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German Pages 316 Year 2020
Johanna Kleinert Lebendige Produkte
Design | Band 49
Johanna Kleinert, geb. 1987, lehrt und forscht am Lehrstuhl für Industrial Design der Technischen Universität München. Sie war Teil des BMBF-Forschungsverbundes zur »Sprache der Biofakte« und leitete die Entwicklung der dazugehörigen Ausstellung, die u.a. im Deutschen Museum in München zu sehen war. Produkte aus ihrer praktischen Entwurfstätigkeit wurden mit zahlreichen Designpreisen ausgezeichnet.
Johanna Kleinert
Lebendige Produkte Obst und Gemüse als gestaltete Dinge
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Inhalt 1 Einleitung9 2 Zwei Perspektiven21 2.1 Design 22 2.2 STS 36 2.3 STS und Design: das Potential der Schnittstelle 37 3 Zentrale Begriffe45 3.1 Biofakte: Mischwesen aus Natur und Technik 45 3.2 Materialität und Visualität 56 4 Methodisches Vorgehen 4.1 Erhebung und Auswertung qualitativer Daten 4.2 Die Objektbiographie
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5 Die Gestaltung von Obst und Gemüse 81 5.1 Gestaltung in der Züchtung 88 5.2 Gestaltung im Anbau 110 5.3 Gestaltung durch die Regulierung 130 5.4 Gestaltung im Handel 156 6 Produktqualität und die Rolle des Visuellen 6.1 Produktqualität im Design 6.2 Produktqualität in den STS 6.3 Produktqualität in der Gestaltung von Obst und Gemüse 6.4 Alternative Verständnisse von Produktqualität 6.5 Fazit 6.6 Vertiefung: Die visuelle Produkterscheinung
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7 Lebendigkeit 233 7.1 Lebendigkeit im Design 234 7.2 Lebendigkeit in den STS 249 7.3 Lebendigkeit in der Gestaltung von Obst und Gemüse 259 7.4 Fazit 273 8 Zusammenfassung und Fazit279 Dank Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 1.1: Wie sehen gute Äpfel aus? (EDEKA Handelsgesellschaf t Südwest mbH, 2019)
Abbildung 1.2: Die angebotenen Äpfel der Marke „Unsere Heimat“ in einem EDEKA-Supermarkt
1 Einleitung Wie sehen gute Äpfel aus? Auf der Website von „Unsere Heimat“, der Marke der EDEKA für regionale Produkte aus Südwestdeutschland, wird uns ein ganz bestimmtes Bild von guten Äpfeln präsentiert (Abb. 1.1): Direkt auf der ersten Seite findet sich ein Foto der Früchte. Sie liegen auf einem alten, verwitterten Holztisch und sind von oben fotografiert. Die gezeigten Äpfel sind in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich: Die Fruchtdurchmesser liegen schätzungsweise zwischen 45 und 100 Millimetern. Es sind unterschiedliche Sorten, was an der Form und Farbe und an der Struktur der Schale erkennbar ist. Vielfältige Farben sind zu sehen – manche Äpfel sind völlig grün, andere gelb, manche grün-rot gestreift und manche auch ganz rot. Die Äpfel sind nicht besonders perfekt – sie zeichnen sich durch kleine Unregelmäßigkeiten aus, wie leichte Dellen und Flecken von Berostung1. Die Ungleichmäßigkeit fällt ins Auge. Einige Äpfel wurden – wie versehentlich – mit einem Stück Zweig geerntet; die Blätter des Apfelbaumes sind zu sehen. Die gesamte Darstellung beschwört ein Bild der Natürlichkeit herauf, das die Individualität der Früchte und die Vielfalt der Größen, Formen und Farben feiert. Wer sich jedoch in einem Supermarkt auf die Suche nach den in der Werbung präsentierten Äpfeln begibt, wird schnell enttäuscht: Was dort unter dem Label „Unsere Heimat“ verkauft wird, sind säuberlich sortierte Äpfel (Abb. 1.2). Eines ihrer markantesten Merkmale ist ihre Homogenität: Sie sind immer gleich groß, gleich rot, gleich geformt und ohne Fehler. Die Sorten werden klar voneinander getrennt und nach Vorschrift gekennzeichnet angeboten. Die unter Kontrolle gebrachten Prachtexemplare entsprechen der 1 „Berostung“ ist der Fachbegriff für verkorkte Zellen auf der Schale von Äpfeln oder Birnen. Sie entsteht durch eine oberflächliche Verletzung der Fruchthaut zum Beispiel in Folge von Niederschlag oder Frost. Bei manchen Sorten ist eine gewisse Berostung sortentypisch, bei anderen Sorten gilt eine stark ausgeprägte Berostung als Mangel.
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Güteklasse I der gesetzlich geltenden speziellen Vermarktungsnorm der Europäischen Union (EU) für Äpfel. Die unterschiedlich großen Äpfel mit ihren unperfekten Formen und ihrem frischen Laub auf dem Werbebild dienen zwar der Marke, indem sie diese mit einem Bild der Ursprünglichkeit, der Natürlichkeit und Authentizität verbinden, doch bis in den Supermarkt schaffen diese Früchte es nicht. Was in den grünen Kisten zum Verkauf angeboten wird, sind Äpfel mit 75 bis 80 Millimetern Durchmesser, vielleicht mit leichten Schalenfehlern bis zu einer Gesamtf läche von 1cm2, aber mit gleichmäßiger Form und mit einem Anteil von roter Schalenoberf läche von 30 bis 60%. Die Betrachtung der beiden Bilder wirft Fragen auf: Wie kommt diese irritierende Unterschiedlichkeit zustande? Mit wenigen Mitteln verweisen diese zwei Darstellungen bereits auf zwei Grundgedanken dieser Publikation: Zum einen zeigen die Bilder auf, dass für die Ausprägungen der Materialität von Obst- und Gemüseprodukten vielfältige Möglichkeiten offen stehen. Damit wird auch deutlich, dass das Aussehen von Obst- und Gemüseerzeugnissen in keinem Fall einfach zufällig zustande kommt und von den menschlichen Konsumenten vorgefunden und angenommen wird. Obstund Gemüseerzeugnisse sind vom Menschen gestaltet. Dabei zeigen die Bilder bereits zwei recht extreme Positionen des Spektrums an verschiedenen Arten, wie ein Stück Obst oder Gemüse gestaltet sein kann. Zum anderen verdeutlichen die Darstellungen, dass unsere Vorstellung von guten Äpfeln ganz offenbar von widersprüchlichen Werten geprägt ist. Sie zeigen zwei parallel existierende und miteinander unvereinbare Vorstellungen darüber, was Qualität und gutes Aussehen bei Obst und Gemüse ausmachen kann. Die beiden Bilder illustrieren die widerstreitenden Ideale von Natürlichkeit und technischer Perfektion, die unsere Erwartungen an gewachsene Nahrungsmittel prägen.2
2 Keinesfalls möchte ich hier den Eindruck erwecken, dass es sich bei der einen Darstellung um natürliche, bei der anderen dagegen um gestaltete Äpfel handeln würde: Sowohl die Darstellungen als auch die gezeigten Früchte sind allesamt hochgradig gemacht. Beide Bilder sind inszeniert, ihre Entstehung ist bewusst von gestalterischen Intentionen geleitet – und keiner der dargestellten Äpfel ist ohne menschliches Eingreifen gewachsen.
1 Einleitung
Obst und Gemüse als gestaltete Dinge Mit dieser Betrachtung befinden wir uns bereits mitten im Thema dieser Publikation. In dieser Arbeit untersuche ich Obst und Gemüse als gestaltete Dinge. Dabei verstehe ich Obst- und Gemüseerzeugnisse als Biofakte (Karafyllis 2006): als Lebewesen und zugleich als vom Menschen gemachte Produkte. Mit dieser Zweiseitigkeit kommt bereits zum Ausdruck, dass Biofakte in dem hier untersuchten Designprozess zugleich aktiv und passiv sind: Sie sind Gegenstand von menschlicher Gestaltung, aber sie sind auch Lebewesen mit eigener Dynamik. Die vorliegende Arbeit entstand in der Zeit zwischen 2015 und 2019 als Dissertationsprojekt am Lehrstuhl für Industrial Design an der Technischen Universität München (TUM). Von 2015 bis 2017 war ich eingebunden in ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt zur „Sprache der Biofakte“. Durch meinen eigenen Hintergrund im Industrial Design und meine Einbindung in den Forschungsverbund ist die vorliegende Arbeit schon von Beginn an situiert in einem Spannungsfeld zwischen den beiden unterschiedlichen disziplinären Perspektiven des Design und der sozial- und geisteswissenschaftlichen Technikforschung (STS). Diese Rahmenbedingungen spiegeln sich im Ergebnis (Abb. 1.3): Die Verortung zwischen den beiden disziplinären Blickrichtungen und die Betrachtung von Obst- und Gemüseerzeugnissen als lebendige Produkte
Produktqualität
Design
Obst und Gemüse als Biofakte
STS
Lebendigkeit
Abbildung 1.3: Obst und Gemüse als Biofakte: zwei Blickrichtungen und zwei Schwerpunkte
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bilden den Rahmen für die Entwicklung der zwei Schwerpunkte der Untersuchung: Erstens frage ich im Hinblick auf das Gemachtsein der untersuchten Dinge danach, welche menschlichen Werte und Ziele das Machen bestimmen. Welche Vorstellungen von Produktqualität erweisen sich als dominant für die industrielle Produktion von Obst und Gemüse? Der zweite Schwerpunkt lenkt den Blick auf die Lebendigkeit der pf lanzlichen Erzeugnisse. Hier gehe ich der Frage nach, welche Konsequenzen die Lebendigkeit der untersuchten Gegenstände im Gestaltungsprozess mit sich bringt.
Motivation Zusätzlich zu meinem grundlegenden Interesse an Themen der Ernährung, das sich bereits in meinem Designstudium an verschiedenen Stellen niederschlug, war es vor allem der Wunsch, mich theoretisch mit den Aufgaben und Zielsetzungen von Gestaltung auseinanderzusetzen, der mich zu dieser Arbeit motivierte. Im Anschluss an mein recht handwerklich orientiertes Studium des Industrial Design, das ich an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart absolvierte, fühlte ich mich zwar durchaus fähig zur Produktgestaltung, empfand aber zugleich einen Mangel an ref lektierender verbalisierter Auseinandersetzung über die der gestalterischen Praxis zugrundeliegenden Theorien und Rechtfertigungen. Während diese theoretische Auseinandersetzung für die Praxis der Gestaltung nicht unbedingt eine notwendige Voraussetzung darstellt, entwickelte ich dennoch ein drängendes Bedürfnis, in Bezug auf meine Disziplin sprachfähig zu werden. In den ersten Jahren meiner Anstellung am Lehrstuhl für Industrial Design an der TUM wuchs demnach mein Wunsch, mich nicht nur praktisch, sondern auch wissenschaftlich tiefer mit dem Design auseinanderzusetzen. Die Möglichkeit der Bearbeitung des Industrial Design-Teilprojektes in dem auf landwirtschaftliche Nutzpf lanzen ausgerichteten Forschungsverbund war für mich also eine günstige Gelegenheit, diesem Wunsch nachzugehen. Für einige Zeit nahm ich also Abstand von dem ansonsten für Designer kennzeichnenden Drang, Probleme aufzuspüren und diese durch den Entwurf von Lösungen zu beheben. Stattdessen widme ich mich mit der vorliegenden Arbeit der eingehenden Untersuchung eines Gestaltungsprozesses, der in der alltäglichen Wahrnehmung meist unerkannt bleibt, doch dessen essbare Ergebnisse uns tagtäglich ernähren.
1 Einleitung
Ausrichtung der Arbeit und Mehrwert der gestalterischen Perspektive Während die gestalterische Ausrichtung dieser Arbeit gewissermaßen biographisch begründet ist und die sozial- und geisteswissenschaftliche Prägung durch die Einbindung in den genannten Forschungsverbund und das Munich Center for Technology in Society (MCTS) zustande kam, ist die Konzentration auf die Untersuchung der Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen frei gewählt. Unter den vielfältigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen erscheinen mir Obst- und Gemüseprodukte aus gestalterischer Perspektive deshalb besonders interessant, weil sie für den Verbraucher als einzelne Produkte materiell erfahrbar werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Lebensmitteln wie konservierten oder stärker verarbeiteten Produkten treten Obstund Gemüseerzeugnisse der Konsumentin unverarbeitet – also in ihrer gewachsenen Materialität – gegenüber. Ihr Aussehen wird daher stets wie selbstverständlich als natürlich aufgefasst. Gleichzeitig werden Obst- und Gemüseprodukte – wie sich zeigen wird – in der Regel auf der Basis ihrer visuellen Produkterscheinung vom Verbraucher ausgewählt. Durch ihren Dingcharakter, die Relevanz ihrer visuellen Erscheinung und ihre industrielle Herstellung sind Obst- und Gemüseprodukte daher einerseits sehr ähnlich zu den Dingen, mit denen sich das Industrial Design herkömmlicherweise befasst. Durch ihre Lebendigkeit, ihre gewachsene Materialität und die damit verknüpften Erwartungen von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit unterscheiden sie sich jedoch gleichzeitig grundlegend von gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen wie Kugelschreibern und Bürostühlen. Diese Zweiseitigkeit macht Obst- und Gemüseerzeugnisse für meine Studie zu besonders spannenden Untersuchungsgegenständen. Die vorliegende Arbeit stellt zu meinem jetzigen Kenntnisstand den einzigen wissenschaftlichen Beitrag aus Designperspektive zur Gestaltung von pf lanzlichen Lebensmitteln dar. Für die Designforschung handelt es sich bei der Untersuchung der Gestaltung von Obst und Gemüse um eine unkonventionelle Perspektive: Designerinnen beschäftigen sich herkömmlicherweise nicht mit gewachsenen, lebendigen Produkten. Mein Ausbrechen aus etablierten disziplinären Themenfeldern bringt einerseits Herausforderungen mit sich: Die unkonventionelle Themenstellung erschwert die Suche nach Anknüpfungspunkten und Literatur aus dem Design. Die Öffnung zu den
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Sozial- und Geisteswissenschaften erweist sich hier zwar als hilfreich, führt ihrerseits aber auch zu der Schwierigkeit, aus einer scheinbar unbegrenzten Vielfalt von Literatur aus anderen Kontexten passende Anknüpfungspunkte ausfindig zu machen. Jedoch bietet die ungewöhnliche Themenstellung auch Vorteile – allen voran das Potential der Entwicklung einer neuen und gewinnbringenden Perspektive auf alltägliche, aber stets aus bereits etablierten Blickrichtungen betrachtete Themen der Ernährung. Dieses Potential ist mir Grund genug, die Gestaltung von Obst und Gemüse aus Designperspektive zu untersuchen. In dieser Arbeit betrachte ich also Obst und Gemüse als gestaltete Dinge. Dabei beziehe ich mich auf Annette Geiger (2018), die Design als Andersmöglichsein begreift: Alle Gestaltung beginnt mit der Feststellung, dass wir die Wahl haben, unsere Dinge und Medien, unsere Kommunikationen und Beziehungen, unsere Technologien, Ökonomien und Ökologien auch anders zu gestalten – denn sonst bräuchte man keine Entwerfer, die sich über die gute Wahl der Formen Gedanken machen. Design setzt somit das Erkennen von gestalterischer Freiheit voraus, es gibt keine Zwangsläufigkeit, die zu einer einzig richtigen Form führen könnte. […] Gestaltung beginnt, wenn es uns gelingt, Alternativen zu sehen. Geiger 2018, S. 16
Obst- und Gemüseprodukte als gestaltet zu beschreiben, impliziert folglich in erster Linie den Gedanken, dass sie gestaltbar sind – und damit, dass sie auch anders gestaltet werden können. Entsprechend verfolge ich mit dieser Ausrichtung das Ziel, die menschliche Gestaltungsfreiheit in den Blick zu nehmen. Die gewählte Perspektive soll dazu anregen, neu nach den Werten zu fragen, die die Gestaltung auf diesem Feld bedingen sollen. In Bezug auf Obst und Gemüse bringt die Perspektive des Andersmöglichseins besonderes Potential mit sich, weil sie der landläufigen Konzeption von Obst und Gemüse als ursprünglichen Naturprodukten radikal widerspricht. Der technische Anteil der lebendigen Produkte wird im alltäglichen Umgang zugunsten einer Illusion von Natürlichkeit gerne ausgeblendet und verkannt3. Wenn er zur Sprache kommt, wird der menschliche Umgang mit dem Leben3 Zum Begriff der Verkennung siehe Kapitel 3, Fußnote 1.
1 Einleitung
digen häufig unter den Begriffen des Eingriffes oder der Manipulation verhandelt. Dagegen wirft der im Allgemeinen positiv konnotierte Begriff der Gestaltung ein anderes Licht auf das menschliche Handeln an Nutzpf lanzen. Aus dieser Perspektive blicken wir auf Dinge, die der Mensch absichtsvoll zum Erreichen von bestimmten Zielen modelliert. So wird es möglich, Obstund Gemüseprodukte als das zu betrachten, was sie in aller Regel sind: als vom Menschen nach menschlichen Vorstellungen geformte und industriell hergestellte Konsumgüter. Das beschriebene Verlangen nach Natürlichkeit erscheint vor diesem Hintergrund als wenig hilfreich. Denn einerseits kann es in der Praxis kaum mehr eingelöst werden; andererseits verhindert es nicht die Gestaltung des Lebendigen, es verhindert lediglich eine offene Auseinandersetzung über sie. Damit lähmt es uns in der Möglichkeit, die Dinge so zu gestalten, wie wir es für richtig und sinnvoll halten. So verstanden möchte ich mit der vorliegenden Betrachtung der tatsächlich stattfindenden Gestaltung dazu beitragen, dass wir weniger gefangen sind in den nicht einlösbaren Vorstellungen von der Natürlichkeit unserer pf lanzlichen Lebensmittel. Damit will ich keinesfalls für eine rücksichtslose, radikale Manipulation argumentieren. Stattdessen möchte ich dazu ermutigen, die Gestaltung unserer Lebensmittel nicht wie gewohnt auszublenden, sondern sie in den Blick zu nehmen und neu zu verhandeln. Die vorliegende Betrachtung des gestalterischen Umgangs des Menschen mit lebendigen Nahrungsmitteln soll es ermöglichen, neu darüber ins Gespräch zu kommen, welche Werte und Ziele der Gestaltung unserer Lebensmittel in Zukunft zugrunde liegen sollen. Die Entwicklung von Lösungen für eine zukünftige gesunde, nachhaltige, genussvolle und gerechte Ernährung halte ich für eine herausfordernde und vielversprechende Aufgabe – in die sich sicher auch Designerinnen mit ihren Kompetenzen einbringen können. So ist es auch ein Anliegen meiner Arbeit, Designer für die stattfindenden Gestaltungsprozesse zu sensibilisieren und damit die Gestaltung an Systemen der Nahrungsmittelproduktion als spannendes Betätigungsfeld für ausgebildete Gestalter vorzuschlagen.
Aufbau der Arbeit Um der Frage nach der Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten nachzugehen, lege ich zunächst in Kapitel 2 die zwei bereits genannten Perspektiven dar, die meiner Untersuchung zugrundeliegen. Design begreife ich
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dabei auf bauend auf die Texte von Horst Rittel als werteorientiertes Problemlösungs- und Planungshandeln, das sich nicht unbedingt auf den Entwurf von industriell hergestellten Artefakten beziehen muss, sondern auch in anderen Bereichen Anwendung findet. Ein weiteres, konventionelleres Designverständnis ist das von Design als Produktgestaltung. Zusätzlich zu diesen beiden grundlegenden Designverständnissen nehme ich mit dem Bereich des Food Design solche gestalterische Praxis in den Blick, die sich entweder auf industriell hergestellte verarbeitete Lebensmittel oder auf Situationen der Nahrungsaufnahme bezieht. Anschließend gebe ich eine kurze Einführung in die sozial- und geisteswissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung, besser bekannt als Science and Technology Studies (STS). Das zweite Kapitel schließt mit einer Betrachtung der Schnittstelle zwischen Designforschung und STS, an der ich mich mit dieser Arbeit bewege. Es zeichnet sich hier die Entstehung eines dynamischen und für Designforscher vielversprechenden Forschungsfeldes ab. Das Kapitel 3 klärt einige zentrale Begriffe, auf die ich mich in der weiteren Arbeit immer wieder beziehe. Einerseits geht es hierbei um den Begriff des Biofakts, der Mischwesen aus Natur und Technik beschreibt; zudem werden auch die zwar besser bekannten aber nicht weniger umstrittenen Begriffe der beiden Pole Natur und Technik umrissen. Andererseits sollen die Begriffe der Materialität und der Visualität und deren Verhältnis zueinander geklärt werden. Mein methodisches Vorgehen lege ich in Kapitel 4 dar. Im ersten Teil beschreibe ich dabei Grundgedanken der qualitativen Sozialwissenschaften bzw. der Grounded Theory, die sich als hilfreiche Leitlinien erwiesen. Die empirischen Daten, die die Grundlage meiner Arbeit bilden, sammelte ich hauptsächlich in Form von qualitativen, leitfadengestützten Interviews mit Expertinnen der Produktion von Obst und Gemüse. Zusätzlich entstanden in diesem Kontext Beobachtungsprotokolle und Feldnotizen sowie Fotografien, die ich ebenfalls als Daten auswerte. Mein konkretes Vorgehen bei der Datenerhebung und -auswertung stelle ich in Kapitel 4.1 dar. Mit der Nachzeichnung der Lebenswege von Obst- und Gemüseerzeugnissen beziehe ich mich auf die Methode der Objektbiographie. Dieser Ansatz wie auch seine Geschichte und die genauen Bedingungen seiner Anwendung sollen in Kapitel 4.2 ausführlicher zur Sprache kommen. Das anschließende Kapitel 5 bildet den Kern der Arbeit: Hier lege ich auf der Basis der gesammelten empirischen Daten dar, wie die Gestaltung von
1 Einleitung
Obst- und Gemüseprodukten in den vier Phasen der Züchtung, des Anbaus, der Regulierung und des Handels alltäglich stattfindet. In jeder dieser Phasen handeln verschiedene Akteure, die entsprechend ihrer Vorstellungen von Qualität – bzw. entsprechend der Erwartungen ihrer Kooperationspartner – Einf luss nehmen auf das Wachstum der pf lanzlichen Erzeugnisse. Mit ihrem absichtsvollen Eingreifen in die biologischen Wachstumsprozesse gestalten sie so die Materialität und Visualität der entstehenden Ergebnisse. Der Auf bau der Diskussion folgt anschließend der in Abbildung 1.3 dargestellten Struktur: Beide Aspekte der Biofakte – das Gemachtsein und die Lebendigkeit – betrachte ich vor dem Hintergrund von Literatur bzw. von praktischen Areiten aus den beiden Bereichen Design und STS. In den Kapiteln 6 und 7 kommen somit zunächst die Produktqualität und dann die Lebendigkeit der untersuchten Gegenstände aus den verschiedenen Blickwinkeln zur Sprache. In Kapitel 6 steht das Gemachtsein der Produkte im Vordergrund. Hier frage ich danach, welche menschlichen Intentionen – genauer: welche Vorstellungen von Produktqualität – das Machen bedingen. Hierfür begebe ich mich zunächst auf die Suche nach designspezifischen Konzeptionen von Qualität. Darauf hin wende ich mich der Literatur aus den STS zu, wo sich die Konventionentheorie aus den französischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften als hilfreiches Konzept für ein differenziertes und fundiertes Verständnis zu Qualitätsvorstellungen anbietet. Vor dem Hintergrund der beiden Perspektiven erarbeite ich in Kapitel 6.3 auf der Basis meiner empirischen Daten einen Katalog aus Kriterien, die sich in meiner Untersuchung für die industrielle Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen für den Großhandel als dominant herausstellen. Ich nehme dabei eine Einteilung in zwei Gruppen vor: Den Kriterien, die die Produkte zu preisgünstigen, erwartbaren Waren machen sollen, die auf zentralisierten Märkten reibungslos funktionieren, steht eine Gruppe von Kriterien gegenüber, die hauptsächlich darauf abzielt, das Erzeugnis in der Situation der Kaufentscheidung für den Konsumenten attraktiv zu machen. Während sich die dargestellten Kriterien im etablierten System der Produktion und Vermarktung von Lebensmitteln als dominant erweisen, gehe ich anschließend auf zwei alternative Verständnisse von Qualität ein, denen ich im Laufe der Erhebung meiner Daten begegnet bin. Damit weise ich darauf hin, dass die dargestellten dominanten Kriterien nicht unveränderlich sondern von sozialen Konventionen bestimmt sind, die jederzeit auch anders denkbar sind.
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Die Betrachtung der in der industriellen Marktkonvention dominanten Kriterien zeigt einerseits, wie sehr pf lanzliche Lebensmittel nach dem Vorbild von herkömmlichen, nicht lebendigen industriell hergestellten Artefakten produziert werden. Andererseits macht die Untersuchung deutlich, welch zentrale Rolle der visuellen Erscheinung von Obst- und Gemüseprodukten bei der Kaufentscheidung und in der Folge im gesamten Produktionsprozess zukommt. In Kapitel 6.6 lege ich daher einen Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit der Bedeutung der visuellen Produkterscheinung. Im Designdiskurs zeigen sich widerstreitende Positionen zur Rolle der visuellen Produkterscheinung, was insgesamt dazu führt, dass Fragen nach den Grundlagen des Zustandekommens von visueller Attraktivität trotz ihrer Relevanz für die gestalterische Praxis weitestgehend ausgeblendet werden. Vor diesem Hintergrund eröffnet die Betrachtung der Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten eine neue Perspektive auf die Rolle der visuellen Produkterscheinung in Designprozessen. Auch unabhängig von der Einbindung von professionellen Designern zeigt sich hier die Bedeutung des Aussehens von Obst- und Gemüseerzeugnissen in allen vier Phasen des betrachteten Gestaltungsprozesses. Die Untersuchung der Handlungen und Erwägungen der Akteure im Produktionsprozess legt nahe, dass nicht nur die Beurteilung von Produktqualität sondern auch die Wahrnehmung von Attraktivität sozial konstruierten Konventionen unterliegt. Obgleich sowohl im herkömmlichen Design als auch in der Gestaltung von Obst und Gemüse zahlreiche Vertreterinnen ein Unbehagen über die wahrgenommene Überbewertung des Aussehens zum Ausdruck bringen, offenbart sich die Bedeutung der visuellen Erscheinung in beiden Bereichen in der alltäglichen Praxis. Auf bauend auf diese Einsicht gehe ich davon aus, dass eine offensive Anerkennung der Wirkmächtigkeit der visuellen Produkterscheinung für beide Bereiche Chancen eröffnet. Für das Design kann eine offene Anerkennung der Bedeutung der visuellen Attraktivität die Möglichkeit bieten, das eigene Selbstverständnis weiterzuentwickeln. Für die Gestaltung von Obst und Gemüse dagegen kann diese Einsicht dazu anregen, die Bedeutung visueller Merkmale neu zu verhandeln und möglicherweise ein Stück weit zu dekonstruieren. In Kapitel 7 steht die Lebendigkeit der gestalteten Dinge im Zentrum. Wiederum frage ich in diesem Kapitel zunächst danach, wie die Gestaltung des Lebendigen bisher in der Designpraxis aufgegriffen wird. Während die
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Natur in der Bionik als Vorbild für jede gestalterische Tätigkeit verstanden wird, wird im noch jungen Bereich des Bio Design die Gestaltung lebendiger Dinge durch den Menschen zum Thema gemacht. Im Bereich der STS kommt die Ambivalenz zwischen der Aktivität und Passivität von Biofakten in Studien zur landwirtschaftlichen Produktion von Nahrungsmitteln zur Sprache. Es wird hier dargestellt, wie der Mensch einerseits versucht, die biologischen Vorgänge immer stärker zu beherrschen, während andererseits die bleibende Gebundenheit an die Bedingungen des Lebendigen spürbar wird. Mit dem neuen Materialismus gehe ich anschließend auf eine aktuelle Strömung innerhalb der STS ein, die die essentielle Unterscheidung von Lebendigem und Nichtlebendigem grundsätzlich infrage stellt. Der nachfolgende Blick auf die gesammelten empirischen Daten macht darauf hin deutlich, wie die biologische Lebendigkeit der Biofakte sich in konkreten Eigenschaften äußert, die Konsequenzen für den gestalterischen Umgang der menschlichen Akteure mit sich bringen. Auf bauend auf mein empirisches Material arbeite ich fünf Eigenschaften des Lebendigen heraus, die von den Akteuren in der Produktion von Obst und Gemüse im Sinne einer erfolgreichen Gestaltung beachtet werden müssen. Es zeigt sich hier, dass Lebendigkeit Konsequenzen hat: Die besondere Handlungsmacht von lebendigem Material zeigt sich im Alltag der Produktion von Obst und Gemüse. In Bezug auf den gestalterischen Umgang mit dem Lebendigen weist die Betrachtung zum einen darauf hin, wie alltäglich die Gestaltung des Lebendigen ist. Zum anderen stellt sich die stellenweise feststellbare Furcht der Designerinnen vor der menschlichen Gestaltungsmacht als wenig angemessen heraus. Hilfreicher als das aufmerksamkeitsgenerierende Spiel mit Emotionen ist aus meiner Sicht eine ehrliche Auseinandersetzung über die tatsächlich stattfindende Gestaltung des Lebendigen – verbunden mit dem Anspruch, die zugrundeliegenden Ziele und Intentionen offen zu legen und neu zur Diskussion zu stellen. Die Publikation schließt mit einer Zusammenfassung der betrachteten Fragen und der gewonnenen Erkenntnisse, die die Untersuchung sowohl im Hinblick auf die gestalterische Praxis und die Designwissenschaft als auch auf die zukünftige Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten bietet. Abschließend möchte ich an dieser Stelle eine Anmerkung zu meinem sprachlichen Umgang mit den Geschlechtern anbringen. Eine Konsequenz
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meiner Einbindung in einen sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungsverbund und ein ebensolches Graduiertenzentrum ist meine Sensibilisierung für Themen der Genderforschung. Die feministische Sprachkritik hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sprache immer auch ein Bild für die tatsächlichen Rollen von Menschen in unserer Gesellschaft ist – und dass die allgemein übliche Verwendung der männlichen Form für jeden nicht näher bestimmten Menschen die häufige Vernachlässigung und Unterschlagung der Rolle von Frauen in vielen gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck bringt. Um dieser Einsicht gerecht zu werden, verwende ich in diesem Band an solchen Stellen manchmal die weibliche und manchmal die männliche Form. Ich bemühe mich dabei um Ausgeglichenheit. Darüber hinaus bleibt es ohne tiefere Bedeutung, an welchen konkreten Stellen welche Form steht. In beiden Fällen sind Vertreter und Vertreterinnen aller Geschlechter gemeint.
2 Zwei Perspektiven Im vorliegenden Band betrachte ich die Produktion von Obst und Gemüse als Designprozess. Die Untersuchung speist sich dabei aus zwei verschiedenen disziplinären Perspektiven1: Als Industriedesignerin beziehe ich mich auf Designpraxis und Designwissenschaft. Die Denk- und Arbeitsweise von Designern und die etablierten Debatten und Fragestellungen des Design beeinf lussten meine Herangehensweise an das Thema von Anfang an. Während des Forschungsverbundprojektes zu landwirtschaftlichen Nutzpf lanzen als Biofakten und durch meine Einbindung in das Zentrum für sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung an der Technischen Universität München erarbeitete ich mir zudem einen Zugang zu den Science and Technology Studies (STS), deren Thesen und Konzepte sich für meine Arbeit als hilfreich und fruchtbar herausstellten. Im folgenden Kapitel möchte ich darlegen, wie mein Verständnis von Design und von STS zu der Untersuchung der Gestaltung von Obst und Gemüse beigetragen haben. Hierzu stelle ich beide Bereiche, Design und STS, vor und erläutere grundlegende Verständnisse und Fragestellungen. Abschließend gehe ich auf den kleinen aber dynamischen Bereich der Schnittstelle zwischen Design und den STS ein und beleuchte mögliche Potentiale einer verstärkten Zusammenarbeit beider Disziplinen. Dabei gehe ich auch auf meine eigenen Erfahrungen ein, die ich im Rahmen der Erstellung dieser Arbeit an dieser Schnittstelle gemacht habe.
1 Auch wenn die STS ein heterogenes Forschungsfeld darstellen und viele Vertreter die STS ungern als „Disziplin“ bezeichnet sehen, verwende ich an dieser Stelle im Sinne der Übersichtlichkeit dennoch vereinfacht den Gedanken einer (mehr oder weniger) homogenen „STS-Perspektive“.
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2.1 Design Mit der Frage nach der Gestaltung von Obst und Gemüse betrete ich ein Feld, das aus der Perspektive der Designforschung bisher noch sehr wenig beleuchtet wurde. Auf den ersten Blick bieten sich innerhalb der Designpraxis und auch der Designwissenschaften wenig Anknüpfungspunkte an. Wie ich in der vorliegenden Arbeit jedoch zeigen werde, birgt die Betrachtung von Obst- und Gemüseprodukten als Ergebnissen von Gestaltungsprozessen durchaus Potential. Zum einen ermöglicht diese Betrachtung, neu über die zugrundeliegenden Qualitätsmaßstäbe des untersuchten Gestaltungsprozesses nachzudenken; zum anderen erlaubt sie auch eine neue Perspektive auf Fragen des Design – darunter vor allem auf die Gestaltung des Lebendigen und auf die Rolle der visuellen Produkterscheinung im Design. Entsprechend ließen sich im Laufe meiner ausführlichen Beschäftigung mit dem Thema dann auch Designverständnisse und Felder in der Designpraxis ausmachen, die sich in der einen oder anderen Weise mit der Frage nach der Gestaltung von Obst und Gemüse in Verbindung bringen lassen. Im folgenden Abschnitt möchte ich nun zunächst meine Verwendung des Designbegriffs klären. Anschließend gehe ich vertiefend auf das Food Design ein, einen Bereich der Designpraxis, der sich mit der Gestaltung von Lebensmitteln befasst.
Was ist Design? Design ist ein vieldeutiger Begriff. Viele unterschiedliche Auffassungen von Design stehen nebeneinander (vgl. z.B. Schneller 2018, S. 35f); das Berufsbild von professionellen Designerinnen ist ständig im Umbruch (Hirsch 2014). Von praktizierenden Designern wird diese Unschärfe des Designbegriffes oft beklagt. Claudia Mareis (2011) dagegen streicht die „historische und diskursive Bedingtheit von Designauffassungen und -selbstverständnissen“ (ebd., S. 173) besonders heraus. Sie erläutert, eine „allgemeine, kategorische oder essentialistische Definition von Design“ (ebd., S. 174) werde immer wieder versucht, jedoch seien diese Versuche wenig erfolgsversprechend. Hilfreicher ist aus ihrer Sicht ein diskursives Verständnis des Design als „kontingentes kulturelles Phänomen“ (ebd., S. 88): In verschiedenen zeitlichen und kulturellen Kontexten ist die Auffassung dessen, was Design ist und leistet, also jeweils eine andere. Ähnlich formuliert es Annette Geiger (2018):
2 Zwei Perspektiven
„Design gibt es nur im Plural der Möglichkeiten. Auf Absolutheitsansprüche einzelner Richtungen sollte bewusst verzichtet werden“ (ebd., S. 56). Von den vielen verschiedenen Definitionen und Sichtweisen, die Designerinnen oder außenstehende Beobachter zum Design entwickelt haben, beziehe ich mich in dieser Arbeit vornehmlich auf ein erweitertes Designverständnis, das im aktuellen Designdiskurs etabliert und weit verbreitet ist.
Design als Problemlösungs- und Planungshandeln Dieses Verständnis begreift Design als werteorientiertes Problemlösungsund Planungshandeln, das angetrieben ist von menschlichen Intentionen. Das Handeln kann bezogen sein auf die Entwicklung von so unterschiedlichen Dingen wie Dienstleistungen, digitalen Interfaces, Stadtvierteln und Systemen des öffentlichen Nahverkehrs. Dieses erweiterte Designverständnis wurde auf bauend auf die Problemlösungs- und Planungstheorien der 1960er und -70er Jahre entwickelt (Mareis 2011, S. 172). Zur Definition des Design im Sinne eines allgemeinen Problemlösungsvorgehens wird häufig Herbert Simon zitiert, der schreibt: Everyone designs who devises courses of action aimed at changing existing situations into preferred ones. The intellectual activity that produces material artifacts is no different fundamentally from the one that prescribes remedies for a sick patient or the one that devises a new sales plan for a company or a social welfare policy for a state. Simon 2001, S. 130
Huppatz (2015) warnt jedoch vor den problematischen Implikationen dieser Bezugnahme. Ein zentraler Mangel in der Designauffassung von Simon sei die Abwesenheit des menschlichen Urteilens, der Intuition, der Erfahrung und der sozialen Interaktion. Insgesamt vertritt Simon demnach ein technokratisches Designverständnis: Um zu wirklich objektiven und rationalen Entscheidungen zu kommen, hofft er auf die Entwicklung einer überlegenen künstlichen Intelligenz, die in der Lage sein soll, die begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu übertreffen. Diese für Simons Arbeit grundlegenden Gedanken werden in der Designwelt bisher wenig thematisiert, jedoch sind sie unvereinbar mit dem heutigen etablierten Verständnis
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von Design als „a fundamentally social, political, cultural, and embodied activity“ (ebd., S. 37). Ein alternativer, häufig zitierter Bezugspunkt für Design als Problemlösungs- und Planungshandeln, der sich für meine Untersuchung als passend erweist, sind die Texte von Horst Rittel, verfasst zwischen 1960 und 1990 (Rith & Dubberly 2007, Jonas 2013). Rittel schreibt über die Denkweise von Planerinnen und Entwerfern: Entwerfer … werden vom Ehrgeiz geleitet, sich einen wünschenswerten Zustand der Welt auszudenken, dabei verschiedene Möglichkeiten seiner Herbeiführung durchzuspielen und sorgfältig den Konsequenzen der erwogenen Handlungen nachzugehen. [...] Planen und Entwerfen endet mit der Festlegung auf einen Plan, der ausgeführt werden soll. Rittel 2013e, S. 123f
Anders als die Vertreter der etablierten Systemanalyse und des frühen Design Methods Movement erkennt Rittel die politische, soziale und argumentative Komponente von Design (vgl. Huppatz 2015, Jonas 2013): Er beschreibt die wachsende Komplexität von gesellschaftlich-technischen Problemen (vgl. Mareis 2011, S. 172), die er – im Gegensatz zu den klar definierbaren, zahmen Problemen der Naturwissenschaft – als bösartige Probleme bzw. wicked problems charakterisiert (Rittel 2013b, Rittel & Webber 2013). Diese bösartigen Probleme sind eingebettet in soziale Kontexte. Auf solche Probleme gibt es viele gleichwertige Perspektiven; Lösungen müssen unter den beteiligten Stakeholdern verhandelt werden und können nicht wissenschaftlich bestimmt werden. Jede Entscheidung wird aufgrund von subjektiven Wertvorstellungen getroffen. Die Vielfalt der Perspektiven macht einfache Lösungen oft unmöglich. “[D]er Planungsprozeß bösartiger Probleme [muss also] als argumentativer Prozeß verstanden werden“ (Rittel 2013b, S. 53). Rittel schlägt damit eine „interdisziplinäre, partizipative und multiperspektivische Herangehensweise an Planungsprozesse“ (Mareis 2011, S. 145) vor.2 2 Rittel entwickelt zudem als erster ein Verständnis des Planungsprozesses als „iterative[m] Vorgang von Varietätserzeugung und Varietätseinschränkung“ (Rittel 2013a, S. 71). Bei der Betrachtung der Vorgänge in der Pflanzenzüchtung sticht diese Parallele von Züchtungsund Entwurfsprozessen ins Auge: Das Vorgehen eines Gemüsezüchters, der in Abhängigkeit von der Nachfrage und der technischen Machbarkeit ein bestimmtes Ziel eines zu züchtenden Radieschens entwickelt und anschließend die verschiedenen Schritte, die für
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Das erweiterte Verständnis von Design als Problemlösungs- und Planungshandeln impliziert den Gedanken, dass hier nicht nur die disziplinäre Praxis von ausgebildeten Designerinnen gemeint ist (vgl. Mareis 2011, S. 146). Die erläuterte Theorie zur Natur der bösartigen Probleme bezieht sich nicht nur auf den Entwurf von industriell hergestellten Gebrauchsgegenständen, sondern allgemein auf kontroverse Problemstellungen, für die im Kontext heterogener Gesellschaften eine Lösung ausgehandelt werden muss. Wie ich im Laufe dieser Arbeit zeigen werde, können die Praktiken der Produktion von Obst und Gemüse also auch unabhängig von dem Bezug zur industriellen Herstellung von materiellen Objekten als individuelles und kollektives Problemlösungsvorgehen betrachtet werden. Bei der Untersuchung der Abwägungen und Entscheidungen der Akteure – und gelegentlich bei deren Berufung auf die Sachzwänge der Branche (vgl. Rittel 2013c) – ergibt sich damit eine Anschlussfähigkeit an die Fragen des Design: In der Produktion von Obst und Gemüse treffen unterschiedliche subjektive Erwartungen und Vorlieben, wirtschaftliche und biologische Rahmenbedingungen und technologische Möglichkeiten aufeinander. Es müssen Lösungen erarbeitet werden, die von so unterschiedlichen Betroffenen wie zum Beispiel preisorientierten Konsumentinnen, ökologisch orientierten Produzenten und konkurrenzgetriebenen Groß- und Einzelhändlerinnen als gut oder zumindest akzeptabel beurteilt werden können. Es handelt sich also in Rittels Sinne bei der Produktion von Obst und Gemüse um ein typisches bösartiges Problem. Um zu für alle involvierten Stakeholder akzeptablen Lösungen – in Form von verkäuf lichen und essbaren Erzeugnissen – zu kommen, muss die Herstellung von Obst und Gemüse zwischen den Vertretern vieler verschiedener Perspektiven verhandelt werden. Damit verdeutlicht dieser grundsätzliche Blick auf Design als Problemlösungs- und Planungshandeln ebenso, dass gestaltete Dinge stets als Ergebnisse menschlicher Entscheidungen zwischen einer Vielzahl von Möglichkeiten zu betrachten sind. Daran erinnert auch Annette Geiger (2018) mit ihrem Konzept von Design als Andersmöglichsein: Was gestaltet ist, basiert auf einer Entscheidung und ist damit auch anders möglich. In Bezug auf die dessen Realisierung notwendig sind, plant; der dabei in Schleifen Varianten erzeugt und aussortiert und immer wieder die aktuellen Ergebnisse mit den zuvor festgelegten Zielen vergleicht, ist enorm ähnlich zum gestalterischen Vorgehen eines Designers, der ein Möbelstück oder eine Dienstleistung entwirft.
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Gestaltung von Obst und Gemüse verdeutlicht diese Perspektive, dass wir nicht gezwungen sind, die vorgefundenen essbaren Produkte so hinzunehmen, wie sie sind – sie erweisen sich trotz aller mehr oder weniger unumgänglichen Rahmenbedingungen als Ergebnisse menschlicher Entscheidungen: als gestaltet und gestaltbar.
Design als Produktgestaltung: Form, Funktion, Bedeutung Zusätzlich zu diesem grundlegenden erweiterten Designverständnis beziehe ich mich in dieser Arbeit auch auf die disziplinäre Praxis von professionellen Produktdesignern3. In dieser Praxis herrscht das etwas konventionellere Verständnis von Design als der Gestaltung der Funktionsweisen und der materiellen Eigenschaften von industriell hergestellten Produkten vor. In der Produktgestaltung werden im Auftrag von Herstellern Dinge des alltäglichen Gebrauchs in ihrer Funktion, ihrer Form und – übergeordnet – in ihrer Bedeutung gestaltet (vgl. Heuf ler et al. 2019, S. 35; Bürdek 2011; VDID 2015). Diesem Verständnis von Design bin ich aus biographischen Gründen besonders verbunden: Mein Studium des Industriedesign und meine freiberuf lichen Erfahrungen in diesem Beruf bilden den Hintergrund für die gestalterische Perspektive, die meine Herangehensweise an das Forschungsprojekt maßgeblich beeinf lusst. Die Debatten zum Verhältnis von Form und Funktion, von ästhetischem Produkterleben und Zweckrationalität4, die in der Geschichte des Design bis heute immer wieder geführt werden, prägen mein anfängliches Interesse für die Materialität von Obst und Gemüse und die Formulierung meiner ersten Fragen an die Produkte. Mit der Produktion von Obst und Gemüse – von der Züchtung von neuen Sorten über den Anbau bis zur Kontrolle zur Einhaltung der geltenden Normen – untersuche ich einen Prozess, der die industrielle Herstellung von Produkten mit präzise definierten funktionalen und formalen Eigenschaften zum Ziel hat. Auch wenn also im Falle der Gestaltung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen keine professionelle Produktdesignerin am Werk 3 Industrial Design, Produktdesign, Industriedesign und Produktgestaltung werden in dieser Arbeit synonym verwendet. 4 Die verschiedenen Stimmen in den Debatten zum Verhältnis von ästhetischem Produkterleben und Zweckrationalität werden in Kap. 6.6.1 ausführlicher dargestellt.
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ist und kein einzelner Akteur den Entwurf dieser Produkte für sich beansprucht, zeigt sich dieser Prozess als durchaus vergleichbar zu dem Kontext, in dem das Produktdesign herkömmlicherweise situiert ist. In der Produktion von Obst und Gemüse ist die Gestaltung verteilt auf viele Akteure an verschiedenen Orten5. An vielen verschiedenen Punkten im Prozess werden Form und Funktion, Materialität und visuelle Erscheinung der Erzeugnisse direkt oder indirekt manipuliert – mit dem Ziel, sie mit den erwünschten Bedeutungen in Einklang zu bringen. Mit dem erläuterten Verständnis von Produktdesign lenke ich also den Blick auf die formalen und funktionalen Eigenschaften der untersuchten Gegenstände und die zugrundeliegenden menschlichen Zielsetzungen und Intentionen. Vor dem Hintergrund dieses Designverständnisses frage ich danach, wie die Erzeugnisse funktionieren und aussehen – und was dies bedeutet. Es geht mir demnach in der vorliegenden Arbeit um beides: um Design als die Gestaltung der materiellen Eigenschaften von industriell hergestellten Produkten wie auch um Design als intentionales menschliches Problemlösungsvorgehen in einem Produktionsprozess inmitten eines komplexen sozialen Kontexts.
Food Design: Die Gestaltung von Lebensmitteln Im Rahmen einer steigenden Aufmerksamkeit für Lebensmittel- und Ernährungsthemen in vielen Gesellschaften (DiSalvo 2012) lässt sich auch im Designbereich in den letzten zwanzig Jahren zunehmend eine Hinwendung zum Essen als Material und als Praxis beobachten.6 Das Food Design hat sich von einer Ansammlung von Einzelkämpfern hin zu einem kleinen aber sichtbaren Bereich der professionellen Designpraxis entwickelt.7 5 Die Idee des Designers als dem singulären Autor eines Entwurfes wurde auch für das klassische Industriedesign in den letzten Jahren vielfach infrage gestellt. Stattdessen wurde ein Verständnis des Designers als Vermittler in Aushandlungsprozessen in den Vordergrund gestellt (siehe z.B. Binder et al. 2011). 6 Siehe hierzu zum Beispiel The Future Laboratory 2008, Klanten et al. 2011, Zampollo 2016b, MODA 2016, Fogelberg 2017. Ein Beleg für die steigende Aufmerksamkeit für das Food Design ist auch die 2016 erstmals erschienene Zeitschrift „International Journal of Food Design“ mit Peer-Review Verfahren (Zampollo 2016a). 7 Einen Überblick zu im Rahmen von spekulativem Design und Designaktivismus entwickelten alternativen Praktiken der Nahrungsmittelproduktion – von der Permakultur bis zum
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Stummerer und Hablesreiter (2010) sehen Food Design vor allem als die professionelle Gestaltung von industriell hergestellten verarbeiteten Lebensmitteln wie Süßigkeiten und Fertiggerichten: Wenn wir Käse zu zylindrischen Laiben formen und Schokolade in eckige Tafeln gießen, Fisch in geometrische Klötze schneiden und Maismehlbrei zu Erdnusslocken extrudieren, dann gestalten wir unser Essen – und das ganz bewusst. Stummerer & Hablesreiter 2010, S. 8
Zwar sei das Zubereiten von Nahrung schon immer ein gestalterischer Prozess gewesen, doch [… m]it der Massenfabrikation [hat] die Gestaltung von Nahrung […] eine neue Dimension gewonnen. Mit einem Mal war es möglich, essbare Produkte nach immer gleichen Prämissen in Millionenstückzahl zu erzeugen, und die Frage des „richtigen“ Designs gewann damit schlagartig enorm an Bedeutung. Stummerer und Hablesreiter 2010, S. 265
Diesem Verständnis des Begriffs entsprechend konzentrieren sich Stummerer und Hablesreiter hauptsächlich auf Kriterien, die bei der Gestaltung von industriell hergestellten Lebensmitteln wie Fruchtjoghurts und Eis am Stiel maßgebliche Rollen spielen. Als „Food Designer“ bezeichnen sie alle mit der Gestaltung von Nahrung befassten Fachleute. Unter anderem gehören dazu „Lebensmitteltechnologen, Ernährungswissenschaftler, Marketingleute, Betriebswirte, Psychologen, Chemiker, Industriedesigner, Akustiker und Konsumenten“ (ebd., S. 271). Besonders die freien Designer und Künstler lieferten jedoch durch ihren gestalterischen Mut “wichtige Impulse für die Weiterentwicklung unserer Nahrung, eine Weiterentwicklung nämlich, die sich nicht notgedrungen an den ökonomischen Vorgaben des Marktes, sondern an kulturellen Zusammenhängen orientiert“ (ebd., S. 273).
Sammeln von Wildpflanzen in der Stadt – bot das Seminar „Ökologien des Essens – Alternative Nahrungsmittelsysteme und Design-Aktivismus“ im Sommersemester 2017 an der Akademie der Bildenden Künste in München (Fogelberg 2017).
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Abweichend von diesem breiteren Verständnis des Food Design definieren andere Autoren den Begriff vor allem als die auf Nahrungsmittel und Nahrungsaufnahme bezogene Praxis von professionellen Gestaltern8. Eine der bekanntesten Food Designerinnen, die mit Sicherheit zu der Kategorie der einf lussreichen Impulsgeber zu zählen ist, ist die Niederländerin Marije Vogelzang (The Future Laboratory 2008, Klanten et al. 2011, Zampollo 2016b), auf deren Arbeit und Zielsetzungen ich an dieser Stelle exemplarisch für das Feld des Food Design eingehen möchte. Vogelzang arbeitet bereits seit dem Jahr 1999 als Food Designerin. Sie selbst beschreibt ihre Praxis jedoch mit den Worten „Eating Design“ – mit diesem umfassenderen Begriff möchte sie ausdrücken, dass es ihr nicht nur um die Gestaltung der Nahrungsmittel, sondern auch und vor allem um die Gestaltung der Nahrungsaufnahme geht (Zampollo 2016b). Ihre in der Zielsetzung häufig sehr freien Arbeiten nehmen die Formen von Events, Performances, Ausstellungen und auch von – teilweise essbaren – Objekten an. Zwei Beispiele aus ihrer Praxis verdeutlichen exemplarisch das gestalterische Interesse Vogelzangs: Die dreitägige Performance „Eat Love Budapest“ hat zum Ziel, durch das Füttern und Gefüttertwerden zum Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen beizutragen. Besucher der Performance wurden von ungarischen Romafrauen hinter weißen Vorhängen mit traditionellen Speisen gefüttert. Währenddessen erzählten die Frauen den Besuchern ihre Lebensgeschichte (Vogelzang 2011). In ihrer Arbeit „Volumes“ stellt Vogelzang appetitliche, aber nicht essbare Objekte vor, die zusammen mit der Nahrung in den Teller gelegt werden können. Sie sollen dazu beitragen, dass der Teller voller aussieht und gleichzeitig die Menge an konsumierten Lebensmitteln verringern (Cowa 2017). Vogelzang ist fasziniert von Essen als Material für das Design: It took me some time to fully understand the potential of combining design and eating. Now I see that food is connected to everything in the world. That the world is shaped according to what we choose to eat every day. That food is connected to emotions and memories. That food can glue people together but it can also make a separation. Food gives us meaning and nourishment but it can also make us ill. All these things – and many more – are things that
8 Siehe z.B. Morgaine Gaye in Zampollo 20016a, S. 8.
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inspire me to work with food. It is the most rich and important material in the world. Vogelzang im Interview mit Fairs (2014)
In ihrer Arbeit betont Marije Vogelzang „the context of eating, addressing not just the psychological, but the (al)chemical, technical, social and societal implications of food“ (The Future Laboratory 2008, S. 19). Auch der politische Aspekt ihrer Arbeiten ist ihr ein Anliegen: „[I]f you work with food, you have a more political aspect to your work because food is in itself a more political material“ (Zampollo 2016b, S. 67). Für Vogelzang steht fest, dass die Art, wie wir in Europa zur Zeit Lebensmittel herstellen und konsumieren, langfristig nicht aufrecht erhalten werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es ihr Ziel, unseren Umgang mit Lebensmitteln und die Art, wie wir Lebensmittel wertschätzen, zu verändern (ebd., S. 69). Die Agrarwissenschaftlerin Louise Fresco (2016) beschreibt die Vorgehensweise von Food Designern als ... solution-driven, optimistic rather than pessimistic, creative rather than conservative. Their views on the technological and biological dimensions of food and people open new doors for agronomists, ecologists, food scientists and psychologists. Fresco 2016, S. 6
Sie ist daher überzeugt, dass die Beschäftigung mit Lebensmitteln aus der Designperspektive auch für die Entwicklung von Ernährungsprodukten für größere Märkte einen Mehrwert mit sich bringt. Rick Schifferstein (2016) weist ebenfalls darauf hin, dass Designer mit ihren Kompetenzen ein großes Potential für die Lebensmittelindustrie mitbringen könnten. Mit Blick auf die Praxis stellt er jedoch fest, dass ausgebildete Gestalter in der Lebensmittelindustrie bisher kaum eine Rolle spielen. Entsprechend ist es sein Ziel, „to convince food company managers of the added value designers can have for the food industry“ (ebd., S. 104). Die Gestaltungsaufgaben der Zukunft befassen sich in Schiffersteins Augen nicht mehr nur mit dem einzelnen physischen Produkt, sondern mit der Entwicklung von ganzen Systemen der Produktion, der Verarbeitung und des Handels (ebd., S. 128). Die Herausforderung für Food Designer sieht Schifferstein demnach vor allem darin, mehr Transparenz in den immer komplexer
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gewordenen Systemen der Nahrungsmittelproduktion und -vermarktung herzustellen (ebd.).
Der Wert des Aussortierten Die Verderblichkeit und Vergänglichkeit von Lebensmitteln wird von Food Designern immer wieder als besondere Herausforderung und mögliche Stärke des Materials gewertet (vgl. Schifferstein 2016, Zampollo 2016b). In den letzten zehn Jahren ist eine steigende Anzahl von Food Design-Arbeiten und anderen Initiativen zu beobachten, die das Thema der Wertschätzung von Aussortiertem aufgreifen – oft mit dem Ziel, Lebensmittelverschwendung zu vermeiden (Kleinert 2018). In dieser Hinsicht besonders interessant ist die Arbeit von Katja Gruijters. Als eine der ersten Food Designerinnen setzt sie sich seit 1998 immer wieder mit dem Thema von Überschüssen und Resten in der Nahrungsmittelproduktion auseinander (Gruijters & van Hinte 2016). Wiederholt macht sie Aussortiertes und Übriggebliebenes zum Thema von Events, Verkostungen und Workshops, in denen sie beispielsweise der Idee des abfallfreien Essens nachgeht. Sie fragt: „What is the point of efficient production, if one third of it ends up in landfills?“ (ebd., S. 51). Ihr Anliegen ist es, „to show that residual f lows need to be reduced by developing or reintroducing ways to sustain food value“ (ebd., S. 121). Katja Gruijters prangert die Überbewertung des perfekten Äußeren von Obst- und Gemüseerzeugnissen an, die abweichend geformte Produkte zu wertlosen Resten macht: „Consumers intuitively pick the visual illusion of perfection. Imperfect tomatoes or cucumbers therefore have virtually no value“ (ebd., S. 57). Um hier eine neue Perspektive einzubringen und deformierte Erzeugnisse aufzuwerten, macht Gruijters die Vielfalt der Formen und die Schönheit der Abweichung immer wieder zum Thema ihrer Arbeit. Sie schreibt: “It requires experimentation to turn ‚weird‘ into ‚desirable‘ and ultimately ‚normal‘, which must be the aim“ (ebd., S. 113). In diesem Sinne plädiert Gruijters für eine Neuformulierung der Kriterien, nach denen die Qualität eines Erzeugnisses im Handel und in der Regulierung festgestellt wird (vgl. ebd., S. 110f). Auch Schifferstein sieht diese Aufgabe als eine besonders interessante Herausforderung für Food Designer. Wie Gruijters geht auch er geht von einer Überbewertung des Aussehens aus. Er schreibt: „[B]ecause selling in a retail situation is largely dependent on visual impressions […], the super-
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market criteria may be largely based on what makes products visually appealing and may compromise on criteria that are more important during food consumption“ (ebd., S. 127). Hier sieht Schifferstein ein Problem, das der Lebensmittelsektor selbst bisher nicht effektiv in Angriff genommen hat. Entsprechend hält er den Entwurf von alternativen Umgangsweisen mit den Kriterien für die Kaufentscheidung für eine interessante Aufgabenstellung für das Design (ebd.). Auch andere Initiativen, die auf die Reduktion von Lebensmittelabfällen zielen, konzentrieren sich häufig darauf, unregelmäßig geformte Erzeugnisse zu verkaufen und dadurch wertzuschätzen. Zu diesen Projekten zählen beispielsweise „Imperfect Produce“ (2015), „Culinary Misfits“ (2011) und „Querfeld“ (2015) – wobei die beiden letzteren Projekte von Designern initiiert wurden. Auch einige große Handelsunternehmen haben das Problem der anders geformten und dadurch als wertlos aussortierten Erzeugnisse wahrgenommen und begonnen, unregelmäßig geformte Erzeugnisse zu verkaufen – natürlich nicht ohne diese Projekte zusätzlich als Marketingkampagnen zu nutzen. Beispiele hierfür sind die Projekte „Rewe Wunderlinge“ (Rewe 2013) und „Coop Ünique“ (Coop 2013). All diese Initiativen beschäftigen sich mit dem visuell effektvoll inszenierbaren Thema der unregelmäßig geformten Erzeugnisse, die im Normalfall als wertlos für die menschliche Ernährung aussortiert werden.9 Auch wenn all diese Projekte bisher nur in einem kleinen Maßstab realisiert wurden und man deren Konsequenzen für den Alltag im Handel infrage stellen kann, weisen sie aus meiner Sicht in eine vielversprechende Richtung. Sie alle messen deformierten Erzeugnissen, die ansonsten als minderwertig aussortiert werden, einen neuen Wert bei. Damit schaffen sie Aufmerksamkeit für das Thema der Nahrungsmittelverschwendung. Sie tragen dazu bei, dass Konsumenten ihre eigenen Konsumgewohnheiten über9 Bickelmann (2019) weist darauf hin, dass das Aussortieren von Formfehlerware nicht auf die gesetzlich geltenden Normen zurückgeführt werden kann: Während Ware mit Formfehlern in der Klasse II problemlos vermarktbar ist, sieht sie den Grund für deren Wertlosigkeit eher bei den Händlerinnen, die solche Erzeugnisse nicht verkaufen möchten. Die beschriebenen Kampagnen von großen Handelskonzernen greift Bickelmann an. Solche Kampagnen seien zwar werbewirksam, aber für die Verbraucher irreführend und zudem durch die geringeren Abnahmepreise schädlich für die Erzeugerinnen: „Eine Kampagne, die die Welt retten soll, schadet am Schluss den Erzeugern“ (ebd., S. 8).
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denken und sie stellen die Kriterien infrage, die entscheiden, ob ein Produkt zum Verkauf und Verzehr geeignet und dadurch wertvoll ist, oder wertlos. Schließlich stellen sie auch die Vorstellungen des Handels zu den Erwartungen von Verbraucherinnen infrage. Sie betonen die unverhältnismäßig große Bedeutung der Perfektion des Aussehens von Obst und Gemüse, die allzu oft als Indikator für den Genusswert eines Produktes völlig unbrauchbar ist. Daher tragen sie auch das Potential in sich, die Kriterien, die die Produktion unserer Lebensmittel heute bestimmen, zu hinterfragen und vielleicht sogar zu einer Neuformulierung beizutragen.
Die Gestaltung von Obst und Gemüse als Food Design? Food Design wird also entweder als die Gestaltung von industriell hergestellten verarbeiteten Lebensmitteln oder als die auf Lebensmittel und Nahrungsaufnahme gerichtete Praxis von professionellen Designern verstanden (Zampollo 2016a). Zunächst erscheint es fraglich, ob sich die Gestaltung von Obst und Gemüse als Food Design betrachten lässt. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch verschiedene Beschreibungen des Food Design durchaus als anschlussfähig an die untersuchten Handlungen der Akteure in der industriellen Produktion von Obst und Gemüse. Francesca Zampollo (2013) definiert sechs Unterkategorien von Food Design: „Design With Food, Design For Food, Food Space Design or Interior Design For Food, Food Product Design, Design About Food, and finally, Eating Design“ (ebd., S. 183). In dieser Schematik fällt die Gestaltung von Obst und Gemüse am ehesten unter die Kategorie Food Product Design. Zampollo erläutert: „Food Product Design is about designing edible mass-produced products“ (ebd., S. 183). Während die Beispiele, die sie für diese gestalteten Lebensmittel nennt, sich auf speziell geformte Kartoffelchips und Nudeln beziehen, spricht nichts dagegen, auch die Gestaltung von Äpfeln und Tomaten als Food Product Design zu begreifen: Obst und Gemüse sind essbare, als Massenware hergestellte Produkte – auch wenn bei ihrer Gestaltung niemand involviert war, der sich selbst als Designer beschreiben würde. Stummerer und Hablesreiter schließen die Züchtung und den Anbau von pf lanzlichen Lebensmitteln sogar explizit in ihre Definition von Food Design mit ein: Food Design is the design […] of edible objects, this includes all processes – from the cultivation/breeding to the preparation of food – and all decisions
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that are taken to determine food as an object; more precisely the design of taste, consistency, texture, surface, the sound of chewing, smell and all other object properties. Stummerer und Hablesreiter im Interview mit Zampollo (2016a, S. 4)
Wenn sich also die Handlungen der Akteure im Produktionsprozess von Obst und Gemüse als Design begreifen lassen, stellt sich die Frage, warum bisher keine professionellen Designer in diese Prozesse eingebunden sind. Hierfür gibt es aus meiner Sicht vor allem zwei Gründe: Zum einen handelt es sich bei der Produktgestaltung um eine materielle Praxis, die Wissen und Können im Umgang mit dem spezifischen bearbeiteten Material erfordert. Entsprechend der historischen Entwicklung der Produktgestaltung erlernen Industriedesigner in ihrem Studium aktuell vor allem den Umgang mit Kunststoff, Holz und Metall und die gängigen Verarbeitungstechniken, die es erlauben, diese Materialien in eine angestrebte Form zu bringen. Da das Produktdesign herkömmlicherweise nicht auf die Entwicklung lebendiger Ergebnisse abzielte, ist auch der Umgang mit Lebendigem bisher kein Teil der Ausbildung von Designerinnen. Ein zweiter Grund liegt in dem in industrialisierten Gesellschaften weit verbreiteten Wunsch von Konsumenten nach möglichst naturbelassenen, ursprünglichen Lebensmitteln. Eine Einbeziehung des Design in die Gestaltung von Obst und Gemüse würde somit in der Kommunikation nach außen – anders als in den meisten anderen Branchen – vermutlich keinen Mehrwert mit sich bringen. Vor dem dargestellten Hintergrund ist es eher unwahrscheinlich, dass unter Einbeziehung von Designerinnen gestaltetes Obst und Gemüse auf dem Massenmarkt durch das sonst häufig verkaufsfördernd eingesetzte Merkmal des Design erfolgreich wäre. Stummerer und Hablesreiter stellen bereits für verarbeitete Lebensmittel fest, dass viele Konsumentinnen ihre Nahrung ungern als gestaltet wahrnehmen möchten: Nahrung werde … zumeist als etwas Ursprüngliches, Natürliches wahrgenommen und ihre Beschaffenheit [wird] daher gar nicht erst hinterfragt. […] Auch wenn Fischstäbchen oder Eislutscher das Resultat menschlicher Kreativität sind, werden sie als genauso gottgegeben wahrgenommen wie eine Kartoffel oder ein Apfel.
2 Zwei Perspektiven Stummerer & Hablesreiter 2010, S. 265
Die Grundthese der vorliegenden Arbeit ist jedoch gerade, dass auch die Vorstellung von rein natürlichen und ursprünglichen Kartoffeln und Äpfeln an der Wirklichkeit der Ernährung in industrialisierten Gesellschaften vorbei geht. Auch Kartoffeln und Äpfel sind gestaltet. Diese Perspektive ist für viele Konsumentinnen auf den ersten Blick sicherlich noch unangenehmer und provokanter als die Einsicht, dass industriell hergestellte, verarbeitete Lebensmittel das Ergebnis von gestalterischen Prozessen sind. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – halte ich eine Untersuchung von gewachsenen Nahrungsmitteln als gestalteten Dingen für angemessen und mit Blick auf eine mögliche Neubewertung der gestalterischen Intentionen für notwendig. Denn der Wunsch nach Natürlichkeit führt bisher nicht dazu, dass Obstund Gemüseprodukte weniger gestaltet wären, sondern vor allem dazu, dass die gestalterischen Eingriffe stärker verkannt werden und damit weniger zur Sprache kommen. Wenn Obst- und Gemüseerzeugnisse hingegen als gestaltet betrachtet werden, schärft diese Perspektive den Blick dafür, dass Obst und Gemüse nicht ursprünglich und natürlich, sondern auch vom Menschen gemacht sind. Damit sind sie jederzeit auch anders denk- und machbar; sie bewegen sich im Bereich dessen, was anders möglich ist (Geiger 2018), im Bereich des Design. Aus diesem Blickwinkel wird es möglich, die Werte und Ziele, die der Gestaltung zugrunde liegen, offen zu legen und neu zu verhandeln. Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die Prozesse der Produktion von Obst und Gemüse als Food Design betrachten lassen. Für Food Designer, die sich bisher meist mit der Gestaltung von industriell hergestellten, verarbeiteten Lebensmitteln befassen, kann die vorgeschlagene Auseinandersetzung mit der Gestaltung von gewachsenen Produkten eine Horizonterweiterung darstellen. Zudem lassen sich zahlreiche in der vorliegenden Untersuchung aufgegriffene Themen als Potentiale für eine mögliche zukünftige Praxis des Food Design deuten. Denn vor dem Hintergrund der Herausforderungen, vor denen das System der Nahrungsmittelproduktion für westliche industrialisierte Gesellschaften steht, scheint eine Einbindung von Designern als Experten für die Aushandlung von Problemlösungen angebracht. Die abnehmende Agrobiodiversität durch große Monokulturen, der übermäßige Einsatz von Pf lanzenschutzmitteln und die Konzentration der Produktion, die weiten Transportwege und ein hoher Wasserverbrauch
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in Regionen mit Wasserknappheit sind nur einige der Herausforderungen (vgl. Iles et al. 2017). Zudem ist die Nahrungsmittelproduktion einem kontinuierlichen Wandel unterworfen und muss angesichts von sich ändernden kulturellen, wirtschaftlichen und klimatischen Rahmenbedingungen ständig neu gestaltet werden. Die Fragen danach, was wir essen wollen und welche Werte in Bezug auf unsere Ernährung von Bedeutung sind, werden ständig neu gestellt. Auch die Kriterien der Produktqualität im Bereich der gewachsenen Lebensmittel stehen nicht für immer fest, sondern werden kontinuierlich neu verhandelt. Vor diesem Hintergrund könnten Designerinnen im Rahmen der fortwährenden Neuformulierung der Kriterien für die Produktion von Lebensmitteln in Zukunft neue Rollen übernehmen (vgl. Schifferstein 2016, S. 128). In diesem Sinne kann die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zu einer möglichen zukünftigen Designpraxis leisten.
2.2 STS Neben dem Hintergrund im Design ist die vorliegende Arbeit in vielerlei Hinsicht geprägt von der sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung, den Science- and Technology Studies (STS). Entstanden ist diese Orientierung an den STS aus der spezifischen Konstellation des Forschungsverbundes zu Biofakten und aus meiner Einbindung in ein fachliches Graduiertenzentrum für STS-Forscher. Da dieses Forschungsfeld vermutlich einigen Lesern mit Designhintergrund noch unbekannt ist, möchte ich an dieser Stelle sehr kurz auf die Entstehung und grundlegende Gedanken und Anliegen der STS eingehen. Die STS sind ein hochgradig transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich seit den späten 1970er Jahren am Schnittfeld von Wissenschaftsphilosophie, -geschichte und -soziologie und Technikphilosophie, -geschichte und -soziologie entwickelt hat (Niewöhner et al. 2012). Die STS gehen von der grundsätzlichen Beobachtung aus, dass Wissenschaft und Technologie Gesellschaft formen, gleichzeitig aber Gesellschaft auch Wissenschaft und Technologie formt. STS-Forscher haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Verschränkungen von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft im Alltag zu untersuchen. Das vorrangige Ziel der STS ist „die empirische Untersuchung der vielfältigen Rollen von Wissen und Technologie in modernen Gesellschaften unter Verwendung von Methoden der Sozial-, Kultur- und
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Geschichtswissenschaften“ (ebd., S. 11). Während es in den Anfangsjahren der STS vor allem darum ging, Wissen und Technologie als sozial konstruiert darzustellen, zielen zeitgenössische STS-Studien eher darauf ab, „zu zeigen, wie genau diese Konstruktionsprozesse ablaufen, und wie sie daher spezifische Herrschaftskonstellationen reproduzieren oder verändern“ (ebd., S. 24). Im Gegensatz zum Design, das wie bereits erläutert oft als Problemlösungsvorgehen verhandelt wird, beschäftigen sich die STS eher damit, vermeintliche Selbstverständlichkeiten neu zu problematisieren (vgl. Woodhouse & Patton 2004, S. 11). Ein einf lussreiches Konzept innerhalb der STS ist die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die ab den späten 80er Jahren in Frankreich entwickelt wurde. Sie stellt die für die Moderne kennzeichnende Trennung von Natur und Technik grundsätzlich in Frage und verfolgt das Ziel, solche dichotomen Gegenüberstellungen von Kategorien aufzulösen. Statt die einzelnen menschlichen Akteure zu untersuchen, legt die ANT den Schwerpunkt auf die Untersuchung der Netzwerke, in die die Akteure verstrickt sind. Die Beziehungen – sowohl zwischen Menschen, als auch zwischen Menschen und Dingen – treten in den Vordergrund. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass menschliche wie auch nichtmenschliche Akteure symmetrisch untersucht werden (Latour 1995). Damit trägt die ANT auch zu einer Hinwendung zu den materiellen Dingen bei. Parallel zur „semantischen Wende“ (Krippendorff 2013), zur Hinwendung zur Bedeutung der Dinge in der Designtheorie, fand in den STS eine Wendung hin zur Materialität statt, der nun eine aktive Rolle zugesprochen wird. Materielle Dinge werden unter diesen Vorzeichen als mitunter eigenwillige Akteure konzipiert; sie gewinnen Handlungsträgerschaft (Niewöhner et al 2012, S. 30f).
2.3 STS und Design: das Potential der Schnittstelle Erst allmählich stellte sich für mich im Verlauf der Arbeit heraus, dass die Schnittstelle zwischen Design und STS, an die ich eher zufällig geraten war, aktuell international eine steigende Aufmerksamkeit erfährt. STS-Forscher interessieren sich seit Längerem für die Praxis von Designern (Woodhouse & Patton 2004, Latour 2009, Ingram et al. 2007, Yaneva 2017, Farìas & Wilkie 2016) und auch Designwissenschaftler haben erkannt, dass sie von den Kon-
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zepten und Erkenntnissen der STS profitieren können (Jönsson 2014, Wilkie 2010, Andersen 2012, Kerridge 2015, Tatum 2004).
Was kann Design von den STS lernen? Im Design, aber auch in den STS, treten vermehrt Stimmen auf, die darauf hinweisen, dass eine Auseinandersetzung mit Konzepten und Theorien aus den STS sowohl die Designpraxis wie auch die Designforschung bereichern kann: In der Designforschung können STS-Konzepte hilfreich sein bei der Suche nach den Merkmalen und den Grenzen der eigenen Disziplin (Grand 2012). STS-Konzepte können zu einer tieferen Ref lexion der eigenen Rolle in Innovationsprozessen beitragen (Wilkie 2010) und können helfen, ein differenzierteres Bild der Wirksamkeit der eigenen Praxis zu entwickeln (Kerridge 2015). Für die Designpraxis können Konzepte aus den STS beispielsweise bei der Erarbeitung von neuen und überzeugenderen Konzepten zur Nachfrage hilfreich sein (Ingram et al. 2007) – und sie können Designer darin unterstützen, ein differenzierteres Verständnis der eigenen gestalterischen Verantwortung zu entwickeln (Tatum 2004). Die Sozialwissenschaftler Ingram, Shove und Watson (2007) rufen zu einer intensiveren interdisziplinären Auseinandersetzung zwischen Design, STS und sozialwissenschaftlicher Konsum- und Praxistheorie auf. Sie sind überzeugt: Designerinnen brauchen differenziertere Verständnisse der Handlungen von Nutzern und Konsumenten in den Bereichen Kauf, Aneignung, Normalisierung und Praxis. Konzepte aus den STS und der soziologischen Konsum- und Praxistheorie können auch für Designerinnen fruchtbar gemacht werden – mit dem Ziel, die dynamische Beziehung zwischen Produkt und Praxis noch stärker in den Designprozess einzubeziehen (ebd., S. 16). Damit plädieren die Autoren für die Entwicklung eines neuen Designprozesses, in dem Konsumpraktiken explizit zum Ausgangspunkt für Design werden. Woodhouse und Patton (2004) schlagen vor, das Feld der Designforschung zu erweitern. Die Aufmerksamkeit sollte nicht nur der beruf lichen Praxis von professionellen Designerinnen gelten: „We need to grasp in a more shared and public way what makes life in a technological civilization worth living“ (ebd., S. 12). Mit ihrem Konzept des Design by Society schlagen die Autoren drei neue Schwerpunkte für die Designwissenschaften vor: Zum einen soll stärker auf die Vielzahl der verschiedenen Akteure eingegangen werden,
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die zusätzlich zu professionellen Designern auf unterschiedliche Weisen in Gestaltungsprozessen mitwirken. Zum anderen soll die Reproduktion von sozialen Normen, Werten und Grundannahmen durch das Design genauer beleuchtet werden. Zusätzlich stellen die Autoren mit dem Begriff des Design by Society die Frage, wie die für das professionelle Design charakteristische Sorgfalt auch für einen breiter gefassten Bereich der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung zur Anwendung kommen könnte (ebd., S. 2ff). In den Reihen der Designwissenschaftler findet sich die konkrete Einbeziehung von STS-Konzepten vor allem in jüngeren skandinavischen und britischen Doktorarbeiten (z.B. Jönsson 2014, Andersen 2012, Wilkie 2010, Kerridge 2015). Alex Wilkie, ein Interaction Designer, der sich inzwischen auch als Wissenschafts- und Techniksoziologe versteht (Wilkie 2019), nimmt Konzepte aus den STS zum Ausgangspunkt, um den Designdiskurs zu kritisieren (Wilkie 2010, S. 14ff). Er bemängelt die Schwäche der Designliteratur, die sich vorrangig mit Biographien von Designern oder mit der Beschreibung von designhistorisch bedeutsamen Artefakten befasst, zu sehr auf die eigene Perspektive fixiert zu sein. Wilkie ist überzeugt, dass Konzepte aus den STS wie der Netzwerkgedanke und die Perspektive auf Design als kollektiver und konstruktiver Prozess zu einem grundlegend neuen Verständnis von Design beitragen können (ebd.).
