in der Metaphysik mit Heidegger und Scheler verharre, indem er letztlich noch äußere Gegebenheiten als Vergleichspunkte für Wert und Sinn angebe. Die Radikale Lebensphänomenologie von Michel Henry gehe hier einen wichtigen Schritt weiter, indem sie von der selbstaffektiven Gewissheit spreche, »welche in keiner Situation jemals fehlt, ohne diese intentional durch ein Sollen beherrschen zu müssen – und somit das eigene Sinnerlebnis möglicherweise wieder vom Leisten abhängig zu machen.« 91

Der entscheidende Kritikpunkt an Frankls Denken besteht somit darin, dass Logotherapie und Existenzanalyse als ein ›Leisten-Müssen‹ des eigenen Sinnerlebnisses verstanden werden könnten. Die von Michel Henry so beharrlich kritisierte ›Intentionalität‹ wird im obigen Text ebenfalls bemüht, wenn vom intentionalen Beherrschen einer Situation durch ein Sollen die Rede ist, was bei Frankl dezidiert zu lesen ist. Kann man ein eigenes Sinnerlebnis ›leisten‹ ? Muss man es ›leisten‹ ? Beinhaltet die Existenzanalyse ein ›Sollen‹ in Bezug auf Sinnerfahrung? Solche Fragen, abgesehen von der letzten, die sich speziell auf Frankls Existenzanalyse bezieht, haben in der Schule eine Relevanz, denn ein Lernen ohne Sinnerfahrung ist auf Dauer unproduktiv bzw. nur unter größter Anstrengung möglich. Was sollen SchülerInnen ›tun‹, wenn ihnen für dieses oder jenes Fach die notwendige Sinnerfahrung fehlt? Was können LehrerInnen ›tun‹, wenn sie das wahrnehmen und die SchülerInnen gerne in diesem Vakuum

89 90 91

Ebd. S. 107. Vgl. ebd. S. 107. Ebd. S. 110.

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begleiten bzw. sie gerne aus dem Vakuum herausbegleiten möchten? Im Band 1 von »Seele, Existenz und Leben« wird für einen Perspektivenwechsel plädiert, der das Anliegen aufgreift, von diesem Sollen in Bezug auf Sinnerfahrung Abstand zu nehmen: »Das psychologisch oder therapeutisch zu vermittelnde Grundgefühl scheint uns daher weniger zu sein: ›Ich soll, weil ich will‹, sondern ›Ich kann, weil ich ein Lebendiger bin‹. Dadurch tritt eine Gelassenheit ein, die nicht weiter in irgendeinem Ver-messen mit dem Äußeren ruht, wäre es Wert oder Sinn, sondern in einer selbstaffektiven Gewißheit.« 92

Dieses ›Ich kann, weil ich ein Lebendiger bin‹ ist ein Kerngedanke der Lebensphänomenologie von Michel Henry, die von mehreren Autoren als eine mögliche Fortführung von Frankls Existenzanalyse gesehen wird. Der folgende Abschnitt dieses Kapitels reicht deutlich über Pädagogik hinaus; in ihm kommen therapeutische Erfahrungen im Hinblick auf Menschen zur Sprache, die von Leid so gezeichnet sind, dass sie ›dieses‹ Leben nicht mehr ertragen wollen oder können. Der Bezug zur Schule ist hier dennoch zweifach gegeben: Zum einen kommen verschiedene Erfahrungen von unerträglichem Leid im Religionsunterricht nicht selten zur Sprache in Bezug auf Schicksale, mit denen man sich auseinandersetzt; zum anderen trifft es manche Schülerin bzw. manchen Schüler selbst, so zu empfinden. In meiner Biografie als Religionslehrer gab es einen Suizid eines Schülers, dessen Klassenvorstand ich war; dieses ›Ereignis‹ hat sowohl die Mitschüler des Betroffenen als auch mich sehr beschäftigt. Zum Teil waren wir durch die von uns so empfundene Unbegreiflichkeit dieses Ereignisses überfordert und mit einer Reihe von Fragen konfrontiert, die wir zum Großteil nicht beantworten konnten. Aus heutiger Sicht – dieser Suizid liegt 20 Jahre zurück – denke ich über die damalige Situation etwas anders; die Beschäftigung mit Viktor Frankl und Michel Henry eröffneten neue Perspektiven auf solche schweren Themen. Vor allem die therapeutischen Dimensionen der Radikalen Lebensphänomenologie lassen die vielen Fragen von damals in einem neuen Licht erscheinen.

92

Ebd. S. 110.

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5.8.1. Selbstverneinung – Das Leben kehrt sich gegen sich selbst Die Prämissen der Radikalen Lebensphänomenologie seien hier kurz und prägnant wiedergegeben; die einzelnen Aspekte wurden im Lauf dieser Arbeit bereits genauer skizziert. •





• • •



Leben als transzendentales Phänomen gründet für Henry in der sich niemals in der Sichtbarkeit offenbarenden ›Nacht des Bewusstseins‹. Leben ist kein Gegenstand der Anschauung bzw. der Vorstellung, es kann nicht intentional ›gewählt‹ werden und entzieht sich der Entscheidbarkeit. Das Leben muss ausgehalten bzw. ertragen werden, denn wir können unser Leben nie abstellen. Auch in der aussichtslosesten Lage kann man sich seiner Lebendigkeit nicht entziehen, dieses Leben kann sich nicht von sich distanzieren. Das Wissen um die eigene Lebensabhängigkeit verlässt den Menschen nie. Zur ursprünglichen Gegebenheit des Phänomens Leben gehört seine Selbsterhaltung, die Selbstbejahung. Das Leben will sich ständig steigern, Steigerung bedeutet Kultur, das Gegenteil von Steigerung bedeutet Barbarei. Die Selbststeigerung des Lebens vollzieht sich als Durchquerung des Erleidens hin zum Erfreuen; dieses Durchqueren bedeutet Anstrengung. Leiblichkeit ist unser Zugang zur Welt als Leibpotenzialität, die mit dem impressionalen Fleisch des absolut phänomenologischen Lebens identisch ist.

Alle diese Aspekte verweisen auf eine »unveräußerliche Innerlichkeit« 93 , auf eine radikale Immanenz, die bezogen auf das absolut phänomenologische Leben kein Widerspruch zur Transzendenz ist: ›Lebensimmanenz und Existenztranszendenz‹ sind hier vereint, anders ausgedrückt: »Die Transzendenz der Ek-sistenz beruht somit auf einer radikalen Lebensimmanenz.« 94 Diese Innerlichkeit bezeichnet Henry als Selbstaffektion des Lebens. Ausgehend von diesem Befund kann weiter gefragt werden, welHenry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 38. Funke u. a. (Hg.): Einführung in eine phänomenologische Psychologie (Seele, Existenz und Leben, Band 1). Freiburg/München 2005. S. 107.

93 94

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che Dynamik ausgelöst wird, wenn Lebensumstände dazu führen, dass die Lebensbejahung in eine Lebensverneinung umschlägt, zum Beispiel durch Traumatisierungen. Was geschieht, wenn die Durchquerung des Erleidens zum Erfreuen hin nicht gelingt, wenn ein Mensch das Leben nicht als nährend erfährt und dieser Situation nicht standhalten kann? »Wenn die mir aufgezwungene Situation sich mit aller Mächtigkeit als eine unbestehbare Ungeheuerlichkeit vor mir aufbaut? Wenn ich nicht fliehen kann? Wenn ich Leid und Anstrengung der Durchquerung nicht ertragen kann?« 95

In dem Kapitel »Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten des traumatischen Geschehens auf der Basis lebensphänomenologischer Betrachtung« 96 aus Band 3 von »Seele, Existenz und Leben«, dem diese Fragen entnommen sind, werden Erfahrungen aus der TraumaTherapie geschildert, deren Kenntnisse auch außerhalb von therapeutischen Kontexten hilfreich sein können, um seelische Verletzungen und deren Folgen besser verstehen zu können. Traumatisierte Menschen würden es als Schock erleben, dem reinen Leid ausgeliefert zu sein und darin gehalten zu werden. Da das Leben nicht aufhören könne, lebendig zu sein, gebe es einen Stau durch die Immobilität. Die Last werde in jedem Augenblick schwerer, da sich die Energie in keinem Augenblick in das Erfreuen umkehren könne. Aus dieser Situation extremer Spannung wolle sich das Individuum befreien, was nicht möglich sei. Da das Leben in sich eine Urmächtigkeit sei, würden Menschen in traumatischen Situationen die ausweglose Ohnmacht umso quälender erfahren. Nichts sei schlimmer als Opfer zu sein. Und nun vollziehe sich auf einer ersten Ebene der Umschlagpunkt von der Selbstbejahung in die Selbstverneinung. Da sich das Leben in seiner Steigerung verwirklichen wolle, ändere sich die Fließrichtung in Lebensverneinung. »Das gegen sich selbst gerichtete Leben mit seinem unverminderten Steigerungsbegehren wird zum ›Sog‹. […] [Dieser] meldet sich in partiellen ›Dammbrüchen‹, die selbstschädigendem Verhalten jeglicher Art die Tore öffnen.« 97 Brookmann, Susanne: Leben im Trauma. Zur Bewegung der Lebenssteigerung bei Traumatisierung. In: Funke, Günter/Kühn, Rolf/Stachura, Renate (Hg.): Existenzanalyse und Lebensphänomenologie (Seele, Existenz und Leben, Bd. 3). Freiburg/ München 2006. S. 77. 96 Vgl. Brookmann: Leben im Trauma. 2006. S. 75–87. 97 Ebd. S. 82. 95

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Die Umkehrbewegung von Lebensbejahung in Lebensverneinung weite sich kontinuierlich aus, bis sie zum ›Sprung außerhalb von sich‹ führe als einzigem Mittel, diesem Vorgang ein Ende zu setzen. Die folgende Unterscheidung ist nun von großer Bedeutung. Eine ›Möglichkeit‹, der Unerträglichkeit ein Ende zu setzen, besteht im Suizid. Erstaunlicherweise gehen die meisten traumatisierten Menschen diesen Weg nicht. Obwohl der Versuch, die Situation an dieser Stelle durch Suizid zu entspannen, sehr nahe liege, lasse das Leben die Betroffenen auch in dieser Verzweiflung nicht los. In dieser Geste einer im Tiefstpunkt durchgehaltenen Hinwendung zum Leben »scheint im Abgrund selbst eine Transparenz auf, die den Blick auf die Wesenswahrheit des Lebens freigibt: ›Die Barbarei zeigt sich damit als das, was sie ist: die Aufrechterhaltung des Lebens inmitten seines Vorhabens, vor sich zu fliehen und sich zu zerstören.‹« 98

Diese Ungeheuerlichkeit wird als »Durchgang durch den Nullpunkt, durch das Nadelöhr der Ohnmacht und der Verzweiflung« 99 bezeichnet. Die Lebensverneinung offenbare sich in ihrem tiefsten Wesen als Selbstbejahung, als Lebensselbsterhaltung. Nur im ›Abgrund‹ könne der ›Grund‹ erscheinen, der Überlebenden ermögliche, mit ihrer Lebensbejahung wieder in Kontakt zu kommen, »ihren Grund in sich [zu] finden, und nach und nach diese fremde Sprache verstehen [zu] lernen, mit der ihre Lebendigkeit im phänomenologischen Sinne sich ihnen mitteilt. Im ›Grund‹ verschwindet der ›Abgrund‹ – und nur im ›Abgrund‹ kann der ›Grund‹ erscheinen.« 100

So könne sich Lebensverneinung langsam wieder in Lebensbejahung verwandeln; die Fähigkeit des Menschen, die das ermöglicht, ist in seiner Resilienz begründet. Man geht davon aus, dass in jedem Menschen diese Selbstheilungskräfte vorhanden sind, die unter anderem durch therapeutische Anregung und Unterstützung mobilisiert werden können. Die Nervenärztin und Psychoanalytikerin Luise Reddemann hat sich eingehend mit dem Phänomen ›Trauma‹ bzw. mit traumatisierten Menschen beschäftigt und gilt als eine der hochqualifiziertesten Trauma-Therapeutinnen Deutschlands. In ihrem Buch »Überlebens-

Ebd. S. 86. Ebd. S. 86. 100 Ebd. S. 91. 98 99

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kunst« 101 schildert sie ausgiebig, wie Johann Sebastian Bach im Komponieren seine Resilienz ›entdeckt‹ bzw. ›mobilisiert‹ habe. Bach war bereits als junger Mann mit dem Tod von mehreren Familienmitgliedern konfrontiert (Eltern, Brüder, Kinder, Ehefrau), fiel dadurch mehrmals in tiefste Verzweiflung und konnte, so Reddemann, durch Musik, insbesondere durch das Komponieren von Kantaten, wieder Boden unter den Füßen spüren. Im Abgrund fand er offenbar den Grund zur Selbstbejahung und konnte weiterleben. Dieser knappe Exkurs in die Trauma-Therapie scheint mir wichtig zu sein, um die eigene Wahrnehmung zu schärfen, wenn es im schulischen Kontext um echte Verzweiflung geht, um das ›Nichtmehr-aushalten-Wollen‹ von schweren Belastungen, von Formen der Selbstzerstörung oder um das Empfinden von Betroffenen, dass sich das Leben gegen sie bzw. gegen sich selbst gerichtet hat. Frankl und andere Therapeuten bzw. Therapeutinnen haben Trauma-Überlebende als Heldinnen und Helden einer Reise bezeichnet, 102 die stellvertretend für uns den Abgrund extremer Gewalterfahrung erkundet hätten. Ein abschließender Gedanke sei noch den Nicht-Überlebenden gewidmet, also jenen Menschen, die durch Suizid aus dieser Welt geschieden sind. Es bleibt wohl ein ›Geheimnis‹, ein ›transzendentales Geheimnis‹, was ihr Aus-der-Welt-Gehen für das absolute Leben bedeutet, was das absolute Leben über ihr Tun ›sagen‹ würde, wenn sich das Leben im Horizont der Welt endgültig gegen sich selbst gerichtet hat. Diese Gedanken, die auch meinem ehemaligen Schüler gewidmet sind, sollen hier eine offene Frage bleiben.

5.8.2. Leben ohne Warum – Das Leben als absoluter Selbstwert »Und wiederum ist kein Leben so schlimm noch so beschwerlich, dass der Mensch nicht dennoch leben wolle […] Aber: Warum lebst du? Um des Lebens willen, und du weißt dennoch nicht, warum du lebst. So begehrenswert ist das Leben in sich selbst, dass man es um seiner selbst willen begehrt.« 103

Für Michel Henry ist Meister Eckhart eine lebensphänomenologische Quelle. In seinen Schriften findet er aus der Sicht der Mystik eine 101 Vgl. Reddemann, Luise: Überlebenskunst. Von Johann Sebastian Bach lernen und Selbstheilungskräfte entwickeln. Stuttgart 3 2007. S. 59–131. 102 Vgl. ebd. S. 97 f. 103 Meister Eckhart: zitiert nach Henry: Inkarnation. 2002. S. 353 f.

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Bestätigung bzw. Bestärkung seiner radikalen Sichtweise des Lebens, das in sich kein Außen zulässt, weil es dieses letzte Prinzip an Rechtfertigung in sich trägt. Die Beschäftigung mit existenziellen Fragen weckte stets vorrangig mein Interesse und führte auch zum Studium der Theologie und Religionspädagogik und zur Lebens- und Sozialberatung. Der Religionsunterricht als genuiner Ort für existenzielle Fragen förderte die eingehende Auseinandersetzung mit Themen von existenzieller Bedeutung. Im Rahmen der Ausbildung zum Lebens- und Sozialberater standen solche Themen selbstverständlich auch im Vordergrund. Für alle meine Lebensbereiche, seien sie beruflich oder privat, bedeutete die Auseinandersetzung mit der Existenzanalyse und mit der Radikalen Lebensphänomenologie einen erheblichen Mehr-Wert und eine spürbare Kompetenzerweiterung nicht zuletzt dadurch, dass diese beiden Richtungen ein Repertoire an Einsichten und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, an schwierige Themen besser herangehen zu können. Die Überzeugung bzw. Einsicht von Meister Eckhart, dass das Leben kein Warum braucht bzw. zulässt, da Gott kein Warum außer und neben sich hat, ist seit längerer Zeit zu meiner eigenen Überzeugung geworden. In der Existenzanalyse wird vor allem die Frage nach dem Umgang mit Leid in Beziehung zu Warum-Fragen gesetzt. Michel Henry bezieht sich direkt auf Meister Eckhart und dessen viel zitierten Ausspruch »Das Leben ist ohne Warum. Das Leben ist gut« 104 , der die Überschrift eines eigenen Kapitels im Werk »Inkarnation« bildet. Bereits vor dem Theologie-Studium und vertieft im und nach dem Studium beschäftigte ich mich mit dem Problem der Theodizee, und diese von so vielen Menschen so drängend gestellte Theodizee-Frage erfuhr für mich durch die Auseinandersetzung mit Viktor Frankl und Michel Henry einen Perspektivenwechsel: Ich bekam einen neuen Zugang zu diesem Thema, auch durch das Studium von theologischer Fachliteratur. Im Folgenden seien einige Thesen genannt, die diesen Zugang verdeutlichen. •

Die Frage nach der ›Gerechtigkeit‹ Gottes kann nicht befriedigend beantwortet werden. Die Frage nach dem Warum von Leid ist ›falsch‹ gestellt, da sie auf kein ›geeignetes‹ Gegenüber trifft.



104

Henry: Inkarnation. 2002. S. 351.

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Die Frage ›Warum lässt Gott das Leid zu?‹ geht von einem unzureichenden, einseitigen und letztlich falschen bzw. unbiblischen Gottesbild aus. Die Frage nach dem Warum (von erlittenem Leid und von vielen anderen menschlichen Gegebenheiten) führt in die Irre, weil sie nicht beantwortet werden kann, daher ist es wichtig, daran zu arbeiten, diese Frage nicht mehr zu stellen zu müssen. Hier wird selbstverständlich nicht davon gesprochen, dass Medizin, Politik, Wirtschaft, Religion, Soziologie und viele andere Wissenschaften ihre ganze Kraft daran setzen sollen, vermeidbares Leid zu vermeiden. Gott – so man überhaupt ›adäquat‹ von Gott ›sprechen‹ kann – ›weiß‹ nicht warum. 105 Er leidet mit – zum Beispiel mit den Opfern eines Tsunamis, den Opfern eines Flugzeugunglücks, Kriegsopfern und Opfern jeglicher Gewalt, er leidet mit jedem Opfer mit, mit jedem Menschen, der leidet – aus welchem Grund auch immer. Wir haben – ganz in der Tradition von Fluchpsalmen – ein Gegenüber für unsere Verzweiflung, für unsere Anklage, für unsere Hilflosigkeit. Wem sonst sollen wir denn unser Leid entgegenbrüllen außer diesem Gott, von dem die Bibel sagt, dass er sah, dass alles sehr gut war? Durch das Ausdrücken von Leid, durch einen Verzweiflungsschrei analog zu »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34), geschieht ein ›therapeutischer‹ Prozess, vorsichtiger gesagt, es kann einer geschehen. Und ›Gott‹ steht in diesem Prozess, er ist ja auch der ›Schöpfer‹ der Resilienz. Der Satz »Warum hast du mich verlassen?« beinhaltet zwar – zumindest sprachlich – eine Warum-Frage, jedoch muss dieses WARUM, das gläubige Juden in ihrer Verzweiflung und angesichts des Todes artikuliert oder gestammelt haben, in einem größeren Kontext gelesen bzw. verstanden werden: Erstens ist es der erste Vers aus dem Psalm 22 und somit ein Gebet; zweitens bleibt dieses Gebet nicht im Warum verhaftet, sondern führt weiter zur Bitte »Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe / und niemand ist da, der hilft.« (Ps 22,12); drittens endet der

105 Diesen Gedanken hat Günter Funke angesichts der Brandkatastrophe der Gletscherbahn in Kaprun formuliert, bei der am 11. November 2000 155 Menschen gestorben sind.

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Psalm mit einem Ausdruck des Vertrauens »Vom Herrn wird man dem künftigen Geschlecht erzählen / seine Heilstat verkündet man dem kommenden Volk / denn er hat das Werk getan.« (Ps 22,31); schließlich bleibt die intime Beziehung des diesen Psalm betenden Menschen zu Gott ›in der Nacht des Fleisches‹ verborgen: Dieses letzte Geheimnis lässt sich nicht ›ans Licht zerren‹. In diesem Psalm 22 lässt sich somit die Bewegung nachzeichnen, dass eine verzweifelte Warum-Frage an Gott menschlich verständlich, vielleicht notwendig und wahrscheinlich ›normal‹ ist, sich jedoch durch das Vertrauen in Gott bzw. ins Leben schließlich ›beruhigen kann‹ und nicht mehr gestellt werden muss.

Diese Thesen beziehen auch einige Gedanken von Emmanuel Lévinas 106 mit ein, der aus seiner Biografie heraus von der Sinnlosigkeit von Warum-Fragen spricht. Er geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft und kam in ein Lager in der Lüneburger Heide. 1945 erfuhr er, dass seine Eltern und Brüder in Litauen der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik zum Opfer gefallen waren. Seine Auseinandersetzung mit Gewalt, speziell in Zusammenhang mit Konzentrationslagern, durchdringt sein gesamtes Werk und seinen Zugang zu Ethik. »[Der Mensch] kommt zu spät in eine ohne ihn geschaffene Welt und ist verantwortlich über seine Erfahrungen hinaus.« 107 Lévinas spricht gar von einem »archaischen Trauma diesseits der Selbstaffektion und der Selbstidentifikation. [Dies sei] [a]ber [ein] Trauma der Verantwortlichkeit und nicht der Kausalität.« 108

Die Ethik, die Lévinas in seinen Vorträgen und Schriften vertritt, ist eine Ethik der Verantwortlichkeit, die sich von Frankls Konzept der Verantwortung stark unterscheidet: Verantwortung wird hier nicht als ›Antwort‹ auf eine Frage des Lebens verstanden, sondern als »Geiselhaft« 109 ohne Kausalität in Bezug auf die dem Menschen vorgegebenen Situationen und ohne Kausalität in Bezug auf jene Menschen, Emmanuel Lévinas (1906–1995): französisch-jüdischer Philosoph und Autor. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg/München 6 2012. S. 325. 108 Ebd. S. 326. 109 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg 1992. S. 260 f. 106 107

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denen man dort begegnet. Die Frage, die sich daraus für jeden Menschen ergeben könnte, lautet: Wie gehe ich in meiner Biografie, in meinen Begegnungen, mit dieser ›Tatsache‹ um, dass ich ›zu spät in eine ohne uns geschaffene Welt‹ komme? Führt mich das – Lévinas bezieht sich auf das »Trauma von Ijob« 110 – näher hin zum Glauben an Gott oder führt mich das eventuell weiter weg von dem, was wir als ›Glauben an Gott‹ bezeichnen? Diese Fragen, die ich offen lassen möchte, können, wie viele andere Fragen auch, den Blick auf wichtige Erfahrungsfelder in unserem Leben schärfen, vor allem auf dunkle Erfahrungen. Sie können ein Motor sein für die eigene Lebensführung, sie können ein besseres Verständnis für jene Menschen ermöglichen, die uns schwerer oder sogar nicht zugänglich sind. Und es sind Fragen, die im Religionsunterricht einen Platz haben, in dem jeder existenziellen Frage Raum gegeben werden sollte, unabhängig davon, ob sie beantwortet werden kann oder nicht. Viele dieser Fragen sind wahrscheinlich Warum-Fragen. Wenn LehrerInnen mit SchülerInnen über solche Fragen ins Gespräch kommen, dann ist es wichtig, mehrere Aspekte zugleich im Blick zu haben: • •







110

Die SchülerInnen ›dürfen‹ alle Fragen stellen. Fragen sind oftmals der Einstieg, etwas zur Sprache zu bringen, wovon jemand existenziell betroffen ist; sie bedürfen nicht immer einer Antwort bzw. ›wollen‹ oft gar nicht beantwortet werden. Die Religionslehrerin bzw. der Religionslehrer begleitet die Gespräche personal und existenziell im Sinne Frankls, sensibel im Sinne einer Pädagogik, in der die Lehrperson auch als MentorIn verstanden wird, lebensphänomenologisch im Sinne Henrys, dass das Leben auf Grund der Selbstaffektion keiner Vermittlung bedarf. Die eigene Überzeugung zum jeweiligen Thema ist wichtig und stellt ein Angebot dar, auf das sich SchülerInnen in Freiheit beziehen können. Die ›Absichtslosigkeit‹ eines diakonischen Religionsunterrichts stimmt dabei in Meister Eckharts Formel bzw. Lebensweise ein: Ein Leben ohne Warum – ein Religionsunterricht ohne Warum.