Was können die STS von Design lernen? Auf der anderen Seite stehen diesem Aufruf an das Design Stimmen gegenüber, die davon sprechen, dass STS-Forscherinnen von der Auseinandersetzung mit Designern und der Designpraxis profitieren können. So verweist Wilkie (2010) auch auf blinde Flecken in den STS: Dem Handlungsspielraum von Designerinnen werde oft nur eine geringe Bedeutung beigemessen. Und während im Design Erwartung und Vorausahnung eine zentrale Rolle spielen, wird in den STS die Zukunft als empirische und konzeptionelle Möglichkeit oft negiert (ebd., S. 16). Calvert und Schyfter (2017) stellen im Rückblick auf ein interdisziplinäres Projekt unter Beteiligung von Biotechnologen, Designerinnen, Künstlern und STS-Wissenschaftlerinnen neben einigen Unterschieden vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen den Anliegen der Künstlerinnen und Designer und denen der STS-Forscherinnen fest. Hierzu zählt für die Autoren das Ziel,
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die in Technologien eingebetteten impliziten Annahmen zu beleuchten und mögliche Alternativen zu untersuchen; außerdem die Anliegen, kritische Ref lexion zu ermöglichen, dominante Zukunftsvisionen von Wissenschaftlern zu hinterfragen und neue Fragen zu stellen. In einigen Punkten können STS-Forscherinnen von Künstlern und Designerinnen lernen, so Calvert und Schyfter. Beispielsweise beobachten sie bei Designern und Künstlerinnen ein ausgeprägtes Problembewusstsein über ihre eigene Einbindung in die Entwicklung von neuen Technologien. Designer sehen sich nie nur als Beobachter, sie sind Teilnehmer in der technologischen Entwicklung. Gleichzeitig entwickeln sie stellenweise auch Strategien zur Vermeidung einer zu stark ausgeprägten Dienstleisterrolle. Insgesamt sind Calvert und Schyfter überzeugt: „engaging more closely with art and design can enrich STS work by enabling an emergent form of critique“ (ebd., S. 195). Eine weitere Möglichkeit des Lernens sehen Woodhouse und Patton (2004) für die STS in der konstruktiven Zielsetzung des Design: The constructive nature of design […] provides a model for our own interdisciplinary field by encouraging problem-oriented scholarship that contributes not merely to refined understanding of the past, but to improved practice in the future. Woodhouse & Patton 2004, S. 12
Zusammenarbeit auf Augenhöhe Einige Autorinnen, sowohl aus dem Design (z.B. Andersen 2012), als auch aus den STS (z.B. Calvert & Schyfter 2017) gehen auch über den Gedanken des voneinander Lernens hinaus und sehen ein besonderes Potential in Projekten, die eine Zusammenarbeit von STS-Forschern und Designerinnen auf Augenhöhe anstreben. Die Designerin Li Jönsson schreibt: Recently, there seems to be a lurking and growing interest from both STS scholars and design researchers to work together to explore potentials of more artistic, material, and messy processes in research. Researchers from both sides are showing interest in each other’s practices, skills, and philosophical offerings. Jönsson 2014, S. 13f
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Entsprechend beobachtet Jönsson ein „emerging field of combining STS and design in new modes of research“ (ebd., S. 13). Trotz der wahrgenommenen Herausforderungen und Vorbehalten auf beiden Seiten (ebd., S. 15) geht die Autorin davon aus: „research employing design practice as a means to inquire into some phenomenon is becoming an established mode of doing interdisciplinary research“ (ebd., S. 17). Andersen (2012) präsentiert eine Sammlung von Konferenzthemen, Tracks und Publikationen, die die steigende Aufmerksamkeit auf die Schnittstelle zwischen STS und Design belegen (ebd., S. 92f). Auch er sieht großes Potential in neuartigen Forschungsmethoden, die an dieser Schnittstelle entwickelt werden. Designpraxis soll hier zum Einsatz kommen, um Fragestellungen aus den STS zu untersuchen. Die STS-Wissenschaftler Calvert und Schyfter (2017) rufen auf zu mehr Mut zur interdisziplinären Zusammenarbeit auf Augenhöhe – auch wenn dies Unsicherheiten für den Verlauf eines Forschungsprojektes mit sich bringt. Sie schreiben: „it is only if we participate that we can create something new together – whether this be knowledge, practices or things“ (ebd., S. 212). Insgesamt zeigten sich die verschiedenen Disziplinen, zwischen denen ich mich mit dieser Arbeit verorte, im Lauf der Zeit als stärker vernetzt und füreinander fruchtbar, als ich das zu Beginn des Projektes angenommen hatte.10 Die Schnittstelle zwischen Design und STS kann als ein noch junges aber dynamisches Feld für Designforscher gelten. Wie beschrieben sehen einige Autorinnen großes Potential für das Design in der Auseinandersetzung mit Konzepten der STS – und gleichzeitig große Chancen für eine gewinnbringende Zusammenarbeit mit STS-Wissenschaftlern. Persönlich erlebte ich die Arbeit an dieser Schnittstelle insgesamt als sehr bereichernd – auch wenn die Verortung meines Projektes in diesem Kontext einige Herausforderungen mit sich brachte. Zu den Herausforderungen im interdisziplinären Forschungsverbund zählten sicherlich die Missverständnisse, die die zahlreichen disziplinären Unterschiede mit sich brachten. Die Unterschiedlichkeit machte das wiederholte Klären der jeweiligen Anliegen und Kompetenzen notwendig, wodurch ich gezwungen war, die Besonderheiten der gestalterischen Perspek10 Zu dieser Einsicht kam ich in erster Linie während meines Forschungsaufenthaltes in London im Sommer 2016, wo ich sie im Gespräch mit Alex Wilkie folgendermaßen formulierte: „So you think I am not as much in the wrong place as I thought I would be.“
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tive immer wieder zu ref lektieren und zu formulieren. Über weite Strecken empfand ich mich dabei als Exotin, die durch ihre abweichende Perspektive andere, stellenweise wohl auch irritierende Fragen stellte. Während meine Rolle im Forschungsverbund geprägt war von der in solchen Kontexten für das Design üblichen Zuständigkeit für die Darstellung und Kommunikation von den Forschungsergebnissen anderer, nutzte ich auch die Chance, im Rahmen des Verbundprojektes eigene wissenschaftliche Fragestellungen zu entwickeln und zu verfolgen. Der Mangel an bestehender designspezifischer Literatur zur Gestaltung von pf lanzlichen Erzeugnissen wurde für mich zum Anlass, mich intensiver als meine sozial- und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Kollegen mit der konkreten Materialität der Dinge selbst zu befassen. So führte dieser Umstand, den ich zunächst als Nachteil empfand, zu einem später wertgeschätzten Merkmal des Industrial Design-Teilprojektes. Einbringen konnte ich darüber hinaus meine im herkömmlichen Designkontext trainierten Fähigkeiten in der Arbeit mit Bildern und Darstellungen. Auf der methodischen Ebene erlaubte mir meine Einbindung in das STS-Umfeld einen Zugang zu Ansprechpartnern aus den Sozialwissenschaften, die ihre Erfahrung in der Erhebung und Auswertung von qualitativen Interviews mit mir teilten. So konnte ich mich mit ihnen über methodische Fragen und praktikable Hilfsmittel austauschen. Gleichzeitig brachten mir meine Kolleginnen viel Offenheit und Wertschätzung für meine stellenweise abweichende Herangehensweise entgegen. Auf der sprachlichen Ebene war ich herausgefordert, mich in die bis dahin für mich ungewohnte disziplinäre Sprache der STS einzuarbeiten. Ich lernte, meine Fragen und Gedanken nicht nur in Bilder, sondern vor allem in Worte zu fassen und präzise zu werden in der Formulierung. Bei den verschiedenen Arbeitstreffen und Kolloquien erhielt ich eine Plattform, auf der ich regelmäßig herausgefordert war, meine Fragen und Thesen zu formulieren und sie meinen Kollegen zur Diskussion zu stellen. In Bezug auf Theorien und Konzepte aus den STS erforderte der Kontext des Forschungsverbundes und auch die Einbindung in das fachliche Graduiertenzentrum für STS-Forscherinnen, viel zu lesen und zu schreiben, was im Laufe der Jahre meinen Horizont deutlich erweitert hat. Im Rahmen dieses Prozesses machte ich auch die Erfahrung, dass einige der im Design verbreiteten Grundannahmen aus der Perspektive der STS in neuem Licht
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erscheinen. Meine Einarbeitung in die STS ermöglichte mir also an manchen Stellen eine neue Perspektive auf meine eigene Disziplin. Insgesamt habe ich von diesem Hineingeworfensein in den anfangs als fremd und schwer zugänglich erlebten STS-Kontext in vielerlei Hinsicht profitiert. Die Schnittstelle zwischen STS und Designforschung halte ich daher auch weiterhin für geneigte Designer und auch für mich persönlich für ein interessantes Arbeitsgebiet.
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3 Zentrale Begriffe Im folgenden Kapitel ist es mein Anliegen, zentrale Begriffe zu klären. Zum einen geht es hierbei um den Begriff der Biofakte, der gleichzeitig einen Ausgangspunkt und ein zentrales Konzept für diese Arbeit darstellt. Der Begriff bezieht sich auf Mischwesen zwischen Natur und Technik. Damit gilt er auch für Obst und Gemüse als lebendige Produkte. Beide Begriffe – Natur und Technik – werden damit ebenfalls zu wichtigen Referenzpunkten. Da es mir in der vorliegenden Arbeit um die Gestaltung der materiellen und visuellen Aspekte von Obst und Gemüse geht, gehe ich im zweiten Abschnitt des Kapitels auf die Begriffe der Materialität und der Visualität ein. Beide Begriffe verweisen aufeinander, sind aber doch voneinander zu unterscheiden. Auf den folgenden Seiten gebe ich einen kurzen Überblick zu den fünf genannten Begriffen und kläre, in welchem Sinne ich sie in der vorliegenden Arbeit verwende.
3.1 Biofakte: Mischwesen aus Natur und Technik Biofakte sind „natürlich-künstliche Mischwesen, die durch zweckgerichtetes Handeln in der Welt sind, aber dennoch wachsen können“ (Karafyllis 2006, (2)). Das Konzept der Biofakte wurde entwickelt von der Technikphilosophin Nicole Karafyllis – mit dem Ziel, die Unterscheidung – und die Vermischung – von Natur und Technik neu zu ref lektieren. Der Begriff setzt sich zusammen aus „bios“, was aus dem Griechischen kommt und „Leben“ bedeutet und „artefakt“, was lateinisch ist und das vom Menschen Gemachte bezeichnet. Biofakte sind also biotische Artefakte, Mischwesen aus Natur und Technik. Als natürliche Dinge zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie leben – wobei sich das Leben darin zeigt, dass sie wachsen. Als technische Dinge sind Biofakte dadurch gekennzeichnet,
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dass sie vom Menschen gemacht sind. Als Mischwesen aus Natur und Technik sind Biofakte demnach gleichzeitig wachsend und gemacht (Karafyllis 2006). Das Konzept geht dabei davon aus, dass Natur und Technik bisher stets als zwei strikt voneinander getrennte Kategorien gedacht werden. Die Unterscheidung von Natur und Technik geht auf Aristoteles zurück. Sie basiert auf seiner Feststellung: Natur wächst von alleine, Technik hingegen wird vom Menschen gemacht. Karafyllis beobachtet die Auf lösung dieser Unterscheidung in der Praxis der Bio- und Computertechniken. Am Beispiel einer künstlichen Herzklappe zeigt sie, wie Natur und Technik in den Dingen immer mehr zusammenwachsen. Im Biofakt sind sie kaum mehr voneinander zu unterscheiden (Karafyllis 2003, S. 11f). Dabei hebt Karafyllis hervor, dass Natur und Technik unterschiedliche Kausalitätsbedingungen haben; das heißt sie werden durch Verschiedenes verursacht. Im Biofakt haben sie jedoch die gleichen Kontinuitätsbedingungen des Wachstums (Karafyllis 2006, (9)). Der Begriff des Biofakts bringt damit immer ein Spannungsverhältnis von natürlichem Wachstum und technischem Eingriff zum Ausdruck (ebd., (4)). Als wichtigstes Kennzeichen der Biofakte definiert Karafyllis die Eigenheit, dass das Wachstum des Biofaktes nicht mehr ein Medium der Selbstkonstitution ist, sondern ein Mittel zur Herstellung. Sie schreibt: „Im Biofakt ist das Wachstum […] Mittel, etwas für die Zwecke eines Anderen in Erscheinung zu bringen unter Einschränkung der Selbstzwecklichkeit“ (Karafyllis 2006, (17)). Demnach leben Biofakte „sich selbst“ nur im Augenblick. Ihre Geschichte ist durch Zwecke Dritter entstanden und ihre Zukunft ist durch diese Zwecke vorbestimmt. Die Lebenskraft und das Wachstum der Biofakte werden von außen kontrolliert (Karafyllis 2003, S. 22). Die aristotelische Unterscheidung von Natur und Technik findet sich auch bei dem Philosophen Andreas Dorschel (2013) in seinen Gedanken zur Produktgestaltung. Er schreibt: Gebrauchsgegenstände werden unterschieden von Naturgegenständen als Gemachtes von bloß Gewordenem: sie sind nicht bloß zu gebrauchen, sondern sie sind dazu gemacht, verwendet zu werden. Sie sind, mit anderen Worten, entworfen als Mittel zu Zwecken. Dorschel 2013, S. 18
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Formulierungen wie diese verdeutlichen, dass Biofakte sich beiden Kategorien zuordnen lassen. Die das Leben kennzeichnende Offenheit ist im Biofakt eingeschränkt durch die Finaliät des Technischen, durch die Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, ein geplantes Ergebnis (Karafyllis 2003, S. 21). Mit dieser Ausrichtung auf einen menschlichen Zweck treten Biofakte in den Bereich der natürlichen Gebrauchsgegenstände. Dem visuellen Anschein nach zeigen sich die natürlich-künstlichen Mischwesen jedoch als natürliche Lebewesen. Biofakte „führen ihr Leben zwar im Sonnenlicht [...], aber ihre Faktizität vollzieht sich eher im Verborgenen“ (Gill et al. 2018, S. 16). Im Endprodukt ist die technische Einf lussnahme nicht mehr erkennbar (Karafyllis 2003, S. 15f). In der visuellen Wahrnehmung lässt sich ein Biofakt nicht von einem natürlichen Lebewesen unterscheiden, sie unterscheiden sich nur in ihrer Geschichte des Zustandekommens (vgl. Karafyllis 2006 (36)). Karafyllis schlägt vor, das Konzept der Biofakte dazu zu verwenden, die natürlich-technischen Mischwesen auf die Zwecke der menschlichen Handlungen hin zu befragen (Karafyllis 2006, (4)). An vielen Stellen lässt sich an Biofakten eine Übertragung von Idealen aus dem Bereich der industriellen Produktion auf den Umgang mit Lebendigem beobachten. Pablo Schyfter (2014) stellt mit Blick auf die Biotechnologie ebendiese Übertragung fest. Zugleich stellt er infrage, ob diese Translation wirklich angemessen ist: While such priorities [as usefulness, certainty and control, strict organization and concrete standards] may serve traditional engineering well, there is no obvious, indisputable reason why they should guide the making of synthetic biological technologies. These values, as well as their predominance, require justification. Schyf ter 2014, S. 97
Trotz der geäußerten Zweifel an der Rechtfertigung der beschriebenen Übertragung von technischen Idealen auf das Lebendige bleibt festzustellen: Die industrielle Produktion von Obst und Gemüse ist – neben der Biotechnologie – ein Bereich, in dem das Lebendige nach dem Vorbild des Technischen hergestellt wird. Die vorliegende Untersuchung kann als Sammlung von zahlreichen Beispielen für dieses Prinzip gelesen werden.
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Nutzpflanzen als Biofakte Der Anwendungsbereich des Konzepts der Biofakte erstreckt sich über alles vom Menschen beeinf lusste Lebendige, von gezüchteten Hunderassen über gentechnisch manipulierten Mais bis hin zum Menschen mit einer künstlichen Herzklappe. Mit der vorliegenden Arbeit blicke ich auf landwirtschaftliche Erzeugnisse, auf Nutzpf lanzen als Biofakte und schließe mich mit dieser Perspektive Gill, Torma und Zachmann (2018) an. Sie untersuchen Kulturpf lanzen als natürlich-künstliche Mischwesen und betonen dabei die Bedeutung von Pf lanzen für jedes gesellschaftliche Leben. Als grundlegende Nahrungsquelle für tierisches und menschliches Leben sind Pf lanzen auch grundlegend für jede Gesellschaft. In ihrem Aufsatz beschreiben die Autoren das uneindeutige Wesen von Nutzpf lanzen, das im Lebensmittelbereich besonders deutlich sichtbar wird: „Lebensmittel werden zwar in Deutschland fast immer als „natürlich“ beworben, aber sie sind in ihrer industriellen Verarbeitung und massenhaften Distribution technisch überformt“ (ebd., S. 11). Entsprechend heben Gill, Torma und Zachmann besonders hervor, wie entweder der Natur- oder der Technikanteil im Biofakt verschwiegen und negiert wird: „Im gesellschaftlichen Diskurs wird entweder das Natürliche, also die Unverfügbarkeit, oder das Technische, also die menschliche Verfügung, verkannt“ (ebd., S. 14).1 In diesem Sinne werden Pf lanzen und Lebensmittel „in der Sphäre des Labors und der Industrie als „gemacht“ und daher als technisch beherrschbar dargestellt [...], in der Sphäre der Vermarktung und des Konsums dagegen meistens als vollkommen natürlich porträtiert“ (Gill et al. 2018, S. 14). Insofern lassen sich an vielen Beispielen systematische Verkennungen des Mischcharakters von pf lanzlichen Biofakten beobachten, die der hybriden Materialität der Biofakte nicht gerecht werden (ebd., S. 15). Gill, Torma und Zachmann plädieren folglich für eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Uneindeutigkeit von Biofakten: Während in der Öffentlichkeit an vielen Stellen nach wie vor ein Wunsch nach Vereindeutigung zu beobachten ist, „erteilt das Konzept der Biofakte dem Radikalismus kategorischer Unterscheidungen eine Absage. Es legitimiert weder die Befür1 Mit dem Begriff der Verkennung beziehen sich die Autoren auf Bourdieu, der am Beispiel des Schenkens beschreibt, wie in gesellschaftlich etablierten Denkmustern bestimmte Aspekte der Realität – wie die erwartete Loyalität des Beschenkten gegenüber dem Geber – zuverlässig ignoriert und übergangen werden (Bourdieu 1987, S. 230).
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wortung noch die Ablehnung von Natureingriffen“ (ebd., S. 26). Die Autoren bringen es auf den Punkt: „In Kategorien kann man zwar denken, aber man kann sie nicht essen“ (ebd.). Schlussendlich haben wir demnach keine andere Möglichkeit, als mit dem Mischcharakter von Biofakten zu leben.
Natur Während die Natürlichkeit von Lebensmitteln als wichtiges Verkaufsargument gilt (vgl. Gill et al. 2018, S. 11; Maasen et al. 2018, S. 185), bleibt beim genaueren Nachfragen oft unklar, was „Natürlichkeit“ oder „Natur“ eigentlich bedeuten. Diese Unklarheit des Naturbegriffs in Bezug auf die vom Menschen genutzte Natur wird auch mit dem Begriff des Biofakts problematisiert. Karafyllis schreibt: „Mit der gegenseitigen Durchdringung von Wachstum und Technik wird sich der Mensch dessen, was „Natur“ ist, zunehmend unsicher“ (Karafyllis 2003, S. 9). Diese Unsicherheit beschreibt auch der Philosoph Gernot Böhme (1992). Er beleuchtet die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, mit denen der Naturbegriff verbunden ist. Natur werde nie eigenständig definiert, sondern immer als Gegensatz zu etwas anderem, so Böhme. Auch er bezieht sich einerseits auf die bereits thematisierte aristotelische Unterscheidung von Natur und Technik. Ein anderes Verständnis spricht von der Natur als Gegenbegriff zur Setzung. Demnach seien Naturgesetze notwendig, menschliche Gesetze hingegen seien vereinbart und damit willkürlich. Verschiedene weitere Verständnisse von Natur beziehen sich auf deren Abgrenzung von der Kultur, von der Künstelei und Falschheit oder vom Inneren des Menschen. Bei allen erläuterten Verständnissen kommt Böhme jedoch zum Schluss, dass die Entgegensetzungen in der zeitgenössischen Lebenswelt so nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Als Konsequenz stellt er fest: „Es ist unklar geworden, was Natur ist“ (ebd., S. 15). Zahlreiche Problemfelder verdeutlichen die Schwierigkeiten, in denen sich der unklare Naturbegriff manifestiert: Das Verschwinden der vom Menschen unbeeinf lussten Natur, die Notwendigkeit der Kontrolle der Natur für das menschliche Überleben, die zunehmende Kontrolle über natürliche Prozesse wie Ernährung und Schwangerschaft und die damit einhergehende Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, wo noch vor wenigen Jahrzehnten nichts zu entscheiden war. Böhme kommt zu dem Fazit: „Die Berufung auf Natur […] ist eine Illusion“ (ebd., S. 22) und plädiert dafür, das Verhältnis zur Natur neu zu
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denken. Mit Blick auf das Politische schreibt Böhme, es gehe darum, „politisch auszuhandeln, welche Natur wir überhaupt wollen“ (ebd., S. 24). Notwendig hierfür ist aber zunächst eine ehrliche Auseinandersetzung damit, dass „Natur“ immer weniger selbstverständlich wird. Die zu beobachtende Beschwörung einer unrealistischen Vorstellung von der „rein natürlichen“ Herstellung von Lebensmitteln ist dabei aus meiner Sicht nicht hilfreich. Die Schwierigkeiten mit der Forderung nach Natürlichkeit bei gleichzeitig unklarem und umstrittenem Naturbegriff spiegelt sich deutlich in meinen Gesprächen mit den Akteuren des Produktionsprozesses von Obst und Gemüse. Die Frage nach der Natürlichkeit stellt sich hier als schwieriges Thema heraus. Vor allem meine Gesprächspartnerinnen aus dem Anbau neigen zu defensiven und teilweise trotzigen Aussagen, wenn sie auf die Natürlichkeit ihrer Erzeugnisse angesprochen werden. Ein Apfelbauer überlegt: Was ist natürlich? Das ist schon eine schwierige Frage […] Natürlich wäre es quasi, wenn […] wir pflanzen… oder eigentlich nicht mal das... Es wächst irgendwo was und wir ernten irgendwas, das irgendwo jetzt von alleine gewachsen ist. […] [Aber] es geht leider nicht ganz ohne irgendwas zu machen, also so ganz natürlich funktioniert es nicht […]. Wir würden schon vielleicht auch was ernten, irgendwas würden wir schon ernten, aber nichts, was irgendjemand essen will, oder […] zumindest nicht […] die Sorte und nicht […] die Menge und ohne irgendwelche Fehler und so weiter. Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015
Ein Gemüsebauer dagegen – der im Unterglasanbau scheinbar unabhängig von den natürlichen Gegebenheiten von Boden, Temperatur und Feuchtigkeit produzieren kann – besteht darauf, Naturprodukte herzustellen: Wir haben ein Naturprodukt. Wenn keine Sonne scheint, wächst bei uns nichts. Wir sind angewiesen auf die Natur. Sicherlich, über das Gewächshaus kann man die Temperatur regeln. Man kann auch Einfluss nehmen auf auf das Klima. Man kann das steuern. Das ist eine erhebliche Verbesserung von der Produktion oder von der […] Pflanzengesundheit her. Aber deswegen haben wir ja trotzdem ein Naturprodukt. Wenn wir drei Wochen schlechtes Wetter haben, dann gibt es ganz wenig Ertrag, dann gibt es ganz wenige Gurken. Gurke reagiert wahnsinnig schnell darauf... Dann werden bei den Tomaten die Früchte kleiner... Die Paprika schmeisst die Blüten ab.
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Interview mit einem Gemüseproduzenten, 29.04.2016
Im Kontrast zu solchen häufig formulierten Unterstreichungen des natürlichen Charakters der Produkte spricht ein Erdbeerzüchter offen darüber, dass im industriellen Anbau von Obst und Gemüse wenig Raum für Natürlichkeit bleibt: „Natürlich [ist] jede Intensivkultur eine unnatürliche Geschichte. Geschützte Anbausysteme wie [in] Landwirtschaft und Gartenbau […] haben erstmal nur bedingt etwas mit Natur zu tun“ (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Im Allgemeinen erkennen meine Gesprächspartner, dass Konsumentinnen heute eine natürliche Produktion von Lebensmitteln erwarten – gleichzeitig sind sie sich der Technizität ihrer Vorgehensweisen und Geräte sehr bewusst. Auf diesen wahrgenommenen Widerspruch reagieren einige meiner Gesprächspartner entweder mit dem Hinweis darauf, dass ein Verzicht auf technisches Eingreifen kaum möglich ist, oder mit dem insistierenden Verweis darauf, dass all die Technik nichts daran ändert, dass es sich nach wie vor um Naturprodukte handelt. Nach diesen und weiteren Gesprächen beschließe ich, nicht weiter nach der unklaren und strittigen Natürlichkeit zu fragen. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Lebendigkeit als wesentliches Merkmal natürlicher Dinge. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die Lebendigkeit der Begriff, auf den sich das Konzept der Biofakte im Wortsinn bezieht. Zum anderen ist die Lebendigkeit der Produkte – im Gegensatz zu deren Natürlichkeit – für die Akteure im Bereich der Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen von maßgeblicher Bedeutung. Sowohl in der Züchtung als auch im Anbau, in der Regulierung und im Handel bringen die Akteure an vielen Stellen zum Ausdruck, dass ihr Handeln sich von den Gepf logenheiten in anderen wirtschaftlichen Sektoren unterscheidet, weil sie es mit Lebendigem zu tun haben: Der Züchter hat die Kreuzungsergebnisse niemals unter Kontrolle; die Gemüsebauerin muss auf die Anforderungen der Pf lanze an Licht, Wärme, Wasser und Zeit eingehen; der Kontrolleur in der Regulierung trägt mit der Erstellung und Verbreitung von Beispielbildern von vorbildlichen und verdorbenen Erzeugnissen dazu bei, dass die gewachsenen Einzelstücke als Waren handhabbar werden, und im Handel muss die Obst- und Gemüseabteilung viele Male am Tag gepf legt werden – weil es sich um Lebendiges handelt. Der Begriff der Lebendigkeit sowie die Frage, welche Folgen die Lebendigkeit in der Produktion von Obst und Gemüse mit sich bringt, werden ausführlich in Kapitel 7 diskutiert.
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Technik Auch der Begriff der Technik gehört zu jener Kategorie von Begriffen, die mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden. Technik ist „ein ausgesprochen vieldeutiges Wort“ (Nye 2007, S. 17). Der Begriff ist historisch wandelbar; er kann sowohl einen Gegenstand als auch einen Prozess, eine Ursache oder eine Wirkung bezeichnen (ebd.; vgl. auch Weingart 1989). Der Historiker David Nye (2007) hebt hervor, dass Technik für den Menschen nichts Fremdes oder Nachträgliches ist, sondern dass Technik schon seit den Anfängen der Menschheit untrennbar zum Menschsein gehört. Menschen werden unter anderem dadurch von Tieren unterschieden, dass sie für bestimmte Zwecke selbst hergestellte Werkzeuge verwenden (ebd., S. 1f). Ein zentraler Bezugspunkt für den Technikbegriff sind die Schriften von Aristoteles. In seiner Nikomachischen Ethik beschreibt er techne als „ein praktisches Können, seinem Wesen nach ein auf das Hervorbringen abzielendes ref lektierendes Verhalten“ (1140a14)2. Dieses Verhalten „bewegt sich um ein Entstehen, und seine Ausübung ist ein Ausschauhalten, wie etwas entstehen könne“ (1140a15), wobei das Entstehende seinen „Seinsgrund im Schaffenden“ (1140a1) und damit nicht in sich selbst hat. Im Deutschen wird der Begriff der Technik etwa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Bezeichnung für die „Gesamtheit der Werkzeuge, Maschinen, Systeme und Prozesse in den Handwerks- und Ingenieurskünsten“ verwendet (Nye 2007, S. 14). Sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven heben hervor, dass Technik nie von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund getrennt zu verstehen sei – erst im sozialen Kontext erhält eine Maschine ihre Bedeutung und ihren Zweck (Nye 2007, S. 15). Die soziale Bedingtheit von Technik unterstreicht auch beispielsweise der Techniksoziologe Weingart (1989). Er ist überzeugt: Die Entstehung und Entwicklung von Technik müssen als soziale Prozesse begriffen werden (ebd., S. 2). Ein technisches Artefakt verkörpert damit stets eine Vielzahl sozialer Voraussetzungen – darunter … Aushandlungsprozesse, Interessen- und Wertkonflikte, Markt- und Machtkalküle, Kompromisse und Entscheidungen, die nicht mehr ungeschehen zu 2 Zitiert wird Aristoteles hier in einer Übersetzung von Franz Dirlmeier (2015, S. 157f).
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machen sind, wenn es um die Eingliederung dieser Technik in den normalen gesellschaftlichen Umgang, ggf. auch dessen Regulierung und Reglementierung, geht. Weingart 1989, S. 9f
Auch der Soziologe Hörning hebt die kulturelle Modellierung der Technik hervor, ruft aber gleichzeitig dazu auf, in der Untersuchung der sozialen Bedingungen von Technik das Artefakt als materiellen Gegenstand ernst zu nehmen. Der materielle Charakter des technischen Artefakts dürfe nicht in sozialer Theorie verschwinden: Technik von den Dingen her zu betrachten heißt zum einen, den gemachten und bewegten und damit auch den gesellschaftlichen und kulturellen Charakter von Technik herauszuarbeiten. [...] Von den Dingen techniksoziologisch zu sprechen heißt zum anderen aber auch, diesen gesellschaftlichen und kulturellen Charakter von Technik mit den praktischen Formen zu konfrontieren, in denen die Akteure in der modernen Gesellschaft tatsächlich mit Technik umgehen. Hörning 1989, S. 90
Doch auch innerhalb der sozial- und geisteswissenschaftlichen Technikforschung zeigt sich eine Vielzahl verschiedener Perspektiven, die verschiedene Schwerpunkte in den Vordergrund stellen. Das von Hörning herausgehobene Gebundensein von Technik an materielle Artefakte hat bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Priorität, worauf Joerges (1988) hinweist: Aus einer weniger materialistischen Perspektive erscheint Technik beispielsweise als „Medium der Durchsetzung dominanter ökonomischer und politischer Interessen“ und als „ref lexives Projekt der Planung, Erzeugung und Nutzung technischer Mittel zur Realisierung von Interessen und Bedürfnissen im Rahmen bestimmter kultureller Modelle“ (ebd., S. 10f). Dem entgegen stehen Perspektiven, die Technik explizit als materielle Artefakte begreifen: Aus dieser Sicht wird Technik verstanden als „sozio-technisches System aus realtechnischen und menschlichen Komponenten“, als „materieller Träger sowohl funktionaler wie insbesondere auch symbolischer Qualitäten“ oder als „gegenständlich festgelegte formalisierte Handlungsorganisation und deren Anschlusshandlungen“ (ebd., S. 11).
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In Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen Anpassungszwängen und Gestaltungsspielräumen der Technik schlägt Joerges eine Kategorisierung in weiche und harte Technikbegriffe vor. Einerseits zeigt sich Technik demnach im Sinne eines weichen Technikbegriffes als „vielfach sozial konstruierbar“ (ebd., S. 12). Aus dieser Perspektive dient sie „der Inszenierung und Lösung mannigfaltiger und wechselnder Probleme“ (ebd.). Andere Perspektiven bekräftigen einen harten Technikbegriff und verstehen Technik damit als „Moment einer von mächtigen Akteuren vorangetriebenen, progressiv auch alltägliche Handlungsfelder einbeziehenden Funktionalisierung“ (ebd.). Aus dieser Perspektive kommt der Technik die Rolle zu, Handeln festzulegen; während die fortschreitende Technisierung aus dieser Sicht eher zur Entstehung neuer Probleme beiträgt (ebd.). Die in unserem Kulturkreis rasant zunehmende Technisierung seit dem Beginn der Auf klärung hat ihren Ausgangspunkt im Wandel bestimmter Grundüberzeugungen, was der Philosoph Hans Blumenberg (2009) in einer geistesgeschichtlichen Betrachtung herausarbeitet. Zunächst war es demnach notwendig, den aristotelischen Grundsatz der Nachahmung der Natur als Ziel allen menschlichen Handelns zu überwinden und ein neues Selbstverständnis des Menschen als schöpferischem Wesen zu entwickeln. Die Entwicklung neuer Sichtweisen auf die Wirklichkeit und die Rolle des Menschen in der Welt wird dabei zur Voraussetzung für die Freisetzung des neuzeitlichen Menschen zur technischen Neugestaltung seiner Umwelt. Die bereits besprochene, auch heute noch gültige aristotelische Antithese von Natur und Technik wird für Blumenberg (2009) dabei zum Ursprung eines bleibenden Legitimationsproblems der Technik, also des ständigen Bedürfnisses, technisches Vorgehen und technische Erfindungen zu rechtfertigen (ebd., S. 28). Die weitestgehend unbestrittene gedankliche Trennung von Natur und Technik führt demnach zu einem Unbehagen über die Technik, das im Widerstreit der Positionen zwischen Vergötzung und Dämonisierung der Technik zum Ausdruck kommt. Gerade in der Biotechnologie sieht Blumenberg den Ort, an dem dieser Konf likt seinen Höhepunkt finden wird. Er prophezeit: Der Konf likt …wird sich verschärfen, wenn es richtig ist, daß die gegenwärtige Biologie erst am Anfang einer Entwicklung steht, deren Konsequenz die zunehmende Verfügbarkeit auch organischer Strukturen bis in den Kern der Gensubstanz
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hinein sein könnte, so daß die Technisierung des Organischen erst ihren Anfang nimmt. Blumenberg 2009, S. 31
Er hält es demnach für eine bedeutende Frage, „wer über solche neue Macht des Menschen verfügen wird und wie sie auf das Wohl des Menschen eingegrenzt werden kann“ (ebd.). Das Konzept der Biofakte macht genau diese angesprochene technische Zurichtung von Lebewesen zum Thema. Mit Blick auf den technischen Anteil von Biofakten schreibt Karafyllis: Technik offenbart sich […] nicht mehr nur als Ding, durch Metall, Kabel und Drähte. Technik meint Eingreifen in und Nutzen von natürlichen Prozessen und zeigt sich in erster Linie als Handlung innerhalb des Handlungsspielraums einer Biologie, die als Experimentalwissenschaft fungiert. Karafyllis 2003, S. 13
In diesem Sinne gilt für landwirtschaftliche Nutzpf lanzen, dass das Pf lanzenwachstum vom Menschen technisch manipuliert wurde und wird. Damit ist die Pf lanze in der industriellen Produktion von Obst und Gemüse zwar als Lebewesen, aber stets auch als Ergebnis von technischem Einwirken des Menschen zu verstehen. Dem erläuterten Verständnis entsprechend verwende ich in der vorliegenden Arbeit einen breiten Technikbegriff. Mit „Technik“ meine ich sowohl Gegenstände und Maschinen – wie Farbfächer zum Reifegrad von Bananen (Abb. 5.3.6) oder Anlagen zur automatisierten fotografischen Sortierung (Abb. 5.3.5) – als auch Prozesse und Vorgehensweisen – wie Selektionsverfahren in der Pf lanzenzüchtung oder den Schnitt von Obstbäumen im Anbau – die in der Gestaltung von Obst und Gemüse zum Erreichen menschlicher Ziele bzw. zum Hervorbringen bestimmter materieller Ergebnisse eingesetzt werden. Während ein Verständnis von Technik als Mittel zum intentionalen Eingreifen des Menschen im Hinblick auf das Erreichen bestimmter Ziele stark an das Konzept von Design als wertegeleitetem Problemlösungs- und Planungshandeln3 erinnert, plädiert Geiger (2018) dafür, Design und Technik 3 Siehe Kapitel 2.1.
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klar voneinander zu unterscheiden. Sie bezieht sich dabei auf einen harten Technikbegriff im oben erläuterten Sinne: In Geigers Auffassung ist die Technik stets einem zweckrationalen Soseinmüssen unterworfen. Gestalterische Praxis hingegen gehöre zum Bereich der Ästhetik, die als Gegenüber der Technik zu denken sei (ebd., S. 113). Geiger schreibt: “Das gute Funktionieren der Geräte wird von der technischen Logik aus gedacht, ihre Sinnstiftung jedoch erst in der ästhetischen Perspektive des Andersmöglichseins erzeugt“ (ebd., S. 111). Als Grundlage der Abgrenzung des Design von der Technik sieht Geiger die radikal anthropozentrische Haltung des Design (ebd.): Gutes Design habe demnach die Aufgabe, „den Menschen vor übergriffiger, inhumaner Technik zu bewahren“ (ebd., S. 103).
3.2 Materialität und Visualität In der vorliegenden Studie untersuche ich die Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen in ihrer Materialität und ihrer visuellen Erscheinung. Beide Begriffe – die Materialität und die Visualität – werden in verschiedenen Disziplinen, den STS, den Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch in der Kunstwissenschaft diskutiert. Gleichzeitig sind sie auch zentrale und teilweise ambivalente Themen in der gestalterischen Praxis. Im folgenden Abschnitt möchte ich beide Begriffe klären und kurz darauf eingehen, mit welchen Schwerpunktsetzungen die Begriffe in den verschiedenen genannten disziplinären Diskursen diskutiert werden.
Materialität Der Duden definiert „Materialität“ als „das Bestehen aus Materie, aus einer stoff lichen Substanz; Stoff lichkeit, Körperlichkeit“ (Dudenredaktion o.J.). Die Materialität von Dingen in den Blick zu nehmen, bedeutet demnach, sich mit ihren stoff lichen Qualitäten auseinanderzusetzen (Hahn 2014, S. 26). Ein breit gefasster Materialitätsbegriff bezieht dabei verschiedene materielle Dimensionen mit ein; sie umfassen nicht nur das eigentliche Material, sondern auch Substanzen, Artefakte und Organismen sowie physikalische Phänomene wie Klang und Licht. Auch Zeichen und Schrift gehören zu dieser Reihe materieller Dimensionen (Kalthoff et al. 2016, S. 11f).
3 Zentrale Begriffe
In jüngerer Zeit lässt sich eine verstärkte Aufmerksamkeit der Sozialund Kulturwissenschaften für das Materielle beobachten (Kalthoff et al. 2016, Finke 2015). Das auf lebende Interesse am Material ist oft verbunden mit einer Kritik an einer zu starken Dominanz des Sinns in den jeweiligen Fachdiskursen (Finke 2015, S. 28). In vielen Disziplinen ist daher seit einiger Zeit die Hervorhebung von Eigensinn und Widerständigkeit der Materialität zu einer Selbstverständlichkeit geworden (ebd.). Der Kunsttheoretiker Finke schreibt hierzu: “Material(ität) als kritischen Begriff zu verwenden, heißt in der Regel, an etwas zu erinnern, das sich nicht unseren Intentionen fügt, das somit nicht vollends beherrschbar ist und sich ebenso wenig restlos in Sinn verwandeln lässt“ (Finke 2015, S. 28). Kalthoff, Cress und Röhl (2016) bezeichnen die Materialität als eine Herausforderung für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Mit dieser Formulierung zielen sie auf den ambivalenten Charakter der Materialität zwischen formbarem Material und widerständiger, unverfügbarer Materie. Das Materielle sei “weder eine Determinante menschlichen Handelns noch [sei] es beliebig durch menschliches Handeln konstruierbar“ (Kalthoff et al. 2016, S. 31) – stattdessen seien die jeweiligen Arten und Weisen der Verf lechtung von Formbarkeit und Eigensinn des Materials als empirisch offene Fragen zu behandeln (ebd.). Eine weitere Betonung aktueller sozial- und kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Materiellen hebt den prekären Status der Materialität hervor, die durch die Entwicklung und Ausbreitung des Digitalen, durch die Medialisierung des Alltags und durch Vorstellungen von Entkörperung bedroht scheint (Finke 2015, S. 28). Gerade im Produktdesign ist diese Vorstellung von der Krise des Materiellen spürbar: In der Branche ist eine Hinwendung zur Gestaltung von digitalen Benutzeroberf lächen und Interaktionsmöglichkeiten zu beobachten. Designbüros, die bis vor wenigen Jahren ihr Geld mit klassischem Produktdesign verdienten, orientieren sich aufgrund der sich ändernden Nachfrage zunehmend um und erschließen die Gestaltung von digitalen, immateriellen Systemen und Dienstleistungen. In der zeitgenössischen gestalterischen Praxis scheint die Materialität demnach von schwindender Bedeutung zu sein. Während ein Konsens oder eine einheitliche theoretische Bestimmung des Begriffes nach wie vor fehlen, wurde das Konzept der Materialität durch die vielfältigen Beiträge der Sozial- und Kulturwissenschaften jüngerer Zeit
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vor allem in Bewegung gebracht: Insgesamt ist eine Dynamisierung des Materialitätsbegriffes zu beobachten (Finke 2015, S. 29).
Materialität im Design Im Design spielt das Materielle eine Schlüsselrolle. Produktdesigner verstehen sich häufig als Gestalter der materiellen Umwelt des Menschen. Drei Aspekte im gestalterischen Umgang mit dem Materiellen verdeutlichen die Rolle der Materialität im Design: die Unmittelbarkeit des Materiellen, das Streben nach Unterwerfung und Kontrolle des Materials und die Erfahrung des Eigensinns der Materie, dessen Berücksichtigung eine Voraussetzung für gelingende Gestaltung darstellt. Die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung materieller Dinge beschreibt der Ethnologe Hans Peter Hahn (2014) mit den Worten: „Dinge werden (im ersten Moment) nicht gedacht, sondern empfunden“ (ebd., S. 30). Gestalterinnen sind in besonderer Weise mit der Unmittelbarkeit des Materiellen vertraut. Designer sind geübt im „Empfinden“ der Dinge, in der aufmerksamen Betrachtung, in der Wahrnehmung der materiellen Eigenschaften, in der Entschlüsselung der Funktionsweise. Doch auch die bleibende Unlesbarkeit des Materiellen ist für Designerinnen eine bekannte Erfahrung. Diese Unlesbarkeit bezieht sich „auf die Unmöglichkeit, [die] Wahrnehmung vollständig in Sprache zu übertragen“, so Hahn (ebd., S. 26). Zusätzlich zu dem Aspekt der vertrauten Unmittelbarkeit des Materiellen pf legen Gestalter ein zweiseitiges Verhältnis zur Materialität: Einerseits streben sie danach, das Material zu beherrschen. Gestalter möchten eigene Ziele erreichen durch die Unterwerfung des Materials. Wagner (2001a) bezieht dieses Streben auf die Formulierung Friedrich Schillers, der vom Gewaltverhältnis des Künstlers zum Material schreibt. Andererseits entwickelt jede Gestalterin im Laufe ihres Studiums ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihr Angewiesensein auf das Material. Während die Unverfügbarkeit und Widerständigkeit der Materialität wie bereits beschrieben ein zentraler Gedanke in vielen Fachdiskursen geworden ist (Finke 2015; Hahn 2014), gehört das Erkennen der Eigenwilligkeit der Materialität zu den grundlegenden Erfahrungen eines Designstudiums, die Studierende des Design in den Modellbauphasen zahlloser Projekte immer wieder aufs Neue zu machen gezwungen sind. Materialität ist eigensinnig, sie folgt nicht immer dem, was wir vorhaben; und sie tut mitunter Dinge, die nicht in unserer Hand liegen. Dies kann man lernen beim Drechseln und
3 Zentrale Begriffe
Fräsen von Schaum und Metall, beim Glasblasen oder beim Lackieren. Die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit, des Scheiterns am Material gehört zum Alltag eines Designstudiums. Entsprechend ist es üblich, dass in Präsentationen von Modellen von den Präsentierenden darauf hingewiesen wird, dass Details der eigentlich beabsichtigten Form in dem für den Modellbau gewählten Material leider nicht umsetzbar waren. Um ein bestimmtes Material zu beherrschen, muss ein Gestalter sich viel Zeit nehmen, um das Material kennen zu lernen; er muss sich auf die Eigengesetzlichkeit des Materials einlassen und vielfältige Techniken beherrschen lernen, bevor er in der Lage ist, das Material mit einem gewissen Freiheitsgrad nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Dies spiegelt sich in der großen Bedeutung des Begriffes der Materialgerechtigkeit im Produktdesign. Dieser Begriff geht zurück auf Goethe, der unterstreicht, dass die Einfühlung in die Eigenschaften und Möglichkeiten des Materials eine notwendige Bedingung für das Gelingen des Werkes darstellt (Wagner 2001a). Der Gedanke der Materialgerechtigkeit kann als Plädoyer für das Bündnis mit dem Material verstanden werden – die Form muss aus dem Material heraus, dem Material entsprechend entwickelt werden. Dieser Grundgedanke wurde im Industriedesign von vielen prägenden Figuren aufgenommen. Er spiegelt sich in der Ablehnung von Gusseisen (und später von Kunststoffen) als charakterlosen Materialien durch die industriefeindlichen Anhänger der Arts and Crafts-Bewegung wie auch in der überzeugten Ablehnung von Materialimitationen als „unehrlich“ bei Adolf Loos und späteren Vertretern der Moderne (ebd.). Bis heute ist dieser Gedanke der Materialgerechtigkeit prägend für das Industriedesign. Unter anderem findet sich die Materialgerechtigkeit in Werbespots für neue Produkte der Firma Apple, die gezielt mit dem Eingehen auf die Möglichkeiten der verwendeten Materialien wirbt (Apple 2009). Für die Entwicklung von gelungenen Formen gilt die Berücksichtigung der Eigenheiten und Möglichkeiten des Materials also nach wie vor als zwingender Imperativ. So charakterisieren die drei beschriebenen Aspekte das Verhältnis von Produktdesignern zur Materialität: Im Design wird die Materialität in ihrer Unmittelbarkeit erfahrbar. Dabei gilt es stets, das zu formende Material dem eigenen Gestaltungswillen zu unterwerfen und es damit zu beherrschen – gleichzeitig ist dies nicht möglich, ohne die Erfahrung der eigenen Abhängigkeit von den Eigenschaften und Möglichkeiten der Materie zu machen.
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Lebendige Materie Während ein Designer durch ausdauerndes Lernen und Üben der Beherrschung eines Materials immer näher kommen kann, weisen Gill, Torma und Zachmann darauf hin, dass das Ideal der völligen menschlichen Kontrolle über das technisch Gemachte niemals erreicht wird. Mit Blick auf gestaltete Lebewesen heben sie jedoch hervor: „[T]echnische Objekte, die aus nichtlebendigen Ausgangsmaterialien hergestellt werden, scheinen diesem Ideal eher zu entsprechen als lebende Objekte, die biotechnisch manipuliert werden“ (Gill et al. 2018, S. 12). Die Eigengesetzlichkeit gilt also für jedes Material; jedoch gilt sie für lebendige Materie in besonderer Weise. Die besonderen Merkmale des lebendigen Materials werden in dieser Arbeit in Kapitel 7 ausführlicher diskutiert.
Die Materialität der Biofakte Entsprechend dem oben erläuterten Verständnis umfasst die Materialität von Obst und Gemüse alle stoff lichen Eigenschaften der Pf lanzen und Früchte, die durch verschiedene Sinneswahrnehmungen beim Betrachten, Anfassen und Essen erfahrbar werden: das Gewicht der Früchte, die Festigkeit der Erzeugnisse, die Verletzlichkeit der Schale, die Struktur der Oberf läche, die Konsistenz, den Geschmack und Geruch der Früchte – wie auch die visuellen Merkmale von Form, Farbe und Größe der Erzeugnisse. Diese Vielschichtigkeit der Materialität der untersuchten Erzeugnisse trug damit in mehrfacher Hinsicht zu Beginn und auch im Verlauf des Projektes zu meinem ungebrochenen Interesse an dem gewählten Thema bei: Das für Gestalterinnen faszinierende Potential der Unmittelbarkeit der Materialität von Obst- und Gemüseprodukten war ein Grund für meine intuitive Begeisterung für das Thema. Obst und Gemüse sind greif bar, sie sind durch Sehen, Tasten, Fühlen, Riechen und Schmecken materiell erfahrbar. Gleichzeitig bleiben sie immer ein Stück weit unlesbar und eigenständig. Hinzu kommt die Untrennbarkeit der menschlichen Ernährung von der Materialität. Entgegen aller Vorstellungen der Entkörperung, entgegen der Trends der Digitalisierung, die zu einer Entmaterialisierung der vorherrschenden gestalterischen Aufgaben führt, bleibt die Materialität von Lebensmitteln unumgänglich und unersetzbar. Während sich ein immer größer werdender Bereich des Design mit digitalen Konzepten und Dienstleistungen auseinandersetzt, steht die bleibende materielle Verhaftung der Ernährung nicht zur Diskussion.
3 Zentrale Begriffe
Materialität ist unmittelbar erfahrbar, formbar und widerständig, bedroht und dynamisch – das kann man sowohl mit dem Blick auf gestalterische Praxis wie auch mit dem Blick auf sozial- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen feststellen. Ihre Uneindeutigkeit zwischen Formbarkeit und Eigensinn macht die Auseinandersetzung mit der Materialität jedoch gerade interessant. Eines der Ziele der vorliegenden Untersuchung ist es auch, in Anlehnung an Marcel Finke, in den Studien zur Gestaltung von Obst und Gemüse „die Unruhe herauszustellen, die [die in unserem Falle lebendige] Materialität innerhalb jener Vorgänge erzeugt, in denen Bedeutungen zuallererst generiert werden“ (Finke 2015, S. 31).
Visualität Ein zentrales Ergebnis meiner Arbeit ist die Beobachtung der enormen Bedeutung von visuellen Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Obstund Gemüseprodukten. Neben vielen anderen bedeutenden Kriterien wie Ertrag, Homogenität und Eignung zu Verarbeitung und Transport ist es auffallend, welch zentrale Rolle der visuellen Produkterscheinung in Züchtung, Anbau, Regulierung und Handel zukommt. Entsprechend lege ich an dieser Stelle ein besonderes Augenmerk auf die Visualität, die ich als einen Teilaspekt der Materialität verstehe. Visuelle Merkmale umfassen alle sichtbaren Aspekte der Materialität wie die Form und Größe, die Farbe bzw. Musterung und die Oberf lächenstruktur der Erzeugnisse. In seiner Soziologie visueller Kommunikation hebt York Kautt (2019) hervor, dass das Visuelle stets kommuniziert und damit als Teil des Sozialen, der Kultur und der Gesellschaft verstanden werden muss: Obwohl das sichtbare Design von Artefakten nicht die Sprache des gesprochenen und gedruckten Wortes spricht, ist es integrales Moment des von Menschen gesponnenen und fortwährend geknüpften Netzes von Bedeutungen, das man […] als die soziale Wirklichkeit verstehen kann. Kautt 2019, S. 1
Besonders betont Kautt die aktive Rolle des Design von Artefakten als „eine treibende Kraft der Entwicklung sozialer Wirklichkeiten“ (ebd., S. 1). Studien zur visuellen Kultur unterstreichen die „prinzipielle[n] Verf lechtungs- und Bedingungsverhältnisse von Kultur und Visualität“ (Rimmele
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& Stiegler 2012, S. 10) und verfolgen damit die grundsätzliche Annahme, dass auch die visuelle Wahrnehmung nie kulturunabhängig, sondern stets bereits gesellschaftlich geformt ist (Helbig et al. 2014, S. 9). Rimmele und Stiegler (2012) formulieren die zentrale These der Forschungen zur visuellen Kultur folgendermaßen: „Wahrnehmung […] ist kein biologisches Faktum, sondern eine kulturelle Variable“ (ebd., S. 10). Der Grundimpuls dieser Forschungsrichtung besteht für die Autoren somit in der „Sensibilisierung dafür, dass alles Visuelle […] auch ‚geworden‘ bzw. ‚gemacht‘ ist“ (ebd., S. 19). Gleichzeitig machen die Autoren deutlich, dass die Gemachtheit des Visuellen stets weniger offensichtlich ist, als das bei geschriebenen Texten der Fall wäre. Während Texte leicht als vom Menschen verfasst und damit als gemacht zu erkennen sind, machen visuell erfahrene Dinge „bestimmte Aspekte ihrer Gemacht- und Gewordenheit leicht vergessen“ (ebd., S. 12): „Je unmittelbarer Gesehenes auf uns zu wirken scheint, je ›natürlicher‹ (alltäglicher, unbearbeiteter) es daherkommt, desto schwieriger ist es, sich einen Abstand kritischer Ref lexion und Interpretation zu erarbeiten“ (ebd., S. 11). Bilder zeigen demnach eine Tendenz, als unideologisch gedeutet zu werden: „Geschichte, Gemachtheit, Absichten, politische Dimensionen etc. werden [im Bild] in Augenscheinlichkeit, Ewigkeit und Natürlichkeit überführt“ (ebd., S. 134). Dieser Tendenz der Naturalisierung von Ideologie in Bildern müssen Studien zur visuellen Kultur daher stets begegnen. Bilder werden somit in solchen Studien grundsätzlich als „visualisierte Ideologie“ (ebd. S. 134) verstanden. Besondere Bedeutung hat dieser Gedanke der visualisierten Ideologie für Bilder, die im Kontext des Konsums eingesetzt werden (vgl. ebd., S. 129). Die dargestellten Thesen gelten im Kontext meiner Untersuchung sogar noch in gesteigerter Weise: Obst- und Gemüseprodukte werden im Kontext des Großhandels hauptsächlich auf der Basis von visuellen Faktoren beurteilt. Damit kommt dem Bildhaften bzw. der visuellen Produkterscheinung eine zentrale Bedeutung für die Marktfähigkeit der Erzeugnisse zu. Die Zurichtung der Erzeugnisse auf das attraktive Bild findet hier genauso statt wie bei anderen für den Massenmarkt produzierten Produkten; das Gemachtsein von Obst- und Gemüseerzeugnissen tritt jedoch hinter der Vorstellung von ursprünglichen Naturprodukten zurück und wird damit alltagsweltlich meist ausgeblendet. Die Ideologie des gemachten Bildes ist daher im Kontext landwirtschaftlicher Erzeugnisse noch stärker versteckt und noch schwieriger zugänglich, als das für sonstige visuell erfahrbare
3 Zentrale Begriffe
Dinge gilt. Gerade in der Verneinung der Gemachtheit liegt für mich jedoch der besondere Reiz der Auseinandersetzung mit dem Zustandekommen der Visualität von Obst- und Gemüseprodukten. Meine Beobachtung der besonderen Bedeutung des Visuellen und des Vorranges der Visualität vor anderen Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung in der qualitativen Beurteilung von Obst und Gemüse ist anschlussfähig an Fragen der Visualitätskritik (Horlacher 2013, S. 785f). Sie untersucht „die verstärkt seit dem 16. Jh. einsetzende Bedeutungszunahme von Visualität“ (ebd., S. 785). Die feministische Visualitätskritik arbeitet heraus, wie der Vorrang des Visuellen in westlichen Gesellschaften mit der Dominanz des Männlichen zusammenhängt: Sie lenkt den Blick auf Strukturen, „die implizite Gleichsetzungen von Termini wie Licht, Vernunft, Sichtbarkeit, Männlichkeit und Wissenschaft vornehmen und somit traditionelle Denkund Machtstrukturen validieren“ (ebd.). Entsprechend hinterfragt die Visualitätskritik die vermeintliche Neutralität der Wissenschaften wie auch die Korrelation von Sichtbarkeit und Macht. Für das Verhältnis von Visualität und Materialität gilt der Grundsatz: Visualität ist stets an Materialität gebunden. Ein visuell erfahrbares Bild ist stets abhängig „von physischen und technologischen Daseinsbedingungen“ (Finke 2015, S. 29). Dieses Gebundensein an Materialität gilt dabei nicht nur für das Visuelle; es gilt für jede Art von Kommunikation, ob gesprochen, geschrieben, oder durch Bilder und Töne vermittelt (Griem 2013, S. 489f): Keine Mitteilung kann jenseits der Materialität zustande kommen. Finke schreibt hierzu mit Blick auf die Malerei, die Materialität sei eine „irreduzible Bedingung der Möglichkeit von Repräsentation“ (Finke 2015, S. 31). Die steigende Aufmerksamkeit, die dem Visuellen in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten zuteil wurde, wird häufig als pictorial oder iconic turn beschrieben. Diese visuelle Wende stellt die etablierte Vorherrschaft der Sprache und der Literatur in der Kultur nachdrücklich infrage (Benthien & Weingart 2014, S. 1f). Mit der Wende hin zur Visualität werden „visuelle, akustische und performative Phänomene [als] adäquater Ausdruck zeitgenössischer Mentalitäten und Künste“ (ebd., S. 2) verstanden; stärker als Texte werden sie nun als bedeutungsgeladene Zeugnisse der zeitgenössischen Kultur aufgefasst. Einige Bildwissenschaftler heben dabei die Unmöglichkeit einer vollständigen Übertragung von Bildern in Sprache hervor und plädieren dafür, Bilder als eigenständige Kommunikati-
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onsform zu untersuchen und ihre Betrachtung nicht länger mit einer Logik der Rezeption von Texten zu verknüpfen (ebd., S. 3). Im Design kommt der visuellen Erscheinung von Produkten eine seit Langem ambivalente Rolle zu. Diese soll jedoch nicht an dieser Stelle, sondern mit Blick auf die visuelle Produkterscheinung als zentralem Kriterium für die Evaluierung von Produktqualität von Obst- und Gemüseerzeugnissen in Kapitel 6 umfassender zur Sprache kommen.
4 Methodisches Vorgehen Für forschende Designer gibt es scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, sich methodisch zu orientieren. In diesem Kapitel möchte ich nachvollziehbar machen, welche Methodik ich angewendet habe und wie es zu meinen Entscheidungen kam. Die Entwicklung meines methodischen Vorgehens wurde unter anderem geprägt durch die Rahmenbedingungen, unter denen die Arbeit entstand: Während meiner Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Industrial Design an der Technischen Universität München (TUM) war ich von 2015 bis 2017 eingebunden in den vom BMBF geförderten sozialund geisteswissenschaftlich orientierten Forschungsverbund zur „Sprache der Biofakte“. In dieser Zeit erhob ich den größten Teil der Daten, die als Basis für diese Arbeit dienen. Im Verbund arbeiteten zwölf Soziologinnen, Historiker und Philosophinnen. Als einzige Designerin und damit Exotin in dem Verbund war ich in dieser Zeit vor die Herausforderung gestellt, die Sprache meiner Kollegen zu lernen und meine eigene Disziplin immer wieder zu erklären. Die Ausrichtung meiner Forschung glich einem Balanceakt zwischen der Beschäftigung an einem im Neuen Funktionalismus verankerten Lehrstuhl, der Arbeit im sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungsverbund und meiner Einbindung in das MCTS, das Zentrum für Science and Technology Studies an der TUM. Vor dem Hintergrund der noch im Entstehen begriffenen akademischen Designwissenschaft, für die sich bisher noch kein klarer eigener Methodenkanon etabliert hat, war es in dieser Konstellation für mich der plausibelste Weg, mich in die Grundlagen der Forschungsmethodik der Science and Technology Studies und dabei vor allem der Sozial- und Kulturwissenschaften einzuarbeiten. So entschied ich mich schließlich für die Ausrichtung meines Vorgehens an den Grundprinzipien der Grounded Theory aus den Sozialwissenschaften, für die Datenerhebung anhand von Interviews, für deren Aufzeichnung, Transkription und Auswertung und für die Struk-
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turierung meiner Analyse anhand der Objektbiographie aus den Kulturwissenschaften. Das folgende Kapitel beschreibt zunächst mein methodisches Vorgehen bei der Erhebung und Auswertung der Daten. Anschließend erläutere ich die Idee der Objektbiographie, die meiner Beschreibung des Produktionsprozesses von Obst und Gemüse zugrunde liegt.
4.1 Erhebung und Auswertung qualitativer Daten Die vorliegende Arbeit entstand auf der Basis von empirischem Material. Für die Erhebung der Daten arbeite ich vor allem mit qualitativen Leitfadeninterviews und Beobachtung. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Interviewtranskripte, Feldnotizen, Fotografien und Gesprächsprotokolle dienen mir neben weiteren gesammelten Daten aus Datenblättern, Broschüren, Webseiten und Computeranwendungen als Grundlage für meine Analysen.
Grounded Theory Grundsätzlich folge ich in meinem Vorgehen bei der Erhebung und Auswertung der Daten den Grundprinzipien empirischer, qualitativer Sozialforschung (Flick 2015, Breuer 2009, Silverman 2010). Ich entschied mich für ein qualitatives Vorgehen, weil ich mithilfe einer explorativen Studie die Frage nach dem Wie in der Gestaltung von Obst und Gemüse beantworten möchte (vgl. Schnell et al. 2013; Silverman 2010). Die Orientierung an den Grundgedanken der Grounded Theory (Glaser & Strauß 2010) war für mich besonders hilfreich. Die Methodik der Grounded Theory kann beschrieben werden als ein hermeneutisches Verfahren, in dem eine Theorie auf der Basis von empirischen Erfahrungen entwickelt wird (Breuer 2009). Ein Grundprinzip der Forschung zur Entdeckung einer Grounded Theory besteht in der Verf lechtung von Datenerhebung, Kodierung und Analyse. Diese Schritte finden nicht in klar voneinander getrennten Phasen statt, sondern gleichzeitig und in Schleifen (Glaser & Strauß 2010). Ein weiterer Grundsatz dieser Methodik ist das theoretische Sampling. Dieser Begriff bezeichnet einen …auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analy-
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siert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Glaser & Strauß 2010, S. 61
Auf Basis der analysierten Daten werden der Fokus der Forschung und die Orte für die Erhebung weiterer Daten in einem iterativen Prozess immer wieder neu bestimmt (Breuer 2009, Silverman 2010).
Interviews Zwischen Oktober 2015 und November 2018 führte ich sechzehn leitfadengestützte Interviews (Silverman 2010) mit verschiedenen Akteuren, die in den Prozess von Züchtung über Anbau bis zur Vermarktung von Obst und Gemüse involviert sind. Jeder der Akteure kennt sich mit unterschiedlichen Arten von Obst und Gemüse aus und erzählte mir von seiner Arbeit. Ich fragte nach dem alltäglichen Geschäft, nach Motivationen, nach den Zielen, den Herausforderungen. Während die ersten Interviews thematisch noch sehr offen gehalten waren und daher auch länger ausfielen, kristallisierten sich im Verlauf der Forschung immer stärker die zentralen Fragestellungen heraus. So war es mir möglich, in den späteren Interviews gezieltere Fragen zu stellen (vgl. Glaser & Strauss 2010). Meine sechzehn Gesprächspartner setzen sich folgendermaßen zusammen: Ich befragte sechs Vertreterinnen aus dem professionellen Anbau, darunter eine Landwirtin, die Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch anbaut und vier Gärtner und eine Gartenbauingenieurin aus dem Obst- und Gemüsebau. Ein Gärtner arbeitet im Obst- und Weinbau und kennt sich mit Äpfeln, Birnen und Trauben aus, drei befragte Gärtner sind Experten für den Gemüsebau – genauso wie die Gartenbauingenieurin, die einen Anbaubetrieb für Tomaten leitet. Unter den Experten für den Anbau waren sowohl ein Angestellter in einem Betrieb, der zertifizierten Bioanbau für die Direktvermarktung betreibt, als auch Gärtner in Betrieben, die konventionell und für die Vermarktung über den Großhandel anbauen. Darüber hinaus sprach ich mit der Betriebsleiterin und einem Angestellten in einem Obstgroßhandelsbetrieb, in dem Äpfel und andere Früchte für den Verkauf an Supermärkte und Discounter sortiert und verpackt werden. Ich interviewte einen Züchtungsforscher, der sich mit Zierpf lanzen auskennt und drei Pf lanzenzüchter, die unter anderem mit Äpfeln, Erdbeeren und Küchenkräutern arbeiten.
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Schließlich befragte ich drei Vertreterinnen aus dem Einzelhandel: Dabei war die Geschäftsführerin eines Bioladens, der Chef eines Feinkosthandels und eine Mitarbeiterin in einer Filiale eines Supermarktes. Die Interviews dauerten durchschnittlich eine Stunde, passten sich jedoch in der Länge und Tiefe an die verfügbare Zeit und das Mitteilungsbedürfnis des Gesprächspartners an. Alle Interviews wurden von mir selbst geführt und mit einem Audiorecorder aufgezeichnet. Anschließend wurden sie transkribiert und ausgewertet. Entsprechend des theoretischen Samplings (Glaser & Strauß 2010) begann ich nach der Formulierung meines grundsätzlichen Interesses an der Materialität und Bedeutung von Obst und Gemüse mit zwei Interviews mit Experten aus dem Anbau. Um die Datenerhebung in vertrauter Umgebung zu beginnen (Silverman 2010), suchte ich mir für die ersten Gespräche Interviewpartnerinnen in meinem weiteren Bekanntenkreis. Die ersten Interviews waren noch länger und thematisch offener und handelten von der alltäglichen Arbeit, der persönlichen Motivation, dem Netzwerk der Kooperationspartner und den Herausforderungen der Branche. In den beiden ersten Interviews erhielt ich Hinweise auf den Sortierprozess in fotografischen Sortieranlagen, der mich augenblicklich faszinierte. Von einer genaueren Untersuchung dieses Prozesses der fotografischen Feststellung von Qualität versprach ich mir für mein Thema aufschlussreiche Einsichten. So suchte ich den Kontakt zu einem Sortierbetrieb. Bei einem darauf hin organisierten Besuch in dem Betrieb konnte ich den Sortierprozess mit eigenen Augen verfolgen und hatte auch die Möglichkeit, zwei Gespräche mit Mitarbeitern des Betriebes zu führen. In einem anderen Strang der Datenerhebung führte mich mein Weg von einer Packung Tomaten, die ich in einem Supermarkt für eine fotografische Studie kaufte, über den Gemüsebaubetrieb, der diese Tomaten produziert, bis zu dem Kontrolldienst, der vor kurzem die Einhaltung der EU-Vermarktungsnormen in diesem Betrieb kontrolliert hatte. An vielen Stellen waren also Erkenntnisse und Hinweise aus den bereits geführten Gesprächen der Ausgangspunkt für das weitere Vorgehen in der Datenerhebung. Bei der Auswahl meiner Interviewpartner war es mir wichtig, Expertinnen zu finden, die an verschiedenen Punkten im Prozess arbeiten, also in Züchtung, Anbau, Groß- und Einzelhandel und in der Regulierung. Außerdem achtete ich darauf, dass die Interviewpartner möglichst unterschiedlich sind: Ich interviewte Expertinnen für verschiedene Erzeugnisse; ich sprach
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mit einem Gärtnermeister in einem zertifizierten Biobetrieb und einer konventionell anbauenden Landwirtin, mit einem Einzelhändler im Feinkostladen und einer Mitarbeiterin im Discounter. Entsprechend der Orientierung an der Grounded Theory standen die Interviewpartner zu Projektbeginn nicht fest. Insgesamt achtete ich bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen auf deren Unterschiedlichkeit in Bezug auf Erzeugnisse, in Bezug auf Stationen im Produktionsprozess und in Bezug auf die Vertriebsstruktur der Betriebe. Des weiteren fanden auch ganz pragmatische Faktoren Berücksichtigung, wie zum Beispiel geographische Nähe und zeitliche Beschränkungen.
Beobachtungen Die meisten meiner Interviewpartner zeigten mir nach dem Gespräch ihre Arbeitsumgebung. So gewann ich einen Eindruck von den Orten, an denen Biofakte wachsen und auf bewahrt werden. Ich sah einige Gewächshäuser, in denen Züchtung und Anbau stattfinden, besuchte Kühlhäuser sehr unterschiedlicher Ausmaße, sah Versuchsfelder, Zentrallager und Labore. Ich lernte verschiedenste Gerätschaften kennen, mit denen Samen, Blüten, Pf lanzen oder Früchte bearbeitet, gepf legt, geerntet oder klassifiziert werden: Sortieranlagen, Verpackungsstationen, Farbfächer, Scheren und Messer, Tüten mit Larven von Nützlingen, Beschriftungstafeln, Bewässerungssysteme, Dünger und Pestizide, bestäubende Hummeln, Mikroskope. Die Beobachtungen hielt ich fest anhand von Feldnotizen und Fotografien. Im Mai und im September 2016 begleitete ich einen Kontrolleur zur Einhaltung der EU-Vermarktungsnormen für je einen Arbeitstag. Gemeinsam fuhren wir zu zehn Handelsbetrieben, bei denen er ohne Vorankündigung die Qualität und Auszeichnung von Obst und Gemüse kontrollierte. Für diese Tage bot es sich nicht an, die im Verlauf des Tages immer wieder entstehenden Gespräche aufzuzeichnen. Ich hielt also meine Beobachtungen der Situationen, die Eindrücke aus den kontrollierten Betrieben und den Inhalt unserer Gespräche anschließend in ausführlichen Beobachtungsprotokollen fest. Zusätzlich führte ich weitere Gespräche mit Experten, denen ich auch spontan begegnete – wie zum Beispiel dem Kulturberater für den Apfelanbau, den ich beim Besuch eines Apfelfestes am Bodensee traf. In vielen Situationen war es nicht möglich, aus einer solchen unverhofft entstandenen Begegnung ein formelleres Interview zu entwickeln. Diese Gespräche
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wurden also ebenfalls nicht aufgezeichnet. In solchen Situationen hielt ich den Inhalt der Gespräche und meine eigenen Gedanken dazu nach dem Gespräch schriftlich fest.
Ethik Bei meinen Gesprächen folgte ich dem Grundsatz der informierten Einwilligung (Flick 2015, Silverman 2010). Alle Interviewpartnerinnen wurden vor dem Gespräch über mein Forschungsanliegen und meine Absichten informiert. Die Gespräche entstanden grundsätzlich auf der Basis von Freiwilligkeit (DGS & BDS 2017, Silverman 2010). Bis auf eine Filialleiterin eines Discounters waren alle angefragten Experten zu einem Gespräch bereit – wenn auch teilweise, wie in der Züchtung oder im Großhandel, erst nach monatelangem Warten auf eine „ruhigere Zeit“. Meine Gesprächspartnerinnen hatten in der Regel keine Vorbehalte, mit mir zu sprechen. Einige Experten aus dem Anbau von Obst und Gemüse sprachen sogar besonders gerne und offen mit mir über ihre Arbeit. Sie verstanden die Interviews auch als Möglichkeit, ihre Arbeit zu präsentieren: „Wir haben nichts zu verstecken!“ (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 29.04.2016). Meinem Forschungsanliegen begegneten meine Gesprächspartnerinnen interessiert, teilweise jedoch auch irritiert und ironisch: „Das ist die Frau Kleinert, die promoviert über Tomaten“, sagte ein Experte aus dem Gemüseanbau mit einem amüsierten Unterton zu seinem Kollegen, dem wir auf dem Weg durch den Betrieb begegneten (Feldnotizen, 08.04.2016). Bei einem unverhofft stattfindenden Gespräch mit zwei Einkäufern für ein Supermarkt-Zentrallager sprachen sich die Gesprächspartner gegen eine Aufzeichnung aus. In allen Fällen, in denen eine Tonaufnahme nicht möglich war, machte ich nach dem Gespräch handschriftliche Notizen über den Gesprächsinhalt und meine Eindrücke von der Gesprächssituation. Für meine Gespräche und Interviews nutzte ich keine schriftliche Geheimhaltungsvereinbarung. Da meine Gesprächspartnerinnen in der Regel gerne und offen über ihre Arbeit sprachen, hielt ich eine schriftliche Vereinbarung nicht für notwendig; eventuell hätte eine solche Vereinbarung meine Gesprächspartnerinnen sogar irritiert und die ungezwungene Gesprächsatmosphäre beeinträchtigt. Für die weitere Arbeit mit den erhobenen Daten wurden die Gespräche anonymisiert (DGS & BDS 2017, Flick 2015), was ich meinen Gesprächspartnern auch mündlich versicherte. Für manche Expertinnen in Züchtung und Handel war diese Zusi-
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cherung von großer Bedeutung. Mit der Anonymisierung sollte eine offenere Gesprächsatmosphäre gefördert werden. Jedoch würde es einer einschlägig informierten Leserin vermutlich trotzdem gelingen, einzelne Experten oder auch Betriebe wiederzuerkennen, was sich kaum vermeiden lässt. Gerade in den Bereichen der Obst- und Gemüsezüchtung oder im Kontrollwesen gibt es deutschlandweit nur wenige Betriebe und Fachleute, die infrage kommen.
Fotografien Die Erstellung eigener Fotografien in Gewächshäusern, Lagerhallen und Sortieranlagen bildete einen wichtigen Bestandteil meiner Datenerhebung. Ich sah hierbei das Erstellen der Fotografien als „visual note taking“ (Bell 2012), als eine Art, schnell faszinierende oder irritierende Situationen, Räume oder Gerätschaften festzuhalten, um sie später nochmals betrachten und auswerten zu können. Vikki Bell (2012) schreibt zur Einbeziehung von Fotografie in die Datenerhebung: „Indeed, the photo-image has been repeatedly held to reveal the world, rendering it visible, working precisely beyond words and better than words in the delivery of truth“ (ebd., S. 147). Ich gehe demnach davon aus, dass in Bildern das Potential liegt, Situationen und Stimmungen präziser und umfassender festzuhalten und zu kommunizieren, als das oft in Texten möglich ist. Entsprechend verstehe ich auch die Fotografien, die den empirischen Beschreibungen der vier Phasen des Produktionsprozesses vorangestellt sind, als integrale Bestandteile dieser Arbeit. Neben Interviewtranskripten, Beobachtungsprotokollen, Feldnotizen und Fotografien dienten mir auch weitere Quellen als Datengrundlage für meine Arbeit. Im Sinne des Gedankens „all is data“ (Glaser & Holton 2004) sammelte ich zusätzliche Daten unter anderem in Heften zur Warenkunde für den Obst- und Gemüsehandel, in Katalogen von Gemüsezüchtern, in Softwareanwendungen zur qualitativen Beurteilung von Obst und Gemüse und in Werbevideos auf Websites von Herstellern von Fruchtsortieranlagen. Während des gesamten Forschungsprozesses führte ich in unregelmäßigen Abständen ein Forschungstagebuch (Silverman 2010). Ich nutzte es zum Nachdenken über die aktuelle Situation, für die Ref lexion meiner verschiedenen Rollen im Forschungsprozess, für Überlegungen zu nächsten Schritten, zum Festhalten selbst gesteckter Ziele und zum wiederholten Überdenken von Fragestellung und Auf bau der Arbeit. Meine Gedanken hielt ich mit dem jeweiligen Datum versehen teilweise handschriftlich, teilweise in Form
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von digitalen Notizen fest. Das wiederholte Schreiben, Ruhenlassen, Lesen, Nachdenken und Weiterentwickeln war für mich ein sehr selbstverständlicher und hilfreicher Prozess. Zudem führte mir das wiederholte Lesen meiner eigenen Notizen immer wieder meinen eigenen Fortschritt im Projekt vor Augen, was mich gelegentlich auch überraschte und eine Quelle der Motivation für die weitere Arbeit darstellte.
Auswertung Die Auswertung der Daten erfolgt in der Grounded Theory anhand der Kodierung der Quellen und durch das Schreiben von Notizen (Memos), aus denen im Laufe des Prozesses Kategorien als Bausteine für die Theorie entwickelt werden können. Durch kontinuierliches Vergleichen von Fällen und Phänomenen, durch das Aufspüren von Ähnlichkeiten und Unterschieden können Kategorien gebildet werden. In der Grounded Theory werden Forschung und Theoriegenerierung als Prozess begriffen (Glaser & Strauss 2010), in dem die Forschungsfrage, die Kategorien und die Theorie immer weiter entwickelt werden (Breuer 2009). Der Prozess wird als beendet angesehen, wenn eine „theoretische Sättigung“ erreicht wird, das heißt, wenn durch die Erhebung von weiteren Daten keine zusätzlichen Kategorien in Bezug auf die Fragestellung mehr auftauchen (ebd.; Silverman 2011). Für die qualitative Analyse der Daten nutzte ich die Unterstützung durch die Software MaxQDA. Die Codes wurden teilweise anhand des Vorwissens zu den Phasen des Produktionsprozesses, hauptsächlich aber aus den Interviewtranskripten selbst heraus entwickelt. Eine besondere Herausforderung bei der Auswertung lag darin, dass sich meine Daten nicht auf ein ganz bestimmtes, klar einzugrenzendes Phänomen beziehen, sondern auf einen mehrstufigen Prozess mit vielen Beteiligten in verschiedenen Phasen. So waren auch die Themen, über die meine Interviewpartnerinnen sprachen, je nach Position und Rolle im Prozess und je nach produziertem Erzeugnis sehr unterschiedlich. Mit der Gartenbauingenieurin, die für die Produktion von Tomaten verantwortlich ist, sprach ich über die eingesetzten Techniken im Gewächshaus, die Bedürfnisse der Pf lanzen, die Forderungen des Handels und die Motivation der Saisonarbeitskräfte. Mit der Züchterin sprach ich über Idealvorstellungen von zu züchtenden Radieschen, über die Anforderungen der Gemüsebauer und über die Entwicklung von Züchtungszielen. Der Feinkosthändler erläuterte mir sein persönliches Verständnis von Qua-
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lität und die Faktoren, auf die er sich verlässt, um die Qualität seiner Ware sicherzustellen. Die themenspezifischen Codes unterschieden sich dadurch je nach untersuchter Phase und betrachtetem Erzeugnis stark voneinander. So entwickelte sich im Laufe der Auswertung ein sehr umfangreiches und dadurch auch etwas unübersichtliches Codesystem. Im weiteren Kodierprozess ging ich deshalb dazu über, die Daten für die vier Phasen Züchtung, Anbau, Regulierung und Handel zunächst getrennt auszuwerten. Hilfreich war für mich auch das Schreiben von Zusammenfassungen der Gesprächsinhalte. Auf bauend auf die Zusammenfassungen begann ich, die Aussagen meiner Interviewpartner zu bestimmten häufiger auftretenden Themen zu ordnen und clustern. Für das Verfassen der Beschreibungen der vier Phasen des Gestaltungsprozesses dienten mir die erstellten Cluster als Stoffsammlungen. Die gesamten Interviewdaten wurden zusätzlich parallel von einer wissenschaftlichen Hilfskraft aus der Soziologie kodiert. In einem späten Stadium im Analyseprozess war der nochmalige Blick auf die Analyse derselben Daten aus einer anderen Perspektive für mich sehr aufschlussreich. Einige Zusammenhänge wurden von uns beiden unabhängig voneinander festgestellt, an anderen Punkten unterschieden sich unsere Analysen voneinander – auch bedingt durch unsere unterschiedlichen disziplinären Hintergründe. Der Blick auf die Datenanalyse einer Soziologin bestätigte also einige meiner Kategorien und Konzepte und lieferte mir zusätzliche Ideen, welche Erkenntnispotentiale sich in meinem Datenmaterial noch verbargen. Im Laufe des Prozesses kristallisierten sich dann immer deutlicher die Themen der Lebendigkeit und der Produktqualität bzw. der Rolle der visuellen Produkterscheinung heraus. Die immer klarere Definition der Kernkategorien ermöglichte auch einen immer gezielteren Blick auf die Daten im Hinblick auf diese Kernkategorien. Der Prozess der Theoriegenerierung war also gekennzeichnet von einem ständigen Hin und Her zwischen der Beschäftigung mit den Daten und der Arbeit an der Theorie.
4.2 Die Objektbiographie Mit der Beschreibung der Phasen, die den Herstellungsprozess von Obst und Gemüse gliedern – von der Züchtung über den Anbau und die Regulierung bis hin zum Handel – zeichne ich den Lebenslauf eines Stücks Obst oder Ge-
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müse nach. Hierfür orientiere ich mich an der Idee der Objektbiographie: Ich folge den Dingen auf ihrem Lebensweg zwischen Züchtung und Konsum.
Die Objektbiographie in der Literatur Die Idee der Objektbiographie stammt aus der Forschung zur materiellen Kultur. Vor allem für Anthropologinnen, Ethnologen, Archäologinnen und Historiker hat sich diese Art des Zugangs zu den Dingen als nützlich erwiesen (Gosden & Marshall 1999). Vorgestellt wird die Idee der Objektbiographie von dem Anthropologen Igor Kopytoff (1986). Als Beispiel beschreibt er den Lebenslauf einer Hütte bei den Suku im heutigen Kongo. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Hütte beträgt in dieser Gesellschaft zum Zeitpunkt seiner Studie ungefähr zehn Jahre, in denen die Hütte verschiedene Nutzungsphasen durchläuft. Eine neu gebaute Hütte wird beispielsweise von einem Paar oder einer Frau mit ihren Kindern bewohnt; später wird die Hütte für die Unterbringung von Gästen genutzt. Weitere folgende Phasen sind unter anderem die Nutzung als Küche, dann als Stall. Schließlich wird die Hütte den Termiten preisgegeben und zerfällt. Innerhalb der Gemeinschaft gibt es klare Regeln, welche Nutzungsphase für welches Alter der Hütte angemessen ist. Mit diesem Beispiel schlägt Kopytoff vor, die Lebensläufe von Dingen anhand von denselben Fragen zu untersuchen, die man auch an die Lebensläufe von Menschen stellen könnte. Er schreibt: What, sociologically, are the biographical possibilities inherent in [the thing’s] “status” and in the period and culture, and how are these possibilities realized? Where does the thing come from and who made it? What has been its career so far, and what do people consider to be an ideal career for such things? What are the recognized “ages” or periods in the thing’s “life,” and what are the cultural markers for them? How does the thing’s use change with its age, and what happens to it when it reaches the end of its usefulness? Kopytof f 1986, S. 66f
Kopytoff weist darauf hin, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, den Lebenslauf eines Dinges zu untersuchen: Der Schwerpunkt kann auf Eigentumsverhältnisse gelegt werden oder auf die Geschichte von technischen Reparaturen, auf die Wertentwicklung eines Objekts oder auf die Familienbe-
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ziehungen, in die das Objekt verwickelt ist. Besonders wichtig ist ihm jedoch, über die Objektbiographie einen Zugang zu der jeweiligen Kultur zu finden. Er plädiert also für eine kulturell informierte Perspektive (ebd., S. 68). Gosden und Marshall (1999, S. 177) betonen die aktive Rolle von Objekten in einer Kultur. Sie sehen in der Objektbiographie vor allem eine Möglichkeit, die verschiedenen Arten von Beziehungen zwischen Mensch und Objekt vergleichbar zu machen. Für sie ist der Lebenslauf eines Objektes vor allem interessant im Hinblick auf seine Verbindung mit menschlichen Lebensläufen: „as people and objects gather time, movement and change, they are constantly transformed, and these transformations of person and object are tied up with each other“ (ebd., S. 169). Die Objektbiographie ist für sie ein Weg, zu untersuchen, wie sich menschliche Lebensläufe und Objektlebensläufe gegenseitig informieren (ebd.). Hörning (1989) sieht in der Betrachtung der Lebensläufe von technischen Dingen eine besondere Möglichkeit, die sozialen und kulturellen Bedingungen ihrer Entstehung aufzudecken und damit Technik als soziales Phänomen zu verstehen: Das Artefakt verweist […] zurück auf die Prozesse des Machens, auf Erfindung, Konstruktion, auf das Design und die (industrielle) Produktion, auf den Vertrieb und den Gebrauch. All diese Phasen durchläuft das Artefakt, bevor der Endnutzer mit dem Artefakt handelt. Hörning 1989, S. 96
Hörning interessiert sich vor allem für das Artefakt als verkörperte Technik und sieht in dem Ernstnehmen des konkreten gegenständlichen Dings die Möglichkeit, genauer zu beleuchten, „auf welche Art und Weise [der] Umgang mit Technik sozial und kulturell strukturiert ist“ (ebd., S. 97). Der Umgang der Akteure mit dem Ding im Laufe seiner Lebensphasen wird damit für ihn zum zentralen Thema techniksoziologischer Forschung. In jüngerer Vergangenheit wurde die Objektbiographie vor allem in den englischsprachigen Material Culture Studies vermehrt genutzt, darunter auch – in abgewandelter Form – in zwei Publikationen, die trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs auch bei einem breiteren Publikum auf Interesse stießen (Braun 2015). „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ von Neil MacGregor (2010) zeigt anhand von einzelnen Ausstellungsstücken des British Museum, vom Steinkeil bis zur Kreditkarte, wie Objektbiographien in
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historischen bzw. archäologischen Studien eingesetzt werden können. Daniel Miller (2008) nutzt in seinem Buch „The Comfort of Things“ den Ansatz mit einer sozialwissenschaftlich-ethnologischen Orientierung. Er schreibt keine Objektbiographien im engeren Sinne, sondern analysiert die Besitztümer und Wohnräume von dreißig Anwohnern einer Straße in London. Er beschreibt die sozialen Beziehungen zwischen den Dingen und ihren Besitzerinnen und die Bedeutungen, mit denen die Dinge im Laufe der Zeit aufgeladen werden; und steht somit auch in der Tradition der Objektbiographie im Sinne Kopytoffs. Ein für mich vorbildliches Beispiel für eine Objektbiographie aus dem Bereich der Soziologie bzw. den Science and Technology Studies ist der „Flip-Flop Trail“ von Caroline Knowles (2014). In diesem Werk dient die Geschichte von Flip-Flops – von der Erdölförderung in Kuwait über die Produktion des günstigen Schuhwerks in China bis zum Verkauf und der Nutzung in Äthiopien – als Mittel, um die Auswirkungen der Globalisierung zu untersuchen. Knowles legt einen Schwerpunkt auf die persönlichen Strategien der involvierten Menschen, mit den Unsicherheiten der globalen und komplexen ökonomischen Netzwerke umzugehen. Die Objektbiographie eines Nahrungsmittels ist der „Tomato Trail“ von Deborah Barndt (2008). Zwar bezieht sich Barndt nicht konkret auf die Methode, dennoch beschreibt sie den Weg von Tomaten in Amerika, vom Anbau in Mexiko über den Transport durch die USA bis hin zum Konsum in Fast-Food-Restaurants oder zum Verkauf in kanadischen Discountern. Barndt nutzt den Weg dieses Lebensmittels um die Lebens- und Arbeitswelten von Frauen zu untersuchen, die in der Produktion, der Verarbeitung und im Verkauf der Tomaten beschäftigt sind.
Die Objektbiographie in der Anwendung Als Designerin liegt mir der Gedanke nahe, von dem Ding selbst auszugehen, dem Ding zu folgen. Produktdesigner beschäftigen sich meist zwar weniger lesend und schreibend, dafür aber beobachtend und entwerfend intensiv mit den Dingen. Insofern ist die Methode der Objektbiographie, die auf der Betrachtung der Dinge und der Verfolgung ihrer Wege basiert, ein Vorgehen, das mir als Designerin für meine Untersuchung als passend und nahezu selbstverständlich erscheint.
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In einigen Aspekten unterscheidet sich mein Vorgehen jedoch von den ansonsten üblichen Merkmalen von Objektbiographien: In Bezug auf den Kontext der Studie untersuche ich den Lebensweg von Obst und Gemüse nicht – wie sonst für die Methode typisch – in einer weit entfernten, exotischen Kultur, sondern in Deutschland; in der Gesellschaft, zu der ich auch selbst gehöre. Ebenso forsche ich nicht über wertvolle Einzelstücke wie rituelle Masken, Schmuckstücke oder Familienerbstücke, sondern über unauffällige und alltägliche Produkte. Ein weiterer Unterschied liegt in den untersuchten Phasen des Lebensweges: Typische Stationen von Objektbiographien sind Herstellung, Warenform, Gebrauch, Reparatur, Umnutzung und am Ende das Wegwerfen, beziehungsweise in seltenen Fällen die Musealisierung (vgl. Hahn 2014, S. 44). Ich möchte jedoch in meiner Arbeit nicht den gesamten Lebensweg von Obst und Gemüse abbilden, sondern konzentriere mich bei den Analysen auf die Produktionsseite; auf die Entwicklung der Sorten, auf den Anbau, die Regulierung und den Handel. Der Konsum, das Erwerben und Verbrauchen durch die Endkundinnen wird nicht empirisch untersucht. Der Fokus auf Entwicklung, Produktion und Handel ist für meine Fragestellung deshalb besonders interessant, weil das Ding in diesen Phasen aktiv gestaltet wird. Die Züchterin gestaltet die Tomate bewusst im Hinblick auf definierte Ziele, der Produzent stellt im Anbau sicher, dass die Früchte den Zielen auch tatsächlich entsprechen und das Potential der Sorte optimal ausgenutzt wird, die Regulierung wirkt mit präzisen Beschreibungen und Vorschriften auf die Gestaltung von Tomaten ein und die Händlerin formuliert Einkaufskriterien und setzt ihr Angebot in Szene. Zwar wirken Konsumenten durch ihren Umgang mit dem Ding auch auf die Gestaltung ein, aber eben nur indirekt und nicht in dem Maße wie die zuvor genannten Akteure. Darüber hinaus bringt der Untersuchungsgegenstand manche Besonderheiten mit sich: Zum einen sind die Biographien von Obst und Gemüse in der Regel eher kurz verglichen mit dem, was beispielsweise für Schmuckstücke möglich ist. Der zentrale Unterschied besteht jedoch nicht allein in der Lebensdauer, sondern vor allem darin, dass Biofakte nicht nur im übertragenen, sondern auch im biologischen Sinne leben. Der Objektbiographie liegt ein metaphorisches Verständnis vom Leben der Dinge zugrunde: Der Weg eines Objektes soll wie ein menschlicher Lebensweg untersucht werden, um Erkenntnisse über die sozialen Bedingungen der ihn umgebenden Kultur zu gewinnen. Das Leben endet hier mit dem Ende der Nützlichkeit des Objektes,
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mit der Entsorgung (vgl. Kopytoff 1986, S. 67). Biofakte sind jedoch gleichzeitig auch im biologischen Sinne lebendig: Sie bestehen aus lebenden Zellen. Das Lebensende ist hier durch den Tod und Zerfall der Zellen markiert. Wie ich in Kapitel 7 ausführlicher herausarbeite, bringt diese aufrechtzuerhaltende Lebendigkeit zahlreiche Konsequenzen für den Produktionsprozess von Obst und Gemüse mit sich. Eine weitere Besonderheit des Lebensweges von Biofakten besteht darin, dass das Objekt in jeder Lebensphase seine Form ändert. Was gestaltet wird, sind Gene, Blüten und Pollen, keimende Samen, Sorten, Saatgut, Jungpf lanzen, Bäume und Sträucher, Früchte, fertig verpackte Ware in Pappschalen, Kisten und auf Paletten. Es geht also nicht erst um die Biographie des Apfels, sobald er als Apfel, als Frucht, existiert, sondern schon um die Herstellung der Sorte, um das Genom, um die ganze Pf lanze, um die Gesamtheit der Pf lanzen in der Apfelplantage und dann auch um die einzelne Frucht. Das Objekt, das nach einem bestimmten Schritt weiterwandert, ist jeweils ein anderes; es ändert seine Form. Jedoch ist die endgültige Form der Frucht schon bei der Züchtung vorausgedacht. Wie jede Methode bringt auch die Objektbiographie besondere Herausforderungen mit sich: Zum einen ist klar, dass die Beschreibung des Lebensweges eines Objekts – wie jede Biographie – immer lückenhaft und konstruiert bleibt (vgl. Hahn 2014, S. 41). Zum anderen ist auch immer eine Frage, wie typisch der untersuchte Einzelfall ist, das heißt, wie gut man von dem Einzelfall auch auf andere Fälle schließen kann. Das Ziel meiner Untersuchung ist es, nicht nur die Biographie eines einzelnen, konkreten Objekts zu beschreiben, das einen exotischen Sonderfall darstellt, sondern immer auch mit zu bedenken, inwiefern die beobachteten Schritte ebenso für andere Erzeugnisse gelten und welche übergeordneten Erkenntnisse sich aus den punktuellen Beobachtungen ableiten lassen. Für mein Vorgehen bedeutet das, dass ich nicht nur den Lebensweg eines einzelnen konkreten Apfels untersuche, sondern mit vielen verschiedenen Stakeholdern spreche, die sich jeweils mit verschiedenen Erzeugnissen auskennen. Darüber hinaus komme ich mit meinen Gesprächspartnern auch immer darüber ins Gespräch, inwiefern sie ihre eigene alltägliche Praxis als typisch für die Branche beurteilen. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen damit nicht nur eine Aussage über ein einzelnes Objekt erlauben, sondern eine umfassendere Betrachtung der sozialen und kulturellen Bedingungen von Obst- und Gemüseproduktion in Deutschland ermöglichen.
4 Methodisches Vorgehen
Die Objektbiographie ist für mich ein Zugang zu den Prozessen, durch die Obst und Gemüse heute gestaltet werden. Wer gestaltet Obst und Gemüse? Wie wird in den einzelnen Phasen auf die Dinge eingewirkt? Welche Kriterien sind welchen Akteuren wichtig und wer kann seine Kriterien durchsetzen? Welche Rolle spielt die Tatsache, dass die untersuchten Objekte als pf lanzliche Erzeugnisse in der Tat lebendig sind? Die Nachzeichnung des Lebensweges von Obst und Gemüse, der Wege und Stationen, die die Pf lanzen durchleben, ermöglicht es mir, Antworten auf die genannten Fragen zu finden. In Bezug auf das Vorgehen bei wissenschaftlichen Arbeiten schreibt Umberto Eco (1993): „Man muß sich an die Regeln der Gesellschaft halten, in die man eintreten will“ (ebd., S. 84). Wie ich zu Beginn dieses Kapitels beschrieben habe, liegt darin für promovierende Designer eine besondere Herausforderung, da sich in der entstehenden Gesellschaft der Designwissenschaftlerinnen noch keine übergreifend gültigen Regeln etabliert haben. Es ist demnach in der Designforschung üblich, dass die Forschenden sich auf Methoden und Gepf logenheiten aus anderen Wissenschaften beziehen, weil noch kein eigener designspezifischer Kanon der Forschungsmethodik entwickelt wurde. Für die vorliegende Arbeit wähle daher ich den Weg, mir etablierte Methoden und Konzepte aus der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung und den Science and Technology Studies zunutze zu machen, während mein Forschungsinteresse, meine Fragestellungen und die Konzentration auf Visualität und Materialität im Wesentlichen auf meinem disziplinären Hintergrund im Design basieren. Mit diesem Vorgehen verfolge ich das Ziel, gleichzeitig als junge Forscherin in die Gesellschaft der Designwissenschaftler und auch als Designwissenschaftlerin für meine Disziplin in die Gesellschaft der Sozial- und Kulturwissenschaftler einzutreten.
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5 Die Gestaltung von Obst und Gemüse Im vorliegenden fünften Kapitel beschreibe ich den Prozess der Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen als Gestaltungsprozess. Die ausführlichen Beschreibungen der Handlungen und Entscheidungen der Akteure in den vier Phasen Züchtung, Anbau, Regulierung und Handel basieren auf den empirischen Daten, die ich in meinen Gesprächen mit Expertinnen der Obst- und Gemüseproduktion, bei Besuchen bei Händlern, Züchterinnen und Anbaubetrieben und bei Kontrollen zur Einhaltung der geltenden Vermarktungsnormen sammeln konnte. In jeder der vier Phasen zeigt sich, wie menschliche Wünsche und Zielvorstellungen formuliert werden und wie die Akteure mit vielfältigen Mitteln gestaltend auf die Materialität und Visualität der wachsenden Produkte einwirken. An einigen Punkten werden Parallelen zu Elementen des herkömmlichen Designprozesses sichtbar, in dem nicht lebendige, industriell hergestellte Konsumgüter entworfen werden. Am deutlichsten werden diese Ähnlichkeiten in der Phase der Züchtung, da sich Pf lanzenzüchtung – wie auch Design – als zunächst konzeptionelle und dann auch materielle Entwicklung von Produkten begreifen lassen. Doch auch in den späteren Phasen wirken die Akteure gestaltend auf die Materialität und Visualität der Erzeugnisse ein: Im Anbau werden in Abhängigkeit von den Anforderungen des Handels und den eigenen Zielen der Erzeuger Entscheidungen über die Sortenwahl und den Einsatz von verschiedenen Techniken getroffen, die sich in der Folge in der Materialität und der visuellen Erscheinung der geernteten Erzeugnisse spiegeln. In der Regulierung werden in Form von Bildern und Texten, in Form von gesetzlich geltenden Normen, aber auch in Form von privatwirtschaftlichen Vereinbarungen Richtlinien formuliert, die ein kollektives Verständnis von Qualität definieren und die in der Praxis der Produktion der Erzeugnisse ihre Wirkung entfalten. Die Akteure des Handels nehmen vor allem durch die Formulierung von Einkaufsbedingungen und durch das Zurückschicken von als mangelhaft eingestufter Ware, ferner durch Inszenieren und Aussortieren
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Einf luss darauf, was als verkäuf lich gilt und wofür und wie sich ein Anbau lohnt. Gleichzeitig verweisen einzelne Beobachtungen bereits auf die zwei im Anschluss als Schwerpunkte untersuchten Fragestellungen: In Bezug auf das Faktische der Biofakte werden immer wieder die menschlichen Vorstellungen von Produktqualität, die die Handlungen der Akteure im Produktionsprozess lenken, sichtbar. Im Hinblick auf das Leben der Biofakte wird an vielen Stellen deutlich, wie die grundsätzliche Bedingung der Lebendigkeit der Nutzpf lanzen im Gestaltungsprozess Berücksichtigung fordert.
5 Die Gestaltung von Obst und Gemüse
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Abbildung 5.1.1: Erdbeerzüchtung
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5 Die Gestaltung von Obst und Gemüse
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Abbildung 5.1.2: Gewächshaus für die Apfelzüchtung
Abbildung 5.1.3: Resistenzversuche in der Getreidezüchtung
Abbildung 5.1.4: Düngungsversuche in der Getreidezüchtung
Abbildung 5.1.5: Erdbeerzüchtung
Abbildung 5.1.6: keimende Samen
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5.1 Gestaltung in der Züchtung Pf lanzenzüchtung ist die Entwicklung von neuen Pf lanzensorten. Die Analogie zum Design – als Entwicklung von neuen Dingen im weitesten Sinne1 – liegt hier nahe.2 Der Bund Deutscher Pf lanzenzüchter (BDP) formuliert die Rolle seiner Mitglieder folgendermaßen: Pflanzenzüchter sind Visionäre. Sie suchen nach Lösungsansätzen und entwickeln Pflanzen stets für die sich ändernden Ansprüche der Menschen und der Umwelt weiter. Die in der Pflanzenzüchtung arbeitenden Menschen müssen frühzeitig erahnen, was die Landwirtschaft, die Konsumenten und die Wirtschaft in der Zukunft verlangen werden. BDP 2019
Auffallende Parallelen zu Auffassungen zur grundlegenden Rolle von Design (vgl. z.B. Heuf ler et al. 2019, S. 34f) werden hier sichtbar: Die Bezeichnung der Akteure als „Visionäre“, der Anspruch, Lösungen zu entwickeln, die Orientierung an den Wünschen der Menschen und die Notwendigkeit der Vorausahnung der Zukunft erinnern stark an Formulierungen zu Aufgabe und Anspruch von Design. Das konkrete Ziel der Pf lanzenzüchtung ist „die genetische Veränderung von Kulturpf lanzen, um sie besser den Bedürfnissen des Menschen anpassen zu können“ (Miedaner 2017, S. 8). So werden neue Nutzpf lanzen gestaltet, die zuvor definierten Züchtungszielen so weit wie möglich entsprechen. Diese beziehen sich im Allgemeinen entweder auf den Ertrag oder 1 Design als Produktgestaltung kann verstanden werden als die Gestaltung der Funktionsweise und der materiellen Eigenschaften – und damit übergeordnet der Bedeutungen – von industriell hergestellten Gegenständen. Zur genaueren Begriffsbestimmung des Design siehe Kapitel 2. 2 Die historische Studie von Cogdell (2004) hebt die Parallelen zwischen der Ideologie der Eugenik und dem Streamlining Design in der Produktgestaltung in den USA der 1930er Jahre hervor. Die Mehrheit der aufgezeigten Parallelen der beiden untersuchten Strömungen, wie der Anspruch, angewandte Biologie zu praktizieren, die Suche nach dem „Idealtypus“, das Streben nach Effizienz und Hygiene und das zugrundeliegende Ziel der Kommodifizierung sind Merkmale, die auch die moderne Pflanzenzüchtung auffallend passend beschreiben.
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auf Qualitätsmerkmale (Becker 1993).3 Während für viele landwirtschaftliche Nutzpf lanzen gilt, dass Qualitätsmerkmale in der Züchtung „nahezu bedeutungslos“ sind (ebd., S. 70), erweisen sich in Bezug auf Obst- und Gemüseerzeugnisse viele verschiedene Qualitätsmerkmale als ausschlaggebend für die Vermarktbarkeit der Produkte. Im Folgenden beschreibe ich, wie Nutzpf lanzen in der Züchtung gestaltet werden. Ich beziehe mich dabei auf vier Interviews mit deutschen Züchtern und Züchterinnen, die ich in den Jahren 2015 und 2016 geführt habe. Ich sprach mit dem Geschäftsführer eines privaten Erdbeerzüchtungsbetriebes, mit einem Apfelzüchter an einem staatlichen Obstzüchtungsinstitut, mit einer Gemüsezüchterin, die bei einem privatwirtschaftlichen Gemüsezüchtungsbetrieb angestellt ist, und mit einem Vertreter der Forschung in der Pf lanzenzüchtung an einer Universität.4 Zudem beziehe ich mich auch auf Lehrbücher zu den Grundlagen der Pf lanzenzüchtung.
Züchtungsprozess und Züchtungsziele Wenn in einem privatwirtschaftlichen Gemüsezüchtungsbetrieb eine neue Sorte Radieschen gezüchtet werden soll, wird zunächst einmal der Bedarf ermittelt. Zusammen mit der Verkaufsabteilung, der Produktionsabteilung und der Geschäftsleitung erarbeitet die Züchtungsabteilung Züchtungsziele. Gemeinsam wird die Lage des Marktes besprochen: Was gibt es derzeit auf dem Markt, was verkauft sich gut? Wo gibt es interessante Nischen, welche Trends kündigen sich an? Welche Probleme treten bei den bisherigen Sorten auf? Die Verkaufsabteilung hat die direkte Verbindung zu den Kunden, in diesem Fall professionelle Gemüseanbauer, und kennt daher am besten de3 Der Ertrag, der die geerntete Masse betrifft, wird in der Pflanzenzüchtung den Qualitätsmerkmalen, die die Beschaffenheit der Ernte genauer charakterisieren, gegenübergestellt. Im Sinne der Konventionentheorie kann jedoch auch ein hoher Ertrag als Qualitätsmerkmal einer Sorte gelten – ausführlicher wird dieser Gedanke in Kapitel 6 besprochen. 4 Bei der Auswahl der Interviewpartner achtete ich vor allem darauf, dass die Vertreter aus verschiedenen Kontexten stammten (z.B. privatwirtschaftlicher Züchtungsbetrieb im Kontrast zu staatlichem Obstzüchtungsinstitut) und dass sie über Expertise mit unterschiedlichen Erzeugnissen (z.B. Radieschen, Küchenkräuter, Erdbeeren, Äpfel) verfügten. Zum Vorgehen bei der Auswahl der Gesprächspartner siehe auch Kapitel 4. Zur Herstellung einer vertrauensvollen Atmosphäre und zum Schutz meiner Interviewpartner wurde die Anonymisierung der Interviews vereinbart.
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ren Wünsche und Bedürfnisse. Zusammen mit der Geschäftsleitung wird das Budget für das Züchtungsprojekt festgelegt und die Züchtungsabteilung erarbeitet eine Kostenschätzung für die nachgefragten Entwicklungen. Dann wird entschieden, welche Züchtungsziele man sich vornimmt. Abhängig von den vereinbarten Zielen werden Elternpf lanzen für Kreuzungen gewählt, die möglichst viele der gewünschten Eigenschaften bereits beinhalten. Wenn die Elternpf lanzen blühen, wird gekreuzt: der Pollen des Vaters wird von Hand auf die Narbe der Mutter aufgebracht. Im Blütenboden der Mutterpf lanze entwickeln sich Samen, die eine zufällige, neue Kombination der Genome von Vater und Mutter beinhalten. Die Samen werden geerntet und ausgesät und die neu wachsenden Pf lanzen werden nach den angestrebten Züchtungszielen selektiert. Wenn unter den Eltern eine Wildart war, die eine bestimmte gewünschte Eigenschaft aufweist, aber ansonsten, z.B. in Bezug auf Fruchtgröße und Geschmack, zu wünschen übrig lässt, muss das Ergebnis noch mehrmals rückgekreuzt werden, um die Eigenschaften als Kulturpf lanze wieder zu verbessern. Daher werden solche Kreuzungszyklen normalerweise mehrmals wiederholt, bis eine neue Pf lanze entstanden ist, die bestenfalls alle angestrebten Eigenschaften in sich vereint. Im Regelfall dauert ein Züchtungsprozess für Gemüsesorten fünf bis sieben Jahre. Anschließend wird meist mit einem Anbauer zusammen eine Versuchsphase durchgeführt, um die Eigenschaften der neuen Pf lanze auch im größeren Maßstab zu überprüfen. Die darauf folgende Beantragung des Sortenschutzes beim Bundessortenamt dauert nochmals zwei Jahre. Bis zur Einführung einer neuen Sorte auf dem Markt braucht es insgesamt demnach sieben bis zehn Jahre (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Für die Frage nach den Qualitätskriterien, die die Gestaltung von Obst und Gemüse bestimmen, ist die Phase der Definition von Züchtungszielen von besonderem Interesse. Eine Pf lanzenzüchterin gibt mir Auskunft über ihre Sicht auf das Zustandekommen dieser Ziele: Sie sind eine Zusammenstellung von den verschiedenen Ansprüchen unterschiedlicher Stakeholder im weiteren Lebensweg des Erzeugnisses. Sie formuliert diese Orientierung an der Nachfrage der verschiedenen Akteure folgendermaßen: In jedem Züchtungsprojekt „überlegen wir […]: Wie ist denn das Kaufverhalten? Was finden denn Verbraucher attraktiv? Und on top kommen dann noch die Merkmale, die unsere Kunden, die Profi-Anbauer, haben wollen; also Anbaueignung“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Die Anforderungen des Gemüseanbauers müssen mit den Anforderungen des Groß- und
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Einzelhandels und denen der Verbraucherin in Einklang gebracht werden. Hier fällt die Parallele zu einem Produktentwicklungsprozess im Design auf: Um ein erfolgreiches Produkt, ob Toaster oder Tomate, zu entwickeln, müssen die Anforderungen verschiedener Stakeholder, also nicht nur die der Konsumenten, sondern auch die der Herstellerinnen und der Händler mit in den Entwicklungsprozess einbezogen werden (Krippendorff 2013). Für Radieschen hat die Gemüseproduzentin beispielsweise folgende Ziele: Sie möchte möglichst viele Radieschen möglichst kostengünstig produzieren. Für sie ist es wichtig, dass die Ernte zu einem passenden Zeitpunkt reif wird, so dass sie ihre Erzeugnisse zu einem guten Preis verkaufen kann. Sie achtet auf Krankheitsresistenzen, da sie so weniger Pf lanzenschutzmittel einsetzen muss. Die Einheitlichkeit der Bestände ist ebenfalls von Bedeutung, denn um den Aufwand bei der Ernte möglichst gering zu halten, sollen die Radieschen auf einem Feld alle zum selben Zeitpunkt erntereif sein. Zudem kommt es auf die Saatgutqualität an, das heißt, dass möglichst alle Körner keimen sollen. Das Saatgut soll überdies nicht mit saatgutübertragbaren Krankheiten behaftet sein. Für die Produzentin ist es zudem von Vorteil, wenn sie das Saatgut nach Größen sortiert erwerben kann. So kann es leichter maschinell gesät werden. Da große Samen schneller keimen, lässt sich mit unterschiedlich großen Samen außerdem die Ernte einige Tage staffeln. Hinzu kommt die Erntefähigkeit des Erzeugnisses: Da Radieschen bei der Ernte am Laub aus dem Boden gezogen werden, wird die Erntefähigkeit maßgeblich dadurch beeinf lusst, wie fest das Laub an der Knolle sitzt. Der Großhändler dagegen hat andere Ansprüche: Er möchte gerne günstig einkaufen, um seinen Kunden gute Preise bieten zu können und dabei trotzdem einen Gewinn zu erwirtschaften. Die Erzeugnisse sollen dabei möglichst lange lagerfähig sein und auch lange frisch aussehen, um einige Tage verkäuf lich zu bleiben. Hinzu kommen die Anforderungen der Verbraucherin. Sie achtet beim Einkauf vor allem auf ein attraktives Aussehen und möchte, dass ihre Lebensmittel zu der eigenen Gesundheit beitragen, das heißt, dass sie beispielsweise nicht mit Schadstoffen oder Pf lanzenschutzmittelrückständen belastet sind (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Manch eine Anforderung wird auch von einem Stakeholder an den nächsten weitergegeben – wobei sich allerdings die Anforderung bei jeder Übertragung ein Stück weit wandelt. Ein Beispiel: Verbraucher kaufen gerne Radieschen, die sauber und ganz sind und frisch aussehen. Das heißt, das
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Laub soll nicht verwelkt sein, es sollen keine Erdreste am Radieschen kleben und die rote Schale des Radieschens soll keine Kratzer haben. Der Handel kauft daher nur gewaschene, aber unzerkratzte Radieschen mit frischem Laub ein. Für die Produzentin bedeutet dies, dass sie die geernteten, gebündelten Radieschen maschinell waschen muss, jedoch ohne dass Laub und rote Schale in Mitleidenschaft gezogen werden. In der Folge achtet sie bei der Auswahl der Sorte auf eine gute Wascheignung, das heißt, sie wählt Radieschen aus, deren Schale beim Waschen nicht zerkratzt wird und deren Laub nicht zerknittert. Diese Ansprüche gibt sie wiederum weiter an den Züchter, der eine gute Wascheignung als Züchtungsziel definiert. Er wird also bei der Selektion von Radieschenlinien die Wascheignung in Waschversuchen überprüfen und nur diejenigen Linien weiterverfolgen, die in diesen Versuchen gut abschneiden. Entscheidend für die Selektion werden damit Eigenschaften wie die Dicke der roten Schicht in der Schale, die Widerstandsfähigkeit der Schale gegen Kratzer und die Robustheit des Laubes beim Waschen (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Die Verbraucherin hingegen interessiert sich in der Regel nicht für die Wascheignung; sie denkt bei ihrem Griff zu den sauberen, frisch aussehenden Radieschen nicht an die Waschversuche in der Radieschenzüchtung, die sie mit ihrem Einkauf mit verursacht. Konfrontiert mit dieser Verkettung wird sie vermutlich irritiert den Kopf schütteln und betonen, dass ihr ungewaschene Radieschen ja genauso gut schmecken würden. Und trotzdem bleibt ihr alltägliches Verhalten eine Ursache dieser Zusammenhänge. Die Wascheignung ist nur eines von vielen angestrebten Merkmalen, die insgesamt dazu beitragen sollen, dass das Erzeugnis den Konsumenten im Supermarkt durch sein attraktives Aussehen überzeugen kann. Weitere Merkmale, die zu diesem Äußeren beitragen sollen, und auf die schon in der Züchtung geachtet wird, ist beispielsweise eine schöne Farbe, das „richtige Rot“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Das Rot soll nicht zu dunkel sein und darf keinen zu hohen Blauanteil enthalten, denn sonst wirken Radieschen alt und welk. Das Radieschen soll eine schöne runde Form haben und nur eine feine Wurzel mit möglichst wenigen Seitenwurzeln. Ein gutes Knolle-Laub-Verhältnis ist ebenfalls von Bedeutung. Das Laub soll nicht zu üppig sein, denn es wird nicht für den Verzehr genutzt; es soll aber auch nicht zu klein sein, denn während des Wachstums versorgt das Laub die Knolle. „Das Verhältnis muss passen“, sagt die Züchterin (ebd.). Die Präzision der Beschreibungen, mit denen die Züchterin das „perfekte Radies-
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chen“ (ebd.) definiert, beeindruckt. Keine Eigenschaft dieses Gemüses soll dem Zufall überlassen bleiben; jedes Detail wird nach Plan gestaltet. Ein ähnlicher Reichtum an detaillierten Idealvorstellungen lässt sich auch in der Erdbeerzüchtung feststellen. Ein Erdbeerzüchter erklärt, er könne mir „locker hundert Züchtungsziele“ für Erdbeeren nennen (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Ein Merkmal, das für Erdbeeranbauerinnen von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist, ist der Blühzeitpunkt: Je früher die Pf lanze blüht, umso früher kann geerntet werden, und umso höhere Preise lassen sich für die Früchte erzielen. Wenn am Anfang der Erdbeersaison die Preise täglich fallen, kann ein ein oder zwei Tage früherer Erntebeginn darüber entscheiden, ob eine Anbauerin in dieser Saison Gewinn erwirtschaftet oder nicht. Von genauso großer Bedeutung ist für die Anbauerin natürlich der Ertrag. Viele Anforderungen der Anbauerin hängen mit den Ernteeigenschaften der Früchte zusammen: Die Erdbeeren sollen sich leicht pf lücken lassen. Die grünen Kelchblätter sollen bei der Ernte an der Frucht bleiben und sich nicht lösen oder gar den inneren Zapfen aus der Frucht ziehen. Die Blätter sollen auch nicht zu groß sein, damit sie bei der Ernte nicht abgerissen werden. Die „Sollbruchstelle“ zwischen Stiel und Kelch soll beim Pf lücken nicht ausreißen. Da Erdbeeren nach Gewicht verkauft werden und Erntearbeiter pro Stunde bezahlt werden, kommt es auch darauf an, möglichst schnell möglichst viele Kilo ernten zu können – so war in den letzten Jahren eine große Fruchtgröße eine nachgefragte Eigenschaft. Auch bei der Erdbeere ist die Pf lanzengesundheit ein wichtiger Punkt: Für ca. zwanzig Krankheiten sollte die Pf lanze zumindest eine Toleranz aufweisen. Eine Resistenz gegen eine verbreitete Pf lanzenkrankheit kann das entscheidende Alleinstellungsmerkmal einer neuen Erdbeersorte sein – sie kann verlässliche Erträge und die Einsparung von teuren Pf lanzenschutzmitteln versprechen. Weitere Anforderungen an die Frucht sollen ihre Vermarktbarkeit gewährleisten: Die Frucht soll ein möglichst langes shelf life haben, das heißt sie soll in den Regalen der Supermärkte möglichst lange haltbar sein, und sie soll eine ausreichende Festigkeit haben, die es ihr ermöglicht, auch weitere Transportwege unbeschadet zu überstehen (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Auch bei der Erdbeere setzen sich die Kriterien für die Züchtung zusammen aus den Ansprüchen der Anbauerinnen, wie Blühzeitpunkt und Erntefähigkeit, den Ansprüchen des Handels, wie der Lagerfähigkeit und der Einhaltung der gesetzlichen Ver-
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marktungsnormen und den Ansprüchen der Verbraucher, wie der Farbe und dem Geschmack (ebd.). Ähnlich wie im Falle des Radieschens kann mir der Erdbeerzüchter die visuelle Produkterscheinung der optimalen Erdbeere sehr detailliert beschreiben. Da ist zum einen die optimale Form: Die Erdbeere soll die typische Herzform aufweisen. Ihre Farbe soll nicht zu dunkel sein, denn auch wenn Verbraucherinnen in Befragungen äußern, dass sie am liebsten dunkle Erdbeeren essen, zeigt das Kaufverhalten, dass sich helle Erdbeersorten besser verkaufen. Eine dunkle Farbe wird mit mangelnder Frische in Verbindung gebracht. Die gesamte Frucht der Erdbeere soll rot durchfärbt sein, ebenso sollen die Erdbeeren innen nicht hohl sein. Die Nüsschen der Erdbeere sollen nicht braun, sondern gelb gefärbt sein. Sie sollen nicht aufsitzen, sondern fest in Vertiefungen im Fruchtf leisch der Erdbeere sitzen. Die Beere soll an den Kelchblättern keinen ausgeprägten weißen Kragen aufweisen; ebenso darf die Frucht am Kragen keine Risse bekommen. Die Kelchblätter sollen nicht welken (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Vergleichbar mit den Anforderungen an Radieschen und Erdbeeren fallen auch die Züchtungsziele für Äpfel aus. Ein Apfelzüchter nennt mir im Gespräch Resistenzen, Ertrag, Reifezeitpunkt, Homogenität, Aussehen, Lagereignung, Festigkeit, Saftigkeit und Aroma als zentrale Züchtungsziele. In Bezug auf die visuelle Produkterscheinung geht der Apfelzüchter auf Farbe, Form, Größe und Schaleneigenschaften ein (Interview mit einem Apfelzüchter, 12.05.2016). Neben unterschiedlichen, detaillierten Züchtungsschwerpunkten bei den verschiedenen Obst- und Gemüsearten lassen sich einige Hauptzüchtungsziele ausmachen, die sortenübergreifend Gültigkeit besitzen: Eine Sorte, die einerseits für die Anbauer und den Handel attraktiv sein soll, muss Erzeugnisse generieren, die als Waren auf zentralisierten Märkten funktionieren. Hierfür sind hohe Erträge, eine hohe Homogenität der Erzeugnisse, eine verlässliche Qualität durch Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, Schädlinge und Umweltfaktoren wie Trockenheit und Hitze und eine Eignung für Transport, Lagerung und technische Bearbeitung die zentralen Anforderungen. Andererseits müssen die Erzeugnisse auch für die Konsumentinnen attraktiv sein. Dies ist zu erreichen durch einen geringen Preis – der seinerseits wiederum von Ertrag, Homogenität und der Eignung zur Verarbeitung abhängig ist. Eine große Rolle für die Kaufentscheidung spielt
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für die Verbraucher jedoch auch die visuelle Produkterscheinung. Entsprechend wird das Aussehen ebenfalls zu einem bedeutenden Züchtungsziel.5 Wie in anderen Design- und Planungsprozessen üblich (vgl. Rittel 2013c), müssen auch bei Obst und Gemüse verschiedene Ziele gegeneinander abgewogen werden. Die Züchter müssen Prioritäten setzen, da einige Züchtungsziele sich gegenseitig beeinf lussen oder sich widersprechen. Erdbeeren sollen beispielsweise möglichst groß, aber nicht innen hohl sein. Die Beeren sollen möglichst fest sein und trotzdem intensiv schmecken.6 Der Züchter sagt: „Sie müssen natürlich Hauptzuchtziele formulieren. Und die liegen ganz eindeutig beim Ertrag, bei der Fruchtgröße und […] bei dem shelf life. Und wie sie aussehen“ (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Für die Züchter sind die Prioritäten der Züchtungsziele an der Nachfrage der Anbaubetriebe und des Großhandels ablesbar.
Anwendungsorientierte Pflanzenzüchtung In der auf Nutzbarkeit und User Experience konzentrierten Designpraxis hat sich die Grundregel etabliert, dass Produkte auf dem Markt langfristig nur erfolgreich sein können, wenn die Nutzung des Produktes bereits beim Entwurf im Mittelpunkt steht (z.B. Norman 2016). Dieser Gedanke gilt für Alltagsgegenstände wie Teekannen und Sessel, hat aber durch die Digitalisierung von Produkten noch erheblich an Bedeutung gewonnen. Unter dem Schlagwort „User Centered Design“ bzw. „Nutzerzentrierte Gestaltung“ versammelt sich inzwischen ein ganzer Wirtschaftszweig, der hauptsächlich darauf spezialisiert ist, digital unterstützte Systeme nutzerfreundlicher zu gestalten. Auch bei der Entwicklung von neuen Nutzpf lanzen wird der Anwendungsfall des Erzeugnisses bereits vor Beginn der Kreuzungen mitgedacht. Er beeinf lusst maßgeblich die Formulierung der Züchtungsziele. Die Anforderungen an eine Frucht sind im Kontext der industriellen Herstellung von Lebensmitteln so weit ausdifferenziert, dass sie je nach Anwendung der Frucht sehr unterschiedlich ausfallen können. 5 Umfassender erläutert werden die bestimmenden Kriterien, die sich für die industrielle Produktion von Obst und Gemüse für den Vertrieb über den Großhandel etabliert haben, in Kapitel 6. 6 Ähnliche Notwendigkeiten des Abwägens von erwünschten, aber sich widersprechenden Eigenschaften wurden schon für den Umgang mit Tomaten beschrieben (Heuts & Mol 2013).
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Eine Sorte Basilikum, die als Topfpf lanze den Markt erreicht, muss beispielsweise völlig andere Eigenschaften erfüllen als ein Basilikum, das geschnitten im Bund verkauft wird, oder eines, das für die Herstellung von Gewürzmischungen angebaut wird. Für eine Topfpf lanze sind folgende Sorteneigenschaften besonders gefragt: „Frühzeitigkeit, Stängelstabilität, Blattqualität […], breites Erntefenster, Verträglichkeit für kühlere Temperaturen sowie mögliche Krankheitswiderstandsfähigkeit“ (Laber & Lattauschke 2014, S. 523). Zudem gilt: „der Topf soll schön voll aussehen […] schön gefüllt mit Blättern“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016), auch wenn man ihn von der Seite betrachtet. Die Pf lanze soll gesund sein und sich dadurch möglichst lange halten – nicht nur im Supermarktregal, sondern auch noch zu Hause bei den Verbrauchern. Die Pf lanze soll das typische gebogene Blatt aufweisen, das allerdings nicht zu groß sein soll: „Wenn die Blätter zu groß sind und man tut die in diese Tüte knicken die ab […]. Und abgeknickte Blätter führen dann dazu, dass das Produkt nicht so lange haltbar ist“ (ebd.). Bei Bundkräutern wird dagegen ein großes Blatt positiv bewertet, da es sich leichter verarbeiten lässt. Bundkräuter sollen robust und leicht zu ernten sein und sie sollen sich auch geschnitten und gekühlt einige Tage gut halten. Hier sind größere, höhere Pf lanzen gefragt, die schnell nachwachsen, damit mehrmals geerntet werden kann (Feldnotizen, 27.10.2016). Auch in der Apfelzüchtung wird die Anwendung bereits in der Züchtung mitgedacht. Wenn es um Früchte für die industrielle Verarbeitung geht, werden – nicht nur bei Äpfeln, sondern bei vielen industriell verarbeiteten Erzeugnissen – ganz andere Maßstäbe gesetzt (Becker 1993, Laber & Lattauschke 2014, Miedaner 2017). Während auf dem Markt für frische Äpfel die Rotfärbung der Frucht eine zentrale Rolle spielt, setzen die Hersteller von Babynahrung oder Apfelmus andere Prioritäten. Sie bauen Sorten an, die maschinell geschnitten und abgeerntet werden können. Ausschlaggebend sind hier ein hoher Ertrag, eine hohe Saftausbeute, ein gutes Zucker-Säure-Verhältnis und Resistenzen gegen Pf lanzenkrankheiten. Grüne oder gelbe Früchte werden für die Verarbeitung gerne angebaut, da sie püriert eine ansprechendere Farbe ergeben: das Apfelmus ist dann weniger braun (Interview mit einem Apfelzüchter, 12.05.2016).7 Auch bei der Erdbeere folgt die Züchtung von Sorten 7 In der Apfelzüchtung, wo die Entwicklungszyklen aufgrund biologischer Gegebenheiten sehr viel länger dauern als bei einjährigen Pflanzen, wird im Regelfall nicht speziell für die verschiedenen Anwendungsfälle der industriellen Verarbeitung gezüchtet. Stattdessen
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für die industrielle Verarbeitung anderen Maßstäben. Wenn zum Beispiel eine neue Erdbeersorte für die Gefriertrocknung gezüchtet werden soll, dann geht es – neben geschmacklichen Komponenten wie die Zucker-Säure-Balance und Aromaanteile – vor allem darum, dass die Frucht effizient verarbeitet werden kann. Hier ist die Trockenmasse der Erdbeeren ein zentrales Kriterium: „Umso mehr Trockenmasse ich habe, umso weniger Wasser ist drinnen. Umso weniger Wasser ich entziehen muss, umso geringer sind die Produktionskosten“ (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Auch die maschinelle Entkelchbarkeit wirkt sich auf die Effizienz in der Produktion aus. Die Erdbeere soll außerdem ganz durchgefärbt sein, damit auch das kleingeschnittene Innere der Erdbeere noch als Erdbeerstück im Müsli erkennbar ist (ebd.). In vielerlei Hinsicht erweist sich also der projizierte Anwendungsfall der zu entwickelnden Frucht als ausschlaggebend für die Definition der Züchtungsziele und die daraus abgeleiteten Selektionskriterien in der Züchtung.
Geschmack Der Geschmack von Obst und Gemüse ist ein Qualitätsmerkmal, das züchterisch schwer zu bearbeiten ist – zum einen, weil er sich schwer messen lässt, zum anderen auch, weil er durch viele Faktoren beeinf lusst wird (Becker 1993, Miedaner 2017). Welche Rolle spielt der Geschmack in der Züchtung? Bei der Bewertung von Äpfeln ist die geschmackliche Prüfung ein wichtiger Bestandteil. Ein Kriterium, das für den Geschmack von Äpfeln bestimmend ist, ist das Zucker-Säure-Verhältnis, das maschinell festgestellt wird. Zusätzlich finden Verkostungen statt – durch die Züchter, aber auch durch ein breiteres Publikum beispielsweise beim Tag der Offenen Tür. Wichtig für den empfundenen Genuss beim Verzehr ist nicht nur das Aroma, sondern auch die Festigkeit und das daraus resultierende Beißverhalten (Interview mit einem Apfelzüchter, 12.05.2016). Bei der Erdbeerzüchtung ist der Geschmack ebenfalls ein bedeutendes, aber auch schwer zu beherrschendes wird hier das Vorgehen verfolgt, dass bei Züchtungsprojekten zufällig entstandene und möglicherweise für die Verarbeitung interessante Varianten katalogisiert werden. Bei aufkommenden Nachfragen für eine spezifische Anwendung sind diese Varianten dann abrufbar. Wie die unumgänglichen biologischen Eigenschaften mancher Pflanzen den menschlichen Umgang mit ihnen formen, wird in Kapitel 7 ausführlicher zur Sprache kommen.
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Merkmal. Der Erdbeerzüchter erzählt mir von 360 chemischen Substanzen, die den Geschmack der Früchte beeinf lussen. Zehn Prozent davon seien als Schlüsselsubstanzen nachgewiesenermaßen relevant für die geschmackliche Wahrnehmung. Doch auch Stoffe, die selbst nicht schmecken, sind über Biosynthesewege eingebunden in die Entstehung von sensorisch wirksamen Stoffen. Zudem sind die Textur und das Mundgefühl wichtig für den Geschmack (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Ähnlich wie bei Äpfeln und Erdbeeren ist der Geschmack auch bei Tomaten in den letzten Jahrzehnten wieder zu einem wichtigen Züchtungsziel geworden (Heuts & Mol 2013; Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Bei anderen Gemüsearten wie beispielsweise bei Auberginen, Gurken, Radieschen und auch bei Kräutern spielt der Geschmack in der Züchtung – verglichen mit anderen Züchtungszielen wie Ertrag, Homogenität, visueller Produkterscheinung und Lagerfähigkeit – eine eher untergeordnete Rolle8 (Becker 1993, Laber & Lattauschke 2014). In Bezug auf Basilikum erklärt mir eine Gemüsezüchterin: „Im Wesentlichen geht es darum, dass […] der typische Geschmack da ist. Und dass der nicht verloren gegangen ist... Aber nicht, dass wir da nochmal genau differenzieren“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Auch Becker (1993) stellt fest, dass der Geschmack für viele Arten in der Züchtung von untergeordneter Bedeutung ist und bemerkt kritisch, dass in der derzeitigen Pflanzenzüchtung manche Qualitätseigenschaften vernachlässigt werden, die zwar unbestreitbar wichtig sind, aber von keiner industriellen Lobby unterstützt werden. So wird z.B. […] in der Züchtung von Obst und Gemüse der Geschmack und der Vitamingehalt züchterisch weniger intensiv bearbeitet als es wünschenswert wäre. Becker 1993, S. 73
Es ist demnach abhängig vom Erzeugnis, ob und in welchem Maße der Geschmack in der Züchtung eine Rolle spielt. Für manche Erzeugnisse wie Äp-
8 Der US-amerikanische Koch und Aktivist Dan Barber (2014) schreibt in seinen Field Notes on the Future of Food über seine Unterhaltung mit einer Gruppe von Pflanzenzüchtern. Beim Gespräch über den Geschmack als Züchtungsziel bemerkt ein Züchter: „No one has ever asked me to breed for flavor. Not one person“ (ebd., S. 389).
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fel, Erdbeeren und Tomaten ist unter den Verbrauchern ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Geschmack der Produkte verbreitet – entsprechend ist der Geschmack hier auch ein bedeutendes Züchtungsziel. Bei den allermeisten Erzeugnissen spielt der Geschmack als Züchtungsziel jedoch eine Nebenrolle. Im Fall der Aufwertung des Geschmacks bei Erdbeeren und Tomaten ist eine Veränderung der Bedeutungen im Laufe der Zeit zu beobachten. Hier ist bereits erkennbar, wie die etablierten Vorstellungen von Qualität abhängig sind von sozial konstruierten und damit wandelbaren Konventionen.9
Herausforderungen in der Züchtung Wenn Züchterinnen nach den größten Herausforderungen in ihrer Branche gefragt werden, werden das zutreffende Vorhersehen der Marktentwicklung, die Rentabilität, die Überzeugung der Anbaubetriebe von neuen Sorten und die sich ständig ändernden Züchtungsziele genannt. Die größte Herausforderung in der privatwirtschaftlichen Gemüsezüchtung ist – laut Einschätzung meiner Interviewpartnerin – vorherzusehen, was in fünf bis sieben Jahren auf dem Markt gefragt sein wird – also die Nachfrage zu erahnen, bevor sie da ist. Wenn dies gelingt, dann ist das Züchtungsunternehmen in der Lage, einen Trend zu setzten, und „nicht nur dem Marktbedürfnis hinterher [zu rennnen]“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Wie im Produktdesign geht es hier darum, eine gefragte Neuigkeit zum richtigen Zeitpunkt als erster auf dem Markt einzuführen. Da sich Züchtungsprojekte wie schon beschrieben kaum abkürzen lassen, das Unternehmen aber eventuell trotzdem kurzfristiger auf eine Nachfrage reagieren möchte, hat der Züchter „immer mehrere Pferde am Start“ (ebd.). Es werden also mehr Züchtungsprojekte begonnen, als tatsächlich neue Sorten benötigt werden. Jedes Jahr werden Kreuzungen gemacht, so dass jedes Jahr Züchtungsprojekte zum Abschluss kommen und jedes Jahr neue Sorten angemeldet werden könnten. Ob das Züchtungsergebnis als Sorte angemeldet wird, hängt dann noch einmal davon ab, ob das Unternehmen für diese Entwicklung zu diesem Zeitpunkt einen profitablen Markt sieht. Auch die anderen Herausforderungen, die mir die Züchter beschreiben, hängen hauptsächlich mit dem Markt zusammen: Eine zentrale Herausfor9 Ausführlicher wird die Rolle von Konventionen für die Vorstellungen von Qualität in Kapitel 6.2 erläutert.
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derung ist die Rentabilität. Meine Gesprächspartnerin weist mich mehrmals darauf hin, dass sie wirtschaftlich arbeiten muss. Das äußert sich zum einen im Zeitdruck: „[I]n der Züchtung muss es immer schnell gehen“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016) – vor allem bei der Selektion. Jeder unnötige Aufwand muss vermieden werden. Zum anderen werden neue Züchtungsprojekte nur für Massenprodukte begonnen – wenn sich abzeichnet, dass die Investition in die Züchtung durch eine große Nachfrage wieder erwirtschaftet werden kann. Für Nischenprodukte wie beispielsweise rotes Basilikum, Thaibasilikum oder Zitronenbasilikum reicht es, eine Sorte im Portfolio zu haben; Neuzüchtungen lohnen sich hier aus der Perspektive des Unternehmens nicht: „Also wir als wirtschaftliches Unternehmen müssen sehen: Halten sich Entwicklungskosten und [der] Umsatz, den wir damit erzielen, die Waage? Und da muss man bei diesen Nischenmärkten abwinken“ (ebd.). Der Apfelzüchter spricht davon, dass es sehr schwierig geworden ist, neue Apfelsorten auf dem Markt zu platzieren. Das liegt zum einen daran, dass es schon viele gute Sorten gibt und es immer schwieriger wird, diese Sorten zu ersetzen. Zum anderen hängt die Schwierigkeit, Anbauer von neuen Sorten zu überzeugen, im Fall des Apfels – neben den hohen Investitionen für jede neue Apfelanlage und der ca. 15-jährigen Standzeit der Anlagen – auch damit zusammen, dass der Apfel – neben der Kartoffel – eine der wenigen Kulturpf lanzen ist, bei denen die Verbraucherinnen über die Sorte informiert werden. Ein Obstbauer erklärt: Bei solchen Kulturen wo man dann auch die Sorte verkauft […] muss man dann ja auch die Kundschaft dazu bringen, die zu kaufen. Auch wenn die jetzt vom Anbau her super wäre, [es] bringt ja nichts, wenn ich da jetzt nachher eine Sorte habe, die heißt irgendwie und die kennt keiner und will dadurch ja eigentlich auch keiner kaufen. […] Die letzte Sorte, was wir neu gepflanzt haben war glaube ich Gala oder Braeburn, aber das ist schon... zwanzig Jahre her. […] Man braucht ja einen Kunden für die neue Sorte, warum sollte man eine neue Sorte pflanzen? Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015
Durch die Gewohnheiten der Konsumenten ist es in diesen Fällen schwieriger, neue Sorten im Markt zu etablieren (vgl. Becker 1993, S. 69). Zudem liegt eine Schwierigkeit darin, dass das Produkt in so großem Maßstab vermark-
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tet wird: Die großen Märkte erfordern große Mengen von wenigen verschiedenen Sorten. Um eine Sorte im Handel zu etablieren, braucht man daher große Anbauf lächen und große Erntemengen, frühestens dann nimmt ein Handelskonzern eine Sorte ins Sortiment. Die Obstbauern dagegen brauchen die Sicherheit, dass sie ihre Ernte auch verkaufen können – sie bauen daher am liebsten das an, was der Handel im Sortiment hat und wofür es folglich eine sichere Nachfrage gibt. Eine weitere Herausforderung in der Pf lanzenzüchtung besteht darin, dass die Qualitätsanforderungen an Sorten sich permanent ändern (Becker 1993, Miedaner 2017). Zwar unterscheiden sich die dominanten Züchtungsziele heute insgesamt kaum von denen des 19. Jahrhunderts: Warren Lanman (2004) beschreibt bereits für die Pf lanzenzüchtung um 1850 Merkmale wie die Frühzeitigkeit, die Gleichmäßigkeit im Wuchs, die Zuverlässigkeit beim Erntedatum und die Attraktivität der Früchte zum Erreichen hoher Preise als die wichtigsten Züchtungsziele. Olmstead und Rhode (2004) stellen in ihrer Untersuchung der US-amerikanischen Getreideproduktion zwischen 1800 und 1950 übergreifend höhere Erträge, Resistenzen gegen tierische und pf lanzliche Feinde und Toleranz gegen Hitze, Trockenheit und Frost als die dominantesten Ziele fest. Die konkrete Zusammenstellung der wichtigsten Züchtungsziele für einzelne Pf lanzenarten ist jedoch trotzdem immer Schwankungen unterworfen: Zum einen verändern sich die auftretenden Krankheiten und Schädlinge, aber auch die gesetzlichen Vorschriften, beispielsweise was den chemischen Pf lanzenschutz angeht. Zum anderen gibt es klimatische Veränderungen, die dazu führen, dass Winterhärte oder Trockenresistenz für viele Pf lanzen zu wichtigen Sortenmerkmalen werden. Während die meisten Nahrungsmittel heute global transportiert werden, war dies die meiste Zeit in der Geschichte der Menschheit nicht in diesem Umfang möglich. So mussten nachgefragte Nahrungsmittelpf lanzen für den Anbau in anderen Klimazonen und auf anderen Böden angepasst werden. Zudem unterliegt die Nachfrage ständig wechselnden Moden. Dies gilt nicht nur für Erzeugnisse wie Raps oder Weizen, die für die industrielle Verarbeitung angebaut werden (Becker 1993), sondern vor allem auch für Obst, Gemüse und Küchenkräuter. Ein Beispiel für einen noch jungen Trend ist die Verarbeitung von frischem Koriander in deutschen Haushalten. Koriander im Topf ist folglich ein Wachstumsmarkt – für den sich womöglich auch eine Neuzüchtung lohnt (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Die
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aktuell verfolgten Züchtungsziele müssen also ständig angepasst und neu definiert werden. In meiner Betrachtung der Pf lanzenzüchtung zeigt sich die Entwicklung von neuen Obst- und Gemüsesorten insgesamt als ein methodisches Vorgehen, in dem unter Berücksichtigung der vielfältigen Perspektiven der verschiedenen in den Produktionsprozess involvierten Stakeholder Produkte für einen Markt entwickelt werden. Die Züchtungsziele werden definiert durch das Abwägen und Aushandeln der Anforderungen, die von den verschiedenen Beteiligten im Lebensweg der Produkte von der Keimung bis zum Verzehr formuliert werden. Die Analogie zum Design als Problemlösungs- und Planungshandeln wird hier besonders deutlich. Weitere auffällige Parallelen zwischen Züchtung und Design zeigen sich in der Herausforderung, die zukünftige Nachfrage zu erahnen und damit rentable Produkte zu entwickeln und in der auch von sozialen und kulturellen Faktoren bedingten ständigen Veränderung der angestrebten Ziele. So werden Obst- und Gemüseerzeugnisse in der Pf lanzenzüchtung nach menschlichen Vorstellungen von Qualität gestaltet. Hierbei beeinf lusst der vorausgedachte Anwendungsfall die Formulierung von Züchtungszielen; und kulturell etablierte Konventionen bestimmen, inwiefern einzelne Produkteigenschaften wie der Geschmack oder die Farbe für ein bestimmtes Erzeugnis zu relevanten Züchtungskriterien werden. Bereits in der Phase der Züchtung wird deutlich, welch großes Gewicht der angestrebten visuellen Erscheinung der Erzeugnisse zukommt: Zu allen denkbaren Details der visuellen Produkterscheinung werden in der Züchtung umfassende Vorstellungen zu visuellen Idealen formuliert. Mit der Orientierung von Züchtungsprojekten an den Lebenszyklen der Pf lanzen und mit dem Hoffen auf ein vorteilhaftes Resultat unter den zufällig entstehenden Kreuzungsergebnissen lassen sich in der Züchtung zwei Hinweise darauf feststellen, dass die biologische Lebendigkeit der gestalteten Dinge unumgängliche Forderungen stellt, auf die für das Erreichen eines erfolgreichen Züchtungsergebnisses im Gestaltungsprozess eingegangen werden muss.
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Abbildung 5.2.1: Anbau von Gemüsepaprika im Gewächshaus
Abbildung 5.2.2: Cocktailrispentomaten reifen heran
Abbildung 5.2.3: Tomatenanbau auf 10,5 Hektar Gewächshausfläche
Abbildung 5.2.4: Natur und Technik umschlingen sich
Abbildung 5.2.5: die Pflanzen wachsen auf mit Substrat gefüllten Säcken
Abbildung 5.2.6: Säcke mit Nährstof fen
Abbildung 5.2.7: die Schnüre hängen auf Bügeln oben im Gewächshaus
Abbildung 5.2.8: Hummeln bestäuben die Blüten
Abbildung 5.2.9: Verpackungsstation
Abbildung 5.2.10: Anbau von Salatgurken
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5.2 Gestaltung im Anbau Nach der Züchtung der Sorten ist der Anbau der Pf lanzen der nächste Schritt im Lebensweg eines Biofaktes. Hier werden die Erzeugnisse gestaltet, indem die Bedingungen, unter denen sie an der Pf lanze heranreifen, durch vielerlei technische Maßnahmen gesteuert und kontrolliert werden. Die Parallelen zu Prozessen im Design sind im Anbau weniger offensichtlich als in der Züchtung, da es sich hier nicht mehr um die Phase der konzeptionellen Produktentwicklung, um das Entwerfen von Plänen und Definieren von Zielvorstellungen handelt, sondern um die Umsetzung: Im Anbau von Obst und Gemüse soll das Erreichen der gesteckten Ziele durch viele kleine gestalterische Eingriffe sichergestellt werden. Doch auch diese zielgerichteten Handlungen der Akteure im Anbau sind als Gestaltung zu begreifen, weil auch sie die Materialität von industriell hergestellten Produkten für den Massenmarkt entscheidend formen. Die Basis für dieses Kapitel bilden sechs Interviews, die ich mit Obstund Gemüseproduzentinnen im süddeutschen Raum geführt habe. In vier Interviews habe ich mit Betriebsleitern, Geschäftsführerinnen oder Gärtnermeistern in Gemüsebaubetrieben gesprochen. Ein Betrieb, in dem ich zwei Interviews geführt habe, ist auf den Unterglasanbau von Tomaten, Gurken, Paprika und Auberginen spezialisiert; in einem anderen wird ein breites Sortiment von Gemüse angebaut – sowohl im Freiland als auch unter Glas. Beide Betriebe bauen für den Großhandel an. Der dritte Betrieb produziert Biogemüse – und das ausschließlich für die Direktvermarktung auf Bauernmärkten. Alle drei Betriebe bauen unter anderem Tomaten an. Ein weiteres Interview führte ich mit einer Landwirtin, die spezialisiert ist auf den Anbau von Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Im sechsten Interview sprach ich mit einem Gärtner, der in zwei verschiedenen Betrieben im Obstund Weinbau arbeitet. Er gab mir einen Einblick in seine Arbeit im Anbau von Äpfeln und Birnen. In zwei Fällen konnte ich nach dem Gespräch noch die Betriebe besichtigen und so einen eigenen Eindruck gewinnen von den Orten, an denen Obst und Gemüse wachsen und heranreifen. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt zur Züchtung untersuche ich hier die Gestaltung von Obst und Gemüse als die Gestaltung lebendiger Produkte. Damit frage ich einerseits nach Kriterien der Produktqualität, die das Handeln der Akteure im Anbau bestimmen und nach den vielfältigen Techniken, die zum Erreichen der angestrebten Qualitätsmerkmale einge-
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setzt werden. Andererseits beleuchte ich den Aspekt der Lebendigkeit der gestalteten Dinge und frage danach, wie sich die Lebendigkeit der Pf lanzen im Anbau zeigt und welche Forderungen und Konsequenzen sie für das gestalterische Handeln der Akteure mit sich bringt.
Tomatenanbau Wenn in Deutschland Tomaten für den Verkauf in Supermärkten angebaut werden, geschieht dies in großen Gewächshäusern. In hohen, lichtdurchf luteten Hallen stehen die Pf lanzen hier in Reihen dicht nebeneinander und ranken sich an Schnüren empor ins Licht. Es ist warm und feucht. Der Raum ist gegliedert durch Kabel, Rohre und Schläuche. Die strikte Ordnung erinnert an ein Fabrikgebäude oder eine Serverhalle – wenn da nicht die Pf lanzen wären. Ein Gewächshaus für den erdelosen Anbau von Gemüse ist ein präzise steuerbares System aus Stahl und Glas, Bewässerung, Heizung, Lüftung und Pf lanzen (Abb. 5.2.1-5.2.10). Um ab Mitte März in Deutschland Tomaten ernten zu können, werden die jungen Pf lanzen im Dezember auf die weißen, mit Substrat gefüllten Plastiksäcke gepf lanzt (Abb. 5.2.5). Das Substrat kann aus Kokosfasern oder Perlite, einem vulkanischen Glas, bestehen und hat vor allem die Aufgabe, den Wurzeln der Pf lanzen stets das nährstoff haltige Gießwasser bereit zu stellen. Alle Nährstoffe, die die Pf lanze braucht, werden in weißen Säcken mit Gefahrenkennzeichnungen geliefert (Abb. 5.2.6) und in großen, runden Tanks in Wasser gelöst. Über Schläuche wird das Gießwasser zu den Pf lanzen geleitet und rinnt dann tröpfchenweise in das Substrat. Die Dosierung der Nährstoffe wird ständig überprüft und an die Bedürfnisse der Pf lanzen angepasst. Je nach Licht und Temperatur und je nach Aussehen der Pf lanzen wird die optimale Zusammensetzung der Inhaltsstoffe und die Menge des Gießwassers ständig neu ermittelt. „Die bodenlose Kultur ermöglicht es, die Pf lanzen optimal zu kontrollieren“, erklärt mir der Geschäftsführer eines Gemüsebaubetriebes (Feldnotizen, 08.04.2016b). So wird auf gewachsene Erde verzichtet, die als mögliche Quelle von Unregelmäßigkeiten im kontrollierten System nur einen Störfaktor darstellen würde. Dadurch, dass die Pf lanzen mit dem Boden gar nicht mehr in Berührung kommen, lässt sich an der Frucht selbst inzwischen auch mit der sonst gängigen Isotopenmethode nicht mehr feststellen, wo die Tomate angebaut wurde (Hendriks 2017). Substratsäcke, Nährstoffe und Dünger werden von wenigen Herstel-
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lern weltweit geliefert und können an allen möglichen Orten zum Einsatz kommen – die Zusammensetzung der Früchte bleibt dabei stets gleich. Beim Einpf lanzen im Dezember hat jede Pf lanze zwei Triebe (Abb. 5.2.5). Diese werden im einen Betrieb stets an weißen Schnüren befestigt, an denen sie sich während der folgenden Monate emporranken werden. Wenn im Laufe des Frühjahrs dann langsam mehr Licht verfügbar ist, werden einzelne Seitentriebe der Tomatenpf lanzen nicht wie sonst ausgebrochen, sondern stehen gelassen und genutzt. Die zusätzlichen Triebe werden nacheinander an grünen, roten und gelben Schnüren befestigt (Abb. 5.2.7). So hängen die Triebe im Sommer sehr dicht und das verfügbare Licht kann optimal ausgenutzt werden. Wenn das Licht dann im Herbst wieder nachlässt, werden die Seitentriebe nacheinander wieder gekappt, so dass die Pf lanze immer genügend Licht bekommt, um die Tomaten gut ausreifen zu lassen (Laber & Lattauschke 2014, S. 440ff). Die in dieser Weise angebauten Tomatensorten haben ein indeterminantes Wachstum, das heißt, die Triebe wachsen das ganze Jahr hindurch immer weiter. Bis zum Ende der Saison im November werden die Pf lanzen bis zu 15 Meter lang (ebd.). So leuchtet es ein, warum die Tomatentriebe an Schnüren wachsen: Die Schnüre lassen sich im Laufe der Wochen immer wieder absenken, so dass sich im Herbst die meterlangen Tomatenranken an den Seiten der Substratsäcke sammeln, während der noch grüne, abzuerntende und blühende Teil der Pf lanzen sich weiter oben ins Licht streckt. Auch für die Ernte ist von Vorteil, dass sich die Schnüre, die auf Bügeln aufgewickelt weit oben im Gewächshaus hängen, immer genau so absenken lassen, dass die erntereifen Tomaten auf einer ergonomisch sinnvollen Arbeitshöhe hängen. Schon während der Blüte werden die Rispen mancher Sorten für die Verpackung optimiert: Die blühenden Rispen werden von Hand gekürzt, so dass sie die optimale Länge für die Verkaufsverpackungen haben und f lach in diese hineingelegt werden können (ebd.). Weil im Gewächshaus kein Wind weht, muss die Bestäubung der Blüten durch Insekten sichergestellt werden. Die eingesetzten Hummeln leben in Pappschachteln, die zwischen den Pf lanzen auf den Substratsäcken stehen (Abb. 5.2.8). Da die Rispen wegen der wachsenden und reifenden Früchte immer schwerer werden, werden schon an die Blütenstände kleine Kunststoffclips, sogenannte Trossbügel, angebracht, die ein Abknicken der Rispen verhindern sollen (ebd.). Im Gewächshaus können Tomaten in Deutschland in der Regel von Mitte März bis Mitte November geerntet werden. Das funktioniert natürlich nicht
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ohne Heizung: Tomaten haben es gerne warm. Auch wenn es im Winter draußen Minusgrade hat, sollte die Temperatur im Gewächshaus tagsüber mindestens bei 18 Grad liegen. Trotzdem muss auch in der kalten Jahreszeit gelüftet werden: Bei zu hoher Luftfeuchtigkeit bilden sich sonst leicht Pilzkrankheiten wie beispielsweise Mehltau. Neue Gewächshäuser werden daher in Deutschland entweder in der Nähe von Kraftwerken gebaut, deren überschüssige Abwärme als günstige Energiequelle genutzt werden kann – oder es wird gleich mit dem Gewächshaus zusammen ein Blockheizkraftwerk gebaut. Die nötige Heizenergie im Tomatenanbau in Zentraleuropa ist auch der Grund, warum unbeheizte Tomaten aus Italien oder Spanien trotz des weiten Transportweges einen geringeren CO2-Ausstoß verursachen, als lokal produziertes Gemüse aus beheizten Gewächshäusern (Theurl et al. 2013). Klimaschonender – aber bisher noch selten – ist die Beheizung lokaler Gewächshäuser durch Geothermieanlagen (Hendriks 2017). Für die Produktion der Früchte verlassen sich die Gemüsebauern auf spezielle Tomatensorten, die gezielt für diese Anbauform gezüchtet werden. In der Regel kommen diese Sorten von niederländischen Gemüsezüchtern (Hendriks 2017). Es handelt sich um Hochleistungshybridsorten, die optimiert sind auf einen hohen Ertrag, Einheitlichkeit der Bestände, ein unbegrenztes Wachstum, eine hohe Schalenfestigkeit und dadurch eine verbesserte Transportfähigkeit der Früchte und auf einen aromatischen Geschmack (Kleinert & Braun 2018, Laber & Lattauschke 2014). Jede Pf lanze, die die Jungpf lanzenproduzentin im Dezember liefert, besteht bereits aus zwei Sorten: Die Triebe einer wohlschmeckenden Sorte mit optimierten Fruchteigenschaften werden von der Jungpf lanzenherstellerin auf das ausgeprägte Wurzelwerk einer anderen Sorte veredelt. Es ist also nicht nur das Gewächshaus ein technisch aufgerüsteter, hocheffizienter Lebensraum, sondern auch die Pf lanze selbst ist durch Züchtung und Veredelung durch und durch ein technisch zugerichtetes Lebewesen. Die kostenintensive Entwicklung dieser Hochleistungssorten finanziert der Züchter über den Verkauf der Samen, die fünf- bis sechsstellige Kilopreise erlösen (Cohen 2007, Hendriks 2017). Jedes Samenkorn ist wertvoll, denn es verspricht in einem Jahr je nach Sorte 20 bis 60 kg Ertrag (Notiz zu einem Interview mit einem Gemüsezüchter, 30.12.2017). Die Samen müssen jedes Jahr neu gekauft werden, weil es sich um Hybridsorten handelt, deren Nachkommen nach einem Jahr nicht mehr dieselben garantierten Sorteneigenschaften aufweisen, wie die Sorte selbst. Für die Gemüseproduzentin
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haben Hybridsorten den Vorteil, dass sie besonders einheitlich wachsen – und Einheitlichkeit hat im Gemüseanbau dieser Größenordnung für die Produzentinnen und die Händler einen sehr hohen Stellenwert: „Es muss halt einheitlich funktionieren. Wenn es das nicht ist, dann... lohnt [es] sich nicht“ (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 15.03.2016). Ein anderer Tomatenproduzent bestätigt: „Man braucht halt Gleichmäßigkeit im Gewächshaus“ (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 29.04.2016). Durch die eingesetzte Technik, die schützenden Glaswände und den erdelosen Anbau kann im Gewächshaus auf chemischen Pf lanzenschutz weitestgehend verzichtet werden (vgl. Laber & Lattauschke 2014, S. 440ff; Interview mit einem Gemüseproduzenten, 29.04.2016). Das Gewächshaus ist ein so in sich geschlossenes, kontrolliertes System, dass die im Freiland üblichen Schädlinge und Pf lanzenkrankheiten viel seltener auftreten. Um mögliche Schädlinge in Zaum zu halten, wird oft mit Nützlingen gearbeitet. In manchen Gewächshäusern hängen auch weit oben gelbe Klebebänder, an denen die Insekten kleben bleiben sollen. Um mögliche Pf lanzenkrankheiten nicht durch kontaminierte Scheren von einer Pf lanze zur nächsten zu tragen, wird jede Reihe im Gewächshaus immer nur in eine Richtung und mit einer eigenen Schere bearbeitet. Die Ausbreitung von Pf lanzenkrankheiten soll dadurch eingedämmt und verlangsamt werden. Und im Zweifelsfall ist dadurch schnell feststellbar, woher eine Krankheit kommt und in welche Richtung sie sich verbreitet hat. In einem süddeutschen Tomatengewächshaus, das ich besichtige, wachsen auf 10,5 Hektar vier verschiedene Tomatensorten. Es werden vor allem kleinere, wohlschmeckende Sorten angebaut: Naschtomaten, Kirschtomaten und Pf laumencocktailtomaten. Nur auf zwei Hektar wachsen „normale“ Strauchtomaten. Ein Gemüseproduzent kommentiert: „Die normale Strauchtomate spielt nicht mehr die bedeutende Rolle, die sie schon mal gespielt hat“ (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 08.04.2016). Kunden, die Wert auf regionales Gemüse legen, greifen in den letzten Jahren lieber zu den kleineren, besser schmeckenden Sorten, auch wenn diese oft deutlich teurer sind. Gemüseproduzenten, die in Deutschland Tomaten anbauen, sprechen viel über den Geschmack: Man hofft, durch den regionalen Anbau von aromatischen Sorten einen höheren Preis erzielen zu können als die internationale Konkurrenz, die die Früchte in der Regel deutlich günstiger anbieten kann: „Das ist aber etwas, wo wir uns vom Ausland […] abheben wollen, dass
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wir nicht die Sorten produzieren, […] die den höchsten Ertrag bringen würden. Sondern wir produzieren die Sorte und auf die Art und Weise, dass wir einen bestmöglichen Geschmack haben. Und das ist auch für uns das Argument einfach, um ein paar Cent mehr zu bekommen im Laden“ (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 08.04.2016). Auch die Frische der Produkte soll ihren Beitrag zum optimalen Geschmack der Früchte leisten. Süddeutsche Tomatenproduzenten kehren den späten Erntezeitpunkt, die kurzen Lieferwege und die dadurch mögliche Frische ihrer Erzeugnisse heraus: Unsere [Tomaten] werden absolut reif geerntet. Am besten vormittags... nachmittags verpackt [Abb. 5.2.9] und abends ausgeliefert. Und am nächsten Tag liegen sie im Laden. Das ist so mal das Optimum. Kann natürlich auch mal bis zum zweiten Tag dauern. Aber das zeichnet unsere Ware ja auch aus, dass das halt wirklich reif geerntet wird. Die Geschmacksstoffe sind alle schon voll ausgebildet. Und dann schmeckt das Zeug halt besser. Interview mit einem Gemüseproduzenten, 08.04.2016
Als wichtige Voraussetzungen für einen guten Tomatengeschmack werden vor allem die Auswahl der Sorte und der Erntezeitpunkt der Früchte genannt. So schmecken kleinfrüchtige Sorten in der Regel besser als Sorten mit großen Früchten. Für einen guten Geschmack müssen bei der Sortenwahl Einbußen beim Ertrag in Kauf genommen werden. Und damit der Geschmack sich optimal entwickeln kann, soll die Rispe erst geerntet werden, wenn auch die jüngste Tomate bereits rot gefärbt ist. Zudem sind weitere Faktoren wie die Veredelung, die Düngung, der Salzgehalt im Gießwasser, die Wassermenge oder die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht Stellschrauben, die Einf luss auf den Geschmack haben. Der erdelose, hocheffiziente und digital unterstützte Anbau im Gewächshaus nach niederländischem Vorbild hat sich nicht nur für Tomaten etabliert – auch Paprika (Abb. 5.2.1), Auberginen und Gurken (Abb. 5.2.10) für den Großhandel wachsen in Deutschland unter sehr ähnlichen Bedingungen. Der Bau und die technischen Einrichtungen, die für die Pf lanzen die optimalen Produktionsbedingungen schaffen, haben ihren Preis: Pro Hektar Anbauf läche muss die Gemüsebauerin mit etwa einer Million Euro Kosten rechnen (Hendriks 2017). Ein Gewächshaus für den erdelosen Anbau von Gemüse ist also ein hoch spezialisiertes, technisches System, in dem mit höchster Effizienz unter maximaler Kontrolle Gemüse nach menschlichen
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Vorstellungen produziert wird. Zahlreiche Techniken werden eingesetzt, die alle darauf abzielen, das geerntete und verpackte Erzeugnis mit bestimmten angestrebten Eigenschaften auszustatten, die es auf seinem weiteren Lebensweg brauchen wird. Zu diesen im etablierten System des zentralisierten Lebensmittelhandels angestrebten Eigenschaften zählen in erster Linie ein günstiger Preis, eine gute Transportfähigkeit und Lagerfähigkeit und die Einheitlichkeit der Produkte. Weitere wichtige Ziele sind das attraktive Aussehen im Handel, die Frische der Erzeugnisse und – vor allem bei regionalen Tomaten – ein aromatischer Geschmack.
Apfelanbau Nicht nur beim Anbau von Tomaten, auch im Apfelanbau sind zahlreiche Techniken im Spiel, die dazu beitragen sollen, dass das fertige Produkt möglichst allen Qualitätsanforderungen gerecht wird. Äpfel für den Großhandel werden in Deutschland in Plantagen mit langen Reihen von niederstämmigen Bäumen angebaut. Die Bäume werden ca. 2,50 Meter hoch, so dass alle Arbeiten wie das Schneiden und die Ernte ohne Leitern ausgeführt werden können. Um das Wachstum der Bäume zu begrenzen, werden bei der Veredelung für solche Bäume schwachtriebige Unterlagen verwendet. Da auch ihr Wurzelwerk schwach ausgeprägt ist, haben diese Bäume nicht genügend Stabilität, um alleine zu stehen. Sie werden durch Pfähle oder Drahtanlagen gehalten (Strahlhofer 2002). Um eine gute Ernte sicherzustellen sind im Laufe eines Jahres zahlreiche Eingriffe bzw. Pf legemaßnahmen notwendig. Im Winter werden die Bäume geschnitten. Wenn sich dann im Frühjahr Blüten zeigen, hat der Pf lanzenschutz Hochsaison. Die Blüten müssen vor Schädlingen und Pf lanzenkrankheiten, vor allem vor dem Apfelwickler und dem Schorf, geschützt werden. „Nach der Blüte ist eigentlich das meiste rum“, sagt mir ein Apfelbauer (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Auch die Anzahl der Blüten pro Baum muss im Auge behalten werden: Auf einem Baum sollen in der Regel 100 bis 120 Äpfel wachsen. „Mehr schafft er einfach nicht“ (ebd.). Zu viele Äpfel auf einem Baum führen dazu, dass die Früchte nicht ausreichend groß werden und nicht richtig ausreifen. Wenn zu viele Blüten am Baum sind, wird deshalb in der Regel schon während der Blüte chemisch ausgedünnt: Ein Teil der Blüten wird verätzt, so dass die Anzahl der Blüten pro Baum reduziert wird (ebd.; Strahlhofer 2002).