Vgl. Lévinas: Die Spur des Anderen. 2012. S. 325.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Dieses Kapitel »Wenn das Leben nicht mehr fragt« hat mit einer kritischen Frage an Frankl begonnen, ob die Existenzanalyse eventuell zu idealistische Züge trägt. Eine zweite kritische Frage an Frankl betraf die mögliche Last des Sollens, eine Sinnerfahrung vom eigenen Leisten abhängig zu machen. Als Ausweg bzw. Weiterentwicklung wurde aufbauend auf Henry ein Perspektivenwechsel skizziert, der das ›Ich kann, weil ich ein Lebendiger bin‹ in den Vordergrund stellt. Angesichts von Trauma-Erfahrungen wurde die Thematik der Selbstverneinung des Lebens bis hin zum möglichen Suizid in den Blick genommen und auf moderne Trauma-Therapien verwiesen: Überlebende können ihren Selbstheilungskräften letztlich im Abgrund begegnen, wo ihnen der Grund wieder erscheinen kann, denn das Leben kann sich nicht von sich selbst trennen. Dies mündete mit Meister Eckhart und Michel Henry in die Auseinandersetzung mit der Einsicht der Mystik ›Das Leben ist ohne Warum‹, die auch auf die Theodizee-Frage bezogen wurde. Schließlich wurde auf den Mehrwert für den Religionsunterricht hingewiesen, der durch die Beschäftigung mit den beiden dieser Arbeit zugrundeliegenden Denkansätzen Existenzanalyse und Radikale Lebensphänomenologie entstehen kann. Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch der Gedanke skizziert, das Leben als absoluten Selbstwert zu verstehen und es als solchen auch zu verantworten. 111 Das Verständnis des Lebens als absoluten Selbstwert entwickelt weiter, was mit dem ›Leben ohne Warum‹ bereits angesprochen wurde. Es ist eine radikal phänomenologische Reduktion, die noch einmal zum Ausdruck bringen möchte, dass das Leben niemals in den Bereich der Sichtbarkeit oder Vorstellbarkeit gehört. Wenngleich sich diese radikal lebensphänomenologische Formel aus dem Denken Michel Henrys ›logisch‹ ableitet, bedarf sie dennoch der wiederholten Explikation. In ihr bündeln sich die zentralen Aussagen, die in dieser Arbeit eingehend analysiert worden sind. • • •

Ich bin radikal abhängig vom Leben, welches mich als ein Sich gebiert. Dieses Sich ist einzigartig in seiner ursprünglichen Passibilität. Das Leben muss ertragen bzw. ausgehalten werden, ich kann ihm nicht entfliehen.

111 Vgl. Funke u. a. (Hg.): Einführung in eine phänomenologische Psychologie. 2005. S. 107–110.

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Pädagogik



Das Leben ist der Grund selbst, es bedarf keines äußeren Bezugs, sei es Wert oder Sinn, es ruht allein in einer selbstaffektiven Gewissheit.

Günter Funke und Rolf Kühn formulieren »die eigentliche ›Lebensfrage‹ : dieses Leben als absoluten ›Selbstwert‹ zu verantworten.« 112 Im eigentlichen Sinn ist dies keine ›Frage‹ mehr, sondern eine ›Aufgabe‹ jedes Menschen, sein Leben zu verantworten – als absoluten Selbstwert, also ohne eine Außen-Kategorie. Hier schließt sich der Kreis zwischen Henry und Frankl, indem Verantwortung und Selbstwert zueinander in Beziehung gesetzt werden: »Für eine Existenzanalyse oder Psychologie als Lebensphänomenologie […] gibt es keine Vor-schriften mehr, auch die der Trans-zendenz nicht, denn jede Vor-schrift ist nur ein Hinweis auf das Leben, sein ›Können‹ in allem zu bewähren.« 113

5.9. Pädagogik Die in diesem Band analysierten Denkansätze von Viktor Frankl und Michel Henry zielen im Kontext von Schule auf pädagogische Konsequenzen. Da sich Pädagogik bzw. pädagogisches Tun mit der Erziehung von Menschen beschäftigt und sich vor allem auf das Veränderbare konzentriert, muss gefragt werden, woraufhin die SchülerInnen ›erzogen‹ werden und welche ›Veränderungen‹ angestrebt werden sollen. Die Beantwortung dieser Fragen muss mit weiteren Fragen in Verbindung gebracht werden; die folgende Aufzählung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. • • • •

112 113

Welche Ziele verfolgen Schulen? Welche speziellen Rahmenbedingungen werden für verschiedene Schultypen genannt? Welche Ziele nennt der jeweilige Lehrplan für den Religionsunterricht? Welche impliziten oder expliziten Ziele verfolgt eine Religionslehrerin bzw. ein Religionslehrer?

Ebd. S. 109. Ebd. S. 110.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht



• • •

Welche ›Erziehung‹ und welche Ziele durch die Schule und im Speziellen durch den Religionsunterricht erwarten sich die Eltern der SchülerInnen, welche Form von Erziehung lehnen sie ab? Welche ›Erziehung‹ und welche Ziele erwartet sich die Schule selbst bzw. die Schulleitung und die staatliche Schulaufsicht? Welche Ziele bzw. Veränderungen im Hinblick auf die SchülerInnen erhofft sich die kirchliche Schulaufsicht? Welche Ziele bzw. Veränderungen erwartet sich ›die Gesellschaft‹ bzw. erwarten sich einzelne Strömungen oder Teilbereiche der Gesellschaft (Politik, politische Parteien, Wirtschaft, Technik, etc.)?

Der Artikel 29 der ›UN-Konvention über die Rechte des Kindes‹ aus dem Jahr 1989 mit der Bezeichnung ›Bildungszwecke‹ formuliert folgende Ziele, woraufhin die Bildung der Kinder gerichtet sein muss: »Bildung verhilft zur vollen Entfaltung der Persönlichkeit, der Talente sowie der geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes. Bildung bereitet das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben als Bürger in einer freien Gesellschaft vor und fördert die Achtung des Kindes vor seinen Eltern, seine kulturelle Identität, aber auch Toleranz und Verständnis für die Wertvorstellungen anderer Menschen.«

Die entscheidenden Größen in diesem Text sind ›Persönlichkeitsentfaltung‹, ›Verantwortungsbewusstsein‹ im Sinne der Demokratie, ›kulturelle Identität‹ und ›Toleranz‹. Dieser Artikel mit den Kinderrechten soll nun dem sogenannten »Zielparagraphen« 114 , dem § 2 des Österreichischen Schulorganisationsgesetzes aus dem Jahr 1962 gegenübergestellt werden: »Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen

114 Der § 2 des Schulorganisationsgesetzes wird kurz als »Zielparagraph« bezeichnet. Er gilt für alle allgemeinbildenden und berufsbildenden Pflichtschulen, mittleren Schulen und höheren Schulen sowie für die Anstalten der Lehrerbildung und der Erzieherbildung. Ausgenommen vom Geltungsbereich sind lediglich die Land- und forstwirtschaftlichen Schulen sowie die Hochschulen.

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Pädagogik

Wissen und Können auszustatten und zum selbständigen Bildungserwerb zu erziehen. Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitwirken.«

Die aus der ›UN-Konvention über die Rechte des Kindes‹ genannten Größen finden sich hier ebenso, darüber hinaus nennt der Text die Republik Österreich und spricht dezidiert von den Aufgaben der Mitwirkung an der Gesellschaft in ›Freiheit‹ und ›Frieden‹. Damit sind sehr klar wesentliche Ziele bezeichnet, woraufhin Bildung und Erziehung an österreichischen Schulen zu erfolgen hat, unabhängig vom jeweils unterrichteten Fach. Einige Begriffe aus diesen beiden Gesetzestexten, vor allem aus dem Zielparagraphen des Schulorganisationsgesetztes, seien nun im Lichte von Existenzanalyse und Lebensphänomenologie kritisch betrachtet: wahr, gut, schön, gesund, arbeitstüchtig, pflichttreu, verantwortungsbewusst, heranbilden. Es soll hier nicht darum gehen, die Bedeutung der Texte in Frage zu stellen, sondern im Sinne der Sprachsensibilität Nuancen mitzuhören und mögliche Folgen zu beachten, wenn das Beschriebene in der Schule verwirklicht werden soll, und zu überlegen, wie es verwirklicht werden soll. Die Bezeichnung von Werten als wahr, gut und schön vermittelt einen Charakter der Objektivität, als gäbe es eine inhaltliche Klarheit darüber, was wahr, gut und schön ist. Wenn dabei mitbedacht wird, was Frankl über das subjektive Wertempfinden bzw. Wertfühlen sagt, so liegt es nahe, die Bezeichnung von Werten als wahr, gut und schön zu relativieren: Was der eine als wahr, gut und schön empfindet, kann der andere zum Teil oder auch zur Gänze divergierend empfinden. Noch stärker bei Henry: Die radikale Subjektivität in Allem, vor allem im Empfinden, versieht ein ›objektives‹ Reden über einzelne Werte mit vielen Fragezeichen. Diese Grundeinsicht ist gerade in der Schule von Bedeutung, wenn über Werte und über Wertvermittlung scheinbar selbstverständlich gesprochen wird. Diese Selbstverständlichkeit soll hier in Frage gestellt werden.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Frankl spricht im Zusammenhang mit der Religiosität des Menschen u. a. vom Glauben an einen Übersinn, 115 der allerdings aus unserer diesseitigen Perspektive nicht erkannt werden könne. Auch von absoluten Werten 116 spricht Frankl, indem er auf eine absolute ›Wertperson‹ verweist, auf Gott: »Allein, der absolute Wert schlechthin, das summum bonum, lässt sich nicht anders denken denn als geknüpft an eine Person, an die summa persona bona. Als solche ist sie notwendig auch schon mehr als Person im herkömmlichen Sinn: sie muss notwendigerweise Überperson sein. Dass der höchste Wert ein personaler Wert sein muss, ergibt sich ja bereits aus dem, was wir von menschlichen Werten gehört haben: […] Erst von einem absoluten Wert, von einer absoluten Wertperson her: von Gott her – erhalten die Dinge einen Wert.« 117

Die vorhin angesprochene Relativierung des Redens über Werte im Sinne des subjektiven Empfindens wird hier ein zweites Mal relativiert – es gebe aus einer Perspektive auf Gott hin einen absoluten Wert, und dieser sei, von Frankl konsequent zu Ende gedacht, ein personaler Wert, ein Beziehungs-Wert. Die Werte, die immer bedingt bzw. relativ seien, bewiesen geradezu die Existenz eines Unbedingten, das sie bedingt habe. Bei Michel Henry wird über Werte ausschließlich in direktem Zusammenhang mit dem Wesen des Lebens selbst gesprochen, das sich stets steigern und verfeinern will, das allein imstande ist, allen Dingen einen Wert zu verleihen: »Das Leben verleiht den Dingen einen Wert (die durch sich selbst keinen haben), insofern sie ihm angemessen sind und eines seiner begehrenden Verlangen befriedigen. Aber diese spontan-selbständige Einschätzung, die das Leben vornimmt, ist ihrerseits nur dann möglich, wenn das Leben sich selbst als das erfährt, was ist und sein soll, als der höchste Wert, und sei es durch das bescheidenste seiner Bedürfnisse hindurch.« 118

Die ›Verfeinerungen‹, auf die das Leben gestimmt ist, finden sich für Henry »auf allen Ebenen des menschlichen Tätigseins […], so auf der Ebene der elementaren Lebensführung, die sich auf Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit, Liebe usw. bezieht.« 119 Im Bewusstsein der 115 116 117 118 119

Vgl. Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 61–67. Vgl. Frankl: Der leidende Mensch. 1998. S. 223 f. Ebd. S. 223. Henry: Die Barbarei. 1994. S. 274. Ebd. S. 270.

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Pädagogik

Schwierigkeit, genau anzugeben, was ›verfeinert‹ oder ›höher‹ genau bedeuten, meint Henry, es verstehe jeder Mensch doch sofort, worum es sich handle. »Ein solches Wissen ist in der Tat dasjenige des Lebens, der Subjektivität, die sich selbst unabhängig von der Annäherungsweise einer anderen Ordnung kennt.« 120

Das Leben entziehe sich laut Lebensphänomenologie jeglicher Annäherung zum Beispiel durch Begriffe, jedes intentionale auf es gerichtete Meinen finde nichts bzw. ungenaue Begriffe und leere Worte. »Aber genau da, wo sich nichts sehen, verstehen oder empfinden lässt, entfaltet sich und wächst das Leben in der absolut sich erprobenden Erfahrung seiner eigenen Gewissheit.« 121

Der Gedanke, dass gerade dort, wo sich nichts sehen, verstehen oder empfinden lässt, das Leben wachse und sich entfalte, stößt nicht nur im schulischen Kontext auf Grenzen: In einer Welt, in der ›sehen‹ und ›verstehen‹ einen so hohen Stellenwert haben, was selbstverständlich auch für die Schule gilt, bedarf es einer hohen ›Kunst‹, diese Aussagen von Henry im richtigen Verständnis konsequent zu leben und umzusetzen. Wie bereits betont wurde, ist das System Schule ohne Bezugsgrößen im Außen gar nicht denkbar. So wird die Radikale Lebensphänomenologie immer wieder zu einem Stachel, wenn man zerrissen wird zwischen ›kalten Fakten‹, die einem leidvoll als menschenfeindlich erscheinen, von denen es in vielen Schulen genügend gibt, und dem ›Wissen‹ bzw. der ›Gewissheit‹ um die Selbstaffektion des sich erprobenden Lebens. Die drei großen Themen für Michel Henry sind Kunst, Ethik und Religion, die er durch die fortschreitende Barbarei bedroht sieht. 122 Er ortet »nicht bloß die Erschütterung der Werte der Kunst, der Ethik und Religion, sondern im eigentlichen Sinne ihre brutale oder fortschreitende Vernichtung.« 123 Ethik lasse sich nicht »als ein Verhältnis zwischen Handlung und Zwecken, Normen oder Werten« 124 definieren.

120 121 122 123 124

Ebd. S. 271. Ebd. S. 271. Vgl. ebd. S. 78 f. Ebd. S. 78. Ebd. S. 272.

191 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

»[Wenn man das tue, habe man] von vornherein den Ort verlassen, wo sich Ethik hält, nämlich das Leben selbst, in dem es weder Ziele noch Zwecke gibt, weil der Bezug auf diese als intentionaler Bezug eben in dem nicht existiert, was in sich jede Ek-stase verkennt.« 125

Diese Überlegungen entfaltet Henry innerhalb seiner Kulturkritik im sechsten Kapitel »Die Praktiken der Barbarei«. 126 Ausgehend von der einzigen ›Instanz‹, nämlich vom Leben, lasse sich alles andere erst bestimmen. Auch Werte seien nur durch das Leben selbst bestimmt, welches »zu jedem Augenblick weiß, was zu tun und ihm angemessen ist. Ein solches Wissen ist in keinerlei Hinsicht von der Handlung verschieden, geht ihr nicht voraus noch ›bestimmt‹ es sie im eigentlichen Sinne, da es ihr identisch ist, und zwar als jenes ursprüngliche Handlungswissen, welches das Leben ist: als Praxis, als lebendiger Leib.« 127

Diese letzte Schlussfolgerung ist von besonderer Bedeutung: ›Praxis‹ sei gleichzusetzen mit dem ›lebendigen Leib‹ als ›ursprüngliches Handlungswissen‹. Und darin allein wurzelt für Henry jegliche Ethik und jegliches ›Wissen‹ um Werte. Im Licht der Lebensphänomenologie bekommen die im Zielparagraph der Österreichischen Schule genannten Werte des Wahren, Guten und Schönen eine Färbung in zweierlei Hinsicht. Die eine Färbung bezieht sich auf die Frage, was die Verfasser des Textes mit diesen Begriffen letztlich bezeichnen wollten. Die Lehrpläne deuten darauf hin, dass vor allem kulturelle Leistungen in Literatur, Baukunst, Religion, Politik, Malerei, Musik, Gesellschaft, Technik, Naturwissenschaften, Philosophie, u. a. m. gemeint bzw. mitgemeint sind. Die andere Färbung bezieht sich auf den Auftrag an die Schule, diese Werte zu ›vermitteln‹. Ein ›Vermitteln‹ im engeren Sinn ist im Denken von Michel Henry nicht möglich, da das Leben keine Vermittlung braucht bzw. da sich das Leben nicht vermitteln lässt. Wenn man diese Denkstruktur aufgreift, dann ändert sich die pädagogische Herangehensweise an diese wichtigen Themen im Sinne des radikal subjektiven Empfindens jedes Menschen, es ändert sich der Zugang zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern. Eine lebensphänomenologisch geprägte Pädagogik weiß um die Unmöglichkeit, einen Wert 125 126 127

Ebd. S. 272. Vgl. ebd. S. 270–313. Ebd. S. 73.

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Pädagogik

vermitteln zu können (was für Frankl in ähnlicher Weise gilt), weil er bereits jeder versuchten Vermittlung durch die Selbstaffektion des Lebens vorausgeht. Diese Pädagogik weiß auch um die Problematik, die die Formulierung beinhaltet, junge Menschen zu etwas oder an etwas ›heranbilden‹ zu wollen: Bilder entspringen in der Diktion der Lebensphänomenologie und auch der Existenzanalyse unseren Vorstellungen und nicht dem Leben selbst. Ein ›Heranbilden‹ müsste so gesehen gerade vermieden werden. Hingegen wird die ›Notwendigkeit‹, im Unterricht Werte aufleuchten zu lassen, wenn sie im Mitpathos, in der eigenen Lebendigkeit und der Selbststeigerung des Lebens entspringen, in dieser Pädagogik in jedem Unterrichtsfach radikal größer. So gesehen bedeutet Unterrichten, dem bedrohten Leben Stimme zu verleihen und den fortschreitenden Formen der Barbarei entgegenzutreten. Nach diesen Ausführungen sei noch kurz auf jene anderen Begriffe des Zielparagraphen hingewiesen, auf deren kritische Betrachtung bereits hingewiesen wurde: gesund, arbeitstüchtig, verantwortungsbewusst und pflichttreu. Alle diese Begriffe bekommen im Licht dieser Ausführungen eine problematische Färbung. Wer bestimmt, was ›gesund‹ ist? Woraufhin sollten SchülerInnen ›arbeitstüchtig‹ sein? Welche Bedeutung von ›Verantwortungsbewusstsein‹ liegt dem Text zugrunde? Und schließlich taucht noch die Frage auf, welchen ›Pflichten‹ ein Mensch ›treu‹ sein soll. Diese Fragen bzw. dieses In-Frage-Stellen halte ich für legitim und für pädagogisch wertvoll, wenn es eingebettet ist in jene phänomenologische Haltung, die im letzten Kapitel dieses Bandes entfaltet wird, und wenn deutlich wird, dass damit keinem Nihilismus zugesprochen wird, sondern im Gegenteil versteckte Formen von Nihilismus eventuell deutlicher aufgedeckt werden können: In der Geschichte lässt sich zeigen, dass bestimmte (Fehl-)Formen von ›Pflichtbewusstsein‹ zu einem Nihilismus geführt haben, ebenso die ›Arbeitstüchtigkeit‹ oder ein bestimmtes Verständnis von ›Gesundheit‹. Henry deckt meines Erachtens brillant auf, wo und wie diffizil die Gefahren der Barbarei lauern. Die Radikale Lebensphänomenologie stellt ein ›Handwerkszeug‹ zur Verfügung, gerade im Religionsunterricht, mit den SchülerInnen eine hohe Sensibilität für das Leben zu entwickeln, das – nicht nur laut Henry, sondern für jeden Menschen erkennbar – in steigendem Maße multifaktoriell bedroht ist: durch Gewalt und Krieg; durch Zerstörung der Um- und Mitwelt; durch die zunehmende Überwachung der Intimsphäre; durch die zu193 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

nehmende Flut an Reizen und Eindrücken; durch die Ökonomisierung und Technisierung aller Lebensbereiche; durch die steigende Zahl an verarmten Menschen, durch die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich; und durch vieles mehr. Es ist einsichtig, dass sich im Unterricht all diese Probleme nicht lösen lassen; ebenso einsichtig ist, dass sie im Unterricht zur Sprache kommen müssen. Die Pädagogik hat unter anderem die Aufgabe, dafür eine Sprache zu finden. Nach dieser Analyse der Werte-Thematik mit ihren verschiedenen Zugängen kehre ich noch einmal zum Inhalt des Zielparagraphen zurück. Der Religionsunterricht ist von diesen Zielen in hohem Maße ›betroffen‹, einige von ihnen bilden auch lehrplanmäßige Inhalte oder benennen Kompetenzen, auf die hin der Unterricht die SchülerInnen begleiten soll. Wenn vorhin die Rede davon war, dass die Berücksichtigung sowohl von Existenzanalyse als auch von Lebensphänomenologie auf pädagogische Konsequenzen zielt bzw. pädagogische Strukturen impliziert, sollen diese nun verdeutlicht werden. Dabei zeigt sich, dass die beiden Richtungen eine je eigene ›Geschichte‹ in Bezug auf Pädagogik haben, die mit den beiden Persönlichkeiten, Viktor Frankl und Michel Henry, eng verbunden ist. Frankl spricht nicht explizit über Pädagogik. Zahlreiche Inhalte seiner Existenzanalyse haben, wie bereits dargestellt wurde, mit pädagogischem Handeln direkt zu tun und finden sich zum Teil auch in Lehrplänen für den katholischen Religionsunterricht, für medizinische Fächer und für Psychologie. Im Folgenden wird anhand von vier Beispielen aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt, wodurch und wie das Gedankengut der Existenzanalyse in pädagogische Kontexte Eingang gefunden hat.

5.9.1. Existenzielle Pädagogik – personale Pädagogik Pädagogische Hochschule Kärnten Die Pädagogische Hochschule Kärnten hat nach einem langen Prozess der Leitbildentwicklung den Namen »Viktor Frankl Hochschule« 128 gewählt und begründet dies folgendermaßen: 128 Die Pädagogische Hochschule Kärnten, Viktor Frankl Hochschule, versteht sich als Bildungszentrum für Lehrerinnen und Lehrer und für Personen, die in pädagogischen Feldern tätig sind oder sein werden. Sie bietet die akademische Ausbildung für die

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Pädagogik

»Viktor E. Frankl erinnert mit seinem Leben daran, dass das Ziel jeder Erziehung und Bildung die Achtung der Menschenrechte sowie eine von Toleranz, Offenheit und Respekt bestimmte Lebenshaltung ist. […] In seiner Philosophie der Logotherapie stellt er die Werte- und Sinnfragen in den Mittelpunkt und appelliert radikal an die Eigenverantwortung des Menschen. Werte, Sinn und Verantwortung sind zentrale Kategorien der Pädagogik zu allen Zeiten. […] In einer Zeit, in der Institutionen ihre sinnstiftenden Funktionen weitgehend verloren haben, wird die Frage der Sinnfindung individualisiert. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Pädagogik, jungen Menschen bei der Aufgabe zu helfen, eine Identität zu entwickeln und existentielle Fragen persönlich zu lösen.« 129

Ausgehend von diesem Menschenbild wird der Ort für die Hochschulpädagogik bestimmt. In dieser Pädagogik soll all das ›durchtönen‹ bzw. ›per-sonare‹, was im Denken von Frankl pädagogisch relevant ist: Das Vorleben von Werten, weil diese sich nicht lehren lassen; der direkte Zusammenhang von Werten und Sinn, da sich der Mensch ohne Wille zum Sinn nicht entfalten kann; das Hingeordnet- bzw. Ausgerichtet-Sein auf einen Menschen oder auf eine Aufgabe, da zum Wesen des Menschen die Selbsttranszendenz gehört; die geistige Dimension, die das Wesen der Person darstellt und nicht erkranken kann; und die Verantwortung des Menschen, die ihm seine Würde verleiht, als vom Leben Befragter die je persönliche Antwort zu finden. Diese Aspekte verweisen auf einen sehr hohen Anspruch von Hochschulpädagogik, dem sich die Pädagogische Hochschule Kärnten verpflichtet sieht. Eva Maria Waibel Die Psychotherapeutin und Hochschulprofessorin Dr. Eva Maria Waibel 130 spricht im Rahmen ihrer Lehrveranstaltungen an der Pädagogischen Hochschule Kärnten und früher auch an der Pädagogischen Hochschule Tirol von ›Existenzieller Erziehung‹ bzw. von ›Existenzieller Pädagogik‹. Vor allem die Frage, wie eine Erziehung aussehen könnte, die den Selbstwert stärkt und Kindern dazu verhilft, ein erLehrbefähigung an Volksschulen, Neuen Mittelschulen, Sonderschulen, an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen und im Bereich des Minderheitenschulwesens an. 129 Leitbild der Pädagogischen Hochschule Kärnten. URL: http://www.ph-kaernten. ac.at/organisation/viktor-frankl [18. 10. 2014]. 130 Dr. Eva Maria Waibel ist Existenzanalytikerin und Logotherapeutin.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

fülltes Leben zu führen, leitet ihre Überlegungen als Dozentin für Bildungs- und Erziehungswissenschaften. Frau Dr. Waibel führt in drei Schritten aus, wie ihr Ansatz zu verstehen ist. 131 Der Frage ›Warum Existenzielle Pädagogik?‹ folgen die wesentlichen ›Leitlinien‹ und schließlich sieben ›Formale Charakteristika‹. Wichtig ist ihr, dass der Mensch nicht als ein Ergebnis entwicklungspsychologischer, innerpsychischer Prozesse oder umweltlicher Einflüsse angesehen wird, sondern als ein Wesen, das sich in dem, was möglich ist, auch selbst gestalten kann. Erziehung versteht sie als Begleitung in die Welt mit dem Ziel, eine existenzielle Antwort-Haltung entfalten zu können. Die sieben formalen Charakteristika einer existenziellen Erziehung bzw. Pädagogik seien hier kurz genannt. • • • • • • •

Ausgangspunkt ist die Anthropologie der Existenzanalyse. Klassische Erziehungspositionen werden durch sie verändert. Erziehungsprozesse sind sowohl bezüglich als auch rückbezüglich. Da sich alles gegenseitig beeinflusst, kann man von einer pädagogischen Relativitätstheorie sprechen. Existenzielle Pädagogik widersetzt sich der Rezepthaftigkeit. Existenzielle Pädagogik setzt sich auch mit andern Richtungen auseinander und erfordert eine Haltung der Offenheit. Existenzielle Erziehung ist kompatibel mit anderen Denkweisen, die die Grundlagen der ihr eigenen Anthropologie nicht ausschließen.

Die existenzielle Pädagogik will auch als ›Schule des Verstehens‹ bezeichnet werden, bei der es darum gehe, den eigenen Blick auf das Kind, auf sich selbst und auf existenzielle Situationen hin zu schulen und zu erweitern. In der LehrerInnen-Ausbildung ist dies von Bedeutung, da es jene Kompetenzen fördert, die in der Schule vermehrt von LehrerInnen erwartet werden. Günter Funke Günter Funke, dem ich verdanke, sowohl mit Viktor Frankl als auch mit Michel Henry in eine Wertberührung gekommen zu sein, beVgl. Waibel, Eva Maria: Existenzielle Erziehung. URL: http://www.eva-mariawaibel.at/existenzielle-erziehung [18. 10. 2014].