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Die Bestäubung der Obstblüten übernehmen in der Regel Honigbienen: 75% der Apfelblüten werden von Bienen bestäubt (Strahlhofer 2002). Da viele Apfelsorten selbst-unfruchtbar sind, in einer Anlage aber oft auf sehr großen Flächen nur eine Sorte angebaut wird, müssen neben der Hauptsorte auch in regelmäßigen Abständen Bäume von Befruchtersorten gepf lanzt werden. Oft werden hierfür Zieräpfel verwendet: Sie blühen kräftig und nehmen nicht viel Platz in Anspruch (ebd.). Im Birnenanbau kann sich die Befruchtung der Blüten problematischer gestalten: „Da die Birnenblüte von den Bienen nicht so gerne aufgesucht wird, versucht man sie mit Lockstoffen (Anisöl 0,02%) in die Anlage zu locken“ (ebd., S. 55). Manche Birnensorten können jedoch auch ohne Befruchtung Früchte ohne Samen bilden. Diese Neigung kann gefördert werden, indem zur Blütezeit ein bestimmtes Pf lanzenhormon10 in der Anlage versprüht wird. Das Hormon signalisiert der Blüte, sie sei befruchtet worden und es bildet sich eine Frucht. Die entstehenden unbefruchteten Früchte unterscheiden sich in der Form leicht von den befruchteten Birnen: Während befruchtete Birnen die typische Birnenform aufweisen, sind die sogenannten jungfernfrüchtigen oder parthenokarpen Birnen eher gleichmäßig länglich bzw. walzenförmig geformt; zudem bilden sie kein Kernhaus aus (Schweinsberg 2019, S. 50; Feldnotizen, 18.05.2016; Feldnotizen, 09.08.2019). Weil die Färbung von Äpfeln in der Sortierung und damit für die Entlohnung der Obstbauerinnen ein zentrales Kriterium darstellt, wird in manchen Betrieben im Sommer ein Sommerriss durchgeführt: Wenn in den Apfelplantagen die Früchte an den Zweigen heranreifen, werden junge Wassertriebe, die viele Blätter tragen, von den Ästen gerissen. So erhalten die Äpfel mehr Sonne und können eine bessere Färbung entwickeln. In Abhängigkeit von Wetter und Zustand der Pf lanzen muss im Frühjahr und Sommer weiterhin Pf lanzenschutz betrieben werden (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Regelmäßig fährt dann ein Traktor mit einem Spritzaufsatz durch die Anlage und bekämpft Schädlinge und Pf lanzenkrankheiten, die ansonsten die äußere Qualität der Früchte entscheidend mindern würden. Schließlich gilt: “Nur Früchte mit hochwertiger Qualität finden am Markt einen Absatz und erzielen für den Produzenten zufriedenstellende Preise“ (Strahlhofer 2002, S. 72).
10 Der Wirkstoff nennt sich Gibberellin (Feldnotizen, 09.08.2019).
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Im August beginnt die Ernte der ersten Sorten. Der Erntezeitpunkt kann durch Messungen von Faktoren wie dem Zuckergehalt und Stärkeabbau im Fruchtf leisch oder der Festigkeit des Apfels ermittelt werden (Strahlhofer 2002). Mit ein bisschen Erfahrung kann ein Apfelbauer aber auch nach Geschmack und Aussehen entscheiden. Weil der Apfel unter Umständen noch viele Monate gelagert wird, muss vor Eintreten der Genussreife geerntet werden. So kann der Apfel noch ein wenig nachreifen und ist trotzdem nach 10 Monaten im Kühllager noch nicht überreif und unappetitlich. Wer Wert legt auf eine hohe Qualität, erntet nicht alle Äpfel zum selben Zeitpunkt, sondern jeden Apfel erst dann, wenn er erntereif ist. So wird ein Baum zweibis dreimal geerntet. Wenn dann zum Schluss „nur noch Schrott“ hängt (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015), wird dieser bei der letzten Ernte gepf lückt und in separaten Kisten für die Entsaftung gesammelt. Entscheidend für den Anbau einer Sorte ist für die Apfelbauern, dass es eine sichere Nachfrage gibt. Hier verlassen sich viele Obstbauerinnen auf die etablierten Sorten mit großen Marktanteilen. Schließlich ist das Pf lanzen einer Sorte im Apfelanbau eine langfristige Entscheidung und das Risiko einer Fehlinvestition lässt sich vermeiden, wenn man auf Sorten setzt, für die es eine große Nachfrage gibt. Apfelanlagen werden in der Regel 15 Jahre alt – dann sollte sich die Anlage gelohnt haben. Die Kosten einer Anlage von 20.000 bis 25.000 Euro pro Hektar werden über 15 Jahre abgeschrieben (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Wenn die Anlage länger steht, sind die Jahre 16 und 17 rentabler, da keine Kosten für die Anlage mehr anfallen. Doch mit den Jahren altern die Bäume. Nach und nach werden einzelne Pf lanzen krank und müssen gerodet werden. So bringt eine Reihe im Laufe der Jahre durch den Ausfall einzelner Bäume weniger Ertrag; gleichzeitig werden die Schnittkosten und der Pf legeaufwand immer höher. Irgendwann lohnt sich die Investition in eine neue Anlage, die wieder den vollen Ertrag bringt und weniger Arbeit macht (ebd.). Beim Anbau der Äpfel verfolgen Apfelbauern vor allem die Ziele, möglichst viele Äpfel mit einer hohen äußeren Qualität, das heißt in der richtigen Größe, mit einer guten Ausfärbung und ohne Krankheiten oder Schalenfehler zu einem günstigen Preis zu produzieren. Um diese Ziele zu erreichen, werden vom Schnitt der Bäume bis zum Einsatz von Insektiziden viele Techniken eingesetzt. So soll der Apfel nach der Ernte die Eigenschaften in sich vereinen, die auf seinem weiteren Lebensweg – in der Sortierung, im Handel und im Konsum – von Bedeutung sein werden.
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Herausforderung im Anbau: Kosten und Preise Die größte Herausforderung im Anbau von Obst und Gemüse besteht für viele meiner Gesprächspartnerinnen aus den Anbaubetrieben in dem Druck, kostengünstig zu produzieren (u.a. Interview mit einer Landwirtin, 29.10.2015, Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Die erlösten Preise für ihre Erzeugnisse sind in den letzten Jahren kaum gestiegen, die Kosten in der Produktion hingegen steigen stetig – beispielsweise durch die Einführung des Mindestlohns, aber auch durch den Einsatz von immer teureren spezialisierten Maschinen. Der Preisdruck entsteht vor allem auch durch den weltweiten Handel mit Lebensmitteln. Oft können Erzeuger aus dem Ausland günstiger liefern, zum Beispiel weil sie geringere Lohnkosten haben, oder auch weil andernorts andere Bestimmungen zu Pf lanzenschutzmitteln gelten. Der Druck, kostengünstig zu produzieren, ist im Anbau von Obst und Gemüse zu einem so zentralen Thema geworden, dass sich in Ratgebern und Handbüchern zum Obst- und Gemüsebau reihenweise Tipps zum Sparen sammeln. Ein Beispiel: Topf basilikum muss im Winter künstlich beleuchtet werden, da für ein gesundes und schnelles Wachstum der Pf lanzen zu wenig natürliches Sonnenlicht verfügbar ist. In einem Handbuch zum Gemüsebau ist hierzu zu lesen: „Die tägliche [künstliche] Belichtungsdauer sollte 7 Stunden von November bis Februar, und mindestens 4 Stunden im Oktober und März betragen. Aufgrund niedriger Nachttarife ist die Belichtung nachts kostengünstiger als tags“ (Laber & Lattauschke 2014, S. 524). Über die Beheizung von Tomatengewächshäusern lernt der Leser: „Die Gestaltung der Klimaparameter beim Tomatenanbau hängt sehr stark vom Gewächshaustyp, der zur Verfügung stehenden Heizung sowie von den Kosten für Heizmaterial ab“ (ebd., S. 451). Grundsätzlich gilt: „Die Betriebe sind auf die Anforderungen des stark preisorientierten Lebensmitteleinzelhandels ausgerichtet“ (ebd., S. 22). Entsprechend werden viele meiner Fragen von meinen Gesprächspartnern mit Verweisen auf die Wirtschaftlichkeit beantwortet. Die meisten Handlungsoptionen lassen sich berechnen – so findet man schnell heraus, welche von den möglichen alternativen Vorgehensweisen im Anbau diejenige ist, die die wenigsten Kosten verursacht und deshalb den höchsten Gewinn – oder in manchen Jahren den geringsten Verlust – verspricht. Ein Beispiel sind die Überlegungen eines Apfelbauers, der – wie in der Branche üblich – das chemische Ausdünnen der Blüten dem Abreißen der Äpfel von Hand vorzieht:
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Da gibt es so eine Faustzahl: pro Apfel, pro Baum, pro Hektar, also wenn ich einen Apfel [an] jedem Baum wegmache, dann dauert das Hektar eine Stunde. Wenn ich jetzt siebenhundert Äpfel an jedem Baum wegmache, dann brauche ich siebenhundert Stunden für ein Hektar, um die Äpfel wegzumachen. Da kannst du dir jetzt ausrechnen, […] wie viel Zeit das ist und […] was das kostet, wenn ich da jemand zahle, dafür, dass er es macht. Deshalb kann man quasi in der Blüte schon […] chemisch oder mechanisch […] was machen. Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015
Wie sich zeigt, handelt es sich beim Vorgehen der Akteure im Anbau nicht nur um die bloße Umsetzung der in der Züchtung definierten oder der vom Handel vorgegebenen Qualitätsmaßstäbe. Stattdessen können die Handlungen der Akteure im Anbau als ein ständiges Abwägen verschiedener angestrebter Merkmale – und damit als Gestaltung – verstanden werden. Täglich halten die Betriebsleiter der Anbaubetriebe die unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden, erwünschten Zielsetzungen in einer Balance: Einerseits soll der Ertrag möglichst hoch sein, andererseits soll der Geschmack möglichst wenig darunter leiden. Einerseits sollen die Früchte möglichst reif geerntet werden, damit die Geschmacksstoffe voll ausgebildet sind, andererseits sollen die Früchte auch nicht zu weich sein, damit sie Lagerung und Transport unbeschadet überstehen können. Auch wenn die Einkaufsbedingungen des Handels also wirkmächtige Maßstäbe für die Prozesse im Anbau darstellen, zeigt sich hier, dass die Akteure im Anbau ständig gefordert sind, in Abwägungen verschiedener sich widersprechender Ziele Entscheidungen zu treffen. Auch in dieser Phase des Prozesses bestehen damit gestalterische Handlungsspielräume und die Möglichkeit, sich für oder gegen die Verfolgung unterschiedlicher Optionen zu entscheiden. Die Betrachtung des Anbaus von Obst- und Gemüseerzeugnissen offenbart, wie im Laufe eines Jahres von den Akteuren im Anbau viele einzelne gestalterische Maßnahmen ergriffen werden, um die wachsenden Produkte nach den etablierten Vorstellungen von Qualität zu formen. Im erdelosen Tomatenanbau unter Glas tragen die digital gesteuerte Bewässerung, die Heizung, die bestäubenden Hummeln und die speziell entwickelten Hochleistungshybridsorten dazu bei, einheitliche, günstige, geschmackvolle, transport- und lagerfähige, frische und attraktive Erzeugnisse hervorzubringen. Im Anbau von Äpfeln im Freiland stellen Drahtanlagen, veredelte Pf lanzen, Pf lanzenschutzmittel und Befruchtersorten zusammen mit dem
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richtigen Schnitt der Bäume, einer klugen Wahl der Sorte und der zyklischen Erneuerung der Anlagen die günstige Produktion von erwartbaren, nachgefragten und gut ausgefärbten Äpfeln in der richtigen Größe und ohne Formund Schalenfehler sicher. Im Gewächshaus wie im Freiland zeigen die auf menschliche Zwecke hin optimierten Lebewesen durch die ständige Interaktion mit ihrer Umwelt und die zu vermeidenden Gefahren von Krankheit und Sterben einen hohen Bedarf an kontinuierlicher Pf lege. Damit stellen die involvierten Biofakte Bedingungen, die von den Akteuren im Anbau im Sinne einer erfolgreichen Produktion berücksichtigt werden müssen.
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Abbildung 5.3.1: Tafeltrauben der Klasse Extra im elektronischen Schadbildkatalog (BLE 2019b)
Abbildung 5.3.2: der Kontrolleur bei der Arbeit in einem Zentrallager
Abbildung 5.3.3: ein Apfel der Klasse „Extra“ im elektronischen Schadbildkatalog ELSKA 4.0 (AQOGS 2011)
Abbildung 5.3.4: Äpfel schwimmen durch das Wasserbad einer Sortieranlage
Abbildung 5.3.5: Apfelsortierung: Äpfel der gleichen Sortiergruppe sammeln sich in einer Wasserbahn
Abbildung 5.3.6: Farbfächer einer Bananenmarke für die Bestimmung des Reifegrades von Bananen
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5.3 Gestaltung durch die Regulierung Obst und Gemüse sind Pf lanzenteile, die menschliche Erwartungen erfüllen sollen. Dies wird deutlich in der Züchtung und im Anbau, aber auch – und auf besonders anschauliche Weise – in der Regulierung. Hier werden die menschlichen Erwartungen am deutlichsten greif bar – in Form von Normentexten, Bildern oder Grenzwerten, die die Qualität von Obst- und Gemüseerzeugnissen beschreiben sollen. Durch die Regulierung nehmen die zu Text, Zahlen und Bildern gewordenen Anforderungen von Händlerinnen und Verbrauchern Einf luss auf die Praxis der Sortierer, der Produzentinnen und der Züchter. In diesem Kapitel untersuche ich die Regulierung von Obst und Gemüse anhand von drei unterschiedlichen Instrumenten aus der Regulierungspraxis. Im ersten Teil erläutere ich die in der Europäischen Union (EU) geltenden Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse und beschreibe die Praxis der Kontrollen, durch die die Einhaltung dieser Normen überprüft wird. Der zweite Teil beschreibt den sogenannten „elektronischen Schadbildkatalog“, ein Hilfsinstrument, das die korrekte Entscheidung über mangelhafte Erzeugnisse erleichtern soll. Im dritten Teil beschreibe ich den Sortierprozess in einer fotografischen Apfelsortieranlage, die die Früchte auf der Basis von Bilddaten in verschiedene Qualitätskategorien sortiert. Durch diese Untersuchungen möchte ich herausarbeiten, wie Obst und Gemüse durch die gesetzliche Regulierung – aber auch durch die regulierenden Einkaufsbedingungen des Handels – gestaltet werden. Dabei stehen in dieser Phase nicht wie in den Phasen der Züchtung und des Anbaus die gestalterischen Entscheidungen einzelner Akteure im Vordergrund. Stattdessen betrachte ich die Regulierung als die zu Texten, Bildern und Grenzwerten gewordene Formulierung von kollektiven Vorstellungen von Qualität. Die Regulierung ist damit einerseits ein Ausdruck dessen, was sich menschliche Akteure von ihren lebendigen Lebensmitteln wünschen – also ein Ergebnis gestalterischer Erwägungen. Andererseits werden hier gestaltend wirksame Richtlinien formuliert, deren Umsetzung konkrete Auswirkungen auf die Materialität und Visualität der produzierten Erzeugnisse hat. In diesem Sinne spiegelt sich die Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen in vielfältiger Weise in der Regulierung. Ich beziehe mich bei meinen Beschreibungen im ersten Teil auf die Texte der Vermarktungsnormen und auf eigene Beobachtungen und Gespräche mit einem Kontrolleur, den ich bei seinen Kontrollfahrten zur Einhaltung
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der EU-Verordnungen begleitete. Im zweiten Teil untersuche ich Bildmaterial und Screenshots der Software ELSKA 4.0 und der darauf basierenden Onlineversion von ELSKA. Im dritten Teil, der den Sortierprozess von Äpfeln beschreibt, beziehe ich mich auf Beobachtungen, die ich bei meinem Besuch einer Sortieranlage machte, sowie auf ein Interview mit dem Sortiermeister und zwei weitere kurze Telefoninterviews mit der Geschäftsführerin des Obstgroßmarktes und Sortierbetriebes.
Die Vermarktungsnormen der EU und deren Kontrolle In den EU-Mitgliedsstaaten gelten Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse. Sie werden per Verordnung durch die EU-Kommission erlassen und betreffen alle Handelsstufen in den EU-Ländern wie auch die Aus- und Einfuhr von Obst und Gemüse. Die Vermarktungsnormen gelten für Erzeugnisse, die in frischem Zustand an den Verbraucher abgegeben werden. Die Normen sollen zu Überschaubarkeit, Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit des Angebots beitragen. Sie sollen eine objektive Beurteilung der Erzeugnisse ermöglichen und die Kommunikation über die Warenbeschaffenheit erleichtern (Bickelmann 2001, S. 4ff). Seit 2011 gelten vereinfachte Normen. Spezielle Vermarktungsnormen gibt es nur noch für zehn Erzeugnisse mit besonders großem Marktanteil: Für Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Gemüsepaprika, Kiwis, Pfirsiche und Nektarinen, Salate, Tafeltrauben, Tomaten und Zitrusfrüchte (BLE 2019a). Die speziellen Vermarktungsnormen enthalten Bestimmungen für Handelsklassen – also Klasse II, Klasse I und Klasse Extra. Die allgemeine Vermarktungsnorm gilt für alle Erzeugnisse, die unter keine der speziellen Vermarktungsnormen fallen.11 Sie definiert nur bestimmte Mindestanforderungen an Erzeugnisse. Diese umfassen folgende Ansprüche: Das Erzeugnis muss ganz, gesund, sauber, frei von Schädlingen, frei von Schäden durch Schädlinge, frei von anomaler äußerer Feuchtigkeit und frei von fremdem Geruch und Geschmack sein (DVO(EU) 543/2011a). Die speziellen Vermarktungsnormen enthalten zusätzliche Angaben zu für die hochwertigeren Klassen I oder Extra geltenden Bestimmungen zu Größensortierung, Toleranzen, Gleich11 Von der Geltung der allgemeinen Vermarktungsnorm ausgenommen sind beispielsweise Bananen und Wildpilze wie Pfifferlinge sowie Nüsse ohne Schale und Sprossen (DVO(EU) 543/2011d).
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mäßigkeit des Angebots wie auch zu Verpackung und Kennzeichnung der Ware. Für die Einteilung von Äpfeln in Güteklassen sind in der speziellen Vermarktungsnorm messbare Kriterien wie Größe, Färbung und Schalenfehler ausschlaggebend. Die Mindestgröße für alle Sorten beträgt in allen Güteklassen 60 mm im Durchmesser, wobei auch kleinere Früchte zulässig sind, „wenn der Brix-Wert12 des Erzeugnisses mindestens 10,5° Brix beträgt und die Größe nicht weniger als 50 mm bzw. 70 g beträgt“ (DVO(EU) 543/2011b, S. 7). Die Färbung betreffend gilt beispielsweise für die Sorte Elstar die „Färbungsgruppe C“, das heißt, dass in der Klasse Extra mindestens „1/3 der Gesamtf läche mit leicht rot verwaschener oder rot gestreifter Färbung“ (ebd., S. 4) erkennbar sein muss. Für die Klasse I werden mindestens 10 Prozent gefordert, für die Klasse II gibt es keine Mindestprozentzahl (ebd.). Auch bei der Berostung13 der Schale ist die Klasse II weniger anspruchsvoll und toleriert eine „fein genetzte Berostung auf höchstens der Hälfte der Gesamtf läche der Frucht“ (ebd., S. 6), wobei in Klasse I „höchstens 1/5 der Gesamtf läche der Frucht“ (ebd., S. 5) und in Klasse Extra lediglich eine „sehr leichte Berostung“ (ebd., S. 5) akzeptabel sind. In diesem Sinne definieren die Vermarktungsnormen die Qualitätskategorien von Obst und Gemüse in Form von messbaren Werten. Über die verpf lichtenden EU-Normen hinaus gibt es für 54 verschiedene Erzeugnisse die weltweit freiwillig anwendbaren Normen der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE-Normen), auf die sich der Handel beim Einkauf gerne bezieht, deren Einhaltung jedoch nicht staatlich überprüft wird (UNECE 2017). Die Vermarktungsnormen haben viele Vorteile für alle am Markt Beteiligten, wie die Befürworterinnen betonen: Sie setzen objektive, messbare Maßstäbe und erleichtern so die Kommunikation über die Qualität und den Preis der Ware bei nationalen und internationalen Transaktionen ohne vorherige Besichtigung (Bickelmann 2001, Bickelmann 2019). Zudem garantieren Normen eine gleichbleibende Qualität. Die Sortierung in Güteklassen macht das Angebot „einheitlicher, besser überschaubar und vergleichbar“ 12 Der Brix-Wert betrifft den Zuckergehalt einer Flüssigkeit. Ein hoher Brix-Wert steht daher für eine süße Frucht. Mit der Vorschrift zu einem gewissen Mindest-Brix-Wert soll gewährleistet werden, dass nur Äpfel in Umlauf kommen, die einen ausreichenden Reifegrad erreicht haben. 13 Zum Begriff der Berostung siehe Kapitel 1, Fußnote 1.
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(Bickelmann 2001, S. 5). Das ist vorteilhaft für den Handel und den Verbraucher. Für die Erzeugerin, die in Abhängigkeit von der Handelsklasse ihrer Erzeugnisse bezahlt wird, sind die Normierungen ein Ansporn, Erzeugnisse von hoher Qualität zu produzieren, wie schon im Kapitel zum Anbau deutlich wurde. Die Einhaltung der gesetzlich geltenden Normen wird durch die auf Landesebene organisierten staatlichen Kontrolldienste kontrolliert – in Bayern durch den Kontrolldienst der bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft. Ich habe die Gelegenheit, an zwei Tagen einen Kontrolleur auf seinen Fahrten zu begleiten (Abb. 5.3.2). Er und seine Kollegen kontrollieren ca. 8000 Betriebe, darunter ungefähr 1000 Erzeuger, 1000 Sortierbetriebe und Zentrallager und 6000 Einzelhändlerinnen. Der Kontrolleur macht diesen Job seit knapp 30 Jahren. Ein Mitarbeiter eines Zentrallagers, das wir gemeinsam besuchen, nennt ihn den „Dinosaurier der Obst- und Gemüsekontrolle“ (Feldnotizen, 18.05.2016). Der Kontrolleur kennt die Branche wie kein anderer. Er kennt die am Markt erhältlichen Sorten aller Erzeugnisse. Er erkennt an jedem Produkt, in welchem Land es wie angebaut worden ist. Er kann den chinesischen und den spanischen Knoblauch unterscheiden: Beim chinesischen sind die Wurzeln am unteren Ende ausgeschabt. Paprikaschoten kommen aus Marokko, wenn der Stiel abgeschnitten ist; holländische Produzenten ernten die Frucht mit Stiel. Er weiß, wie die Birnen aus den verschiedenen Regionen aussehen, weil er weiß, wo es viel geregnet hat. Er weiß, wo die Erzeugerinnen mit Dürre und Schädlingen zu kämpfen haben. Er kennt die Saison und weiß, ab welcher Woche welche Regionen welche Ware liefern können. Die bayerischen Erzeuger kennt er mit Namen und er hat jeden auch schon einmal kontrolliert. Er weiß, wer welche Qualität liefert und mit wem es schon ab und zu Probleme gab. Durch sein breites Expertenwissen fungiert der Kontrolleur auch als Verbraucherschützer: Ähnlich wie im konventionellen Designkontext der gewerbliche Rechtsschutz Hersteller und Verbraucher von Markenartikeln vor Fälschungen schützt, sieht es der Kontrolleur als seine Aufgabe, die Verbraucher vor Betrug mit falschen Herkunftsangaben zu schützen. Seine Kenntnis der Alleinstellungsmerkmale oder Markenzeichen der Anbauregionen ermöglicht es ihm, falschen Herkunftsangaben auf die Spur zu kommen (Feldnotizen, 29.04.2016).
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An den beiden Tagen kontrollieren wir zehn verschiedene Betriebe: ein Kopf- und zwei Zentrallager14, dazu sieben Einzelhändler, also Supermärkte und Discounter. In allen Betrieben schaut sich der Kontrolleur alle vorhandenen Obst- und Gemüseartikel an und kontrolliert deren Qualität und Auszeichnung. Dabei entnimmt er nach dem Zufallsprinzip aus verschiedenen Paletten verschiedene Packstücke und kontrolliert den Zustand und die Kennzeichnung der enthaltenen Ware. Bei den Einzelhändlerinnen gibt es fast in jedem Betrieb kleinere Dinge zu beanstanden: Einmal wird der frische Kurkuma mit der Herkunftsangabe „Bulgarien“ verkauft. Dem Kontrolleur fällt sofort auf, dass das nicht stimmen kann: Kurkuma ist ein tropisches Gewächs. In diesem Fall kommt er aus Thailand, wie wir später herausfinden. In anderen Betrieben bemerkt er angefaulte gelbe Paprika in marokkanischen Dreierpacks oder überreife Avocados, an deren Stielansatz sich bereits Schimmel entwickelt. In einem der zehn kontrollierten Betriebe verhängt der Kontrolleur ein Bußgeld. Ihm fallen neben einigen fehlerhaften Auszeichnungen auch verdorbene Karotten, Mandarinen und Avocados auf. Über eine solche Häufung von Verderb kann er nicht hinwegsehen; die Einzelhändlerin muss ein Bußgeld in Höhe von 40 Euro bezahlen. Der Kontrolleur ist von der Nützlichkeit der Vermarktungsnormen überzeugt. Er meint: „Es ist auch niemandem geholfen, wenn Dinge angebaut und angeboten werden, die der Konsument so nicht haben möchte. Der Markt soll dem Konsumenten Produkte in guter Qualität anbieten. Denn wenn die Qualität nicht gut ist, bleibt die Ware liegen und wird dann weggeworfen“ (Feldnotizen, 18.05.2016). Er kontrolliert aus Überzeugung. Durch die Vermarktungsnormen und die Kontrollen wird sichergestellt, dass die Ware, die den Konsumenten in den Supermärkten zum Kauf angeboten wird, von hoher Qualität ist. Und die Verbraucherin wird vor Betrügereien mit falschen Herkunftsangaben geschützt. Bickelmann (2019) betont übereinstimmend: „Wenn man die EU- und UNECE-Normen und die Kontrollmethode der EU-Verordnung anwendet, wird eine sachgerechte, faire Kon-
14 Ein Kopflager ist ein Lager, das wenige (z.B. 15) besonders umsatzstarke Obst- und Gemüseprodukte einkauft und die eintreffenden Lieferungen dann an die verschiedenen deutschlandweit positionierten Zentrallager aufteilt und weiterverschickt. Mit diesem Vorgehen wird das Ziel verfolgt, durch die Bestellung besonders großer Mengen bei den Erzeugern günstigere Preise zu erhalten.
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trolle durchgeführt. Die Verbraucher*innen erhalten ein gutes Lebensmittel und der Handel gelingt auf fairen Grundlagen“ (ebd., S. 7). In den Vermarktungsnormen der EU und in der Praxis der Kontrollen zu ihrer Einhaltung wird also das Ziel verfolgt, Richtlinien für die an messbaren Faktoren orientierte Beurteilung der Qualität von Obst- und Gemüseprodukten zu formulieren und damit zur Erwartbarkeit der Qualität der lebendigen Produkte beizutragen. Die Betrachtung macht deutlich, dass in den gesetzlich geltenden Vermarktungsnormen kein reines technisch-ökonomisches Soseinmüssen (Geiger 2018, S. 293) zum Ausdruck kommt, sondern dass hier menschliche Wünsche und Erwartungen an das Aussehen und damit verbundene Vorstellungen von Frische und Geschmack formuliert werden sollen. Die Handlungsspielräume der Akteure des Marktes sollen durch die Formulierung kollektiver Qualitätsvorstellungen eingeschränkt werden – mit dem Ziel, durch die formulierten Richtlinien gestaltend auf die produzierten und vermarkteten Erzeugnisse einzuwirken.
Der elektronische Schadbildkatalog Ein Hilfsmittel für die staatliche und betriebseigene Qualitätskontrolle bei Obst und Gemüse ist der sogenannte elektronische Schadbildkatalog ELSKA. Er unterstützt deutschlandweit Händlerinnen, Erzeuger und Kontrolleurinnen dabei, die Qualität ihrer Erzeugnisse korrekt einzuschätzen und bei eventuellen Mängeln die richtigen Entscheidungen zu treffen. Im zweiten Abschnitt untersuche ich diesen Bilderkatalog als ein Instrument der Regulierung. Der Schadbildkatalog wurde erstellt und gepf legt in Zusammenarbeit von verschiedenen staatlich finanzierten Experten zu Obst und Gemüse, unter anderem von einer Arbeitsgemeinschaft der Kontrollstellen des Bundes und der Länder. Ursprünglich wurde ELSKA als Software für Windows-Rechner (Abb. 5.3.7) auf DVD vertrieben (Arbeitskreis Qualitätskontrolle bei Obst, Gemüse und Speisekartoffeln 2011). Inzwischen gibt es auch eine Online-Version des Schadbildkataloges (Abb. 5.3.8), die von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung herausgegeben wird (BLE 2019b). In meiner Analyse beziehe ich mich auf beide Versionen. Die Funktionsweise sowie der größte Teil des Bildmaterials und auch die zugehörigen Bilderläuterungen sind im Wesentlichen in beiden Versionen gleich.
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Abbildung 5.3.7: die Sof tware ELSKA 4.0 (AQOGS 2011)
Abbildung 5.3.8: die Webanwendung ELSKA (BLE 2019b)
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ELSKA ist ein Katalog von Bildern, die hauptsächlich Obst und Gemüse mit Mängeln zeigen. In den dazugehörigen Bilderläuterungen wird beschrieben, wie mit dem betroffenen Erzeugnis korrekt umzugehen ist: Ist es Klasse I oder Klasse II oder ist es Ausschuss? Beworben wird der Schadbildkatalog als „schnelle, visuelle Entscheidungshilfe bei der Qualitätskontrolle von frischem Obst und Gemüse“ (Bastian 2014, S. 3). Der Werbetext nennt als weitere Vorteile, dass der elektronische Schadbildkatalog „eine einheitliche, objektive Auslegung der Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse“ (ebd.) fördert. Er [...] unterstützt Erzeuger, Händler und Qualitätskontrolleure […] bei der täglichen qualitativen Beurteilung von frischem Obst und Gemüse, gibt Sicherheit bei der Bewertung der verschiedenen Kriterien und fördert die harmonisierte Auslegung der Vermarktungsnormen. Bastian 2014, S. 3
Anhand des Kataloges können also Erzeugerinnen überprüfen, wie ihre Erzeugnisse aussehen müssen, um in einer bestimmten Handelsklasse verkauft werden zu können; Händler können entscheiden, ob die Ware der Bestellung entspricht und Verbraucherinnen können im funktionierenden System davon ausgehen, dass sie hochwertige und gesunde Lebensmittel in den Läden vorfinden. Betrachten wir das Interface des Schadbildkataloges ELSKA 4.0 genauer (Abb. 5.3.3; Abb. 5.3.9-14): Auf der linken Seite sehen wir zunächst oben ein Drop-down-Menü, das das Auswählen eines Erzeugnisses ermöglicht. Für jedes Erzeugnis ist es in dieser Variante möglich, die Bilder und Normtexte nach den verbindlichen EU-Normen oder den freiwillig anwendbaren UNECE-Normen anzuzeigen. Unter der Auswahl der Erzeugnisse sehen wir einen Strukturbaum, der je nach ausgewählter Norm strukturiert ist. Beispielhaft lässt sich diese Struktur nachvollziehen an der Abbildung eines Apfels (Abb. 5.3.3), der in diesem Fall nach der speziellen Vermarktungsnorm der EU in der Klasse Extra zulässig ist. Hier geht es um die Berostung des Apfels, d.h. um die bräunliche raue Oberf lächenstruktur auf seiner Schale. Die dargestellte Berostung ist in diesem Umfang für diese Sorte zulässig in der Klasse Extra. Ein grüner Smiley neben dem Bildtitel im Strukturbaum deutet darauf hin, dass das abgebildete Erzeugnis sich nicht durch einen
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Abbildung 5.3.9: die Reife einer Pflaume wird an der Färbung sichtbar (AQOGS 2011)
Abbildung 5.3.10: Wann ist ein Lauch „sauber“? (AQOGS 2011)
Abbildung 5.3.11: Schadbilder bei Karotten: Fraßstellen, Bruch, Frostschäden (AQOGS 2011)
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Mangel auszeichnet. Über jedem Bild steht eine knappe Erläuterung. Sie sagt aus, was dargestellt ist; falls ein Mangel dargestellt ist, wie der Mangel einzuordnen ist, und ob und in welchem Rahmen er zulässig ist. Es werden (1) Art des Mangels, (2) konkrete Beschreibung des Mangels und (3) Konsequenz genannt; zum Beispiel: „nicht gesund (Kälteschaden) – unzulässig“ (Arbeitskreis Qualitätskontrolle bei Obst, Gemüse und Speisekartoffeln 2011). Im Zentrum des Schadbildkataloges stehen die Abbildungen der Schadbilder in Form von Fotografien. Die Früchte sind in der Regel in einer vollkommen konstruierten Darstellungsform ohne Kontext auf blauem Hintergrund fotografiert. Dieser Hintergrund erzeugt einen guten Kontrast zu fast allen Erzeugnissen. Es wird deutlich, dass es auf den Bildern um die visuelle Produkterscheinung der einzelnen Früchte geht. Was unmittelbar sichtbar wird, ist nicht der Kontext; es sind nicht die geltenden Konventionen und auch nicht die nicht-visuellen Merkmale wie Geschmack oder Konsistenz, sondern lediglich die visuelle Erscheinung eines konkreten Produktes. Dabei fungieren die dargestellten einzelnen Früchte immer als Beispiel für einen bestimmten häufiger auftretenden Produktzustand. Bei der Darstellung der visuellen Produkterscheinung geht es jedoch in den wenigsten Fällen um die reine visuelle Attraktivität, also beispielsweise um das richtige, das attraktive Rot einer Tomate. Bei der noch grünen Pf laume (Abb. 5.3.9) dient die Farbe als Indiz für die mangelnde Reife und damit auch für die mangelnde Entwicklung und den mangelnden Geschmack der Frucht. Der starke Erdbesatz im Schaft von Lauch (Abb. 5.3.10) führt zu erhöhtem Aufwand bei der Zubereitung und mindert daher die Produktqualität. Und die durch Risse, Brüche oder Fraßstellen beschädigten Karotten (Abb. 5.3.11) haben ein höheres Risiko für Fäulnis und Verderb und verursachen zudem – durch die Notwendigkeit des Ausschneidens der Beschädigungen – unnötige zusätzliche Lebensmittelverluste. Die visuellen Merkmale werden also stets als Indiz für andere Eigenschaften, vor allem für Mängel wie mangelnde Reife, Überentwicklung, Verderb oder Schädlingsbefall verwendet. Im Schadbildkatalog sind sowohl gute, erstklassige Waren, als auch mangelhafte dokumentiert (Abb. 5.3.11). Wenn man deren Anzahl pro Erzeugnis vergleicht, stellt man jedoch fest, dass es sehr viel mehr Abbildungen von mangelhafter als von einwandfreier Ware gibt. Das Gute wird in nur einem Bild dargestellt, jeder mögliche Mangel als Abweichung vom Guten erfordert ein eigenes Bild. Damit ist der Schadbildkatalog ein Katalog der
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Abbildung 5.3.12: ein „ziemlich gut geformter Eissalat“ (AQOGS 2011)
Abbildung 5.3.13: der blaue Hintergrund ist nicht normiert (AQOGS 2011)
Abbildung 5.3.14: Ein-Euro-Münze als Größenreferenz (AQOGS 2011)
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Mängel. Er zeugt von einer Logik der Standardisierung, in der der Standard ein festgelegtes, klar definierbares und immer gleiches Aussehen hat, wobei jede zu große Abweichung von diesem Standard katalogisiert wird.15 Die Bilder des Schadbildkataloges haben vor allem die Aufgabe, die schriftlichen Vermarktungsnormen zu präzisieren: Einige Ausdrücke in den Normtexten haben einen großen Interpretationsspielraum. Was zum Beispiel ist ein „ziemlich gut geformter“ Eissalat? Das wird in einem Bild (Abb. 5.3.12) auf einen Blick gezeigt. Der abgebildete Eissalat ist „ziemlich gut geformt“ und damit noch handelbar in Klasse II. Beispiele dieser Art gibt es viele: Was genau heißt „ausreichend entwickelt“ bzw. „überentwickelt“, wenn es um Fenchel geht? Was heißt „reif“ bei einer Pf laume (Abb. 5.3.9), was heißt „sauber“ in Bezug auf Lauch (Abb. 5.3.10)? Was ist ein „zufrieden stellender Zustand“ in Bezug auf verschiedene Erzeugnisse? All diese Begriffe aus den Normtexten werden nur verständlich, wenn sie mit Beispielbildern erläutert werden. Ein Bild zeigt auf einen Blick, was in Worten schwer zu beschreiben und auch geschrieben im Alltagsgeschäft schwer zu handhaben wäre. So ist der Schadbildkatalog ein Instrument, das mithilfe von Abbildungen präzisiert, was in den Normtexten nicht präzise genug formuliert werden kann. Die Funktionsweise von Bildern, Zusammenhänge schnell und präzise zu vermitteln, ist ein Potential, das in der gestalterischen Praxis umfassend genutzt wird – für Gestalter ist der Gedanke, den Zustand von Produkten durch Fotografien festzuhalten und zu kommunizieren, daher durchaus naheliegend. Vikki Bell (2012) stellt dieses Potential ebenfalls fest und betrachtet es im Hinblick auf den Einsatz von Fotografien in soziologischen Studien. Sie schreibt, Fotografie mache die Welt sichtbar; sie übermittle die Wirklichkeit in präziser Weise und gehe damit über die Möglichkeiten des geschriebenen Wortes hinaus (ebd., S. 147). Doch die Wahl der Fotografie als Kommunikationsmittel bringt auch Implikationen mit sich, die für die Gestaltung von Obst und Gemüse nicht ohne Folgen bleiben. Noch stärker als die Normtexte selbst konzentriert sich der auf Bildern basierende Schadbildkatalog damit nämlich auf die Beschreibung und Kategorisierung des Sichtbaren. Daraus resultiert auch, 15 Auf die Notwendigkeit der Standardisierung, die sich als charakteristisches Merkmal des weltweiten Handels mit industriell hergestellten Waren auch für Obst- und Gemüseerzeugnisse durchgesetzt hat, wird in Kapitel 6 ausführlicher eingegangen.
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dass die Normierung und Regulierung dort am besten greift, wo es um sichtbare Mängel geht. Schalenfehler, Formfehler, Färbung, Größe, Fäulnis und Schädlingsbefall lassen sich fotografieren. Dadurch können sie auch leicht katalogisiert und reguliert werden. Dies führt wiederum dazu, dass weitere Techniken eingesetzt werden, um die Entstehung eben dieser sichtbaren Mängel zu verhindern. Was nicht abgebildet werden kann, wie zum Beispiel ein mangelhafter, fader Geschmack oder ein Mangel der Konsistenz – Merkmale, die sich nicht immer in der Farbe äußern – ist sehr viel schwieriger zu regulieren. Vor dem Hintergrund der visuellen Produktbeurteilung entziehen sich Faktoren wie Geschmack und Konsistenz durch ihre Nicht-Sichbarkeit gewissermaßen der Regulierung. Zum Geschmack lesen wir in der allgemeinen (DVO(EU) 543/2011a, S. 3), wie auch in den speziellen Vermarktungsnormen (z.B. DVO(EU) 543/2011b, S. 3) lediglich, die Erzeugnisse sollen „frei von fremdem Geruch und/oder Geschmack“ sein. Die Konsistenz wird in den Vermarktungsnormen gar nicht explizit genannt, es wird nur die Forderung formuliert, dass der Zustand der Erzeugnisse es erlauben muss, dass sie „Transport und Hantierung aushalten und in zufrieden stellendem Zustand am Bestimmungsort ankommen“ (DVO(EU) 543/2011a, S. 3). Die Angaben zu beiden Qualitätsmerkmalen werden nicht annähernd in der Tiefe und Präzision formuliert wie die Beschreibungen des Visuellen. Zudem können beide nicht durch Bildmaterial präzisiert werden – und der gewählte Umweg über die Darstellung von der mit Geschmack und Konsistenz verknüpften Färbung der Früchte oder anderer sichtbarer Merkmale funktioniert nicht immer. Damit wird deutlich, dass auf diesem Wege die visuelle Produkterscheinung ein größeres Gewicht erhält als Geschmack und Konsistenz an sich. Während die große Bedeutung der visuellen Produkterscheinung für die Vermarktung von industriell produzierten Konsumgütern dem Industrial Design zu einem hohen wirtschaftlichen Stellenwert verholfen hat, stellt genau dieser Punkt auch einen Ausgangspunkt für anhaltende Kontroversen im Designdiskurs dar. Gerade hier finden sich zahlreiche Vertreter, die sich gegen die Überbewertung von visuellen Merkmalen aussprechen und gegen die Reduktion des Design auf das visuelle „Anhübschen“ von Waren ankämpfen (vgl. z.B. Unger-Büttner & Palatini 2015).16 16 Dieses Ringen um die Bedeutung der visuellen Produkterscheinung im Design wird in Kapitel 6.6 eingehender zur Sprache gebracht.
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Als weiterer Punkt fällt mir als Gestalterin bei der Betrachtung der Bildsammlung auf, dass unter den Fotografien der Mängel auch einige Darstellungen mit sehr schlechter Bildqualität sind. Es ist erkennbar, dass ein großer Teil der Bilder nicht von professionellen Fotografen gemacht wurde; die Darstellungen offenbaren zahlreiche mit Sicherheit unbeabsichtigte Mängel in der Darstellungsqualität. Einige der Bilder sind unscharf, manche zeigen einen seltsamen Ausschnitt. Nicht alle sind vor blauem Hintergrund fotografiert; manche sind schlecht beleuchtet oder zeigen einen Schlagschatten. Es gibt keinen einheitlichen Weißabgleich. Der blaue Hintergrund ist – im Gegensatz zu den Erzeugnissen – offensichtlich nicht normiert (Abb. 5.3.13). Als bemerkenswert erscheinen mir auch die zum größten Teil improvisiert wirkenden Größenreferenzen im Bild, wie zum Beispiel die Ein-Euro-Münze, die neben die Packung Bratpaprika gelegt wird (Abb. 5.3.14). Oft sind auch Lineale oder Meterstäbe zu sehen, die anzeigen, wie lang der geschossene Trieb in einem Chicoree ist. Papierstücke in der Größe eines Quadratzentimeters zeigen an, dass der Schalenfehler kleiner als ein Quadratzentimeter ist, was entsprechend der speziellen Vermarktungsnorm bedeutet, dass diese Kiwi noch in Klasse I gehandelt werden darf. Der Schadbildkatalog ist also eine Sammlung von gelegentlich entstandenen Amateurfotografien. Dieser Umstand verweist auf die grundlegende Bedingung der Lebendigkeit, die die Gestaltung von Obst und Gemüse maßgeblich prägt. Denn selbst wenn man die Absicht hätte, alle dargestellten Mängel professionell fotografieren zu lassen: Diese scheinbar triviale Aufgabe würde sich schnell als große Herausforderung herausstellen. Ware mit ganz speziellen Mängeln kann nicht geplant fotografiert werden, sondern nur spontan, in den seltenen Gelegenheiten, wenn sie angetroffen wird. Zudem ist der einmal festgestellte Mangel f lüchtig; er unterliegt der ständigen Veränderung. Ein mangelhaftes Erzeugnis kann nicht an eine Fotografin verschickt werden, die es zwei Tage später fotografiert: Das Bild würde dann nicht mehr das selbe zeigen. So verweist die mangelhafte Bildqualität der Darstellungen im Schadbildkatalog auf die Lebendigkeit der gezeigten Gegenstände: Die Qualität – oder Mangelhaftigkeit – von Obst und Gemüse ist nicht in gleicher Weise vorhersehbar und steuerbar und damit abbildbar, wie das bei nicht lebendigen Artefakten der Fall wäre. Insgesamt offenbart die Betrachtung der Funktionsweise des Schadbildkataloges die immense Bedeutung der Sichtbarkeit von Qualitätsfaktoren. Die Regulierung der Qualität von Obst und Gemüse konzentriert sich – vor
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allem aus Gründen der einfachen Umsetzbarkeit – auf die Beschreibung und Kategorisierung von Sichtbarem. Dies gilt nicht nur im Falle des Schadbildkatalogs – auch an anderen Beispielen in der Praxis der Qualitätseinstufung lässt sich die Bedeutung der Sichtbarkeit von Qualitätsfaktoren feststellen. Im Folgenden beschreibe ich die Sortierung von Äpfeln in einer Apfelsortieranlage. Auch hier wird Produktqualität als eine Kombination von bestimmten sichtbaren Merkmalen konstruiert.
Die Apfelsortieranlage Fotografische Sortieranlagen sind Instrumente, in denen die Vorgaben der staatlichen Regulierung und die Einkaufsbedingungen der Großhändler auf die tatsächlich geernteten, vielfältigen Erzeugnisse treffen. Genau wie der Schadbildkatalog zielen Sortieranlagen darauf ab, die Qualität von Erzeugnissen anhand der Auswertung von Fotografien zu fassen. Die konkrete Anlage (Abb. 5.3.4 & 5.3.5), die ich nun im dritten Abschnitt als Beispiel beschreiben möchte, steht am Rand einer kleinen Ortschaft am Bodensee. In einer großen Halle werden dort täglich 180 bis 200 Tonnen Äpfel einer Erzeugergemeinschaft sortiert und für die Auslieferung verpackt. In der Halle ist es kühl und laut. Und es riecht nach frischen Äpfeln. Der Sortiermeister zeigt mir seine Anlage persönlich (Abb. 5.3.15). Nach der Ernte werden die Äpfel in großen Kisten zu 300 Kilogramm in Kühlhäusern eingelagert (1). Nebeneinander stapeln sich dort die Kisten mit sechzehn verschiedenen Apfelsorten, von Delbarestivale über Boskoop bis Idared. In den Lagern herrschen in einer kontrollierten Atmosphäre mit zwei bis vier Grad Celsius, einer hohen Luftfeuchtigkeit und einem geringen Sauerstoffgehalt optimale Bedingungen für eine lange Haltbarkeit der Äpfel. Der Reifungsprozess wird hier nahezu angehalten. Nur so lassen sich die Äpfel über mehrere Monate genussreif lagern. Wenn eine neue Bestellung über den Vertrieb ins Haus kommt, werden einzelne Kisten mit dem Gabelstapler aus dem Lager geholt, gewogen und für die Sortierung bereitgestellt (2). Am Tag meines Besuches werden Äpfel der Sorte Elstar sortiert. Eine große grüne Kiste steht bereit für die Nassentleerung. Dann wandert sie langsam auf einer Schräge in das Wasserbad (3). Der Apfel, leichter als Wasser, schwimmt aus der Kiste heraus und begibt sich in der Wasserbahn auf seinen Weg durch die Anlage. Die Förderung der Äpfel im Wasserbad gilt
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als besonders schonend. Im gesamten Sortierprozess sollen die Äpfel keinen Schaden durch Druckstellen nehmen.
Abbildung 5.3.15: Grundriss der Sortierhalle
Die erste Station, die der Apfel durchschwimmt, ist eine Sortierkammer (4). Dort mustern zwei Mitarbeiterinnen die fauligen Exemplare von Hand aus. Trotz der optimalen Lagerbedingungen kann bei der monatelangen Lagerung Fäulnis auftreten. Da die ansonsten spitzfindige Sortieranlage Fäulnis nicht erkennen kann, muss der automatisierte Prozess an dieser Stelle durch Handarbeit ergänzt werden. Nachdem die fauligen Früchte aussortiert wurden, schwimmen die für den Verzehr brauchbaren Äpfel weiter und gelangen zu einem Förderband, das sie durch die zweite Sortierkammer schleust (5). Diese ist kleiner, ca. 1,5 Meter lang. Und sie funktioniert ganz ohne menschliches Zutun: In hoher Geschwindigkeit laufen die Äpfel in acht parallelen Bahnen durch die hell ausgeleuchtete Kammer. Über den Bahnen sind 32 Kameras installiert. Die Hälfte davon macht Schwarzweißaufnahmen, die andere Hälfte produziert Farbbilder. So werden von jedem Apfel 60 Aufnahmen gemacht. Die digitalen Bilder werden ausgewertet im „Herzstück der
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Maschine“, wie der Sortiermeister es nennt (Interview mit einem Sortiermeister, 08.03.2016). Das Herzstück (6) ist für Außenstehende ein recht unscheinbarer Kasten: Ein Schrank in hellgrau, in etwa zwei Meter hoch und einen halben Meter breit. Darin befindet sich ein Computer, der darauf programmiert wurde, die Qualität der Äpfel zu bestimmen. Er wertet alle 60 digitalen Aufnahmen jedes Apfels aus. Aus den Bilddaten berechnet er die Größe, die Farbe und die Schalenfehler jeder Frucht. Obwohl der gesamte Prozess in der zweiten Sortierkammer über die Auswertung von Aufnahmen funktioniert, werden die Bilder selbst nicht sichtbar. Das System wertet die Bilddaten aus – ohne sie anzuzeigen – und sofort danach werden sie auch wieder gelöscht. Nach dem Kamerakasten wird jeder Apfel in einer Übergabeeinheit (7) hängend gewogen und schließlich in eine kleine, schwarze Kunststoffschale gesetzt. Der Computer hat die Bilder bereits parallel ausgewertet und dem Apfel präzise Zahlenwerte zugeordnet, die seinen Rotanteil, seinen Durchmesser, seine Schalenfehler und sein Gewicht betreffen. Nun kann der Apfel kategorisiert werden; die Daten des Apfels werden mit den Forderungen der Sortiergruppen abgeglichen und der Apfel wird – zunächst virtuell – in eine Sortiergruppe einsortiert. Jede Sortiergruppe hat genaue Anforderungen an Größe, Gewicht, Rotanteil und zulässige Schalenfehler. Alle Äpfel, die derselben Sortiergruppe zugeordnet wurden, sammeln sich anschließend in einer von 45 parallel angeordneten Wasserbahnen (8). Der so kategorisierte und eingruppierte Apfel überquert also in seiner Kunststoffschale die 45 Wasserbahnen (9). Genau über der richtigen Bahn klappt die Schale nach unten weg und lässt den Apfel fallen. Er plumst ins Wasser und schwimmt zum Ende der Bahn. Wenn sich in einer Wasserbahn schließlich 300 Kilogramm homogene Äpfel gesammelt haben, wird sie entleert und die Äpfel landen über einen Vakuumbefüller (10) wieder in einem großen Behälter (11). Dort warten sie auf den nächsten Arbeitsschritt: Das Befüllen der Verkaufsverpackungen für die Märkte. Für die Bestimmung des Wertes jedes einzelnen Apfels arbeitet das Sortiersystem des Anlagenherstellers Greefa mit einem bildgebenden Verfahren. Das niederländische Unternehmen, einer der Marktführer in der Obst- und Gemüsesortiertechnologie, liefert sowohl die Sortieranlagen als auch die in den Anlagen eingesetzte Software mit dem Namen „intelligent quality sorter“ (iQS). Ein kurzes, auf der Webseite von Greefa abruf bares Video (Abb. 5.3.16) erklärt das Sortiersystem: „iQS determines the external
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characteristics of a fruit. While the fruit rotates under the camera box, the cameras make 60 images of its skin. Software analyses these shots, and defects are projected onto a geomodel“ (Greefa 2012).
Abbildung 5.3.16: Screenshot aus dem Online-Werbevideo für die Sof tware iQS (Greefa 2012)
Hochauf lösende Fotokameras produzieren Farb- und Schwarzweißaufnahmen von jedem Apfel. Die digitalen Bilder werden auf drei Kriterien hin untersucht: Farbe, Größe und Schalenfehler. Der Anteil der rot gefärbten Schalenoberf läche wird in Prozent ausgegeben. Je höher der gemessene Rotanteil an der gesamten Fruchtoberf läche, desto wertvoller ist der Apfel. Bei der Sorte Elstar wird in vier Abstufungen von Rotanteilen sortiert: Null bis zehn Prozent, zehn bis dreißig Prozent, dreißig bis sechzig Prozent und sechzig bis hundert Prozent. Die Größe der Frucht bezieht sich auf den größten Durchmesser jedes Apfels, gemessen senkrecht zur angenommenen Fruchtachse. Der Durchmesser wird berechnet als Mittelwert aus einer Vielzahl von Maßen, die aus den digitalen Bildern ausgelesen werden. Schließlich geben die Bilder auch Auskunft über Schalenfehler wie Berostung, Hagelschäden oder Sonnenbrand. Deren Größe und Häufigkeit wird durch die Auswertung der Fotografien bestimmt. Auf den Aufnahmen sind Defekte der Schale bis zu einer minimalen Größe von einem Quadratmillimeter erkennbar. Während zu Beginn des genannten Werbevideos noch von der Bestimmung der „external characteristics of a fruit“ (Greefa 2012) die Rede ist, geht es einige Sekunden später explizit um die Feststellung der Qualität: „The
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high resolution cameras are able to read the quality of the fruits very precisely“ (ebd.). Es wird also auch hier beansprucht, die Qualität der Früchte über die Auswertung von visuellen Parametern messen zu können. Auf diese Weise werden die Fotografien eines Apfels in Zahlenwerte umgewandelt, die sich wiederum über Grenzwerte sehr leicht in Sortiergruppen einteilen lassen. Das Sortiersystem leistet hier Übersetzungsarbeit, es wandelt Informationen um. Vom Objekt führt der Weg über Bilddaten zur Kombination an Zahlenwerten. Mit der Zuordnung der Zahlenwerte zu einer Sortiergruppe wird der wirtschaftliche Wert festgelegt, für den ein Kilogramm Äpfel dieser Sortiergruppe verkauft werden kann. Hier resultiert das unterschiedliche Aussehen der Früchte in sehr unterschiedlichen Preisen der Ware: Kleine Äpfel der Sorte Gala Royal mit 60mm Durchmesser werden zum Beispiel für 45 Cent pro Kilogramm weiterverkauft, Äpfel mit 75 bis 80 mm Durchmesser für 75 Cent pro Kilogramm (Interview mit der Geschäftsführerin eines Sortierbetriebes, 27.04.2016). Den beschriebenen Sortierprozess durchlaufen alle Äpfel, die über den Großhandel in Supermärkte und Discounter gelangen. Unsortierte Ware ist selten geworden; man findet sie nur – ausgezeichnet als Handelsklasse II – bei Direktvermarktern und bei manchen kleinen Obst- und Gemüsehändlern. Doch nicht nur Äpfel, sondern auch Kartoffeln, Zwiebeln, Birnen, Orangen und viele weitere Erzeugnisse werden weltweit in solchen fotografischen Sortieranlagen in Qualitätskategorien eingestuft. Aber woher kommen die Vorgaben zur Qualität, die die tägliche Sortierpraxis tatsächlich bestimmen? Vertreterinnen der Sortierbetriebe und des Handels verweisen bei dieser Frage gerne auf die gesetzlich geltenden EU-Normen; doch in der Betrachtung der Praxis erweisen sich andere Faktoren als maßgeblich. Wie verhält sich die Praxis des Großhandels zu den gesetzlich geltenden Normen?
Die Vermarktungsnormen und die Praxis des Großhandels Die Sortierpraxis von Äpfeln macht einen Zusammenhang deutlich, der so für weite Teile des Handels mit Obst- und Gemüseerzeugnissen gilt: Obwohl es für Äpfel nur drei geltende Handelsklassen gibt (Klasse II, Klasse I, Klasse Extra), werden die Früchte der Sorte Elstar in der fotografischen Sortieranlage in 24 verschiedene Sortiergruppen sortiert. Die Handelsklassen der Normen finden sich zwar in den Sortiergruppen wieder, doch die
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Sortiergruppen umfassen noch viel weiter ausdifferenzierte Abstufungen zu Größe, Gewicht, Farbe und Schalenfehler. Auch wenn laut Norm beispielsweise für diese Sorte in Klasse Extra nur 1/3 der Fruchtoberf läche von einer roten Färbung gekennzeichnet sein muss, werden die Äpfel mit 60100% Rotanteil in eine noch hochwertigere Kategorie sortiert. Und Äpfel mit einem Durchmesser zwischen 50 und 60mm, die bei einem entsprechenden Zuckergehalt laut Norm eigentlich noch vermarktbar wären, werden in der Sortieranlage als „Mostobst“ aussortiert. Diese anspruchsvolle Sortierpraxis wird notwendig aufgrund der Einkaufsbedingungen der Einkäufer für Supermarktketten. Wenn Supermarktketten Äpfel einkaufen, dann kaufen sie nicht einfach Äpfel der Klasse I. Die nachgefragte Ware wird genau und ausführlich beschrieben. Zusätzlich zur Handelsklasse legen die Vertreter der Handeslkonzerne im Einkauf fest, welche Ursprungsländer, welche Färbung, welche Größensortierung, welcher Brix-Wert, welche Festigkeit und welche Verpackungsart für sie akzeptabel sind (Feldnotizen, 29.09.2016). An der Sortierpraxis von Äpfeln wird also sichtbar, dass die Einkaufsbedingungen des Großhandels äußerst wirkmächtige Vorgaben umfassen, die sich als deutlich anspruchsvoller und detaillierter erweisen als die gesetzlich geltenden Normen. In den vorangegangenen Abschnitten habe ich drei verschiedene Instrumente untersucht, die zur Regulierung von Obst und Gemüse in Deutschland beitragen. Die Vermarktungsnormen der EU beschreiben von staatlicher Seite die Qualität von pf lanzlichen Erzeugnissen in Form von Text und Zahlen. Die Qualität soll dadurch messbar werden. Im Schadbildkatalog wird in Form von Bildern verdeutlicht, was im Normentext nicht ausreichend präzise formuliert werden kann. In einer Sortieranlage werden Äpfel durch einen automatisierten Sortierprozess in Qualitätskategorien eingestuft. Die Anlage funktioniert anhand der softwaregestützten Auswertung von Fotografien – auch hier werden also Qualitätskategorien anhand von objektiv messbaren Merkmalen der visuellen Produkterscheinung definiert. Ein Ergebnis dieser Untersuchung besteht demnach in der Beobachtung, dass die Produktqualität von Obst und Gemüse von Seiten der gesetzlich geltenden Normen, aber auch in der Praxis des Handels, zu allererst durch die Beurteilung des Aussehens des Erzeugnisses festgestellt wird. Die richtige visuelle Produkterscheinung – charakterisiert durch ein makelloses Äußeres und die Einheitlichkeit in der Aufmachung – ist das zentrale Kriterium, das für das Gesetz und im Alltag des Handels für die Beurteilung der Qua-
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lität genutzt wird. Auf die Fragen, wie sich diese zentrale Rolle der visuellen Produkterscheinung in allen Phasen des Produktionsprozesses niederschlägt und was das für das etablierte Verständnis von Qualität bedeutet, möchte ich in Kapitel 6 umfassender eingehen. Insgesamt wird in der Betrachtung der drei Regulierungsinstrumente zudem deutlich, dass diese Werkzeuge kein rein technisch-ökonomisches Sosoeinmüssen zu fassen versuchen, sondern stattdessen die menschlichen Wünsche und Erwartungen an gewachsene Lebensmittel verkörpern. Damit handelt es sich bei den regulierenden Vorschriften um Ergebnisse gestalterischer Erwägungen. In ihrer Anwendung werden die Werkzeuge der Regulierung gleichzeitig zu gestaltend wirkmächtigen Instrumenten: Die in die Farbfächer, in die Sortiersoftware und in die Bildersammlungen eingeschriebenen und damit stabilisierten Vorstellungen von Qualität wirken in der Folge alltäglich gestaltend auf die Waren ein – einerseits, indem sie die Sortierung der geernteten Erzeugnisse bestimmen, andererseits, indem die Produzentinnen ihre Praxis im Anbau auf möglichst profitable Sortierergebnisse ausrichten. Die verschiedenen Instrumente der Regulierung lassen sich also gleichzeitig als Ergebnisse und als Werkzeuge von Gestaltung betrachten.
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Abbildung 5.4.1: bayerischer Salat im Großhandel
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Abbildung 5.4.2: unreife italienische Nektarinen werden aus dem Verkehr gezogen
Abbildung 5.4.3: spanische Rispentomaten in einem Kopflager
Abbildung 5.4.4: Äpfel vom Bodensee in einem Zentrallager
Abbildung 5.4.5: Frühlingszwiebeln warten auf den Weitertransport
Abbildung 5.4.6: im Handel zeigt sich, was für die Kunden zählt
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5.4 Gestaltung im Handel Von der Gestaltung durch den Handel zu sprechen, mag auf den ersten Blick – vor allem aus der Perspektive des herkömmlichen Produktdesign – abwegig erscheinen: Stattdessen könnte man davon ausgehen, die Gestaltung von Obst und Gemüse sei abgeschlossen bevor die Erzeugnisse im Handel ankommen. Die Sorten sind längst gezüchtet, die Samen sind gesät, die Pf lanzen sind gewachsen, die Früchte sind geerntet, vielleicht gewaschen und sortiert, dann verpackt und mit den korrekten Angaben zu Herkunft und Handelsklasse versehen. Das Produkt ist fertig; bereit zum Konsum. Doch auch wenn in der Phase des Handels die Materialität der Erzeugnisse selbst nicht mehr wesentlich manipuliert wird, erweisen sich die Entscheidungen und Handlungen von Händlern und Konsumentinnen als wirkmächtiger Faktor für den gesamten Produktionsprozess. Im Handel wird entschieden, unter welchen Bedingungen Erzeugnisse vermarktbar sind. Die Akteure des Handels gestalten Obst- und Gemüseerzeugnisse durch die Formulierung von Einkaufsbedingungen, durch Bestellungen, Kontrollen und das Zurückschicken von als mangelhaft eingestufter Ware; außerdem durch Inszenieren und Aussortieren. So wirken sich die Ansprüche des Handels auch in der Sortierung, im Anbau und in der Sortenzüchtung aus. Im folgenden Kapitel möchte ich daher die Phase des Handels genauer untersuchen und dabei die Wirkmächtigkeit der Handlungen von Händlerinnen und Konsumenten im Gestaltungsprozess von Obst und Gemüse herausarbeiten. Als Grundlage für meine Betrachtung dienen mir in diesem Abschnitt drei Interviews mit Einzelhändlern; darunter eines mit der Leiterin eines unabhängigen Biosupermarktes, eines mit dem Geschäftsführer eines Feinkosthandels und eines mit einer leitenden Mitarbeiterin einer größeren Supermarktfiliale. Zudem führte ich im Rahmen der Begleitung von Kontrollen auch Gespräche mit einigen Mitarbeitern im Groß- und Einzelhandel, unter anderem mit einer Mitarbeiterin eines Discounters und mit einer weiteren Mitarbeiterin eines großen Supermarktes. Auch mit zwei Einkäufern in einem Supermarkt-Zentrallager konnte ich sprechen; einer davon war zudem bereit, einige Fragen per E-Mail zu beantworten. Zusätzlich zu den Gesprächen mit Händlerinnen beziehe ich mich in diesem Kapitel auch auf Gespräche mit Erzeugern, die aus ihrer Perspektive über die Zusammenarbeit mit dem Handel erzählten. Diese Daten werden ergänzt durch Fotos und Beobachtungen, die ich ebenfalls bei den Kontrollen der Händler und
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auch bei vielen weiteren Besuchen bei verschiedenen Händlerinnen machen konnte. Schließlich beziehe ich mich in diesem Abschnitt auch auf Literatur und Statistiken zum Markt für Obst und Gemüse in Deutschland. Zunächst möchte ich mit der Zentralisierung der Handelskonzerne und dem weltweiten Handel mit frischen Lebensmitteln auf zwei Faktoren eingehen, die den Handel mit Obst und Gemüse aktuell prägen und die damit den Hintergrund für meine empirischen Betrachtungen bilden. Anschließend beschreibe ich die alltäglichen Abläufe in verschiedenen Kontexten des Groß- und Einzelhandels auf der Basis meiner Beobachtungen und Gespräche mit Händlerinnen. Ein nochmaliger Blick auf meine Gespräche mit Experten aus dem Anbau macht schließlich anschaulich, wie folgenreich die Entscheidung für einen Vertriebsweg für die Prioritäten im Anbau ist. Auch wenn die Händlerinnen selbst also nicht direkt auf die wachsenden Erzeugnisse einwirken, gestalten sie durch die Formulierung der Einkaufsbedingungen die Prioritäten der Akteure in den drei vorgelagerten Phasen.
Zentralisierung der Handelskonzerne und weltweiter Handel Um über die Gestaltungsmacht der Akteure im Handel nachzudenken, möchte ich zunächst einen Blick auf die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland werfen: Die Deutschen kaufen den Großteil ihrer Lebensmittel im Supermarkt (64%) oder im Discounter (35%). Einige Verbraucher kaufen auch einen großen Teil im Fachgeschäft (30%), im Bioladen (11%), auf dem Markt (9%) oder im Hof laden (7%) (BMEL 2017). Ungefähr 75% des Marktes im deutschen Lebensmitteleinzelhandel werden von fünf großen Unternehmen bestritten: Marktführer ist die EDEKA-Gruppe mit 26,2% Marktanteil, darauf folgt die Rewe-Gruppe mit 16,1%. Die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kauf land kommt auf 15,7%, gefolgt von der Aldi-Gruppe mit 12,0%. Die Metro-Gruppe hat einen Marktanteil von 4,8% (TradeDimensions 2019). So beherrschen wenige Konzerne einen Großteil des Marktes. Eingekauft wird in jedem dieser Unternehmen zentral: Durch den Einkauf großer Mengen sollen die Preise der Waren niedrig gehalten und die Logistik vereinfacht werden. Aus Erzeugerperspektive sind die Einkäuferinnen der Handelskonzerne in einer sehr mächtigen Position. In einer Zeit des weltweiten Handels und des Überangebots an Lebensmitteln sind ihre Ansprüche die Regeln, die vorgeben, was gehandelt werden kann und was nicht (vgl. Ponte & Gibbon 2005, S. 22).
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Zusätzlich zu der starken Zentralisierung ist der weltweite Transport von frischen Waren zu einem bestimmenden Faktor für den Obst- und Gemüsehandel geworden (vgl. Morgan et al. 2006, S. 9). In deutschen Supermärkten werden dem Konsumenten im März recht unabhängig von Saisonalität und Regionalität hunderte von Obst- und Gemüseartikeln aus allen möglichen Ursprungsländern angeboten: Der Ingwer kommt aus China, die Zuckerschoten aus Simbabwe, der frische Koriander aus Portugal und die Paprikaschoten aus Marokko. Dass Obst und Gemüse weltweit gehandelt werden, zeigt sich jedoch nicht nur in der Auswahl, die deutschen Verbraucherinnen im Supermarkt zum Kauf angeboten wird. Der weltweite Handel hat auch Konsequenzen für die deutschen Erzeuger. Für einen Apfelproduzenten ist der weltweite Handel mit seinen Früchten unnachvollziehbar und sinnlos. Während Deutschland Äpfel aus Neuseeland importiert, werden deutsche Äpfel in arabische Länder exportiert. Er kommentiert: „Was das für einen Sinn macht, das hat mir noch keiner sagen können“ (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Auch politische Entscheidungen beeinf lussen den internationalen Handel mit Lebensmitteln: Im Jahr 2014 fuhren europäische Apfelbauern Rekordernten ein. Gleichzeitig beschloss die EU ein Embargo gegen Russland: Äpfel aus der EU durften nicht mehr nach Russland geliefert werden. Die deutschen Erzeuger fürchteten, dass polnische Äpfel, die sonst oft nach Russland verkauft werden, den deutschen Markt überschwemmen würden und boten ihre Früchte daher schon kurz nach der Ernte zu niedrigsten Preisen an. Der Apfelbauer beklagt, in diesem Jahr seien „die Preise einfach katastrophal schlecht“ gewesen (ebd.). Trotz der großen Ernte erwirtschafteten viele Erzeuger in diesem Jahr Verluste. Auch der Preis von Kartoffeln orientiert sich am Weltmarkt: Wenn international das Angebot groß ist, dann fallen auch für die deutschen Erzeuger die Preise. Eine Landwirtin erzählt: „Letztes Jahr gab es viele Kartoffeln. Und dann ist ja in der Landwirtschaft alles ein Weltmarktpreis. Alles [ist] durch das Ausland beeinf lusst […]. Und wenn es dann im Ausland auch viel gibt, dann sind die Preise niedrig“ (Interview mit einer Landwirtin, 30.10.2015). Der weltweite Handel mit Lebensmitteln bildet also zusammen mit der starken Zentralisierung von Handelskonzernen den Hintergrund für den Obst- und Gemüsemarkt, auf dem zwischen der Nachfrage der Konsumenten und dem Angebot der Erzeugerinnen vermittelt wird.
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Im Folgenden beschreibe ich den Alltag im Handel: zunächst im Großhandel, danach in verschiedenen Situationen des Einzelhandels. Die Unterschiede in der täglichen Praxis in den verschiedenen Kontexten des Handels weisen bereits darauf hin, dass jede Form des Handels eigenen Qualitätskonventionen folgt und demnach auch eigene Anforderungen an die Ware mit sich bringt.
Großhandel Im Großhandel findet der Einkauf von Obst und Gemüse zentralisiert statt. Der Einkauf läuft nicht über die einzelnen Märkte, auch nicht über die einzelnen Zentrallager, sondern über Einkäufer, die das gesamte Sortiment von Obst und Gemüse für mehrere Zentrallager in einer Region verantworten.17 Die Einkäufer haben die Aufgabe, Produkte, Mengen und Preise für das gesamte Sortiment mit zuverlässigen Lieferantinnen abzustimmen. Durch die Zentralisierung des Einkaufs wird die Logistik vereinfacht. Die Bestellung großer Mengen dient der Einsparung von Transport- und Verwaltungsaufwand und ermöglicht damit geringere Preise für die Ware. Weil die Einkäufer über so große Mengen von Erzeugnissen entscheiden, bündelt sich in ihrer Position in besonderer Weise Macht über die Materialität von Obst und Gemüse: Die Beschreibungen der Artikel, die den Bestellungen der Einkäufer zugrunde liegen, sind die Ansprüche, die definieren, wie ein Produkt beschaffen sein muss, um Zutritt zu diesen riesigen Märkten zu erhalten. Ein Einkäufer für einen Handelskonzern gibt mir einen Einblick in seine Arbeit. Er ist verantwortlich für den Einkauf des ca. 650 verschiedene Artikel umfassenden Obst- und Gemüsesortiments für eine deutsche Region mit fünf Zentrallagerstandorten. Das Geschäft der Bestellungen lässt sich einteilen in Jahressortimente und wöchentliche Offerten. Jahressortimente betreffen größere Lieferantinnen, die über längere Zeiträume im Jahr bestimmte Artikel liefern. Mit diesen Lieferantinnen werden feste Partner-
17 Manche Supermarktketten zentralisieren selbst auf der Ebene der Zentrallager noch weiter: Sie bestellen eine geringe Anzahl von besonders häufig nachgefragten Artikeln aus dem Ausland – wie zum Beispiel spanische Strauchtomaten oder marokkanische Paprika – in großen Mengen zunächst in ein Kopflager, um die Lieferung dann aufzuteilen und an die einzelnen Zentrallager weiter zu schicken (Feldnotizen, 29.09.2016).
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schaften aufgebaut; es wird bereits Monate im Voraus besprochen, welche Artikel in welchen Mengen zu welchen Preisen in welchen Zeiträumen geliefert werden sollen. Diese langfristigen Absprachen garantieren dem Handelskonzern die Verfügbarkeit der nachgefragten Artikel zu festen Preisen; die Produzentin ihrerseits kann auf bauend auf diese Absprachen ihren Anbau planen. Im Geschäft mit den wöchentlichen Offerten hingegen geht es um Angebote aus saisonal wechselnden Ursprungsländern – vor allem in der Wintersaison. Hier werden Abnahmemengen und Preise jede Woche neu verhandelt. Hat der Einkauf die Sortimente und grobe Abnahmemengen mit den Lieferanten abgestimmt, werden die Artikel im digitalen Warenwirtschaftssystem des Handelskonzerns hinterlegt und können von der Disposition für die einzelnen Zentrallager bei den Lieferanten bestellt werden. Täglich wird bestellt und geliefert. Der Einkäufer betont die langfristigen Partnerschaften, die er zu seinen Lieferanten auf baut. Er arbeitet mit einem festen Stamm von Lieferanten zusammen – denn die verlässliche Zusammenarbeit sei „die Basis erfolgreichen Handelns“ (E-Mail Kommunikation mit einem Einkäufer am 25.02.2019). In einem aufwändigen Verfahren wird darüber entschieden, wer als Lieferantin für die Supermarktkette aufgenommen wird. Grundsätzliche Bedingung für den Eintritt in diesen riesigen Markt ist, dass die Lieferantin in der Lage ist, kontinuierlich große Mengen an Produkten in gleichbleibender Qualität zu liefern. Zudem muss die Lieferantin eine Reihe von zusätzlichen Ansprüchen erfüllen. Je nach Produkt muss sie bestimmte Zertifizierungen nachweisen. Die Produkte müssen in regelmäßigen Abständen durch unabhängige Laboranalysen überprüft und die Prüf berichte an den Handelskonzern weitergegeben werden. Die Produktionsstätten werden von Vertreterinnen des Handelskonzerns besichtigt. All diese Punkte f ließen in die Entscheidungsfindung mit ein (ebd.). Eine besondere Herausforderung im Großhandel mit Obst und Gemüse liegt in der richtigen Abschätzung der nachgefragten Mengen für jeden Artikel: Die Ware darf nicht ausgehen, denn sonst können die einzelnen Märkte nicht beliefert werden; es sollte aber auch nicht zu viel Ware vorrätig sein, denn sie altert schnell und wird dadurch schon bald unverkäuf lich. Die Mitarbeiter in der Disposition der Zentrallager haben daher das Ziel, jeden Artikel in der richtigen Menge vorrätig zu haben. Besonders schwierig ist das, weil die Mitarbeiter im Zentrallager die Nachfrage in den Märkten bereits vorhersehen müssen, noch bevor die Verbraucherinnen ihre Entscheidun-
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gen getroffen oder die Leiterinnen der einzelnen Märkte ihre Bestellungen aufgegeben haben. Die Disponenten müssen vorausdenken: Sie bestellen vier Tage im Voraus in Spanien, zwei bis drei Tage im Voraus in Holland, und einen bis zwei Tage im Voraus in Deutschland. Dann bleibt zu hoffen, dass alles ausreicht und nichts zu viel ist. Die einzelnen Märkte bestellen nur kurzfristig, einen Tag vorher, beim Zentrallager. Die fünf Zentrallager der Region helfen sich jedoch auch täglich gegenseitig aus, wenn sich die Disponenten bei einzelnen Posten verkalkuliert haben: Die 50 Kisten Tomaten, die im einen Lager zu viel sind, fehlen vielleicht in einem anderen und werden dann geliefert. Die Mitarbeiterinnen in der Disposition brauchen einige Jahre Erfahrung, um alle Faktoren – von der Witterung bis hin zu Bräuchen an Feiertagen – im Blick zu haben und die stark schwankende Nachfrage zuverlässig einschätzen zu können. Beispielsweise muss eine Disponentin wissen, dass bei 30 Grad und Sonnenschein immense Mengen an Wassermelonen gekauft werden; und sie muss vorhersehen, dass die benötigten Mengen an Mandarinen und Nüssen für den Nikolaustag die sonst üblichen Stückzahlen um ein Vielfaches übersteigen (Feldnotizen, 29.09.2016). Jeder Artikel in dem von dem Einkäufer betreuten Obst- und Gemüsesortiment ist in Form einer präzisen Beschreibung im digitalen Warenwirtschaftssystem des Handelskonzerns gespeichert. Eine solche Beschreibung umfasst vielfältige Merkmale. Zusätzlich zur Vorgabe der nachgefragten Sorte wird beispielsweise bei Äpfeln definiert, wie der Artikel aussieht, also welche Farbe („≥ 35% rot gefärbt“) und welche Größensortierung (70 bis 85mm Durchmesser, in 5mm-Schritten sortiert) er aufweisen soll, wo er herkommt (10 Lieferländer von Argentinien über Südafrika bis Deutschland) und wie er verpackt sein soll („Jede Frucht mit einem […] Sticker mit Geschmacksrichtung und Sorte“). Die Beschreibung legt die geforderte Handelsklasse fest (I) und fordert einen gewissen Mindest-Brix-Wert (≥ 12°) und eine bestimmte Festigkeit der Früchte (4,5-5,5 kg/cm²) (Feldfotografie, 29.09.2016). Durch die Formulierung von solchen präzisen, nachprüf baren Beschreibungen, die über viele Monate konstant bleiben, bestimmt der Handelskonzern, was in seinem System vermarktbar ist und was nicht. Die Spezifikationen dienen als Richtschnur für die Lieferanten und auch als Grundlage für die Wareneingangskontrolle. Ein etabliertes Instrument, mit dem der Handel Einf luss nimmt auf seine Lieferanten, ist das Zurückschicken der Ware im Fall von Mängeln. In jedem Kopf- und Zentrallager und bei jedem unabhängigen Einzelhändler
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gibt es für ankommende Lieferungen eine Wareneingangskontrolle. Sie ist notwendig, da die Ware ohne vorherige Besichtigung bestellt wird. Eine betriebseigene Kontrolleurin prüft, ob die ankommende Ware der Bestellung entspricht. Wenn die Qualität nicht stimmt, wird die Ware nicht angenommen. Im Zentrallager hat die betriebsinterne Qualitätskontrolle einen hohen Stellenwert. Im Gespräch mit zwei Einkäufern erfahre ich davon, dass vor Kurzem noch eine zweite Kraft für die Wareneingangskontrolle eingestellt wurde. Denn immer wenn der bisherige Kontrolleur durch Urlaub oder Krankheit nicht im Betrieb sein konnte, gab es Probleme mit der Qualität. Für das Unternehmen ist die Qualitätskontrolle am Wareneingang essentiell – durch die Vermeidung der Annahme von mangelhafter Ware finanziert sich die neue Stelle nach Einschätzung der Einkäufer von alleine (Feldnotizen, 29.09.2016). Ein Beispiel für eine nicht angenommene Lieferung bemerke ich während einer Kontrolle in einem Kopf lager. Auf einem Tisch am Wareneingang liegen die Reste von einer Charge Nektarinen aus Italien (Abb. 5.4.2). Sie sind klein, sehr hart und grün. Der Wareneingangskontrolleur des Betriebes hat die Ware abgewiesen; die Früchte waren nicht genügend reif. Diese Entscheidung wird legitimiert durch die EU-Vermarktungsnorm für Pfirsiche und Nektarinen, die besagt, dass „die Früchte genügend entwickelt sein und einen ausreichenden Reifegrad aufweisen“ müssen (DVO(EU) 543/2011c, S. 4). Doch gerade zu Beginn einer Saison ist es für viele Produzenten verlockend, die Früchte etwas früher zu ernten. Da die Preise für Steinobst im Frühjahr noch höher sind, zahlt es sich aus, der Erste zu sein, der frische europäische Nektarinen liefern kann. In diesem Fall jedoch hat der Erzeuger sich verkalkuliert: Er hat die Früchte zu früh geerntet. Nach ihrem Wachstum am Baum, der Ernte, der Sortierung und Verpackung und ihrem langen Weg nach Deutschland werden sie vom Wareneingangskontrolleur abgewiesen. Sie fahren wieder zurück zum Erzeuger, der dann entscheiden darf, was er mit den unreifen, aber nicht mehr frischen Früchten anfängt. Wenn er es nicht schafft, eine Käuferin zu finden, wird er seine Ernte wohl in einer Biogasanlage oder auf einer Müllhalde entsorgen müssen. Die Praxis des Großhandels, mangelhafte Lieferungen nicht anzunehmen, ist in der Branche üblich und bei Erzeugerinnen und Lieferanten gefürchtet. Der Sortiermeister eines Apfelsortierbetriebes erklärt: „Wir müssen halt im Prinzip top Ware abliefern und wenn du keine top Ware ablieferst, dann kann es halt sein, dass das wieder zurück geht“ (Interview mit einem Sortiermeister,
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08.03.2016). Der Kontrolleur, den ich begleite, gibt jedoch im Falle der unreifen Nektarinen der Entscheidung des Wareneingangskontrolleurs recht: Er findet, der Erzeuger müsse auch eine Rückmeldung dazu bekommen, dass seine Früchte in diesem Zustand an den Erwartungen der Verbraucherinnen vorbeigehen. Die Verantwortung für seine falsche Entscheidung über den Erntezeitpunkt müsse der Erzeuger selbst tragen (Feldnotizen, 18.05.2016). Für die Begründung von Entscheidungen über das Zurückschicken von mangelhafter Ware werden von Seite der Handelskonzerne gerne die EU-Vermarktungsnormen angeführt (z.B. E-Mail Kommunikation mit einem Einkäufer am 25.02.2019). Ein Angestellter eines Obstgroßhändlers spricht dagegen davon, dass die Vermarktungsnormen immer einen Deutungsspielraum lassen, und es immer auch von der persönlichen Interpretation des Wareneingangskontrolleurs abhängt, ob eine Lieferung angenommen oder abgelehnt wird: Das kommt dann nachher auf den […] Kontrolleur an, der […] im Markt drinnen ist. Wenn dem halt irgendwas nicht passt... […] [Früher,] da hat es einen Kontrolleur gegeben in dem Markt, der hat absolut keine gelben Golden [Delicious] mögen. Und wenn du halt doch mal geliefert hast, weil die werden halt relativ schnell gelb in den Bäumen, hast du das Ding halt wieder mitgenommen... Ja, so ist das. Interview mit einem Sortiermeister, 08.03.2016
Das Zurückschicken von mangelhaften Lieferungen ist demnach ein Instrument, mit dem der Handel seine Qualitätsansprüche stabilisiert und seine Lieferanten diszipliniert. Damit nehmen die Vertreterinnen des Handels auf wirkungsvolle Weise gestalterisch Einf luss auf die Materialität und Visualität der gehandelten Erzeugnisse.