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zeichnet einen Lehrgang, der vor allem die Persönlichkeitsbildung von Lehrerinnen und Lehrern im Blick hat, als »Personale Pädagogik – Personale Gesprächsführung« 132 . Durch diese Benennung wird deutlich, dass für ihn der Person-Begriff von Viktor Frankl den Ausgangspunkt und den Zielpunkt jeder Pädagogik und jedes authentischen Gesprächs bildet. Betont soll allerdings werden, dass Günter Funke die personale Pädagogik bzw. Gesprächsführung ausdrücklich auf Michel Henrys Lebensphänomenologie und auf Erkenntnisse der Gehirnforschung hin erweitert hat. Als Diplom-Theologe bringt er in seine Seminare auch fundiertes biblisches Wissen ein und achtet stets darauf, moderne Fragestellungen in einen biblischen Zusammenhang zu stellen. Umgekehrt baut er in seine Seminare regelmäßig ein, biblische Aussagen in Hinblick auf moderne Fragen zu aktualisieren, mit heutigen Vokabeln so zu paraphrasieren, dass kein »garstiger, breiter Graben« 133 zwischen Bibel bzw. christlicher Theologie auf der einen Seite und moderner Anthropologie bzw. moderner Pädagogik auf der anderen Seite spürbar ist. Im Gegenteil: Für Günter Funke ist die Bibel zeitlos modern, und Jesus erweist sich in seinem Umgang mit Menschen und mit Konflikten aus heutiger Perspektive als ›hoch-modern‹, als jemand, der die ›personale Gesprächsführung‹ begründet haben könnte. Jugendhilfeeinrichtung Elisabethstift Als viertes Beispiel sei noch die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Elisabethstift, Jugendhilfe im Diakonischen Werk in Berlin-Brandenburg, erwähnt, für die eine »Existenzielle Pädagogik« 134 zur Grundlage jeglichen Handelns geworden ist. Deren Definition bildet die Kurzfassung des Programms dieser Einrichtung: »Die existenzanalytische bzw. die existenzielle Pädagogik betrifft die ganze Person in ihrer Existenz, und zwar Erwachsene und Kinder gleichermaßen. Wir wertschätzen die uns anvertrauten Kinder, Jugendlichen und deren FamiVgl. Einleitung zu diesem Band Von Gotthold Ephraim Lessing stammt die zur Metapher gewordene Rede vom »garstigen breiten Graben« zwischen Vernunft und Religion, die unter dem Titel »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« formuliert ist. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. v. Wilfried Barner (u. a.). Bd. 8 Werke 1774–1778. Frankfurt am Main 1989. S. 443. 134 URL: http://www.elisabethstift-berlin.de/pages/unser-angebot/paed.-grundsaetze. php [18. 10. 2014]. 132 133

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

lien und bestärken sie in ihrem Selbstwert, denn nur wer sich selbst bejahen kann, wird Werte, Ziele und einen Sinn für sein Leben formulieren und auf seine körperliche, seelische und soziale Gesundheit achten können. Wir machen den Kindern bewusst, dass sie die Verantwortung für ihr Handeln und ihre Haltungen selbst tragen und eine Wahl treffen, welche ›Antwort sie dem Leben geben wollen‹. Wir fordern sie heraus, sich versöhnend mit ihrer Lebenssituation und mit ihren Stärken und Schwächen auseinander zu setzen. Dabei sind Grenzsetzungen, Partizipation und Austausch wichtige Reibungsund Orientierungspunkte. Schwerpunkt der Pädagogik liegt in der Beziehung, nicht in der Erziehung.« 135

Dieser Definition ist unter anderem zu entnehmen, dass eine Pädagogik, die sich auf Frankls Existenzanalyse stützt, eine ›herausfordernde‹ Pädagogik ist, die durch gut überlegte Forderungen zur Förderung des ganzen Menschen werden könne. Wenn gesagt wird, dass der Schwerpunkt ›Beziehung‹ an die Stelle von ›Erziehung‹ treten solle, dann wird darauf hingewiesen, dass der Begriff ›Erziehung‹, der in der Pädagogik nach wie vor verwendet wird, sehr kritisch gesehen werden müsse. Eine kritische Haltung gegenüber dem Phänomen ›Erziehung‹ lässt sich mehrfach begründen, hier seien lediglich zwei Aspekte genannt: Zum einen muss auf die problematische Seite in der Geschichte der Erziehung hingewiesen werden, auf all das, was unter »Schwarzer Pädagogik« 136 subsumiert wird. Zum anderen resultiert eine kritische Haltung aus den beiden in dieser Arbeit untersuchten Denkansätzen von Viktor Frankl und Michel Henry. Der Person-Begriff der Existenzanalyse verweist auf die geistige Dimension des Menschen, die jedem Menschen, unabhängig von seinem Alter, zu eigen ist und die sich letztlich einer ›Erziehbarkeit‹ entzieht. Was für die Erziehung dann ›übrig‹ bleibt, sind vor allem die psychische und die somatische Dimension, wenngleich Frankl stets betont, dass der Mensch nur in der Gesamtheit aller drei Dimensionen Mensch bzw. Person sei, und sich Frankl der Verantwortung, die Eltern oder andere Bezugspersonen einem Kinde gegenüber tragen, 135 Vgl. URL: http://www.elisabethstift-berlin.de/pages/unser-angebot/paed.-grund saetze.php [18. 10. 2014]. 136 »Schwarze Pädagogik« ist ein negativ wertender Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die Gewalt und Einschüchterung als Mittel enthalten. Der Begriff wurde 1977 von der Soziologin Katharina Rutschky mit der Veröffentlichung eines Buches unter gleichem Titel eingeführt. Die Begriffsprägung schloss an eine Kritik repressiver Pädagogik an, die spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts artikuliert wurde.

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sehr bewusst war: Das ›Vorleben‹ von Werten und das ›Anbieten‹ von Werten können wahrscheinlich dem Komplex, der mit ›Erziehung‹ umschrieben wird, zugerechnet werden. Das große Maß an Behutsamkeit, das durch diese Begriffe mittransportiert wird, rückt jedes Reden über Erziehung in ein Licht der besonderen Aufmerksamkeit. Neben der vorhin erwähnten Definition von Existenzieller Pädagogik durch das Berliner Elisabethstift werden noch 15 »Grundsätze« 137 angeführt, von denen zwei hier erwähnt werden sollen. Zum einen ist es die Grundentscheidung, den Kindern stets Wahlmöglichkeiten zu bieten, denn wer wählt, könne Freiheit und Verantwortung erfahren. Zum anderen ist es der Grundsatz, im Umgang mit Kindern klare Regeln, Versprechungen, Konsequenzen und Erwartungen zu äußern, um willkürliches Handeln zu vermeiden und die positive Bedeutung von Grenzen aufzuzeigen. Beide Aspekte sind bewährte Bestandteile einer modernen Schulpädagogik: Wahlmöglichkeiten anzubieten entspricht der Erfahrung, dass verschiedene SchülerInnen auf verschiedenen Lernwegen ein bzw. ihr Ziel erreichen können; klare Regeln – als Schutzfunktion für SchülerInnen! – gelten ebenso als pädagogisch wertvoll, wenn sie nicht mit kalten Prinzipien verwechselt und damit a-personal werden. Die Existenzanalyse von Viktor Frankl ist, wie diese Beispiele zeigen, eingebunden in ein Netz von Pädagogik bzw. von pädagogischen Möglichkeiten. Der Begriff ›existenziell‹ weist auch in pädagogischen Kontexten auf eine besondere Tiefendimension hin. Er bezeugt, dass Schule ein Ort für existenzielle Fragen ist; etwas vorsichtiger formuliert könnte man sagen, dass Schule ›auch‹ ein Ort für diese Fragen ist oder sein kann. Der Begriff ›existenziell‹ ist laut Lexikon vielschichtig; sieben Wortfelder lassen sich nachweisen, deren Unterschiede feine Schattierungen beinhalten. • • • • • • •

bedeutend, schwerwiegend, wirksam, lebenswichtig das Dasein betreffend, das Leben betreffend stark spürbar, fühlbar, heftig, empfindlich unentbehrlich, lebensnotwendig gravierend, brisant, einschneidend ernst, erschwerend, schlimm gedankenvoll, dunkel, unergründlich, intim, hintergründig

137 URL: http://www.elisabethstift-berlin.de/pages/unser-angebot/paed.-grundsaetze. php [18. 10. 2014].

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Wenn eine Pädagogik ›existenziell‹ im Sinne dieser Schattierungen sein will, dann ist das ein hoher Anspruch. Einige Bedeutungen, wie ›erschwerend‹ bzw. ›schlimm‹, werden im Unterricht keine anzustrebenden Ziele darstellen, während sich für die meisten anderen Bedeutungen gerade im Religionsunterricht wesentliche Dimensionen aufzeigen lassen: Wenn SchülerInnen den Unterricht beispielsweise als ›wichtig für ihr Leben‹, als ›das Dasein betreffend‹, als ›brisant‹ oder gar als ›unentbehrlich‹ erleben, dann wird man von einem ›gelungenen‹ Religionsunterricht sprechen können. Es versteht sich von selbst, dass nicht jede einzelne Stunde unter diesem Anspruch stehen kann bzw. muss. Jedoch der Unterricht, der einen Bogen über mehrere Wochen, Monate oder Jahre spannt, könnte zu diesen Dimensionen vordringen und von den SchülerInnen so erlebt werden.

5.9.2. Pädagogik bei Michel Henry In Michel Henrys Kulturkritik »Die Barbarei« findet sich in einer Nebenbemerkung eine kritische, wenn nicht sogar spöttische Wendung gegenüber dem Begriff ›Erziehung‹ : »Der Gedanke, dass die Pädagogik (oder die ›Erziehungswissenschaften‹, wie man heute sagt) eine selbständige Disziplin bilden könnte, ist zweideutig.« 138 Dieses ›wie man heute sagt‹ zeigt im Blick auf den Gesamttext seinen kritischen Zugang zu diesem Thema, der sich wahrscheinlich auch auf eine Reihe von negativen Erfahrungen zurückführen lässt, die er hier verarbeitet. Dieser kritische Zugang mündet schließlich in jenen großen Satz, der die Pädagogik und damit die Erziehung als etwas ganz Besonderes kennzeichnet: »[D]ie Pädagogik als solche ist die Erste Philosophie.« 139

In diesem Gedanken bündelt sich eine eigene philosophische Diskussion 140 bzw. Geschichte. Für Aristoteles war ›Metaphysik‹ die erste Philosophie, für Edmund Husserl ist es die ›Phänomenologie‹, und Henry bezeichnet nun die ›Pädagogik‹ als erste Philosophie. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die ›erste Philosophie‹ eine Philosophie der ›Praxis‹ ist und nicht, wie zum Beispiel bei Husserl, die 138 139 140

Henry: Die Barbarei. 1994. S. 337. Ebd. S. 337. Vgl. ebd. S. 334–340.

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phänomenologische Analyse des Erkennens. Grundlegend für Henry ist die Selbstaffektion, die subjektive Praxis, die der Pädagogik jenen zentralen Stellenwert einräumt: Pädagogik als praktische Philosophie sei die ›erste‹ Philosophie. Unter Berücksichtigung dessen muss alles über Pädagogik bzw. über Erziehung Gesagte gelesen werden. In seiner Kulturkritik »Die Barbarei« befasst sich Henry in einem eigenen Kapitel explizit mit Pädagogik: »Die Zerstörung der Universität«. 141 Die Hintergründe für diese scharfe Abrechnung mit einigen Zuständen an Frankreichs Universitäten sind in ihrer vollen Tragweite nur in Verbindung mit Henrys eigenen Erfahrungen an Universitäten zu verstehen. Im Text wird klar, dass und warum diese angeprangerten Geschehnisse als ›Barbarei‹ bezeichnet werden, als Zerstörung der Kultur und letztlich als Zerstörung des Lebens. Zunächst weist Henry darauf hin, dass Universität und Gesellschaft ursprünglich wie zwei entgegengesetzte Wesenheiten 142 einander gegenüberstanden; den Universitäten habe man einen Freiraum für ›zweckfreie‹ Forschung zugebilligt, der nicht von ökonomischen Interessen geschluckt werden dürfe. »Das Abgesondert-sein der Universität, das von der weltlichen Macht anerkannt und zugebilligt wurde, spiegelte eine Unterschiedenheit der Aufgaben auf dem Boden einer Wesensgemeinschaft wider. Ein und derselbe Prozess, nämlich in beiden Fällen derjenige der Selbstrealisierung des Lebens, nahm indes zwei Formen an: auf der einen Seite den Erwerb von Kenntnissen und das Lernen durch Unterricht, auf der anderen Seite die ökonomische Tätigkeit. […] So hatte die Universität ihre Aufgabe und folglich eigene Normen, Rhythmen und Regelungen, deren Besonderheit abzustreiten niemandem in den Sinn kam.« 143

Dieses spezielle Abgesondert-Sein, das den Universitäten von der weltlichen Macht zugebilligt worden war, sei laut Henry in Gefahr bzw. bereits verloren. Er spricht von einem »Kampf auf Leben und Tod«, 144 in dem sich ein entscheidendes Merkmal der modernen Welt zeigt, »dass das Leben aufgehört hat, die Grundlage der Gesellschaft zu bilden«. 145 Und diese Entwicklung nennt er drastisch eine Form von ›Barbarei‹, wo »das Empfinden, Verstehen, Einbilden, Handeln

141 142 143 144 145

Vgl. ebd. S. 314–365. Vgl. ebd. S. 324. Ebd. S. 324. Ebd. S. 325. Ebd. S. 325.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

und vor allem das Erleiden und Erfreuen, ohne die es weder Humanitas noch Menschen gibt«, 146 ihren selbstverständlichen Platz verlieren würden. Diese Welt ist für ihn unmenschlich geworden durch eine »ontologische Erschütterung«. 147 Einen zweiten Faktor für diese Form von Barbarei sieht Henry in der Art und Weise, wie sich die Technikwelt ausbreite und so auch an der Zerstörung der Universität teilnehme. 148 Einerseits unterstütze die Technik die Aufhebung der Grenze zwischen Universität und Gesellschaft, und andererseits dringe sie so ins Innerste der Universität ein, dass sie diese als Ort der Kultur vernichte. Wenn die Summe aller Kenntnisse und Prozesse, wenn das Nützlichkeitsdenken in den Vordergrund trete, dann sei »das Leben so weit wie möglich beiseite geräumt«. 149 Für Henry ist die Autonomie von Bildung und Unterricht durch den Vormarsch des Nützlichkeitsdenkens in großer Gefahr; die fortschreitende Aufhebung der Trennungslinie zwischen Universität und Gesellschaft führe zur angepassten »Volksuniversität oder Universität unserer Zeit«. 150 Die ureigensten Aufgaben der Universität sind für ihn jener Akt von Weitervermittlung eines Wissens, »durch den jede konstitutive Evidenz dieses Wissens, ihrer Prinzipien, ihrer Axiome, ihres Interferierens und ihrer Folgen von demjenigen wiederholt und reaktualisiert wird, der dieses Wissen versteht, indem er daraus seine eigene Evidenz macht, und auf diese Weise ein solches Wissen erwirbt.« 151

Geschehe dies nicht, dann entstehe laut Henry ein »Einheitslehrkörper« 152 an Universitäten und an Schulen. In Frankreich habe das zum Beispiel dazu geführt, die Dissertationen abzuschaffen durch einen »Egalitarismus« 153 , in dem vor allem »Demagogen, Unzufriedene und Träge jeder Art« 154 das Sagen hätten. Den sprachlichen Höhepunkt an Kritik erreicht Henry durch folgende Zuspitzung: »Der äußerste Punkt dieser nihilistischen Brandung und damit die größte Gefahr wurde erreicht, als sich in Übereinstimmung mit Nietzsches Prophe-

146 147 148 149 150 151 152 153 154

Ebd. S. 325. Ebd. S. 325. Vgl. ebd. S. 326. Ebd. S. 326. Ebd. S. 330. Ebd. S. 334. Ebd. S. 333. Ebd. S. 332. Ebd. S. 332.

202 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

zeiung die Starken von der Ideologie und dem Ressentiment der Schwachen gewinnen ließen, um sich an die Spitze des Zuges zu stellen und mit ihnen auf das Grab der Kultur zu spucken. Es waren Professoren im Amt und Universitätspräsidenten, die Professorentitel wie –amt bestritten, die Entfernung der Professoren aus dem Universitätsrat, den Einheitslehrkörper und die Abschaffung der Dissertationen lobten, das heißt jede qualifizierte Norm für den Universitätsunterricht.« 155

Wenngleich sich Henry hier vor allem mit den Universitäten beschäftigt, so bezieht er in einigen wichtigen Passagen auch die Schule mit ein und vor allem die Bedeutung der dort Lehrenden und deren Ausbildung. Wenn hier von ›der‹ Schule die Rede ist, muss gleich angemerkt werden: ›Die‹ Schule gibt es selbstverständlich nicht, »sondern nur ›lebendige Individuen‹, deren Geschick dasjenige des Absoluten ist«. 156 Vielleicht ist dieses ›Absolute‹ auch dahingehend zu deuten, dass viele junge Menschen, und viele Erwachsene ebenso, nicht selten den Eindruck vermitteln: ›Ich will alles!‹ Dieses ›Alles‹ ist ambivalent. Denkt man zum Beispiel an TV-Sendungen, in denen die TeilnehmerInnen ›weltberühmte Stars‹ oder reich werden wollen, dann bekommt dieses ›Alles‹ einen bitteren Beigeschmack, der gerade aus theologischer Perspektive eine fatale Problematik beinhaltet, nämlich das Weggehen vom ›Geerdet-Sein‹, das sich aus dem Begriff ›humilitas‹ ableitet. Menschwerdung Gottes (Inkarnation) und Geerdet-Sein (humilitas) gehören theologisch zusammen. Denkt man an wirtschaftliche oder politische Machtfantasien inklusive Korruption und an weitere Methoden, andere Menschen zu übervorteilen oder auszuschalten, um ›ganz oben‹ zu sein, dann bedient der bittere Beigeschmack längst schon die Schlagzeilen unserer Zeitungen und anderer Berichterstattungen. Liest man dieses ›Alles‹ im Licht der Selbststeigerung des Lebens, dann ist Hellhörigkeit und große Aufmerksamkeit geboten: Das Sich-steigern-Wollen ist laut Henry dem Leben immanent. Das Leben ›lebt‹ von diesem Sich-steigern-Wollen; ohne diese Bewegung gäbe es keine Kultur, keine Lebendigkeit. Die Grenze zur Barbarei, zur Zerstörung der Kultur und letztlich des Lebens scheint im Vollzug nicht immer eindeutig erkennbar zu sein; erkennbar ist sie allerdings immer und vor allem immer schmerzlich an den sichtbaren Folgen. In dieser Ambivalenz bewegt sich meines Erachtens diese allem Lebendigen eingeschriebene Selbststeigerung. 155 156

Ebd. S. 332 f. Ebd. S. 316.

203 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Wie in allem Lebendigen will sich, so die Lebensphänomenologie, das Leben auch in der Schule steigern, und dieses »Mehr« 157 bestimmt sich als das Mehr seiner selbst, wonach jede Tätigkeit strebt, wie es im Kapitel »Selbststeigerung des Lebens« schon ausgeführt wurde. Entgegen dieser Selbststeigerung des Lebens im Kontext von Schule geschah in Frankreich, so Henry, ein gewaltiger Niveau-Einbruch, der zum Teil politische Gründe hatte: »Eine Riesenzahl von nichtqualifizierten Lehrern, die mit größter Eile eingestellt wurden, um den Andrang von Schülern aufzufangen, der von der Ausweitung der allgemeinen Höheren Schule zusammen mit dem demographischen Aufschwung hervorgerufen worden war, fand sich mit einem Schlag ernennbar und ernannt. Diejenigen, die zuvor ihre Lehrerqualifikation erworben hatten, waren ebenfalls mit einem Schlag nicht mehr in einer Institution an ihrem Platz, wo die neuen Lehrer ebenso ungebildet wie ihre Schüler waren, weil nicht mehr der Wissensgehalt zählte.« 158

Die zuvor gut Ausgebildeten seien oftmals schikaniert worden und hätten die abgelegensten Stellen und die schwierigsten Klassen erhalten. Henry geht der Frage, was Pädagogik bedeutet, noch in Zusammenhang mit zwei weiteren Fragen 159 in Bezug auf die Weitervermittlung von Wissen nach: Er fragt, welches Wissen weiterzuvermitteln sei und wie dies geschehen soll. Der Beantwortung der zweiten Frage, der Frage nach der Wissenskommunikation, also nach dem Wie, stellt Henry eine rhetorische Frage voran: »Ist die Pädagogik nicht jenes vorausliegende Wissen, das sich allen anderen auferlegt und ihnen die angemessenen Weisen für ihre Weitervermittlung vorschreibt?« 160

Henry macht deutlich, dass die spezifischen Gesetze der Kommunikation keine formalen Gesetze seien und somit keinen selbständigen wissenschaftlichen Bereich bildeten; Pädagogik sei somit keine selbständige Disziplin. Wenn man Pädagogik als selbständige Disziplin betreibe, dann werde der Unterricht »vom unterrichteten Gehalt unabhängig« 161 und dies führe, wie aus dem eben erwähnten Zitat zu entnehmen ist, zu nichtqualifizierten Einheitslehrern. Demgegen-

157 158 159 160 161

Ebd. S. 317. Ebd. S. 331. Vgl. ebd. S. 330. Ebd. S. 330. Ebd. S. 331.

204 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

über betont er, dass sich Weitervermittlung und Erwerb von Wissen nicht vom kognitiven Gehalt abtrennen ließen. »Denn der Erwerb und somit die Weitervermittlung eines Wissens sind in Wirklichkeit mit der konkreten phänomenologischen Wirktatsächlichkeit desselben in der Wiederholung identisch, das heißt mit dem Akt, der davon den Repräsentationsgehalt im Fall der theoretischen Erkenntnis wiedererzeugt, bzw. mit dem Pathos, das sich gleichfalls in der Wiederholung mit der praktischen Wahrheit identifiziert, wie es für Ästhetik, Ethik und Religion der Fall ist.« 162

Pädagogik ist hier untrennbar mit ›Pathos‹, mit lebendiger Leidenschaftlichkeit verbunden. Das Wesen der Kommunikation müsse sich mit der phänomenologischen Aktualisierung des zu kommunizierenden Wissens identifizieren. »Ein unwissender Pädagoge ist ein hölzernes Eisen.« 163 , urteilt Henry betont hart, indem er von der LehrerInSchülerIn-Beziehung spricht, die nie unabhängig von der ›phänomenologischen Aktualisierung‹ der jeweils zu vermittelnden Kenntnis sein dürfe. PädagogInnen seien somit nur dann wirkliche PädagogInnen, wenn sie mit ›Leib und Seele‹ oder mit ›Fleisch und Blut‹ PädagogInnen sind, wenn das Pathos des Lebens mitschwinge. Hier wird der Pädagogik also ein ganz besonderer ›Ort‹ eingeräumt, ein Ort der Kultur, ein Ort der Selbstrealisierung bzw. der Selbststeigerung des Lebens, und, noch einmal soll Henrys Formulierung aufgegriffen werden: »Die […] Pädagogik als solche ist die Erste Philosophie.« 164 Diese Aussagen über Pädagogik und über PädagogInnen erhellen Henrys hohen Anspruch, der mit Schule und Universität verbunden ist. In diesem siebten Kapitel der Kulturkritik »Die Barbarei« mit der Bezeichnung »Die Zerstörung der Universität« äußert er sich auch sehr kritisch und negativ über unsere mediale Kommunikation, insbesondere über die Problematik des Fernsehens. Bedenkt man, dass die Kulturkritik ›Die Barbarei‹ bereits 1987 erschienen ist, sieht man gerade an diesem Textabschnitt Henrys seherische Qualitäten, da sich die TV-Landschaft weltweit in den letzten Jahrzehnten geradezu vervielfacht hat. Die Macht dieses Mediums und anderer Medien hat die pädagogische Landschaft verändert und geprägt. Henry formuliert seine Kritik und vor allem seine Sorge sehr klar: »Die wahre Pädagogik ist das Fernsehen!«, 165 wobei ich diese Aussage auf die moder162 163 164 165

Ebd. S. 337. Ebd. S. 337. Ebd. S. 337. Ebd. S. 363.

205 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

neren Medien, vor allem auf das Internet und die damit verbundenen Möglichkeiten, ausweiten möchte. Am Ende des Kapitels analysiert er die ›Banalität‹ des Zuschauens, des nur mehr rezeptiven Fernsehzuschauers, der sich dem gesellschaftlichen Dogma der Aktualität unterworfen und – weil nur mehr ›rezeptiv‹ – jede Lebendigkeit verloren habe. In diesem Zusammenhang weist Henry darauf hin, wer traditionellerweise für die Menschen bzw. für die Menschheit das »intellektuelle und geistig-spirituelle Vermögen […] verantwortet« 166 habe: Es sei von jenen verantwortet worden, »die in sich die große Bewegung der Lebenssteigerung vollzogen und es als ihre Aufgabe ansahen, sie in einer möglichen Wiederholung anderen weiterzuvermitteln.« 167

Henry bezeichnet sie als die Gelehrten und Intellektuellen, und denen sei diese verantwortungsvolle Aufgabe »von neuen Lehrern entrissen worden, welche die blinden Diener des Universums der Technik und der Medien sind, nämlich von den Journalisten und den Politikern«. 168 Mit den ›neuen Lehrern‹ sind neben Journalisten und Politikern auch jene vorhin skizzierten ›unwissenden Pädagogen‹ gemeint, die bei der Weitervermittlung von Wissen aus dem Erworbenen nicht ihre eigene Evidenz gemacht hätten, keinen ›Pathos‹ entwickelten und die Pädagogik vom unterrichteten Gehalt trennten. Sie beteiligten sich durch Banalitäten an der Zerstörung der Kultur, an der Barbarei, anstatt die große Bewegung der Lebenssteigerung in sich zu vollziehen. Für Henry ist Pädagogik also »jenes vorausliegende Wissen, das sich allen anderen auferlegt und ihnen die angemessenen Weisen für ihre Weitervermittlung vorschreibt.« 169

Der Begriff ›vorausliegend‹ deutet darauf hin, dass dieses Wissen nicht wie andere ›Inhalte‹ durch den Besuch von Vorlesungen ›erlernbar‹ ist, sondern es ist im Leben selbst begründet, das sich – wie es die Grundüberzeugung von Henry ist – stets selbst steigern will und letztlich immer auch vom Schmerz in die Freude übergehen will. Dass gut ausgebildete Universitätsprofessorinnen und -professoren die Lehramtsstudierenden auf diesem Weg begleiten sollen, ist kein Widerspruch zur Bezeichnung ›vorausliegend‹. Dieses ›vorausliegend‹ 166 167 168 169

Ebd. S. 364. Ebd. S. 364. Ebd. S. 364. Ebd. S. 330.

206 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

deutet allerdings darauf hin, dass Lehrende und Lernende – dies gilt sowohl für die Universität als auch für die Schule – immer schon den gleichen Zugang zur wichtigsten ›Quelle‹ haben, nämlich zum Leben bzw. zur Selbstaffektion des Lebens. Die Pädagogik als ›Erste Philosophie‹ ist, wie alles Lebendige, eingebettet in diese Selbstaffektion des Lebens, sie ist Kultur und Ethik. Als Ethik ist sie dem Leben verpflichtet, das sich in ihr steigern will, als Kultur will sie stets ›verfeinert‹ werden, um nicht in eine Form von Barbarei zu fallen. Daher besteht für Pädagoginnen und Pädagogen im Sinne dieser Kultur die ›Selbstverpflichtung‹ zum lebenslangen Lernen. Im folgenden Abschnitt werden zwei Begriffe aus der Existenzanalyse von Viktor Frankl, die Adjektive ›personal‹ und ›existenziell‹, und das den Ansatz von Michel Henry bestimmende Adjektiv ›lebensphänomenologisch‹ zueinander in Beziehung gesetzt und in eine gemeinsame pädagogische Perspektive gestellt. Diese ›personal-lebensphänomenologisch-existenzielle‹ Pädagogik ist keine eigene ›pädagogische Strömung‹, sie bildet keine Teildisziplin von angewandter Pädagogik, ist kein abgegrenztes System und lässt sich auch keinem bestimmten Einrichtungstyp zuordnen. Sie entspricht vor allem einer Haltung, die im letzten Kapitel genauer ausgeführt wird. In ihr wirken die Menschenbilder, die der Existenzanalyse und der Lebensphänomenologie zugrunde liegen, und sie will sich, wie es Henry in seiner Charakterisierung von Pädagogik als ›Erster Philosophie‹ beschreibt, von jenem ›vorausliegenden‹ Wissen speisen, um die Weitervermittlung und den Erwerb von Wissen mit dem jeweiligen unterrichteten Gehalt in Einklang zu bringen. Das Spezifikum dieser Pädagogik entsteht erst durch das Zu- und Miteinander aller drei Tonalitäten. Die vorhin ausgeführten Beispiele von personaler bzw. existenzieller Pädagogik bezogen sich eindeutig auf Viktor Frankl und auf die Anthropologie, die der Existenzanalyse zugrunde liegt. Die dritte, nämlich die lebensphänomenologische Dimension, führt zu einer neuen Perspektive, zu der mich das Studium der Schriften von Michel Henry geführt hat.

5.9.3. Personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik Die drei Adjektive ›personal‹, ›lebensphänomenologisch‹ und ›existenziell‹ sind gleichsam Signal-Begriffe mit bestimmten Konnotationen. ›Personal‹ und ›existenziell‹ sind mehrfach anzuwendende 207 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Ausdrücke. Der Begriff ›personal‹ wird hier speziell auf die Existenzanalyse von Viktor E. Frankl bezogen, während ›existenziell‹ über Frankl hinaus auch auf den ›alltäglichen‹ Wortgebrauch Bezug nimmt. Die Vokabel ›lebensphänomenologisch‹ verweist direkt auf Michel Henry und auf die Weiterentwicklung seiner ›Radikalen Lebensphänomenologie‹. Zur Fokussierung seien die drei Begriffe kurz umrissen. personal • die Person betreffend (auf den Person-Begriff von Frankl bezogen) • das Freie im Menschen betreffend (im Gegensatz zum Somatischen und Psychischen, wo der Mensch nicht frei ist) • das Geistige betreffend, das (laut Frankl) nicht erkranken kann und einen Willen zum Sinn hat • die Würde des Menschen betreffend, der in Beziehung zu Gott steht • authentisch, einmalig, nicht substituierbar existenziell • die Dimensionen der (menschlichen) Existenz betreffend � Heraustreten aus der Bedingtheit in die Freiheit � aus sich selbst heraustreten, sich selbst gegenübertreten (Selbstdistanzierung) � außer sich und bei Anderem sein (Selbsttranszendenz) • die spezifische Form und Eigen-Art des Menschen bzw. des Mensch-Seins; die den Menschen auszeichnende Seinsweise mit einer Vielzahl an Möglichkeiten • auf Freiheit, Verantwortung und Sinn bezogen • In-der-Welt-sein; Beziehung zu dieser Welt • sich der eigenen Bedeutung bewusst sein lebensphänomenologisch • Selbstaffektion des Lebens an Stelle von Intentionalität • rein phänomenologisches Leben als Instanz des ursprünglichen Erscheinens • transzendentale Leiblichkeit – das Subjekt versteht sich selbst unmittelbar affektiv in seiner Vermögensausübung • Fleisch als Träger der Urintelligibilität des Lebens im Sinne von Inkarnation 208 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

• • • • •

Unterscheidung von Körper, Leib und Fleisch: Kein Fleisch ist imstande, im Welterscheinen zu erscheinen Umsturz der Phänomenologie: Wieviel Erscheinen, soviel Unwirklichkeit – Dürftigkeit des Erscheinens (Gegenreduktion) Passibilität und Sich: Empfangen und Gabe Kraftempfindung, Bewegung und das ›Ich-kann‹ Selbststeigerung des Lebens und die Tonalitäten von sich-erleiden und sich-erfreuen

Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass im streng reduktiven Denken manche Aspekte von Existenzanalyse und Lebensphänomenologie einander widersprechen. Aufgezeigt wurde diese Diskrepanz vor allem anhand der Größen ›Person‹ und ›Sinn‹ : Sind Person und Sinn konstitutive Größen für Viktor Frankl, um die den Menschen auszeichnende Seinsweise in der Form der Existenzanalyse zum Ausdruck zu bringen, so entbehren sie jeder Bedeutung für Michel Henrys Lebensphänomenologie, da für ihn die Selbstaffektion des Lebens keine Unterscheidung zwischen ›Sinn‹ und ›Nicht-Sinn‹ mehr rechtfertigt und der Begriff ›Person‹ im Sinne der ›Passibilität‹ und des ›Mich‹ wenig Aussagekraft mehr hat. Ist für Frankl die SinnErfahrung eines Menschen stets an etwas, zum Beispiel an eine Aufgabe, oder an jemanden gebunden, das oder der gerade nicht er selbst ist (was der Begriff der ›Selbsttranszendenz‹ impliziert), so erübrigt sich die Rede vom ›Sinn‹ für Henry, da sie für ihn an die Fremderfahrung und an die Intentionalität eines Ego gebunden ist (wie es Husserl sehr klar dargestellt hat), das er als »konstruiertes Ego« 170 bezeichnet, welches in dieser Weise gar nicht existiert. Eine personal-lebensphänomenologisch-existenzielle Pädagogik, die stark von meiner eigenen Unterrichtserfahrung geprägt ist, weiß um diese Diskrepanz und geht einen pragmatischen Weg des SichBewährens bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf die methodischen Eigenheiten der beiden Denkansätze. Im Band 3 von »Seele, Existenz und Leben« mit dem Titel »Existenzanalyse und Lebensphänomenologie – Berichte aus der Praxis« werden die beiden Denkansätze als Reflexion der alltäglichen beruflichen Praxis von Medizin und Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, Pädagogik, Kunst und Religion zueinander in Beziehung gebracht. Schließlich werden auch

170

Vgl. Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 227.

209 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Geschlecht und Lebensalter in den Blick genommen. In der Einleitung wird festgehalten: »Es zeigt sich, dass die ursprüngliche ›Gewissheit des Lebens‹ als Zugänglichkeit zur ›Sinnhaftigkeit‹ desselben keine nur theoretische Anforderung ist, sondern sich im heutigen kulturellen Kontext – einschließlich dessen Kritik – als realisierbar erweist.« 171

Eine Verknüpfung von existenzanalytischer und lebensphänomenologischer Thematik wird in diesem Band verdeutlicht und als bereichernd dargestellt und als »Lebenskultur« 172 bezeichnet, in der man sich nicht »die lebensweltlichen Vorgaben nur von ›Spezialisten‹ verordnen« 173 lassen soll. In diesem Sinn wage ich zu sagen, dass die von mir als personal-lebensphänomenologisch-existenziell bezeichnete Pädagogik als ein Beitrag zur Lebenskultur in der Schule und speziell im Religionsunterricht verstanden werden kann. 5.9.3.1. Ausgangspunkt: Die ›Person‹ Den Ausgangspunkt dieser Pädagogik bildet der Mensch als Person. Im Adjektiv ›personal‹ ist die gesamte Bandbreite des Person-Seins enthalten, die bereits ausführlich entfaltet wurde. Im Zentrum steht die Überzeugung, dass der Mensch als ein vom Leben Gefragter sein Dasein verantworten kann und muss, und dazu hat er die notwendige Freiheit der geistigen Dimension. Mit dem Willen zum Sinn begabt kann der Mensch Werte fühlen und verwirklichen; die Erfahrungen von Leid sind durch die Möglichkeit von Einstellungswerten in diesen Sinnzusammenhang eingebunden. Jede Person ist einmalig, nicht substituierbar und entfaltet ihr Person-Sein durch ihr AuthentischSein. In pädagogischen Kontexten im Rahmen von Schule und speziell im Religionsunterricht sind damit Konsequenzen verbunden. In der Begegnung zwischen SchülerIn und LehrerIn treffen sich jeweils zwei Personen, zwei Freiheiten, zwei vom Leben in der jeweiligen Situation gefragte Menschen, die, wenn sie authentisch sind, in ihren ›Antworten‹ sowohl ›unberechenbar‹ als auch ›verletzbar‹ sind. ›UnFunke, Günter/Kühn, Rolf/Stachura, Renate (Hg.): Existenzanalyse und Lebensphänomenologie – Berichte aus der Praxis (Seele, Existenz und Leben, Band 3). Freiburg/München 2006. »Zu diesem Buch«. 172 Ebd. S. 7. 173 Ebd. S. 8. 171

210 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

berechenbar‹ bedeutet nicht ›Willkür‹, sondern Lebendigkeit. ›Verletzbar‹ bedeutet ›angreifbar‹, wenn keine Maske ›im Spiel‹ ist. Diese Gegebenheiten gelten für alle SchülerInnen und für alle LehrerInnen und zeigen sehr deutlich, dass es auf der Ebene des Person-Seins kein hierarchisches Gefälle gibt. Das ›Gefälle‹ im Sinne der Aufgabenverteilung betrifft, sowohl aus dem Blickwinkel der Lehrenden als auch der SchülerInnen, die Klarheit der ›Rolle‹, deren Bedeutung hier im soziologischen Sinn nicht in Frage gestellt werden soll. Dass der Begriff ›Rolle‹ in Anführungszeichen steht, soll darauf hinweisen, dass Lehrende letztlich eben keine Rolle ›spielen‹, wie es in einem Theater gefordert ist, da es kein Drehbuch gibt und damit nichts Vorgegebenes. Lehrende haben meines Erachtens eine ›Aufgabe‹. Auch die Rede von einer ›Funktion‹, die Lehrende ausüben (sollen), sei hier klar in Frage gestellt. Wie bereits mehrfach betont wurde, beinhaltet der Begriff ›Funktion‹ etwas Mechanisches, etwas Nicht-Lebendiges, etwas ›Totes‹. Mensch-Sein in Lebendigkeit und Funktionieren schließen einander aus. Somit könnte sich der Begriff ›Aufgabe‹ für die Lehrenden bewähren. Ähnlich wie es keine vorgegebene Rolle für die Lehrenden gibt, würde ich auch den Lehrstoff in dieser Hinsicht nicht als etwas ›Vorgegebenes‹ bezeichnen, da der Umgang mit dem Lehrstoff oder mit dem Lehrplan vom jeweiligen Zugang der Lehrenden immer mitgeprägt ist und auch von anderen Faktoren abhängt, wie zum Beispiel der jeweiligen Atmosphäre an einem bestimmten Schultag bzw. in einer bestimmten Klasse. Diese sprachlichen Nuancen halte ich für wertvoll und wichtig. Sie sind weder ›Wortklauberei‹ noch Sophismus, sondern der Versuch, im menschlichen Miteinander Worte und Begriffe zu finden, die dem Wesen des Menschen nahe kommen können. Gerade die Rückbesinnung auf den Sprach-Künstler Viktor Frankl, der sich bemüht hat, den Worten eine besondere Sinn-Dimension zu verleihen bzw. deren Sinn-Dimension zu bergen, legt nahe, den Feinheiten von Sprache nachzugehen und genau hinzuhören, was und wie jeweils gesprochen wird. Nicht zuletzt setzt die Theologie bei der Genauigkeit der Sprache an: Theologisch denken und sich theologisch ausdrücken setzen Sprachkompetenz voraus. Sprachkompetenz beinhaltet in diesem Zusammenhang ein hohes Maß an Sprach-Sensibilität. Die ›Person‹ im Sinne von Frankls Existenzanalyse als Ausgangspunkt dieser Pädagogik wirft im schulischen Kontext viele Fragen auf. Auf die Verletzbarkeit durch das Nicht-Tragen einer Maske 211 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

wurde bereits hingewiesen – im Zusammenhang mit dieser ›Verletzbarkeit‹ lassen sich weitere Fragen stellen. •

• •



• • •

Was geschieht, wenn sich jemand – LehrerIn oder SchülerIn – nicht ›zeigen‹ will, weil die Angst vor der Verletzbarkeit zu groß ist? Und aus diesem Grund ganz bewusst eine ›Maske aufsetzt‹ ? Was geschieht, wenn es um das große Thema Scham geht? Was geschieht, wenn das ›Durchtönen‹, das per-sonare, durch Faktoren vermindert oder gar verhindert wird, die sich nicht direkt beeinflussen lassen, etwa bei Traumatisierungen? Was geschieht, wenn sich jemand – LehrerIn oder SchülerIn – nicht (mehr) als Gefragte/r erlebt, auch nicht als vom Leben Gefragte/r? Was geschieht, wenn sich die Erfahrung von Sinnlosigkeit einstellt oder sogar dominant wird? Was geschieht, wenn Werte nicht mehr gefühlt werden können, geschweige denn zu einer Verwirklichung kommen? Was geschieht, wenn der personale Umgang miteinander für eine beteiligte Person zu viel Nähe signalisiert, die sie derzeit nicht will bzw. nicht aushält?

Die Liste an Fragen lässt sich fortsetzen. Wichtig ist der Hinweis, dass alle Fragen aus dem Blickwinkel sowohl von SchülerInnen als auch von LehrerInnen gestellt werden können. Die Lehrperson, die sich mit Frankls Existenzanalyse beschäftigt und vielleicht auch beraterische Kompetenzen erworben hat, entwickelt im Laufe des beruflichen Lebens immer mehr Kompetenz, um mit solchen Problemen besser umgehen zu können. Sollten die Probleme die Lehrperson selbst treffen, wird sie sich (hoffentlich) professionelle Hilfe holen, etwa in Form von Supervision, Lebensberatung oder Therapie. Wenn SchülerInnen betroffen sind, ist es wichtig, unterscheiden zu können, was im Rahmen des Unterrichts pädagogisch möglich und verantwortbar ist – der Unterricht ist kein Raum für eine Therapie! – und wo es angebracht ist, die betroffene Schülerin bzw. den betroffenen Schüler auf eine professionelle Hilfe von außen aufmerksam zu machen. Ob diese Hilfe auch angenommen wird, obliegt selbstverständlich der Freiheit jeder bzw. jedes Einzelnen und liegt nicht in der Verantwortung der Lehrperson.

212 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

5.9.3.2. Existenzielle Dimensionen »Die Idee eines Willens zum Sinn darf nicht im Sinne eines Appells an den Willen missdeutet werden. Glaube, Liebe, Hoffnung lassen sich nicht manipulieren und fabrizieren. Niemand kann sie befehlen. Selbst dem Zugriff des eigenen Willens entziehen sie sich. Ich kann nicht glauben wollen, ich kann nicht lieben wollen, ich kann nicht hoffen wollen – und vor allem kann ich nicht wollen wollen. Darum ist es müßig, einen Menschen aufzufordern, ›den Sinn zu wollen‹. An den Willen zum Sinn appellieren heißt vielmehr den Sinn selbst aufleuchten lassen – und es dem Willen überlassen, ihn zu wollen.« 174

Frankls These bzw. Überzeugung ›Man kann nicht wollen wollen‹ beinhaltet weitreichende Konsequenzen; im schulischen Kontext stellt es manchen Zugang zu Leistung und Motivation radikal in Frage. Das den Menschen auszeichnende Sein nennt Frankl »Existenz«. 175 Diese Zuschreibung enthält Vieles von dem, worauf in dieser Arbeit bereits eingegangen wurde: Sinn, Wert, Freiheit, Verantwortung. Die Existenzanalyse versteht sich als eine Analyse des Menschen auf Freiheit und Verantwortung hin, auf Verantwortung gegenüber einem Sinn. Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass dieser Blick auf Werte, Sinn, Freiheit und Verantwortung enormen Druck beinhaltet. »[Der Mensch, der] sich in bewusster vorübergehender Abwendung vom sinnhaft determinierten Leben, etwa zur Zeit seiner ›Feste‹, dem Rausche zuwendet; im Rausche nämlich, in der absichtlich und künstlich herbeigeführten Selbstvergessenheit, entlastet er sich von Zeit zu Zeit bewusst von dem mitunter allzu großen Druck seiner wesenhaften Verantwortung.« 176

So zeigt diese spezifisch menschliche Dimension der ›Existenz‹ ihre schwere Seite; alles Reden darüber bedarf einer Behutsamkeit, damit die Last nicht noch schwerer wird. Besonders deutlich buchstabiert Frankl diesen Aspekt speziell für unseren Kulturkreis: »Zumindest der abendländische Mensch steht […] eigentlich und letztlich immer unter dem Diktat von Werten, die er schöpferisch zu verwirklichen hat.« 177 Hier drängt sich für mich die Frage auf, inwieweit in der Schule ein ›Diktat‹ von Werten manchen SchülerInnen besonders zu schaffen 174 175 176 177

Frankl: Ärztliche Seelsorge. 1997. S. 101. Vgl. ebd. S. 120 f. Ebd. S. 59. Ebd. S. 59.

213 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

macht, ob einige von ihnen an diesem Diktat eventuell zerbrechen können. Mir ist klar, dass es darauf keine allgemeingültige Antwort gibt; man kann auch davon ausgehen, dass andere Kulturkreise andere Formen des Diktats kennen, an denen Menschen zerbrechen können. Der Hinweis auf ein mögliches Diktat von Werten gehört meines Erachtens notwendig reflektiert, wenn ›verantwortungsvoll‹ über Schule gesprochen wird. Noch einmal sei Frankl zitiert in Bezug auf das mögliche Infrage-Stellen des Daseinssinns: »Die Frage nach dem Sinn des Lebens, mag sie nun ausgesprochen oder unausdrücklich gestellt sein, ist als eine eigentlich menschliche Frage zu bezeichnen. Das In-Frage-Stellen des Lebenssinns kann daher niemals an sich etwa der Ausdruck von Krankhaftem am Menschen sein; es ist vielmehr eigentlicher Ausdruck des Menschen schlechthin – Ausdruck nachgerade des Menschlichsten im Menschen.« 178

Wiederum sei auf den Kontext Schule verwiesen: Wenn das In-FrageStellen von Sinn zum Menschlichsten im Menschen gehört, dann darf damit jeder Sinn gemeint sein, also auch jede Form von Sinn in der Schule. Dass die Erfahrung von Sinnlosigkeit zu Motivationsverlust und folglich zum Leistungsabfall führen kann, ist schlechthin bekannt. Unter dem Blickwinkel der Existenzanalyse zeichnet sich vielleicht ein anderer Umgang mit solchen den meisten LehrerInnen vertrauten Phänomenen ab. Der Appell ans Wollen ist laut Frankl sinnlos. Vielleicht gelingt es, den betroffenen Menschen in seiner Erfahrung von Sinnlosigkeit nicht alleine zu lassen, sondern ihn durch die eigene Wertberührung zu begleiten; und zu dieser Wertberührung gehört einerseits, dass es ein großer Wert ist, wenn ich vom Leiden eines anderen Menschen berührt bin und ihm das auch zu erkennen gebe, und andererseits, dass ich meine eigenen Werte weiterlebe. Für das Miteinander mit SchülerInnen im Religionsunterricht könnte es auch wichtig sein, nicht zu vergessen, dass die Sinnfrage einen Menschen gerade in der Pubertät 179 in ihrer ganzen Radikalität überwältigen kann. Eine Pädagogik, die die existenziellen Dimensionen des Menschen bewusst im Blick hat, stellt sich dem Anspruch, nahe am Dasein bzw. am Leben der SchülerInnen zu sein. Sie ›muss‹ die Spannung aushalten, die sich aus dem vorhin Gesagten ableitet: Werte sind einerseits Existenziale des Menschen und können andererseits zur Ty178 179

Ebd. S. 56. Vgl. ebd. S. 57.

214 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Pädagogik

rannei bzw. zur Diktatur werden. Eine Pädagogik, die die existenziellen Dimensionen des Menschen bewusst im Blick hat, bedarf ein Berufsleben lang der Selbstreflexion, in der auch Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz geübt werden. Es braucht auch kontinuierliche Supervision und Persönlichkeitsbildung, nicht zuletzt eine vertiefte Beschäftigung mit Kultur. Letztere führt zum Blick auf die Lebensphänomenologie mit dem feinen Sensorium, die Fallen der Barbarei zu erkennen, um ihnen entschieden entgegentreten zu können. 5.9.3.3. Kontrapunkt: lebensphänomenologische Radikalität Manche der vorhin gestellten ›Was-geschieht-Fragen‹ bekommen im Licht der Lebensphänomenologie eine andere Färbung. Die radikal lebensphänomenologische Dimension der Pädagogik könnte einen ›Kontrapunkt‹ zur personalen und existenziellen Dimension darstellen, der nicht als ›Aber‹ oder als ›Gegenteil‹ verstanden werden will, sondern – analog dem Kontrapunkt 180 bei einer Fuge in der Musik – als notwendige ›Gegenstimme‹, die ein Thema als zweite Stimme umspielt und begleitet und gelegentlich sogar den Platz der ersten Stimme einnehmen kann. Dieser Kontrapunkt macht auf mehrere Tonalitäten aufmerksam, die im Verlauf dieser Arbeit bereits ausführlich entfaltet worden sind. Hier sollen sie abschließend in eine pädagogische Perspektive gestellt werden, die erkennen lässt, in welcher Weise die anderen Dimensionen ergänzt werden können, manchmal vielleicht auch ergänzt werden müssen, sofern die Analysen durch Michel Henrys Lebensphänomenologie den eigenen Zugang zu Leben und Welt berührt haben oder sogar zum eigenen Zugang zu Leben und Welt geworden sind. Dieser Kontrapunkt soll diese ›andere Färbung‹ zum Ausdruck bringen. Die Bezeichnung ›radikal‹ verweist, sieht man von einem extrem politischen oder einem mathematischen Verständnis ab, auf etwas Grundlegendes und Gründliches, was ›an die Wurzel‹ bzw. in die Tiefe geht. Henry bezeichnet seine Lebensphänomenologie als ›Radikale

180 Der Kontrapunkt (von lat. punctus contra punctum = »Note gegen Note«) ist die wichtigste Kompositionstechnik der Renaissance und des Barock. Sie erlebte unter Johann Sebastian Bach einen Höhepunkt. In der Musiktheorie ist die einfachste Variante des Kontrapunkts die »Gegenstimme« zu einer vorgegebenen Melodie, die auch als Cantus firmus bezeichnet wird.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

Lebensphänomenologie‹. Was ›radikal‹ hier bedeutet, soll nun in seinen wesentlichen Bedeutungen skizziert werden; dabei beziehe ich mich vor allem auf Henrys ›Radikale Lebensphänomenologie – Ausgewählte Studien zur Phänomenologie‹, die von Rolf Kühn 1992 aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben worden sind. Henry setzt sich ausführlich mit der »cogitatio« bzw. mit dem »cogito« 181 auseinander, die im Denken von René Descartes eine große Rolle spielen, wenn er zwischen ›res cogitans‹ und ›res extensa‹ unterscheidet. Da sich die Lebensphänomenologie gerade auch in Abhebung von Husserls Phänomenologie verstehen lässt, bezieht sich Henry systematisch darauf, wie Husserl die ›cogitatio‹ weiterentwickelt hat, um zu zeigen, dass dieser Denkansatz weder dem Phänomen Leben noch dem Erleben des Menschen gerecht wird. Im Zentrum seiner Kritik steht die ›Intentionalität‹, 182 die für Husserl zum entscheidenden Moment geworden ist. Für Henry dagegen ist ›Intentionalität‹ die hineinstellende Setzung ins ›Vor‹ oder die ›Vor-Stellung‹, in der jedes Bewusstsein ein Bewusstsein ›von etwas‹ ist, sich ›auf etwas‹ bezieht, »auf einen ›transzendenten‹ Gehalt, das heißt der dem Bewusstsein äußerlich ist, indem er sich ihm in und durch diese Äußerlichkeit zeigt.« 183 Ein Phänomen ist in dieser Leseart nur das, was sich im Licht zeigen und so sichtbar werden kann, somit ›äußerlich‹ ist. In diesem Intentionalitäts-Denken liegt sieht Henry die Ursache für alle Sackgassen, die dem Leben den ihm einzig adäquaten Platz nehmen, da diese Sichtbarkeit für Henry – auf das Leben bezogen – gerade nicht gegeben ist. Somit heißt ›radikal‹ zuallererst, sich von diesem Intentionalitätsdenken und von einem dem Leben nicht gerecht werdenden Transzendenz-Denken zu verabschieden. Die ursprüngliche Phänomenalität ist für Henry die Selbstaffektion des Lebens, die er als ›Selbstgebung‹ bezeichnet: »Nun ist diese Selbstgebung strukturell dem ›Sich-Beziehen-Auf‹ heterogen. In sich selbst ist sie kein ›Sich-Beziehen-Auf‹, sondern schließt dies unübersteigbar aus sich aus; sie ist nicht außerhalb von sich, sondern in sich – keine Transzendenz, sondern radikale Immanenz. Und nur auf dem Grund dieser radikalen Immanenz ist so etwas wie eine Transzendenz möglich.« 184 181 ›Cogito‹ bezeichnet bei Descartes die Eigenschaft des denkenden Ich, das vom rein körperlichen Dasein strikt getrennt ist, das Cogito ist der Aktvollzug des Ego. ›Cogitatio‹ bezeichnet den Denkgehalt. 182 Vgl. Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 192. 183 Ebd. S. 192. 184 Ebd. S. 145.