Einzelhandel Im Großhandel werden Obst und Gemüse gestaltet – von der Bestellung bis zur Wareneingangskontrolle. Doch erst im Einzelhandel kommt die gesamte Produktionskette an ihr Ziel: Die Erzeugnisse treffen auf die Konsumenten. Hier muss sich der Wert der Produkte bewahrheiten; hier muss das Erzeugnis die Kundin zum Kauf überzeugen. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über den Alltag im Einzelhandel für Obst und Gemüse in
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vier verschiedenen Kontexten. Ich beschreibe die Abläufe im Discounter und im Supermarkt, im Bioladen und im Feinkostladen und gehe dabei auf die unterschiedlichen Arten der Inszenierung von Obst- und Gemüseprodukten ein. Da in den beiden letzten Kontexten von den Marktleitern mehrfach das eigene Anderssein hervorgehoben wird, betrachte ich diese beiden Situationen des Handels vor allem im Hinblick auf die Art, wie sie alternative Qualitätskonventionen in die Tat umsetzen.
Discounter Im Discounter werden die Waren minimalistisch präsentiert. Die Erzeugnisse liegen in Pappkisten, die sich auf Paletten stapeln. Die allermeisten Erzeugnisse sind verpackt und mit Barcodes versehen, was eine schnellere Bearbeitung an der Kasse ermöglicht. Der Preis der Artikel spielt eine wichtige Rolle für die Kaufentscheidung. Er steht in großen Ziffern auf DinA4-großen Papierschildern, die über der Ware hängen (Abb. 5.4.6). Die Filialleiterin eines Discounters erzählt mir, worauf in ihrem Alltag im Handel mit Obst und Gemüse zu achten ist. An jedem Tag bestellt sie neue Ware beim Zentrallager. Das Ziel ist es auch hier, die Nachfrage richtig einzuschätzen und genau so viel zu bestellen, wie dann auch verkauft werden kann. Viele Artikel wie Kopfsalat, Champignons, Rucolasalat und Himbeeren sind Tagesartikel. Sie dürfen nur an einem Tag verkauft werden. Wenn sie nicht verkauft werden, werden sie entsorgt. Dementsprechend ist die schwankende und kaum vorhersehbare Nachfrage eine große Herausforderung für die Filialleiterin. Am einen Tag ist von einem Artikel viel zu wenig vorrätig, sie bestellt viel nach; doch am nächsten Tag wird kaum etwas verkauft und die Ware bleibt übrig. Die Nachfrage ist abhängig vom Wochentag: Während Samstag und Montag die Wochentage mit dem höchsten Umsatz sind, ist am Dienstag und Mittwoch oft nur sehr wenig Kundschaft im Laden. Auch Umstände wie die Urlaubszeit, das Wetter und die Lage des Ladens prägen die Nachfrage. Für die Filialleiterin sind die Obst- und Gemüsebestellungen ein „Rätselspiel“ (Feldnotizen, 29.09.2016): Man muss nach Gefühl bestellen. Erfahrung ist hilfreich, aber man muss trotzdem immer auf Überraschungen gefasst sein. Die Obst- und Gemüsef läche muss regelmäßig gepf legt werden: Ca. alle drei Stunden muss ein Mitarbeiter durchgehen und aussortieren, leere Kartons entfernen, mangelhafte Ware entsorgen und neue Ware nachfüllen. Überschüssige Bestände am Ende des Tages sollen möglichst vermieden
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werden. Deshalb wird ab 13.00 Uhr überprüft, bei welchen Artikeln noch zu viel Ware im Lager ist – diese Artikel werden dann von Hand reduziert. Rote, handgeschriebene Zettel mit kleinen Preisen in großen Ziffern werden an die Preisschilder geklemmt, um die Kundinnen zu motivieren, mehr zu kaufen – damit im Laden weniger entsorgt werden muss. „Da ist jeder Cent was wert“, sagt die Filialleiterin (Feldnotizen, 29.09.2016). Im Discounter wird Qualität vor allem als Frische verstanden; und die Frische wird kontrolliert über die Losnummern auf den Verpackungen. Die Losnummer gibt Auskunft darüber, an welchem Tag das Produkt vom Produzenten geerntet und verpackt worden ist. Was die falsche Losnummer hat, darf nicht mehr angeboten werden – hier ist der Handelskonzern sehr strikt mit seinen Filialmitarbeitern. Mit dieser Konzentration auf die Frische nimmt Obst und Gemüse eine Sonderstellung im Sortiment ein. Im Discounter wird die Gefahr der sich verändernden Qualität lebendiger Waren durch die interne Reglementierung der zum Verkauf zugelassenen Losnummern unter Kontrolle gebracht.
Supermarkt Zwischen der Praxis im Discounter und derjenigen im Supermarkt gibt es einige Parallelen: Täglich werden über mobile Endgeräte möglichst gut geschätzte Bestellungen für den nächsten Tag getätigt, täglich wird frische Ware aus dem Zentrallager geliefert. Ein regelmäßiges Pf legen der Obstund Gemüseabteilung ist notwendig. Deutliche Unterschiede zwischen Discounter und Supermarkt betreffen das Sortiment und die Art der Präsentation der Waren. In einem größeren Supermarkt ist die Auswahl in der Obst- und Gemüseabteilung schier überwältigend. Mehrere Hundert Artikel werden hier angeboten – von Kernobst über Zitrusfrüchte und Exoten bis hin zu Salat, Fruchtgemüse, Kohlgemüse und Hülsenfrüchten. Auf ca. 15 Prozent der Fläche wird Bioware angeboten, in einer anderen Ecke der Fläche gibt es gekühlte und verzehrfertige Ware wie geschnittene frische Ananas. Auch Ende November gibt es noch fünfzehn verschiedene Tomatenartikel im Angebot. Gleich daneben stehen sieben verschiedene frische Champignonartikel neben den drei weiteren Pilzsorten zur Auswahl. Auch Randartikel wie getrocknete Datteln gibt es in vier verschiedenen Varianten (Feldnotizen, 28.11.2018).
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Die Präsentationsf läche für Obst und Gemüse ist aufwändig gestaltet. Vor der imitierten Natursteinrückwand sind aufwändig produzierte Schriftzüge aus Metall montiert. Frische, Genuss, Regionalität, Vielfalt, Vertrauen und Qualität sind hier zu lesen. Das Obst und Gemüse wird auf zwei hell beleuchteten Etagen in Präsentationsmöbeln angeboten. In der oberen Etage auf angenehmer Greif höhe findet der Kunde vor allem hochwertige, lose Ware. Weiter unten gibt es oft günstigere Artikel, die in vielen Fällen auch verpackt sind. Die Ware wird hauptsächlich lose in Weidenkörben und Holzkisten oder auch in grünen Kunststoff kisten angeboten. Durch die Verwendung von natürlichen Materialien, Schriftzügen auf Kreidetafeln und Bildern von frisch geernteten Bundmöhren mit Erdresten wird ein Bild des Natürlichen und Unmittelbaren herauf beschworen. Der Hang zu Naturmaterialien geht so weit, dass auch die Pappkisten für Äpfel und die Kunststoffverpackungen von Karotten mit dem Bild von verwitterten Holzbrettern bedruckt sind. Auf vielen Packungen sind auch Bilder der Erzeugerinnen zu sehen. Der Kunde hat so das Gefühl, die Erzeugerinnen seiner Lebensmittel selbst kennen zu lernen und sie durch seinen Kauf persönlich zu unterstützen. Im Gespräch erzählt mir die leitende Mitarbeiterin in der Obst- und Gemüseabteilung des Supermarktes von ihrer Arbeit. Sie sagt, um diese Abteilung zu pf legen, ist man den ganzen Tag beschäftigt: „Und wer sagt, er hat keine Arbeit gefunden, der hat es dann einfach nicht gesehen“ (Interview mit einer Supermarktmitarbeiterin, 13.11.2018). Auch wenn der Markt erst um 8.00 Uhr öffnet, beginnen die Mitarbeiter der Obst- und Gemüseabteilung um 6.00 Uhr mit der Arbeit. Zunächst wird die Ware vom Vortag durchgeschaut: Was davon ist noch verkäuf lich? Zwischen 7.00 und 8.00 Uhr wird die frische Ware aus dem Zentrallager angeliefert. Täglich sind das zwischen 14 und 18 Rollwägen; am Montag, Freitag und Samstag sind es über 20. Die frische Ware muss verräumt werden: Teile davon kommen sofort in die Abteilung, der Rest wird zunächst ins Kühlhaus gebracht. Die Arbeit in der Abteilung ist geprägt von Zeitdruck. Die Mitarbeiter sind meist alleine in einer Schicht eingeteilt. Morgens sind sie herausgefordert, das ganze Sortiment von ein paar Hundert Artikeln bis 8.00 Uhr bereit zu stellen. Bis 9.00 Uhr müssen die Bestellungen für den nächsten Tag gemacht werden. Den Tag über müssen die Regale sauber gehalten werden. Die Ware wird „ausgeputzt“: Beim Blumenkohl wird der Strunk abgeschnitten, beim Kopfsalat werden welke Blätter entfernt. Weil die Kunden durch ihr Suchen, Betrachten und Auswählen Unordnung in die Auslage bringen, muss diese
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regelmäßig wieder geordnet werden. Oft wird die Ware in diesem Prozess auch beschädigt. Die Mitarbeiterin erklärt: Die Ware ist […] ein lebendes Produkt, das verändert sich also auch ständig. […] [E]s ist nicht wie in einer Konserven- oder in einer Weinabteilung. Eine Flasche […] können hundert Leute anfassen, die verändert sich nicht wirklich, ein Kopfsalat sieht nach dem zweiten schon nicht mehr so toll aus. Interview mit einer Supermarktmitarbeiterin, 13.11.2018
Was nicht mehr gut aussieht, was Druckstellen oder Risse hat oder was welk geworden ist, wird aussortiert. Auch wenn das Aussortierte noch verwertbar wäre: Verkäuf lich ist es nicht mehr. „Wenn eine Paprika eine Delle hat oder ein bisschen… ist [sie] ja nicht kaputt. Aber ich kann [sie] nicht mehr verkaufen“ (ebd.). Das Wegwerfen von noch brauchbaren Lebensmitteln fällt der Supermarktmitarbeiterin selbst schwer. Sie sagt: „Wir sind eine große Wegwerfgesellschaft. Also im Obst- und Gemüsebereich ist es schon heftig“ (ebd.). Doch der Supermarkt wirbt mit einem hohen Qualitätsanspruch, und was dem nicht gerecht wird, muss aussortiert werden.18 Im Hinblick auf die Bestellungen ist auch hier das Ziel, gut zu kalkulieren und nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Ware vorrätig zu haben. Die Ware soll nicht ausgehen, aber am Abend sollen die Regale und das Kühlhaus möglichst leer sein, damit am nächsten Tag wieder frische Ware verkauft werden kann. Frische ist hier nicht nur ein gefragtes Qualitätsmerkmal für die Kundinnen, sondern sie bedeutet für die Supermarktmitarbeiter auch eine Zeitersparnis: „Nach zwei Tagen […] hätte ich mit der Ware mehr zu schaffen wenn ich sie ausputzen müsste, als wenn ich sie frisch kriege“ (Interview mit einer Supermarktmitarbeiterin, 13.11.2018). Um diese beiden weit verbreiteten Vertriebswege nicht alternativlos stehen zu lassen, beleuchte ich im folgenden Absatz zwei weitere Vertriebssysteme, in denen Qualität auf eine andere Weise konstruiert wird: Es handelt sich dabei zum einen um einen unabhängigen Biosupermarkt; zum anderen um einen Feinkosthändler. 18 Die Entsorgung von Aussortiertem ist nicht zentral geregelt; hier muss jeder Markt seine eigene Lösung finden. In diesem konkreten Supermarkt wird aussortiertes Obst und Gemüse von den Mitarbeitern eines Wildgeheges abgeholt: Die Paprika mit den Druckstellen wird dann an Bären und Rehe verfüttert.
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Bioladen Die Biobranche wurde in ihren Anfängen als Opposition zum konventionellen System der Lebensmittelproduktion und -vermarktung entwickelt. Inzwischen sind jedoch konventionelle Handelskonzerne zum größten Vertriebskanal für biologisch angebaute Lebensmittel geworden und die Grenzen zwischen dem konventionellen und dem alternativen System verschwimmen zunehmend (Morgan et al. 2006, S. 2). Auch die Vertreter der Biobranche, mit denen ich spreche, räumen ein, dass sich die alltägliche Praxis im Großhandel im Biobereich gar nicht so stark vom Handel mit konventioneller Ware unterscheidet. Ein Gemüseproduzent erklärt mir, dass auch in der Biobranche Ertrag und Homogenität maßgebliche Rollen spielen: „In dieser Großhandelsschiene gelten ähnliche Gepf logenheiten“ wie im Handel mit konventioneller Ware (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 15.03.2016). Auch in der Biobranche wird aussortiert und weggeworfen, „weil natürlich auch die Biokunden nach der Optik19 kaufen“ (Interview mit der Geschäftsführerin in einem Biosupermarkt, 08.04.2016). Trotzdem sind in der Biobranche einige Aspekte sichtbar, die darauf hinweisen, dass hier ein anderes Verständnis von Qualität kultiviert wird. Bei meinem Besuch eines unabhängigen Biosupermarktes erläutert mir die Marktleiterin ihren Arbeitsalltag und ihre diesem Alltag zugrundeliegenden Überzeugungen. Sie spricht von Qualität als dem verantwortungsbewussten Umgang mit natürlichen Ressourcen im Anbau – verbunden mit der Überzeugung, dass biologisch angebaute Lebensmittel auch einfach besser schmecken: „[M]an schmeckt es einfach auch. Also eine Biogurke schmeckt einfach nach Gurke. Und eine konventionelle Gurke schmeckt nach Wasser. Das ist einfach so“ (Interview mit der Geschäftsführerin in einem Biosupermarkt, 08.04.2016). Die Händlerin spricht vom enormen Erfolg der Bio-Bewegung; aber auch von den Herausforderungen für die Qualität, die dieser Erfolg mit sich bringt. Durch die große Nachfrage haben viele Händler mit Lieferengpässen zu kämpfen; die Preise im Einkauf steigen und 19 Ob in der Züchtung, im Anbau oder im Handel: Wenn im Feld über die visuelle Erscheinung der Erzeugnisse gesprochen wird, ist oft die Rede von der Optik der Produkte. Der Begriff wird hier umgangssprachlich verwendet. Ursprünglich bezeichnet die Optik ein Teilgebiet der Physik, das sich mit der Lehre vom Licht beschäftigt; mit Phänomenen wie Lichtbrechung, Spiegelung und Abbildung. Um die Gesamtheit der visuellen Eindrücke eines Produktes zu beschreiben, verwende ich den Begriff des Visuellen, bzw. der visuellen Erscheinung. Diese Begriffe erscheinen mir als passender und präziser.
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stellenweise leidet die Qualität. Die Geschäftsführerin sieht sich jedoch als gut gewappnet für diese Herausforderungen: Durch die Vertrauensbeziehungen zu ihren Lieferanten, die sie seit über zwei Jahrzehnten pf legt, kann sie sich darauf verlassen, auch in Zukunft zu verlässlichen Konditionen mit guter Ware beliefert zu werden. „Diese Geschäftsverbindungen, […] die sind ja einfach schon Jahre lang sehr konstant. Und die bleiben halt dann einfach weiter bestehen“ (ebd.). Gefragt danach, was ihr bei Obst und Gemüse wichtig ist, antwortet die Händlerin: „Frische […], Reife […], Geschmack […]. Die Optik nicht!“ (ebd.). Im Unterschied zu ihren Kundinnen, die ihre Kaufentscheidungen oft genauso wie im konventionellen Handel auch an der visuellen Erscheinung der Erzeugnisse ausrichten, betont die Händlerin, dass nach ihrem eigenen Qualitätsverständnis das Aussehen kein geeignetes Kriterium für die Qualität von Obst und Gemüse ist. Ausdruck dieser Überzeugung ist auch der Umstand, dass biologisch angebautes Obst und Gemüse grundsätzlich als Handelsklasse II vermarktet wird, weil man den an Äußerlichkeiten orientierten Vermarktungsnormen nicht zu große Macht einräumen möchte. Auch im Biobereich wird anders Aussehendes stellenweise gezielt aufgewertet: Der unabhängige Biosupermarkt, den ich besuche, setzt Bilder von abweichend geformtem Obst und Gemüse in Marketingkampagnen ein. Die Marktleiterinnen identifizieren sich mit der Idee des Andersseins – und machen deshalb Werbung mit Fotos von Erzeugnissen, die anderswo als Formfehlerware aussortiert würden. Auch in Bezug auf die Verschwendung von Lebensmitteln herrscht mehr Problembewusstsein: Die Marktleiterin ist überzeugt, in der Biobranche werde weniger aussortiert und weggeworfen als im konventionellen Bereich. Der Händlerin ist es wichtig, auch selbst zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung beizutragen. Wenn täglich die Lieferung von frischer Ware vom regionalen Biogroßhändler ankommt, wird die Qualität der Ware geprüft. Wenn die Qualität nicht passt, wird manchmal auch telefonisch nachverhandelt, ob man die Ware zu einem günstigeren Preis ankaufen kann, um sie dann auch günstiger wieder verkaufen zu können. Mit dieser Praxis will die Marktleiterin vermeiden, dass die Ware entsorgt werden muss – was im Fall des Zurückschickens mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit passieren würde. Zudem spricht die Händlerin davon, dass sie ihre Position nutzen möchte, um ihren Kunden Wissen zu
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vermitteln. Beispielsweise ist ihr die Förderung samenfester Sorten20 ein Anliegen. Sie handelt aus Überzeugung: Sie achtet nicht nur auf das, worauf ihre Kundinnen achten, sondern sie verkauft auch das, was sie selbst unterstützen möchte. In Bezug auf ihre Unterstützung samenfester Sorten erklärt sie: „Ja, ob die Kunden so stark Wert darauf legen, weiß ich jetzt auch nicht. Aber wir. […] [W]ir machen es ja auch nicht deshalb, damit es nur die Kunden wahrnehmen, sondern weil wir es auch für wichtig halten“ (Interview mit der Geschäftsführerin in einem Biosupermarkt, 08.04.2016). Ihre eigene Handlungsmacht als Händlerin nimmt sie sehr ernst – sehr viel ernster, als das Mitarbeiter großer, mächtigerer Unternehmen oftmals tun.
Feinkostladen Auch der Feinkostladen, den ich besuche, positioniert sich offensiv als Alternative zum Mainstream – und auch hier wird mit einem alternativen Verständnis von Qualität gearbeitet. Die Obst- und Gemüseabteilung des Ladens hebt sich deutlich ab von denjenigen in Discountern oder Supermärkten. Hinter einer Theke steht ein Gärtner, der die Kunden mit seinem Fachwissen berät. Die Verkaufsf läche ist viel kleiner als in einem Supermarkt. Die Auswahl ist nicht so groß und auch die Menge der Ware ist bei einigen weniger häufig nachgefragten Artikeln sehr klein – beispielsweise liegen nur fünf Maracujas in einem Korb. Durch die Mischung aus alter Ladenarchitektur und bunt zusammengestellten Präsentationsmöbeln und durch die persönliche Beratung bietet der Laden dem Kunden ein sehr anderes Einkaufserlebnis als die immer ähnlich strukturierten Filialen von großen Supermarktketten. Ich spreche mit dem Feinkosthändler über die angebotenen Äpfel. Er hat jedes Jahr zehn verschiedene Apfelsorten im Angebot – aber nicht alle gleichzeitig. Je nach Jahreszeit bietet er unterschiedliche Sorten an. Er erklärt mir, dass verschiedene Apfelsorten zu unterschiedlichen Jahreszeiten gut schmecken. Das hängt mit den unterschiedlichen Erntezeitpunkten und der unter20 Samenfeste Sorten sind Sorten, bei denen die Eigenschaften der Nachkommengenerationen mit den Sorteneigenschaften der Elterngeneration übereinstimmen. Bei solchen Sorten ist es biologisch möglich, Teile der Ernte eines Jahres für die Gewinnung von Samen derselben Sorte zu verwenden. Samenfeste Sorten werden in der Regel als traditionelle Alternative zu modernen Hybridsorten verhandelt, die zwar die Vorteile einer hohen Homogenität der Erzeugnisse und hoher Erträge bieten, bei denen jedoch die erwünschten Eigenschaften der Elterngeneration in den Nachfolgegenerationen verloren gehen.
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schiedlichen Lagereignung zusammen, aber auch mit den geschmacklichen Vorlieben der Kundinnen, die sich im Jahresverlauf ständig ändern. Für den Feinkosthändler ist es selbstverständlich, immer jahreszeitenentsprechend zu beraten. Seine Lieferungen bekommt er direkt von einem Apfelbauern seines Vertrauens am Bodensee. Da die Ware unsortiert ist, ist sie als Klasse II ausgezeichnet – gleichzeitig wird höchster Wert auf Qualität gelegt. Doch bei der Beurteilung von Qualität bezieht sich der Händler nicht auf die gesetzlich geltenden Normen. Was wirklich zählt – davon ist er überzeugt – das weiß er selbst besser. Qualität zeigt sich für ihn vor allem im Geschmack und im Wissen über eine verantwortungsvolle Produktion. Ein guter Anbau, ein möglichst geringer Einsatz von Pf lanzenschutzmitteln und eine optimale Lagerung sind wichtig; und sollen schließlich in einem guten Geschmack der Erzeugnisse resultieren. Der Händler versteht sich als Experte für gute Qualität – er wählt seine Ware mit viel Sorgfalt aus. Seine wichtigste Motivation ist seine persönliche Leidenschaft für hochwertige Lebensmittel. Er verkauft Erzeugnisse von bester Qualität und er tut dies aus Überzeugung. Zentraler Bestandteil seines Angebotes ist die persönliche Beratung, durch die er einen persönlichen Kontakt zum Kunden auf baut. Mit der Zeit lernt er seine Kunden und deren geschmackliche Vorlieben kennen und kann so immer gezielter beraten. Im Beratungsgespräch kann er Besonderheiten empfehlen und Wissen über den Anbau und die Zubereitung der Produkte weitergeben. Wichtig ist ihm außerdem ein direkter Kontakt zu den Erzeugerinnen. Zu vielen seiner Lieferantinnen pf legt er ein langjähriges Vertrauensverhältnis. Mit den Jahren hat er sich ein Netzwerk an Kontakten zu geschmacklich anspruchsvollen Produzenten aufgebaut – oft sind es solche Produzenten, die im Nebenerwerb oder ausschließlich für die Direktvermarktung anbauen. Der Feinkosthändler ist überzeugt: Das System der Selbstbedienung in Supermärkten und Discountern fördert die Normierung und priorisiert das Aussehen der Ware. Damit wird die zentrale Bedeutung der visuellen Erscheinung durch die Selbstbedienung stabilisiert. Er meint: „Wenn die Kunden sich Dinge selbst aussuchen, kaufen sie das, was sie wieder erkennen und was für den Laien gut aussieht“ (Feldnotizen, 30.03.2016). Im Kontext seines Feinkostladens kann er hingegen durch persönliche Beratung auch Ware verkaufen, die sich allein durch ihr Aussehen nicht verkaufen würde, weil es ihr vielleicht an Schönheit mangelt.
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In der Betrachtung dieser beiden alternativen Handelskontexte zeigt sich, dass Handel auch anders möglich ist: Auch für Händlerinnen bestehen Entscheidungsspielräume. Während große Handelskonzerne ihr Angebot an der stark visuell orientierten Nachfrage der Konsumenten ausrichten, nehmen sich manche Leiterinnen kleinerer Handelsbetriebe die Freiheit, das eigene Angebot an den persönlichen Maßstäben auszurichten. Was in allen beschriebenen Fällen deutlich wird, ist die gestalterische Einf lussnahme der Vertreterinnen des Handels, deren Einkaufsbedingungen sich auf die Materialität und Visualität verkäuf licher Erzeugnisse auswirken. Die Betrachtung der unterschiedlichen Arten der Inszenierung der Produkte in den vier verschiedenen Kontexten des Handels erinnert außerdem daran, dass im Handel – auch abgesehen von der Gestaltung der verkauften Erzeugnisse selbst – auf konventionelle gestalterische Mittel des Kommunikations- und Verpackungsdesign zurückgegriffen wird. Dabei spiegeln sich die jeweiligen Werte und Prioritäten des Handelskontextes in den eingesetzten gestalterischen Elementen. Im Discounter ref lektieren die mit Barcode versehenen Verpackungen und die Auszeichnung mit Preisen in übergroßen Ziffern auf neonfarbenem Hintergrund wie auch die Präsentation auf Paletten die Priorität geringer Preise und die Ausrichtung an den Prinzipien der Rationalisierung. Im Supermarkt zielt der Einsatz von Bild und Schrift auf andere Werte: die Portraits der Erzeuger auf den Produkten und die Anspielungen auf Naturmaterialien sprechen für eine Vorstellung der Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit sowie für den Wert persönlicher Vertrauensverhältnisse. Der Biosupermarkt setzt in seiner Kommunikation wiederum andere Prioritäten: Die in der Werbung verwendeten Fotografien von sonderbar geformten Erzeugnissen stehen für die Aufwertung von Vielfalt und Individualität und kehren das eigene Anderssein heraus. Diese Beobachtungen machen deutlich, dass die Mittel des Kommunikationsund Verpackungsdesign die in den jeweiligen Handelskontexten geltenden Vorstellungen von Qualität nicht nur ref lektieren, sondern dass diese Werte und Prioritäten durch die systematische Anwendung gestalterischer Mittel auch stabilisiert werden.
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Die Werte des Handels bestimmen den Anbau Die vier betrachteten Kontexte des Einzelhandels offenbaren die Unterschiedlichkeit der Werte, die den jeweiligen Arbeitsalltag prägen. Die sichtbar gewordenen unterschiedlichen Konventionen von Qualität bleiben nicht ohne Folgen; sie finden ihre Entsprechung in unterschiedlichen Formen der Praxis in den zuvor stattfindenden Phasen der Züchtung, des Anbaus und der Regulierung. Anschaulich wird dies auch in Gesprächen mit Expertinnen aus dem Anbau, die davon sprechen, wie sich die Wahl des Vertriebsweges auf die Entscheidungen im Anbau auswirkt. Aus der Perspektive der Produzenten bieten sich verschiedene Möglichkeiten, die eigenen Erzeugnisse zu vermarkten: Der größte Teil der in Deutschland produzierten Lebensmittel wird über den Großhandel vermarktet. Hier können Erzeugerinnen entweder über eine Genossenschaft oder – bei einer entsprechenden Betriebsgröße – direkt an die Zentrallager von Supermärkten oder Discounterketten liefern. Einige Produzenten haben auch Stände auf den Großmärkten in größeren Städten, um ihre Waren dort an Gastronominnen, kleine Einzelhändler oder Wochenmarktbestückerinnen zu verkaufen. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, die Erzeugnisse in einem Hof laden oder auf dem Wochenmarkt direkt an den Verbraucher zu verkaufen. Da jedoch ein Anbau nur für die Direktvermarktung oder den Großmarkt für die allermeisten Betriebe nicht wirtschaftlich umsetzbar ist, kombinieren die meisten Betriebe verschiedene Vertriebswege, zum Beispiel die Direktvermarktung mit der Lieferung an den Großhandel über eine Genossenschaft. Jeder Vertriebsweg hat für die Erzeugerinnen Vor- und Nachteile und bringt auch eigene Ansprüche an die Ware mit sich. Für Betriebe, die direkt an den Großhandel liefern, ist die Kapazität, kontinuierlich große Mengen an Produkten gleichbleibender Qualität produzieren zu können, besonders wichtig. Ein Erzeuger erklärt: Also das wird zentral eingekauft […]. Das ist auch ein Problem, dass praktisch zum Teil deutsche Erzeuger, die hektarweise, also wirklich riesige Flächen haben, die nicht reinkommen in Handelsketten, weil die sagen sie können nicht dauerhaft beliefern. Und die [Einkäufer] haben keine Lust auf: ‚Bestelle ich jetzt die Woche bei dem und nächste Woche bei dem anderen.‘ Das muss einfach alles sehr einfach funktionieren. Darum ist der Erzeuger wiederum
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dann oft gezwungen praktisch von einem Kollegen zuzukaufen. Praktisch nur, um kontinuierlich liefern zu können. Da gibt es diese Erzeugergemeinschaften und so weiter. Einfach nur, damit man den Einkäufern möglichst unproblematisch […] das Sortiment anbieten kann. Also immer nur, um das möglichst einfach und unkompliziert zu halten. Interview mit einem Gemüseproduzenten, 15.03.2016
Für diese Betriebe ist es „das A und O […], dass die möglichst wenig Reklamationen haben von ihren Händlern“ (ebd.). Bei der Wahl der Sorte und auch für andere Entscheidungen im Anbau gilt: „Da machen die keine Experimente. Also das lohnt sich einfach nicht“ (ebd.). Der Feinkosthändler dagegen erklärt, dass er am liebsten Obst und Gemüse von solchen Produzenten verkauft, die ansonsten für die Direktvermarktung anbauen. Bei [solchen Betrieben] ist es nämlich wichtiger, dass es schmeckt als dass es jetzt so supertoll ausschaut. Natürlich sind die Karotten dann unsortiert und [sind] halt groß, klein, dick, dünn. Aber sie schmecken. Und es gibt […] ja auch Bauern, die sagen halt, nee, ich mache es gleich für den Großhandel. Dann nehme ich lieber Sorten, die vielleicht größer oder gleichmäßiger […] sind. Schmecken dafür aber nicht so gut. Da kommt es nicht auf den Geschmack drauf an. Interview mit dem Geschäf tsführer eines Feinkosthandels, 30.03.2016
Ähnlich äußert sich die Landwirtin, die unterschiedliche Sorten von Kartoffeln für unterschiedliche Vertriebswege anbaut: Im Hof laden werden wohlschmeckende Kartoffeln mit guter Lagereignung verkauft; der Großhändler dagegen honoriert eher Homogenität in Bezug auf Knollenform und -größe (Interview mit einer Landwirtin, 29.10.2015). Ein Gärtnermeister im Gemüsebaubetrieb, der ausschließlich für die Direktvermarktung anbaut, kann sich „nur aus Geschmacksgründen“ für eine Tomatensorte entscheiden, weil er nicht an die Kriterien des Großhandels gebunden ist (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 15.03.2016). Auch wenn diese Sorte in Bezug auf Resistenzen und Transportfähigkeit gegenüber anderen Sorten unterlegen ist, wird sie in diesem Betrieb angebaut, denn die Transportfähigkeit ist für die Direktvermarktung – anders als bei Tomaten für den Supermarkt – nicht das zentrale Argument. Die Direkt-
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vermarktung ist auch der Grund für das große Sortiment des kleinen Gartenbaubetriebes, der vor allem behinderten Menschen Beschäftigung bietet: Man möchte den Kunden auf dem wöchentlichen Bauernmarkt immer möglichst viele Produkte aus eigenem Anbau anbieten. Für den Gärtnermeister ist klar: „wenn ich keine Direktvermarktung habe, dann versuche ich halt mit nicht so vielen Kulturen über die Bühne zu kommen“ (ebd.), denn jede Kultur verursacht ein Mehr an Arbeit. Der Apfelproduzent bestätigt diesen Gedankengang. Er baut zehn verschiedene Sorten an, denn er weiß: In der Direktvermarktung „brauchst du halt ein bisschen […] Vielfalt“ (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Wenn der Betrieb nur für die Genossenschaft anbauen würde, wäre das anders: „Wir könnten jetzt auch sagen wir kommen mit vier Sorten aus, das würd’ auch gehen“ (ebd.). Diese Betrachtung zeigt, wie sehr die in der Phase des Handels bestimmenden Qualitätskonventionen sich auch in Züchtung, Anbau und Regulierung auswirken: Für Betriebe, die ihre Ware über den Großhandel vertreiben, sind eine gleichbleibende, verlässliche Qualität, die Homogenität der Erzeugnisse, geringe Produktionskosten, große Mengen und eine zuverlässige Transportfähigkeit besonders wichtig. Erzeugerinnen, die für die Direktvermarktung anbauen, legen dagegen mehr Wert auf ein vielfältiges Sortiment und eine hohe geschmackliche Qualität – und werden dadurch zu geschätzten Kooperationspartnerinnen von Feinkostläden und Gastronomen. Die Bedingungen des Vertriebsweges und die jeweiligen Qualitätskonventionen, die für diesen Vertriebsweg von Bedeutung sind, werden somit zu gestalterisch wirksamen Vorgaben. Sie bedingen die Handlungen der Akteure von Beginn des Lebensweges eines Biofakts an – und sie formen damit die Materialität und Visualität der wachsenden Erzeugnisse. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich die Phase des Handels als eine für die Gestaltung ausschlaggebende Phase im Lebensweg von Obst- und Gemüseerzeugnissen untersucht. Vor dem Hintergrund der Zentralisierung der Handelskonzerne und des weltweiten Handels mit frischen Lebensmitteln beleuchtete ich den Arbeitsalltag von Händlern in verschiedenen Kontexten des Groß- und Einzelhandels. Die Position der Einkäuferinnen für den Großhandel erwies sich dabei als ein Punkt, an dem sich Gestaltungsmacht besonders konzentriert: In Form der Produktbeschreibungen, die den Bestellungen von enormen Mengen an Lebensmitteln zugrunde liegen, nehmen die Händlerinnen hier Einf luss auf die Prioritäten ihrer Kooperationspartner im Anbau. Als weitere gestalterisch wirkmächtige Instrumente
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zeigten sich die Wareneingangskontrolle und das Zurückschicken von als mangelhaft eingestuften Erzeugnissen. Das Inszenieren und Aussortieren der Ware im Handel soll die Konsumentinnen von der Attraktivität der Produkte überzeugen und zum Kauf animieren. Im Alltag des Einzelhandels wird am deutlichsten greif bar, was bei der Auswahl von Lebensmitteln wirklich zählt: Was den Konsumenten wichtig ist, wird direkt ablesbar in den Verkaufszahlen der Artikel – bzw. in den Resten, die sich als unverkäuflich herausstellen und entsorgt werden müssen. Während der Großteil des Handels mit Obst- und Gemüseprodukten über die zentralisierten Strukturen von Supermärkten und Discountern organisiert ist, wurden mit einem Biosupermarkt und einem Feinkostladen zusätzlich zwei Alternativen zu dem etablierten System in den Blick genommen. Durch die Betrachtung der Alternativen wird deutlich, wie in unterschiedlichen Kontexten des Handels unterschiedliche Vorstellungen von Qualität kultiviert werden. Diese Unterschiedlichkeit spiegelt sich in der Folge auch in den anderen Phasen: Die Wahl des Vertriebsweges stellt sich für Anbaubetriebe als folgenreiche Entscheidung heraus, die von der Sortenwahl über die Anzahl der angebauten Erzeugnisse bis zu den eingesetzten Anbaumethoden weitreichende Konsequenzen mit sich bringt. Die im Handel formulierten Maßstäbe für Qualität erweisen sich damit als wirkungsvolle Richtlinien für die Gestaltung der Materialität und der visuellen Erscheinung der als verkäuf lich geltenden und damit auch der angebauten Produkte. Auch wenn im Handel die Materialität der Produkte nicht mehr direkt manipuliert wird, gestalten die Akteure des Handels die Erzeugnisse durch die Vorgabe von Qualitätsparametern und das Sanktionieren von Abweichungen. Die in dieser Untersuchung deutlich gewordene Gestaltungsmacht des Handels gilt jedoch nicht nur für die Produktion von Obst und Gemüse. Während der gestalterische Einf luss des Handels im herkömmlichen Produktdesign gerne ausgeblendet wird, weist die häufig gehörte Klage von Designern über die gefühlte Bevormundung durch das Marketing (z.B. Bergner & Rogler 2013, S. 58f) darauf hin, dass die Zusammenhänge des Handels auch in der Entwicklung von herkömmlichen, nicht lebendigen Artefakten gestaltende Wirkung entfalten. Nach dieser detaillierten Betrachtung der Handlungen der Akteure in den vier Phasen der Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen möchte ich an dieser Stelle zurückkommen auf den Begriff der Biofakte: Mit seinen zwei Bestandteilen bringt er zwei verschiedene Blickrichtungen auf die
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untersuchten lebendigen Produkte mit sich. Entsprechend untersuche ich Obst- und Gemüseprodukte in dieser Arbeit einerseits als vom Menschen nach menschlichen Vorstellungen und Zielen hergestellte, gemachte Produkte. Andererseits blicke ich auf die Erzeugnisse als lebendiges Material, als Bestandteile von Lebewesen, die über das Potential des Wachstums verfügen. Mit diesen beiden Blickrichtungen prägt der Begriff der Biofakte die Fragestellungen, die ich in den beiden folgenden Kapiteln vertiefen möchte. In Kapitel 6 untersuche ich mit dem Blick auf Obst und Gemüse als gemachte Produkte die etablierten Vorstellungen von Produktqualität, die das Handeln an Obst und Gemüse im Kontext der industriellen Produktion für die Vermarktung über den Großhandel dominieren. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier auf der Betrachtung der Bedeutung der visuellen Produkterscheinung als wichtiges Kriterium für die Beurteilung von Produktqualität. In Kapitel 7 frage ich danach, wie sich die Lebendigkeit der Materie im Produktionsprozess von Obst und Gemüse äußert. Hier arbeite ich heraus, welche Konsequenzen die Lebendigkeit des Materials für die Gestaltung von Obst und Gemüse mit sich bringt.
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6 Produktqualität und die Rolle des Visuellen Obst und Gemüse sind industriell hergestellte Massenprodukte für den menschlichen Konsum. Im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit dem Produktionsprozess von Obst und Gemüse gehe ich an vielen verschiedenen Orten der Frage nach, welche menschlichen Intentionen der Gestaltung dieser Produkte zugrundeliegen. Welche Vorstellungen von Produktqualität prägen die Produktion von Obst und Gemüse? Um diese Frage zu klären, beleuchte ich im vorliegenden Kapitel zunächst verschiedene Konzepte zur Produktqualität aus der Literatur in den Bereichen Design und STS. Das Konzept der Qualitätskonventionen aus der Konventionentheorie der französischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften erweist sich dabei als hilfreiches Instrument, das zu einem tieferen Verständnis von Qualität für den Produktionsprozess von Lebensmitteln – aber auch für die gestalterische Praxis – beitragen kann. Anschließend an die begriff liche Klärung stelle ich auf der Basis meiner empirischen Daten dar, welche Vorstellungen der Produktqualität dem etablierten Produktionsprozess von Obst und Gemüse für den Großhandel zugrunde liegen und damit die Materialität der entstehenden Erzeugnisse maßgeblich formen. Dabei unterscheide ich die Merkmale in zwei Kategorien: Einerseits geht es um eine Reihe von Merkmalen, die die Produkte als funktionierende Waren für große Märkte qualifizieren; auf der anderen Seite geht es um Merkmale, die das Produkt im Moment der Kaufentscheidung für den Konsumenten attraktiv machen sollen. Die ergänzende Betrachtung von abweichenden Qualitätsverständnissen in den beiden beschriebenen alternativen Kontexten des Handels soll anschließend den Blick weiten und verdeutlichen, dass auch die in der industriellen Marktkonvention dominanten Kriterien der Produktqualität von Menschen gemacht und damit prinzipiell auch anders denkbar sind. Im letzten Abschnitt der vorliegenden Betrachtung der dominanten Kriterien für Produktqualität lege ich in einen Schwerpunkt auf die Auseinan-
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dersetzung mit der visuellen Produkterscheinung. Vor dem Hintergrund ambivalenter Positionen aus dem Designdiskurs soll es also im Abschnitt 6.6 darum gehen, wie sich die Bedeutung der visuellen Produkterscheinung von Obst- und Gemüseprodukten in den einzelnen Phasen des Produktionsprozesses zeigt.
6.1 Produktqualität im Design Obwohl die Frage nach der Qualität von Produkten ein alltägliches Thema in der Praxis des Produktdesign darstellt, liefert meine Suche nach designspezifischer Literatur zu Qualität nur sehr spärliche Ergebnisse. Was an Designliteratur zu Qualität zu finden ist, bezieht sich häufig auf Methoden zur Qualitätssicherung (z.B. Rabin 2008). Hier werden verschiedene Verfahren beschrieben, die dazu dienen sollen, beispielsweise die Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit oder Fehleranfälligkeit von Produkten zu testen oder zu überprüfen, inwieweit Produkte oder Modelle die Erwartungen einer bestimmten Zielgruppe erfüllen. Auf bauend auf solche Studien soll die Qualität von Produkten kontinuierlich weiterentwickelt werden – mit dem Ziel, eine noch erfolgreichere Geschäftstätigkeit zu erreichen. Literatur zu einem übergeordneten Verständnis von Qualität im Design ist dagegen selten. Yilirisku und Arvola (2018) legen dar, dass sich Designer in ihrer Praxis häufig nicht auf ein explizit formuliertes Verständnis von Qualität beziehen. Sie bemängeln, bisherige Schemata zur qualitativen Bewertung von Design seien unvollständig und einseitig (ebd., S. 52). Die Autoren weisen darauf hin, dass Güte bzw. Qualität in verschiedenen Designtraditionen sehr unterschiedlich verstanden werden und sich die Vorstellungen von Qualität im Verlauf der Zeit ständig wandeln. Da die zugrundeliegenden Wertvorstellungen jedoch bestimmend sind für die Designpraxis und damit maßgeblich auch das Ergebnis von Designprozessen formen, fordern die Autoren dazu auf, die bisher impliziten Vorstellungen von Qualität offenzulegen und zu diskutieren. Sie sind überzeugt: „Making the underlying values an explicit topic of discourse can lead to productive reframing of the design object“ (ebd., S. 67). Um professionelle Designerinnen für die unterschiedlichen Bedeutungen der Güte zu sensibilisieren, schlagen sie vor, ein ganzheitliches Verständnis von den verschiedenen Arten der Güte zu etablieren, das sie mit
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Bezug auf die Arbeit des Philosophen und Logikers Georg Henrik von Wright entwickeln. Basierend auf dessen Thesen unterscheiden die Autoren die utilitaristische, die instrumentelle, die technische, die medizinische sowie die hedonistische Güte und das Wohl der Menschheit (Good of Human). Jede der beschriebenen Arten von Güte bringen Yilirisku und Arvola in Verbindung mit einer bestimmten Designtradition – von konzeptionellem Design über nachhaltiges Design und ergonomisches Design bis hin zu Experience Design. Weniger explizit von Qualität, wohl aber von der Evaluierung verschiedener Lösungsmöglichkeiten von Planungsproblemen handeln die in Kapitel 2.1 bereits besprochenen Texte von Horst Rittel (z.B. Rittel 2013b, Rittel & Webber 2013). In seinen Ausführungen zur Lösung bösartiger Probleme betont Rittel wiederholt die Vielfältigkeit der verschiedenen Perspektiven, die Subjektivität aller möglichen Urteile und die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Sichtweisen. Er hebt hervor, dass es für die Probleme von Planern und Entwerfern keine richtigen oder falschen Lösungen gibt, sondern nur gute und schlechte (Rittel & Webber 2013, S. 29). Gelesen im Hinblick auf ein designspezifisches Verständnis von Qualität lässt sich folgern, dass Qualität in Designprozessen für jeden beteiligten Stakeholder etwas anderes ist: Jede Vorstellung von Qualität ist subjektiv und bestimmt von den Wertvorstellungen des jeweiligen Akteurs. Zur Entwicklung von funktionierenden Lösungen ist es essentiell, dass im Designprozess aus den verschiedenen Qualitätsvorstellungen der unterschiedlichen Stakeholder Kompromisse gebildet werden, die allen relevanten Qualitätsvorstellungen in einem zufrieden stellenden Maß gerecht werden. In Übereinstimmung mit Rittels Betonung der Vielfältigkeit der Qualitätsurteile weist Krippendorff (2013) auf die „Polyphonie aller beteiligten Stimmen“ (ebd., S. 96) hin, die von Designerinnen wahrgenommen und im Entwurf von Lösungsmöglichkeiten berücksichtigt werden muss. Mit dem Konzept des Verstehens zweiter Ordnung unterstreicht Krippendorff, dass im Designprozess nicht das eigene Verstehen eines Produktes aus der Sicht der Designerin im Vordergrund steht, sondern vor allem das Verständnis für das Verstehen der anderen in den Designprozess involvierten Stakeholder (ebd., S. 98). Insgesamt gelten für Güte und Qualität im Design vielfältige und unklare Bedeutungen, die häufig nicht umfassend formuliert und diskutiert werden. Die bleibende Unklarheit kann auch als Hinweis darauf verstanden
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werden, dass Einigkeit über ein gemeinsames designspezifisches Verständnis von Qualität in der Designpraxis eventuell gar nicht angestrebt wird: Die unterschiedlichen, von Praktikern jeweils persönlich formulierten Auffassungen von Qualität gelten auch als Alleinstellungsmerkmal und damit als Wettbewerbsvorteil im Markt für Designleistungen.
6.2 Produktqualität in den STS Nachdem übergeordnete Konzepte zu Produktqualität in der Designtheorie kaum auffindbar sind, frage ich im folgenden Abschnitt danach, auf welche Weise Produktqualität im Bereich der STS bzw. in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zur Sprache kommt. Besonders hilfreich sind für mich die Konzepte der Konventionentheorie, die Qualität als vielfältig, kontextabhängig und sozial konstruiert begreifen. In den Wirtschaftswissenschaften wurde lange Zeit ein Verständnis von Produktqualität als unproblematisch zu bestimmender „Beschaffenheit“ von Produkten gepf legt (z.B. Filip 1997). Von großer Bedeutung in volkswirtschaftlichen Untersuchungen der 80er und 90er Jahre war die in vergleichenden Warentests gemessene Gebrauchstauglichkeit, die auch als Synomym für die Produktqualität verstanden wurde, wie Imkamp (2000) erläutert. Er selbst zieht dieses Verständnis von Qualität jedoch in Zweifel und geht davon aus, dass das Produktaussehen einen sehr viel größeren Einf luss auf das Verhalten der Konsumentinnen hat als die messbar gemachte Gebrauchstauglichkeit.1 Imkamp bemängelt, dass „die Bedeutung der über das Funktionale hinausgehenden Produkteigenschaften für die Kaufentscheidung und das Produkterleben“, die für die Praxis des Produktdesign so grundlegend ist, in wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen lange Zeit ignoriert wurde (ebd., S. 171). Auch Ponte und Gibbon (2005) kritisieren das in den 90er Jahren etablierte Verständnis von Produktqualität als objektiv erfahrbar, messbar und unveränderlich. Dieses Verständnis greife zu kurz und ignoriere unter anderem die unterschiedlichen Vorlieben von verschiedenen Verbrauchern und den ständigen Wandel der vorherrschen1 Diese Vermutung Imkamps trifft in Bezug auf Obst- und Gemüseprodukte auf besondere Weise zu. Umfassend diskutiert wird die Rolle der visuellen Produkterscheinung für Obstund Gemüseprodukte im Abschnitt 6.6.
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den Kriterien für Produktqualität. Eine Möglichkeit zur Entwicklung eines umfassenderen und realistischeren Verständnisses von Produktqualität sehen sie – wie viele andere Autorinnen, die globale Wertschöpfungsketten im Lebensmittelbereich analysieren (vgl. Morgan et al. 2006) – in der Einbeziehung der Qualitätskonventionen aus der Konventionentheorie.
Die Konventionentheorie Die Konventionentheorie, auch bekannt als Économie des conventions (EC), ist ein einf lussreiches Forschungsfeld in den interdisziplinären französischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Entwickelt wurde die Konventionentheorie in den 80er und 90er Jahren am Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE) in Paris. Das Forschungsfeld der EC ist von besonderer Interdisziplinarität gekennzeichnet – wichtige Beiträge stammen unter anderem von Ökonomen, Historikerinnen, Statistikern und Soziologinnen. Einf lussreiche Figuren waren in der Anfangszeit Alain Desrosières, Laurent Thévenot und Robert Salais (vgl. Diaz-Bone 2016). Als pragmatische Grundlagentheorie dient die Konventionentheorie vor allem der transdisziplinären Analyse ökonomischer Institutionen. Gleichzeitig liefert sie einen empirischen Ansatz, der die Analyse der wirtschaftlichen Koordination und der damit verbundenen Konstruktion von Wert und Qualität in den Blick nimmt (vgl. Diaz-Bone 2015, S. 20). Die Konventionentheorie steht in enger Verbindung mit der in den STS verbreiteten Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Morgan et al. 2006, S. 19). Zentraler Begriff der EC sind Konventionen. Sie werden definiert als „kulturell etablierte Koordinationslogiken“ (Diaz-Bone 2015, S. 21), beziehungsweise als „socio-cognitive resources actors rely on to achieve shared interpretations, evaluations and valuations of situations and the value of objects, persons and actions” (Diaz-Bone 2016, S. 48). Morgan et al. (2006) beschreiben Konventionen als akzeptierte Handlungsmuster, die sich durch Wiederholung stabilisieren. Die Übereinkünfte werden nicht im Voraus definiert oder den Akteuren übergestülpt; sie entstehen durch die wiederholte Praxis der Koordination (ebd., S. 20). Die Beiträge zur EC erstrecken sich inzwischen über mehr als drei Jahrzehnte und sind sehr zahlreich. Thematisch umfassen sie Fragen zu Klassifikationen, zu Arbeit und Arbeitsmärkten, Produktionswelten, Geld und Finanzmärkten, Arbeitsrecht, zu Quantifizierung und Qualitätskonventio-
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nen (vgl. Diaz-Bone 2015). Morgan, Marsden und Murdoch (2006) stellen fest, dass die Konventionentheorie ein einf lussreicher Bezugspunkt für Studien zu Lebensmittelproduktion und -konsum, die sogenannten agri-food studies, geworden ist (vgl. ebd., S. 19).2 In der vorliegenden Arbeit beziehe ich mich auf die Beiträge der Konventionentheorie zu Qualitätskonventionen. Als grundlegendes Werk zu Qualitätskonventionen gilt das von Boltanski und Thévenot 1991 veröffentlichte Buch „De la justification: les économies de la grandeur“3. Die Autoren gehen darin der Frage nach, wie Akteure ihre Handlungen in Situationen der Kritik rechtfertigen. Sie beschreiben sechs Rechtfertigungsordnungen und die dazugehörigen Welten (frz. cités) (Boltanski & Thévenot 2007). Für diese Rechtfertigungsordnungen setzt sich später der Begriff der Qualitätskonventionen durch. Sie umfassen die Marktkonvention, die industrielle Konvention, die handwerkliche Konvention, die Konvention der Bekanntheit, die Konvention der Inspiration und die staatsbürgerliche Konvention. Später wird diese Liste von anderen Autoren um weitere Konventionen ergänzt; zu nennen sind hier die ökologische Konvention und die Netzwerkkonvention (vgl. Diaz-Bone 2015). Jede Konvention beschreibt eine in sich kohärente Welt, auf die sich Akteure in der Praxis beziehen, um ihre Handlungen zu begründen und ihre Einschätzungen von Qualität und Wert zu rechtfertigen. Die handwerkliche Konvention bildet den Rahmen für die handwerkliche Herstellung von Dingen in Familienbetrieben. Traditionelles Erfahrungswissen und persönliche Vertrauensverhältnisse zwischen den Akteuren garantieren hier die Qualität der Produkte. In der industriellen Konvention geht es um die moderne, wissenschaftlich kontrollierte und geplante Massenproduktion von Waren. Die Qualität wird hier hergestellt durch die Einführung und Kontrolle von industriellen Normen. Die Marktkonvention folgt eher einer kurzfristigen Ausrichtung; sie betont die individuellen Bedürfnisse der Konsumentinnen und die stetigen Schwankungen der Preise. Im Rahmen der staatsbürger-
2 Morgan et al. (2006) beziehen sich in ihrer Untersuchung von „Lebensmittelwelten“ ebenfalls auf die Konventionentheorie. Sie unterstreichen, Konventionen seien nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell, ökologisch und politisch zu verstehen. Ausgehend von der geographischen Perspektive heben sie hervor, dass die unterschiedlichen Vorstellungen von Wert und Qualität zu lokal unterschiedlichen Systemen der Lebensmittelproduktion führen, die einen räumlichen Ausdruck in der Landschaft finden (ebd., S. 24). 3 Die deutsche Übersetzung des Buches „Über die Rechtfertigung“ erscheint 2007.
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lichen Konvention wird das Engagement für Bürgerrechte verhandelt; die ökologische Konvention thematisiert die Achtung der Umwelt. Die Économie des conventions sieht Produktqualität nicht als objektiv messbare, materielle Beschaffenheit des Produktes, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Konventionen und Begründungsnarrativen, im Rahmen derer die Merkmale für Qualität in der Gesellschaft verhandelt werden (vgl. Diaz-Bone 2015, S. 187f). Ponte & Gibbon (2005) setzen die Konventionen von Boltanski und Thévenot in Beziehung zu dem aus den Wirtschaftswissenschaften bekannten Konzept der Qualität. Dabei stellen sie zwei Konsequenzen fest: Die Anwendung der Konventionentheorie auf das Konzept der Produktqualität „suggests, first, that there is no ‘universal’ understanding of quality and, second, that quality is cognitively evaluated in different ways depending on what ‘world’ is used to justify evaluation and action” (Ponte & Gibbon 2005, S. 7).
Verschiedene Qualitätskonventionen und die resultierenden Produkte Ein Beispiel dafür, wie sich aus unterschiedlichen Qualitätskonventionen zwei völlig verschiedene Systeme der Produktion entwickeln können, liefern Boisard und Letablier (1987) mit ihrer Untersuchung von verschiedenen Arten der Herstellung von Camembert. In der handwerklichen Konvention zählen Werte wie Tradition, Handarbeit, persönliche Expertise, regionale Identität, persönliche Beziehungen und geschmackliche Kriterien. Ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen den Käseherstellern und den Milchbäuerinnen garantiert die hohe Qualität des hergestellten Produktes. Die Milch für den Käse stammt ausschließlich von normannischen Kühen. Ihr Geschmack schwankt je nach Saison, Klima und Region. In kleinen Familienbetrieben wird der Käse mit viel Handarbeit und unter Anwendung von traditionellem Wissen hergestellt. Die Milch wird als lebende Substanz verstanden, deren biologischer Reifungsvorgang nicht durch Kühlung unterbrochen werden darf. Entsprechend wird sie in ungekühlten Kannen auf bewahrt. Um Verderb zu vermeiden, muss sie täglich – im Sommer zweimal täglich – von den Käsereien abgeholt werden. Spezialisierte Käsehändlerinnen verkaufen den Käse an Kenner. Die Kunden schätzen Tradition, Geschmack, die bestimmte Herkunft und die handwerkliche Herstellung des Camembert „Appellation d’ origine controlée“ (AOC) aus der Normandie.
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Im Vergleich dazu untersuchen Boisard und Letablier auch den Camembert, der im Rahmen der industriellen Konvention in der modernen Massenproduktion hergestellt wird. Die Milch für diesen Käse kommt aus ganz Frankreich. Sie wird in gekühlten Tanks auf bewahrt und muss daher auch nur alle zwei Tage abgeholt werden. In der Käserei wird sie homogenisiert und pasteurisiert und damit standardisiert. Die Herstellung des Käses erfolgt in modernen Fabriken mithilfe von standardisierten Fermenten aus dem Labor. Sie wird überwacht von wissenschaftlich ausgebildeten Expertinnen. Die Distribution erfolgt über den Großhandel: Supermärkte und Discounter bieten den Käse in Kühlregalen an. Die Herstellung dieser Art von Camembert folgt einer Logik der Rentabilität. Kosten werden eingespart durch den Einsatz von Automatisierung, durch die Minimierung des Transportaufwandes und durch Rationalisierungseffekte. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Bewerberinnen und zwischen Milchbauern und Käseherstellerinnen sind von Anonymität geprägt. Innerhalb der industriellen Konvention wird Qualität anhand von objektiven Messungen festgestellt: Ce qui prime, c’ est [...] le strict respect de normes de composition: teneur en extrait sec, en matière grasse, poids... et de normes d’hygiène […] [L]a qualité du produit repose sur le respect de normes précises, au moyen de mesures effectuées à tous les stades de la fabrication.4 Boisard & Letablier 1987, S. 17f
Konsumenten dieser Art von Camembert schätzen einen vorhersehbaren, immer gleichen Geschmack, den durch die industrielle Fertigung ermöglichten günstigen Produktpreis und eine lange Haltbarkeit. Mit beiden beschriebenen Arten der Käseherstellung sind bestimmte Produkteigenschaften, Formen der Handarbeit, Märkte und Kundenkreise verbunden. Beide Systeme sind in sich kohärent. Die Entstehung dieser beiden völlig unterschiedlichen Systeme von Herstellung, Verarbeitung und Distribution von Camembert begründen Boisard und Letablier mit deren
4 „Das Wichtigste ist die strenge Einhaltung von Normen zur Zusammensetzung des Käses: Anteil der Trockenmasse, Fettanteil, Gewicht… und die Einhaltung von Hygienevorschriften. […] Die Produktqualität resultiert aus der Einhaltung von präzisen Normen. Überprüft wird dies mittels Messungen, die in allen Stadien der Herstellung durchgeführt werden“, Übersetzung der Autorin.
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Herleitung aus unterschiedlichen Qualitätskonventionen. Insgesamt zeigt dieses Beispiel, wie die Vorstellungen von Qualität den Produktionsprozess maßgeblich formen. Unterschiedliche Qualitätskonventionen in Bezug auf das selbe Produkt führen zu sehr unterschiedlichen Herstellungsprozessen und in der Folge auch zu sehr unterschiedlichen Eigenschaften der entstehenden Produkte. Die für den industriell hergestellten Camembert beschriebene Bedeutung der Standardisierung ist inzwischen für weite Teile der Lebensmittelproduktion zur Regel geworden. Genauer diskutiert wird die Standardisierung im Lebensmittelbereich von Iles et al. (2017, S. 744f). Sie machen deutlich: Historisch betrachtet stellte die Standardisierung in allen Wirtschaftszweigen – und auch in der Lebensmittelbranche – stets eine wichtige Bedingung für die Industrialisierung der Produktion dar. Die Autoren sehen Normen als mächtiges Instrument, das es ermöglicht, Lebensmittel zu designen und das Lebendige an die Erwartungen des Menschen anzupassen: “Standards have the power to reconstruct nature to make it conform to human expectations” (ebd., S. 744). Zudem weisen die Autoren darauf hin, dass Normen und Standards die Erwartungen der Akteure entlang der gesamten Produktionskette formen. Als formal festgeschriebene Qualitätskonventionen beeinf lussen sie die Vorstellungen darüber, wie ein Lebensmittel aussehen und schmecken sollte; sie schreiben fest, was vermarktbar ist und was als hochwertig und minderwertig gilt. Darüber hinaus stellen Iles et al. fest, wie die wissenschaftliche Repräsentation der in der industriellen Produktion und in der Vermarktung eingesetzten Normen dazu führt, dass die formulierten Bestimmungen glaubwürdiger und objektiver wirken als andere, nicht explizit formulierte Qualitätskonventionen. Gleichzeitig merken die Autoren an, dass auch festgeschriebene Normen in Produktion und Handel nie statisch sind: sie werden kontinuierlich neu verhandelt und angepasst. Auch industrielle Normen sind von sozialen Akteuren mit bestimmten Intentionen gemacht. Es lohnt sich demnach, danach zu fragen, wer Einf luss auf die Formulierung der Normen nimmt und welche Ziele damit verfolgt werden.
Die industrielle Marktkonvention und der Einfluss von Alternativen Während die Konventionentheorie grundsätzlich die Pluralität der Konventionen und das gleichzeitige Nebeneinander von verschiedenen Konzeptionen von Produktqualität betont (vgl. Diaz-Bone 2015, S. 135), gibt es auch im-
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mer wieder Stimmen, die in Erinnerung rufen, dass zwischen den Systemen deutliche Machtasymmetrien bestehen. Ponte und Gibbon (2005) machen die Beobachtung, dass der Kompromiss aus Marktkonvention und industrieller Konvention, die industrielle Marktkonvention, stabiler und mächtiger sei, als das durch die Linse der Konventionentheorie oftmals erscheine (ebd., S. 16). In ihrer Untersuchung der globalen Wertschöpfungskette von Kaffee stellen sie einen raschen Wandel in den Vorstellungen von Produktqualität fest. Verbunden ist dieser Wandel mit einer schnell wachsenden Nachfrage nach „speciality coffee“, der alternativen Qualitätskonventionen folgt. Sie beschreiben, wie führende Unternehmen der Branche diesen Trend als mögliche Gefahr für die eigene Führungsposition im Markt wahrnehmen. Entsprechend nehmen große Konzerne den Trend auf und versuchen, dieses neu entstehende Marktsegment auch selbst zu bedienen: „[L]ead firms may attempt to fold the ‘threats to leadership’ arising from the increasing importance of ‘civic’ conventions into the operational environment of the ‘market-industrial’ convention“ (ebd., S. 14f). Insgesamt, so schließen die Autoren, werden im Rahmen der staatsbürgerlichen und handwerklichen Konventionen entstehende Trends und damit verbundene alternative Konzeptionen von Produktqualität in der Regel im mächtigen Komplex der industriellen Marktkonvention aufgesaugt.
Qualität und Prozess In ihrer Untersuchung zur Qualität von Camembert betonen Boisard und Letablier (1987), dass Produktqualität nicht nur als Merkmal des fertigen Produkts verstanden werden kann. Die Produktqualität ist Ergebnis vieler kleiner Entscheidungen im gesamten Produktionsprozess, angefangen bei der Auswahl der Rohmaterialien: „La qualité se constitue à tous les niveaux de la filière“5 (ebd., S. 13). Auch Ponte und Gibbon (2005) unterstreichen, dass Qualität und wirtschaftlicher Wert entlang der gesamten Wertschöpfungskette in der praktischen Koordination hervorgebracht werden. Der Großteil dieser Entscheidungen und Handlungen im Herstellungsprozess hat Auswirkungen, die sich direkt in der Materialität der entstehenden Produkte spiegeln. Beispiele für solche Qualitätsmerkmale, die im Pro5 „Die Qualität bildet sich in allen Phasen der Produktionskette heraus“, Übersetzung der Autorin.
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zess entstehen, gibt es viele: In der Wertschöpfungskette von Kaffee ist das Rösten der Bohnen ein Verarbeitungsschritt, der entscheidenden Einf luss auf die geschmacklichen Eigenschaften des fertigen Produktes hat. Analog dazu trägt das Waschen von Radieschen zu deren attraktivem Aussehen bei, die Entscheidung über den Erntezeitpunkt bestimmt den Reifegrad und damit sowohl die Transportfähigkeit als auch den Geschmack von Pfirsichen und die Auswahl einer Sorte von Lauch entscheidet über die zu erwartende Homogenität der geernteten Stangen. Auf der anderen Seite gibt es auch Bedingungen im Herstellungsprozess, die in Bezug auf die materiellen Eigenschaften der fertigen Produkte keine Konsequenzen nach sich ziehen und die trotzdem für viele Konsumenten eine große Bedeutung für die Qualität der Produkte haben. Ein Beispiel ist hier die Frage nach Boden- oder Freilandhaltung von Legehennen. Viele Konsumentinnen sind bereit, für Eier aus Freilandhaltung einen höheren Preis zu zahlen, auch ohne dass sich diese Bedingung der Herstellung auf die materielle Beschaffenheit der Eier auswirkt. Auch im Bereich von Obst und Gemüse spielen solche Faktoren der Prozessqualität eine Rolle. Beispiele dafür sind der biologische Anbau, die regionale Produktion und die Umwelteinf lüsse der Produktion, wie zum Beispiel der Verbrauch von Energie und Wasser durch beheizte Gewächshäuser, weite Transportwege und künstliche Bewässerung. Ponte und Gibbon (2005) stellen hierzu fest: „[T]he ‘quality’ of process and production methods has become as important as – and in many cases more important than – product characteristics“ (ebd., S. 12). Bei der Qualität eines Produktes handelt es sich demnach um eine Gesamtheit von Merkmalen, die sich entweder auf die Materialität des Produktes selbst oder auf den Prozess seiner Herstellung oder Verarbeitung beziehen können. In der vorliegenden Arbeit lege ich jedoch einen Schwerpunkt auf die Kriterien, die die konkrete Materialität der Produkte betreffen. Zu begründen ist dieser Schwerpunkt mit meinem disziplinären Hintergrund im Produktdesign und dem damit verbundenen Interesse an der Materialität der Dinge.6 Das Hauptaugenmerk meiner Arbeit liegt demnach auf den materiellen Eigenschaften der Erzeugnisse und auf der Frage nach den Zielen und Motivationen, die deren Zustandekommen maßgeblich beeinf lussen. Die 6 Mein durch das Design geprägtes besonderes Interesse an Materialität beschreibe ich ausführlicher in Kapitel 3.2.
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Bedingungen im Herstellungsprozess, die ohne Auswirkungen auf die Materialität der Produkte bleiben, spielen daher für meine Fragestellung nur eine untergeordnete Rolle.
Preise Eines der wichtigsten Ziele in der industriellen Produktion von Obst und Gemüse für den Großhandel, das für die Begründung von vielen Entscheidungen im Produktionsprozess angeführt wird, ist das Erreichen eines niedrigen Preises für die Erzeugnisse. Dennoch zähle ich den Preis nicht zu den Merkmalen der Qualität. Darin folge ich abermals Ponte und Gibbon (2005), die ebenfalls die Bedeutung geringer Preise betonen, jedoch die Vorstellungen von Qualität getrennt von Produktpreisen untersuchen. Ponte und Gibbon warnen davor, durch die Konzentration auf Qualitätskonventionen die zentrale Bedeutung niedriger Preise zu übersehen. Sie betonen: „being big [...] is still important“ (ebd., S. 9). Große Mengen, Rationalisierungseffekte und daraus resultierende niedrige Preise seien nach wie vor zentrale Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit der Akteure.
Produktqualität Meine Verwendung des Begriffes „Produktqualität“ folgt dem oben beschriebenen Verständnis von Qualität auf der Basis der Konventionentheorie. Einige Aspekte dieses Verständnisses sind für meine Arbeit besonders hilfreich: Zum einen betont dieses Begriffsverständnis, dass Vorstellungen von Qualität nicht objektiv und absolut sind. Sie verändern sich und sie folgen dem gesellschaftlichen Wandel; zudem gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen und gleichermaßen gültigen Vorstellungen von Qualität. Zum anderen wird mit diesem Verständnis deutlich, dass Qualität nicht plötzlich und zufällig entsteht, sondern dass sie im gesamten Produktionsprozess in vielen einzelnen Schritten hervorgebracht wird. Des weiteren unterstreicht diese Auffassung des Begriffs, dass die Vorstellungen von Qualität den Produktionsprozess formen und damit weitreichende Konsequenzen für die materiellen Eigenschaften der Produkte haben. In der vorliegenden Arbeit erlaubt mir dieses Verständnis von Produktqualität, nach den menschlichen Intentionen und Zielen zu fragen, die der Gestaltung von Obst und Gemüse zugrunde liegen: Was macht ein gutes Produkt aus? Gleichzeitig lenkt das erläuterte Konzept von Qualität den Blick auch auf die Praktiken der alltäg-
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lichen Überprüfung dessen, ob und inwiefern ein bestimmtes Produkt den Qualitätsvorstellungen der verschiedenen Akteure entspricht.
6.3 Produktqualität in der Gestaltung von Obst und Gemüse Eines der beiden zentralen Forschungsanliegen der vorliegenden Arbeit ist es, die dominanten Kriterien der Produktqualität herauszuarbeiten, die sich im Bereich der industriellen Produktion von Obst und Gemüse für die Vermarktung über den Großhandel – also in der industriellen Marktkonvention – etabliert haben und die damit für die zeitgenössische Produktion von Lebensmitteln eine breite Gültigkeit beanspruchen. So möchte ich auf der Basis meiner empirischen Daten die dominanten Kriterien sichtbar machen, die in den Interviews von den Akteuren genannt werden oder die aus deren Handlungen und Entscheidungen ablesbar sind. Gegen Ende der Datenerhebung ließ sich feststellen, dass sich die genannten Kriterien auch unabhängig von den jeweiligen Erzeugnissen immer deutlicher wiederholten, was auf eine gewisse Sättigung, also eine ausreichende Vollständigkeit der gesuchten Kriterien schließen lässt. Die auf diese Weise stabilisierten Kriterien teile ich ein in zwei Kategorien: Zunächst lässt sich eine Gruppe von Kriterien ausmachen, die das Produkt zu einer geeigneten Ware für große Märkte machen sollen. Dem gegenüber steht eine Reihe von Merkmalen, die das Produkt für den Konsumenten im Moment der Kaufentscheidung attraktiv machen sollen.
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Eignung für große Märkte
Attraktivität für den Konsumenten
• große Mengen - hohe Erträge - Resistenzen gegen Krankheiten und Schädlinge - Toleranz gegenüber Umweltfaktoren wie Hitze, Kälte, Trockenheit, Nässe • verlässliche Qualität Homogenität der Erzeugnisse • Transportfähigkeit • Lagereignung • Eignung für maschinelle Verarbeitung z.B.: Erntefähigkeit, Wascheignung, Eignung zur Sortierung
• attraktive visuelle Produkterscheinung* konform zu etablierten visuellen Konventionen • Frische* • Geschmack • Förderung der eigenen Gesundheit • Verzehrbarkeit* • Reife* • Sauberkeit* * diese Kriterien werden visuell überprüft
Tab. 6.3.1: in der industriellen Marktkonvention dominante Kriterien für Produktqualität
Eignung für große Märkte Die folgenden Kriterien, die allesamt dazu beitragen sollen, ein Produkt zu einer für den Großhandel geeigneten Ware zu machen, zeigen sich in meiner Untersuchung als besonders relevant für die Akteure in der Produktion von Obst und Gemüse. Damit sich ein Produkt als Ware für große Märkte eignet, ist es von zentraler Bedeutung, große Mengen davon in verlässlicher Qualität produzieren zu können. Hierfür ist es einerseits wichtig, Sorten zu wählen, die sich durch einen hohen Ertrag7 auszeichnen und die möglichst unabhängig von Pf lanzenkrankheiten und Schädlingen und von klimatischen Beeinträchtigungen wie Hitze, Trockenheit und Nässe verlässliche Erträge liefern. Merkmale wie Trockenheitstoleranz und Krankheits- oder Schädlingsresistenzen sind hier dem Kriterium des Ertrags zuzuordnen, da sich die Erzeuger von ihnen hauptsächlich einen Beitrag zu zuverlässigen Erträgen erhoffen. Für die Verlässlichkeit der Qualität der Produkte ist die Homogenität der Erzeugnisse das entscheidende Merkmal. Die Sortenwahl, die Wahl der Anbaumethoden, Sortierverfahren und Instrumente der Regulierung tragen 7 Entsprechend dieses Verständnisses von Qualität sehe ich auch einen hohen Ertrag als ein Qualitätsmerkmal einer guten Sorte. Dabei ist mir bewusst, dass Autoren aus der Pflanzenzüchtung die Merkmale von Pflanzensorten in „Qualitätsmerkmale“ und „Ertrag“ aufteilen (z.B. Becker 1993). Mir geht es jedoch allgemeiner um die mit der Materialität der Erzeugnisse verknüpften Ziele der Akteure – hierzu gehört ohne Zweifel auch das Ziel eines hohen Ertrags.
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allesamt zu einem gleichbleibenden, homogenen Angebot an Erzeugnissen verlässlicher Qualität bei. Um als Ware auf den überregional organisierten Märkten zu funktionieren, ist die Transportfähigkeit durch eine gewisse Stabilität der Frucht und der Schale unabdingbar. Auch die Lagerfähigkeit darf die Dauer von einigen Tagen nicht unterschreiten, denn das Produkt soll die für die Logistik notwendige Zeit von der Ernte bis zum Konsumenten in einem zufrieden stellenden Zustand überleben. Für die Erzeugerinnen, die dauerhaft unter dem Druck stehen, möglichst kostengünstig zu produzieren, ist die Eignung für die maschinelle Verarbeitung, wie die maschinelle Erntefähigkeit oder die Eignung für maschinelle Wäsche oder maschinelle Sortierung ein wichtiges Qualitätskriterium bei der Auswahl der Sorten. Die analysierten Kriterien, die zu hoher Produktivität, Effizienz, Verlässlichkeit und Vereinfachung der Abläufe in Produktion, Logistik und Handel beitragen sollen, dienen dem Ziel, Obst- und Gemüseprodukte zu preisgünstigen und erwartbaren Waren zu machen. Damit schließt sich meine Untersuchung der These von Frohlich et al. (2014) an, die feststellen: In den etablierten Lebensmittelproduktionssystemen der industrialisierten Länder, die ganze Bevölkerungen ernähren sollen, ist die Erwartbarkeit der produzierten und gehandelten Waren ein zentrales Kriterium: Foods produced on larger scales must be predictable in quality, quantity, content, safety, cost, flavor, texture and return on investment. Achieving that predictability requires many specific modes of organizing and creating the world: viable and authoritative standards, distribution models, labeling protocols, safety guidelines, business models, marketing and end-users. Frohlich et al. 2014, S. 3
Bei der Betrachtung der beschriebenen Kriterien fällt auf, dass die Ideale, die die Produktion von Obst und Gemüse im Rahmen der industriellen Marktkonvention maßgeblich bestimmen, weitestgehend den etablierten Idealen der industriellen Produktion technischer Artefakte entsprechen. Zu den Faktoren, die auf die Lebendigkeit der Produkte hinweisen, zählen die Kriterien der Frische und der Reife. Der Geschmack, die Verzehrbarkeit und die Gesundheit der Erzeugnisse sind Faktoren, die die Essbarkeit der Produkte betreffen. Diese Kriterien haben im Produktionsprozess von Obst und Gemüse auch ihre Bedeutung und führen zu einigen Konsequenzen. Die Kriterien, die sich in meiner Analyse der industriellen Produktion von
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Obst und Gemüse jedoch als die dominantesten herausgestellt haben, haben keinen spezifischen Bezug zur Lebendigkeit und Essbarkeit der Dinge, für die sie gelten. Die Übertragung der dominanten Ideale von Produktivität, Effizienz und Erwartbarkeit aus der industriellen Produktion von Artefakten auf die Produktion von Lebensmitteln erinnert an die Thesen von George Ritzer (2006). In seinem Beitrag zur McDonaldisierung der Gesellschaft stellt er fest, dass diese Ideale der Rationalisierung8 auf immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – wie Reisen, Bildung, Freizeitgestaltung, Politik und Religion – und auch auf die Ernährungsindustrie übertragen werden. So ist auch die Produktion von Obst und Gemüse eines der Felder, in dem die Ideale der Rationalisierung zu bestimmenden Faktoren geworden sind (vgl. Iles et al. 2017). Dies bekräftigen auch Morgan et al. (2006) in ihrer Untersuchung der Worlds of Food: “[Conventional a]griculture [can be seen as] just another economic sector; part of the consumer goods industry” (ebd.; S. 2). Insgesamt folgt die Produktion von Obst und Gemüse also weitestgehend denselben Idealen wie die Produktion herkömmlicher industriell hergestellter Konsumgüter. Die Anwendung der Ideale aus der Industrie auf die Gestaltung des Lebendigen arbeitet auch Pablo Schyfter (2014) heraus. Mit Blick auf das Feld der Biotechnologie fordert er, die wahren Begründungen für die wie selbstverständlich vorgenommene Übertragung der Ideale zu formulieren und damit neu zur Diskussion zu stellen, ob sie in Bezug auf die Modellierung des Lebendigen wirklich angemessen und hilfreich sind (ebd., S. 98).9 Da es sich bei pf lanzlichen Lebensmitteln um Bestandteile von Lebewesen handelt und sich Lebendiges immer nur teilweise konform zu den technischen Idealen verhält (vgl. Gill et al. 2018), gehört es zur täglichen Arbeit der Akteure in der gesamten Produktionskette von Obst und Gemüse, das Lebendige einzupassen in die Ideale, die ursprünglich für Nichtlebendiges entwickelt wurden.10
8 Konkret geht es Ritzer um die Faktoren Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Er bezieht sich damit stark auf die Rationalisierungstheorie von Max Weber und zeigt auf, dass Webers Theorie „auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts von allergrößter Bedeutung” (Ritzer 2006, S. 72) ist. 9 Zur Argumentation von Schyfter siehe auch Kapitel 3.1 zum Begriff der Biofakte. 10 Die besonderen Herausforderungen, die Obst- und Gemüseerzeugnisse aufgrund ihrer Lebendigkeit dabei mit sich bringen, werden in Kapitel 7 genauer beleuchtet.