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Pädagogik

›Radikal‹ bedeutet für Henry somit auch ›radikale Immanenz‹, auf Grund derer so etwas wie Transzendenz erst möglich ist. Im Kapitel »Hinführung zur Gottesfrage: Seinsbeweis oder Lebenserweis?« 185 beschäftigt er sich intensiv mit den Bedingungen des Zugangs zu Gott. In Auseinandersetzung mit dem Denken von Anselm von Canterbury spricht Henry von der »radikalen Innerlichkeit«, 186 in der sich auch die Realität Gottes begründe und in ihr schöpfe. »Was sich durch seine Innerlichkeit begründet und seine Realität in ihr schöpft, findet sich ihrer beraubt, wenn die Absicht besteht, es im Licht des Verstandes exhibitionierend vorzuweisen.« 187

An zahlreichen Textstellen wird auf Meister Eckhart Bezug genommen, in dessen Denken Henry eine starke Verwandtschaft erfährt. Für ihn wohnt Gott nicht in einem unzugänglichen Licht, er werde nicht durch die Intentionalität des Verstandes erkannt, sondern sei jedem Menschen in der radikalen Innerlichkeit zugänglich. Eine Repräsentation Gottes im Verstand bezeichnet Henry als »Form eines Duplikats«. 188 Nach der ›Nicht-Intentionalität‹ und der ›Immanenz‹ lässt sich als Drittes die ›radikale Subjektivität‹ herausarbeiten. Henry spricht von einem Prinzip »der radikalen Subjektivität von allem, was ist«, 189 und er bezieht dies unter anderem auch auf die abstrakte Kunst, 190 die sich gegen bildliche Darstellungen definiere und dadurch dem subjektiven Empfinden einen größeren Spielraum lasse. Durch seine Beschäftigung mit Ökonomie, mit Politik und speziell mit den zahlreichen diktatorischen Verhältnissen in unserer Welt zeichnet sich für Henry ein spezifischer Akzent von Subjektivität ab: »Das radikal subjektive, radikal immanente und wesenhaft individuelle Leben ist das Alpha und Omega der allgemeinen Angelegenheit, deren wahrer Gehalt; ein Gehalt, der vom ›Allgemeinen‹ als solchem verschieden und nicht mit diesem gleichzusetzen ist, verschieden vom Politischen. So kann die allgemeine Angelegenheit nicht durch das Politische definiert werden, ebensowenig

Vgl. ebd. S. 251–273. Ebd. S. 257. 187 Ebd. S. 257. 188 Ebd. S. 257. 189 Ebd. S. 290. 190 Michel Henry hat sich ausführlich mit der abstrakten Malerei auseinandergesetzt, vor allem mit dem Werk des russischen Malers, Grafikers und Kunsttheoretikers Wassily Kandinsky (1866–1944). 185 186

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

wie dieses sich nicht durch sich selbst bestimmen kann, sondern nur von jenen lebendigen Individuen aus, die nicht nur der Existenzgrund des Politischen sind, sondern in letzter Hinsicht das Sein selbst, die einzig denkbare Substanz.« 191

In diesen Sätzen liegt ein Zündstoff, der viele Lebensbereiche betrifft. Von den lebendigen Individuen aus bestimmt sich laut Henry letztlich alles Andere; das Sein selbst ist für ihn die einzig denkbare Substanz. Alle Gegebenheiten, die nicht diesen Ausgangspunkt hätten, tendierten zur Barbarei oder seien bereits der Barbarei ausgeliefert. Die Bezeichnung ›radikal‹ kann meines Erachtens diesem Denkansatz klar zugeschrieben werden. Ein vierter Aspekt von Radikalität in der Lebensphänomenologie betrifft das »radikal immanente gemeinsame Sein«; 192 die Betonung liegt auf ›gemeinsam‹. Henry ist es wichtig zu betonen, dass die Individuen niemals isoliert seien. Das Leben sei ein gemeinsames Wesen, in das alle lebendigen Naturen eingebunden seien. »Jeder trägt in der Innerlichkeit seines Triebes ein Gemeinsam-Sein mit dem Leben und dem Anderen.« 193 Diese Verbundenheit drücke sich im Mit-Pathos aus, in Sympathie, Mitleid, Liebe, Einsamkeit und in allen anderen Formen von ›Pathos‹, »vor allem in dem schweigenden Mit-Sein zuerst, wie dieses sich zwischen Mutter und Kind herausbildet.« 194 Dieser Gedanke der Gemeinsamkeit, des Mit-Pathos, zieht sich durch die Lebensphänomenologie wie ein roter Faden. Er verweist auf etwas Tröstliches und auf Möglichkeiten des Tröstenden bzw. des Tröstens, die allen Individuen als lebendigen Naturen zugänglich sind. Da dieser Trost des Nicht-isoliert-Seins an die Wurzel geht, ist er radikal. In einer personal-lebensphänomenologisch-existenziellen Pädagogik klingen viele Stimmen – oftmals auch zugleich. Nicht immer ergibt das eine Harmonie, einen Wohlklang, abgesehen davon, dass jeder Mensch ein eigenes Empfinden von Harmonie und Disharmonie bzw. von Dissonanz hat. Die lebensphänomenologische Dimension innerhalb dieser Trias in der Pädagogik ist meines Erachtens Trost und Stachel zugleich. Sie kann zum Trost werden, wenn im Unterricht Verwirrung herrscht, denn »jedes wahrhafte Denken ver-

191 192 193 194

Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 300 f. Vgl. ebd. 314. Ebd. S. 314. Ebd. S. 314.

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Pädagogik

wirrt«, 195 versichert uns Henry. Sie kann zum Stachel werden, wenn das Wissen um die ›Dürftigkeit‹ des Erscheinens bzw. die Überzeugung, dass das Wesentliche, nämlich das rein phänomenologische Leben, sich der Sichtbarkeit entzieht, zum Problem für den personalen Umgang miteinander wird. Um das Bild vom Kontrapunkt in der Musik noch einmal zu bemühen, lässt sich sagen, dass Dissonanzen auch weh tun können. Jedoch wird ein Musikstück ohne Dissonanzen oftmals als eintönig oder langweilig empfunden, und ein Leben ohne Dissonanzen wird den Tonalitäten des Lebens zwischen sich-erleiden und sich-erfreuen nicht gerecht. Zur lebensphänomenologischen Dimension der hier skizzierten Pädagogik gehören neben der Radikalität noch weitere Aspekte, die im Unterricht spürbar werden können. •







195

Der Blick auf die leiblich anwesenden SchülerInnen kann sich verändern durch die Unterscheidung von Körper, Leib und Fleisch und im Speziellen durch das Verständnis vom Fleisch als Träger der Urintelligibilität des Lebens im Sinne von Inkarnation. Die Rede von ›Passibilität‹ und die Relativierung der Rede vom ›Ich‹ durch das ›Mich‹ verändern den Blick: Die notwendigen ›Aktivitäten‹ im Kontext Schule sollen keineswegs im Widerspruch zum Charakter der ›Gabe‹ und des ›Empfangens‹ stehen, sie bekommen unter diesem ›Charakter‹ jedoch eine andere Bedeutung. Henry spricht von der ›Bewegung‹ des Lebens, die sich im ›Ich kann‹ ausdrückt. Die SchülerInnen darin zu begleiten, erscheint mir eine pädagogisch wertvolle Aufgabe. Schließlich sei noch einmal die ›Selbststeigerung des Lebens‹ erwähnt, die den Bereich Schule gleichermaßen betrifft wie jeden anderen Bereich unseres Lebens und Erlebens. Die Formel heißt ›Selbststeigerung versus Barbarei‹, mit dem Wissen, dass es lebensphänomenologisch keine ›Leere‹ gibt und in Allem die Bewegung vom Sich-Erleiden hin zum Sich-Erfreuen gegeben ist. Diese Pädagogik ›verlangt‹ eine hohe Sensibilität dafür, da Barbarei, also ›Un-Kultur‹ jederzeit in den schulischen Rahmen hereinbrechen kann. Der Widerstand dagegen, der sich vielleicht

Ebd. S. 290.

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Existenzanalyse und Lebensphänomenologie im Religionsunterricht

oftmals ›im Untergrund‹ ausdrückt, gehört dann zur Ethik, die aus dem Leben selbst kommt. Ein zeitgemäßer Religionsunterricht muss in der Lage sein, vor keinem Lebensbereich und vor keiner weltlichen Gegebenheit die Augen verschließen zu müssen. Sowohl die Existenzanalyse von Viktor Frankl als auch die Radikale Lebensphänomenologie von Michel Henry sind in der Lage, den Blick der Lehrerinnen und Lehrer auf die vielen Tonalitäten im Kontext von Schule und Unterricht zu schärfen. Sie können das Verständnis für Probleme und Konflikte fördern, sie ermutigen zu handeln unter den Bedingungen der jeweils konkreten Schulstunde oder anderer Situationen im ›Lebensraum Schule‹, und sie stellen ein qualifiziertes Handwerkszeug zur Verfügung für eine dem Leben dienende Pädagogik und für eine offene Religionspädagogik, die keine Angst vor den Herausforderungen einer pluralistischen Welt haben muss. Nicht zuletzt kann die Haltung, die dieser Pädagogik zugrunde liegt, vor Überforderung und eventuell auch vor dem Burn-Out und vor Erschöpfungsdepressionen schützen, was im letzten Teil dieser Arbeit noch thematisiert wird.

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6. Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer: Unterrichten im ›Flow‹

Im letzten Kapitel wird eine ›Haltung‹ skizziert, die ReligionslehrerInnen ihren Schülerinnen und Schülern gegenüber einnehmen bzw. entwickeln können. Sie wird hier als ›phänomenologische Haltung‹ bezeichnet, in der zu unterrichten dem Fach Religion eine besondere Note verleihen kann und die die ReligionslehrerInnen in besonderer Weise befähigt, mit den gegenwärtigen schulischen Herausforderungen gut umgehen zu können. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass viele Begriffe, derer wir uns im täglichen Sprachgebrauch bedienen, im Kontext von Phänomenologie und Lebensphänomenologie eine zum Teil abweichende Bedeutung bekommen, die ausgewiesen sein will, um Missverständnisse zu vermeiden. Begriffe wie Angst, Überforderung, Kraft, Bewegung, haben in der Alltagssprache eine psychische, psychologische (z. B. Angst) oder physikalische (z. B. Bewegung, Kraft) Dimension, von der aus dem Blickwinkel der Lebensphänomenologie gerade abgesehen wird: Die Lebensphänomenologie beschreibt lebensimmanente Grundgegebenheiten, aus denen heraus erst alles Psychische, Psychologische oder Physikalische zu verstehen ist. Die Einklammerung welthaften Sehens bedeutet hier einen Rückverweis auf die innere Immanenz der Lebensbewegung. Hier ist die Welt als Schutzfunktion ›ausgeschaltet‹, was keine Flucht aus der Welt bedeutet, vielmehr wird das ›Wie‹ des Erscheinens zur zentralen Frage. Was es heißt, die Bedeutung all dessen für den Religionsunterricht im Sinne eines ›habitus‹ fruchtbar zu machen, wird im Folgenden entfaltet. Die phänomenologische Haltung muss ›eingeübt‹ 1 werden; sie kann eventuell auch einen Beitrag leisten, die Lehrenden vor dem ›Einüben‹ ist im streng reduktiven Sprachgebrauch der Lebensphänomenologie nicht ganz korrekt, da im Leben nichts eingeübt werden kann. Ich verwende ihn dennoch, da meines Erachtens einerseits im ›weltlichen Horizont‹ Vieles eingeübt werden

1

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

Burnout bzw. vor Erschöpfungsdepression zu schützen. Sie ist geprägt von besonderer Aufmerksamkeit und Lebendigkeit, und sie lässt Konflikte in einem Licht erscheinen, in dem nicht Angst und Überforderung vorherrschen, sondern eine ›Bewegung‹ 2 dessen, was ›sich zeigt‹, bestimmend wird. Im analogen Sinn dieser ›Bewegung‹ könnte man vom ›Unterrichten im Flow‹ sprechen, das, aus der Perspektive von SchülerInnen, ein ›Lernen im Flow‹ unterstützen kann. Der zunächst für den Bereich von Tanz und Sport entwickelte Begriff ›Flow‹ wird auch für rein geistige Aktivitäten in Anspruch genommen und bedeutet vor allem das ›Aufgehen in einer Tätigkeit‹. Der Flow-Zustand entspricht einem Zustand optimaler Resonanz der inneren Anteile und der Umwelt; das Flow-Erleben ist radikal individuell. Wenn hier – als Metapher – vom ›Unterrichten im Flow‹ gesprochen wird, dann soll auf eine besondere Chance für den Religionsunterricht aufmerksam gemacht werden: In der phänomenologischen Haltung zu unterrichten sieht von einem bestimmten Ziel bzw. von einer bestimmten Leistung, also von einer Ergebnisorientierung, ab und führt die Lehrenden in die Wahrnehmung dessen, was sie als Lehrende zu sehen bekommen, wenn sich das Wesentliche zeigt. Hier muss man nichts mehr ›tun‹ – daher die Rede vom ›Flow‹. ›Tun‹ ist hier selbstverständlich nicht gemeint im Sinne von ›keine Stundenvorbereitung, keine Inhalte, meine Aufgabe als LehrerIn nicht wahrnehmen‹, den Lehrplan und die Kompetenzorientierung vernachlässigen, sondern es bedeutet, nicht zu wissen, was in dieser Unterrichtsstunde ›herauskommt‹ – trotz guter Vorbereitung. Es ist gewissermaßen eine Askese in intentionaler Hinsicht. Die Inhalte, die in dieses Kapitel einfließen, entspringen aus verschiedenen Quellen: Religionspädagogik, Erkenntnisse aus Supervision, Lebensberatung und Psychotherapie, Phänomenologie, Existenzanalyse, Radikale Lebensphänomenologie und Gehirnforschung. Nicht zuletzt beziehe ich mich auf zahlreiche Jahre Religionsunterricht, in denen ich viele Erfahrungen in Bezug auf die genannten Quellen machen durfte. muss und andererseits, um den radikalen Perspektivenwechsel deutlich zu machen, den die Lebensphänomenologie zwingend mit sich bringt. 2 ›Bewegung‹ ist ein Schlüsselbegriff der Lebensphänomenologie, der nicht physikalisch zu verstehen ist, sondern lebensimmanent. Das Leben ist nicht, es wird sich selbst in sich ankünftig. Und diese ›Bewegung‹, durch die es sich in einem ständig neuen Erweis selbst erprobt, macht aus dem Leben das Leben. Vgl. dazu auch: Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 1992. S. 265.

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Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹ ?

Eine ›Hauptquelle‹ möchte ich an dieser Stelle noch nennen: Günter Funke. Durch viele Jahre hindurch durfte ich seine Lehrgänge ›Personale Gesprächsführung – Personale Pädagogik‹ erleben, anfangs als Teilnehmer und dann als Leiter. Vieles, was ich von ihm gelernt habe, ist in diesen Band eingeflossen, so auch die Grundstruktur dieses Kapitels und zahlreiche Elemente der ›phänomenologischen Haltung‹. In freundschaftlicher Verbundenheit möchte ich Günter Funke für all die Jahre Danke sagen! Im ersten Abschnitt werden die Wurzeln einer phänomenologischen Haltung erörtert, im zweiten die notwendigen Voraussetzungen, diese Haltung einnehmen zu können. Der dritte Abschnitt skizziert die wichtigsten Elemente einer phänomenologischen Haltung, im vierten soll schließlich die Persönlichkeitsbildung angesprochen werden, die in Aus-, Fort- und Weiterbildung für ReligionslehrerInnen ein Berufsleben lang wichtig ist, vor allem auch für das konsequente Üben an dieser phänomenologischen Haltung.

6.1. Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹ ? 3 Den SchülerInnen gegenüber eine bestimmte ›Haltung‹ zu entfalten, bereitet den Boden für das jeweilige Verhalten von LehrerInnen während einer Unterrichtsstunde. Wenn die Haltung zu einer Grundhaltung wird, dann ist sie tragfähig genug, in der jeweils konkreten Unterrichtssituation eine existenzielle Begegnung mit den SchülerInnen – auch und gerade im Konfliktfall – zu ermöglichen, jene Art von Begegnung, die meines Erachtens einen qualitativ hochstehenden Religionsunterricht auszeichnet. Die Existenzanalyse Viktor Frankls, Erkenntnisse zur Phänomenologie von Edmund Husserl 4 und Max Scheler 5 , um nur zwei wich-

Ich beziehe mich hier unter anderem auf die mündlichen Ausführungen von Günter Funke im Rahmen des Lehrgangs »Personale Gesprächsführung« im Bildungshaus St. Michael (Tirol) am 26. März 2010. 4 Edmund Husserl (1859–1938), deutscher Philosoph und Mathematiker, gilt als Begründer der Phänomenologie. 5 Max Scheler (1874–1928): deutscher Philosoph und Soziologe. 3

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

tige Phänomenologen 6 zu erwähnen, und die Radikale Lebensphänomenologie von Michel Henry bilden den Boden für viele Elemente einer solchen Haltung, die hier als ›phänomenologische Haltung‹ bezeichnet wird. Im Folgenden gehe ich kurz auf jene Grundlagen ein, die sich in dieser Haltung bündeln. Husserl will mit dem Grundsatz ›Zu den Sachen selbst‹ beim Erkenntnisprozess alle Vorannahmen und jegliches Vorwissen, vor allem auch Bewertungen beiseite stellen, um dem Erscheinenden selbst nahe zu kommen. Die dadurch angestrebte Voraussetzungslosigkeit führt zu einer Infragestellung des Selbstverständlichen, um das wirkliche Sehen zu eröffnen. Eine wichtige Methode hierfür ist die Epoché, die Ausschaltung der Generalthesis der natürlichen Einstellung und das Einklammern der damit verbundenen Vormeinungen, die eidetische Reduktion. Im Folgenden wird diese Methode mit dem Begriff Epoché bezeichnet. Max Scheler nennt die Phänomenologie im Anschluss an Husserls phänomenologische Reduktion eine »Einstellung des geistigen Schauens«. 7 Im Begriff ›Einstellung‹ ist bereits ausgewiesen, dass von einer ›Haltung‹ die Rede ist, die vor jedem Verhalten angesiedelt ist. Michel Henry weist in seiner Radikalen Lebensphänomenologie, in Abhebung von bzw. Kritik an Husserl, nach, dass sich das Wesentliche der Sichtbarkeit in der Welt entzieht, und er führt das in der Welt Erscheinende auf ein ursprüngliches Selbsterscheinen des Lebens zurück. Diese Elemente – phänomenologische Reduktion bei Husserl, Einstellung des geistigen Schauens bei Scheler und Selbsterscheinen des Lebens bei Henry – werden im Folgenden auf den Religionsunterricht bezogen und bringen eine Haltung zum Ausdruck, die ihrem Wesen nach ›phänomenologisch‹ ist. Der Begriff ›phänomenologische Haltung‹ wird häufig im Bereich der Psychiatrie gebraucht und bezeichnet eine besonders gute Möglichkeit für eine authentische Begegnung zwischen Arzt und Patient. Der Patient »wird durch sich selbst verstehbar und kann durch den therapeutischen Prozess auch für sich ein Verständnis finden«. 8 Bedeutende Vertreter verschiedener Phänomenologien sind u. a.: Eugen Fink, Emmanuel Lévinas, Bernhard Waldenfels, Michel Henry, Hermann Schmitz, Rolf Kühn. 7 Scheler, Max: Schriften aus dem Nachlass. Band 1. Zur Ethik und Erkenntnislehre. Berlin 1933. S. 266. 8 Arnold, Joachim: In Anbetracht der Sichtweise …, Versuch eines Modells phänomenaler Kategorien im psychotherapeutischen Kontext (Masterthesis an der FH-Vorarlberg). Hofen 2010. S. 9. 6

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Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹ ?

Die Brücke von der Psychiatrie zur Schule mag gewagt erscheinen. Ich beziehe mich allerdings nicht auf das inhaltliche Umfeld einer psychiatrischen Einrichtung, sondern auf die Komplexität der menschlichen Begegnungen im psychiatrischen und schulischen Umfeld. Als weitere Quelle sind noch Existenzanalyse und Logotherapie von Viktor Frankl von großer Bedeutung für diese Haltung: Im logotherapeutischen Gespräch ermöglicht ein »theoriearmes Vorgehen« 9 einen unverstellten offenen Blick auf das Gegenüber. Der Berater wird dabei nicht von Theorien, Deutungsmustern, Symbolsprachen, Vorurteilen oder vom Vorwissen geleitet, sondern vom genauen Wahrnehmen dessen, was sich zeigt, und von seiner Intuition. Einiges vom vorhin Erwähnten trifft auf den schulischen Kontext direkt zu, manche Aspekte müssen speziell für diesen Bereich buchstabiert werden.

6.1.1. Die Haltung geistigen Schauens Die wichtigste Voraussetzung für eine phänomenologische Haltung ist die ›Einklammerung‹ des Geltungsanspruchs von Weltvollzügen, von scheinbar ›klaren Sätzen‹ bzw. von ›Beurteilungen‹ und moralischen bzw. gesellschaftlichen Bewertungen. Die Frage ›Was zeigt sich mir?‹ bedarf der Ergänzung durch die Frage ›Wie zeigt es sich mir?‹. Eine Wahrnehmung ohne Bewertung (wenn es sie denn gibt) ist nur möglich, wenn man sich bewusst ist, dass Bewertungen ›automatisch‹ mitlaufen, dass Bewertungen auch da sind, wenn wir davon nichts ›bewusst‹ wissen bzw. auch wenn wir es nicht bewusst wollen. Und diese Bewertungen müssen wir ›einklammern‹, was bereits alle Stufen der phänomenologischen Reduktion 10 voraussetzt. Die phänomenologische Haltung wird auch als ein ›geistiges Schauen‹ bezeichnet. Unter ›Einstellung des geistigen Schauens‹ versteht Scheler »[jene Einstellung,] in der man etwas zu er-schauen oder zu er-leben bekommt, was ohne sie verborgen bleibt: nämlich ein Reich von ›Tatsachen‹ Khinast: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 71. Es gibt drei Stufen der phänomenologischen Reduktion: (1) das Einklammern von Geltung sowohl ontologisch als auch wertmäßig; (2) die eidetische Reduktion – das Vordringen zum Wesen eines Bewusstseinsinhaltes; (3) die Reduktion zum transzendentalen Ich.

9

10

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

eigentümlicher Art. […] Hier aber handelt es sich erstens um neue Tatsachen selbst, die vor aller logischen Fixierung liegen, zweitens um ein Schauverfahren.« 11

›Schau‹ bedeutet für Scheler nicht ›Beobachtung‹ im Sinne eines evaluierbaren Experiments, sondern erlebender und erschauender Akt im Vollzug, ein unmittelbarer »Erlebnisverkehr mit der Welt selbst«. 12 Das setzt eine bejahende Beziehung zur Welt voraus und eine ›Ehrfurcht‹ vor den Tatsachen selbst. Das gilt, um einen schulischen Kontext sehr direkt anzusprechen, sowohl für unsere Haltung gegenüber unseren ›SpitzenschülerInnen‹, die (fast) immer im Unterricht mitmachen, gute Leistungen erzielen, vielleicht sogar für die Klassengemeinschaft etwas beitragen, als auch gegenüber jenen SchülerInnen, die verweigern, die sich verweigern, die sich ›schlecht‹ benehmen, nichts oder wenig leisten und vielleicht auch die Klassengemeinschaft ›stören‹. In solchen Situationen muss sich die phänomenologische Haltung ›beweisen‹ : Ist sie zu einer tragfähigen Grundhaltung geworden, sodass man sie auch im Konfliktfall ›durchhält‹ und ›durchträgt‹ ? Richtiger muss die Frage lauten: Ist meine Grundhaltung stark genug entwickelt, dass sie mich durchtragen kann – durch diverse Anfechtungen hindurch? Was kann ›liebende Hingabe‹, wie es Max Scheler formuliert, im Religionsunterricht bedeuten? ›Hingabe‹ war bei Frankl immer verbunden mit Hingabe an eine Person oder an eine Sache. In dieser Hingabe liegt die Möglichkeit, Sinn zu erfahren. Inwieweit kann und will ich mich im Unterricht an meine SchülerInnen und an mein Fach hingeben? Anders gefragt: Will ich mit Hingabe unterrichten? Wie unterrichte ich mit Hingabe? Die phänomenologische Haltung impliziert diese Hingabe, vor allem in Bezug auf die SchülerInnen. Aus ihr kann erst jene Vorurteilslosigkeit entspringen, um das, was sich mir zeigt, als unmittelbar Gegebenes hinzunehmen. Es geht dabei nicht um ein Übergehen meiner Gefühle und Empfindungen, 13 sondern um das Wissen, wohin diese Empfindungen und Gefühle – zum Beispiel Sympathie, Antipathie, Lust, Ärger, Begeisterung, Langeweile und Anderes – gehören, wenn ich im Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern bleiben will.