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Attraktivität für den Konsumenten Den Kriterien, die das Produkt zu einer reibungslos funktionierenden Ware auf großen Märkten machen sollen, steht eine Gruppe von Kriterien gegenüber, die darauf abzielen, das Produkt für die Konsumentin in der Situation des Kaufes attraktiv zu machen. Ein zentrales Kriterium hierbei ist eine attraktive visuelle Erscheinung der Produkte: Das Erzeugnis soll in Form, Farbe, Größe und Schaleneigenschaften den etablierten Idealvorstellungen der Konsumenten möglichst exakt entsprechen.11 Die Frische ist ein Kriterium, das für Obst und Gemüse in besonderem Maße von Bedeutung ist: Im Bereich des Lebendigen ist die Frische schnell vergänglich – und mit der Frische vergeht der finanzielle Wert der Erzeugnisse.12 Für den Verbraucher ist im Moment des Verzehrs außerdem der Geschmack der Erzeugnisse ausschlaggebend. Er kauft das Produkt verbunden mit einer Erwartung eines angenehmen Geschmacks. Zudem legen Verbraucherinnen Wert darauf, gesunde Lebensmittel zu kaufen – das heißt solche Produkte, die sich durch gesunde Inhaltsstoffe auszeichnen und dadurch zur eigenen Gesundheit beitragen. Hier spielt auch eine Rolle, dass das Erzeugnis frei von Pf lanzenschutzmittelrückständen oder sonstigen möglicherweise gesundheitsschädlichen Stoffen ist. Ein grundlegendes Kriterium für die Attraktivität der Erzeugnisse ist deren Verzehrbarkeit. Hier geht es darum, dass die Erzeugnisse frei von Verderb sein sollen. Die Vermarktung von verdorbenen, nicht verzehrbaren Erzeugnissen zu unterbinden, ist ein wichtiger Grundgedanke der Vermarktungsnormen.13 Die Reife 11 Dass visuelle Attraktivität auch durch Abweichung von den etablierten Normvorstellungen erzeugt werden kann, wird beispielsweise von Creusen & Schoormans (2005, S. 68f) herausgearbeitet. In Bezug auf Obst- und Gemüseerzeugnisse wurde dieser Zusammenhang bereits an anderer Stelle mit Blick auf Tomaten untersucht (Kleinert & Braun 2018). Vor dem Hintergrund der industriellen Marktkonvention wird jedoch das Ziel der Übereinstimmung mit den etablierten Idealen sehr viel häufiger formuliert: In diesem Kontext ist die Platzierung visuell abweichender Produkte in der Regel mit einem hohen Marketingaufwand verbunden. 12 Diese Eigenschaft der ständigen Veränderung von Lebendigem und die damit verbundene Flüchtigkeit der Frische kommt in Kapitel 7.3 ausführlicher zur Sprache. 13 In der Geschichte der Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse gab es auch eine „Handelsklasse III“, die für den Handel mit minderwertigen Erzeugnissen „von noch marktfähiger Qualität“ (Schmidt 1990, S. 16) genutzt wurde. In der Handelsklasse III war auch Verderb in einem gewissen Maße akzeptabel, wenn es sich um kleine, leicht zu entfernende Stellen handelte. Mit der Harmonisierung der Vermarktungsnormen in der EU wurde
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bezeichnet ein bestimmtes Stadium in der Entwicklung eines Erzeugnisses – und zwar die Phase, in der sich das Produkt am besten zum Verzehr eignet. Die Reife umfasst für jedes Erzeugnis unterschiedliche Merkmale wie Konsistenz, Inhaltsstoffe und Geschmack. Verbraucher schätzen die Reife eines Produktes – beispielsweise bei Bananen, Pf laumen oder Pfirsichen – oft anhand der Färbung ab. Die Sauberkeit des Produktes soll zum Einen zum attraktiven Aussehen der Produkte beitragen, andererseits aber auch eine genauere visuelle Beurteilung des Produktzustandes ermöglichen.14 Die Liste der Kriterien, die zur Attraktivität eines Produktes für den Konsumenten beitragen sollen, offenbart einen Schwerpunkt: Die Mehrheit der genannten Kriterien – nämlich Verzehrbarkeit, Sauberkeit, Frische, Reife und attraktives Aussehen – sind Merkmale, die visuell überprüft werden. Die visuelle Erscheinung der Erzeugnisse bekommt dadurch eine immense Bedeutung. Sie wird zu einem zentralen Merkmal, an dem die Qualität von Obst und Gemüse gemessen wird. Diese Einsicht ist aus der gestalterischen Perspektive besonders interessant und wird daher in Kapitel 6.6 ausführlicher diskutiert. Dabei soll an zahlreichen empirischen Beispielen gezeigt werden, wie sich diese Bedeutung der visuellen Produkterscheinung im gesamten Produktionsprozess spiegelt.
6.4 Alternative Verständnisse von Produktqualität Um das oben erläuterte, im konventionellen System dominante Verständnis von Qualität deutlicher als gemacht und damit als veränderbar zu begreifen, möchte ich an dieser Stelle nochmals einen ergänzenden Blick auf alternative Verständnisse von Qualität richten. Damit schließe ich mich Iles et al. (2017, S. 737) an, die dafür argumentieren, die vorhandene Vielfalt in den die Handelsklasse III abgeschafft. Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Akzeptanz und die Marktfähigkeit von Erzeugnissen mit Mängeln im Laufe der Jahrzehnte geändert hat. 14 Der Preis des Produktes ist – wie schon erläutert – ein wichtiges Kriterium, das die Kaufentscheidung der Konsumentinnen maßgeblich beeinflusst. Da es sich beim Preis jedoch streng genommen nicht um ein Merkmal der materiellen Produktqualität handelt (Ponte & Gibbon 2005), wird er hier nicht aufgeführt. Geringe Preise lassen sich erreichen durch eine kostengünstige Produktion von großen Mengen und durch die Zentralisierung der Abläufe in Produktion und Handel – dementsprechend steht der Preis in enger Verbindung mit den oben genannten Kriterien für Waren auf großen Märkten.
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Systemen der Nahrungsmittelherstellung sichtbar zu machen und aufzuwerten; und damit die Selbstverständlichkeit des auf Homogenität basierenden etablieren Systems der industriellen Marktkonvention infrage zu stellen. Wie in Kapitel 5.4 zur Gestaltung im Handel bereits erwähnt, begegne ich an zwei Stellen Akteuren, die ihre Position entschieden als Alternative zum etablierten System darstellen. Dabei handelt es sich zum einen um eine Geschäftsführerin eines Bioladens, zum anderen um den Inhaber eines Feinkosthandels. Auf die von beiden Gesprächspartnern verfolgten Verständnisse von Qualität möchte ich an dieser Stelle eingehen.15 Von der Leiterin des Biosupermarktes werden Frische, Reife, Geschmack und der verantwortungsvolle Umgang mit natürlichen Ressourcen im Anbau als die bestimmenden Kriterien für Produktqualität genannt. Diese Werte liegen aus Sicht der Geschäftsführerin der alltäglichen Praxis in dem besuchten unabhängigen Biosupermarkt zugrunde. Ein maßgeblicher Bestandteil des hier verfolgten Qualitätsverständnisses beruht auf dem ausschließlichen Verkauf von Produkten aus zertifizierter ökologischer Landwirtschaft. Explizit hebt die Händlerin auch hervor, dass die visuelle Erscheinung hier nur eine untergeordnete Rolle spielt. Andersartigkeit wird dagegen aufgewertet. Die Ziele der Unabhängigkeit von großen Agrar- und Chemiekonzernen und der Vermeidung von Lebensmittelabfällen sowie weitere persönliche Überzeugungen der Händlerinnen prägen zudem die betrieblichen Entscheidungen (Interview mit der Geschäftsführerin eines Biosupermarktes, 08.04.2016). Auch der Feinkosthändler betont im Gespräch die Unterschiede seines Konzeptes zum konventionellen System von industrieller Produktion und dem Handel in Supermärkten und Discountern. Der Feinkosthändler setzt andere Maßstäbe, er folgt einer anderen Vorstellung von Qualität. Dabei ist er seinerseits keineswegs einverstanden mit dem Qualitätsverständnis der Biohändlerin. Er sagt:
15 Die Betrachtung in Kapitel 5.4 zielt eher auf die Beschreibung der alltäglichen Handlungen der Akteure in den verschiedenen Kontexten des Handels – im vorliegenden Kapitel geht es dagegen stärker um die diesen Handlungen zugrundeliegenden Verständnisse von Qualität.
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Wenn die Bioware gut ist, habe ich nichts dagegen, sie zu verkaufen. Aber Bio heißt nicht zwangsläufig, dass es gut ist. […] [B]ei den Hauptprodukten, da wissen wir, wo sie her sind. Die Bauern machen es vernünftig. [Das i]st für mich persönlich wichtiger als jetzt ein Biosiegel EU. […] [V]om Marketing her ist das Biosiegel sicherlich förderlich für den Verkauf. Aber als Qualitätskriterium ist es überhaupt nicht verwendbar. Interview mit dem Geschäf tsführer eines Feinkosthandels, 30.03.2016
Statt der Vereinfachung der Abläufe durch den Handel großer Mengen an standardisierter Ware wie in der industriellen Marktkonvention setzt der Feinkosthändler auf kleine Mengen von hochwertigen Lebensmitteln, die er aus einem Netzwerk an Produzentinnen bezieht, zu denen er persönliche Vertrauensverhältnisse pf legt. Er selbst fungiert hier als Experte für gute Qualität. Seine Kunden lernt er persönlich kennen und berät sie gezielt. Durch Expertentum, Vertrauen und Beratung wird hier ein System des Handels geschaffen, in dem die visuelle Erscheinung der Erzeugnisse ebenfalls an Bedeutung verliert und Qualität stattdessen vor allem als geschmackliche Qualität und verantwortungsvolle Produktion verstanden wird. Im Unterschied zur industriellen Marktkonvention, in der Qualität durch die Einhaltung von Normen und Standards zustande kommt (Ponte & Gibbon 2005, Boisard & Letablier 1987), folgt die Konstruktion der Qualität in diesen alternativen Systemen anderen Regeln. Die Praxis des Handels im unabhängigen Biosupermarkt ist vorrangig eingebettet in die ökologische Konvention (Diaz-Bone 2015), die die Wahrung der Umwelt zum Ziel hat. Mit dem Bestreben, durch den Verkauf von Erzeugnissen samenfester Sorten die eigene Unabhängigkeit von großen Agrar- und Chemiekonzernen aufrecht zu erhalten, bewegt sich der unabhängige Biosupermarkt in der staatsbürgerlichen Konvention (ebd.). In beiden beschriebenen Fällen betonen die Händler die Bedeutung von langfristigen, persönlichen Vertrauensverhältnissen zu Lieferanten, die die Qualität der gehandelten Erzeugnisse garantieren. Hier wird die Parallele zur handwerklichen Konvention, wie sie Boisard und Letablier (1987) beschreiben, deutlich: In ihrer Untersuchung der handwerklichen Herstellung von Camembert unterstreichen die Autoren die besondere Bedeutung von persönlichen Vertrauensverhältnissen und geschmacklichen Kriterien für die Konstruktion von Qualität. Die beschriebenen alternativen Qualitätskonventionen äußern sich unter anderem auch darin, dass den für die industrielle Marktkonvention so
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wichtigen Normen zur „äußere[n] Qualität“ (Laber & Lattauschke 2014, S. 19) in beiden Alternativen eine geringere Bedeutung zukommt. Den Äußerlichkeiten wird bewusst eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Als Konsequenz erklären die Vertreter beider Alternativen mir gegenüber die gesetzlichen Vermarktungsnormen als irrelevant für das eigene Verständnis von Produktqualität. Die in den gesetzlichen Vermarktungsnormen festgeschriebenen hochwertigeren Handelsklassen (Klasse I; Klasse Extra) regulieren hochwertigere Qualität auf der Basis der visuellen Merkmale Größe, Farbe und Schalenfehler. Um diesem Qualitätsverständnis eine Absage zu erteilen, kommen in der Biobranche pauschal nur die Mindestanforderungen der Klasse II zum Einsatz. Auch im Feinkosthandel, wo großer Wert auf höchste Qualität gelegt wird, wird ein Großteil der Ware als „Klasse II“ verkauft – bei den Äpfeln liegt das beispielsweise daran, dass die Ware nicht größensortiert ist, wie es die Klasse I erfordern würde. Der Feinkosthändler erklärt: „Also hier bei uns zählt die Qualität. [Unsere Kunden] kommen, weil die Äpfel gut sind. Nicht weil sie schön sortiert sind. […] Deshalb verkaufen wir ja auch unsortierte Ware und deshalb ist auch alles Handelsklasse II“ (Interview mit dem Geschäftsführer eines Feinkosthandels, 30.03.2016). Noch deutlicher formuliert es die Leiterin des Biosupermarktes: „Ja, bei uns ist alles Klasse II. Das ist schon immer so. […] Das hat ja nichts mit Qualität zu tun!“ (Feldnotizen, 08.04.2016a). Während sich die an der visuellen Erscheinung der Erzeugnisse orientierten gesetzlichen Vermarktungsnormen im etablierten System der konventionellen Produktion und Vermarktung von Obst und Gemüse als maßgeblicher Bezugspunkt erweisen, wenden die Akteure in den hier vorgestellten alternativen Vertriebssystemen bewusst andere Qualitätskriterien an, unter denen das Aussehen nur eine untergeordnete Rolle spielt. In der Folge kommen auch die Vermarktungsnormen hier nur im gesetzlich vorgeschriebenen Mindestrahmen zur Anwendung. Vor dem in Kapitel 5.4 beschriebenen Hintergrund der immer stärkeren Konzentration des Handels mit Lebensmitteln auf wenige große Konzerne stellt sich jedoch die Frage nach der breiteren Wirksamkeit der dargestellten alternativen Qualitätskonventionen. Wie von Ponte und Gibbon (2005) beschrieben ist das Verhältnis zwischen dem etablierten System der industriellen Marktkonvention und alternativen Qualitätskonventionen von deutlichen Machtasymmetrien gekennzeichnet. Dennoch können alternative Konzeptionen von Produktqualität – sofern sie auf breite Resonanz in der Gesellschaft stoßen – von großen Handelskonzernen aufgenommen wer-
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den, wie dies beim Handel mit Lebensmitteln aus ökologischer Landwirtschaft zu beobachten war. Einerseits mögen das einige Akteure bedauern, denn so verlieren diese alternativen Konzeptionen von Qualität ihr radikales Potential und tragen schließlich zur Sicherung der Stabilität der industriellen Marktkonvention bei. Auf der anderen Seite entsteht dadurch aber auch die Möglichkeit, dass neue Auffassungen von Produktqualität das Handeln von sehr mächtigen Akteuren beeinf lussen, was die Reichweite dieser alternativen Ideen enorm erweitern kann. Es bleibt offen, ob einzelne Aspekte der Qualitätsverständnisse der beiden hier beschriebenen alternativen Vertriebsformen in der Zukunft zu einer Neuformulierung der Vorstellungen von Qualität für das konventionelle System der industriellen Marktkonvention beitragen werden.
6.5 Fazit In den vorangegangenen Abschnitten war es mein Ziel, die dominanten Vorstellungen von Produktqualität herauszuarbeiten, die die industrielle Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen für den Großhandel bestimmen. Als Hintergrund der Betrachtung diente mir hierzu Literatur aus den Bereichen Design und STS. Im Designdiskurs werden Konzeptionen von Qualität häufig nicht explizit formuliert und verhandelt. Vielfältige unterschiedliche Verständnisse von Qualität, deren Gültigkeit selten hinterfragt wird, werden hier parallel verfolgt. Als hilfreiches Konzept für das Verständnis von Qualitätskonzeptionen erweist sich die Konventionentheorie. Sie ermöglicht eine Betrachtung von Qualität als sozial konstruiert und potentiell vielfältig und zugleich als bestimmend für die Herausbildung von Produktionssystemen. Vorstellungen von Qualität bedingen die Handlungen und Entscheidungen in den vielen einzelnen Schritten im Produktionsprozess und formen somit die Materialität der produzierten Erzeugnisse. Auf bauend auf dieses Verständnis von Qualität wurden auf der Basis meiner empirischen Daten die dominanten Kriterien für Produktqualität in der Produktion von Obst und Gemüse für den Großhandel herausgearbeitet. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Auf der einen Seite stehen Merkmale, die Obst- und Gemüseerzeugnisse dazu ausrüsten, als erwartbare, preisgünstige Waren auf großen Märkten zu funktionieren. Die Erwartbarkeit der Waren setzt voraus, dass große Mengen von homogenen
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Erzeugnissen mit zuverlässigen Erträgen hergestellt werden. Die Produkte müssen transport- und lagerfähig sein; außerdem müssen sich die Pf lanzen und Erzeugnisse zur maschinellen Bearbeitung eignen. Der Blick auf diese Gruppe von Qualitätskriterien zeigt deutlich, wie Obst- und Gemüseerzeugnisse nach dem Vorbild von Idealen der rationalisierten, industriellen Produktion hergestellt werden. Eine zweite Gruppe von Qualitätskriterien ist dagegen darauf ausgerichtet, das Erzeugnis für den Käufer im Moment des Kaufes attraktiv erscheinen zu lassen. Zu diesen Kriterien gehören die Ziele einer attraktiven visuellen Produkterscheinung, die Frische, Reife und der Geschmack, die Gesundheit des Lebensmittels sowie die uneingeschränkte Verzehrbarkeit und die Sauberkeit des Erzeugnisses. Ein abschließender Blick auf zwei Kontexte des Handels, in denen offensiv alternative Qualitätskonventionen verfolgt werden, verdeutlicht das Gemachtsein und damit das Andersmöglichsein der dominanten Qualitätsvorstellungen der industriellen Marktkonvention. Die visuelle Produkterscheinung der Erzeugnisse wie auch die Klasseneinteilungen der Vermarktungsnormen der EU verlieren hier an Bedeutung; Werte aus der handwerklichen, der ökologischen und der staatsbürgerlichen Konvention spielen dagegen wichtigere Rollen. Als Weiterentwicklung der Konventionentheorie offenbart die vorgelegte Perspektive auf die Produktion von Obst und Gemüse, dass Qualitätskonventionen sich nicht in sozialen Konstrukten erschöpfen: Die Betrachtung des Produktionsprozesses veranschaulicht, wie die dominanten Vorstellungen von Qualität auch eingebaut werden in Gerätschaften und Hilfsmittel, die ihrerseits zur Stabilisierung der Qualitätskonventionen beitragen. Die Apfelsortieranlage oder der elektronische Schadbildkatalog ELSKA, genauso wie die Architektur und Ausrüstung der Gewächshäuser für den Unterglasanbau von Tomaten sind Beispiele für solche Instrumente, die Vorstellungen von Qualität in Form von Bildern, Texten, Softwareanwendungen, technischen Anlagen und Gebäuden verkörpern und damit selbstverständlicher machen und verstetigen. Im Hinblick auf das Design legt die vorliegende Untersuchung nahe, dass eine intensivere Auseinandersetzung mit den Qualitätskonventionen der Konventionentheorie das Potential birgt, in Designprozessen zur Erarbeitung eines klareren, fundierteren und differenzierteren Verständnisses von Produktqualität beizutragen. Die Konventionentheorie zeigt sich dabei
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als durchaus anschlussfähig an etablierte Designtheorie – wie an Rittels Gedanken zu den unterschiedlichen Zielvorstellungen von Stakeholdern in Planungsprozessen (Rittel & Webber 2013) und auch an Krippendorffs Konzept des Verstehens zweiter Ordnung (Krippendorff 2013, S. 98). Aus allen drei genannten Perspektiven zeigen sich Vorstellungen zu Produktqualität als potentiell vielfältig und widersprüchlich, jedoch als zunächst gleichwertig und als grundlegend für die Entwicklung und Ausgestaltung der Merkmale von Produkten. In diesem Sinne kann das Anknüpfen an die Konventionentheorie in der oft von divergierenden und nicht konkret formulierten Qualitätsverständnissen geprägten gestalterischen Praxis dabei helfen, explizit und konstruktiv über die verschiedenen Qualitätsvorstellungen ins Gespräch zu kommen.
6.6 Vertiefung: Die visuelle Produkterscheinung Die Betrachtung der Kriterien für Produktqualität, die zur Attraktivität der Erzeugnisse für die Konsumentinnen beitragen sollen, offenbart die immense Bedeutung der visuellen Produkterscheinung für die Beurteilung der Qualität von Obst und Gemüse im Rahmen der etablierten industriellen Marktkonvention. Im Folgenden möchte ich diese Bedeutung der visuellen Produkterscheinung in der Produktion von Obst und Gemüse genauer beleuchten. Mit dieser Schwerpunktsetzung soll nicht zum Ausdruck kommen, die visuelle Produkterscheinung sei das wichtigste Kriterium in der Gestaltung von Obst und Gemüse. Andere Ziele – vor allem günstige Preise und die Erwartbarkeit der Waren – haben in der industriellen Marktkonvention für die dominanten Akteure größeres Gewicht. Sie sollen durch Standardisierung und Rationalisierung der Produktion sichergestellt werden. Aus der Perspektive des Design ist jedoch die festgestellte Bedeutung der visuellen Merkmale besonders interessant, da der visuellen Erscheinung von Produkten im Design seit Langem eine ambivalente Rolle zukommt. Daher nehme ich an dieser Stelle die Rolle der visuellen Produkterscheinung besonders in den Blick. Im ersten Abschnitt möchte ich dabei anhand einer ausführlichen Betrachtung verschiedener Positionen aus dem Design aufzeigen, welche verschiedenen Rollen der visuellen Produkterscheinung innerhalb des Produktdesign in verschiedenen historischen Kontexten und in unterschiedlichen
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gestalterischen Traditionen zugewiesen worden sind. Im zweiten Abschnitt richte ich den Blick dann auf meine empirischen Daten zum Produktionsprozess von Obst und Gemüse und erläutere an zahlreichen Beispielen, wie sich die Bedeutung des Visuellen in Handel, Regulierung, Anbau und Züchtung von Obst- und Gemüseerzeugnissen zeigt. Das abschließende Fazit geht schließlich der Frage nach, was aus der Betrachtung dieses Gestaltungsprozesses über die Rolle der visuellen Produkterscheinung in der Produktion von Obst und Gemüse, aber auch im herkömmlichen Design gelernt werden kann.
6.6.1 Die Rolle der visuellen Produkterscheinung im Design Im Designdiskurs wird die Rolle der visuellen Produkterscheinung ambivalent beurteilt: Im Lauf der Designgeschichte finden sich zahlreiche widersprüchliche Positionen, die sich auch im heutigen Umgang des Design mit Fragen der Ästhetik spiegeln. Aus der Perspektive des Marketing, aber auch von einigen Designern, wird die Gestaltung der visuellen Produkterscheinung als primäre Aufgabe von Produktdesign verstanden. Stimmen von Gestalterinnen aus der Tradition des Funktionalismus tendieren dagegen dazu, die Rolle der visuellen Produkterscheinung in der von zweckrationalen Argumenten geprägten funktionalistischen Gestaltung zu negieren. In der jüngeren Tradition des Experience Design wird die Bedeutung visueller Attraktivität für die Benutzbarkeit und das positive Produkterleben formuliert – dennoch werden Fragen nach den Grundlagen ästhetischen Empfindens oder nach dem Zustandekommen visueller Attraktivität im Design kaum gestellt. Im folgenden Abschnitt möchte ich die divergierenden Positionen verschiedener gestalterischer Traditionen zur Frage nach der Rolle der visuellen Produkterscheinung nachzeichnen.
Die visuelle Erscheinung von Produkten als primäre Aufgabe von Design Produktgestaltung ist grundsätzlich als eine marktbezogene Praxis zu verstehen. Seit seinen Anfängen zu Beginn der Industrialisierung kommt dem Industriedesign die Aufgabe zu, Produkte so zu gestalten, dass sie für Käuferinnen auf dem Massenmarkt attraktiv werden. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts sollten für die historistischen und ästhetisch als fragwürdig empfundenen Produkte der ersten industriellen Produktionsstraßen neue
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Formen gefunden werden, die der neuen Art der Herstellung und damit der neuen Zeit gerecht wurden. Es entwickelte sich der Beruf des Produktdesigners, dem von kunstgewerblichen Großproduzenten die Verantwortung für die Planung der Formgebung von industriell hergestellten Dingen übertragen wurde (vgl. Selle 2007, S. 99ff). Dieses grundsätzliche Verständnis der Aufgabe von Design ist – trotz verschiedener Strömungen, die zusätzliche Rollen für das Design etablierten – bis heute relativ stabil geblieben. Margolin und Margolin schreiben hierzu: When most people think of product design, they envision products for the market, generated by a manufacturer and directed to a consumer. Since the Industrial Revolution, the dominant design paradigm has been one of design for the market, and alternatives have received little attention. Margolin & Margolin 2002, S. 23
Entsprechend stellen die Autoren fest: “the primary purpose of design for the market is creating products for sale” (ebd., S. 24). An dieser grundsätzlichen Einbettung des Design in die Bedingungen des Massenmarktes hat sich bis heute wenig geändert. In diesem Kontext erhält die Attraktivität der visuellen Erscheinung der Produkte eine unleugbare Relevanz für das Design. Der Philosoph Andreas Dorschel (2003) erinnert: Die Branche, die sich Design nennt, hat ihre Geschäftsgrundlage in nicht unbeträchtlichem Maße, ja vielleicht überhaupt darin, eine Kundschaft, die bereits alles hat und demzufolge nichts mehr braucht, kraft der schieren Macht der ästhetischen Erscheinung ein ums andere Mal zur gefährlichsten, weil freiwilligen Abhängigkeit zu verleiten: Der Begehrlichkeit. Dorschel 2003, S. 21
Die bewusste Gestaltung des Produktäußeren, der visuellen Erscheinung von Produkten, wird damit vor allem als Mittel zum Erreichen der angestrebten Attraktivität für mögliche Käufer verstanden. Ein Designer, der bekannt dafür geworden ist, genau diese Fähigkeit des Entwurfes von verkaufsfördernden visuellen Produkterscheinungen sehr erfolgreich anzubieten, ist Raymond Loewy. Loewy ist in den 20er bis 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts einer der ersten Industriedesigner in
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den USA; er schreibt sich gar die Erschaffung dieses neuen Berufes selbst zu (Loewy 1953, S. 8). Mit seinen von der Stromlinienform geprägten Entwürfen von Automobilen, Bussen und Kühlschränken und auch mit grafischen Arbeiten hat er großen Erfolg. In seinem Buch mit dem deutschen Titel „Häßlichkeit verkauft sich schlecht“ sammelt er Erzählungen aus seinem beruf lichen Leben. Darin beschreibt er die „stilvolle Gestaltung des Äußeren, der Oberf läche“ (Loewy 1953, S. 295) als erste und bedeutendste Aufgabe von Designern. Der wirtschaftliche Erfolg der von ihm gestalteten Produkte gilt für ihn als Bestätigung seiner gestalterischen Kompetenz. Früh formuliert Loewy die Relevanz der visuellen Erscheinung von Produkten für die Kaufentscheidung: “Between two products equal in price, function and quality, the one with the most attractive exterior will win” (Loewy o.J.). Seine gestalterische Aufgabe sieht Loewy folglich als die Nutzung dieses Potentials, das der instrumentelle Einsatz einer attraktiven Produkterscheinung zur Steigerung von Verkaufszahlen mit sich bringt.16 Loewys Designauffassung wird heute allgemein dem Begriff des Styling zugeordnet (vgl. Heuf ler et al. 2019, S. 18). Das auf die Oberf läche reduzierte Styling, also die nachträgliche Gestaltung von Form, Farbe, Oberf läche und Muster mit dem Ziel der Verkaufsförderung, wird von vielen heutigen (europäischen) Designerinnen kritisch gesehen, die betonen, dass sie ihre Aufgaben umfangreicher begreifen (vgl. ebd., S. 35). Dennoch ist die von Loewy vertretene Auffassung von Design auch heute nicht vollkommen überholt. Sie kommt weiterhin vor allem im Bereich des marketinggetriebenen Design zur Anwendung. In ihrer Studie zum Einf luss der visuellen Produkterscheinung auf die Kaufentscheidung schreiben die Niederländer Creusen und Schoormans (2005): “Product design has been recognized as an opportunity for differential advantage in the market place. The appearance of a product inf luences consumer product choice in several ways” (ebd., 16 Auch wenn Loewy die Schönheit von Produkten zuallererst als ein Mittel zur Verkaufsförderung begreift, sieht er sie übergeordnet auch als Weg zum „Friede[n] der Seele“ (Loewy 1953, S. 295), bzw. zur Erfüllung des menschlichen Lebens. Für ihn steht fest: “Unerfreuliche Empfindungen, die durch häßliche Formen, Farben, Oberflächen, Geräusche, Temperaturen oder Gerüche entstehen, sind […] Hindernisse auf dem Wege zur Erfüllung unseres Lebens” (ebd.). Entsprechend kommt in seinen Erzählungen sein fester Glaube an die ständige Verbesserung und Verschönerung des Lebens zum Ausdruck, die ausgehend von Amerika, begründet auf dem Unternehmergeist der Amerikaner, der gesamten Weltbevölkerung zugute kommen soll.
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S. 63). Nahezu identisch mit Loewys Formulierung bestätigen Creusen und Schoormans die Einsicht: „When product alternatives are similar in functioning and price, consumers will prefer the one that appeals the most to them aesthetically” (ebd., S. 65). Typisch für Perspektiven aus dem Bereich des Markteting nutzen Creusen und Schoormans den Begriff der „product appearance“ fast synonym zum Begriff des „product design“.17 Als Ergebnis ihrer Untersuchung entwickeln sie sechs verschiedene Rollen, die beschreiben, in welchen Weisen das Produktaussehen sich auf die Kaufentscheidung von Konsumenten auswirkt. Besonders gehen die Autoren dabei auf den ästhetischen Wert der visuellen Produkterscheinung ein, der sich in ihrer Studie zu Kaufentscheidungen als besonders einf lussreich erweist. Er bezieht sich darauf, bei der Betrachterin ohne jede Einbeziehung der Nützlichkeit eines Gegenstandes Gefallen auszulösen. Die Untersuchung von Creusen und Schoormans illustriert beispielhaft, wie stark die Rolle des Produktdesign aus der Sicht des Marketing und in der Wirtschaft bis heute davon geprägt ist, dass Dinge – nicht ausschließlich, aber zu einem großen Teil auch in ihrer visuellen Produkterscheinung – so gestaltet werden sollen, dass sie für den Kauf attraktiv werden. Auch wenn zahlreiche Produktdesignerinnen diesem Designverständnis nicht zustimmen werden, handelt es sich hier um eine sehr verbreitete und über die Zeit relativ stabile Auffassung, die auch maßgeblich bedingt, wie Design von außen wahrgenommen und verstanden wird.
Kritik an der Instrumentalisierung des Visuellen Die immense Bedeutung der visuellen Erscheinung von Waren im Kontext des Kapitalismus untersucht auch der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug (1971). Mit dem Begriff der Warenästhetik beschreibt er “solche Schönheit, wie sie im Dienste der Tauschwertrealisierung entwickelt und 17 Der einzige Grund für die Verwendung des Begriffes der product appearance ist für Creusen und Schoormans (2005) der Umstand, dass das product design auch im Inneren der Geräte liegende und damit im Moment der Kaufentscheidung nicht sichtbare Teile betrifft (ebd., S. 64). Ein solches Verständnis von Design findet sich häufiger in Studien aus dem Bereich des Marketing: Eckman & Wagner (1994) beispielsweise formulieren: “A design is a unique combination of visual elements: line, space, shape, light, color and pattern” (ebd., S. 560) – ein Verständnis, dem der Großteil der Designer wohl widersprechen würde.
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den Waren aufgeprägt worden ist, um beim Betrachter den Besitzwunsch zu erregen und ihn so zum Kauf zu veranlassen” (ebd., S. 10). Haug kritisiert die radikale Unterordnung der Produktgestaltung unter die Gesetze des Kapitalismus und verurteilt eine Gestaltung, die nur dem Produzenten nützt und der Käuferin unehrliche Versprechungen macht. Seine Beschreibungen der Bedingungen, die die industrielle Produktion von Waren in kapitalistischen Gesellschaften formen, überschneidet sich an vielen Stellen stark mit meinen Beobachtungen im Rahmen der Untersuchung der Produktion von Obst und Gemüse. Was Haug besonders kritisiert, ist eine Verschlechterung des Gebrauchswertes von Produkten durch das Streben nach Rentabilität in der Produktion. Er beschreibt die zunehmende Einsparung von Arbeitszeit, die Steigerung der Produktivität, die Verbilligung der Materialien und die Verringerung der Produktionszeit und stellt fest: „Man sieht, dass alle diese Veränderungen die Erscheinung eines Produkts modifizieren müssen. Hier erwachsen ebenso viele Funktionen, durch zusätzlich produzierten Schein die Veränderungen zu überdecken oder zu kompensieren” (ebd., S. 23f). So verstanden wird das attraktive Aussehen von Produkten zu einer bewussten Täuschung. Die Schönheit der Waren soll die Verschlechterungen des Gebrauchswertes kompensieren, einen hohen Gebrauchswert vortäuschen und dadurch einen hohen Tauschwert legitim erscheinen lassen.18 Kritik an der Instrumentalisierung der visuellen Produkterscheinung zur Förderung von Verkaufszahlen kommt jedoch nicht nur von Philosophen – auch aus den Reihen des Design melden sich solche Stimmen immer wieder zu Wort. Eine der ersten und einf lussreichsten darunter ist die von Victor Papanek, der in diesem Zusammenhang in den 70er Jahren das Design im Dienste der Industrie als einen der – unter sozialen und ökologischen Gesichtspunkten – für die Welt schädlichsten Berufe bezeichnet (Papanek 2011). Frenkler (2018) plädiert vor diesem Hintergrund dafür, dass in Zu18 Sicherlich kann auch Haugs kulturpessimistische Kritik kritisiert werden. Manche von Haugs marxistischen Überzeugungen können in Zweifel gezogen werden: Zum einen konstruiert Haug Konsumentinnen hauptsächlich als Opfer des Kapitalismus, denen Bedürfnisse suggeriert und aufgedrängt werden. Auch Moden werden als Effekt des Kapitalismus dargestellt. Die Wirtschaft des Sozialismus dagegen wird idealisiert, denn sie sei an den echten Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Die Anfechtbarkeit dieser Annahmen macht jedoch die Beobachtungen zur Bedeutung der visuellen Produkterscheinung im Kontext des Handels nicht weniger treffend.
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kunft nicht nur das Entwerfen, sondern vor allem auch das Verhindern von neuen Produkten eine bedeutende und von den Auftraggeberinnen anerkannte Aufgabe für das Design darstellen sollte.
Das Ausblenden der Rolle des Visuellen im Designdiskurs Entgegen der bisher dargestellten Stimmen, die die Einbettung des Design in dem Markt zum Thema machen – und entweder wie Loewy (1953) oder Creusen und Schoormans (2005) das daraus entstehende Potential beschwören, oder wie Haug (1971) und Papanek (2011) vor den daraus entstehenden Gefahren warnen – wird die Einbettung des Design in den Markt und die damit verbundene unleugbare Bedeutung der Gestaltung der visuellen Produkterscheinung mit dem Ziel der Absatzförderung von der Mehrheit der Designer ungern thematisiert. Während unter Designhistorikerinnen die Einbettung der Entstehung des Design in die Entwicklung des Kapitalismus einen etablierten Konsens darstellt (Craske 1999, S. 187), … werden die kapitalistischen Rahmenbedingungen, in denen das Design seit seinen Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts als eine industrialisierte, auf den Massenkonsum ausgerichtete Tätigkeit zu verorten ist, [von praktizierenden Designern in der Regel gerne] ausgeblendet. Mareis 2011, S. 118
Die überwiegende Mehrheit der Designerinnen sieht sich ungern in der Rolle der Dienstleisterin für den visuell dominierten Massenmarkt – populärer sind im Designdiskurs Selbstverständnisse als generalistischer Löser komplexer Probleme, als Vermittlerin verschiedener Interessen oder auch als inspirierte Künstlerpersönlichkeit. Entsprechend – und als Gegenposition zu der häufig im Bereich des Marketing formulierten Gleichsetzung von Design mit der Erzeugung visueller Attraktivität – treten im Designbereich immer wieder auch Stimmen auf, die entschieden zum Ausdruck bringen, dass die Gestaltung der visuellen Erscheinung unter den vielfältigen Aufgaben der Produktgestaltung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dieses Argument der Abwertung der visuellen Erscheinung und die damit einhergehende Leugnung der Rolle der Ästhetik für das Design kehren im Verlauf der Designgeschichte immer wieder. Am deutlichsten werden sie in der Lehre des Funktionalismus formuliert (vgl. Geiger 2018, S. 22).
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Als ein früher und besonders bekannter Vertreter dieser Denkweise gilt der österreichische Architekt Adolf Loos, der das Anfertigen von rein auf das Aussehen abzielenden Ornamenten in seinem einf lussreichen Vortrag „Ornament und Verbrechen“ als verschwenderische Degenerationserscheinung bezeichnet (Loos 1908). Seine Ornamentfeindlichkeit findet auch Jahrzehnte später noch in den prägenden Lehren des Funktionalismus am Bauhaus und an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm Widerhall. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickeln sich der deutsche Werkbund und das Bauhaus zu einf lussreichen Institutionen, die eine funktionalistische Gestaltung vorantreiben. Der Funktionalismus wird in Deutschland zum vorherrschenden Stil. Im Kontext des Funktionalismus wird die Funktion – zumindest in den verbalen Äußerungen – zum zentralen Interesse der Gestaltung. Die visuelle Produkterscheinung wird der Funktion untergeordnet (vgl. Mareis 2014, S. 67). Der berühmte Leitsatz „form follows function“, der meist auf den Architekten Louis Henry Sullivan (1896) zurückgeführt wird (vgl. z.B. Feige 2018, S. 127ff), bringt zum Ausdruck, dass die Form stellvertretend für die gesamte visuelle Erscheinung eines Gegenstandes seiner Funktion unterzuordnen ist, bzw. darüber hinaus, dass die Form sich aus der Funktion heraus entwickeln lässt.19 Die intensive Beschäftigung funktionalistisch geprägter Gestalter mit Fragen der Zweckrationalität sieht Annette Geiger (2018) jedoch vor allem als Ablenkung von der eigenen Verhaftung in ästhetischen Erwägungen. Für Geiger erweist sich auch die funktionale Form bei näherer Betrachtung als ästhetisch motiviert:20 Was als funktionale Gestaltung tatsächlich realisiert wird, ist […] eher ein Stil bzw. eine ästhetische Position, die versucht, durch Schlichtheit und Verzicht
19 Dass eine kausale Ableitung der Form aus der Funktion letztlich nicht möglich ist, wird beispielsweise von Andreas Dorschel (2003, S. 26) treffend beschrieben. Annette Geiger (2018) bezieht sich ebenfalls auf Dorschel und schreibt zu dieser Frage: „[D]as verlässliche Funktionieren der Dinge determiniert keineswegs ihre Form. Erst wenn diese kontingente, d.h. kausal nicht determinierbare Seite der Dinge reflektiert wird, befinden wir uns im Bereich der Gestaltung” (ebd., S. 24). 20 Sehr ähnliche Argumentationen finden sich z.B. bei Schneider (2005, S. 232), wie auch bei Mollerup (2019, S. 100).
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zu überzeugen. Sie folgt also einem Geschmacksempfinden und nicht der rhetorisch vorgeschobenen Nützlichkeit. Geiger 2018, S. 28
In den 90er Jahren formuliert Dieter Rams, einf lussreicher Designer und prominenter Vertreter des Neofunktionalismus (Heuf ler et al. 2019, S. 21), in seinen zehn Thesen zwar „Gutes Design ist ästhetisches Design“ (Rams 2017, S. 87), betont aber zugleich, dass alles Oberf lächliche überf lüssig ist und möglichst weggelassen werden sollte: „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich […] Zurück zum Puren, zum Einfachen!“ (ebd., S. 90). Fritz Frenkler, der seinerseits den Neuen Funktionalismus vertritt, formuliert diese These folgendermaßen: „Designer meinen noch immer, sie müssten ‚Schönes‘ schaffen, daran krankt das Designverständnis. Die formalästhetische Herausforderung ist längst erledigt, das machen wir am Wochenende“ (Frenkler 2018). Auch Heuf ler et al. (2019) heben hervor, dass Design sich von der reinen Oberf lächenkosmetik unterscheidet (vgl. ebd., S. 35). Anders als das Styling, dem „einseitiger Showcharakter“ (ebd.) unterstellt wird, konzentriere sich Design nicht nur auf die visuelle Erscheinung der Objekthülle.21 Die Reihe prominenter Designer, die sich gegen die Gleichsetzung von Design mit der visuellen Erscheinung von Produkten wehren, wird komplettiert von Steve Jobs, dem langjährigen CEO und Designchef von Apple. Er formuliert seine Haltung in dem im Designdiskurs viel rezipierten Ausspruch: „Most people make the mistake of thinking design is what it looks like […]. That’s not what we think design is. It’s not just what it looks like and feels like. Design is how it works“ (Jobs 2003). Auch im zeitgenössischen Design ist es also vielen Designern nach wie vor ein großes Anliegen, hervor-
21 Auch Donald Norman (2004), der einerseits mehrfach auf die Bedeutung der attraktiven visuellen Erscheinung für ein positives Nutzungserlebnis hinweist, vertritt andererseits stellenweise dieselbe Position und beschreibt die visuelle Produkterscheinung als oberflächlich und leer – und damit als minderwertig. In Verbindung mit der aufwändigen Gestaltung von Flaschen für die Verpackung von Trinkwasser verwendet er den Begriff des „eye candy“: Diese Art von Design sei “as sweet to the eye as the taste of candy to the mouth. Yet just as sweet-tasting candy is empty of nutritional value, so, too, is appearance empty beneath the surface” (ebd., S. 65). Hier spiegelt sich auch in Normans Texten die im Designbereich häufig anzutreffende Abwertung der visuellen Produkterscheinung.
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zuheben, dass es sich bei Design nicht um eine vorrangig auf die ästhetische Erscheinung bezogene Praxis handelt.22 Von Loos über die Vertreter des Werkbundes und der HfG Ulm und bis heute gab und gibt es demnach eine lange Tradition von funktionalistisch geprägten Gestaltern, die bekräftigen, dass Design sich nicht an ästhetischen Äußerlichkeiten auf halten sollte. Andere Aspekte, vor allem die Funktionsweise, die Zweckmäßigkeit und die Benutzbarkeit der Dinge, sollten im Zentrum des Interesses und der Aufmerksamkeit von Designerinnen stehen. Die dargestellten Stimmen aus dem Design heben hervor, dass professionelle Gestalter ihre Aufgaben als umfangreicher begreifen und dass die Gestaltung der visuellen Erscheinung nur einen kleinen und untergeordneten Teil der eigenen Kompetenzen und der selbst wahrgenommenen Verantwortung ausmacht.
Produktsprache und Postmoderne: Die Aufwertung des Visuellen Im Laufe der 70er und 80er Jahre werden die Grundannahmen des Funktionalismus von verschiedenen Strömungen infrage gestellt. Allen voran greifen die Vertreter der Postmoderne die aufgezeigten inneren Widersprüche des Funktionalismus auf und stoßen mit der offensiven Aufwertung formalästhetischer Fragen in der Gestaltung eine Gegenbewegung an. Die Designtheorie des Offenbacher Ansatzes kann als Versuch gelten, die bis dahin unangefochtene Bedeutung der rationalen Produktfunktion infrage zu stellen und die ästhetische Ebene – und damit auch die visuelle Produkterscheinung – wieder explizit in den Designdiskurs mit einzubeziehen. In der Theorie der Produktsprache etablieren Jochen Gros und seine Kollegen an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach neben der bisher fokussierten praktischen Produktfunktion auch die formalästhetische Funktion, die symbolische Funktion und die Anzeichenfunktion als zentrale Anliegen von Produktgestaltung (Gros 1976a, Gros 1976b, Gros 1983). Die psychischen und sozialen Mensch-Objekt-Relationen werden im Offenbacher Ansatz als der zentrale Erkenntnisgegenstand disziplinärer Designtheorie verstanden (vgl. 22 Die Ablehnung der Auffassung, dass es im Design lediglich um gelungenes Aussehen geht, äußert sich beispielsweise auch in der Tatsache, dass das Wort „hübsch“ in manchen Designstudiengängen als verbotenes Wort gilt. Norman (2004) bestätigt diese Beobachtung. Auch im US-amerikanischen Designdiskurs ist „pretty“ demnach ein verpönter Ausdruck. Norman beschreibt die im Designbereich herrschende Überzeugung, hübschen Dingen fehle es an Tiefe und Substanz (vgl. ebd., S. 66f).
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Gros 1976a, S. 8; Gros 1983). Die Theorie der Produktsprache sei „als Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichte der Designtheorien der Nachkriegszeit“ zu verstehen, so Claudia Mareis (2014, S. 96). Der Ansatz steht für „eine Verschiebung des Interesses von der Funktionalität von Designartefakten zu ihrer Zeichenhaftigkeit und Bedeutungsdimension“ (ebd.). Mit der in den 80er Jahren einsetzenden Postmoderne erfährt der als streng und einengend empfundene Funktionalismus eine noch radikalere Gegenbewegung. Mit vielfältigen Bezugnahmen auf verschiedene historische Stile und Elemente der Konsumkultur feiert unter anderem die Gruppe Memphis um Ettore Sottsass die Regellosigkeit. Um die Kritik an der Vorherrschaft der praktischen Funktion auf den Punkt zu bringen, wird der neue Leitsatz „form follows fun“ formuliert (vgl. Zey 2018; Mareis 2014, S. 94). Das Aussehen der Gegenstände wird nun radikal aufgewertet, die Funktion wird untergeordnet. Teilweise geht dies so weit, dass die Benutzbarkeit der Gegenstände durch ihre expressive Formgebung auch eingeschränkt wird (vgl. Aicher 1991). Die zeitweise unangefochtene Dominanz des Funktionalismus führte demnach – wie auch die spätere Erschließung neuer Aufgabenstellungen für die Anwendung gestalterischer Kompetenzen23 – nicht dazu, dass ästhetische und visuelle Fragen ihre Relevanz für das Design langfristig verloren hätten.
Visuelle Produkterscheinung und Produkterleben In der aktuelleren Literatur aus dem Bereich des Experience Design hat sich die Einsicht etabliert, dass die Attraktivität der visuellen Erscheinung eines Produktes maßgeblich zu dessen Bedienbarkeit beiträgt: In Bezug auf das 23 Die jüngere und aktuell sehr gefragte Praxis des Design Thinking befasst sich mit der Übertragung von Designkompetenzen, -methoden und -prozessen auf Problemstellungen, die bisher nicht typischerweise von Designern bearbeitet wurden. In interdisziplinären Teams wird im Design Thinking, häufig in Workshopformaten, an komplexen Problemen gearbeitet. Die entstehenden Lösungen sollen zugleich menschlich wünschenswert, technisch umsetzbar und wirtschaftlich profitabel sein (Brown 2009). Da Design Thinking in Projektphasen angewandt wird, in denen zunächst die Erarbeitung innovativer Konzepte angestrebt wird, spielt die attraktive visuelle Produkterscheinung in dieser Praxis eine untergeordnete Rolle. Entsprechend wird auch Design Thinking von der Erzeugung visueller Attraktivität abgegrenzt: Design Thinking sei „more than style“ (Brown 2009). Dennoch ist auch in dieser Designtradition die Visualität bzw. die visuelle Umsetzung der erarbeiteten Konzepte von zentraler Bedeutung: So lautet eine der wichtigsten Grundregeln des Design Thinking: „Be visual.“ (Erbeldinger 2013, S. 23).
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Produkterleben geht die Bedeutung der visuellen Attraktivität demnach über deren Potential zur Steigerung von Verkaufszahlen hinaus. So werden visuell attraktive Produkte „als benutzerfreundlicher angesehen und haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, benutzt zu werden, unabhängig davon, ob sie tatsächlich einfacher zu bedienen sind“ (Lidwell et al. 2004, S. 18). Donald Norman (2004) betont zudem: „Attractive things work better“ (ebd., S. 17). Attraktive Produkte lösen positive Emotionen in deren Nutzerinnen aus und tragen dadurch im kognitiven System der Nutzerinnen zu einer Steigerung der Kreativität und Problemlösungskompetenz bei (vgl. ebd., S. 18). Doch auch abgesehen von der Benutzbarkeit bekräftigt die Forschung aus dem Bereich des Experience Design die Relevanz der visuellen Attraktivität von Produkten für das Produkterleben: Für Desmet und Hekkert (2007) gilt die visuelle Produkterscheinung als wesentlicher Faktor für das ästhetische Produkterleben, das eine der drei Ebenen in der von Designerinnen gestalteten Mensch-Produkt-Interaktion bildet. Das ästhetische Produkterleben wird in diesem Zusammenhang charakterisiert als “a product’s capacity to delight one or more of our sensory modalities” (ebd., S. 57). Auch Ylirisku und Arvola (2018) beschreiben die grundlegende Rolle der visuellen Produkterscheinung in der Erzeugung positiver Nutzungserlebnisse: Eine der sechs Arten der Güte im Design, die in der bereits erläuterten Studie formuliert werden, ist die hedonistische Güte, die verschiedene Formen des Gefallens bei einem Nutzer auslöst. Für das unmittelbare Gefallen, das in den ersten Augenblicken der Wahrnehmung als Reaktion auf die erlebten Sinneseindrücke entstehen kann, finden die Autoren den Begriff des passiven Gefallens (passive pleasure). Im passiven Gefallen wird das Aussehen eines Produktes zur Ursache für das vom Betrachter empfundene Wohlgefallen.
Ungeklärte Fragen nach dem Zustandekommen von Attraktivität Wie genau dieses Wohlgefallen, die Attraktivität oder ein positives ästhetisches Produkterleben zustande kommen, wird aus der Perspektive der Designforschung jedoch kaum untersucht – Fragen nach den Grundlagen der Empfindung von Attraktivität oder nach den kognitiven Prozessen bei der ästhetischen Beurteilung von visuellen Reizen werden stattdessen in anderen Disziplinen gestellt. Studien aus dem Bereich des Marketing weisen beispielsweise wiederholt auf die immense Bedeutung der visuellen Produkterscheinung hin und fordern in diesem Zusammenhang die genauere Untersuchung der Wir-
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kungsweisen visueller Erscheinungen (z.B. Eckman & Wagner 1994). Townsend (2015) stellt in einer Studie zur Motivation von Kaufentscheidungen fest: “aesthetics, even without function, is incredibly important” (ebd., S. 26). Ihr besonderes Augenmerk liegt auf der Untersuchung psychischer Auswirkungen der ästhetischen Produkterscheinung für Konsumentinnen. Im Unterschied zu Eckman und Wagner (1994), die eine Analyse der Attraktivität von bestimmten formalen Elementen für vielversprechend halten, heben Creusen und Schoormans (2005) hervor, dass ästhetische Urteile hochgradig persönlich und abhängig von Kultur, Zeit, Kontext und Produkt sind (ebd., S. 78) und dadurch kaum eine übergreifende Systematik für durchgängig als attraktiv empfundene Produkterscheinungen entwickelt werden kann. Das noch junge Feld der Neuroästhetik untersucht die Aktivität von Hirnregionen während der ästhetischen Beurteilung von visuellen Reizen. Solche Studien, die in der Regel auf quantitativen Untersuchungen der Hirnströme von Probanden basieren, offenbaren die Komplexität, Formbarkeit und Prozesshaftigkeit von ästhetischem Empfinden (Kirsch et al. 2016). In Verbindung mit neuroästhetischen Erkenntnissen geht die Evolutionspsychologie davon aus, dass Vorgänge im menschlichen Gehirn – darunter auch das ästhetische Empfinden – zu einem gewissen Grad durch die Bedingungen der Evolution geformt sind (Chatterjee 2014). Im Anschluss an solche Studien führt der Kognitionswissenschaftler Donald Norman, der in der Designforschung vor allem für seine Studien zur Benutzbarkeit von Produkten und Systemen bekannt ist, die visuelle Attraktivität von Produkten auf eine instinktive Ebene (visceral level) der Produktwahrnehmung zurück. Im Unterschied zur verhaltensbezogenen Ebene, die sich auf die Benutzung eines Produktes bezieht, und die ref lexive Ebene, die die Produktbedeutung beinhaltet, folgt die Funktionsweise der instinktiven Ebene für Norman angeborenen, durch die Evolution bedingten Instinkten: “At the visceral level, people are pretty much the same all over the world” (ebd., S. 33). Design, das sich nur an der instinktiven Ebene orientiert, könne demnach unabhängig von Kulturen überall auf der Welt als attraktiv empfunden werden: “The principles underlying visceral design are wired in, consistent across people and cultures. If you design according to these rules, your design will always be attractive, even if somewhat simple” (ebd., S. 67).24 24 Um seine Thesen zu belegen, beschreibt Norman die kulturunabhängige Attraktivität von Früchten und Blüten: „In this co-evolution of design, the plants change so as to attract
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Während die von Norman entwickelten drei Ebenen der Produktwahrnehmung im Designdiskurs – vor allem im Bereich des Experience Design – einen wichtigen Bezugspunkt darstellen (vgl. z.B. Ylirisku & Arvola 2018; Desmet & Hekkert 2007), machen sozial- und geisteswissenschaftliche Studien zur visuellen Kultur dementgegen darauf aufmerksam, dass die visuelle Wahrnehmung und das Empfinden von Attraktivität stets auch kulturell bedingt sind (vgl. z.B. Rimmele & Stiegler 2012, S. 10)25. Die evolutionsbiologisch bedingten Vorlieben für Symmetrie und gesättigte Farben liefern damit aus der Perspektive der Forschung zur visuellen Kultur nur bruchstückhafte Erklärungen für die Komplexität ästhetischer Erfahrungen, die im Wesentlichen als kontext- und kulturabhängig zu verstehen sind. Krippendorff (2013), der sich in seinen Ausführungen zur semantischen Wende eher beiläufig zum Thema der Attraktivität äußert, streicht daran anschließend die Abhängigkeit von Urteilen über visuelle Attraktivität von Zeit und Kontext heraus. Er versteht Attraktivität demnach nicht als eine objektiv feststellbare Eigenschaft von Objekten, sondern als eine Variable, die erst in der Interaktion zwischen Nutzer und Objekt in der Wahrnehmung entsteht (ebd., S. 138). Insgesamt fällt jedoch auf, wie selten und auf wie widersprüchliche Weise die Wirkungsweise visueller Produkterscheinungen und das Zustandekommen von Attraktivität aus der Designperspektive thematisiert werden. Vor dem dargestellten Hintergrund des Design als einer marktbezogenen Praxis, deren zentrale Aufgabe in der Außenwahrnehmung in der Regel auch heute in der Erzeugung von attraktiven visuellen Produkterscheinungen besteht, wirkt diese Beobachtung irritierend: Weshalb werden die Fragen nach den Grundlagen der Vorgänge, auf die gestalterisches Handeln im Wesentlichen abzielt, vom Design und auch von der Designforschung ausgeblendet? Wie die Untersuchung vermuten lässt, ist das Ausblenden der Fragestellung nach dem Zustandekommen von visueller Attraktivität auch bedingt durch die dargestellte Distanzierung des Design von der Reduktion der eigenen animals, while the animals change so as to become attracted to the plants and fruits. The human love of sweet tastes and smells and of bright, highly saturated colors probably derives from this co-evolution of mutual dependence between people and plants“ (Norman 2004, S. 66). Das unmittelbare ästhetische Produkterleben ist für Norman also geprägt von der von jedem Menschen instinktiv empfundenen Vorliebe für runde Formen, Symmetrien, Regelmäßigkeiten, gesättigte Farben und süßen Geschmack. 25 Siehe auch Kap. 3.2.
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Rolle auf die Erzeugung attraktiver visueller Produkterscheinungen. Ein weiterer Grund für das fehlende Interesse des Design an der wissenschaftlichen Untersuchung der Grundlagen von Attraktivität kann in der Sorge um den eigenen Expertenstatus bestehen: Bergner und Rogler (2013) stellen fest: „Die meisten Designer stehen den Bemühungen um rationale Objektivierung und Quantifizierung [von visuellen Produkterscheinungen] kritisch gegenüber. […] [Sie sehen] darin die Gefahr, dass Innovationen im Design behindert und ihre kreative Freiheit einschränkt werden könnte[n]“ (ebd., S. 59). Designer befürchten folglich in der häufig von Vertreterinnen des Marketing angestrebten Objektivierung und Messbarmachung der Attraktivität visueller Produkterscheinungen einen Angriff auf die eigene fachliche Souveränität; kämpfen jedoch gleichzeitig damit, in betriebsinternen Verhandlung wenig „harte“ Argumente zur Verteidigung der eigenen Vorschläge vorbringen zu können (vgl. ebd., S. 61).
Die Anerkennung der Rolle des Visuellen als Potential für das Design Vor diesem Hintergrund ermutigen aktuelle Stimmen aus der Designtheorie zu einer intensiveren Auseinandersetzung des Design mit dem eigenen Verhältnis zur visuellen Produkterscheinung und zu ästhetischem Empfinden. Mit Blick auf die Rolle der Schönheit in der Gestaltung stellt Benjamin Lieke (2008) einen Widerspruch zwischen Außenwahrnehmung und Selbstbild im Design fest: Während im öffentlichen Gespräch Design durchaus mit dem Adjektiv „schön“ in Verbindung gebracht wird, ist im professionellen oder akademischen Designdiskurs von „schön“ kaum die Rede. Lieke kommentiert: „Offenbar greift hier die Angst, Design könne auf Dekoration reduziert werden und so allgemeiner Plauderei über Geschmacksfragen anheimfallen. Die Folge ist, dass die Ref lexion über Schönheit meist ausgeblendet wird” (ebd., S. 356). Stattdessen wird im Design – wie bereits dargestellt – häufig lieber über Funktionalität und rationale Problemlösung gesprochen. Genau darin sieht Lieke jedoch eine noch größere Gefahr für das Design. Er warnt: Wenn Design nur noch über Zweckrationales nachdenkt, droht es, seine Eigenständigkeit zu verlieren. Auch Manja Unger-Büttner (2015) beobachtet die Distanzierungen des Design von der Rolle des „Anhübschers“. Dementgegen ermutigt sie Gestalterinnen zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen disziplinären Bezug zur visuellen Ästhetik. Sie sieht die „bekannte und beargwöhnte Verbindung
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des Designs zum Ästhetischen als Chance […], das Design und seine spezifischen Denkweisen zu profilieren und davon zu profitieren“ (ebd., S. 88). In einer philosophischen Konzeptanalyse zum Design beschreibt Annina Schneller (2018) „the creation of appearance and aesthetic experience [as] an essential task of design“ (ebd., S. 33). Als Ergebnis ihrer Studie kommt die Autorin zu fünf Kriterien, die sich als kennzeichnend für professionelles gestalterisches Handeln erweisen. Neben der Zukunftsorientierung, der Ausrichtung auf die Herstellung von Dingen oder Zuständen, der Orientierung an Absichten und Zielen und dem Bewusstsein und der Kontrolle der erzeugten Auswirkungen sieht Schneller das Nutzen formaler Mittel zum Erreichen gesteckter Ziele als einen wesentlichen Punkt, der professionelles gestalterisches Handeln von anderen Aktivitäten abgrenzt. Damit hebt Schneller die grundlegende Bedeutung der visuellen Erscheinung für das Design hervor: “in the case of design, appearance proves to be part of the essence” (ebd., S. 48). Das gestalterische Interesse an der Oberf läche ist nach Schneller jedoch nicht misszuverstehen: The details of technical construction of an industrial or architectural design product, [...] are formally vital for the designer only as far as they are perceivable by the user. Designers have a special interest in the surface of what they create. […] [But t]o focus on the perceivable or tangible aspects of form does not mean stopping at the surface. It does not make design a purely superficial activity. Schneller 2018, S. 40f
Es handelt sich demnach bei Design nicht um eine oberf lächliche Angelegenheit – schließlich seien auch die anderen vier formulierten Kriterien zentrale Merkmale gestalterischen Handelns. Die Distanzierungen von der vorrangigen Zuständigkeit für die visuelle Erscheinung von Produkten und die damit einhergehende Geringschätzung der Rolle der Ästhetik im Design ref lektieren demnach die bei Gestaltern verbreitete Befürchtung, im Produktentwicklungsprozess selbst zu ausführenden Kräften mit oberf lächlicher Bedeutung zu werden. Die zuletzt dargestellten Perspektiven ermutigen jedoch dazu, das Verhältnis des Design zur Visualität und zur Ästhetik neu zu bedenken. Eine intensivere Auseinandersetzung des Design mit der Rolle des Visuellen könnte auch zur Erar-
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beitung eines fundierteren Selbstverständnisses des Design und damit zur Stärkung und Profilierung der Disziplin beitragen.
Fazit: Visuelle Produkterscheinung im Design Der dargestellte Überblick über verschiedene Positionen aus dem Designdiskurs zur Rolle der visuellen Produkterscheinung in der Gestaltung verdeutlicht das ambivalente Verhältnis des Design zum Visuellen: Die Gestaltung des visuell erfahrbaren Produktäußeren gilt aus einigen Perspektiven als die zentrale Aufgabe von Produktdesign; andererseits wehren sich Gestalterinnen gegen die Gleichsetzung von Design mit oberf lächlichem Styling. Diese Ambivalenz führt in der Folge dazu, dass Fragen nach der Wirkungsweise der visuellen Produkterscheinung bzw. nach dem Zustandekommen von visueller Attraktivität und auch allgemeinere Fragen nach den Grundlagen, die ein positives ästhetisches Produkterleben bedingen, im Designdiskurs nur in seltenen Fällen explizit gestellt und stattdessen in der Regel ausgeblendet werden. Die nur spärlich auffindbaren Quellen mit explizitem Designbezug, die nach dem Zustandekommen von Attraktivität fragen, widersprechen sich zudem teilweise stark und beschreiben visuelle Attraktivität beispielsweise entweder als hochgradig individuell und daher als schwer steuerbar (Creusen & Schoormans 2005, S. 78), oder stattdessen als evolutionär bedingt, universell und kulturunabhängig (Norman 2004, S. 67). Beide Perspektiven lassen jedoch das bewusste und intentionale Erzeugen von visueller Attraktivität durch professionelles Design als schier unlösbare Aufgabe erscheinen. Mit der vorliegenden Studie verfolge ich die Hoffnung, durch die Betrachtung der Rolle der visuellen Produkterscheinung in der Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen eine neue Perspektive auf diese im Design ungestellten und ungeklärten Fragen zu ermöglichen.
6.6.2 Die Rolle der visuellen Produkterscheinung in der Produktion von Obst und Gemüse Ausgehend von der vorangegangenen Betrachtung verschiedener Positionen im Designdiskurs zur Rolle der visuellen Produkterscheinung in der gestalterischen Praxis möchte ich nun den Blick wieder auf den Prozess der Gestaltung von Obst und Gemüse lenken: Auch in diesem Gestaltungsprozess – in den kein einziger professioneller Designer involviert ist – erweist sich die
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visuelle Produkterscheinung der Erzeugnisse als äußerst bedeutsam, was sich in allen vier betrachteten Prozessphasen in den alltäglichen Handlungen und Entscheidungen der Akteure spiegelt. Im Folgenden beschreibe ich ausgehend von meinen empirischen Daten, wie sich die Bedeutung der visuellen Produkterscheinung in Züchtung, Anbau, Regulierung und Handel von Obst- und Gemüseerzeugnissen zeigt.
Handel In diesem Fall beginne ich die Beschreibung am Ende der Kette – beim Handel. Denn der Handel ist die Phase im Produktionsprozess von Obst und Gemüse, in der die Konzentration auf das Aussehen der Erzeugnisse ihren Ursprung hat: In den Auslagen der Selbstbedienungsmärkte soll ein makelloses Aussehen dazu beitragen, dass die Konsumenten zugreifen und sich zum Kauf entscheiden. Meine Gesprächspartnerinnen aus dem Handel – ob aus der Biobranche, aus dem Feinkosthandel oder aus dem Supermarkt – erklären einstimmig, dass Konsumenten, die beim Einkauf die Ware selbst auswählen, ihre Entscheidungen hauptsächlich in Abhängigkeit vom Aussehen der Produkte treffen. Das ist der Grund, warum Obst- und Gemüseerzeugnisse attraktiv sein sollen. Von dieser Logik überzeugt ist zum Beispiel auch der Kontrolleur, der die Einhaltung der geltenden Vermarktungsnormen zu Obst und Gemüse kontrolliert. Er bekräftigt: Die Ware müsse so attraktiv sein, dass sie die Konsumenten zum Kauf überzeugen kann, sonst bleibt sie im Laden liegen und „es ist niemandem geholfen“ (Feldnotizen, 29.09.2016). Dass Ware mit kleinen Schönheitsfehlern in Supermärkten und Discountern mit Selbstbedienung liegen bleibt und entsorgt werden muss, ist eine alltägliche Erfahrung im Handel. Eine Mitarbeiterin in einem Supermarkt erklärt, dass Ware mit Schalenfehlern einfach nicht so gern gekauft wird – auch wenn jeder weiß, dass das am Geschmack nichts ändert. Die Äpfel mit Flecken bleiben liegen und werden schließlich im Laden entsorgt. Auch die legendäre krumme Gurke, die ja, wie jeder weiß, genauso gut schmeckt, liegt trotzdem – wenn sie es erstmal bis in den Supermarkt geschafft hat – meist am Abend noch da und wird dann oft aussortiert und weggeworfen (Feldnotizen, 29.09.2016). Für jedes Produkt bestehen etablierte Erwartungen zur visuellen Produkterscheinung; und oft wird vom Aussehen auf andere Qualitätsmerkmale geschlossen. Bei Kohlrabi erwarten Verbraucher beispielsweise, dass die Knollen mit Blättern angeboten werden. Bevor eine Kundin einen Kohl-
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rabi einpackt, reißt sie im Regelfall die Blätter ab und lässt sie in der Auslage liegen. Doch wenn Kohlrabi ohne Grün angeboten werden, werden sie überhaupt nicht gekauft. Die Verbraucher haben dann das Gefühl, die Ware sei nicht frisch, erklärt mir die Supermarktmitarbeiterin (Feldnotizen, 29.09.2016). Die Attraktivität der Erzeugnisse spielt auch deshalb eine so zentrale Rolle, weil viele Konsumentinnen spontan einkaufen. Sie lassen sich durch ein ansprechendes Aussehen überzeugen, Dinge zu kaufen, die nicht ursprünglich auf einer Einkaufsliste standen. Die Supermarktmitarbeiterin erzählt von einem Beispiel: Am einen Tag kommt eine Lieferung von sehr großen Zwetschgen aus dem Zentrallager, sie sind nach wenigen Stunden ausverkauft. Für den nächsten Tag bestellt die Mitarbeiterin eine große Menge nach; doch die Ware, die kommt, sieht dieses Mal ganz anders aus: Es sind ganz kleine Zwetschgen, die sich viel schlechter verkaufen – und ein Großteil der Ware bleibt am Abend übrig (Feldnotizen, 29.09.2016). Weil das Aussehen im Moment der Kaufentscheidung so wichtig ist, spielt es auch im Einkauf der Supermarktketten und Discounter eine wichtige Rolle. Wenn Supermarkt-Einkäufer Ware einkaufen, dann basiert der Kauf auf präzisen Beschreibungen der Beschaffenheit der Waren. Zentraler Bestandteil dieser Beschreibungen sind Vorgaben zu visuellen Merkmalen wie Größe (Länge/Durchmesser), Farbe, Schalenfehler und – falls anwendbar – Handelsklassen nach den EU- oder UNECE-Normen. Der Handel ist folglich der Ort, an dem sich der Erfolg eines Artikels an seiner visuellen Erscheinung entscheidet. Weil das Visuelle im Handel so wichtig ist, ist es auch in den früheren Phasen des Produktionsprozesses von zentraler Bedeutung.
Regulierung In der Regulierung wird die Feststellung der Qualität auf der Basis des Aussehens der Produkte am deutlichsten greif bar. Anschaulich wird das bei allen drei untersuchten Instrumenten der Regulierung: an den gesetzlich geltenden Vermarktungsnormen, am elektronischen Schadbildkatalog und am automatisierten Apfelsortierprozess. In den Texten der Vermarktungsnormen werden vorrangig sichtbare Merkmale beschrieben: Laut der allgemeinen Vermarktungsnorm sollen die Erzeugnisse „ganz, […] gesund, […] sauber, […] frei von Schädlingen, […] frei von Schäden durch Schädlinge, […] [und] frei von anomaler äußerer Feuchtigkeit“ sein (DVO(EU) 543/2011a, S. 2). Andere Aspekte wie Geschmack,
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Konsistenz und Inhaltsstoffe werden – wenn überhaupt – nur nebensächlich erwähnt. Laut der Norm sollen die Erzeugnisse „frei von fremdem Geruch und/oder Geschmack“ sein (ebd., S. 3) – wie sie jedoch schmecken sollen, wird nicht näher bestimmt. Der elektronische Schadbildkatalog ELSKA präzisiert in Form von Bildern, was in den Normtexten nicht präzise genug erläutert werden kann. Um die Beurteilung der Qualität von Obst und Gemüse zu unterstützen und die einheitliche Auslegung der Normen zu fördern, bedient er sich der Fotografien von mangelhaften Erzeugnissen. Der Schadbildkatalog verstärkt damit die Konzentration der Normtexte auf die visuell feststellbaren Aspekte der Qualität. Die zuvor schon genannten nicht visuellen Kriterien Konsistenz, Geschmack und Inhaltsstoffe können nicht fotografiert werden und werden durch die verbreitete Nutzung dieses Hilfsmittels zur Qualitätsprüfung noch stärker zu Merkmalen von nebensächlicher Bedeutung. Der Sortierprozess von Erzeugnissen in fotografischen Sortieranlagen funktioniert rein auf der Basis der Auswertung von Bilddaten und treibt damit die Messung von Qualität anhand von visuellen Kriterien auf die Spitze. Er illustriert, wie die sichtbaren Merkmale Größe, Form, Farbe und Schalenfehler zu entscheidenden Qualitätskriterien werden, an denen der wirtschaftliche Wert der Produkte festgemacht wird. Bei allen drei untersuchten Instrumenten der Regulierung fällt also auf: Das Aussehen ist in der industriellen Marktkonvention ein zentrales Kriterium in der Beurteilung der Qualität von Obst und Gemüse. Sowohl die Normtexte, als auch der Schadbildkatalog, als auch die Praxis der Apfelsortierung funktionieren auf der Basis der Kategorisierung des Sichtbaren. Auch weitere Recherchen zu Normierungsgeräten, die das Sortieren, Kategorisieren und Standardisieren von Obst und Gemüse erleichtern sollen, deuten in die selbe Richtung: Metallringe oder Kunststoffschablonen mit Löchern erleichtern das Messen des Durchmessers von Äpfeln von Hand; Farbfächer helfen bei der Bestimmung der Reifestufe von Bananen (Abb. 5.3.6) und Clubäpfeln und Metallschablonen unterstützen das Messen der Krümmung von Spargelstangen. Fast immer geht es um die Beurteilung von Form, Farbe und Größe; also um die Beurteilung des Aussehens. Diese Beobachtung deckt sich mit der Literatur: Ein Handbuch zum Gemüsebau bezeichnet in einer Übersicht zu verschiedenen Komponenten der Qualität von Gemüse die von den amtlichen Vermarktungsnormen beschriebene Qualität als „Marktwert, äußere Qualität“ (Laber & Lattauschke 2014, S. 19). Andere Komponenten der Qualität wie „Genusswert, Gebrauchswert [oder] Gesundheitswert, also
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innere Qualität“ (ebd.) ließen sich mit etwas Anstrengung sicher auch regulieren und gestalten, wenn dies gewünscht wäre; doch in der aktuellen Regulierung spielen sie nur eine Nebenrolle. Die Schwerpunkte werden in der bisherigen Praxis anders gesetzt: Statt Genuss- und Gesundheitswert zählt für die EU-Verordnungen und auch in der täglichen Praxis des Großhandels vor allem die äußere Qualität; die visuelle Erscheinung der Erzeugnisse.
Anbau Weil die visuelle Erscheinung der Erzeugnisse ein zentrales Kriterium für deren Verkauf über den Großhandel ist, spielt sie auch im Anbau eine wichtige Rolle. Durch die Auswahl der Sorten, aber auch durch den Einsatz von zahlreichen Techniken soll das optimale Aussehen der Erzeugnisse gewährleistet werden. Im Unterglasanbau werden die visuellen Merkmale von Tomaten hauptsächlich durch die Wahl der Sorte bestimmt. Bei der Entscheidung für eine Sorte spielen für die Produzenten neben Geschmack und Ertrag auch äußerliche Eigenschaften wie Form und Farbe eine wichtige Rolle. Im Vergleich von verschiedenen Sorten von Kirschtomaten ist das schönere, ansprechendere Rot der einen Sorte neben anderen Aspekten ein wichtiger Grund, der für den Anbau der Sorte spricht (Interview mit einer Betriebsleiterin im Gemüsebau, 23.05.2016). Im Anbaualltag steht das konkrete Aussehen der einzelnen Früchte dann nicht mehr so sehr im Zentrum. Durch die Anbaubedingungen im Gewächshaus, die alle potentiell schädlichen Einf lüsse so weit wie möglich ausschließen, kann das durch die Sorte versprochene Aussehen als gesichert angenommen werden. Die Sortierung spielt bei Rispentomaten eine untergeordnete Rolle: Bis auf die Tomaten, die aufplatzen, oder einzelne Früchte, die von der Rispe fallen, wird alles als Klasse I verkauft. Ein Gärtnermeister erklärt: „Das produzieren wir halt so, dass das passt“ (Interview mit einem Gemüseproduzenten, 08.04.2016). Bei den Äpfeln, die für die Vermarktung über den Großhandel an eine Genossenschaft geliefert werden, ist das Aussehen der Früchte das ausschlaggebende Kriterium für den Erlös der Ernte. Größe, Farbe und Schalenfehler sind die entscheidenden Kriterien, nach denen die Ernte sortiert wird. Der Apfelbauer sagt: „[W]ir [werden] nach Farbe bezahlt“ (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Und in einem Handbuch zum Kernobstanbau ist zu lesen: „Übergrößen, aber auch zu kleine Früchte sind in der Vermarktung unerwünscht und bringen für den Produzenten keine zufriedenstel-
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lenden Erlöse” (Strahlhofer 2002, S. 61). In den Sortieranlagen der Genossenschaften werden die Äpfel nach den genannten Kriterien in unterschiedliche Qualitätskategorien sortiert (Kleinert 2018). Für jeden Obstbauern wird das Sortierergebnis genau aufgegliedert: Wieviel Kilogramm welcher Qualitätskategorie hat der Produzent geliefert? In Abhängigkeit von dieser Auswertung wird die Auszahlung des Erlöses vorgenommen. Daher wird schon im Anbau zum Beispiel durch das Ausdünnen der Blüten, den Sommerriss und den Einsatz von Pf lanzenschutzmitteln vieles unternommen, um möglichst viele Äpfel der besten Qualitätskategorie ernten zu können. Denn nur die Äpfel mit der richtigen Größe, der richtigen Farbe und ohne Schalenfehler erlösen am Ende einen für die Obstbauern rentablen Preis. Ganz ähnlich ist es bei Kartoffeln für den Großhandel. Eine Landwirtin erzählt: „Beim Händler, da spielt die Optik 26 schon eine enorm große Rolle. Also gerade was Kartoffeln und Zwiebeln angeht. So, wenn die zum Beispiel eine falsche Form haben oder ein bisschen grün sind oder ein kleines Loch haben oder so, dann f liegen die ja sowieso alle raus“ (Interview mit einer Landwirtin, 29.10.2015). Auch Kartoffeln werden in fotografischen Sortieranlagen nach Größe, Farbe und Knollenform sortiert. Optimal sind Knollen mit 35 bis 65mm Durchmesser in einer gleichmäßigen Form und Färbung (ebd.). Zu kleine und zu große Knollen, unförmige Knollen und solche mit grünen Stellen sind weniger bis gar nichts wert. Wichtig ist bei Kartoffeln außerdem, dass das Fleisch schön gelb ist. „Der deutsche Markt fordert gelbe Kartoffeln. […] Also Farbe ist […] zumindest im Handel manchmal sogar noch wichtiger [als] der Geschmack“ (ebd.). Um Kartoffeln zu ernten, die den Anforderungen an Farbe und Knollenform gerecht werden, muss die richtige Sorte ausgewählt werden: eine, die ein schönes Gelb und eine möglichst hohe „Knollenschönheit“ verspricht. Da letztere im Handel und folglich im Anbau von Bedeutung ist, ist sie zu einem wichtigen Kriterium in der Kartoffelzüchtung geworden (vgl. Miedaner 2017, S. 227). Im Anbau sorgen dann bodenverbessernde Maßnahmen wie Grubbern und Pf lügen und der Einsatz von Dünger, Pf lanzenschutzmitteln und Bewässerungssystemen für ein gutes Wachstum der Knollen, so dass Knollen ohne Fraßstellen in der richtigen Knollengröße gedeihen können.
26 Zum Begriff der Optik siehe Kapitel 5, Fußnote 19.
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Züchtung Form, Farbe, Größe und Oberf lächenbeschaffenheit der Erzeugnisse sind Merkmale, die die Vermarktbarkeit von neuen Obst- und Gemüsesorten maßgeblich beeinf lussen. Viele dieser äußeren Merkmale wie die Form von Basilikumblättern oder die Berostung von Äpfeln sind – genauso wie die Farbe von Kartoffeln – zu zentralen Züchtungszielen geworden, obwohl sie aus züchterischer Sicht „objektiv gesehen völlig bedeutungslos“ (Becker 1993, S. 68) sind.27 Dies gilt für Radieschen genauso wie für Küchenkräuter, für Erdbeeren und für Äpfel: Merkmale, die das Aussehen betreffen, spielen als wichtige Züchtungsziele zentrale Rollen bei der Entwicklung neuer Sorten. Befragt nach den Züchtungszielen bei Radieschen spricht eine Gemüsezüchterin als erstes hauptsächlich über Merkmale, die das Aussehen betreffen: Das perfekte Radieschen soll eine schöne Farbe haben, „das richtige Rot“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Es soll sich durch „eine schöne runde Form“ auszeichnen: „eine feine Wurzel, möglichst wenige Seitenwurzeln“ (ebd.). Zudem soll das Radieschen „ein gutes Knolle-Laub-Verhältnis“ (ebd.) aufweisen. Erst nach dieser ausführlichen Beschreibung des angestrebten Aussehens nennt die Züchterin noch weitere Züchtungsziele, die Eigenschaften in Anbau und Verarbeitung betreffen, wie Erntefähigkeit, Wascheignung, Homogenität und Erntezeitpunkt. Im Gespräch über den Grund für diese Konzentration auf Merkmale des Aussehens in der Züchtung spricht die Züchterin über den Kontext des Handels und das Verhalten der Konsumenten bei der Auswahl der Produkte: „Obst und Gemüse wird nach Anschein gekauft […]. Wir stehen nicht im Laden und diskutieren mit der Verkäuferin im Supermarkt: Wie sind denn da die Inhaltsstoffe, und ist das gesundes Gemüse? [Wir] picken […] uns das heraus mit den wenigsten braunen Stellen“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). 27 Mit dieser Bemerkung möchte Becker wohl darauf hinweisen, dass er die Verfolgung von streng funktionalen Zielen wie die Erzeugung von Resistenzen, die Steigerung der Erträge und die Verbesserung der Ernteeigenschaften für sinnvoller hält als eine Ausrichtung der Pflanzenzüchtung an den visuellen Vorlieben der Verbraucher. Trotzdem muss er einräumen, dass die Erwartungen der Verbraucher zu Farbe, Form und Größe der Erzeugnisse eine immense Bedeutung für die Marktfähigkeit von Erzeugnissen haben. Es findet sich hier eine Parallele zu bereits dargestellten Positionen aus dem funktionalistisch geprägten Design. Das häufiger vorkommende Motiv der Abwertung der Bedeutung der visuellen Erscheinung von Produkten bei deren gleichzeitig offensichtlicher Dominanz wird im Abschnitt 6.6.3 nochmals aufgegriffen.