11 12 13

Scheler, Max: Schriften aus dem Nachlass. 1933. S. 266. Ebd. S. 267. Diese Thematik wird im Kapitel 6.3.5. »Existenzielle Anamnese« vertieft.

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Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹ ?

In der Bezeichnung ›Geistiges Schauen‹ ist auch das Wort ›Geist‹ enthalten, von dem bereits ausführlich die Rede war bei der Dimensionalontologie von Viktor Frankl. In Bezug auf die beschriebene Haltung bedeutet das, mir einen Blick zu bewahren, der nicht ›krank‹ werden kann durch all die Äußerlichkeiten, die übermächtig auf mich wirken können, wie Antipathie, oder die mir im Wege sind, meinen beruflichen Verpflichtungen nachzugehen. Und diesen ›gesunden‹ Blick möchte ich den SchülerInnen schenken.

6.1.2. Vor-Fühlen und Nach-Denken 14 Leben als existenzieller 15 Vollzug kennt keinen Gegensatz zwischen Fühlen und Denken. Die Redeweise von ›existenziellem Vollzug‹ entspringt dem Denken und dem Vokabular von Viktor Frankl, für den die ›personale Stellungnahme‹ zu allen ›Eindrücken‹, die auf uns Menschen zukommen, zu einem entscheidenden Kriterium wird: Ohne ›Stellungnahme‹ gibt es keinen personalen existenziellen Vollzug, ohne Stellungnahme ›übergehe‹ ich mich und gebe dabei meine Authentizität auf. Und dabei wird betont, dass Denken und Fühlen zusammengehören. Jeder Gedanke ist von einem Gefühl begleitet: Was ich denke, fühle ich auch, was ich fühle, denke ich auch. Gefühle schaffen Nähe und Beziehung. Wir wissen von der Gehirnforschung, dass Lernen ohne Beziehung schlecht oder gar nicht möglich ist. Daher sollten wir als Lehrende besonders diesem Thema große Aufmerksamkeit widmen. Wenn auch Fühlen und Denken keinen Gegensatz bilden, so kann man sie dennoch differenziert betrachten. Die in der Überschrift gewählte Schreibweise ›vor-fühlen‹ und ›nach-denken‹ berücksichtigt die Erkenntnisse der Gehirnforschung, dass wir erst im Nachhinein zum Denken fähig sind, was wir ›vorher‹ gefühlt haben. Die Aufforderung ›Denk einmal nach!‹ müsste in Ich beziehe mich hier auch auf Erkenntnisse der Gehirnforschung, vor allem durch Joachim Bauer und Gerald Hüther, die Günter Funke in seinen Seminaren vermehrt einfließen lässt. 15 Der Begriff ›existenziell‹ wird in der Lebensphänomenologie nicht verwendet. Wenn er hier dennoch gebraucht wird, dann im Sinne von ›intuitiver Vollzug‹. Frankl versteht unter einem ›existenziellen Vollzug‹ die Dynamik von ›Eindruck – Stellungnahme – Ausdruck‹ ; die in dieser Dynamik enthaltene Reflexion und letztlich Intention zum bestimmten Handeln bedeutet eine Distanz zum originären Fühlen, die die Lebensphänomenologie dezidiert überwindet. 14

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

einer Pädagogik, die diese Erkenntnisse der Gehirnforschung umsetzen möchte, konsequenterweise lauten: ›Fühl zuerst einmal und trau deinem Gefühl! Das Denken stellt sich dann von selbst ein.‹ Selbst in einer Prüfungssituation lässt sich das herausarbeiten, wenn wir – gleichsam in Zeitlupe – eine Szene mit Prüferin bzw. Prüfer und Geprüfter bzw. Geprüftem betrachten. Ich gehe von der Prämisse aus, dass sich eine Schülerin bzw. ein Schüler auf eine Prüfung gut vorbereitet hat und dennoch, warum auch immer, nervös und blockiert ist. Die Prüferin bzw. der Prüfer will über die Nervosität hinweghelfen und spricht das Gefühl der Schülerin bzw. des Schülers an. Anstelle von Appellen zum vermehrten Einsetzen der Gehirn- bzw. der Denkfunktion werden also Gefühle angesprochen und auch zugelassen. Das empfindet die bzw. der Geprüfte sowohl als Ernst-Nehmen ihrer bzw. seiner Situation als auch als Zuwendung durch die Lehrperson, als Zeichen einer (guten) Beziehung. Jetzt gibt das Fühlen auch das Denken frei, und die Prüfung – noch einmal sei betont, dass ich von einer guten Vorbereitung ausgehe – kann besser gelingen, manchmal kann sie dadurch vielleicht überhaupt gelingen. Die phänomenologische Seite dieser Szene besteht vor allem im Wahrnehmen und Ernstnehmen der Blockade des Prüflings, im Ernst-Nehmen von Gefühlen, im Nicht-Bewerten des Prüfungsproblems – etwa durch den unausgesprochen Vorwurf: ›Du hast eben zu wenig gelernt.‹ – und in der ›liebenden Hingabe‹ an einen mir anvertrauten Menschen.

Für das tägliche Unterrichten selbst hat diese Sensibilität hinsichtlich des Vor-Fühlens und Nach-Denkens ebenfalls Konsequenzen. Vertraue ich meinen Gefühlen beim Betreten einer Klasse? Achte ich auf meine Empfindungen, bevor ich ›zum Thema‹ der Religionsstunde komme? Es ist klar, dass hier in Zeitlupe etwas betrachtet wird, was sich im Alltag viel schneller ereignet. Wenn sich ein waches Empfinden mit der Haltung der Epoché zu einer Grundhaltung verbindet, dann zeigt sich auch hier, dass ein Gegensatz zwischen Denken und Fühlen nur eine Konstruktion, also eine ›Vorstellung‹ ist.

6.1.3. Die Falle der Feststellung ›So ist es!‹ Emmanuel Lévinas beurteilt die Feststellung ›So ist es eben‹ als »stupid«, 16 der eigentliche Ernst des Seins verlange nach der je eigenen Verantwortung, die »eine Verantwortung ohne Freiheit« 17 sei. Im 16 17

Lévinas: Die Spur des Anderen. 2012. S. 318. Ebd. S. 318.

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Was bedeutet ›phänomenologisch‹ bzw. ›phänomenologische Haltung‹ ?

»Einstehen für die Anderen« 18 befreie sich »das Sich von jedem Anderen und von sich« 19 . Die Verantwortungs-Ethik von Lévinas ist radikal, »hier bin ich verantwortlich für das, was ich nicht gewollt habe, das heißt absolut gesprochen, verantwortlich für die Verfolgung, die ich erleide«. 20 Dieser Spur von Lévinas wird hier nicht weiter nachgegangen. Sein radikaler Blick auf die eigene Verantwortung schärft allerdings den Blick auf die Hintergründe des oft unachtsam bzw. schnell ausgesprochenen Satzes ›So ist es‹. Die Haltung der Phänomenologie bedeutet unter anderem die In-Frage-Stellung bzw. die Aufhebung dieser Aussage: ›So ist es!‹ ›So‹ ist oftmals das ›so‹ dessen, der meint, es soll so sein. Anhand alltäglicher Beispiele kann der Unterschied verdeutlicht werden, ob ich durch meine Haltung ›So ist es!‹ einen status quo geradezu fixiere oder durch die Frage ›Wie ist es?‹ zunächst einmal genau hinschaue, um vielleicht etwas ›verändern‹ zu können. Dies gilt sowohl für die Situation einer negativ beurteilten Schularbeit eines Schülers, die ja nicht bedeuten will, dass der Schüler in diesem Fach immer negativ sein muss, als auch für die vielen oft aussichtslos erscheinenden Friedensbemühungen in den Krisenherden unserer Welt. Dabei stehen nicht verbale Spitzfindigkeiten oder ein übertriebener Sophismus im Hintergrund, sondern ein fein gestimmtes Ohr, das Untertöne und vor allem Grundhaltungen wahrnehmen kann. Selbstverständlich stimmt der Satz ›So ist es!‹ vor allem dann, wenn es um Sachverhalte geht, in denen individuelles Handeln keine Rolle spielt. Es geht also nicht um die absolute Aufhebung dieses Satzes, sondern um seine Relativierung und um eine Sensibilisierung der Sprache. Im zwischenmenschlichen Bereich ist dieser Satz meistens problematisch. So sagt zum Beispiel Frankl: »Mensch sein heißt immer, auch anders werden können«, 21 immer auch anders handeln zu können. Dieses Anders-werden-Können widerspricht dem ›So ist es‹, und das gilt natürlich auch für das Geschehen im Religionsunterricht. Wollen Lehrende den SchülerInnen in ihrem Person-Sein gerecht werden, müssen sie diese schützen vor der Einengung des ›so‹. SchülerInnen sollten nicht durch ihre eigenen Ängste und die der Lehrenden eingeengt werden, wenngleich Ängste ernst zu nehmen 18 19 20 21

Ebd. S. 317. Ebd. S. 317. Ebd. S. 318. Frankl: Im Anfang war der Sinn. 1986. S. 71.

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

sind. Und gerade auch für die Angst gilt, was für alles Existenzielle und Personale gilt, nämlich dass sie sich jeder Objektivität entzieht. Objektivität im Bereich des Existenziellen kann das Leben, die Lebendigkeit regelrecht töten. Also gilt für die phänomenologische Haltung grundsätzlich der Satz: ›Ich weiß, dass ich nichts weiß.‹ Sobald man versucht, das Innerste eines Menschen, seine Person, wahrzunehmen, gilt die Unwissens-Vermutung. Denn dieses innerste Wesen des Menschen, seine Person, ist, wie Viktor Frankl eindringlich betont, das Freie im Menschen, sie ist nicht festgelegt, nicht statisch, nicht ›objektiv‹. Objektivität macht Menschen zu Gegenständen, zu Objekten, über die man verfügen kann. Und die radikale Subjektivität des Empfindens, die Michel Henry so klar herausarbeitet, spielt dann keine Rolle mehr, denn das Empfinden wäre dann ›tot‹. Ich öffne mich in meiner Haltung der Person des anderen – und ich lasse mich berühren. Berührung kennt keine Objektivität, denn sie ist ›unberechenbar‹. Die phänomenologische Haltung lässt jede Alltags-Erfahrung gelten, sie sträubt sich allerdings gegen jede VorBewertung, als wäre ›jeder Tag gleich‹ bzw. als könne man von einer früheren Erfahrung oder Empfindung eindeutig auf eine andere schließen. Kein Tag ist gleich wie der andere für die Person. Keine Empfindung ist mit einer anderen bzw. früheren Empfindung identisch. Und für junge Menschen gilt im Besonderen: Wird dem Menschen sein Person-Sein nicht gespiegelt, glaubt er es (sein PersonSein) selbst nicht (mehr). Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das, den Schülerinnen und Schülern ihr Person-Sein zu spiegeln, wie Eltern ihrem neugeborenen Kind das Lächeln spiegeln und es dadurch im Wachsen als Mensch, als Person fördern. Den SchülerInnen das Person-Sein zu spiegeln, bedeutet vor allem, ihnen unsere Resonanz auf das, was sie bei uns auslösen, zu zeigen. Das beinhaltet auch unsere Resonanz auf Konflikte. Person und Funktionalität schließen einander aus. ›Funktionieren‹ gehört in den Bereich der Technik; die Bremsen eines Autos zum Beispiel sollen funktionieren! Die Triebwerke eines Flugzeugs sollen funktionieren. Zum Personalen gehört die ›Unberechenbarkeit‹ und die Unverfügbarkeit. In der Schule entsteht manchmal der Eindruck, dass das vergessen oder sogar bewusst missachtet wird. Schule ist ein primärer Ort der Begegnung. Der Mensch hat Vorrang vor dem Stoff. Wichtig ist, nicht zuerst auf das Ergebnis zu schauen, nicht auf Erfolg oder Misserfolg, sondern auf die Person. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, den Kurzschluss bzw. 230 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung

die Unterstellung zurückzuweisen, dass dann Leistung, Wissen, Lernen u. s. w. keine Bedeutung mehr hätten. Natürlich haben sie eine Bedeutung, eine große Bedeutung. Jedoch liegt der Fokus des personalen Zugangs zu den SchülerInnen im ›geistigen Schauen‹ auf die SchülerInnen. Die phänomenologische Haltung ist eine ›liebende Schau‹, also eine ernste Sache, die man sich erarbeiten muss und an der man ein Leben lang arbeiten muss. Diese Haltung kann immer wieder zu Konflikten mit dem System Schule führen, wenn sich das System verselbständigt und die SchülerInnen durch Objektivierung – wenn zum Beispiel nur Leistung und Noten zählen – bedroht sind. Wenn ich als LehrerIn mir selbst treu sein will, wenn ich authentisch bleiben will, wenn ich mein Empfinden nicht dem Betrieb unterordnen will, dann komme ich eventuell in eine ›Verantwortung ohne Freiheit‹, wie sie Lévinas formuliert, dann bin ich in der Geiselhaft des Anderen und trage »das Gewicht der Welt«. 22 Hier zeigt sich deutlich, dass eine wesentliche Voraussetzung für eine phänomenologische Haltung darin besteht, sich dafür klar zu entscheiden, was im Folgenden aufgezeigt wird.

6.2. Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung Um eine phänomenologische Haltung entwickeln und reifen lassen zu können, braucht es unter anderem mehrere Voraussetzungen. Deren Begründung resultiert vor allem aus supervisorischen Kontexten, wo einzelne Religionsstunden bzw. Unterrichts-Sequenzen reflektiert werden. Dort zeigt sich, dass es eine Basis für alle weiteren Voraussetzungen gibt: Nur wer sich klar dafür entscheidet, ist auch bereit, Zeit und Energie einzusetzen, um das eigene Unterrichten im Sinne dieser Phänomenologie kritisch zu hinterfragen und, wenn ›notwendig‹, auch zu verändern. Das Sich-Einlassen auf Supervision setzt die Freiwilligkeit für einen solchen Prozess voraus. Zu diesen Voraussetzungen zählt (1) eine klare Entscheidung für diese Haltung und die Bereitschaft, sich auf dieses ›Schauen‹ einzulassen; (2) eine ganzheitliche Zuwendung zum anderen – eine personale Begegnung; 22

Lévinas: Die Spur des Anderen. 2012. S. 318.

231 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

(3) die eigene Aufmerksamkeit mit allen Sinnen und aller Intuition auf die innere Wahrnehmung zu richten; (4) das Ernst-Nehmen von und das Wissen um Psycho-Dynamik; (5) die Epoché, das Einklammern von ›welthaftem‹ Sehen, um auf das Leben hin offen zu sein; (6) ein Fokussieren, sich jeweils auf einen Menschen einlassen; (7) ein bestimmter Umgang mit Zeit, die vor allem als ›empfundene Zeit‹ (kairos) und nicht als ›gemessene Zeit (chronos) betrachtet wird; (8) ein Nein zu jeglicher Hektik, was nicht bedeutet, Schnelligkeit auszuschließen, da der Mensch auch ohne Hektik schnell sein kann. Die Unterschiedlichkeit der Denkansätze und die verschiedenen methodischen Zugänge vor allem von Frankl und Henry, auf die schon mehrfach hingewiesen wurde, erweisen sich in Bezug auf die phänomenologische Haltung bzw. auf den Religionsunterricht als einander ›notwendig ergänzend‹. Ich erhebe gerade nicht den Anspruch, einen dieser Zugänge als pädagogischen Schlüssel schlechthin aufzuweisen. Die Weiterentwicklung der Existenzanalyse durch Alfried Längle 23 zum Beispiel, der durch die Arbeit mit den »vier Grundmotivationen« 24 meines Erachtens einen wichtigen Beitrag für das Verständnis vom Menschen geleistet hat, hebt sich methodisch deutlich von Henrys Radikaler Lebensphänomenologie und zum Teil auch von Frankls Existenzanalyse ab. Seine Aussagen über ›Psychodynamik‹ würden vor allem von Henry als ›Psychologismen‹ verstanden werden, die nicht nur keine Rolle spielen, sondern den Blick auf das Wesentliche zum Teil sogar verhindern. Nun gehe ich auf die ›acht Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung‹ ein. Diese Voraussetzungen bedürfen einer breit angelegten Hinführung, einer kompetenten Schulung und einer konAlfried Längle (geboren 1951): österreichischer Psychotherapeut, klinischer Psychologe, Arzt für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, Dozent am Institut für Psychologie der Universität Klagenfurt. Er ist Gründungsmitglied und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE). 24 Vgl. Längle, Alfried: Psychodynamik – die schützende Kraft der Seele. Verständnis und Therapie aus existenzanalytischer Sicht. In: Längle, Afried (Hg.): Emotion und Existenz. Erweiterter Tagungsbericht 1994 und 1998 der GLE. Wien 2003. S. 111–133 23

232 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung

tinuierlichen berufsbegleitenden Persönlichkeitsbildung, wobei die erste ›Voraussetzung‹, nämlich die klare Entscheidung dafür (1) und die Bereitschaft, sich auf dieses ›Schauen‹ einzulassen, die Voraussetzung für alle weiteren Voraussetzungen bildet. Eine wesentliche Grundlage der Haltung (2) bildet der Person-Begriff von Viktor Frankl. Von diesem aus bedeutet ›personale Begegnung‹ die Begegnung zweier Freiheiten – eine geistige Person trifft auf eine andere geistige Person. Die Freiheit der Stellungnahme, die Freiheit, auch anders werden und anders handeln zu können, kann durch die Umstände, denen wir zum Teil ausgeliefert sind, zwar nicht beseitigt, jedoch verdeckt oder verschüttet werden. Daher ist es wichtig, psychodynamische Einflüsse 25 in der personalen Begegnung ernst zu nehmen, um ihnen auch kritisch gegenüberstehen zu können. Das entspringt Frankls Unterscheidung zwischen der psychischen und der geistigen Dimension des Menschen. Wenn auch die geistige Dimension den Kern des Menschen ausmacht – Frankl nennt sie das Freie im Menschen – sollten wir uns dennoch mit Psychodynamik vertraut machen, die gerade in der Schule sehr mächtig in Erscheinung tritt. Die Fähigkeit, mit allen Sinnen und aller Intuition die eigene Aufmerksamkeit auf die innere Wahrnehmung zu richten (3), bedarf ebenso einer kontinuierlichen Einübung bzw. der Bewusstmachung, wie und wann alle Sinne ›eingesetzt‹ werden können. Im Schulalltag kann die Bereitschaft dazu leiden und abnehmen, nicht zuletzt durch Überforderung bzw. durch ein lautes Umfeld. Alfried Längle weist in einer Arbeit über Psychodynamik (4) speziell darauf hin, dass eine wesentliche Aufgabe der Psyche des Menschen darin besteht, die vitalen Voraussetzungen der Existenz in ein gefühltes Erleben zu bringen. Die Psyche bilde einerseits die vitale Lage des Menschen ab und mobilisiere andererseits die Kräfte für das ›Überleben‹. Diese schützende und bewahrende Funktion der Psychodyna-

Mit Psycho-Dynamik werden Auswirkungen innerseelischer Prozesse auf Erleben, Befinden und Verhalten des Menschen bezeichnet. Auslösung seelischer Vorgänge sind Reaktionen auf äußere und innere Ereignisse. Da die Psyche eine schützende und bewahrende Funktion hat, mobilisiert sie, ausgelöst durch bestimmte Ereignisse, die notwendigen Kräfte zum vitalen Schutz. Dies bedeutet eine Dynamik.

25

233 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

mik innerhalb des vom Leib getragenen Menschseins sollte in einer phänomenologischen Haltung ›gesehen‹ werden. Die Kunst der phänomenologischen Haltung besteht darin, Psychodynamik zu ›sehen‹ und sie ›einzuklammern‹. Zuständliche Gefühle, Befindlichkeiten und Stimmungen, wie Lust, Unlust, Angst, Unruhe, Niedergedrücktsein, Beleidigtsein, seien notwendige Indikatoren für die Abbildung der vitalen Lage, die Schutzmechanismen mobilisieren können, wie Flucht, Rückzug, auf Distanz gehen oder (provisorisches) Engagement. Diese Schutzmechanismen, die Copingreaktionen, laufen reflexartig bzw. automatisch ab. »Durch die Copingreaktionen können die negativen Gefühle 26 aufgefangen oder abgeschwächt werden. Sie sind kein Versuch einer ursachenbezogenen Bewältigung eines Problems, sind keine Aufarbeitung einer Situation. Copingreaktionen haben einzig den Zweck, das Leben zu erhalten und die Situationen zu überstehen, aber sie eröffnen nicht die Welt; sie grenzen viel mehr ein« 27 . Im engen Verhältnis zur Psychodynamik stehen die »vier Grundmotivationen« 28 , die Längle im Rahmen seiner Personalen Existenzanalyse entwickelt hat. Er bezeichnet diese vier Grundmotivationen (GM) als vier Grundbedingungen für personale Existenz, die der Mensch im Lauf seiner Individuation unter ›positiven‹ bzw. ›gesunden‹ Voraussetzungen entwickelt, im Fall von Störungen eben nicht bzw. nicht zur Gänze entwickelt. 1. 2. 3. 4.

Grundmotivation – dasein können bzw. sein können Grundmotivation – leben mögen bzw. mögen können Grundmotivation – sosein dürfen bzw. dürfen können Grundmotivation – handeln sollen bzw. sollen können

Jede einzelne Grundmotivation habe eine Grundstrebung, die mit einem gefühlsmäßigen Erleben verbunden sei. Die Bezeichnung ›negative Gefühle‹, die Alfried Längle hier verwendet, ist natürlich eine Bewertung, die in der Lebensphänomenologie keinen Platz hätte. Sie setzt eine psychologische Sichtweise vom Menschen voraus, die kritisch auch als ›Psychologismus‹ verstanden werden kann. 27 Längle, Alfried: Psychodynamik – die schützende Kraft der Seele. Verständnis und Therapie aus existenzanalytischer Sicht. In: Emotion und Existenz. Erweiterter Tagungsbericht 1994 und 1998 der GLE. Wien 2003. S. 125. 28 Die Existenzanalyse von Viktor Frankl hat u. a. durch Alfried Längle eine Weiterentwicklung erfahren, nämlich in Form der »Personalen Existenzanalyse«, in der die »vier Grundmotivationen« eine wesentliche Rolle spielen. 26

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Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung

Die 1. GM strebt nach Schutz, Sicherheit, Raum und Halt. Die 2. GM strebt nach Beziehung, Zeit, Wärme, Leben spüren und Nähe. Die 3. GM strebt nach Selbstwert, Gerechtigkeit und Wertschätzung. Die 4. GM strebt nach Aufgabe, Zukunft, Wofür, Sinn und Erfüllung. Die Bedeutung des Begriffs ›Motivation‹ im sprachlichen Alltag unterscheidet sich von jener im Begriff Grund-Motivation. Gerade in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern muss dies deutlich gemacht werden. Versteht man unter Motivation üblicherweise etwas ›Steuerbares‹, so weist demgegenüber die Rede von den Grundmotivationen darauf hin, dass der Mensch erst dann in ein Wollen kommen kann, wenn diese Grundmotivationen erfüllt sind. Diesbezügliche Defizite bedürfen einer psychotherapeutischen Arbeit, die – je nach Störung einer dieser Grundmotivationen – eine jeweils andere Vorgangsweise erfordert. Die vier Grundmotivationen sind der personal-existenziellen Dimension zugeordnet, »weil die existentiell relevanten Inhalte in ihrer Bedeutsamkeit für das Leben gefühlsmäßig verbunden werden. Sie erhalten Bedürfnis-Charakter, wenn sie fehlen. Durch die gefühlsmäßige Anbindung kommt den GM so viel Kraft zu, dass sie in der realen Welt auch umgesetzt werden können. Ist die gefühlsmäßige Empfindung dieser Strebungen blockiert, wird sie z. B. abgespalten oder […] übergangen, so geht die vitale Kraft und Überwachung über eine oder mehrere Grundbedingungen der Existenz verloren. Dann können schneller Störungen entstehen […], als wenn die Inhalte der Grundmotivationen von einer frei verfügbaren Affektivität und Emotionalität getragen sind.« 29

Die folgende Skizze 30 von Alfried Längle zeigt die Gefühlsketten, die sich aus der Störung der jeweiligen Grundmotivation ergeben, in Abhängigkeit der Schwere der Störform. Hier wird veranschaulicht, in der Leserichtung von links nach rechts, wie sich aus dem Verlust des personalen Grundgefühls immer mehr psychodynamische Gefühle und Schutzreaktionen einstellen. Durch sie kommt es zur zunehmenden Fixierung der Emotionalität und damit zur Ausbildung von immer stärkeren Störungen. Wichtig für LehrerInnen, die an einer phänomenologischen Haltung arbeiten, ist, diese Mechanismen zu kennen und in ihrem Kern zu verstehen. Dieses Verstehen kann dazu 29 30

Längle, Alfried: Psychodynamik. 2003. S. 122. Ebd. S. 124.

235 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

beitragen, dass die betroffenen SchülerInnen ihre eigenen »personalexistentiellen Verarbeitungsformen existentieller Probleme« 31 besser entwickeln können – in einem Klima des Verständnisses. Hier ist auch die Grenze zur Therapie zu ziehen: Eine Religionsstunde ist keine Therapie-Stunde, LehrerInnen sind im Regelfall keine TherapeutInnen, sie können allerdings viel dazu beitragen, dass sich die Resilienzfähigkeit ihrer SchülerInnen gut entfalten kann. Es sei darauf hingewiesen, dass ich mich hier methodisch in der Existenzanalyse von Frankl bewege und daher die Begrifflichkeit ›Person‹ und ›personal‹ bzw. ›Stellungnahme‹ beibehalte. Für mich als Religionslehrer ist die Rede von Person, wenngleich dies kein lebensphänomenologischer Begriff ist, unverzichtbar, nicht zuletzt durch die theologische Rede von den göttlichen Personen und durch die Schlüsselgröße der hypostatischen Union. personales Gefühl

→ → psychisches psychische MangelWarnung gefühl (empfundene Not)

→ psychische Bedrohung (= Angst)

1. GM: dasein Verunsicher- → → Ängstlichkönnen ung Unruhe, keit Unsicherheitsgefühl

2. GM: leben mögen

31

Belastung

→ Niedergedrückt-sein, Vitalitätsverlust

→ zunehmende psychische Erstarrung (Fixierung, neurotische Ebene)

→ psychische Substrat-änderung (Persönlichkeitsstörungen) → ganzmenschliche Dekompensation (Psychosen)

→ Grun→ Grundangdangst Phobie stüber-flutung (ängstl. Persönlichkeitsstörung; Schizophrenie) → Resignations-überflutung (Major Depression)

→ → Depresbeziehungssion bezogene Erwartungsangst = Angst vor Beziehungs-verlust / Verlust des Lebendigseins

Ebd. S. 128.

236 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung 3. GM: sosein innere Hohl- → dürfen heit Einsamkeit, Beleidigtsein, Kränkung, Ekel

4. GM: handeln sollen

(äußeres) Leeregefühl Langeweile

→ selbstwert- → bezogene Er- Hysterie wartungsVerletztheit angst = Angst vor Ansehensverlust / vor Verlust der sozialen Integration

→ Sinnzweifel, → existenz-beSinnleere zogene Erwartungs-angst = Angst vor Sinnlosigkeit

→ existentielles Vakuum Apathie

→ Überflutung des Beobachtet-werdens (Paranoia) Schmerzüberflutung (die häufigsten Persönlichkeitsstörungen) → Verzweiflung bei ausweglosem Sinnlosigkeitsgefühl (Sucht, Suizidalität)

Die nächste Skizze 32 zeigt ausgehend von den vier Grundmotivationen, durch welchen Prozess sich welches spezifische Können zu entfalten vermag, um existenzielle Probleme verarbeiten zu können. Einer Verarbeitung existenzieller Probleme, wie Bedrohung, Belastung, Verletzung und Aussichtslosigkeit, auf dem existenziellen Niveau geht es nicht um das rein situative Überleben, sondern um die lösungsgerechte Bearbeitung der Probleme durch personale Stellungnahmen. Die Person ist durch dieses Können in der Lage, einer Situation gewachsen zu sein, indem neue Horizonte eröffnet und dadurch Veränderungen frei gegeben werden. GM

Prozeß

spezifisches Können

1. GM

sich stellen (da-sein), sich konfrontieren, den Raum einnehmen, Ruhe suchen Beziehung aufnehmen, den Verlust anfühlen, innere (gefühlsmäßige) Nähe suchen, sich Zeit nehmen

aus-halten

2. GM

3. GM

32

Sich selbst sein; sich an-sehen, Selbstachtung und Wertschätzung leben, Respekt und Distanz wahren, eigene Intimität aufsuchen

Allgemeiner: annehmen, lassen

trauern Allgemeiner: Zuwendung geben, Nähe halten, sich berühren lassen

bereuen (einschätzende Distanz-nahme) Allgemeiner: begegnen, an-sehen, Stellungnahme, abgrenzen

Vgl. ebd. S. 129.

237 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer 4. GM

sich anfragen lassen, sich in Überein- Tätigwerden (realisieren der stimmung bringen, Sinn suchen neuen Haltung) Allgemeiner: Hingabe, Sinn leben; religiöse Verbundenheit

Die in dieser Skizze genannten vier Formen des ›spezifischen Könnens‹ zeigen ein ›Verhaltens‹-Spektrum auf, das in unterschiedlichen Lebenssituationen zum Tragen kommt bzw. kommen sollte: Aushalten, trauern, bereuen und tätigwerden. Auffallend ist, dass zum Beispiel die Fähigkeit zu trauern weitere Kräfte freisetzt, zu denen man sonst eventuell keinen Zugang hat. Weiter fällt auf, das Längle das Tätig-Werden in Beziehung zu religiöser Verbundenheit setzt. Als Existenzanalytiker und Logotherapeut befindet er sich auf den Spuren von Frankl. Auf die Voraussetzung der Epoché (5) wird hier nicht eingegangen, da dieses ›Einklammern‹ von welthaftem Sehen an anderer Stelle ausgiebig behandelt wird. Eine weitere Voraussetzung für die Arbeit an einer phänomenologischen Haltung wird als Fokussierung bezeichnet, sich jeweils auf einen Menschen ganz einzulassen (6). Wie es möglich ist, sich jeweils auf einen Schüler bzw. eine Schülerin einzulassen angesichts einer Klasse mit zum Beispiel 30 SchülerInnen, wird in den folgenden ›Elementen einer phänomenologischen Haltung‹ aufgegriffen, ohne das Problem großer Schulklassen wirklich lösen zu können. Ein Schlüssel für einen gangbaren Weg ist die Rede vom KAIROS. ›Kairos‹ ist jener ›Augenblick‹, jene Zeit, in der etwas Wesentliches geschieht. Es geschieht das, was genau jetzt ›dran‹ ist. In einer Schulklasse mit einer großen Zahl von SchülerInnen ist – wenn wir mit großer Aufmerksamkeit die SchülerInnen wahrnehmen – in jeder Stunde etwas Anderes besonders wichtig, braucht jeweils ein bestimmter Schüler bzw. eine bestimmte Schülerin unsere spezielle Zuwendung. Die Aufmerksamkeit für den Kairos kann diese Fokussierung auf diesen einen bzw. auf diese eine ermöglichen. Selbstverständlich gibt es Ausnahmesituationen, in denen die Fokussierung auf die eine oder den einen nicht möglich ist – die phänomenologische Haltung und die personale Pädagogik weisen allerdings deutlich darauf hin, dass es eine Falle ist, Ausnahmesituationen als ›Regelfall‹ zu betrachten, um ja keine Veränderungen eingefahrener Handlungen bzw. Haltungen anzudenken bzw. anzustreben. Die einseitige Bewertung einer Ausnahmesitua238 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Voraussetzungen für eine phänomenologische Haltung

tion wird dann häufig zum Vorwand, den status quo beizubehalten. ›Geistiges Schauen‹ beinhaltet eine spirituelle Dimension. Wie jede Form von Spiritualität bedarf dies einer ständigen Übung, somit bedeutet das JA zur phänomenologischen Haltung auch ein JA zum regelmäßigen Üben. Die Bedeutung der »Intuition« ist nicht groß genug einzuschätzen. Oftmals steht ein intuitives Empfinden gegen das rationale Empfinden. In einer phänomenologischen Haltung zu unterrichten, führt tief in diese Spannung hinein. Niemand nimmt einem die Entscheidung ab, wie man jeweils handeln soll, und jede Situation ist anders und ›verlangt‹ vom Menschen ein jeweils anderes Handeln. Eine große Herausforderung in der Schule ist auch das Thema ›Zeit‹ (7). Die Schulglocke gehört in den Bereich der gemessenen Zeit, des Chronos, Lehrende kennen das gegenläufige Phänomen der empfundenen Zeit. Eine phänomenologische Haltung entkommt nicht dem Konflikt, dass personale Begegnungen mit den SchülerInnen den ›geregelten‹ Ablauf im Schulalltag oft ›stören‹, dass dieses Stören oft das einzig Richtige ist, und dass wir manch ›negative‹ Konsequenz in Kauf nehmen müssen, zum Beispiel das Unverständnis oder die Kritik von KollegInnen und SchulleiterInnen. Konsequenterweise müsste man umgekehrt sagen, dass der ›geregelte‹ Schulalltag oftmals personale Begegnungen mit SchülerInnen (und auch mit KollegInnen) stört bzw. nicht zulässt. Diese ›umgekehrte‹ Sichtweise ist analog zur ›kopernikanischen Wendung‹ zu sehen: ›Nicht wir fragen das Leben, sondern das Leben fragt uns‹ – für den Schulalltag könnte der Satz analog lauten: Es ist nicht zu fragen, welche personalen Begegnungen der geregelte Schulalltag zulässt, sondern es ist zu fragen, welcher Tagesablauf eine personale Pädagogik ermöglicht und fördert. Der letzte Punkt betrifft das Problem der Hektik (8). Die anfangs genannte Etymologie des Wortes Schule aus dem Griechischen ›σχολή‹ 33 weist auf die Problematik von Hektik direkt hin: ›Muße‹ ist in ihrer ersten Bedeutung jene Zeit, welche eine Person nach eigenem Wunsch nutzen kann. Schule als Massenbetrieb wird mit dieser Sichtweise oftmals nicht in direkte Verbindung gebracht. Das verpflichtende Studium vieler verschiedener Schulfächer geht meist weit über den Anspruch bzw. Wunsch hinaus, ›die Zeit nach eigenem 33

Vgl. den Schluss von Kapitel 2.2.

239 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

Wunsch zu nutzen‹, wenngleich es zahlreihe Schulformen bzw. Schulversuche gibt, die dieses Anliegen in den Schulbetrieb integrieren. Viele SchülerInnen erleben den Schulalltag oftmals als hektisch. Das betrifft den ständigen Wechsel der Schulfächer, das Sich-Einstellen auf unterschiedliche Persönlichkeiten im Lehrkörper, das Erbringen-Müssen von Leistungen in allen Fächern, die Konflikte mit MitschülerInnen, das Ringen um Identität in der schwierigen Zeit der Pubertät, die Herausforderung, mit einschneidenden Erlebnissen und Schicksalsschlägen fertig werden zu müssen, und vieles andere mehr. LehrerInnen haben auf viele dieser Faktoren keinen Einfluss, für einige wesentliche Faktoren öffnet sich ihnen jedoch ein großer Handlungsspielraum, vor allem für die Planung und die Gestaltung des eigenen Unterrichts. Jede Art von (vermeidbarer) Hektik schließt eine phänomenologische Haltung aus, jede übersteigerte Betriebsamkeit oder fieberhafte Eile verschließt den personalen Umgang mit den SchülerInnen und erschwert noch dazu das Lernen. Wichtig ist, dass eine hektische Atmosphäre wahrgenommen wird, um dagegen steuern zu können. Wichtig ist, Hektik nicht zu verwechseln mit jenen Problemen, die jeder Tag ›ungeplant‹ mit sich bringt, auf die sich jede Lehrerin und jeder Lehrer spontan einstellen muss, wie etwa auf Dynamik und Unberechenbarkeit. 34 Das kreative Umgehen mit Problemen und Konflikten gehört zu einem pädagogischen Beruf naturgemäß dazu. Aus einer guten Grundhaltung heraus erwächst dann meistens ein angemessenes Verhalten für die jeweilige Situation. Noch einmal betont sei, dass auch ohne Hektik – vielleicht sogar speziell ohne Hektik – der Mensch schnell sein kann, schnell arbeiten kann, worauf die Schule auch vorbereiten sollte.

6.3. Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht Der Unterrichtsalltag an einer Schule kann Vieles beinhalten, unter anderem verschiedenste Situationen von Gelungenem und Missglücktem, von Freude und Enttäuschung, von Highlight-Erfahrungen und dem Gefühl, in einem Hamsterrad gefangen zu sein. Und beim 34

Vgl. Kapitel 5.2.

240 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht

genaueren Wahrnehmen spüren wir, dass jeder Augenblick im Unterricht, jede Schulstunde einmalig, nicht wiederholbar und mit anderen nicht vergleichbar ist. Dass Religionslehrerinnen und Religionslehrer ihren Schülerinnen und Schülern mit besonderer Wertschätzung begegnen bzw. begegnen sollten, scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Sie ist inhaltlich im Fach selbst begründet, da dem ›Gegenstand‹ Religion ein an der Bibel orientiertes Menschenbild zugrunde liegt. Ein Berufsleben lang diese Wertschätzung zu leben, zu ›praktizieren‹, sie in einer entsprechenden Haltung spürbar werden zu lassen, verlangt eine ständige ›Arbeit‹ an sich und braucht lebenslange Persönlichkeitsbildung. Die folgenden sechs Elemente entspringen einer »geistigen Schau und liebenden Hingabe« 35 für die den Lehrenden anvertrauten SchülerInnen. Manche Gedanken sind selbstverständlich und bedürfen dennoch einer regelmäßigen Einübung. Manche Gedanken sind eine große Herausforderung an Lehrende und bedürfen besonders des vorhin erwähnten eindeutigen JA zu dieser Haltung.

6.3.1. Offenheit und Verweilen in der Hingabe Es ist keine Selbstverständlichkeit, ›ganz‹ offen zu bleiben für das, was auf mich einwirkt, wenn ich mich als Lehrperson auf eine Stunde gut vorbereitet habe. Der eigene Plan, das Konzept für den Stundenverlauf gibt eine Richtung vor, die zu verlassen Flexibilität verlangt und auch verantwortet werden muss. Die phänomenologische Haltung führt dazu, darauf zu achten, wie etwas wirkt, zum Beispiel ein Schüler, der immer aufzeigt, oder eine Schülerin, die durch ihr permanentes Zum-Fenster-Hinausschauen ›signalisiert‹, dass ihre Aufmerksamkeit woanders liegt. Wie wirkt das? Wie wirken Lehrende in ihren Reaktionen? C. G. Jung sagt: »Wirklichkeit aber ist, was wirkt.« 36 In der beschriebenen Haltung muss man sich Zeit nehmen, zu diesen Fragen Stellung zu beziehen. Welche SchülerInnen mir in der Schule und im Unterricht begegnen, ist immer Schicksal oder Zufall. Begegnungen lassen sich nicht berechnen oder planen, wichtig zu wissen ist, dass es immer Vgl. Khinast: Existenzanalyse und Logotherapie. 2000. S. 71 f. Jung, Carl Gustav: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Basel 1928. S. 113.

35 36

241 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

gut ist, wenn es zu einer Begegnung kommt. Wie SchülerInnen, die man bis zu einem gewissen Grad kennt und auf die man sich eingestellt hat, sich in einer konkreten Stunde verhalten, ist immer überraschend. Zur Begegnung ist es dann gekommen, wenn der bzw. die andere im eigenen Empfinden gut aufgehoben ist, was nicht bedeutet, dass das immer ein ›positives‹ oder angenehmes Empfinden ist. Es muss echt sein, authentisch und personal. Für eine gewisse Zeit fühlt sich das Leben an wie ein AufnahmeGefäß für die jeweilige Begegnung. Authentisch sein heißt auch, das eigene Person-Sein nie, die Psycho-Dynamiken hingegen schon einzuklammern. Hingabe an die Begegnung bleibt immer subjektiv, mit anderen Worten ›personal‹. Das unterscheidet den Menschen von der Maschine, die nie personal sein kann und soll! Eine Maschine soll funktionieren, ich erwarte mir, dass sie perfekt funktioniert, sonst würde ich zum Beispiel nicht mit einem Auto fahren oder ein Flugzeug betreten. Von der Maschine unterscheidet mich auch die Entlastung, nicht ›effektiv‹, nicht ›perfekt‹ sein zu müssen. ›Effektiv‹ bzw. ›perfekt‹ und ›personal‹ schließen einander ebenso aus wie ›funktional‹ und ›personal‹ einander ausschließen. Das gilt gleichermaßen für LehrerInnen und SchülerInnen. Offenheit gegenüber dem, was ich in einer Schulstunde wahrnehme, setzt dieses Wissen voraus und begleitet mich zum Beispiel bei der Beantwortung der Frage, wie es auf mich wirkt, wenn ein Schüler permanent zum Fenster hinausschaut. Mit Frankl ließe sich sagen: Das Aus-dem-Fenster-Hinausschauen des Schülers ›fragt‹ mich und will von mir beantwortet werden – indem ich darauf eingehe, indem ich es bewusst ignoriere, indem ich mein Unterrichten verändere, indem ich es sanktioniere, indem ich das Thema der Stunde wechsle, um nur ein paar Varianten zu nennen. Es geht hier nicht darum, nach der ›richtigen‹ Lösung zu suchen, denn die Fragen nach den ›richtigen‹ Lösungen lassen sich unabhängig von der Person des bzw. der Unterrichtenden, unabhängig von der Person des Schülers bzw. der Schülerin und unabhängig von der jeweiligen Unterrichtssituation nicht beantworten. Diese Antwort wäre a-personal. Offenheit bedeutet hier, im Wahrnehmen dessen, was geschieht, authentisch und personal zu bleiben. Ich halte mich offen für das, was auf mich einwirkt, und achte darauf, wie es auf mich wirkt. ›Verweilen in der Hingabe‹ bedeutet nicht, die jeweilige Situation zu ›verlängern‹, sondern es bedeutet, den betroffenen Schüler bzw. die betroffene Schülerin – den anderen bzw. die andere – nicht 242 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht

zu übergehen, deren Empfinden nicht zu übergehen und darauf zu achten, dass der bzw. die andere bei mir in meinem Empfinden gut aufgehoben ist. Gut im Empfinden aufgehoben zu sein, setzt voraus, dass nichts verdrängt werden muss, also auch kein Ärger, kein Missmut. Jedes ›als ob‹ würde dieses gute Aufgehoben-Sein beeinträchtigen. Entscheidend ist letztlich die eigene personale Stellungnahme und das daraus resultierende authentische Handeln oder Nicht-Handeln.

6.3.2. Der Mut, Bekanntes hinter sich zu lassen und sich vom Anderen ›gefangen nehmen‹ zu lassen Bekanntes hinter sich zu lassen schließt auch mit ein, darauf zu verzichten, seinem Gegenüber das zu sagen, was es von anderen schon hundertmal gehört hat. Auf Schule bezogen verlangt das, dafür aufmerksam zu sein, was SchülerInnen, leistungsstarke und leistungsschwache, von anderen LehrerInnen immer wieder zu hören bekommen. Diese gute Note war zu erwarten – der Schüler hat die Erwartung erfüllt. Jene schlechte Leistung war zu erwarten – die Schülerin hat die Erwartung erfüllt. Das störende Verhalten im Unterricht, die Gleichgültigkeit einem bestimmten Fach gegenüber, vorbildliches Mitarbeiten oder beeindruckende Beiträge für die Klassengemeinschaft – von allen Lehrenden wird es wahrgenommen und oftmals verbalisiert. Und es wird oftmals ›erwartet‹. Das soll unterbrochen werden. Hier ist Epoché dringend notwendig, wenn man SchülerInnen personal begegnen und dazu beitragen will, dass sie sich selbst besser verstehen können. Dieses Anliegen war auch deutlich formuliert in der phänomenologischen Haltung im Rahmen der Psychiatrie. 37 Auf den ersten Blick scheint es besonders wichtig zu sein, leistungsschwache SchülerInnen oder jene, die oft als ›verhaltensauffällig‹ bezeichnet werden, durch ein ›Unterbrechen‹ des Gewohnten anders anzusprechen, ihnen mehr zuzutrauen als sie derzeit ›zeigen‹ und das auch zu verbalisieren. Das zählt ohnehin zu einer guten und modernen Pädagogik, die auch konsequent gelernt und eingeübt werden muss. Die phänomenologische Haltung greift dies auf und weist darauf hin, dass dies auch Mut braucht, vor allem dann, wenn sich im 37

Vgl. Arnold: In Anbetracht der Sichtweise. 2010. S. 8 f.

243 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

LehrerInnen-Kollegium eine bestimmte Meinung über die SchülerInnen eingeschliffen hat. Die phänomenologische Haltung verzichtet auf die Bewertung. Ein zweiter Blick richtet sich auf die ›leistungsstarken‹ und meist positiv auffallenden SchülerInnen, die durchwegs von den LehrerInnen ›gelobt‹ werden und dadurch oft eine Vorbildfunktion einnehmen. Von ihnen wird das Positive ›erwartet‹, sie gelten als ›pflegeleicht‹ und fordern viel weniger Kreativität und Nerven beim Unterrichten. Die Frage, ob die jeweilige Person der Schülerin bzw. des Schülers dabei ganz ›gesehen‹ wird, lässt sich nicht abstrakt beantworten. Anhand von konkreten Beispielen kann man sehen, dass auch bei diesen SchülerInnen eine ›Unterbrechung‹ der gewohnten Rede wichtig sein kann, für die Entwicklung und Bildung der jeweiligen Persönlichkeit. Vor allem geht es um die Frage, wie jemand lernt, mit Scheitern umzugehen. Das halte ich für sehr wichtig, und auch dafür ist die Schule ein mögliches Lernfeld. Sich auf Unbekanntes einzulassen bedeutet auch, nie zu wissen, was man zu sehen bekommen wird, wenn sich das Wesentliche zeigt. Und morgen zeigt sich beim selben Schüler vielleicht etwas anderes Wesentliches als heute. Was in jedem Einzelfall unter dem ›Wesentlichen‹ zu verstehen ist, lässt sich meines Erachtens nicht objektivieren. Wichtig ist, ein Empfinden für das Authentische, für das Person-Sein zu entwickeln – im Blick auf die SchülerInnen und auf einen selbst. Wenn dann, im Sinn von Viktor Frankl, Werte ›aufleuchten‹, zeigt sich auch etwas Wesentliches: Das kann direkt das ›Fach‹ Religion betreffen oder irgendetwas im zwischenmenschlichen Bereich, von dem jemand ›berührt‹ ist. Der zweite Gedanke, sich vom Anderen ›gefangen nehmen‹ zu lassen, geht, wie bereits erwähnt, auf Emmanuel Lévinas zurück, dessen Philosophie und Ethik ebenfalls zu den Phänomenologien zählen. Er spricht in seiner »Ethik der Nächstheit« 38 davon, dass bereits der Anblick des Anderen mich in die Pflicht nimmt, für ihn Verantwortung zu tragen: »Moralisch handelt, wer sich vom Anderen in Geiselhaft nehmen und in seinem Lebensgang stören lässt.« 39 Sich in seinem Lebensgang stören zu lassen braucht Mut, denn man liefert sich in der Begegnung mit dem Anderen dessen Wesen aus, jenem Wesen, 38 39

Vgl. Lévinas: Jenseits des Seins. 1992. S. 260 f. Ebd. 1992. S. 260.

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Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht

das einem erscheint. ›Ausliefern‹ ist kein positiv besetzter Begriff, ebenso wie ›Geiselhaft‹ negativ konnotiert ist. Diese Begriffe machen allerdings deutlich, dass es in der menschlichen Begegnung um etwas derartig Wichtiges geht, dass man ohne ›Störung‹ nicht auskommt. Im Kontext von Religionsunterricht sind die Anderen meine SchülerInnen, von denen ich mich – wenn ich Lévinas folge – in Geiselhaft nehmen lasse. Dass dies den gewohnten ›Lebensgang‹ stören kann, lässt sich leicht nachweisen, indem man sich überlegt, an welche SchülerInnen man sich am meisten erinnert. Sich den ›Störungen‹ im Sinne von Lévinas bewusst auszuliefern, geht noch einen Schritt weiter. Man wird feinfühliger für das Andere, für das Fremde, und achtet darauf, Bewertungen und Vorurteile immer besser ›einklammern‹ zu können. Mit Lévinas lohnt es sich auch, beim Anblick des Anderen zwischen ›Gesicht‹ und ›Antlitz‹ zu unterscheiden. 40 »Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext. Ich will damit sagen, dass der Andere in der Geradheit seines Antlitzes nicht eine Person innerhalb eines Kontextes darstellt. Normalerweise ist man eine ›Person‹ : man ist Professor an der Sorbonne, Vize-Präsident im Staatsrat, Sohn eines Soundso, alles das, was im Paß vermerkt ist, die Art sich zu kleiden, sich zu präsentieren. Und jede Bedeutung, im üblichen Sinn des Begriffs, bezieht sich auf einen derartigen Kontext: Der Sinn einer Sache beruht in ihrer Beziehung zu etwas anderem. Hier hingegen ist das Antlitz für sich allein Sinn. Du, das bist du. In diesem Sinn kann man sagen, dass das Antlitz nicht ›gesehen‹ wird. Es ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; es ist das Unenthaltbare, es führt uns darüber hinaus.« 41

Das Gesicht eines Menschen kann ›gesehen‹ werden, das ›Antlitz‹ hingegen nicht, da es das Welthafte sprengt, übersteigt oder gar verlässt. Wenn vorhin vom ›Kontext‹ Schule die Rede war, ist man vielfach von der Bedeutung des Antlitzes bereits entfernt. Dieser Aspekt der phänomenologischen Haltung sprengt somit den Kontext Schule, er sprengt jeden Kontext, da »der Zugang zum Antlitz von vornherein ethischer Art ist.« 42 Aus diesen Überlegungen heraus lässt sich ableiten, dass die phänomenologische Haltung eine ethische Haltung impliziert, wenn nicht selbst Ethik ist. Auffallend ist, dass Lévinas zu einer ähnlichen Analyse wie Michel Henry kommt in Bezug auf die Unsichtbarkeit des Lebens. Für Lévinas ist das Antlitz ›für sich 40 41 42

Vgl. Lévinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Wien 1992. Ebd. S. 65. Ebd. S. 64.

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

allein Sinn‹, es kann nicht ›gesehen‹ werden, es kann nicht ›Inhalt‹ werden, sondern ist das ›Unhaltbare‹ ; das uns darüber hinaus führt. Es ist kein ›Objekt‹ im Erscheinen.