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Auch für Erdbeeren gibt es detaillierte Vorstellungen zu der angestrebten idealen visuellen Erscheinung der Früchte: Die ideale Form – eine Herzform – und die ideale Farbe – ein helles Rot – können mir von dem Erdbeerzüchter genau beschrieben werden. Weitere Vorstellungen zu visuellen Idealen betreffen den Glanz der Früchte, die Färbung des Inneren, die Stellung und Größe der Kelchblätter, die Farbe und Position der Nüsschen sowie den bestenfalls nicht zu stark ausgeprägten weißen Kragen der Früchte am Kelchansatz (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016).
Die Wirksamkeit von Konventionen Die Abwägungen und Erfahrungen der Expertinnen in der Produktion von Obst und Gemüse machen deutlich, dass die Gestaltung der visuellen Produkterscheinung von Obst- und Gemüseprodukten verbreiteten Idealvorstellungen folgt. Damit zeigen sich sozial etablierte Konventionen nicht nur für die allgemeine Einschätzung der Qualität eines Erzeugnisses, sondern auch für die Beurteilung der visuellen Produkterscheinung als relevante Deutungsmuster. Für jedes Produkt können meine Gesprächspartner die etablierten und äußerst wirkmächtigen Konventionen zur optimalen visuellen Erscheinung des Erzeugnisses genau beschreiben: Sie bestehen in bestimmten Kombinationen aus einer gewissen Färbung, Größe, Form und Oberf lächenbeschaffenheit des Erzeugnisses. Die Konventionen zur visuellen Produkterscheinung von Obst- und Gemüseerzeugnissen werden einerseits greif bar in Form der Einkaufsbedingungen des Handels, die vorgeben, welche Form, Farbe und Größe eines Erzeugnisses derzeit vorherrschend und damit ideal für eine breite Vermarktbarkeit sind. Um darüber hinaus präziser einschätzen zu können, welche Standards derzeit gelten, also beispielsweise, welches momentan die richtige Farbe für Basilikum ist, ist es für die Akteure in der Produktion von großer Bedeutung, einen Marktüberblick zu haben. Eine Züchterin spricht von der Notwendigkeit, stets auf dem aktuellen Stand zu bleiben: „Also was ist gerade so der Standard, was ist aktuell […]. Wir wissen auch, welche Sorten der Mitbewerber sich gut verkaufen. Man hat einfach so einen Marktüberblick und weiß dann, was gerade in ist“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.09.2016). Im Anbau wird die Übereinstimmung mit den Konventionen dann zu einem großen Teil durch die Sortenwahl bestimmt. Um es der Pf lanze zu ermöglichen, das von ihrer Sorte versprochene Potential zu erreichen, soll die Gewährleistung optimaler Wachstumsbedingun-
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gen im Anbau die Entstehung von Fehlern und Abweichungen durch Schädlinge oder Pf lanzenkrankheiten vermeiden. Dass die Vorstellungen eines idealen Aussehens kulturell sehr unterschiedlich sein können, davon spricht zum Beispiel ein Erdbeerzüchter. Englische oder französische Verbraucher haben Vorstellungen von Erdbeeren, die sehr verschieden sind von den deutschen Konventionen: „In England erntet man die Erdbeeren mit einem Stiel. Ein knapper Zentimeter, weil man nicht möchte, dass die Frucht angefasst wird“ (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). In Frankreich dagegen gilt eine spitz zulaufende Herzform als gefragtes Zeichen für einen aromatischen Geschmack, weil diese Fruchtform in der Vorstellung der Verbraucher mit einer alten, aromatischen Sorte verbunden wird (ebd.). An diesem Beispiel wird abermals deutlich, dass visuelle Merkmale sehr häufig als Hinweise auf andere Produkteigenschaften interpretiert werden. Während bei einigen Merkmalen ohne zusätzliche Bedeutungen schlichtweg die Übereinstimmung mit den verbreiteten Konventionen angestrebt wird, gelten andere visuelle Merkmale als Indiz für Produkteigenschaften wie Frische, Reife und Geschmack. Die Färbung von Früchten wird als Indiz für deren Reife benutzt – und damit auch als Hinweis auf mangelnde Reife oder Überreife. Die Struktur der Oberf läche, beispielsweise der Glanz von Äpfeln wird als Zeichen für Frische verstanden; eine matte oder gar schrumpelige Fruchtoberf läche deutet auf mangelnde Frische hin. In vielen Fällen stellt sich der hinter dem visuellen Indiz vermutete Hinweis jedoch auch als Trugschluss heraus: Ein Erbeerzüchter erklärt, Konsumenten seien in Bezug auf Erdbeeren in der Regel der Überzeugung, “die Dunklen schmecken bestimmt besser, was Blödsinn ist. […] Also die Farbe hat mit dem Geschmack durchaus nichts zu tun. Es gibt auch weiße Erdbeeren, die fantastisch schmecken“ (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Auch der Sortiermeister der Apfelsortieranlage betont, dass es „vom Geschmack her“ keinen Unterschied macht, wie viel Rotanteil die Schale eines Apfels aufweist, denn „reif sind sie ja alle“ (Interview mit einem Sortiermeister, 08.03.2016). Ob die Verbindung zwischen dem visuellen Merkmal und der dahinter vermuteten Produkteigenschaft jedoch tatsächlich besteht, ist unerheblich: Es ändert nichts an der Verbreitung und damit an der Wirksamkeit solcher Überzeugungen im Gestaltungsprozess. Die Färbung von Pfirsichen und Nektarinen wird dadurch auch unabhängig von deren Reife zum wichtigen Ziel in Züchtung und Anbau, die Farbe von Kartoffeln und die Form von Erdbeeren sind auch
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unabhängig vom Geschmack wichtige Züchtungskriterien und der Glanz der Fruchtoberf läche ist bei vielen Erzeugnissen auch unabhängig von der Frische der Früchte ein so wichtiges Merkmal, dass beispielsweise Äpfel und Orangen in einigen Ländern für einen schöneren Glanz mit Wachs behandelt werden.
Die visuelle Produkterscheinung ist von zentraler Bedeutung – auch ohne Fürsprecher Insgesamt illustriert der dargestellte Überblick die zentrale Bedeutung der visuellen Eigenschaften der Erzeugnisse: Die Attraktivität der visuellen Erscheinung der Produkte ist entscheidend für den Erfolg im Handel – und wird dadurch zum zentralen Qualitätskriterium, das in allen Phasen eine wichtige Rolle spielt. Haug konstatiert: „[I]n der kapitalistischen Produktion [wird] die Ware nach dem Bilde der Sehnsucht des Käuferpublikums gebildet” (Haug 1971, S. 26). Diese Feststellung gilt auch für die Produktion von Obst und Gemüse: Das visuelle Bild der Sehnsucht des Käuferpublikums bestimmt die Gestaltung der Produkte. Damit dominieren die visuellen Gewohnheiten und verbreitete Annahmen von Verbraucherinnen die Produktion von Obst und Gemüse in allen Phasen. Die visuellen Vorlieben der Verbraucher bestimmen die Selektion der Linien in der Züchtung, die Formulierung der Normen in der Regulierung, den Einsatz von Pf lanzenschutzmitteln im Anbau und die Bestellkriterien im Handel. Die Akteure in der Produktion von Obst und Gemüse verfolgen das Ziel, die Erzeugnisse so herzustellen, dass sie den etablierten visuellen Erwartungen der Verbraucherinnen so perfekt wie möglich entsprechen. Die Betrachtung der Rolle der visuellen Produkterscheinung von Obstund Gemüseerzeugnissen in allen vier Phasen des Produktionsprozesses zeigt zudem auf, dass sich sozial konstruierte, kulturell geprägte Konventionen nicht nur in Bezug auf Vorstellungen von Wert und Qualität, sondern auch in Bezug auf visuelle Attraktivität als wirkmächtig erweisen. Die Beschreibungen der Bedeutung der visuellen Produkterscheinung aus der Sicht der Experten der Produktion von Obst und Gemüse sind in vieler Hinsicht anschlussfähig an das Konzept der Qualitätskonventionen als sozial konstruiert und abhängig von Zeit, Kontext und Kultur. Während visuelle Idealvorstellungen grundsätzlich genau wie Vorstellungen von Qualität als potentiell vielfältig denkbar sind, zeigt sich auch hier in den etablierten
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Standards des zentralisierten Handels die besondere Wirkmächtigkeit der industriellen Marktkonvention. Irritierend an der festgestellten großen Bedeutung des Aussehens bleibt, dass keiner der Akteure – weder der Konsument, noch die Produzentin, noch der Händler – die persönliche Überzeugung äußert, dass das Aussehen das entscheidende Kriterium für gute Produktqualität sei. Auch wenn sich die Expertinnen im Feld einig sind, dass die visuelle Erscheinung der Produkte zu den wichtigsten Kriterien für die Vermarktung über den Großhandel zählt, begegnet mir keine Person, die persönlich von der Relevanz eines attraktiven Aussehens für die Qualität eines Nahrungsmittels überzeugt ist. Stattdessen treffe ich immer wieder Akteure, die ein Unbehagen über die Überbewertung der visuellen Produkterscheinung zum Ausdruck bringen (z.B. Interview mit einer Landwirtin, 29.10.2015, Interview mit einem Sortiermeister, 08.03.2016). Wirklich wichtig ist eigentlich ein hoher Genusswert – das betonen auf der einen Seite die Verbraucherinnen: Der Geschmack ist das, „was beim Essen wichtig ist“ (BMEL 2017, S. 7). Dem pf lichten die Produzenten bei, die Mühe haben, ihre Erzeugnisse so zu produzieren, dass sie allen Erwartungen an die äußere Qualität gerecht werden (z.B. Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Und auch Expertinnen aus dem Handel bekräftigen den Vorrang des Geschmacks und sind nicht persönlich von der Relevanz der äußeren Qualität überzeugt. Ein Einkäufer für eine große Supermarktkette schreibt: „Für uns zählt Qualität und Geschmack, [doch d]er Verbraucher greift bei Obst und Gemüse nicht selten zu einem augenscheinlich schöneren Produkt und die Ware mit kleinen Schönheitsfehlern, wie zum Beispiel krumme Gurken oder Äpfel mit Flecken, [wird] zurückgelegt“ (E-Mail Kommunikation mit einem Einkäufer, 25.02.2019). Die Verantwortung für die große Bedeutung des makellosen Äußeren der Erzeugnisse will keiner übernehmen. Die Landwirte sehen die Händlerinnen in der Verantwortung; die wiederum schieben die Verantwortung weiter zu den Konsumenten, die sich bei ihrer Kaufentscheidung von visuellen Merkmalen leiten lassen. Bei zahlreichen Experten, bei Züchterinnen und Produzentinnen wie bei Händlern, herrscht ein leichtes Unbehagen über die wahrgenommene Überbewertung des Aussehens. Schließlich wird sie jedoch von der Mehrheit der Akteure mit Schulterzucken oder Kopfschütteln hingenommen: Der Markt funktioniert nunmal so. Insgesamt ist also zu beobachten, dass das Aussehen als Qualitätsmerkmal eine enorme Bedeutung hat – jedoch ohne, dass es dafür überzeugte Fürsprecher gäbe.
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6.6.3 Fazit Im vorliegenden Abschnitt steht die Frage nach der Rolle der visuellen Erscheinung von Produkten im Zentrum. Im ersten Teilabschnitt lege ich dar, mit welchen widerstreitenden Positionen die Rolle der visuellen Produkterscheinung innerhalb der Aufgaben des Design diskutiert wird. Die Gestaltung von attraktiven Produkterscheinungen gilt einerseits als zentrale Aufgabe des Design; andererseits wehren sich Gestalter gegen die Reduktion der eigenen Zuständigkeit auf die Erzeugung von verkaufsfördernden visuellen Erscheinungen. Insgesamt führt diese Ambivalenz im Designdiskurs dazu, dass Fragen nach den Grundlagen des Zustandekommens von visueller Attraktivität trotz ihrer grundsätzlichen Relevanz für die Disziplin ausgeblendet werden. Dementgegen bekräftigt die vorliegende Untersuchung die dargestellten Stimmen aus der Designtheorie, die zu einer offensiveren Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik bzw. mit der Wirkungsweise von visueller Attraktivität ermutigen (vgl. Unger-Büttner 2015; Lieke 2008; Schneller 2018). Eine intensivere und offenere Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Zustandekommens von visueller Attraktivität auch in anderen Produktbereichen kann dazu beitragen, die Bedeutung der Gestaltung von visuellen Produkterscheinungen im Design klarer zu ref lektieren und auf bauend darauf ein selbstbewussteres und fundierteres Selbstverständnis zu entwickeln. Der anschließende Blick auf die Gestaltung von Obst und Gemüse fragt danach, wie die Bedeutung der visuellen Produkterscheinung in der Produktion von Obst und Gemüse in den einzelnen Phasen sichtbar wird. Die Betrachtung macht einerseits deutlich, dass die attraktive visuelle Produkterscheinung von Obst- und Gemüseerzeugnissen in der Situation der Kaufentscheidung von essentieller Bedeutung ist. Damit schließen meine empirischen Beobachtungen an an die zuvor genannten häufig formulierten Thesen, die die Bedeutung des Visuellen für die Kaufentscheidung hervorheben (vgl. Norman 2004, S. 69; Creusen & Schoormans 2005, S. 65; Loewy o.J.; Desmet & Hekkert 2007, S. 60, Townsend 2015, S. 26). Im Unterschied zur Auffassung von Creusen und Schoormans (2005, S. 75) zeigt die Untersuchung, dass der ästhetische Wert die Kaufentscheidung nicht nur bei dauerhaft genutzten Gütern, sondern auch in Bezug auf äußerst kurzlebige Produkte wie Lebensmittel dominiert. Die Betrachtung macht darüber hinaus deutlich, dass die bewusste und instrumentelle Gestaltung eines
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attraktiven Produktäußeren auch in solchen Branchen verfolgt wird, in denen an keiner Stelle professionelles Design involviert ist. Auch die Akteure in der Gestaltung von Obst und Gemüse – ob Händler, Züchterin, Produzent oder Kontrolleurin – erkennen die Wirkmächtigkeit der visuellen Produkterscheinung. Im Kontext der industriellen Marktkonvention avanciert das attraktive Produktäußere daher auch unabhängig von der Einbindung von Designern zu einem Kriterium von zentraler Bedeutung. Wie sich zeigt, führt die festgestellte Wirkmächtigkeit der visuellen Produkterscheinung zu der Tendenz, eine attraktive visuelle Erscheinung auch unabhängig von der Gültigkeit der von Konsumenten interpretierten Bedeutungen als Selbstzweck zu verfolgen. Während Haug (1971) und Mollerup (2019) die auf eine attraktive visuelle Produkterscheinung gerichteten Bemühungen als Versuch der Täuschung interpretieren, möchte ich die Anstrengungen zum Erreichen eines attraktiven Aussehens nicht grundsätzlich als unaufrichtig bewerten. Die visuelle Erscheinung der Erzeugnisse erweist sich zwar als wirkmächtiges Merkmal, jedoch nicht als übermächtig und unwiderstehlich. Ein Bild der Konsumenten als Opfer der visuellen Verführung, wie es von Haug beschrieben wird, möchte ich mit der vorliegenden Untersuchung nicht bekräftigen. Die Beurteilung von visuellen Produkterscheinungen durch menschliche Akteure basiert, wie ich vorschlagen möchte, auf sozial konstruierten Konventionen. Konsumentinnen haben demnach jederzeit die Freiheit, ihre Vorstellungen von Qualität und Attraktivität neu zu überdenken und ihre Kaufentscheidungen an alternativen Maßstäben zu orientieren.
Wirkmächtige Idealvorstellungen als visuelle Konventionen Die Untersuchung legt nahe, dass visuelle Idealvorstellungen – genauso wie die zuvor diskutierten allgemeineren Vorstellungen von Qualität – auf kulturellen Konventionen beruhen. So können die wirkmächtigen Idealvorstellungen als sozial konstruiert und damit abhängig von Zeit, Kontext und Kultur gedacht werden. Ein solches Verständnis macht visuelle Ideale grundsätzlich als vielfältig denkbar – womit sich die Unterschiedlichkeit der beiden in verschiedenen Konventionen idealen Bilder von Äpfeln in der Einleitung (Abb. 1.1 und 1.2) erklären lässt. Vor dem Hintergrund der etablierten industriellen Marktkonvention gilt jedoch die Übereinstimmung mit dem derzeit vorherrschenden visuellen Ideal als Garant für wirtschaftlichen Erfolg.
6 Produktqualität und die Rolle des Visuellen
Mit Blick auf die Wirkungsweise der visuellen Produkterscheinung bestätigt die vorliegende Untersuchung die verschiedenen Rollen des Visuellen, die in der Beurteilung und Auswahl von Obst- und Gemüseprodukten zum Tragen kommen. Wie zahlreiche Autoren im Design beschreiben, wirkt die visuelle Erscheinung der Produkte auf mehreren verschiedenen Ebenen (vgl. Gros 1983; Norman 2004; Ylirisku und Arvola 2018; Creusen und Schoormans 2005). Einerseits soll das Produktäußere attraktiv wirken und Aufmerksamkeit auf sich ziehen – zum Beispiel durch eine gleichmäßige Form und eine ansprechende Farbe – andererseits ist es aber auch stets mit vielschichtigen Bedeutungen verknüpft. Die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung, wie sie beispielsweise von Norman (2004) und Ylirisku und Arvola (2018) entwickelt werden, sowie die verschiedenen Rollen der visuellen Produkterscheinung (Creusen & Schoormans 2005) erweisen sich in der Praxis der Beurteilung von Obst und Gemüse jedoch als kaum voneinander zu trennen: In Bezug auf Obst und Gemüse zeigt sich, dass das Empfinden reiner visueller Attraktivität stets in enger Verbindung steht mit den sofort mitgedachten Bedeutungen. Im Widerspruch zu den Thesen Normans (2004) macht die Untersuchung damit deutlich, dass kulturelle Konventionen nicht erst nachträglich auf einer ref lexiven Ebene der Produktwahrnehmung hinzukommen, sondern stattdessen auch auf der Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung von Produkten wirksam sind. Insofern bestärkt die vorliegende Untersuchung grundlegende Thesen aus der Forschung zur visuellen Kultur, die die „prinzipielle[n] Verf lechtungs- und Bedingungsverhältnisse von Kultur und Visualität“ (Rimmele & Stiegler 2012, S. 10) unterstreichen. Die skizzierte Vorstellung von Qualitätskonventionen und visuellen Konventionen, die der Beurteilung von Produkten zugrunde liegen, ermöglicht zusätzlich eine plausible Perspektive auf die Praxis professioneller Gestalter: Designer, die sich im Projektverlauf ausgeprägte Kenntnisse zu den aktuell gefragten Konventionen erarbeiten, sind in der Folge in der Lage, diese Kenntnisse der Konventionen im Gestaltungsprozess bewusst und instrumentell zum Entwurf von für bestimmte Zielgruppen attraktiven visuellen Produkterscheinungen einzusetzen. Diese Möglichkeit zur Analyse und Anwendung von visuellen Konventionen kann als die Grundlage für erfolgreiches gestalterisches Handeln verstanden werden.
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Die Anerkennung der Wirkmächtigkeit des Visuellen als Chance Vor allem aber machen die vorliegenden Betrachtungen eines deutlich: Auch wenn sich kaum überzeugte Fürsprecherinnen für die Relevanz der visuellen Attraktivität von Obst- und Gemüseprodukten finden lassen und stattdessen die Bedeutung der visuellen Erscheinung als ausschlaggebendes Merkmal für die Beurteilung der Qualität von Obst und Gemüse von vielen Seiten abgestritten wird, ist die visuelle Produkterscheinung für die Kaufentscheidung der Konsumentinnen – und in der Folge im gesamten Gestaltungsprozess – von großer Bedeutung. Die beobachtete rhetorische Abwertung der Bedeutung des Aussehens als oberf lächlich und leer ist ein wiederkehrendes Motiv, das sowohl im Designdiskurs als auch in Bezug auf den Konsum von Obst und Gemüse häufig geäußert wird. Wie meine Untersuchung zeigt, stellt es sich jedoch sowohl für die Designpraxis als auch für die Produktion von Obst und Gemüse als nicht zutreffend heraus. Eben diese Verkennung der Rolle des Visuellen führt in meinen Augen stattdessen dazu, dass die wirkliche Bedeutung des Aussehens in beiden Bereichen nicht diskutiert und damit auch nicht tatsächlich abgebaut werden kann. Eine Anerkennung der Bedeutung der visuellen Erscheinung könnte dagegen sowohl im Design als auch in der Gestaltung von Obst und Gemüse das Potential bieten, der Wirkmächtigkeit der visuellen Attraktivität weniger ausgeliefert zu sein. Mit meiner Arbeit möchte ich auch dazu anregen, neu darüber zu nachzudenken, welche Rolle die visuelle Produkterscheinung im Design, aber vor allem auch in der Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten tatsächlich spielen sollte. Nach dieser umfassenden Betrachtung der Kriterien für Produktqualität, die den ersten Schwerpunkt meiner Untersuchung bildet, möchte ich mich im folgenden Kapitel mit dem Aspekt der Lebendigkeit der gestalteten Produkte befassen. Wie in Kapitel 6 dargelegt, wird die Qualität von Obst- und Gemüseerzeugnissen in der industriellen Marktkonvention im Produktionsprozess weitgehend analog zur Qualität von nicht lebendigen Waren verstanden. Dennoch bringen Obst- und Gemüseprodukte als Teile von Lebewesen gewisse Eigenheiten mit, die die reibungslose Einpassung in die etablierten Schemata der industriellen Produktion erschweren. Genau diese Eigenheiten des Lebendigen sollen nun in Kapitel 7 ausführlicher zur Sprache kommen.
7 Lebendigkeit „Leben“ gehört zu jenen Begriffen, für die eine Vielzahl an unterschiedlichen Verständnissen und Definitionen aus verschiedensten Disziplinen gelten. Theologen, Philosophinnen, Physiker und Mineraloginnen stellen unterschiedliche Fragen und beleuchten unterschiedliche Aspekte des Lebens (vgl. z.B. Hazen 2018, Penzlin 2016). Damit ist auch unklar und umstritten, wie Lebendiges von Nichtlebendigem unterschieden werden kann und welche Konsequenzen diese Unterscheidung mit sich bringt. Ziel und Anspruch der vorliegenden Arbeit ist es nicht, einen neuen Katalog von Kriterien für Lebendigkeit vorzulegen. Für meine Untersuchung konzentriere ich mich auf die Frage, wie sich die Lebendigkeit von Obst und Gemüse in der Gestaltung dieser Produkte im Rahmen des Prozesses ihrer Herstellung auswirkt. Dabei beziehe ich mich auf ein Verständnis von Lebendigkeit, das meinen Gesprächen mit Experten aus der Produktion von Obst und Gemüse entstammt: Die Akteure in der Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen heben an vielen Stellen hervor, dass sie mit Lebendigem arbeiten und dass daher in ihrer Branche andere Bedingungen gelten, als das in der Produktion von anderen Waren der Fall wäre. Diese Auffassung von Lebendigkeit, der ich im Feld begegne, ist anschlussfähig an ein biologisches Verständnis von Lebendigkeit, wie es beispielsweise der theoretische Biologe Heinz Penzlin (2016) formuliert. Er beschreibt das Phänomen Leben als „das Produkt aus der Dreiheit von Energie, Stoff und Information“ (ebd., S. 2). Leben sei eine „Leistung dynamischer Systeme“ (ebd., S. 3) und zeichne sich durch verschiedene Merkmale aus. Dazu gehören eine interne funktionelle Organisation, die selbsttätig herbeigeführt und aufrechterhalten wird; das Bestehen aus lebenden Zellen, der Austausch von Energie und Stoffen mit der Umgebung und die Strukturiertheit auf allen Ebenen. Ein weiteres Merkmal besteht in dem Grundsatz, dass Lebendiges nur aus Lebendigem entstehen kann – der Mensch kann nichts Lebendiges herstellen, ohne dabei von bereits lebendem Material auszugehen. Schließlich wird Lebendiges
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dadurch charakterisiert, dass seine Kontinuität garantiert wird durch die in Nukleinsäuren niedergelegten Informationen (ebd., S. 3f). Penzlin hebt hervor: Aus biologischer Sicht „gibt [es] kein mehr oder weniger an ‚Leben‘, es gibt nur lebendig oder nichtlebendig“ (ebd., S. 2). Indem ich mich an den Auffassungen meiner Gesprächspartner aus Züchtung, Anbau, Regulierung und Handel von Obst- und Gemüseerzeugnissen orientiere, schließe ich mich einer solchen biologischen Auffassung von Lebendigkeit an und betrachte als lebendig, was im biologischen Sinne aus lebenden Zellen besteht. Im vorliegenden Kapitel möchte ich herausarbeiten, welche Konsequenzen die Lebendigkeit der untersuchten Erzeugnisse im Gestaltungsprozess mit sich bringt. Dabei untersuche ich zunächst, wie sich das Design bisher mit Lebendigem auseinandersetzt: Hier wird Lebendiges meist als Vorbild für Technisches, zunehmend aber auch als Gegenstand der Gestaltung aufgefasst. Anschließend frage ich danach, wie Lebendiges im Bereich der STS zur Sprache gebracht wird. Vor allem Studien zur landwirtschaftlichen Produktion arbeiten hier die besondere Handlungsmacht des Lebendigen heraus. Gleichzeitig wird die Kategorie der Lebendigkeit im Bereich der STS jedoch auch infrage gestellt – vor allem durch Vertreterinnen des neuen Materialismus. Vor dem Hintergrund der ersten beiden Abschnitte wende ich mich im dritten Teil des Kapitels dann meinem empirischen Material zu und frage danach, wie sich die Lebendigkeit im Produktionsprozess von Obst und Gemüse an konkreten, unumgänglichen Eigenschaften der Pf lanzen und Erzeugnisse zeigt und wie die Akteure in den verschiedenen Phasen diesen Eigenschaften begegnen. Ein abschließendes Fazit stellt zusammenfassend dar, was sich aus dieser Betrachtung der Gestaltung des Lebendigen lernen lässt – in Bezug auf die STS, aber vor allem in Bezug auf den zukünftigen gestalterischen Umgang mit Lebendigem.
7.1 Lebendigkeit im Design Wie geht das Design bisher mit Lebendigem um? Bei meiner Suche nach Anknüpfungspunkten stieß ich auf eine Vielzahl von Arbeiten, in denen Entwerfer sich Formen und Prinzipien aus dem Bereich des Lebendigen als Vorbilder zunutze machen. Die eigentliche Gestaltung des Lebendigen wurde dagegen im Designbereich in der Vergangenheit sehr viel seltener
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thematisiert. In der Literatur zu Designthemen wird an manchen Stellen gar die Natur explizit als der letzte Rest dessen, was nicht gestaltet ist, aus der Betrachtung der gestalteten Welt ausgeklammert.1 In jüngerer Zeit versammeln sich jedoch unter dem Stichwort des „Bio Design“ einige Arbeiten, die lebendiges Material in den Entwurfsprozess einbeziehen. Eine populäre Strömung in der zeitgenössischen Designlandschaft ist das spekulative Design – auch hier wird die menschliche Einf lussnahme auf Lebendiges immer wieder zur Sprache gebracht. Ein ergänzender Blick in die freie Kunst schließt meine Betrachtung der gestalterischen Auseinandersetzung mit dem Lebendigen ab.
Die Natur als Vorbild Wenn man nach Quellen zu den Schlagworten „Design“ und „Natur“ sucht, dann stößt man – neben den zahlreichen Bänden zu ökologischem oder nachhaltigem Design2 – vor allem auf Werke, die die Natur als reiche Inspirationsquelle für die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen beschreiben. Die Geschichte der Gestaltung, die sich auf Vorbilder aus der Natur beruft, ist lang (Sachs 2007). Als wiederkehrende Bezugspunkte tauchen beispielsweise die Lithographien des Zoologen Ernst Haeckel (1899) auf oder die f loralen Motive des Jugendstil und deren Wiederentdeckung in der Flower Power Bewegung der 1960er und 70er Jahre. Funktionsprinzipien aus der Natur auf den Entwurf und die Konstruktion von technischen Geräten und Bauwerken zu übertragen, ist der Grundgedanke der Bionik (z.B. Pearce 1978, Nachtigall 1997, Nachtigall & Blüchel 1 Ein Beispiel für diese verbreitete Ansicht liefert er Designer Frank Wagner, der gerade dafür argumentieren möchte, dass die gesamte menschliche Lebenswelt gestaltet ist. Er schreibt: „Sehen Sie sich um. Sie werden feststellen – außer Sie befinden sich gerade in der Natur –, Sie blicken in eine durch und durch gestaltete Welt“ (Wagner 2015, S. 6). 2 Siehe beispielsweise Fuad-Luke 2002, Lucas 2013, Proctor 2015, Chapman 2005, Barbero & Cozzo 2009. Unter den Schlagworten „Green Design“ oder „Eco Design“ versammeln sich Bände mit Sammlungen von Produkten, die durch die Materialwahl oder Herstellungsmethode in Produktion und Gebrauch weniger Ressourcen verbrauchen als ihre konventionellen Alternativen. Das nachhaltige Design hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem dynamischen Bereich entwickelt, dem eine steigende Aufmerksamkeit zuteil wurde – Bezugspunkte reichen hier von den Vorreitern wie Victor Papanek und Richard Buckminster Fuller über bionische Prinzipien bis hin zu dem im Designbereich häufig aufgegriffenen „Cradle-to-Cradle“-Ansatz des Chemikers Michael Braungart (Sachs 2007).
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2000, Thallemer 2011). In einschlägigen Büchern voller Abbildungen von Spinnennetzen, Schneckenhäusern und Schmetterlingsf lügeln wird die Natur als eine Sammlung nachahmenswerter Vorlagen für die Arbeit von Entwerferinnen betrachtet. Der Bionik liegt der Gedanke zugrunde, dass auftretende Probleme in der Natur stets effizient und mit dem minimalen Aufwand von Energie und Material gelöst werden. In der Zeit der immer deutlicher sichtbar werdenden Umweltzerstörung und der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen sei es demnach eine „gebieterische Forderung […] von der Natur für die Technik [zu] lernen“ (Nachtigall 1997, Klappentext). Die Orientierung von Entwerfern an natürlichen Vorbildern beschränkt sich jedoch nicht auf konstruktive und streng funktionale Aspekte. Einige Publikationen konzentrieren sich eher auf die rein formale Übertragung von Formen und Proportionen auf die Gestaltung von formal relativ f lexiblen Gegenständen wie Hüten, Vasen, Teppichmustern und Lampenschirmen (z.B. Powers 2000, Sachs 2007, Shijian 2016). Manche sehen in solchem Produktdesign, das natürlichen Vorbildern nachempfunden ist, ein Symbol für eine wiederentdeckte Wertschätzung der Natur (vgl. Shijian 2016, S. 6).
Bio Design Dass die Gestaltung nicht nur dem Vorbild von Lebendigem folgen kann, sondern dass der Mensch auch Lebendiges gestaltet, wurde bisher aus Designperspektive selten behandelt.3 Seit einigen Jahren entstehen jedoch immer wieder einzelne Projekte, die lebendes Material wie Mikroorganismen, Bakterien, Algen und Schimmelpilze und auch Tiere4, Pf lanzen und den menschlichen Körper in den Entwurf einbeziehen. Das sogenannte Bio Design ist ein junger aber schnell wachsender Bereich der Designpraxis, dem
3 Auch wenn sich Gestaltung heute immer noch nur selten auf Pflanzen bezieht, ist der Begriff der Gestalt schon von Beginn an mit Vorstellungen von Pflanzen verwoben. Goethe sieht in der Gestalt einen Ausdruck des Wesens von Dingen und beschreibt seine Gedanken anhand des Modells der Urpflanze, in der alle wesentlichen Strukturen und Merkmale von Pflanzen bereits angelegt sind. Besonders fasziniert ist er von dem Gedanken der Verallgemeinerungsfähigkeit der Prinzipien der biologischen Gestalt (vgl. hierzu Mareis 2011, S. 106f). 4 Von dem ambivalenten Beziehung des Design zur Tierwelt erzählt die Ausstellung „Kreaturen nach Maß: Tiere und Gegenwartsdesign“ im Museum MartA Herford (2018).
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revolutionäres Potential und eine große zukünftige Bedeutung zugetraut wird (Stinson 2015).5 William Myers (2012) schreibt, Bio Design gehe über die Betrachtung der Natur als Inspirationsquelle und Vorbild hinaus: Biodesign goes further than other biology-inspired approaches to design and fabrication. Unlike biomimicry, cradle to cradle, and the popular but frustatingly vague ‚green design‘, biodesign refers specifically to the incorporation of living organisms as essential components, enhancing the function of the finished work. Myers 2012, S. 8
Es geht im Bio Design also um „designing with biology“ (ebd., S. 10). In seinem Buch „Bio Design“ sammelt und beschreibt Myers zahlreiche Projekte aus Architektur und Produktdesign, Kunst und spekulativem Design, in denen Lebendiges als Material für die Gestaltung von Produkten, Dienstleistungen, Grafiken und Gebäuden genutzt wird. Darunter sind Leuchten, die mithilfe von gentechnisch veränderten f luoreszierenden Algen ihre Umgebung erhellen, Gebäude aus lebenden Bäumen, Möbel und Bauwerke aus Beton, dessen Risse sich durch einen Zusatz bestimmter Bakterien von selbst wieder schließen, Schriftzüge aus Bakterien- und Pilzkulturen, die sich im Laufe der Zeit ständig wandeln und schließlich verfallen und Spekulationen über eine zukünftige Auslagerung der Funktionen von menschlichen Organen an Haustiere oder biotechnologische Gerätschaften. Der Hintergedanke vieler Projekte ist es, Produktion und Gebrauch von Objekten und Gebäuden durch die Integration von biologischen Prozessen nachhaltiger und umweltfreundlicher zu machen. Für Myers ist die Einbeziehung von lebendigem Material in die Entwürfe von Designern längst überfällig: “design‘s embrace of nature – even coupled with the inevitable hubris that we can redesign and outdo it – is long overdue and the most promising way forward“ (ebd., S. 10). Trotz angedeuteter Gefahren und Risiken sieht Myers Bio Design recht
5 Ein Zeugnis für das wachsende Interesse des Design an der Biologie sind zahlreiche Ausstellungen wie „Grow Your Own. Life After Nature“ in der Science Gallery Dublin (2013), das Symposium und die Ausstellung unter dem Titel „Prototype Nature“ an der Folkwang Universität der Künste (2015) und „La fabrique du vivant“ im Centre Pompidou (2019) in Paris.
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unkritisch als „the path of evolution for biology, design, engineering, and numerous other fields“ (ebd., S. 253). Chieza und Ginsberg (2018) stellen weiterhin eine wachsende Aufmerksamkeit für das Bio Design fest, die sich vor allem aus der Suche nach Alternativen zu unserem Ressourcen verschwendenden Lebensstil nährt. Sie kritisieren jedoch, dass einige Projekte aus dem Bio Design sich damit begnügen, lediglich herkömmliche Materialien wie Kunststoff durch biologisch hergestellte und dadurch – zumindest auf den ersten Blick – nachhaltigere Materialien zu ersetzen. Diese Art von Projekten der alternativen Materialwahl sei zwar häufig gut zu vermarkten, geht den Autorinnen jedoch nicht weit genug. Das noch nicht genügend ausgeschöpfte Potential von Bio Design liege dagegen darin, alternative Versionen einer biologischen Zukunft – „other biological futures“ – zu entwerfen. Sie rufen dazu auf, den Raum des Denkbaren zu weiten; Möglichkeiten und Alternativen zu sammeln. Chieza und Ginsberg sind überzeugt: „Other biologies are possible. That means other worlds are possible. We can, and must, continue to imagine life otherwise“ (ebd.). Antonelli (2011) betont die ethischen Implikationen von Projekten aus dem Bereich des Bio Design: When the materials of design are not plastics, wood, ceramics or glass, but rather living beings or living tissues, the implications of every project reach far beyond the form/function equation and any idea of comfort, modernity or progress. Design transcends its traditional boundaries and its implications aim straight at the heart of the moral sphere, toying with our deepestseated beliefs. Antonelli 2011
Sie hält die von Designern entworfenen Szenarien von zukünftigen alternativen Verhaltensweisen für ein machtvolles Instrument, dem in Zukunft eine immer größere Bedeutung zukommen wird (Antonelli 2012, S. 7). Die Designerin und Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg gilt als „the most active advocate of an alliance between design and synthetic biology“ (Antonelli 2011).6 Sie schlägt vor, die Visionen und Potentiale der Biotech6 An der Ausstellung „Grow Your Own. Life after Nature“ in der Science Gallery Dublin (2013) zu Potentialen und Implikationen der Biotechnologie wirkte Ginsberg als Kuratorin mit.
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nologie, die unzugänglich hinter verschlossenen Türen entwickelt und verhandelt werden, durch den Einsatz von Designkompetenzen zugänglich zu machen (Ginsberg 2010). Einige der Arbeiten von Ginsberg sollen an dieser Stelle beispielhaft für das Bio Design zur Sprache kommen. In „The Synthetic Kingdom“ propagiert Ginsberg (2010) den Gedanken, den Baum des Lebens um den Ast der „Synthetica“, der von Menschen entwickelten lebendigen Organismen, zu erweitern. Bei dem Projekt „Growth Assembly“ (Ginsberg & Pohf lepp 2009) handelt es sich um ein Szenario, in dem Bauteile von Produkten als Teile von gentechnisch manipulierten Pf lanzen wachsen (Abb. 7.1.1). Als Beispiel ent- Abb. 7.1.1: Growth Assembly. Bauteile eines Herbizidsprühgerätes wachsen als Teile von werfen die Designer ein gentechnisch manipulierten Pflanzen (Ginsberg & Herbizidsprühgerät, das Pohflepp 2009) aus sieben auf diese Art gewachsenen Bauteilen zusammengesetzt werden kann. Das zusammengesetzte Sprühgerät soll in der Folge dabei helfen, die lebenden Produktionsmaschinen, die in dem Szenario von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind, vor anderen besser angepassten Pf lanzen zu beschützen. Im Projekt „Designing for the Sixth Extinction“ (Ginsberg 2013) stellt Ginsberg vier synthetische Organismen vor, die gezielt in die freie Wildbahn entlassen werden, um dort in Symbiose mit natürlichen Organismen zu leben. Durch ihre speziell konzipierten Stoffwechselprozesse sollen sie zum Schutz und zur Erhaltung der natürlichen Umwelt beitragen und die Ausrottung von Wildpf lanzenarten auf halten. Eine mobile Einheit zur biologischen Sanierung (Abb. 7.1.2), die im Aussehen einer Nacktschnecke ähnelt, soll beispielsweise den pH-Wert saurer Böden neutralisieren und so den Folgen
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der Umweltverschmutzung entgegenwirken. Ginsbergs biologische Maschinen „fill the void left by vanished organisms, or offer novel protection against more harmful invasive species, diseases and pollution“ (ebd.). In dem Projekt „Synthetic Aesthetics“, in dessen Leitung Ginsberg involviert war, erarbeiteten sechs Paare aus jeweils einem Künstler oder Designer und einer Expertin der Biotechnologie Szenarien von hypothetischen Anwendungen biotechnologischer Forschung (Ginsberg et al. 2014). Die in den grenzüberschreitenAbb. 7.1.2: Design for the Sixth Extinction. Die Einheit den Kollaborationen entzur biologischen Sanierung soll bei der Aufbereitung wickelten Projekte handeln von verseuchten Böden helfen (Ginsberg 2013) von so skurrilen Dingen wie auf der Basis von auf dem menschlichen Körper lebenden Bakterienkulturen hergestelltem Käse; Algen, die sich von Leiterplatten ernähren und biologischen Computern, die neue Formen entwerfen. Anspruch der sechs kollaborativen Projekte ist es, „[to] raise intriguing questions about the scientific process, the delegation of creativity, our relationship to designed matter, and, the importance of critical engagement“ (Ginsberg 2014).
Spekulatives Design Mit den oben beschriebenen Projekten bewegt sich Ginsberg im Bereich des spekulativen Design – eine Designpraxis, in der die menschliche Einf lussnahme auf lebende Organismen immer wieder zum zentralen Thema gemacht wird.
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Grundgedanke des spekulativen Design ist es, „to use design as a means of speculating how things could be“ (Dunne & Raby 2013, S. 2). Spekulatives Design basiert auf Recherchen und Erzählungen. Sein Ergebnis sind in der Regel Zukunftsszenarien über die mögliche Rolle von technologischen Artefakten im Leben der Menschen. Häufig werden die Szenarien mithilfe von als Requisiten verstandenen Prototypen als Illustrationen und Filme präsentiert (Dunne & Raby 2013, Fogelberg 2016). Die Szenarien „are intended to open up spaces of debate and discussion; therefore, they are by necessity provocative, intentionally simplified, and fictional“ (Dunne & Raby 2013, S. 3). Zentral sind die Anliegen, das Design von den Bestimmungen des Marktes zu lösen und stattdessen Alternativen vorzustellen und Diskurse über mögliche und wünschenswerte Zukünfte anzustoßen. Die eigene disziplinäre Praxis soll dabei kritisch hinterfragt werden (Dunne & Raby 2013). Das spekulative Design hat sich in den letzten Jahren zu einem dynamischen Bereich der Designpraxis mit eigenen Forschungsprojekten, Konferenzen, Ausstellungen und Ausbildungsstätten etabliert (Fogelberg 2016). Viele spekulative Projekte stammen aus dem Umfeld des Masterprogrammes „Design Interaction“ am Royal College of Art in London, das von 2005 bis 2015 von Anthony Dunne geleitet wurde (Royal College of Art 2019). Um die Arbeitsweise und den Anspruch von spekulativem Design besser nachzuvollziehen, möchte ich an dieser Stelle drei weitere Projekte beispielhaft vorstellen, die sich mit der Gestaltung von Tieren befassen: Revital Cohen (2008) stellt in ihrem Projekt „Life Support“ verschiedene Szenarien vor, in denen Haustiere die Funktionen von beeinträchtigten Organen ihrer Besitzer übernehmen: Die Nieren des Dialysis Sheep übernehmen jede Nacht die Reinigung des Blutes eines Menschen; der Respiratory Dog treibt durch seine Bewegung den Atemapparat seiner Besitzerin an. Das Projekt „Biophilia: Organ Crafting“ von Veronica Ranner (2010) stellt ein Szenario vor, in dem gentechnisch modifizierte Seidenraupen in der Lage sind, menschliche Organe zu spinnen (Abb. 7.1.3). „Instead of weaving their cocoons, a genetically re-programmed sericulture could weave biodegradable scaffolds for organs, tissues, biosensors and even products“ (ebd.). Vor dem Hintergrund der steigenden Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Knappheit von Spenderorganen lohne sich eine Spekulation über die Möglichkeiten dieser imaginierten biologischen Produktionsweise von Organteilen, so Ranner (ebd.).
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Der Künstler und Philosoph Koert van Mensvoort (2011) entwirft das Konzept der Next Nature. Damit zielt er auf ein neues, reicheres Verständnis des Naturbegriffes ab. Für ihn sind natürliche Dinge weniger dadurch gekennzeichnet, dass sie geboren werden, sondern besser zu verstehen als der Bereich der Phänomene, die außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen. „In this new classification, greenhouse tomatoes belong to the cultural Abbildung 7.1.3: Biophilia: Organ Craf ting. category, whereas compuSeidenraupen spinnen Gerüste für menschliche Organe (Ranner 2010) ter viruses and the traffic-jams on our roads can be considered as natural phenomena“ (ebd., S. 34). Van Mensvoort spricht sich für einen weniger romantischen Bezug zur Ursprünglichkeit der Natur aus: „We shouldn’t be obsessed with unspoilt nature. […] A romantic yearning for untouched nature won’t help us to deal with pressing issues like climate change, deforestation and declining biodiversity“ (van Mensvoort 2019). Eine beispielhafte Umsetzung seines Naturverständnisses liefert Koert van Mensvoort mit dem Projekt „RayFish footwear“ (van Mensvoort 2012). Hier stellt er eine fiktive Firma vor, die die Aufzucht von genetisch veränderten Rochen für die Herstellung von individuell gemustertem Leder für Schuhe anbietet. Anhand eines Onlinekonfigurators – so erläutert das fiktive Werbevideo – können die Kunden Farbe und Musterung des Tieres zusammenstellen. Nach dem Erreichen der richtigen Größe sollte der nach Kundenwunsch individualisierte Fisch getötet und sein Leder zu einem personalisierten Schuh verarbeitet werden. Das Projekt zog viel Aufmerksamkeit und Protest auf sich – bevor verkündet wurde, dass es sich hier lediglich um ein spekulatives Szenario handelt.
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Neben viel Aufmerksamkeit und Zuspruch haben spekulative Designprojekte wie diese auch einige Kritik auf sich gezogen: Der selbst formulierte Anspruch des spekulativen Design, Verhandlungen über wünschenswerte Zukünfte auszulösen (Dunne & Raby 2013), wird als sein größtes Potential gesehen – gleichzeitig kritisieren aber auch einige Beobachter, dass die Umsetzung genau dieses Anspruchs schlecht dokumentiert und wenig nachvollziehbar ist – und dass er in der Praxis oft nicht eingelöst werden kann (vgl. DiSalvo 2012, S. 115). Auch der Anspruch, dass spekulatives Design eine Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Entwicklung von neuen Technologien ermögliche (vgl. Dunne & Raby 2013, S. 49), sei nicht mit der Analyse der tatsächlichen Praxis vereinbar (Kerridge 2015) – spekulatives Design werde in der Regel als Selbstzweck betrieben. Tonkinwise (2014) beklagt, dass das spekulative Design auch dem Anspruch, außerhalb der Bestimmungen des Marktes Alternativen zu erarbeiten (vgl. Dunne & Raby 2001, S. 58), oft nicht gerecht wird. Die entworfenen Produkte seien dann doch wieder als Waren eingebettet in den Kontext einer kapitalistischen Konsumgesellschaft (Tonkinwise 2014, Lenskjold 2016). Anstatt tatsächlich alternative Werte vorzuschlagen, werden in der Praxis häufig konservative Ideale wie Kolonialismus, Sexismus und Kapitalismus reproduziert (Prado & de Oliveira 2015). Zu oft bleiben die Szenarien auf einer ästhetischen Ebene, die effektvollen Bilder irritieren und provozieren – doch sie bleiben ohne Verbindung zu einer tatsächlichen alternativen Praxis (DiSalvo 2012). Häufig nehmen die Autoren der spekulativen Entwürfe keine eigene Position ein und vermeiden es, sich entschieden für eine bestimmte imaginierte Zukunft auszusprechen – jedoch läge genau hier ein wichtiges und oft ungenutztes Potential von spekulativem Design (vgl. DiSalvo 2012, S. 118; Tonkinwise 2014). Angesichts der etablierten Kritik an der mangelnden Ausschöpfung der kritischen Potentiale des spekulativen Design plädiert Fogelberg (2016) für eine verstärkte Einbeziehung von Diskursen anderer Fachrichtungen in die Entwurfspraxis des spekulativen Design. Eine interdisziplinär informierte und theoretisch fundierte Designpraxis habe demnach das Potential, interessanter und produktiver zu spekulieren (ebd., S. 137). Diese grundlegende Kritik am spekulativen Design gilt genauso für einen großen Teil der Projekte, die sich mit der Gestaltung des Lebendigen befassen: Wie im Falle der konfigurierbaren Rochenlederschuhe beschränkt sich der Effekt der Projekte oftmals auf das Auslösen von Empörung; nur selten beziehen die Autorinnen selbst Stellung. Einige Projekte hinterlassen
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den Eindruck, dass es im Grunde eher um das Generieren von Aufmerksamkeit geht, statt darum, einen wirklichen Beitrag zu dem kontroversen Thema des menschlichen Umgangs mit lebendigen Organismen zu leisten. Auch wenn mich verschiedene Gesprächspartner aus dem Design – vor allem in London – zum Entwurf provokanter, spekulativer Zukunftsszenarien im Rahmen dieser Forschungsarbeit ermuntern wollten, empfand ich dieses Vorgehen in meinem Fall nicht als angemessen. Unter anderem bedingt durch den Kontext, in dem diese Arbeit entstand, entschied ich mich dafür, mich aus der Designperspektive damit auseinanderzusetzen, wie Pf lanzen heute tatsächlich alltäglich gestaltet werden. Wenn es darum gehen soll, fundierter über die Gestaltung der Nahrungsmittelpf lanzen und Lebensmittel der Zukunft nachzudenken, glaube ich, dass eine ehrliche Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Gestaltungspraxis der Gegenwart hilfreicher ist als ein fiktives Zukunftsszenario, dessen große Gefahr darin liegen würde, lediglich abzuschrecken und Empörung zu stiften und damit letztlich nur zu weiteren unüberlegten Forderungen nach mehr Natürlichkeit beizutragen.
Kunst Im folgenden Abschnitt werfe ich einen Blick auf die freie Kunst – auch hier wird die Gestaltung des Lebendigen immer wieder thematisiert. Zunächst gehe ich kurz auf das Gebiet der Bio Art ein. Mit „Die Freiheit der Äpfel“ (Majewski 2015) und dem „Center for Postnatural History“ (Pell, seit 2012) möchte ich anschließend zwei Projekte aufgrund ihrer thematischen Nähe zur Gestaltung von Obst und Gemüse genauer beleuchten. Die dargestellten Arbeiten von Majewski und Pell liefern vor allem wegen ihrer Fundierung in der präzisen Analyse der tatsächlich stattfindenden Gestaltung von Lebendigem an dieser Stelle wertvolle Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit.
Bio Art Ein Gebiet der freien Kunst, das sich mit der Gestaltung des Lebendigen auseinandersetzt, ist die Bio Art. Bio Art wird definiert als … a practice that utilizes living biology as an artistic medium, or addresses the changing nature of biology‘s meaning through its output. […] At its core, Bio
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Art is a response to the cultural dislocations that are erupting as a result of the advance of life sciences research and its application as technology. Myers 2015, S. 7
Die Kunst mit dem Lebendigen zeigt sich als heterogenes Feld; die Themen und Medien sind vielfältig. Bio Art Künstlerinnen befassen sich unter anderem mit dem geistigen Eigentum an Lebewesen, mit Materialexperimenten mit Muschelschalen, Seetang und Pilzen oder mit der Frage nach einem zukünftigen umweltverträglichen Leben der Menschen auf der Erde (Myers 2015). So machen sie auf vielerlei Weise sichtbar, wie etablierte Konzepte zu Natur und zur Identität des Menschen durch die Fortschritte der Biotechnologie infrage gestellt werden (ebd.). Einige Bio Art Künstler setzen sich auch mit der Gestaltung von Nahrungsmitteln auseinander. Alexis Rockman zeigt in dem riesigen Ölgemälde „The Farm“ (2000) übertriebene Organismen der Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Mit rechteckigen Gurken, federlosen, sechsf lügeligen Hennen und runden Riesenschweinen stellt er auf übertriebene Weise zur Schau, wie der Mensch andere Organismen für die Herstellung von Nahrungsmitteln optimiert hat (Myers 2015, S. 124ff). Mit „Mutatoes“ (seit 2006) thematisiert Uli Westphal die Formenvielfalt von Obst und Gemüse. Wie auch die Künstler Driessens und Verstappen in „Vegetable Collections“ (1994 - 2011) stellt Westphal mit seiner Sammlung von Fotografien von abweichend geformtem Gemüse die Wahrnehmungsgewohnheiten von Konsumenten infrage. Die Vielfalt der Formen soll als Ausdruck des wertvollen Potentials von Organismen zur ständigen Neuerfindung von Formen umgedeutet werden. Mit seinen Fotografien möchte Westphal die Absurdität der verbreiteten Annahmen zu Natur und zur Perfektion landwirtschaftlicher Erzeugnisse zur Schau stellen (Myers 2015, S. 82ff).
Die Freiheit der Äpfel In ihrem Film „Die Freiheit der Äpfel“ geht Antje Majweski (2015) dem Apfel als global produziertes, gehandeltes und nachgefragtes Lebensmittel nach. Der Film ist eine Reise zu verschiedenen Orten, an denen Äpfel wachsen. Ihre Spurensuche führt Majewski zu vielen Experten aus dem Apfelanbau, der Züchtung und der Vermarktung. Somit ähnelt ihr Vorgehen der Herangehensweise der vorliegenden Untersuchung. Ein besonderes Augenmerk legt Majewski auf die Situation von Apfelbauern in Polen, die in großen Plan-
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tagen Äpfel für die Herstellung von Apfelsaftkonzentrat anbauen. Durch den globalen Wettbewerb haben diese Apfelbauern oft große Schwierigkeiten, faire Preise für ihre Ernte zu erzielen. Nach China ist Polen das Land, in dem jährlich die größte Menge an Apfelsaftkonzentrat weltweit hergestellt wird (Majewski & Freisler 2015). Majewski beschreibt den Apfelbaum, der in Plantagen für die industrielle Herstellung von Saftkonzentrat oder Apfelbrei angebaut wird, als „Maschine, die unseren Bedürfnissen dient. Die Früchte und Apfelsaft hervorbringt, genau wie wir es uns wünschen – süß, makellos, mittelgroß. Die immer gleich sein soll, wie ein Auto. Die sich nicht selbst vermehren darf“ (ebd., S. 254). Sie schreibt: Es „werden in Zukunft ausschließlich die Bedürfnisse der Menschen darüber bestimmen, welches Apfel-Genom die Erlaubnis bekommt, in Form von Millionen von Klonen zu leben“ (ebd.). Dabei seien es die Bedingungen der kapitalistischen Marktwirtschaft, die die Akteure „dazu zu zwingen scheinen, den Apfel als Produkt immer billiger und homogener zu machen“ (ebd.). Entsprechend befürchtet Majewski eine Zukunft, in der durch die Standardisierung der Sorten die heutige Vielfalt unwiederbringlich verloren gegangen ist: „Statt einer unbegrenzten Vielzahl von möglichen Äpfeln werden weltweit vielleicht fünf geklonte, gentechnisch veränderte Individuen auf zwei geklonten Unterlagen übrig bleiben“ (ebd., S. 254). Um dem entgegenzuwirken, propagiert Majewski die Bewahrung der Vielfalt der alten Apfelsorten und den Apfelanbau auf Streuobstwiesen. Teil ihrer künstlerischen Arbeit ist demnach auch das gemeinschaftliche Pf lanzen von 100 Bäumen alter Sorten im öffentlichen Raum von Mönchengladbach. Die Arbeit von Antje Majewski ist für mich in ihrer Ausführlichkeit, ihrer Ausdauer und dem dargestellten Reichtum an Perspektiven vorbildlich. Im Laufe der Auseinandersetzung mit der Produktion von Äpfeln gelangt Majewski zu einer starken eigenen Position, auf die sie in der Folge auch mit ihrer weiteren künstlerischen Arbeit auf baut.
Center for Postnatural History Das „Center for Postnatural History“ in Pittsburgh, USA ist ein Museum zur Geschichte der von Menschen veränderten Organismen. Richard Pell, Künstler und Leiter des Museums, beschreibt mit dem Begriff des „Postnatural“ die Ergebnisse des menschlichen Eingriffs in die Evolution. Er interessiert sich vor allem für Tiere, deren Erbgut der Mensch maßgeblich verändert und damit gestaltet hat und betont die weltweite Verbreitung solcher
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Organismen: “Such intentionally altered organisms have been widely propagated and now occupy essential roles in supporting and sustaining human culture all over the planet. They feed us, help do our work, comfort us, and are sacrificed for our benefit“ (Pell & Allen 2015, S. 79). Pell beschreibt vier Phasen der menschlichen Einf lussnahme auf Organismen: In der ersten Phase gewinnt der Mensch die Kontrolle über den Lebensraum von Organismen und unterbindet damit die natürliche Selektion. Die zweite Phase beschreibt die Kontrolle über die Reproduktion von Lebewesen wie die Züchtung von Hunderassen und Albinoratten oder von Labororganismen. In der dritten Phase kommt die gezielte gentechnische Manipulation von Organismen ins Spiel, mit der es beispielsweise möglich ist, manche anatomischen Eigenschaften von Lebewesen – wie die Ausprägung der Rippen von Labormäusen – absichtlich zu aktivieren oder auszuschalten. Die vierte Phase beschreibt das Entlassen dieser veränderten Organismen in die „Wildnis“. Pell betont, dass jede Veränderung eines Organismus, mit dem Menschen leben, auch auf den Menschen selbst zurückwirkt. Menschliche Verhaltensweisen – wie beispielsweise die Ernährung – sind zutiefst abhängig von den Organismen, die durch menschliche Manipulation entstanden sind. Die Gestaltung der Organismen funktioniert jedoch nicht ohne Hindernisse; die menschliche Kontrolle über das Lebendige bleibt immer eingeschränkt: “Postnatural changes are a product of a complicated renegotiation between human desire, the autonomous vitality of living organisms, and simple contingency“ (ebd., S. 100). Von besonderem Interesse bei seiner künstlerischen Arbeit ist für Pell die Beleuchtung der menschlichen Intentionen, der Bedürfnisse, Wünsche und Visionen von Menschen – und die Art, wie das menschliche Verlangen andere Organismen formt. Das Center for Postnatural History überzeugt als disziplinübergreifendes Projekt mit hohen Ansprüchen. Die präsentierten Ausstellungsstücke umfassen eine große Bandbreite und zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden naturwissenschaftlichen Wissen. Gleichzeitig sind die Ausstellungen gestalterisch anspruchsvoll umgesetzt. Als Künstler präsentiert Pell Zusammenhänge, die man eher aus der Richtung der sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung erwarten würde. Die vorliegende Arbeit teilt Pells besonderes Interesse für die gestalterischen Absichten der Menschen in ihrem Umgang mit lebenden Organismen.
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Der gestalterische Umgang mit dem Lebendigen wird also im Design wie auch in der freien Kunst auf vielfältige Weise aufgegriffen. In der Bionik werden lebendige Organismen als Quelle von konstruktiven und formalen Vorbildern gefeiert. Arbeiten, die lebendiges Material selbst in den Entwurfsprozess mit einbeziehen, bilden den kleinen aber wachsenden Bereich des Bio Design, dem in den letzten Jahren eine steigende Aufmerksamkeit zukommt. Im spekulativen Design wird die Gestaltung des Lebendigen durch den Menschen durch vorgestellte Zukunftsszenarien zum Thema gemacht. In der Kunst werden im Bereich der Bio Art Fragen nach der menschlichen Einf lussnahme auf lebendige Organismen gestellt. Einzelne freie Künstler fragen – ähnlich wie ich selbst – nach den Implikationen der industriellen Produktion von Lebensmitteln oder nach den Intentionen, die die menschlichen Eingriffe in die Evolution anderer Organismen motivieren. Wiederkehrende Themen, die in unterschiedlicher Tiefe und Ausführlichkeit aufgegriffen werden, sind die vom Menschen angestrebte Standardisierung von Organismen im Kontrast zur Anerkennung der Vielfalt, die Wertschätzung der bleibenden Eigengesetzlichkeit des Lebendigen und immer wieder auch ethische Fragen nach der Rechtfertigung des menschlichen Eingriffes – oder grundsätzlicher: des menschlichen Herrschaftsanspruchs über alles Lebendige. Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Leser aus dem Bereich des Design am Beispiel der Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten dafür zu sensibilisieren, dass die Gestaltung des Lebendigen tatsächlich alltäglich stattfindet. Die Materialität unserer pf lanzlichen Lebensmittel ist zutiefst vom Menschen gestaltet. Die menschliche Einf lussnahme auf das Lebendige ist demnach in der alltäglichen Praxis weniger skandalös, als das aus Designperspektive häufig vermutet wird. Um diese These zu stützen, betrachte ich in der vorliegenden Arbeit die alltäglichen Handlungen und Entscheidungen der Akteure, die im Rahmen des Produktionsprozesses von Obst und Gemüse zur Gestaltung des Lebendigen beitragen. Zudem frage ich in meiner Untersuchung danach, welche Forderungen lebendiges Gestaltungsmaterial mit sich bringt und zu welchen Konsequenzen dies im Gestaltungsprozess von Lebendigem führt. Die formulierten Einsichten können schließlich die weitere gestalterische Praxis mit lebendigem Material bereichern.
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7.2 Lebendigkeit in den STS Auch im Bereich der STS wird Lebendigkeit auf vielfältige Weise zur Sprache gebracht. Einerseits heben STS-Forscher in verschiedenen Studien – unter anderem zur landwirtschaftlichen Produktion – die Handlungsmacht von lebendigen, nicht-menschlichen Akteuren hervor. Andererseits verfolgen einige Vertreterinnen der STS das Ziel, kategoriale Unterscheidungen und Dichotomien, wie zum Beispiel zwischen Natur und Kultur oder Menschen und nicht-menschlichen Akteuren, aufzuheben. Zu diesen angezweifelten Unterscheidungen gehört auch diejenige zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem, die vor allem durch die Vertreter des Neuen Materialismus infrage gestellt wird. Im folgenden Abschnitt möchte ich auf beide Perspektiven – auf die Untersuchungen zur Handlungsmacht des Lebendigen und auf die Infragestellung der Lebendigkeit als essentieller Kategorie – eingehen.
Die Handlungsmacht des Lebendigen in Studien zur Nahrungsmittelproduktion Ein Schwerpunkt der Forschung im Bereich der STS liegt auf dem Anspruch, die Handlungsmacht von Menschen und nicht-menschlichen Akteuren symmetrisch zu betrachten (Niewöhner et al. 2012). Eines der zentralen Anliegen der Akteur-Netzwerk-Theorie ist es, die Wirkmächtigkeit von nicht-menschlichen Akteuren ernst zu nehmen. So finden sich in STS-Studien zur landwirtschaftlichen Produktion an einigen Stellen Beobachtungen zur Handlungsmacht der Tiere und Pf lanzen – der lebendigen, nicht-menschlichen Akteure, die zur Herstellung der Lebensmittel für den Menschen eingesetzt werden. Häufig wird dabei auch die Frage nach der Rolle der Natur gestellt, wobei die Lebendigkeit der Nutzpf lanzen und Nutztiere stets als Bestandteil von Natur verstanden wird. Studien zur landwirtschaftlichen Produktion aus dem Bereich der STS7 beschreiben aus verschiedenen Perspektiven und auf unterschiedliche Weise, wie in der Landwirtschaft nicht nur Lebensmittel, sondern gleichzeitig auch landwirtschaftliches Wissen, Technik, Organisationssysteme, Landschaften, Politik, Märkte, Konsumenten, Esser und Spezien hervorgebracht werden (Iles et al. 2017, S. 736). Der Fokus der sozial- und geisteswissen7 Für einen Überblick siehe Iles et al. 2017.
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schaftlichen Untersuchungen liegt zum einen häufig auf dem Aufstieg der industrialisierten Landwirtschaft und ihrer Maximen der Intensivierung der Produktion, der Reduktion von menschlicher Arbeit und der Kontrolle von Natur (ebd., S. 738). Ein anderer Schwerpunkt fokussiert die Koproduktion von Wissen und Lebensmitteln in landwirtschaftlichen Produktionssystemen und untersucht die unterschiedlichen Wissensformen, die in der Herstellung von Lebensmitteln von Bedeutung sind. Ein dritter Strang von Studien richtet das Augenmerk auf Alternativen zum vorherrschenden produktivistischen System (Iles et al. 2017). Die Verteilung von Macht und Einf luss unter den Akteuren der Wertschöpfungskette stellt schließlich einen weiteren häufigen Fokus von STS-Studien dar (Morgan et al. 2006, S. 4).8 Zwei Publikationen sollen an dieser Stelle exemplarisch für STS-Studien zur landwirtschaftlichen Produktion ausgewertet werden. Die Geographen Morgan, Karsden und Murdoch (2006) beschreiben verschiedene global vernetzte und gleichzeitig lokal verwurzelte „Lebensmittelwelten“. Wie Iles und seine Kollegen (2017) ziehen auch Morgan, Karsden und Murdoch eine Trennung zwischen dem konventionellen System der Lebensmittelproduktion, „which is dominated by productivist agriculture and large companies producing, processing, and retailing food on a national and global scale“ (Morgan et al. 2006, S. 2) und dem alternativen System, „which tends to be associated with a more ecological approach to agriculture, with smaller companies producing and retailing food for localized markets“ (ebd.). Gleichzeitig weisen die Autoren darauf hin, dass die Grenze zwischen beiden Systemen immer mehr verschwimmt. Mit Blick auf die Erfolgsgeschichten der steigenden landwirtschaftlichen Produktion und der immer günstigeren Lebensmittel für den breiten Massenmarkt verstehen die Autoren die produktivistische Landwirtschaft als “just another economic sector, part of the consumer goods industry“ (ebd., S. 2). Morgan, Karsden und Murdoch gehen explizit auf die Machtasymmetrien zwischen dem produktivistischen System und den viel kleineren und weniger mächtigen Alternativen ein. Sie stellen fest: Das industrialisierte konventionelle System zeichnet sich durch einen gewissen „Willen zur Macht“ aus; es zeigt eine Tendenz, sich auszubreiten und andere Strömungen zu verschlucken. Den8 Einflussreiche Studien zu den Asymmetrien der Machtverteilung unter den Akteuren der Lebensmittelproduktion stammen von der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Sheila Jasanoff (Jasanoff 2007, Jasanoff 2016).
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noch ist es ihnen ein Anliegen, aufzuzeigen, dass sich auch die industriellen Wertschöpfungsketten durch einen hybriden Charakter auszeichnen und weiterhin abhängig sind von lokalen Gegebenheiten und von der Natur. Die Autoren zielen darauf ab, durch die Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie das kapitalistische System als weniger unausweichlich darzustellen, als das bisher oft der Fall gewesen ist. Sie sind überzeugt, die ANT könne helfen, die Macht der Mächtigen zu dekonstruieren (ebd., S. 18). Schrepfer und Scranton (2004) präsentieren eine Sammlung von historischen Studien zur Industrialisierung der Organismen. Die Studien untersuchen anhand von verschiedenen Beispielen aus der Geschichte der Landwirtschaft der letzten 200 Jahre die Anpassung der Organismen an die Anforderungen der industrialisierten Produktion – und beschreiben damit die Geschichten von Biofakten. In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber, dass die Industrialisierung Tiere und Pf lanzen als Materiallieferanten nie ersetzen konnte. Stattdessen wurden die Lebewesen eingebunden in die Prozesse der Technisierung. Mit dem Konzept der Koevolution richten die Autoren den Blick auf die gleichzeitige und verwobene Entwicklung von Organismen, menschlicher Lebenswelt und Technik. Schrepfer und Scranton heben die Abhängigkeit der landwirtschaftlichen Technologie von Pf lanzen, Tieren und Organismen als integrierte Bestandteile hervor. Ein Verständnis von Organismen als Bestandteil von Technologie ist für sie daher nicht abwertend zu verstehen; stattdessen soll es diese Verstrickung des Lebendigen in die Technik zum Ausdruck bringen.
Lebendigkeit als Herausforderung Einige Studien aus Soziologie und Geographie gehen besonders auf die Rolle der Natur in landwirtschaftlichen Produktionsprozessen ein und betonen dabei die Konsequenzen, die die Lebendigkeit der involvierten Organismen in diesen Produktionsprozessen mit sich bringt. Friedland, Barton und Thomas (1981) beschreiben in ihrer Studie zum Anbau von Eisbergsalat in den USA, wie das Geschäft der Anbaubetriebe maßgeblich von der besonderen Empfindlichkeit und Leichtverderblichkeit des lebendigen Produkts bedingt wird: „The complexity of the lettuce production and distribution system […] is an inevitable feature of the characteristics of the commodity“ (ebd., S. 43). Der Anbau von Eisbergsalat ist demnach geprägt von Anstrengungen, den biologischen Voraussetzungen
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der Verderblichkeit der Ware und der wetterbedingten Schwankungen der Erträge zu begegnen. Goodman, Sorj und Wilkinson (1987) beschreiben den Aufstieg von kapitalistisch strukturierten Betrieben in der Lebensmittelwirtschaft und dessen Einhergehen mit den fortschreitenden Anstrengungen, den Einf luss biologischer Einschränkungen zunehmend aus dem Produktionsprozess zu verdrängen. Die natürlichen Bedingungen, die die Entwicklung der Industrialisierung der Landwirtschaft prägten, werden hier vor allem verstanden als die biologische Umwandlung von Sonnenenergie in chemisch gebundene Energie, als die biologisch notwendige Zeit für das Pf lanzenwachstum und die Reproduktionszyklen von Nutztieren und als der notwendige Raum für die Produktion von Lebensmitteln (ebd., S. 1). Einerseits stellen die Autoren die immer stärkere Anpassung der Technologie an die spezifischen natürlichen Anforderungen in der landwirtschaftlichen Produktion dar; auf der anderen Seite beschreiben sie auch die zahlreichen Bestrebungen der Produzenten, „to reduce the importance of nature in rural production, and specifically as a force beyond [human] direction and control“ (ebd., S. 3). Sie betonen demnach gleichzeitig das bisherige Angewiesensein des Menschen auf die biologische Transformation von Sonnenenergie in essbares Material (ebd., S. 1), gehen aber unter dem Einf luss überhöhter Versprechungen der Biotechnologie davon aus, dass die Rolle der Natur von schwindender Bedeutung im Lebensmittelbereich sein wird – in Zukunft werde die Natur schließlich durch die vorangetriebenen Prozesse der Anpassung und Ersetzung vollkommen aus der Herstellung von Lebensmitteln verdrängt (vgl. ebd., S. 188f). Auch in der zuvor schon genannten Untersuchung von unterschiedlichen Lebensmittelwelten (Morgan et al. 2006) gehen die Autoren auf den Umgang mit natürlichen Bedingungen in industriellen und alternativen Produktionsprozessen ein. Mit Blick auf bisherige Untersuchungen zu globalen Wertschöpfungsketten im Lebensmittelsektor stellen auch sie fest, dass die Bedingungen, die sich aus klimatischen, geographischen und biologischen Gegebenheiten ergeben, in der Produktion von Lebensmitteln in der Regel als Hindernisse und Herausforderungen wahrgenommen werden. Das in der industriellen Lebensmittelproduktion angestrebte Ziel sei es, diese Bedingungen wie die Saisonalität, die Empfindlichkeit der Produkte oder die Abhängigkeit von Regen und Sonne strategisch zu überlisten oder zu umgehen (ebd., S. 8). Als besondere Errungenschaft dieser Anstrengungen zur
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Überwindung der natürlichen Einschränkungen nennen Morgan und seine Kollegen die jahreszeitenunabhängige Ernährung, die durch die Entwicklung von Konservierungstechniken, durch Gewächshaustechnik und den Transport von Lebensmitteln über immer weitere Strecken möglich wurde (ebd., S. 9). Die historische Entwicklung zeige, wie die Natur in der Industrialisierung der Landwirtschaft durch Prozesse der Verzweckung und Ersetzung zunehmend überlistet und verdrängt wurde (ebd. S. 16): „nature is squeezed out of the production process“ (ebd., S. 10). Dieses Streben des Menschen nach Unabhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten beschreibt auch der Philosoph Blumenberg (1999). Die Welt, in der wir leben, ist für Blumenberg demnach „eine Welt bewußter, ja pathetischer Überbietung, Entmachtung und Entstaltung der Natur, eines tiefen Ungenügens am Gegebenen“ (ebd., S. 56). In seiner geistesgeschichtlichen Betrachtung stellt Blumenberg dar, wie dieses Verlangen nach Unabhängigkeit von der Natur mit dem Beginn der Auf klärung seinen Anfang nahm, als die Nachahmung der Natur als Ziel alles menschlichen Handelns an Bedeutung verlor und der Mensch stattdessen begann, nach der Verdrängung und Entmachtung der Natur zu streben. Die beschriebenen Perspektiven machen deutlich, dass die Bedingungen der Lebendigkeit – wie insgesamt die Gegebenheiten der Natur – in der landwirtschaftlichen Produktion vor allem als Einschränkungen und Herausforderungen gedacht werden. Als Reaktion zeigt sich das in vielen Punkten erkennbare Streben der menschlichen Akteure nach Unabhängigkeit von den Eigenschaften des Lebendigen.
Bleibende Abhängigkeit Zahlreiche Studien aus dem Bereich der STS bekräftigen jedoch auch die ungebrochene Relevanz der Eigenschaften des Lebendigen und der Bedingungen der Natur für die landwirtschaftliche Produktion. So unterstreichen etwa Morgan et al. (2006) ihre geographische Überzeugung, natürliche Ressourcen wie die Bedingungen der Lebendigkeit und die Voraussetzungen von Boden und Klima seien nur scheinbar von schwindender Bedeutung für die Lebensmittelproduktion. Auch die zeitgenössische Landwirtschaft könne nicht als losgelöst von lokalen und natürlichen Bedingungen gedacht werden (ebd., S. 10). Trotz aller Bestrebungen, die natürlichen Bedingungen zu überlisten, bleibt es demnach auch in heutigen landwirtschaftlichen Pro-
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duktionsprozessen unumgänglich, die biologischen Bedingungen der eingebundenen Organismen zu berücksichtigen. In Übereinstimmung mit diesem Argument der bleibenden Abhängigkeit untersucht eine Reihe von Studien explizit die Handlungsmacht von pf lanzlichen Akteuren, die durch die Bedingungen ihrer Lebendigkeit den landwirtschaftlichen Produktionsprozess formen. In seiner Untersuchung der Handlungen von südaustralischen Winzern unterstreicht der Wirtschaftssoziologe Brice (2014) die Handlungsmacht der Pf lanzen, die einen maßgeblichen Einf luss auf das Verhalten der Winzer haben. Während die Weinbauern danach streben, guten Wein herzustellen, sind sie gezwungen, äußere Einf lüsse wie die Bewässerung, die Bodentextur und die Ausbreitung von Pf lanzenkrankheiten zum Wohl ihrer Pf lanzen zu steuern. In ähnlicher Weise beschreibt Smith (2004) in seiner historischen Studie zur Industrialisierung der Zuckerherstellung aus Zuckerrohr in Kuba, wie die biologischen Prozesse der Pf lanzen die Entstehung des industriellen Produktionsprozesses formten: „sugar production continued not only to rely on basic biological processes, but also to be shaped by them“ (ebd., S. 105). Er betont die besondere Wirkmächtigkeit des lebendigen Rohmaterials Zuckerrohr: „the development of modern industry was not only about mechanical innovation, but also depended on the basic natural processes of species that were in many ways ‚actors‘ in the drama of industrialization“ (ebd., S. 86). Dabei räumt Smith ein, dass die Eigenschaften eines zu verarbeitenden Materials grundsätzlich in den entsprechenden Produktionsprozessen berücksichtigt werden müssen (ebd., S. 105). Jedoch stelle die Lebendigkeit des Zuckerrohrs in besonderer Weise Bedingungen, die die Entwicklung der industriellen Produktion von Zucker maßgeblich bestimmten: „the role of sugarcane in determining the fundamental factors of production shows in the extreme how biology was a critical element in the development of industrial societies“ (ebd.). Ein weiteres Beispiel, das nicht im engeren Sinne die landwirtschaftliche Produktion, in jedem Fall aber die Herstellung von Lebensmitteln und die Handlungsmacht des Lebendigen zur Sprache bringt, liefert eine viel zitierte Studie von Michel Callon (1986): Callon untersucht den Versuch der Domestizierung von Jakobsmuscheln in der Bucht von St. Brieuc und stellt dar, wie drei Forscher das Problem samt den involvierten Akteuren und ihren Rollen definieren. In ihren ersten Versuchen gelingt es zunächst, die Muscheln, die Fischer und andere Forscher in die Allianzen mit einzubinden und ihnen
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Rollen zuzuweisen. Am Ende jedoch machen sich die Muschellarven los von den eigens für sie konstruierten Sammelbehältern. Wie die menschlichen Akteure auch sind die Muschellarven in der Lage, durch ihr Ungehorsam Machtpositionen von Experten infrage zu stellen und etablierte Allianzen aufzukündigen. Ohne ein Eingehen der Menschen auf die Forderungen der Muschellarven kann die angestrebte Produktion nicht gelingen. Zusätzlich zu der bleibenden Abhängigkeit des Menschen von den Funktionsweisen biologischer Organismen weist die Rechtswissenschaftlerin Jasanoff (2016) auf das bleibende Unwissen der Wissenschaft über die biologischen Vorgänge im Inneren der Zellen von Lebewesen hin. In ihrer Untersuchung der Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten gentechnisch veränderter Organismen in den USA und Europa kommt sie zu dem Schluss, die Gentechnik sei entgegen der euphorischen Versprechen der 90er Jahre inzwischen zu einem Paradebeispiel von erfolglosen und von der Bevölkerung ungewollten Technologien geworden. Mit Blick auf die wenigen Erfolgsgeschichten und die zahlreichen Enttäuschungen in der Geschichte der Biotechnologie müsse die Wissenschaft einsehen: “Biology remains a great unknown, both at the level of individual organisms […] and at the level of whole ecosystems“ (ebd., S. 114). Damit unterstreicht sie das bruchstückhafte Wissen der Menschen und die daraus folgende bleibende Unbeherrschbarkeit lebendiger Organismen. Insgesamt zeigen die verschiedenen dargestellten Studien aus den STS auf vielfältige Weise, dass die Bedingungen der Lebendigkeit von den Akteuren der landwirtschaftlichen Produktion in erster Linie als Hindernisse und Herausforderungen verstanden werden. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Mensch auch in zeitgenössischen landwirtschaftlichen Produktionsprozessen nicht allein bestimmen kann. In allen vordergründig industrialisierten Prozessen dauert die Lebendigkeit der eingebundenen und unersetzbaren Organismen fort (vgl. Iles et al. 2017, S. 747). Iles und seine Kollegen unterstreichen zusammenfassend, dass in landwirtschaftlichen Produktionssystemen der Mensch nur einer von vielen Akteuren ist: “Far from human agents controlling the process, farmers must work with diverse species […], from cows to fungi and from lentil plants to insects“ (ebd.). Um den Erfolg im Produktionsprozess sicherzustellen, führt demnach für die menschlichen Akteure kein Weg daran vorbei, sorgfältig auf die biologischen Anforderungen aller am Produktionsprozess beteiligten Lebewesen einzugehen.