6.3.3. Das Vertrauen, dass das, was sich zwischen uns zeigt, uns auch trennt Manchmal erscheint in der Begegnung zwischen Menschen, zum Beispiel zwischen Lehrer bzw. Lehrerin und Schüler bzw. Schülerin, ein tiefer Schmerz; lebensphänomenologisch gesprochen erscheint Leben pur, denn Schmerz und Freude entspringen derselben Lebendigkeit, beide stammen aus dem Leben. Der Lebensphänomenologie wird manchmal vorgeworfen, eine Apologie des Leidens mitzutransportieren. Ein genaues Hinschauen bzw. Differenzieren lässt diesen Vorwurf entkräften. Das ›Sich-Erleiden‹ des absoluten Lebens im Sinne von ›Passibilität‹ ist keine Apologie des Leidens. Es bedeutet einerseits, die Selbstumschlingung des Lebens nicht auf bestimmte, eventuell als ›positiv‹ empfundene Phänomene zu reduzieren, andererseits nimmt es das Phänomen ›Schmerz‹, das nicht wegzudenken ist, so ernst, wie es vergleichsweise in der Passion Christi zu verstehen ist. Schließlich weist Henry konsequent darauf hin, dass der Zielpunkt allen Lebens die Freude ist bzw. der Übergang vom Schmerz zur Freude – wobei sich wieder eine Parallele zur Passion zeigt. Der Schmerz, von dem vorhin die Rede war, der manchmal in der Begegnung zwischen Menschen erscheint, trägt mich in der Begegnung, nicht ich trage den Schmerz. Das entspricht der vorhin erwähnten tragfähigen Grundhaltung, die mich durch alle Widerfahrnisse hindurchtragen kann. Ich halte es für ein ›Glücksmoment‹, wenn sich im schulischen Alltag etwas zeigt, das ganz nah am Leben ist, sei es Freude oder eben auch ein Schmerz. Die Erinnerung an einen 18-jährigen Schüler ist noch ganz wach in mir, der in einer Religionsstunde, in der wir über Eltern und über Erziehung gesprochen hatten, plötzlich bitterlich weinte, vor allen Mitschülern. Dieses Herausbrechen von Lebendigkeit in Form des lauten Weinens, dieses Erscheinen eines tiefen Schmerzes hat ›getrennt‹ und ›getragen‹ zugleich. Es trennte all jene, die diesen Schmerz in ihrer Biografie nicht erlitten, von ihrem Mitschüler, es war auch eine Begegnung mit etwas Fremdem, da sich der Schüler bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich als ›stark‹ und nur als ›fröhlich‹ zeigte. Und dieser Schmer246 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht

zensausbruch hat uns letztlich getragen und eine ›Stärke‹ gezeigt, mit der niemand gerechnet hatte. Im Mit-Pathos hat uns dieser Schmerz verbunden. Mit so einem Ereignis gut umgehen zu können, muss eingeübt werden, was einer kontinuierlichen Selbsterfahrung und der professionellen Reflexion bedarf, etwa im Zuge von Supervision. So ein Ereignis kann den Charakter eines Kairos haben, und der sollte geborgen werden. Der Schüler, dem so etwas widerfährt, will im Empfinden der Lehrperson gut aufgehoben sein. Er muss geschützt werden vor missbräuchlichem Zugriff auf seine Verletztheit und Verletzbarkeit. Er will mit seiner Verletzung nicht identifiziert bzw. nicht auf sie reduziert werden. Er macht eine Erfahrung mit dem Echten. Und er will sich dessen, was aus ihm herausgebrochen ist, nicht schämen, da er sich nicht zu schämen braucht. Schließlich will der Schüler von seinen Mitschülern in seinem So-Sein geachtet werden. Der Religionsunterricht, wie ihn zahlreiche ReligionslehrerInnen verstehen, kann, wie schon erwähnt, eine ›therapeutische Dimension‹ haben, die zum Wesen des Christentums gehört, in dem Heil und Heilung den innersten Kern berühren. Und wenn sich diese therapeutische Dimension im Zuge des Religionsunterrichts entfalten kann, dann ist das ein Glücksfall, ein Highlight im Schulalltag. Das wichtigste Vertrauen ist das Vertrauen ins Leben selbst. Dieses Vertrauen schließt mit ein, Widerstände, seien sie die eigenen oder die von SchülerInnen, auszuhalten und mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sie der erste Schritt zu einer heilenden Entwicklung sind. Dazu gehört auch alles, was mit dem Begriff ›Resilienz‹ verbunden ist. An resiliente Kräfte im Menschen zu ›glauben‹, bedeutet unter anderem ein Vertrauen in das Echte. Viktor Frankl spricht in der Existenzanalyse von der geistigen Dimension des Menschen, die nicht erkranken kann, vom innersten Kern, von der Person. Analog könnte man die Person als das Resiliente bezeichnen. Personale Begegnungen im Religionsunterricht schließen das Vertrauen in die Resilienz der Schülerinnen und Schüler mit ein. Zur phänomenologischen Haltung gehört auch, dem eigenen Gewissen zu folgen. Hier sei noch einmal auf jenes Verständnis von Gewissen hingewiesen, wie es Frankl formuliert, der es als ›Sinn-Organ‹ bezeichnet. Auf dieses Organ zu hören, birgt die Möglichkeit einer Sinn-Erfahrung. Wenn man auf sein Sinn-Organ gehört hat, kann man unabhängig von ›Erfolg‹, ›Misserfolg‹ oder ›Scheitern‹ eine 247 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

Handlung, ein Gespräch oder irgendeine Entscheidung als ›Sinn-voll‹ erfahren. Denn das letztlich Entscheidende, wie Frankl immer wieder betont, ist nicht die Welt, in der oft nur der sichtbare Erfolg zählt, sondern Gott – oder, in der Sprache der Lebensphänomenologie: das Leben. Die Welt kann nur – wenn man die Redeweise vom Horizont überhaupt beibehält – der ›vorletzte‹ Horizont sein. In Gott bzw. im Leben sind laut Lebensphänomenologie alle Horizonte aufgehoben. Gott ist kein Horizont, das Leben ist kein Horizont. Gott bzw. das Leben können sich ›nur‹ in ihrer eigenen Phänomenalität offenbaren, manifestieren bzw. bekunden. Die phänomenologische Haltung ›weiß‹ darum – und sie führt dazu, ›in der Welt‹ dennoch so zu leben, als wäre sie ›der letzte Horizont‹, das letztlich Entscheidende.

6.3.4. Zeit, Geduld und Demut Phänomenologische Prozesse brauchen Zeit, jede Zeitvorgabe stört den Prozess. Zum Beispiel braucht es seine Zeit, bis ein Mensch sich selbst im Innersten wieder vertrauen kann, wenn er das Vertrauen etwa durch ein traumatisches Erlebnis verloren hat. Das kann man nicht beschleunigen. Im Wissen um diese nicht objektiv festzulegende Zeit sind manche Konflikte im Schulalltag ›vorprogrammiert‹. Solche Konflikte müssen in Kauf genommen werden, wenn wir uns selbst in einer personalen und existenziellen Pädagogik treu bleiben wollen, seien es Konflikte mit KollegInnen, mit der Schulleitung oder mit Eltern, die in ihren Vorstellungen, wie Unterricht zu sein hat, wie sich jemand entwickeln soll, so verhaftet sind, dass sie die Unberechenbarkeit der Lebendigkeit ausschließen möchten, vor allem dann, wenn der ›reguläre Ablauf‹ eines Geschehens gestört wird. Das JA zu einer phänomenologischen Haltung schließt die Bereitschaft mit ein, diese Konflikte durchzutragen, wenn man ganz auf der Seite der SchülerInnen stehen will und bereit ist, sich in ›Geiselhaft‹ nehmen zu lassen. Im Religionsunterricht haben wir in Bezug auf Zeit eine große Chance: Die ReligionslehrerInnen können es sich ›leisten‹, den SchülerInnen die Zeit zu geben, die sie für ihre Reifungsprozesse brauchen, sie respektieren deren ›empfundene‹ Zeit – wie sie eigentlich jede Lehrerin und jeder Lehrer unabhängig vom Fach respektieren könnte und sollte. Auf die Entwicklung in einem Prozess warten zu können, braucht auch Geduld. Es gibt folgenden starken Vergleich: 248 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht

›An wachsenden Pflanzen kann bzw. soll man nicht ziehen.‹ Und das Wachsen im Mensch-Sein, in der personalen Freiheit und an der eigenen Persönlichkeit halte ich für eines der wichtigsten Ziele im Religionsunterricht, vielleicht in der Schule überhaupt. Daher bedarf es auch einer guten Einübung in Geduld, die für eine spirituelle Haltung mit konstitutiv ist. Der Begriff ›Demut‹ ist vielfach konnotiert mit ›sich zurücknehmen‹ oder gar ›unterwürfig sein‹. Im Kontext von Spiritualität spricht man auch vom Loslassen der eigenen Ich-Struktur. Als Ergänzung bzw. als Korrektur eines falschen und krankmachenden Verständnisses von Demut sei hier jene Ausdeutung erwähnt, in der Demut auch Folgendes bedeutet: ›Ich mute mich dem Anderen zu – mit allen meinen Fehlern und Schwächen‹. Dann bin ich authentisch und brauche keine Maske. Meine Bereitschaft, mich richtig einzuschätzen, 43 gibt mir Kraft. Von dieser Demut ist die Rede im Rahmen der phänomenologischen Haltung. Es ist die radikale Bereitschaft zur Subjektivität. Und diese bedeutet auch, sich dem zu ›unterwerfen‹, was man zu Gesicht bekommt. Damit wird auch klar, dass die Haltung der Demut von einem verlangt, Unsicherheit in Kauf zu nehmen. Wenn man sich der anderen bzw. dem anderen zumutet, wenn man ihr bzw. ihm ohne Maske begegnen will, dann verschwinden alle Vorstellungen von Begegnung, dann gibt man der Lebendigkeit den Raum, sich zu entfalten. Damit ist nicht eine blinde Naivität gemeint, alles hinnehmen zu müssen, was man im Letzten nicht will. Die phänomenologische Haltung verlangt nicht danach, dass man einfältig alles über sich ergehen lassen muss. Es braucht eine gute Schulung, Lebendigkeit von Willkür unterscheiden zu können; und, worauf bereits hingewiesen wurde, sie macht einen feinfühlig dafür, sich selbst, die eigenen Empfindungen, die eigene Ästhetik nicht zu übergehen. Wenn man diese eigene ›Grenze‹ nicht zum Ausdruck bringt, dann handelt man nicht personal und ist gerade auch den SchülerInnen kein Gegenüber, weder menschlich noch pädagogisch.

Vgl. Lexikon der christlichen Moral. Brixen/Innsbruck/Wien 1969. Spalte 190– 193.

43

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

6.3.5. Existenzielle Anamnese 44 In der Begegnung mit anderen Menschen gibt es immer einen ErstEindruck: Wie wirkt sie bzw. er auf mich? In der phänomenologischen Haltung ›weiß‹ ich, dass es nie nur einen Eindruck gibt; die Türe bleibt offen für weitere Eindrücke, die ebenso ernst genommen werden. Wenn ich mich zum Beispiel über einen Schüler bzw. über dessen Verhalten ärgere, dann stehe ich zu meinem Ärger, lasse ihn ›gut sein‹ und frage: Was fragt mich der Ärger? Ich kann mich besser schützen ohne eine illusionäre Wunschhaltung, mich morgen hoffentlich nicht zu ärgern. Der Ärger sagt mir etwas: ›Stell dich darauf ein! Du wirst dich vielleicht morgen wieder darüber ärgern.‹ Wenn mich der Ärger nicht zum Schutz vor ungewollten Reaktionen führt, dann liefert er mich aus – eine fatale Psycho-Dynamik nimmt dann ihren Lauf. Und diese Psycho-Dynamik muss ich, wie bereits erwähnt, einklammern (Epoché), dann kann ich anders hinschauen, auf den Ärger, auf die Begegnung mit jenen Menschen, durch die der Ärger ausgelöst wurde, auf die Situation, in der ich stehe. So kann man sich schützen vor ungewollten Reaktionen und ›anders‹ auf die Situation und auf sein Gegenüber hinschauen. Wichtig ist, dass man sich als LehrerIn selbst nicht übergeht, auf die eigenen Empfindungen achtet, um zu wissen, wie man mit der konkreten Schülerin bzw. mit dem konkreten Schüler umgehen soll. Das ist gemeint mit dem analog verwendeten Begriff ›existenzielle Anamnese‹ oder ›biografisch-existenzielle Anamnese‹. 45 Die Gefahr, sich selbst zu übergehen – vor allem in seinem Empfinden – ist im System Schule groß, vor allem dann, wenn wir uns nicht davor schützen, wie eine Maschine ›funktionieren‹ zu ›wollen‹. Die existenzielle Anamnese betrifft hier die Lehrperson selbst – im Gegensatz zum medizinischen Bereich, wo sie auf das dortige Gegenüber, nämlich auf PatientInnen, gerichtet ist. Und diese Anamnese betrifft vor allem den gegenwärtigen Ausschnitt von Welt, mit dem ich konfrontiert bin. Sie ist existenziell, da ich mich als Person nicht heraushalten Der Begriff »Existenzielle Anamnese« stammt u. a. aus dem medizinischen Kontext. ÄrztInnen, die sich über ihr Arzt- bzw. Ärztin-Sein hinaus als Person in die Beziehung zu den PatientInnen einbringen wollen, bemühen sich auch um eine biografisch-existenzielle Anamnese, die den biografischen, sozialen und psycho-existentiellen Ort der PatientInnen erfasst. 45 Wettreck, Rainer: Arzt sein – Mensch bleiben. Eine qualitative Psychologie des Handelns und Erlebens in der modernen Medizin. Münster 1999. S. 314–315. 44

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Elemente einer phänomenologischen Haltung im Religionsunterricht

kann; mein Person-Sein ist das einzige, das ich nicht ›einklammern‹ kann und darf.

6.3.6. Der lebensphänomenologische Blick Der letzte Aspekt der phänomenologischen Haltung zielt direkt auf die Lebensphänomenologie von Michel Henry. Ein zu schneller oder zu kurzsichtiger Blick auf seinen Ansatz könnte viel vom bisher Skizzierten radikal in Frage stellen – insbesondere durch die Feststellung, dass sich das Wesentliche, nämlich das rein phänomenologische Leben, der Sichtbarkeit entzieht. Da für Henry die Unterscheidung von Welt und Leben eine große Rolle spielt, bekommt die Frage nach dem Erscheinen in der Welt, nach dem Erscheinen im Kontext Schule, noch einmal eine besondere Dimension. Die in diesem Kapitel skizzierte phänomenologische Haltung ist nach meiner Überzeugung damit nicht aufgehoben, sondern durch eine weitere Dimension der Epoché, durch ein weiteres Einklammern, vertieft. Verlangt die phänomenologische Haltung bereits ein Einklammern aller Vorstellungen, um ›zu den Sachen selbst‹ zu kommen, so weist die Lebensphänomenologie darauf hin, dass das Erscheinende selbst noch einmal eingeklammert werden muss, wenn man für das Selbsterscheinen des Lebens offen sein will, ohne jegliches ›Dazwischen‹ – Henry spricht von der Gegenreduktion. 46 Wenn ich unmittelbares Erscheinen vom Leben her empfinden möchte, ohne jegliches Dazwischen, dann muss ich von der Selbstaffektion des Lebens in mir ausgehen. Hier sei noch einmal betont, dass der Begriff ›Leben‹ bei Henry nicht biologisch missverstanden werden darf, da mit ›Leben‹ eben nicht die belebte Natur als Gegenstand der Biologie gemeint ist, sondern ein vor aller wissenschaftlichen und alltäglichen Erfahrung der Gegenständlichkeit liegendes unmittelbares Phänomen, das der Mensch, der diese philosophische Überlegung anstellt, zuerst an sich selbst erfährt, und zwar in der Art und Weise, wie er sich selbst erscheint. Der lebensphänomenologische Blick vertieft die bisher skizzierten Elemente durch eine Dimension, die letztlich entlastend ist. Es war bereits mehrmals von der Nicht-Machbarkeit die Rede: manches noch 46

Vgl. Henry: Radikale Lebensphänomenologie. 2005. S. 279 f.

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Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

so gut überlegte Ziel im Religionsunterricht entzieht sich weitgehend der Machbarkeit, menschliche Begegnungen entziehen sich der Machbarkeit, Sinn und Sinn-Erfahrung entziehen sich der Machbarkeit, religiöse Erfahrungen kann man nicht machen, das Durchsetzen vieler unserer Vorstellungen entzieht sich der Machbarkeit. Michel Henrys Ansatz geht davon aus, dass das Erscheinen des Lebens nicht über einen intentionalen Bezug vermittelt ist, sondern dass es unmittelbar und immanent geschieht. Die Intentionalität des Bewusstseins darf also nicht für den ursprünglichen Ort des Erscheinens gehalten werden, die eigentliche Wirklichkeit des Erscheinens vollzieht sich vor jeder Intentionalität. Das Leben gibt sich unmittelbar selbst, ohne dass das Licht einer bewussten Reflexion dazwischentritt. Das ist meines Erachtens eine Entlastung, die die Nicht-Machbarkeit noch einmal mehr betont. Jede Schülerin und jeder Schüler hat den gleichen Zugang zum Leben, unabhängig von ihrer bzw. seiner Reflexionsfähigkeit und Intelligenz, unabhängig von einem bestimmten Bewusstseinsakt. Ein Religionsunterricht in der phänomenologischen Haltung ›weiß‹ um diese Unmittelbarkeit und ›weiß‹ um das immanente Erscheinen des Lebens in jedem Augenblick. Für die Begegnung mit SchülerInnen im Kontext von Religionsunterricht unterstreicht das noch einmal mehr die Dimension der Unverfügbarkeit des bzw. der anderen, theologisch ausgedrückt, der Christus-Begegnung in den anderen: Es unterstreicht die Dimension der Inkarnation. Die inkarnatorische Grundstruktur des christlichen Glaubens und das christologische Prinzip jedes Theologisierens muten uns zu, Christus in Allem begegnen zu können. In dieser Haltung ›sollten‹ bzw. können ReligionslehrerInnen unterrichten. Analog zum oft zitierten Satz von Leonardo Boff 47 ›Gott kommt früher als der Missionar‹ könnte man für die Schule formulieren: ›Gott kommt früher als die Religionslehrerin bzw. der Religionslehrer‹. Und mit Viktor Frankl ließe sich fortsetzen: Das Leben ist immer schon da. Auch wenn du es nicht ›siehst‹, bist du vom Leben und letztlich von Gott angesprochen, und du bist gefragt! Diese Haltung kann entlasten. Wenn Menschwerdung so im Religionsunterricht ›aufleuchtet‹ Leonardo Boff, geboren am 14. Dezember 1938 in Concordia, Santa Catarina, ist ein brasilianischer katholischer Theologe. Er ist einer der Hauptvertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Von ihm stammt ein Buch mit dem Titel: »Gott kommt früher als der Missionar«.

47

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Persönlichkeitsbildung – ein Berufsleben lang

im Sinne von ›Antlitz‹, dann ist das ein Highlight, dann kann man die eigene Lehrtätigkeit vielleicht auch als ein Unterrichten im ›Flow‹ empfinden.

6.4. Persönlichkeitsbildung – ein Berufsleben lang Die Persönlichkeit einer Religionslehrerin bzw. eines Religionslehrers trägt wesentlich zum ›Gelingen‹ des Religionsunterrichts bei. Die fachliche und pädagogische Kompetenz braucht eine Persönlichkeit, die leiblich mit den SchülerInnen in Beziehung tritt. Sowohl in der Ausbildung als auch in der Fort- und Weiterbildung hat Persönlichkeitsbildung einen hohen Stellenwert. Meines Erachtens könnte dieser Stellenwert noch größer sein, zumal die Anforderungen für LehrerInnen immer schwieriger und komplexer werden. Persönlichkeitsbildung sollte im Rahmen der Ausbildung zum festen Bestandteil des Curriculums werden. Die hier skizzierte phänomenologische Haltung bedarf eines fachkundigen Trainings, einer Einübung, einer professionellen Reflexion und einer Weiterbildung – ein Berufsleben lang. Das kostet Mühe, die sich lohnt, und es braucht spezielle Angebote, vor allem in der Fort- und Weiterbildung, in denen die vielen Facetten dieser Haltung systematisch entfaltet und geübt werden können. Es spricht viel dafür, dass die Haltung nur dann gut fundiert und zu einer Grundhaltung werden kann, wenn sie dem Lebensstil einer Lehrerin bzw. eines Lehrers entspricht. Man kann diese Haltung nicht auf das Unterrichten beschränken und sie vor der Klassenzimmertür ›abgeben‹. Somit braucht es ein Umfeld, diese Haltung leben zu können, damit meine ich sowohl eine dieser Haltung gemäße spirituelle Grundhaltung als auch eine Gemeinschaft für das Austauschen von Erfahrungen. Dieser Austausch muss sich in einem angstfreien Raum bewegen, in dem Konkurrenz und Bewertung keinen Platz haben; ideal wäre eine regelmäßige Supervisionsgruppe in einem angemessenen Setting. Ein essenzieller Aspekt der phänomenologischen Haltung ist meines Erachtens jener, dass sie die ReligionslehrerInnen auch vor dem Burnout und vor Erschöpfungsdepression schützen kann. Signale für jede Art von Überforderung zu spüren und dementsprechend ›anders‹ zu handeln, gehören wesenhaft dazu; auf den Punkt ›Existentielle Anamnese‹ sei noch einmal rückverwiesen, wo deutlich die Ge253 https://doi.org/10.5771/9783495817971 .

Eine phänomenologische Haltung als Religionslehrerin bzw. als Religionslehrer

fahr thematisiert wurde, sich selbst zu übergehen. Und meistens übergehen wir uns dann, wenn wir ›funktionieren‹ müssen. In der phänomenologischen Haltung gilt die geistig liebende Schau auf mich ebenso wie auf meine SchülerInnen. Diese Schau macht mich auch stark, mich gegen alles A-personale im Schulalltag zu wehren, wenn ich es wahrgenommen habe. Sich existenziell zu übergehen ist eine mögliche Indikation für Burnout, vor der man sich dann schützen kann, wenn man regelmäßig einübt, auf existenzielle Fragen zu hören. Diese Haltung führt auch dazu, die SchülerInnen als Person radikal ernst zu nehmen und uns Lehrende als lebendige Menschen wahrzunehmen bzw. den im ›Alltag‹ auftretenden Problemen, auch dem Fehler-Machen und dem Scheitern, möglichst gut begegnen zu können. ›Gut‹ ist hier natürlich nicht primär moralisch gemeint, sondern personal und existenziell; es schließt demgemäß die Möglichkeit des eigenen Scheiterns mit ein. Auch im eigenen Scheitern liegt ein personales Potenzial, das – wenn alle LehrerInnen sich mit einer Kultur des Fehlermachens auseinandersetzten – für eine moderne Schule, in der die Menschen im Mittelpunkt stehen, einen wesentlichen Beitrag liefern kann. Im Kern von jedem schulischen Alltag steht, wie in allen anderen Lebenskontexten, die Zusage vom Leben selbst, dass ich lebendig bin und bleibe.

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Ausklang

»Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.« 1 Dieser Gedanke von Emmanuel Lévinas hat mich beim Schreiben dieses Bandes begleitet, denn ich durfte, wenn auch in unterschiedlichen Weisen, mehreren Menschen ›begegnen‹, die mich berührt haben und mich – in vielem als ›Rätsel‹ – wachhalten. Vier Menschen seien hier genannt: zu allererst Günter Funke und Rolf Kühn, ohne die dieser Band nicht zustande gekommen wäre, und schließlich Viktor Frankl und Michel Henry, die ich zwar nicht ›persönlich‹ gekannt habe, denen ich dennoch intensiv ›begegnen‹ durfte. Ihnen allen sei herzlich gedankt! Auf einen inneren Prozess beim Schreiben möchte ich noch hinweisen, der die Bezeichnung ›Radikale Lebensphänomenologie‹ betrifft. Das Wort ›radikal‹ bekam zeitgeschichtlich bedingt im öffentlichen Diskurs eine fast ausschließlich negative Konnotation durch das weltpolitische Geschehen, vor allem in Bezug auf Terrorismus, radikalen Islamismus und IS-Gewalt. Diese negative Konnotation ging an mir nicht spurlos vorüber und bewirkte manchmal eine gewisse Scheu vor diesem Wort. Die Notwendigkeit, den Begriff ›radikal‹ dennoch beizubehalten, da er mit Michel Henrys Lebensphänomenologie untrennbar verbunden ist, muss mit besonderer SprachSensibilität verbunden werden. Die beiden Denkansätze, die in diesem Band in einen Bezug zum Religionsunterricht gestellt wurden, haben nach wie vor eine Sprengkraft, die je neu entdeckt bzw. ausgelotet werden kann. Die innere Verbindung von Existenzanalyse und Radikaler Lebensphänomenologie mit dem Religionsunterricht zeigt, wie ich glaube, besonders gut die Bedeutung von Religionsunterricht im Rahmen von Schule auf, gerade auch an öffentlichen Schulen: Er ist eine unverzichtbare Stimme im schulischen Konzert, eine Stimme, die dafür kämpft, dass das 1

Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. 2012. S. 120.

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Ausklang

(fragende) Leben wahrgenommen werden kann bzw. dass das (rein phänomenologische) Leben seinen ›Ort‹ nicht verliert. Frankls unüberhörbare Zusage »trotzdem Ja zum Leben sagen« gehört zum innersten Wesen eines christlichen Religionsunterrichts. Henry spannt wie kaum ein anderer einen Bogen zwischen zwei Polen: Zum einen geht er von der ›radikalen Ursituation‹ aus, dass der Mensch dem Leben ›ausgeliefert‹ ist, dass das Leben somit Gewalt in sich birgt. Zum anderen drückt Henry seine Grundüberzeugung aus mit den klangvollen Worten: »La vie – c’est le bonheur!« 2

Diesen Satz hat Michel Henry oft in Interviews ausgesprochen, in deutscher Übersetzung bedeutet er: »Das Leben ist (das) Glück!«

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Literaturverzeichnis

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