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Neuer Materialismus: Ist alles lebendig? Die in den STS verbreitete Forderung nach der Auf lösung der Dichotomien führt dazu, dass STS-Forscherinnen es eingeübt haben, essentielle Unterscheidungen grundsätzlich infrage zu stellen. Eine dieser Unterscheidungen, die bisher alltagsweltlich Gültigkeit besaß, ist die Unterscheidung von Entitäten in lebendige und nicht lebendige Dinge. Im Bereich der STS ist es vor allem eine aktuelle Strömung, die diese essentielle Unterscheidung von Lebendigem und Nichtlebendigem dekonstruiert: Der neue Materialismus. Der neue Materialismus bezeichnet eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und disziplinärer Perspektiven, die allesamt die Handlungsmacht von Materie betonen (Hoppe & Lemke 2015, S. 2). Zusammenfassend schreibt der Soziologe Thomas Lemke: „Central to this movement is the extension of the concept of agency and power to non-human nature, thereby also calling into question conventional understandings of life“ (Lemke 2015, S. 4). Die Strömung konzipiert Materie als „aktiv, wirkmächtig und plural“ (Hoppe & Lemke 2015, S. 2); Materie zeichnet sich damit durch „Eigensinn und Handlungsmacht“ (ebd.) aus. Die „Betonung der spezifischen Ereignishaftigkeit und Potenzialität der Materie“ macht dabei das Neue am neuen Materialismus aus (Folkers 2013, S. 17). Materie wird als prozesshaft, als “offener, laufender Prozess“ (ebd., S. 25) verstanden. Damit rücken die Vertreter des neuen Materialismus die materiellen Gefüge und ihre „permanente Auf lösungs- und Neuzusammensetzungsdynamik“ (ebd., S. 27) ins Zentrum des Interesses. Einf lussreiche Beiträge zum neuen Materialismus kommen von der theoretischen Physikerin Karen Barad (2003). Ihr Konzept der Intra-Aktion steht für den Gedanken: Entitäten, die zueinander in Beziehung treten, entstehen immer erst mit der Beziehung, in der Reaktion aufeinander. Auf bauend darauf entwickelt sie ein prozesshaftes Verständnis von Materie: „Matter is a stabilizing and destabilizing process of iterative intra-activity“ (ebd., S. 822). Auch Jane Bennett betont mit ihrem Konzept der „Thing Power“ die Handlungsmacht der Dinge. In ihrem Buch „Vibrant Matter“ (Bennett 2010) untersucht sie so unterschiedliche Dinge wie Plastikmüll am Straßenrand, Stromnetze und essbare Materie. Sie legt dabei Wert auf die Widerspenstigkeit der Materie und auf deren Potential, Auswirkungen auf andere Dinge wie auch auf Menschen zu entfalten. Aufgrund der festgestellten Handlungsmacht der Dinge und der Vielfältigkeit der Wirkungsbeziehungen kommt Jane Bennett zur Aussage, alles sei
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in gewisser Weise lebendig: „everything is, in a sense, alive“ (Bennett 2010, S. 117). Diese Verallgemeinerung der Lebendigkeit wird jedoch auch von verschiedenen Seiten kritisiert: Die Geographen Bruce Braun und Sarah Whatmore argumentieren für „a closer attention to the specificity of the matter at hand, as opposed to a generic analogy to ‘life’ that could be described as a metaphysics” (Braun & Whatmore 2010, S. xxix). Abrahamsson et al. (2015) schließen sich hier an. Sie kritisieren, die Handlungsmacht der spezifischen Materie selbst werde in vielen Texten des neuen Materialismus ironischerweise nicht ernst genug genommen. Abrahamsson und seine Kollegen betonen, die Handlungsmacht der Materie sei nie in der Materie selbst verankert, sondern entstehe erst in komplexen Gefügen von Beziehungen: “[R]ather than getting enthusiastic about the liveliness of ‘matter itself’, it might be more relevant to face the complexities, frictions, intractabilities, and conundrums of ‘matter in relation’. For it is in their relations that matters become political“ (ebd., S. 13). Auch für Thomas Lemke (2015) ist der Gedanke der universellen Lebendigkeit der Materie nur teilweise überzeugend. Er schreibt: „the distinction between animate and inanimate bodies may play a crucial role“ für die Analyse der jeweiligen Handlungsmacht (ebd., S. 15). Diese Kritik der These von der universellen Lebendigkeit stimmt mit meinen Beobachtungen von Gestaltungsprozessen überein: Wie ich in Kapitel 3.2 dargestellt habe, machen Designerinnen in ihrem gestalterischen Alltag in vielfältiger Weise die Erfahrung, wie eigensinnig und widerständig sich auch nicht lebendiges Material verhalten kann. Materialität fügt sich in der Regel nicht auf Anhieb den gestalterischen Versuchen, sie zu beherrschen. In der gestalterischen Praxis im Umgang mit Kunststoff und Metall erweist sich der Gedanke der Lebendigkeit der Materie in meiner Erfahrung dennoch nicht als notwendig, um die erfahrene Wirkmächtigkeit der Materialität zu beschreiben. In meiner Untersuchung des gestalterischen Umgangs mit Nutzpf lanzen orientiere ich mich hingegen zuallererst an den Aussagen und Überzeugungen meiner Gesprächspartner aus den Reihen der aktiven Teilnehmer dieses Gestaltungsprozesses. Mit ihnen gehe ich davon aus, dass die biologische Lebendigkeit der gestalteten Organismen tatsächlich eine Reihe spezifischer Eigenheiten mit sich bringt, die den Alltag der Produktion von Obst und Gemüse maßgeblich bestimmen und für deren Erklärung der Gedanke der bloßen Handlungsmächtigkeit von Materie nicht ausreicht. Während die Erfahrung von Widerständigkeit und Eigensinn der Materie im gestalterischen Umgang mit jedem beliebigen Material also nicht not-
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wendigerweise auf dessen Lebendigkeit verweist, werden die Auswirkungen der biologischen Lebendigkeit von Nutzpf lanzen in der Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten an vielen konkreten Stellen sichtbar. Wie können nun die erläuterten STS-Perspektiven auf Lebendigkeit zusammenfassend beschrieben werden? Im Bereich der STS wird einerseits in verschiedenen Studien die Handlungsmacht von lebendigen, nicht-menschlichen Akteuren herausgearbeitet. Vor allem Studien zur landwirtschaftlichen Produktion zeigen, wie die Lebendigkeit von Nutzpf lanzen und -tieren die Produktionsprozesse maßgeblich bestimmt. Dabei werden die Bedingungen der Lebendigkeit von den menschlichen Akteuren der landwirtschaftlichen Produktion in der Regel als Herausforderung und Einschränkung verstanden. Ziel vieler Techniken ist es demnach, diese Einschränkungen zu überwinden und die Produktion unabhängiger von den unerwünschten Eigenschaften lebendiger Organismen zu gestalten. Gleichzeitig betonen verschiedene Studien auch die bleibende Abhängigkeit des Menschen von den biologischen Eigenschaften von Tieren und Pf lanzen. Landwirtschaftliche Produktion kann nur gelingen, wenn die menschlichen Akteure sorgfältig auf die Forderungen der involvierten Lebewesen eingehen. Andererseits stellen die umstrittenen Thesen des neuen Materialismus zur Lebendigkeit von Materie die Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem grundsätzlich infrage. Meine Untersuchung richtet sich in dieser Frage zunächst nach den Aussagen meiner Gesprächspartner aus der Produktion von Obst und Gemüse. An vielen Stellen äußern sie die Überzeugung, dass die Lebendigkeit der Produkte in dieser Branche bestimmte Konsequenzen und Anforderungen mit sich bringt, die den menschlichen Umgang mit den Produkten bedingen und formen. An zwei weiteren Punkten möchte ich mit meiner Untersuchung über die dargestellten Perspektiven aus dem Bereich der STS hinausgehen: Viele der genannten Studien (z.B. Friedland et al. 1981; Goodman et al. 1987; Smith 2004; Morgan et al. 2006) führen die Handlungsmacht des Lebendigen zurück auf einen Begriff von Natur, der häufig nicht näher ausgeführt wird. Aufgrund der bereits dargestellten Strittigkeit und der bleibenden Unschärfe des Naturbegriffes9, die sich deutlich in den Äußerungen und Überzeugungen meiner Gesprächspartnerinnen in der Produktion von Obst
9 Siehe Kapitel 3.1.
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und Gemüse spiegeln, halte ich eine Betrachtung der Handlungsmacht von Pf lanzen im Hinblick auf den Aspekt der Lebendigkeit für hilfreicher. Überdies wird in keiner der Studien umfassender und auf eine systematischere Weise analysiert, wie sich die Handlungsmacht von lebendigen Akteuren allgemein in der landwirtschaftlichen Produktion äußert. Meist werden nur einzelne Aspekte der Handlungsmacht des Lebendigen thematisiert; zudem werden diese Aspekte in der Regel nur im Hinblick auf einen Organismus – beispielsweise auf Zuckerrohr oder auf die Larven von Jakobsmuscheln – untersucht. In meiner Studie frage ich dagegen übergeordnet danach, welche Konsequenzen die Lebendigkeit von landwirtschaftlichen Nutzpf lanzen in Produktionsprozessen mit sich bringt.
7.3 Lebendigkeit in der Gestaltung von Obst und Gemüse In den beiden vorangegangenen Abschnitten ging ich der Frage nach, wie Lebendigkeit im Designbereich bzw. im Bereich der STS thematisiert und zur Sprache gebracht wird. Die dargestellten Perspektiven dienen mir im Folgenden als Hintergrund für meine empirische Betrachtung: Im folgenden Abschnitt erläutere ich auf der Basis meines empirischen Datenmaterials fünf Merkmale, an denen die Lebendigkeit von Obst- und Gemüseprodukten für die Akteure im Produktionsprozess erfahrbar wird. Ich argumentiere, dass diese Merkmale der Lebendigkeit direkte Konsequenzen für den Produktionsprozess mit sich bringen, indem sie einen bestimmten Umgang der menschlichen Akteure mit den lebendigen Produkten erfordern. Bei der Formulierung der fünf Punkte konzentriere ich mich auf die Wahrnehmung meiner Gesprächspartnerinnen, der Expertinnen aus dem Bereich der Produktion von Obst und Gemüse, die in den Gesprächen auffallend häufig die Andersartigkeit ihrer Branche hervorheben. Die Akteure aus Züchtung, Produktion, Handel und Regulierung äußern wiederholt, dass in der Obst- und Gemüsebranche im Vergleich zu anderen Branchen grundsätzlich andere Regeln für den Umgang mit den Produkten gelten, wobei die wahrgenommene Differenz häufig damit begründet wird, dass es sich in dieser Branche um lebendige Dinge handelt. So beschreiben meine Gesprächspartner immer wieder Eigenheiten ihrer Produkte, die sie auf die Lebendigkeit der Dinge zurückführen.
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Ständige Veränderung Das erste und vielleicht prägendste dieser fünf Merkmale ist die ständige Veränderung als grundlegende Eigenschaft lebendiger Dinge. Die Lebendigkeit von Obst und Gemüse zeigt sich am deutlichsten darin, dass die Pf lanzen und Früchte einem fortlaufenden Wandel unterliegen. Dieser Wandel bedingt und formt den menschlichen Umgang mit Nutzpf lanzen und ihren Erzeugnissen. Die verschiedenen Möglichkeiten der Richtung dieser Veränderungsprozesse unterliegen einer normativen Beurteilung durch den Menschen: Manche Veränderungen sind erwünscht, andere, wie die Entwicklung von Pf lanzenkrankheiten, sollen vermieden werden. Ein besonderes Kennzeichen dieser fortlaufenden Veränderungsprozesse ist die Unmöglichkeit, den Wandel zu unterbrechen10. Einmal angestoßene Wachstumsprozesse sind nicht mehr anzuhalten, sie müssen fortlaufend durch Wasser und Licht aufrecht erhalten werden. Wenn dies nicht geschieht, nimmt der eigendynamische Veränderungsprozess ein Ende im Tod der Zellen. In der Produktion von Obst und Gemüse stellen sich die menschlichen Akteure in allen Phasen des Produktionsprozesses mit zahlreichen Techniken auf die biologischen Veränderungsprozesse ein und versuchen, deren Geschwindigkeit und Richtung zu steuern. Im Anbau von Obst und Gemüse zeigt sich der fortlaufende Wandel des Lebendigen zunächst im Wachstum der Pf lanzen und Früchte. Das Wachstum ist ein Prozess der Veränderung: Pf lanzen bilden Blätter, Blüten und Triebe, Früchte und Samen aus eigenem Antrieb. Dem Menschen kommt im Anbau die Rolle zu, der Pf lanze möglichst viele der für das angestrebte Wachstum notwendigen Voraussetzungen bereitzustellen und das Wachstum damit in die erwünschte Richtung zu lenken. Im Laufe der Wochen, Monate und Jahre sprechen die Expertinnen im Anbau jedoch auch davon, dass die Pf lanzen altern. Apfelbäume werden mit zunehmendem Alter immer dichter, was bedeutet, dass weniger Licht an die 10 Ein Beispiel für einen Versuch der Unterbrechung der Veränderungsprozesse ist die Kryokonservierung: Im Fall der Lagerung von Saatgut in Tiefkühlanlagen können Samen unbeschadet Jahrzehnte überstehen, ohne ihre Keimfähigkeit zu verlieren. Dies gilt allerdings nur bis zu einer gewissen Höchstdauer und nur für Samen. Wenn die Samen einmal aufgetaut sind und unter Einfluss von Licht und Wasser eine Keimung stattgefunden hat, beginnt der Prozess der Veränderung und des Wachstums – eine Unterbrechung ist dann nicht mehr möglich.
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Früchte kommt und mehr Äpfel im Schatten hängen. So haben die geernteten Äpfel im Laufe der Jahre eine immer geringere Ausfärbung (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Auch Tomatenpf lanzen altern: „[S]o im November merkt man auch die Pf lanzen werden alt […] Und haben dann meistens doch auch ein bisschen Krankheiten irgendwie. Noch nichts Tragisches, aber es passt halt nicht mehr ganz so“ (Interview mit einer Betriebsleiterin im Gemüsebau, 23.05.2016). Wenn die Pf lanzen aufgrund ihres Alters oder aufgrund von auftretenden Pf lanzenkrankheiten nicht mehr wirtschaftlich nutzbar sind, wird ihr Leben beendet und sie werden entsorgt. Doch nicht nur die Pf lanzen, auch die Erzeugnisse verändern sich ständig – und dieser Prozess endet nicht mit der Ernte. Die Zellen der geernteten Früchte, Wurzeln und Blätter leben weiter. In Regulierung und Handel muss damit umgegangen werden, dass die Ware mit hoher Geschwindigkeit reift und altert – und mit der Zeit auch verdirbt. Die Regulierung zur Qualität von Obst und Gemüse muss der ständigen Veränderung der Ware gerecht werden. Die Verzehrfähigkeit der Erzeugnisse kann beeinträchtigt sein durch Pf lanzenkrankheiten, Schädlinge oder Fäulnis, aber auch durch Unreife, Überreife oder Verderb. Um die fortschreitende Veränderung greif bar zu machen, nutzen die gültigen Vermarktungsnormen folgende Formulierung: „Der Zustand der Erzeugnisse muss so sein, dass sie […] in zufrieden stellendem Zustand am Bestimmungsort ankommen“ (EU Kommission 2011a, S. 3). Der zufrieden stellende Zustand kann durch falsche Lagerung oder Handhabung oder auch einfach durch das Verstreichen der Zeit zerstört werden. Um sicherzustellen, dass die Produkte den Konsumenten auch tatsächlich in optimaler Qualität erreichen, müssen die Kontrollen zur Einhaltung der Normen deshalb regelmäßig auf allen Stufen – vom Anbaubetrieb über den Sortierbetrieb bis zum Groß- und Einzelhandel – erfolgen.11 Im Handel erfordert die schnelle Verderblichkeit, dass sich der Umgang mit Obst und Gemüse vom Umgang mit dem Rest des Sortiments erheblich unterscheidet. Ein Einkäufer für eine große Supermarktkette erläutert: „Die
11 Die in Kapitel 5.3 beschriebene mangelnde Bildqualität der Darstellungen im elektronischen Schadbildkatalog ist ein weiteres empirisches Beispiel für eine Konsequenz der ständigen Veränderung lebendiger Erzeugnisse. Das unvorhersehbare Auftreten von bestimmten Mängeln und deren mangelnde Konservierbarkeit führen zu erschwerten Bedingungen für professionelle und systematische Abbildung der Schadbilder.
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Unterscheidung bringt alleine schon die kurze Lebensdauer vieler Produkte – also die rasche Verderblichkeit der Ware – mit sich“ (E-Mail Kommunikation mit einem Einkäufer am 25.02.2019). Für die tägliche Praxis im Einkauf von Obst und Gemüse bedeutet dies unter anderem: „Entscheidungen in der kompletten Prozesskette müssen sofort getroffen werden“ (ebd.). In den Auslagen der Obst- und Gemüsef lächen des Einzelhandels bedingt die fortlaufende Veränderung die Notwendigkeit der ständigen Überprüfung des aktuellen Zustands der Ware. Dies führt dazu, dass Obst- und Gemüseabteilungen sehr viel mehr Arbeit verursachen als Abteilungen für haltbare Artikel. Das ständige Aussortieren ist notwendig, um dem Kunden stets Waren von optimaler Frische anbieten zu können. Die Frische ist – gerade weil sie so schnell vergeht – im Handel mit Obst und Gemüse ein besonders bedeutendes Ziel. Sie steht für Qualität: je frischer die Ware, desto besser Geschmack und Konsistenz. Doch die Frische ist auch f lüchtig. Kaum ist die Frucht reif und geerntet, beginnt die Frische, nachzulassen. Im Handel kommen verschiedene Strategien zum Einsatz, um die Frische der Ware zu gewährleisten: Im Discounter wird die Frische quantifiziert und anhand der Losnummern auf den Produkten messbar gemacht. Was die falsche Losnummer hat, ist nicht mehr frisch und darf damit nicht mehr verkauft werden. In anderen Supermärkten wird die Frische anhand des Aussehens der Erzeugnisse in regelmäßigen Zyklen vom Personal geprüft. Eine Mitarbeiterin in der Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarktes erklärt: Also ich habe auf dem [Rollwagen, der] da draußen war, schon wieder zwei Kisten gehabt, wo ich ausgelesen hab… Es ist einfach so: Es ist ein lebendes Produkt. Also, man ist nie fertig mit dieser Abteilung. […] Man hat es vor einer Stunde angeschaut, und… geht man noch mal drüber, findet man wieder was. Interview mit einer Supermarktmitarbeiterin, 13.11.2018
So wird das gesamte Sortiment in Abständen von zwei bis drei Stunden ausgeputzt und aussortiert. Wenn der richtige Zeitpunkt für den Verkauf verpasst wurde oder die Regeln des richtigen Umgangs nicht eingehalten wurden, wird die Ware überreif oder sie verdirbt – und damit wird sie wertlos. Im Handel mit dem Lebendigen gibt es daher viel mehr Ausschuss; viel mehr, was aussortiert und weggeworfen werden muss, als bei anderen Artikeln.
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Aus der ständigen Veränderung der Eigenschaften resultiert, dass es im Lebensprozess des Erzeugnisses eine bestimmte – recht kurze – Phase gibt, in der das Erzeugnis für den Konsumenten am attraktivsten ist, nämlich genau dann, wenn es zum Verzehr geeignet, also genussreif ist. Im Handel wird in den letzten Jahren zunehmend das Ziel verfolgt, den Artikel genau in diesem Zustand zu verkaufen – nicht unreif, aber auch noch nicht überreif, sondern ready to eat (Feldnotizen, 18.05.2016). Eine Vielzahl an Techniken wird eingesetzt, um den Zeitpunkt des Beginns dieser Phase zu steuern. Avocados werden beispielsweise hartreif geerntet. Die Frucht ist dann vollständig entwickelt, aber noch nicht genussreif. Während des langen Transports auf Schiffen wird der Reifeprozess der Früchte durch Kühlung und Behandlung mit einem Reifehemmer verlangsamt oder nahezu angehalten. Durch den Einsatz von Reifehemmern ist auch eine Lagerung der Früchte über mehrere Wochen möglich (Bastian 2012, S. 21ff). Ein Wachsüberzug auf den Früchten soll das Austrocknen der Ware in der Zeit während Lagerung und Transport verhindern. Bevor die Früchte verkauft werden sollen, wird dann der gegenteilige Effekt herbeigeführt: Die Früchte werden in Klimakammern mit dem Reifehormon Ethylen begast, um die Genussreife möglichst zügig herbeizuführen (ebd.; Feldnotizen, 18.05.2016). Dadurch können Konsumenten in Supermärkten – oft mit den Bezeichnungen ready to eat oder genussreif – vorgereifte Früchte kaufen, die sich für den sofortigen Verzehr eignen. Ein ganzes Repertoire an Techniken kommt hier zum Einsatz, um dem Konsumenten eine maximale Bequemlichkeit zu ermöglichen: Ohne planen zu müssen, kann er jederzeit auf ein Angebot genussreifer Früchte zugreifen. Derselbe Prozess gilt in ähnlicher Weise auch für Mangos und Kiwis (Feldnotizen, 18.05.2016). Ein Nachteil dieser Praxis ist, dass vorgereifte Früchte eine kürzere Haltbarkeit haben. Anstatt Kiwis – wie vor einigen Jahren noch üblich – einige Tage verkaufen zu können, ist das Zeitfenster für den Verkauf durch die Reifetechnik geschrumpft, was einen steigenden Ausschuss an überreifen, aber noch nicht verkauften Früchten zur Folge hat (ebd.). Die ständige Veränderung des Lebendigen zeigt sich in der Produktion von Obst und Gemüse auf vielfältige Weise. Im Anbau ist das Wachstum und das Altern der Pf lanzen eine grundlegende Bedingung. Nach der Ernte wird der aktuelle Zustand der Erzeugnisse durch amtliche Kontrollen und auch durch betriebsinterne Prozesse im Handel ständig überprüft, um der fortschreitenden Veränderung zu begegnen. Im Handel wird das Ziel verfolgt,
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die Erzeugnisse den Konsumentinnen bestenfalls genau zu Beginn der kurzen Phase der optimalen Genussreife anzubieten. Um das Einsetzen dieser Phase zu steuern, kommen zahlreiche Techniken zum Einsatz. So müssen sich die Akteure in allen Phasen des Produktionsprozesses auf die fortschreitenden Veränderungsprozesse von Wachstum, Reife, Alterung und Zerfall einstellen. Der ständige Wandel des Lebendigen ist damit eine grundlegende Bedingung des menschlichen Umganges mit Obst und Gemüse.
Reaktion auf Einflüsse von außen Ein zweites Merkmal lebendiger Dinge ist deren Reaktion auf äußere Einf lüsse. Jede Pf lanze hat als Lebewesen das Potential, auf Einf lüsse von außen zu reagieren. Stärker als Materialien wie Kunststoff, Stein, Stahl und Holz, stärker als Lebloses reagiert Lebendiges auf äußere Faktoren wie Temperatur, Licht, Feuchtigkeit und mechanische Beanspruchung. Diese Besonderheit des Lebendigen zeigt sich auch in der Produktion von Obst und Gemüse. Apfelbäume beispielsweise sind als Pf lanzen in ständiger Interaktion mit ihrer Umwelt und reagieren auf Einf lüsse von außen. Die Leiterin eines Apfelsortierbetriebes erklärt: Wir haben ein Naturprodukt. Das heißt unsere Äpfel wachsen draußen. Das heißt […] bis zur Ernte ist der Apfel auf dem Baum. […] Und da sind sehr viele Einflüsse von Boden, Wasser, Luft, Temperatur, Sonneneinstrahlung… Und dementsprechend bekommen wir den Apfel. Interview mit der Geschäf tsführerin eines Sortierbetriebes, 29.03.2016
Weil Apfelbäume diesen äußeren Einf lüssen nicht einfach trotzen, sondern ständig auf sie reagieren, entsteht eine Abhängigkeit der Produktion von klimatischen Bedingungen und lokalen Faktoren. Da die Einf lüsse jedes Jahr unterschiedlich ausfallen, ist auch die Ernte in jedem Jahr anders. „Wir müssen uns mit diesem Naturprodukt so abgeben, wie es kommt. Das heißt, wir haben manchmal sehr viel Menge, im nächsten Jahr weniger und dann können wir auch nicht im Voraus sagen, welche Größen haben wir gerade viel und wenig“ (ebd.). Die Wurzeln und Blüten der Apfelbäume reagieren besonders empfindlich auf niedrige Temperaturen. Die Bäume können deshalb nur gepf lanzt werden, wenn es keinen Frost hat: „[W]enn die Wurzeln […] bei Kälte draußen sind, dann erfrieren sie halt echt ziemlich schnell“ –
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was zum Absterben der Bäume führt (Interview mit einem Apfelproduzenten, 31.10.2015). Die Eigenschaft von Lebendigem, auf äußere Einf lüsse zu reagieren, trifft jedoch nicht nur auf die produzierenden Pf lanzen und die Früchte in der Wachstumsphase zu, sondern genauso auf die geernteten Erzeugnisse: Die gepf lückten Äpfel müssen im Sommer nach der Ernte sofort abgedeckt und gekühlt werden, denn schon nach wenigen Stunden in der Sonne bekommen die geernteten Früchte einen Sonnenbrand und werden damit wertlos für die Vermarktung (ebd.). Selbst die im Gewächshaus optimal von schädlichen Einf lüssen abgeschirmten Pf lanzen, die Gurken, Tomaten und Paprika gedeihen lassen sollen, sind angewiesen auf das Sonnenlicht, das nicht ersetzt werden kann. Ein Gemüseproduzent versichert: Wenn keine Sonne scheint, wächst bei uns nichts. Wir sind angewiesen auf die Natur. Sicherlich, über das Gewächshaus kann man die Temperatur regeln. Man kann auch Einfluss nehmen auf das Klima. Man kann das steuern. Das ist eine erhebliche Verbesserung von der Produktion oder […] von der Pflanzengesundheit her. Aber deswegen haben wir ja trotzdem ein Naturprodukt. Wenn wir drei Wochen schlechtes Wetter haben, dann gibt es ganz wenig Ertrag, dann gibt es ganz wenige Gurken. [Die] Gurke reagiert wahn-
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sinnig schnell darauf… Dann werden bei den Tomaten die Früchte kleiner... Die Paprika schmeißt die Blüten ab. Interview mit einem Gemüseproduzenten, 29.04.2016
Eine Gewächshauspf lanze reagiert also nicht nur auf die unter Glas steuerbaren Komponenten wie Temperatur, Bewässerung, Luftfeuchtigkeit und den Nährstoffgehalt im Gießwasser, sondern auch auf das nur bedingt steuerbare Sonnenlicht. Eine weitere Konsequenz dieser Eigenschaft von Lebendigem, auf äußere Faktoren zu reagieren, ist der Umstand, dass der Verlauf von Züchtungsprojekten zeitlich strukturiert ist durch Lauf der Jahreszeiten. Pf lanzen reagieren auf die jahreszeitlich bedingten Schwankungen von Licht und Temperatur. Sie blühen in der Regel nur einmal im Jahr; und nur zur Blütezeit kann gekreuzt werden. So ist die Abfolge von Arbeitsschritten und auch die Gesamtdauer von Züchtungsprojekten vorgegeben durch den Lauf der Jahreszeiten. Durch die Nutzung verschiedener Flächen auf der Nord- und der Südhalbkugel der Erde kann der Zyklus von Aussaat, Blüte, Kreuzung, Reifung und Ernte für manche Kulturarten zweimal im Jahr stattfinden und dadurch erheblich beschleunigt werden (BDP 2019). Grundsätzlich bleibt jedoch die Abhängigkeit von biologischen Reaktionen auf klimatische Bedingungen bestehen. Diese Abhängigkeit vom Verlauf der Jahreszeiten gilt selbstredend nicht nur für die Züchtung, sondern genauso für den Anbau. Da jedoch der Zeitfaktor für die Produktentwicklungsprozesse in der Züchtung von besonderer Bedeutung ist, wird in der Züchtung die Abhängigkeit von Jahreszeiten als besondere Einschränkung erlebt und kommt daher in meinen Gesprächen mit Züchtern auch immer wieder zur Sprache. Neben der Reaktion auf Umwelteinf lüsse wie Licht, Feuchtigkeit und Temperatur reagieren lebendige Dinge auch auf mechanische Beanspruchung. Vor allem reife Früchte sind empfindlich gegenüber Druck und Stößen. Werden sie zu fest angefasst oder achtlos bewegt, bilden sich schnell Druckstellen, die bald zu Fäulnis und damit zum Verderb der Früchte führen. Auch auf diese Empfindlichkeit muss vor allem bei der Ernte, während des Transports und im Handel Rücksicht genommen werden. Hierfür werden zahlreiche Maßnahmen ergriffen, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. Es wird deutlich: Lebendiges reagiert ununterbrochen auf Einf lüsse von außen. Wasser und Licht sind als grundsätzliche Voraussetzungen für das
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Leben von Pf lanzen von besonderer Bedeutung, aber auch Temperaturunterschiede, die Verfügbarkeit von Nährstoffen und mechanische Beanspruchung rufen bei den Pf lanzen und Erzeugnissen Reaktionen hervor. Diese Eigenschaft von Pf lanzen und Erzeugnissen, auf äußere Einf lüsse zu reagieren, führt in Züchtung, Produktion, Regulierung und Handel zur Abhängigkeit des Menschen von Umweltfaktoren, die nur teilweise steuerbar sind.
Bedarf an Schutz und Pflege Die Lebendigkeit der Pf lanzen und Produkte – und dabei insbesondere die beiden bereits beschriebenen Eigenschaften der ständigen Veränderung und der Reaktion auf äußere Einf lüsse – bringen einen besonderen Bedarf der Pf lanzen und Produkte an Schutz und Pf lege mit sich. Weil Nutzpf lanzen nicht auf ihr eigenes Überleben, sondern auf die Erfüllung menschlicher Ziele hin optimiert sind, bedürfen sie menschlicher Pf lege, um zu gedeihen. Um die angestrebte Ernte erreichen zu können, sind die menschlichen Akteure demnach gezwungen, sicherzustellen, dass die eine optimale Produktion bedingenden Bedürfnisse der Pf lanzen nach Licht, Feuchtigkeit, Nährstoffen und Wärme angemessen erfüllt werden. Diese Notwendigkeit der menschlichen Fürsorge zur Herstellung von optimalen Bedingungen zeigt sich sowohl im Anbau als auch im Handel von Obst und Gemüse an zahlreichen Beispielen. Im Anbau tritt die Pf lanze als effiziente Produktionseinheit von Waren auf. Alles an ihr wird berechnet: Die nötige Heizenergie, die eingesetzten Pf lanzenschutzmittel, der Pf legeaufwand, den sie beansprucht und der Platz, den sie zum Wachsen braucht. Die Anschaffung einer Pf lanze – ob Tomatenpf lanze oder Apfelbaum – ist im Kontext der Produktion für den Großhandel stets verbunden mit einer präzisen Erwartung an den Ertrag, den sie innerhalb ihrer Lebenszeit produzieren soll. Ihr Ertrag wird dokumentiert, kontrolliert und verglichen – mit den Jahren zuvor, mit dem Ertrag der Kollegen, mit dem Ertrag anderer Sorten. Ihre produktiven Möglichkeiten kann die Pf lanze jedoch nur entfalten, wenn sie vor schädlichen Einf lüssen beschützt wird und die richtige technische Pf lege und Fürsorge erfährt. Für zahlreiche Gefahren im Anbau von Obst und Gemüse stehen die passenden Maßnahmen parat. Gegen einen Mangel an Wasser werden Ap-
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felbäume, Weinstöcke und Kartoffelfelder im Freiland häufig zusätzlich künstlich bewässert. Durch die mit dem Klimawandel auch in Deutschland häufiger werdenden Trockenperioden kommt solchen Bewässerungsanlagen im Anbau vieler Kulturen in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung zu. Gegen Pf lanzenkrankheiten und Schädlinge sind eine große Anzahl von wirksamen Pf lanzenschutzmitteln im Einsatz. Und gegen das Erfrieren der jungen Pf lanzen werden Erdbeerfelder im Frühjahr oft mit Folie abgedeckt. Die bereits beschriebenen vielfältigen Einf lüsse von außen, auf die die Pf lanze reagiert, werden in vielen Fällen so weit wie möglich vom Menschen gesteuert. Welche Maßnahme zum Erreichen optimaler Produktionsbedingungen notwendig ist, können Obst- und Gemüseproduzenten mit einem geschulten Blick auf ihre Pf lanzen feststellen. Was beispielsweise eine Tomatenpf lanze braucht, kann die Betriebsleiterin des Gärtnereibetriebes erkennen, … wenn man die Pflanze anguckt. […] [Z]um Beispiel wie die Blüten kommen. Ob die Blüten hoch im Kopf sind oder eher weiter unten. Ob die Blüten stark sind, sprich ob viele Blüten dran sind oder ob wenig Blüten dran sind. Sie hat ein bisschen Farbe. […] Im Kopf oben wird sie so ein bisschen blau schimmernd… [ein] bisschen blau darf sie sein, zu viel sollte auch nicht sein. Dann hat sie zu viel Kraft. Dann kann man ein bisschen mehr Gas geben, dass die Früchte abreifen […]. So kann man das steuern. Da gibt es ganz viele Steuerhebel. Interview mit einer Betriebsleiterin im Gemüsebau, 23.05.2016
Ein optimaler Ertrag wird im Gewächshaus durch das richtige Gleichgewicht aus Pf lege der Pf lanzen einerseits und Stress für die Pf lanzen andererseits sichergestellt. Stress für die Pf lanze entsteht beispielsweise dadurch, dass sie nachts nicht gegossen wird. Diese kurzfristige Trockenheit regt die Pf lanze dazu an, Blüten zu entwickeln. Auch Temperaturunterschiede von Tag und Nacht bedeuten einen gewissen Stress und führen dazu, dass die Aromen in den Früchten besser ausgebildet werden können. Anhand der Farbe der Triebe und Blätter und anhand der Anzahl der Blüten wird täglich neu ermittelt, ob die Pf lanze zu viel oder zu wenig Stress hat; und entsprechend werden die Parameter für Bewässerung, Nährstoffe, Temperatur und Belüftung neu eingestellt.
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Auch im Handel ist der Umgang mit Obst- und Gemüseartikeln von der Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Ware gekennzeichnet. Auch hier haben vielerlei Einf lüsse von außen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und mechanische Beanspruchung eine starke Wirkung auf den Zustand der Produkte. Diese Einf lüsse werden daher sorgfältig überwacht und gesteuert. Mithilfe von zahlreichen Techniken von Kühlung bis Verpackung soll die empfindliche Ware auf ihrem langen Weg von der Ernte bis zum Esstisch vor dem Verderb geschützt werden. Transporte von Obst und Gemüse erfolgen im Regelfall in gekühlten Transportern, deren Temperatur präzise steuerbar ist. Eine zu hohe Temperatur lässt die Ware vorzeitig weiter reifen und verderben, aber auch eine zu niedrige Temperatur kann für Obst und Gemüse zum vorzeitigen Tod führen: Beim Besuch eines Zentrallagers höre ich die Geschichte eines gekühlten LKW, der Gurken aus Spanien nach Deutschland bringen sollte. Weil der Fahrer sich mit der Kühlfunktion des LKW noch nicht genügend auskannte, stellte er die Temperatur versehentlich zu niedrig ein. Beim Entladen der Lieferung am Zentrallager musste festgestellt werden, dass die Gurken gefroren waren – damit waren sie wertlos geworden. Der LKW fuhr mitsamt den Gurken zurück nach Spanien, wo die Gurken dann mit Sicherheit entsorgt werden mussten (Feldnotizen, 18.05.2016). Der angemessene, der richtige Umgang mit der empfindlichen Ware ist also entscheidend: Die Ware muss gekühlt werden, aber nicht zu stark. Um die Frische nicht zu gefährden, ist bei den Transporten auch die Schnelligkeit von großer Bedeutung. Auch muss die Verpackung angemessen sein: Sie muss das Erzeugnis vor Beschädigungen durch Stöße schützen. Im Anbau wie auch im Handel zeigt sich die Nutzpf lanze samt ihrer Produkte demnach als schutz- und pf legebedürftiges Gewächs. In allen Phasen müssen das Lebewesen und seine Teile vor Hitze und Kälte, vor Trockenheit wie vor zu großer Feuchtigkeit, vor Krankheiten und Schädlingen und anderen schädlichen Einf lüssen beschützt werden. Die Herstellung und der Handel von lebendigen Erzeugnissen, die in optimaler Qualität beim Konsumenten ankommen sollen, erfordert ein großes Spektrum an sorgfältig ausgeführten Schutz- und Pf legemaßnahmen, die den Umgang der menschlichen Akteure mit lebendigen Erzeugnissen prägen.
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Nicht-Steuerbarkeit Im Laufe der Geschichte der Landwirtschaft haben Menschen erfolgreich zahlreiche biologische Abläufe unter Kontrolle gebracht. Dennoch heben verschiedene Expertinnen der Produktion von Obst und Gemüse an vielen Stellen hervor, dass einige Elemente in der Gestaltung des Lebendigen nicht steuerbar sind und bleiben. Von besonderer Bedeutung ist dieser Gedanke der Nicht-Steuerbarkeit in der Phase der Züchtung. Hier wird besonders häufig und ausführlich darüber gesprochen, dass eben nicht alles machbar ist; dass der menschliche Gestaltungswille in der Züchtungspraxis immer wieder biologischen Grenzen unterworfen ist. Das Element des Zufalls ist ein wiederkehrendes Thema in meinen Gesprächen mit Züchterinnen. Durch die Festlegung von Züchtungszielen und die Auswahl von Elternpf lanzen wird vieles gesteuert – aber manches kann auch nicht gesteuert werden. Was bei den Kreuzungen herauskommt, bleibt dem Zufall überlassen; es ist das Ergebnis der zufälligen Rekombination der Genome der beiden Elternpf lanzen.12 Immer wieder betonen Züchter daher, dass sie die Ergebnisse der Kreuzungen niemals ganz in der Hand haben: „[E]s bleibt im Endeffekt immer sehr viel Zufall in solchen Kreuzungsansätzen“ (Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016). Eine Züchterin erklärt, dass man in der Pf lanzenzüchtung nicht so frei nach den eigenen Vorstellungen vorgehen kann wie im Design, weil „die Natur halt nicht so funktioniert“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016): Wir können das nicht ganz so zielgerichtet machen, wie im Designprozess. Ich denke das ist der Unterschied. […] Wir haben da zwar ein Ziel für unsere Kreuzung, […] aber ob das dann so rauskommt… [Man] braucht […] ein bisschen genetisches Know-How. Manchmal braucht man einfach nur Glück. [… ] Oder eine Kombination aus beidem. 12 Dadurch, dass Züchterinnen auf den glücklichen Zufall einer vorteilhaften Kombination der Genome angewiesen sind, sind auch die Varianten, die im Züchtungsprozess erzeugt werden müssen, sehr viel zahlreicher als die Varianten, die bei einer Produktentwicklung im Designbereich entstehen. Während in einem Designprozess vielleicht zwanzig Varianten generiert und drei Varianten detaillierter ausgearbeitet werden, werden in der Züchtung oft tausende von Varianten erzeugt – bereits in dem Wissen, dass der Großteil vielleicht schon wenige Tage nach der Keimung als uninteressant aussortiert werden wird.
7 Lebendigkeit Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016
Dieses Nicht-Wissen und Nicht-Beherrschen-Können der Kreuzungsresultate wird von den Züchtern häufig als positiv, als spannend und reizvoll beschrieben. Das Potential der Pf lanze, zu überraschen, also zum Beispiel eine unerwartete Farbe oder einen nicht vorhergesehenen Geschmack zu entwickeln, wird stellenweise als wertvoll und faszinierend hervorgehoben: [I]ch habe vor zwei Jahren das erste Mal eine pinkfarbene Erdbeere bekommen. […] Mit dem Farbton habe ich nie gerechnet. Also der überhaupt nicht irgendwie […] in das Warme abtriftet. Das ist wirklich ein relativ kaltes Pink. […] Das sind diese Überraschungen und die spannenden Dinge. Interview mit einem Erdbeerzüchter, 13.05.2016
Zum Potential der Pf lanze gehört es auch, menschlichen Vorhaben Grenzen zu setzen; unter anderem in Bezug auf die möglichen Ergebnisse von Züchtungsprojekten. Eine Züchterin spricht darüber, dass nichts gezüchtet werden kann, was in der Natur nicht vorkommt. Als Beispiel nennt sie „blaue Tomaten“ (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016), die es aus ihrer Sicht mit großer Sicherheit auch in Zukunft nicht geben wird. Auch die Systeme, in denen Züchtung vonstattengeht, sind bestimmt von biologischen, nicht beherrschbaren Eigenschaften von Pf lanzen. Dass Apfelzüchtung in Deutschland – im Gegensatz zu Gemüse- oder Getreidezüchtung – hauptsächlich staatlich organisiert ist, liegt vor allem daran, dass Apfelbäume nun mal langsam wachsen. Für Äpfel gilt: Nur Holz ab einer Höhe von ca. 1,80 m kann Blüten bilden und damit Früchte tragen. Bis ein Apfelbaum so groß gewachsen ist und die juvenile Phase überwunden hat, dauert es in der Regel fünf Jahre – erst dann können die Früchte der Kreuzungsergebnisse das erste Mal geerntet und getestet werden. Züchtungsprojekte dauern in der Obstzüchtung daher auch Jahrzehnte. Der Apfelzüchter sagt: „wir züchten mit dem Material unseres Vorgängers für den Nachfolger... Ja so ist es im Prinzip […], das baut alles aufeinander auf“ (Interview mit einem Apfelzüchter, 12.05.2016). Gleichzeitig werden Apfelplantagen nur ca. alle 15 bis 20 Jahre neu bepf lanzt – und nicht wie Gemüseoder Getreidefelder jedes Jahr, meist sogar mehrmals, eingesät. Das heißt, Apfelbäume werden sehr viel seltener nachgefragt als Radieschensamen. Unter diesen Bedingungen haben privatwirtschaftliche Züchtungsunternehmen kaum eine Chance, ohne staatliche Vorarbeit und Unterstützung
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wirtschaftlich erfolgreich zu arbeiten: Man „scheitert an den biologischen Gegebenheiten“, wie es eine Pf lanzenzüchterin formuliert (Interview mit einer Gemüsezüchterin, 27.10.2016). Zusätzlich zu der Abhängigkeit von nicht steuerbaren klimatischen Bedingungen wie Regen und Sonnenschein und von lokalen Faktoren wie der Beschaffenheit des Bodens ist der Produktionsprozess von Obst und Gemüse abhängig von biologischen Vorgängen, von denen sich manche nur sehr begrenzt steuern lassen. Die Gestaltung von Lebendigem kann also nie ohne Einschränkungen den menschlichen Vorstellungen folgen; in einigen Punkten bleibt sie nicht steuerbar. Deutlich wird dies zum einen an der Rolle des Zufalls, der aus Züchtungsprojekten nicht wegzudenken ist. Das unbeherrschbare Ergebnis jeder Kreuzung bleibt jedes Mal eine Überraschung für den Züchter. Zudem hat die Pf lanze durch ihre Lebendigkeit das Potential, dem menschlichen Gestaltungswillen Grenzen zu setzen.
Individualität Die hier untersuchten Produktionsprozesse von Obst und Gemüse haben zum Ziel, präzise beschreibbare, immer gleiche, erwartbare Produkte hervorzubringen, die der technischen Logik der Standardisierung folgen. Wenn Lebendiges standardisiert werden soll, muss dabei einer besonderen Herausforderung begegnet werden: Obst- und Gemüseerzeugnisse entstehen aus dem Prozess des biologischen Wachstums von Pf lanzen; sie wachsen stets als Einzelstücke, denen trotz allem menschlichen Streben nach Homogenität und Standardisierung immer noch ein Rest an Individualität innewohnt. Jeder Apfel unterscheidet sich vom nächsten in Größe, Gewicht, Färbung und Schalenfehlern; jede Paprikaschote hat eine individuelle Form und jedes Radieschen entwickelt eine einzigartige Kombination von Knollengröße, Wurzelform und Ausprägung des Laubes. Wenn die Qualität der gewachsenen Produkte sichergestellt werden soll, so muss dies im Anschluss an ihr Wachstum – quasi nachträglich – geschehen. Während eine Schraube schon mit dem richtigen Maß aus der Produktionsmaschine fällt, wächst eine Zitrone trotz großer Anstrengungen von Züchtern und Produzentinnen nicht unbedingt im richtigen Maß am Baum. Um diese Einzelstücke zu funktionierenden Waren zu machen, die in gleichbleibender, erwartbarer Qualität auf globalen Märkten gehandelt werden können; anders gesagt: um Obst- und Gemüseprodukte zu kommodifizieren (Kleinert & Braun 2018),
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muss die Qualität der Produkte nach der Ernte festgestellt und aufgrund der Verderblichkeit im weiteren Prozess auch immer wieder kontrolliert werden. Sichtbar wird dieser Schritt der Beherrschung der Individualität vor allem in der Sortierpraxis in Obst- und Gemüsesortieranlagen, wie sie beispielsweise für Äpfel, Karotten, Gurken, Kartoffeln, Orangen, Paprika und viele weitere Erzeugnisse üblich sind. Notwendig wird eine solche Sortierung für die Erfüllung der Vorgaben zu Größen-, Gewichts- und Farbsortierung der gesetzlich gültigen und der vom Handel geforderten regulierenden Vorschriften. Die Standardisierung des Lebendigen bedarf also einer nachträglichen Sortierung, um das individuelle Einzelstück in eine präzise definierte Kategorie einzustufen und damit zu einer erwartbaren, beschreibbaren Ware zu machen. Im Kontext des Großhandels bedingt die Lebendigkeit von Obst und Gemüse somit die Notwendigkeit der qualitativen Beurteilung jedes einzelnen Erzeugnisses. Auf der Basis der Analyse meines empirischen Materials habe ich im vorangegangenen Abschnitt fünf Punkte erläutert, in denen sich die Lebendigkeit von Obst- und Gemüseprodukten auf deren Produktionsprozess auswirkt. Als Eigenschaften des Lebendigen, die weitreichende Konsequenzen für den menschlichen Umgang mit den Erzeugnissen mit sich bringen, zeigen sich die ständige Veränderung lebendigen Materials, die Reaktion auf Einf lüsse von außen, die besondere Notwendigkeit von Schutz und Pf lege für die empfindlichen Produkte, die Nicht-Steuerbarkeit gewisser biologischer Vorgänge und die bleibende Individualität der Pf lanzen und Erzeugnisse.
7.4 Fazit Die Lebendigkeit von Nutzpf lanzen und ihren Erzeugnissen äußert sich also im Prozess der Gestaltung von Obst und Gemüse an konkreten Merkmalen, die Konsequenzen für den gestalterischen Umgang der menschlichen Akteure mit dem lebendigen Material mit sich bringen. Im folgenden Abschnitt möchte ich zusammenfassend darstellen, welche Erkenntnisse aus der vorliegenden Untersuchung vor dem erläuterten Hintergrund in den Bereichen des Design und der STS gewonnen werden können. Zunächst gehe ich dabei darauf ein, wie meine Beobachtungen sich an die Thesen aus den STS anschließen bzw. wie meine Untersuchung die erläuterten Perspektiven erwei-
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tert. Schließlich zeige ich, inwiefern meine Arbeit zu einem reicheren und fundierteren Umgang des Design mit dem Lebendigen beitragen kann. Manche der empirischen Beobachtungen lassen sich direkt mit der zuvor besprochenen Literatur aus dem Bereich der STS in Verbindung bringen: Auch in meinen Studien zeigt sich, dass die Eigenschaften des Lebendigen in der Produktion von Obst und Gemüse in der Regel als Einschränkungen und Herausforderungen aufgefasst werden, denen technisch begegnet werden muss, um die Produktion in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Lebendigkeit und ihre Konsequenzen werden verstanden als Eigenheiten, die im Sinne einer erwartbaren Produktion unter Kontrolle gebracht werden müssen. Das zugrundeliegende Ziel, die Lebensmittelherstellung möglichst vollkommen nach dem Vorbild der rationalisierten Industrie zu gestalten, wobei die Abhängigkeit von biologischen, klimatischen und geologischen Bedingungen möglichst weit reduziert werden soll, tritt auch in meinen Untersuchungen zutage. Gleichzeitig wird auch die bleibende, unumgängliche Abhängigkeit von den Forderungen der lebendigen Organismen in der vorliegenden Studie deutlich. Mitten in den technisierten und so weit wie möglich kontrollierten Produktionsprozessen dauert die Lebendigkeit fort. Die biologischen Anforderungen aller am Produktionsprozess beteiligten Lebewesen, und dabei vor allem die fünf erläuterten Eigenschaften des Lebendigen, fordern Berücksichtigung im Produktionsprozess. Diese Beobachtung schließt an an die Feststellung der bleibenden Unverfügbarkeit des Lebendigen, wie sie Gill, Torma und Zachmann (2018, S. 13) formulieren: „Indem Lebewesen eigenen Antrieben gehorchen […] ist Leben als Leben nur eingeschränkt technischer Kontrolle zu unterwerfen“. Damit bestätigt meine Untersuchung im Wesentlichen die zuvor beschriebenen Thesen aus den Studien zur landwirtschaftlichen Produktion im Bereich der STS. Das Herausarbeiten der fünf Eigenschaften des Lebendigen, die dessen Handlungsmacht in landwirtschaftlichen Produktionsprozessen kennzeichnen und die dort stattfindenden Gestaltungsprozesse damit maßgeblich bedingen, kann dabei als Beitrag der vorliegenden Arbeit zur Erweiterung der dargestellten Perspektiven aus den STS verstanden werden. Die fünf beschriebenen Merkmale von Nutzpf lanzen begreife ich in Anknüpfung an die Überzeugungen einiger meiner Gesprächspartnerinnen aus dem Bereich der Produktion von Obst und Gemüse als eine Konsequenz der Lebendigkeit der gestalteten Materie. Die Experten aus Züchtung, An-
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bau, Regulierung und Handel sprechen an vielen Stellen von der Lebendigkeit der Pf lanzen und Produkte und geben Auskunft über die zahlreichen Konsequenzen, die die Lebendigkeit mit sich bringt. Zwar werden vor allem in der Produktion und im Handel die Lebendigkeit und ihre Konsequenzen zumeist als lästige Einschränkungen aufgefasst; zugleich wird die eigene Abhängigkeit von den Eigenheiten des Lebendigen aber auch immer wieder als unumgänglich bekräftigt und als Zeichen für Natürlichkeit gedeutet. Die Aussage einer Leiterin eines Obstgroßhandels zeigt sich dabei als beispielhaft für die wiederholten expliziten Hinweise auf die unhintergehbare Rolle der Natur in landwirtschaftlichen Produktionsprozessen: „Wir müssen uns mit diesem Naturprodukt so abgeben, wie es kommt“ (Interview mit der Geschäftsführerin eines Sortierbetriebes, 29.03.2016). Das explizite Herausheben der eigenen Abhängigkeit von den Eigenschaften des Lebendigen kann auch – wie in diesem Ausspruch der Geschäftsführerin formuliert – als Unterstreichen der von Konsumenten erwarteten Natürlichkeit der Produkte gedeutet werden. Die stellenweise auftretende Auffassung der Eigengesetzlichkeit des Lebendigen als wertvolles Potential ist ein weiterer Aspekt, der in meiner Untersuchung deutlich wird. Dieses alternative Verständnis der Eigenschaften des Lebendigen zeigt sich in meiner Studie vor allem in der Züchtung. Züchterinnen sprechen an manchen Stellen explizit anerkennend von der Eigengesetzlichkeit des Lebendigen als dem Potential, Spannung und Überraschung auszulösen. Die Pf lanze wird in solchen Zusammenhängen weniger als unterworfenes Material, sondern als lebendiges Gegenüber gedacht. So wird deutlich, dass die verbreitete Konzeption der Eigenschaften des Lebendigen als Einschränkung und Herausforderung nicht die einzig mögliche, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten ist, die Rolle des Lebendigen zu verstehen. In Bezug auf die Frage nach der universellen Lebendigkeit von Materialität zeigt die vorliegende Untersuchung, dass die biologische Lebendigkeit der gestalteten Materie im Fall der Gestaltung von pf lanzlichen Erzeugnissen konkrete Konsequenzen für den Gestaltungsprozess mit sich bringt. Dass einzelne der oben dargestellten Merkmale in abgeschwächter Form auch auf nichtlebendige industriell hergestellte Dinge zutreffen können, macht diese Dinge noch nicht lebendig. Es wird deutlich: Lebendigkeit hat Konsequenzen. Obst und Gemüse verändern sich schneller und von selbst, ihre eigendynamischen Veränderungsprozesse können nicht unterbrochen oder ange-
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halten werden bis sie mit dem Tod der Zellen früher oder später ein Ende nehmen. Obst und Gemüse reagieren als lebendige Produkte stärker und dauerhafter auf Einf lüsse von außen und ihr Fortbestehen ist stärker abhängig von bestimmten äußeren Faktoren. Sie haben einen höheren Bedarf an Schutz und regelmäßiger Pf lege. In ihrer individuellen Ausprägung, in Färbung, Form und Proportion bleiben sie Einzelstücke. Und ihre Nicht-Steuerbarkeit zeigt sich nicht nur in den unweigerlich fortschreitenden Prozessen von Wachstum und Zerfall, sondern auch im biologischen Prozess der Kreuzung, dessen Ergebnis nicht in den Händen der Züchter liegt. Damit wird deutlich, dass die biologische Lebendigkeit der betreffenden Produkte im Umgang der menschlichen Akteure mit Obst- und Gemüseerzeugnissen – im alltäglichen Handeln von Züchtern und Gartenbauingenieurinnen, von Kontrolleuren und Kauffrauen – einen Unterschied macht. In Design und Kunst werden Fragen nach der Rechtfertigung des menschlichen Gestaltungshandelns an natürlichen oder lebendigen Dingen formuliert. Einige der erläuterten Beispiele offenbaren eine Tendenz, die sich im Design häufiger findet: Designer und Künstlerinnen warnen mit Empörung generierenden Szenarien vor der Unterwerfung des Lebendigen unter den menschlichen Gestaltungswillen. Solche Projekte können als Ausdruck einer Angst der Gestalter vor dem Gestaltungswillen und der Handlungsmacht des Menschen verstanden werden – und sie können bei den Rezipientinnen der Arbeiten solche Ängste befeuern. Im Hinblick auf solche Designprojekte führt die Betrachtung des Produktionsprozesses von Obst und Gemüse einerseits vor Augen, dass die Unterwerfung des Lebendigen unter vom Menschen definierte Zielsetzungen sehr viel alltäglicher ist, als das im Design in der Regel thematisiert wird. Im Sinne der Nachfrage nach Natürlichkeit wird diese Gestaltung des Lebendigen im Rahmen der Kommunikation mit Konsumenten gerne ausgeblendet und verkannt – was aber nichts daran ändert, dass sie alltäglich stattfindet. Alles, was wir essen, wird von Menschen durch Technik gestaltet. Die Untersuchung der gestalterischen Handlungen im Produktionsprozess von Obst und Gemüse macht deutlich, dass die Gestaltung des Lebendigen weniger skandalös und spektakulär ist, als das von Designerinnen im Bereich des Bio Design oder des spekulativen Design oftmals suggeriert wird. Meine Untersuchung zeigt zum anderen aber auch, dass Szenarien wie jenes zu Schuhen aus online konfigurierbarem Rochenleder die Möglichkeiten der Gestaltung des Lebendigen durch den Menschen enorm überschät-
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zen. Mit der Herausarbeitung der unumgänglichen Forderungen des Lebendigen macht die vorliegende Studie deutlich: Lebendiges lässt sich nicht frei nach menschlichen Vorstellungen gestalten; es bleibt immer ein Stück weit unverfügbar und bedingt die Gestaltungsmöglichkeiten, die dem Menschen zum Erreichen seiner Ziele zur Verfügung stehen. Die fünf dargestellten Eigenschaften, die die Lebendigkeit der gestalteten Dinge mit sich bringt, verlangen es von den menschlichen Gestaltern, berücksichtigt zu werden: Sowohl die Eigenschaft der ständigen Veränderung des Lebendigen wie auch die Reaktion auf vielerlei Einf lüsse von außen bedingen den hohen Bedarf des Lebendigen an Schutz und sorgfältiger Pf lege. Die Individualität der Erzeugnisse erfordert Berücksichtigung; und jedes gestalterische Vorgehen muss einen Umgang damit finden, dass einige äußere Faktoren wie auch viele biologische Vorgänge selbst nicht steuerbar bleiben. Die Untersuchung der Gestaltung von Obst und Gemüse macht deutlich: Wenn eine Gestaltung des Lebendigen gelingen soll, müssen die Eigenheiten des Lebendigen berücksichtigt werden. Die stellenweise feststellbare Angst der Designer vor der eigenen überschätzten Handlungsmacht halte ich demzufolge nicht für angemessen; vor allem aber ist die mit manchen Szenarien beim Publikum geschürte Angst wenig hilfreich für eine konstruktive Auseinandersetzung über die Gestaltung des Lebendigen. Stattdessen halte ich es auch in zukünftigen Projekten zur Gestaltung des Lebendigen für angemessener und interessanter, die tatsächlich stattfindende Gestaltung von Lebendigem zu thematisieren und immer wieder aufs Neue auf die diese Gestaltung leitenden Intentionen hin zu befragen. Dies kann geschehen, indem Designer die Kontingenz und Konstruiertheit der Intentionen offen legen und damit dazu beitragen, sie als weniger unausweichlich zu begreifen. Ein ähnliches Vorgehen findet sich sowohl in der freien Kunst (Pell 2015, Majewski 2015) wie auch in den STS, wo sich Fürsprecher für eine Neukonzeption von Nahrungsmittelsystemen als vielfältige statt als homogene Systeme finden (vgl. Iles et al. 2017, S. 750). Auch spekulative Designprojekte könnten in diesem Sinne eine größere Wirkung entfalten und produktiver beitragen zur notwendigen und ständig stattfindenden Neuverhandlung der Werte, die unsere Nahrungsmittelproduktion prägen.
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8 Zusammenfassung und Fazit Der vorliegende Band zur Gestaltung von Obst- und Gemüseprodukten untersucht aus den beiden Perspektiven des Design und der sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung (STS) den Prozess der Produktion von Obst und Gemüse als Designprozess. Obst- und Gemüseerzeugnisse werden dabei als lebendige Produkte verstanden und im Hinblick auf zwei Schwerpunkte untersucht: Einerseits nimmt die Arbeit die Vorstellungen von Produktqualität, die der Gestaltung zugrunde liegen, in den Blick. Andererseits fragt sie nach den Eigenschaften des Lebendigen, die die Gestaltung bedingen. Drei Fragen sollen mit der vorliegenden Arbeit vor allem beantwortet werden: (1) Wie werden Obst- und Gemüseerzeugnisse gestaltet? Diese grundlegende Frage bildet den Ausgangspunkt der Arbeit. Im weiteren Verlauf kommen vor dem Hintergrund des Konzepts der Biofakte zwei vertiefende Fragen hinzu, die einerseits die Ziele, andererseits die Bedingungen des untersuchten Gestaltungsprozesses beleuchten. Die zweite und die dritte Frage lauten entsprechend: (2) Welche Vorstellungen von Produktqualität prägen die stattfindende Gestaltung? Und: (3) Welche Konsequenzen bringt die Lebendigkeit der gestalteten Produkte für den Gestaltungsprozess mit sich? Um diesen Fragen nachzugehen, werden in Kapitel 2 zunächst die beiden disziplinären Blickwinkel vorgestellt, aus denen ich die Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen untersuche. Die Perspektive des Design bedingt die grundsätzliche Ausrichtung dieser Arbeit in mehrfacher Hinsicht: Erstens hebt der Blick auf Obst und Gemüse als gestaltete Dinge das Gemachtsein der Produkte hervor. Dinge als gestaltet zu betrachten, weist auf das menschliche Machen hin; es impliziert, dass die Dinge auch anders möglich wären und betont damit den menschlichen Gestaltungsspielraum. Mit diesem Blickwinkel ist es das Ziel dieser Arbeit, dazu anzuregen, neu über die Gewichtung der Kriterien nachzudenken, die die Gestaltung unserer Le-
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bensmittel formen. Zweitens ermöglicht die gestalterische Perspektive einen Blick auf die Produktion von Obst und Gemüse als sozialen Aushandlungsprozess, in dem die Perspektiven verschiedener beteiligter Stakeholder so in Einklang gebracht werden müssen, dass für alle Seiten akzeptable materielle Ergebnisse entstehen. Mein persönlicher Hintergrund in der Produktgestaltung bringt zusätzlich einen Fokus auf die materielle Beschaffenheit und die visuelle Produkterscheinung der hergestellten Dinge mit sich. Zudem bedingt er meinen visuellen Zugang zu den gestellten Fragen durch die Einbindung von Fotografien und anderen visuellen Medien in den Forschungsprozess. Neben dieser grundsätzlichen Situierung meiner Perspektive wird in Kapitel 2.1 der Bereich des Food Design als ein Anknüpfungspunkt aus der Designpraxis vorgestellt, in dem sich das Potential einer Einbindung ausgebildeter Designer in die Entwicklung von Lebensmittelsystemen andeutet. Zusätzlich zu der gestalterischen Perspektive erweist sich das Umfeld der sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung, in dem diese Arbeit entstand, auf verschiedenen Ebenen als prägend: Auf der sprachlichen Ebene ermöglichte mir das STS-Umfeld eine Einarbeitung in eine bis dahin für mich ungewohnte disziplinäre Sprache sowie eine Plattform der verbalen Auseinandersetzung über Fragestellungen zu Materialität und Bedeutung von natürlich-technischen Mischwesen. Methodisch brachte meine Einbindung in ein sozial- und geisteswissenschaftliches Umfeld hilfreiche Orientierungspunkte mit sich. Sie erleichterte mir den Zugang zu sozialwissenschaftlichen Methoden der Datenerhebung und -auswertung. Auf der konzeptionellen Ebene erwiesen sich verschiedene Theorien und Konzepte aus den STS als hilfreich bei der Formulierung und Präzisierung meiner Fragestellungen sowie bei deren Beantwortung. Das Kapitel 2 schließt mit einer Skizzierung der Schnittstelle zwischen den Disziplinen des Design und der STS, an der sich die Entstehung einer spannenden und vielversprechenden Zusammenarbeit abzeichnet. Nach der Klärung grundlegender Begriffe in Kapitel 3 und der Erläuterung des methodischen Vorgehens in Kapitel 4 formuliert das Kapitel 5 eine Antwort auf die erste der genannten Fragen, die Frage nach dem Wie in der Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen. Anhand der Beschreibung der vier Phasen der Züchtung, des Anbaus, der Regulierung und des Handels wird gezeigt, wie die beteiligten Akteure durch ihre alltäglichen Abwägungen und Handlungen das Wachstum von Obst- und Gemüseprodukten
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modellieren und damit die Materialität und Visualität der wachsenden Erzeugnisse entsprechend ihrer Zielsetzungen gestalten. Die Untersuchung der Werte und Intentionen, die der Gestaltung von Obst und Gemüse zugrundeliegen, steht im Zentrum des 6. Kapitels. Zur Erarbeitung eines fundierten Konzeptes von Produktqualität werte ich Literatur aus dem Design und den STS aus. Mit Blick auf das Design zeigt sich, dass hier implizite Vorstellungen von Produktqualität zwar große Wirkung entfalten, jedoch selten explizit formuliert werden. Meiner Analyse lege ich daher ein Verständnis von Produktqualität zugrunde, das ich aus der Konventionentheorie aus dem Bereich der STS ableite. Die Frage nach den Vorstellungen von Produktqualität, die die Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen für zentralisierte Märkte bestimmen, wird anschließend auf der Basis meiner empirischen Daten beantwortet. Die Kriterien, die sich in der industriellen Marktkonvention als dominant erweisen, lassen sich einteilen in zwei Gruppen. Eine Gruppe von Kriterien zielt darauf ab, die Produkte zu preisgünstigen und erwartbaren Waren für zentralisierte Märkte zu formen. Hierfür stellen sich die Produktion großer Mengen durch hohe Erträge und eine rationalisierte Produktionsweise, die Verlässlichkeit der Qualität durch die Homogenität der Erzeugnisse und die Eignung der Waren für Transport, Lagerung und maschinelle Verarbeitung als die wichtigsten Kriterien heraus. Wie sich zeigt, wird hier das Ziel verfolgt, pf lanzliche Nahrungsmittel weitestgehend ungeachtet ihrer Essbarkeit und ihrer Lebendigkeit nach dem Vorbild von nicht lebendigen, industriell produzierten Artefakten herzustellen. Die andere Gruppe von Kriterien ist auf die Erzeugung von Attraktivität im Moment der Kaufentscheidung ausgerichtet. Hier wird neben Kriterien wie der Frische, der Reife und dem Geschmack der Erzeugnisse die Verzehrbarkeit und Sauberkeit der Produkte angestrebt. Auch die Erwartung der Konsumenten, ein gesundes Lebensmittel zu kaufen, spielt hier eine Rolle. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Gruppe der Kriterien jedoch der attraktiven visuellen Erscheinung der Erzeugnisse zu. Indem zahlreiche andere Kriterien, wie Frische, Reife, Verzehrbarkeit und Sauberkeit in den etablierten Prozessen der Regulierung und des Handels wie auch in der Situation der Kaufentscheidung anhand von visuellen Merkmalen beurteilt werden, wird die Relevanz der visuellen Produkterscheinung zusätzlich gesteigert. Auf diese Weise kommt das Aussehen der Produkte zu einer zentralen Bedeutung, die sich im gesamten Produktionsprozess spiegelt.
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Ein ergänzender Blick auf zwei verschiedene alternative Qualitätskonventionen verdeutlicht schließlich das Andersmöglichsein der dargestellten Vorstellungen von Produktqualität. Auf diese Weise offenbaren sich auch die dominanten Kriterien als von Menschen gemacht und damit jederzeit auch anders denk- und machbar. Die Feststellung der zentralen Bedeutung der visuellen Erscheinung von Produkten erscheint aus Designperspektive besonders interessant und wird daher in Kapitel 6.6 eingehender untersucht. Ein Blick auf verschiedene Positionen aus dem Designdiskurs offenbart die Uneinigkeit der Stimmen, von denen die Rolle der visuellen Produkterscheinung für die Produktgestaltung verhandelt wird. Während das Design aus der Außenperspektive und von Kooperationspartnerinnen aus Marketing und Wirtschaft oft auf die Erzeugung attraktiver visueller Erscheinungen reduziert wird, bekräftigen Designer aus der Tradition des Funktionalismus wiederholt, dass die Gestaltung der Visualität von Produkten nur einen kleinen und untergeordneten Teil der eigenen gestalterischen Verantwortung ausmacht. Die vehemente Abwehr gegen die Reduktion der eigenen Rolle auf die Aufgabe der oberf lächlichen Verschönerung führt schließlich dazu, dass Fragen nach dem Zustandekommen von Attraktivität im Design kaum gestellt werden. Die Betrachtung der Gestaltung von Obst und Gemüse kann hier in mehrfacher Hinsicht eine neue Perspektive auf die Rolle der visuellen Erscheinung von Produkten bieten: Erstens macht die Untersuchung deutlich, welche Relevanz der visuellen Produkterscheinung bei der Erzeugung von Attraktivität nicht nur bei langlebigen Konsumgütern, sondern auch und in besonderer Weise bei kurzlebigen, lebendigen und essbaren Erzeugnissen zukommt. Die Wirkmächtigkeit der visuellen Erscheinung führt damit im Kontext der industriellen Marktkonvention zu der Tendenz, die Attraktivität der Produkterscheinung als Selbstzweck zu verfolgen – selbst in Produktbereichen, in deren Designprozess keine professionellen Gestalter involviert sind. Auch unter Züchtern, Produzentinnen, Kontrolleuren und Händlerinnen herrscht ein Bewusstsein für die Bedeutung der visuellen Erscheinung von Produkten für die Verkäuf lichkeit der Ware – und so werden auch hier bestimmte Merkmale von Form, Farbe und Größe auch unabhängig von deren Verbindung zu anderen Kriterien wie Reife und Geschmack angestrebt. Zweitens eröffnet die Untersuchung eine Perspektive auf die Wirkungsweise der visuellen Produkterscheinung als basierend auf sozial konstruierten und damit kontextabhängigen und potentiell vielfältigen Konventionen. Es zeigt sich,
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dass die visuelle Produkterscheinung stets auf mehreren Ebenen gleichzeitig interpretiert wird: Sie steht nie nur für sich, sondern fungiert gleichzeitig als Hinweis auf vielfältige, mehr oder weniger explizit formulierte Bedeutungen. Eine solche Konzeption von visueller Attraktivität als basierend auf Konventionen ermöglicht auch eine plausible Perspektive auf die gestalterische Praxis: Designer sind durch die Analyse und die Anwendung von visuellen Konventionen zuverlässig in der Lage, für bestimmte Zielgruppen visuell attraktive Produkte zu entwickeln. Im Designdiskurs wie auch in der Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen ist die Abwertung der Bedeutung der visuellen Erscheinung als wiederkehrendes Motiv erkennbar – das jedoch die tatsächliche große Relevanz des Aussehens in der Praxis in beiden Bereichen nicht schmälert. Entsprechend bringt mich die Untersuchung zu dem Schluss, dass eine offenere Anerkennung der Wirkmächtigkeit des Visuellen in beiden Bereichen Chancen birgt: In Bezug auf Obst- und Gemüseerzeugnisse kann diese Anerkennung möglicherweise dabei helfen, der Macht der visuellen Erscheinung weniger ausgeliefert zu sein und sie stattdessen teilweise zu dekonstruieren. In Bezug auf die herkömmliche Designpraxis kann sie ein Schritt in der Entwicklung eines umfassenderen Selbstverständnisses sein – und sie kann Gestalterinnen bei der fundierteren Argumentation gestalterischer Entscheidungen unterstützen. In Kapitel 7 vertiefe ich schließlich die Frage nach den Auswirkungen der Lebendigkeit. Anhand der Betrachtung der Handlungen der Akteure im Produktionsprozess von Obst- und Gemüseerzeugnissen wird deutlich, wie sich die Lebendigkeit der gestalteten Dinge an konkreten Merkmalen äußert, die Konsequenzen für den gestalterischen Umgang mit sich bringen. Wieder dienen mir Literatur und praktische Arbeiten aus den Bereichen Design und STS als Hintergrund für meine Untersuchung. Ein Blick auf den bisherigen Umgang des Design mit dem Lebendigen offenbart zum einen die lange Tradition der Orientierung des Design an lebendigen Vorbildern, zum anderen die beginnende gestalterische Praxis des Bio Design, die sich auf Lebendiges bezieht. Im Bereich der STS stellen Studien zur Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion einerseits die besondere Handlungsmächtigkeit des Lebendigen heraus, während andererseits die aktuelle Strömung des neuen Materialismus die Unterscheidung von lebendiger und nicht lebendiger Materie grundsätzlich infrage stellt. Die empirische Betrachtung des gestalterischen Umganges der Akteure in der Produktion von Obst und
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Gemüse mit dem lebendigen Material macht darauf hin deutlich, dass die biologische Lebendigkeit in diesem Prozess durchaus Konsequenzen hat. Die Lebendigkeit der Nutzpf lanzen zeigt sich an fünf Eigenschaften, die sich als unumgänglich erweisen und die damit als Forderungen der lebendigen Materie im Gestaltungsprozess berücksichtigt werden müssen. Diese Eigenschaften des Lebendigen umfassen die ständige und nicht aufzuhaltende Veränderung des Lebendigen, die Reaktion auf Einf lüsse von außen und die damit verbundene Abhängigkeit von äußeren Faktoren, sowie den aus den ersten beiden Eigenschaften erwachsenden hohen Bedarf an Schutz und Pf lege. Die Lebendigkeit von Nutzpf lanzen zeigt sich zusätzlich darin, dass zahlreiche biologische Vorgänge niemals vollkommen durch den Menschen steuerbar sind. Schließlich äußert sich die Lebendigkeit in der bleibenden Individualität der Pf lanzen und Erzeugnisse, die trotz aller menschlicher Bestrebungen zur Standardisierung fortbesteht. An diesen fünf Merkmalen wird demnach die Aktivität von Biofakten sichtbar: Lebendiges erweist sich in dieser Perspektive nicht nur als bloßes passives Substrat der Gestaltung; es bringt eigene Bedingungen und Forderungen in den Gestaltungsprozess mit ein, mit denen die menschlichen Akteure einen Umgang finden müssen, wenn es zu der angestrebten Ernte kommen soll. Im Hinblick auf Konzepte aus dem Bereich der STS bestätigt meine Untersuchung damit zum einen die verbreitete Auffassung der Eigenschaften des Lebendigen als Einschränkung und zu überwindende Herausforderung, zum anderen aber auch die bleibende Unverfügbarkeit des Lebendigen und die unumgängliche Abhängigkeit des Menschen von dessen Wirkungsweisen. In Bezug auf die Praxis des Bio Design bringt die Untersuchung verschiedene Einsichten mit sich: Einerseits wird deutlich, wie alltäglich die Gestaltung des Lebendigen seit langer Zeit geworden ist – ein Gedanke, der die im Bio Design immer wieder gezielt ausgelöste Empörung über gestalterische Eingriffe in die Natur zumindest teilweise relativiert. Andererseits zeigt sich, dass eine fundiertere Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit des Lebendigen hilfreich sein könnte für den weiteren gestalterischen Umgang mit lebendigem Material. Die Untersuchung macht deutlich, dass sich das Lebendige nicht beliebig gestalten lässt – und dass die im Design gelegentlich durchscheinende Furcht vor der eigenen als übergroß empfundenen Gestaltungsmacht vielleicht gar nicht notwendig ist. Der stellenweise unvorsichtige Entwurf von dystopischen Szenarien bewirkt beim Publikum
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oftmals nicht die angestrebte tiefere Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine verantwortungsbewusste Gestaltung des Lebendigen aussehen könnte, sondern führt hauptsächlich zu Irritation, Ablehnung und Empörung und verstärkt damit oberf lächliche Forderungen nach Natürlichkeit. Mit meiner Untersuchung möchte ich daher vorschlagen, die tatsächlich stattfindende Gestaltung auch in Designprojekten aufzugreifen und auf die zugrundeliegenden Ziele hin zu befragen. Ein solches Vorgehen könnte aus meiner Sicht eine hilfreichere Wirkung entfalten als das bisher gelegentlich betriebene Spiel mit Emotionen.
Die Unumgänglichkeit von Gestaltung und offene Entscheidungsspielräume Was können wir nun aus der vorliegenden Untersuchung der Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen lernen? Wie sollen wir zukünftig mit den uns ernährenden, lebendigen Pf lanzen umgehen? Fest steht: ein Ende der Gestaltung ist nicht in Sicht. Mit der steigenden Weltbevölkerung bei knapper werdenden Ressourcen wird der Mensch stattdessen immer abhängiger von der eigenen Fähigkeit zur Gestaltung (vgl. Sloterdijk 2007). So heben manche Autoren die Unausweichlichkeit der Gestaltung der Natur für das menschliche Überleben hervor – der Philosoph Gernot Böhme (1992) etwa erkennt in der Herrschaft des Menschen über den Fortgang der Evolution eine „bittere und schwer erträgliche[…] Notwendigkeit“ (ebd., S. 19). Dagegen betont der Philosoph Hans Blumenberg (1999): „Nicht weil Not erfinderisch macht, ist ‚Erfindung‘ der signifikative Akt in der modernen Welt“ (ebd., S. 57); stattdessen sieht er in dem Drang des Menschen zur Gestaltung der Natur die „Artikulation eines radikalen Selbstverständnisses des Menschen“ (ebd.). So oder so scheint es auch zukünftig zu den Bedingungen des Menschseins zu gehören, die uns umgebende Umwelt gestalten zu müssen. Der Wiener Aphoristiker Karl Kraus formuliert dies treffend: „Gegen den Fluch des Gestaltenmüssens ist kein Kraut gewachsen“ (Kraus 1986, S. 92). Wir sind gezwungen zur Gestaltung. Diese Einsicht gilt vor allem im Hinblick auf unsere Ernährung, wie uns Gill, Torma und Zachmann (2018) erinnern. Mit Blick auf das Konzept der Biofakte (Karafyllis 2006) weisen sie darauf hin, dass die gegensätzlichen Kategorien von Natürlichkeit und Technizität längst verwoben sind. Es führt demnach kein Weg daran vorbei, die Gestaltung der lebendigen Produkte
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anzuerkennen und uns damit mit dem natürlich-technischen Mischcharakter unserer Lebensmittel auseinanderzusetzen. Zugespitzt formulieren Gill et al. (2018): In den Kategorien von Technik und Natur „kann man zwar denken, aber man kann sie nicht essen“ (ebd., S. 26). Bei der näheren Betrachtung der Dinge, die uns ernähren, müssen wir einsehen: Die Idealisierung der Natürlichkeit von Lebensmitteln wird dem Gegenstand nicht gerecht; die Verkennung der Gestaltung hilft uns nicht weiter. Wenn das Gestalten unserer Ernährungsprodukte also unumgänglich ist, lohnt es sich, die Frage nach dem Wie der Gestaltung immer wieder neu zu stellen und Antworten darauf zu formulieren. Eben dazu möchte ich mit dieser Arbeit ermutigen. Als charakteristisch für die gestalterische Perspektive der Arbeit ist hierbei die Betonung der Entscheidungsspielräume menschlicher Akteure zu verstehen. Gestaltete Dinge sensibilisieren uns für die Entscheidungen, die im Rahmen ihrer Gestaltung getroffen wurden. Annette Geiger (2018), die Design als Andersmöglichsein begreift, formuliert: Gestaltete Dinge [...] tragen dazu bei, dass wir die Welt nicht hinnehmen müssen, wie sie ist. Sie erweist sich als Entwurf der menschlichen Kreativität und ist immer auch anders denkbar. […] Wer nicht hinnehmen will, was ist oder vermeintlich sein muss, muss andere Welten entwerfen als die, die er vorfindet. Aus diesem Impuls entsteht die Gestaltung als ureigener Ausdruck von menschlicher Selbstermöglichung. Geiger 2018, S. 293
Diese Betonung der Möglichkeit zur Entscheidung zwischen verschiedenen Optionen sehen auch andere Autoren als den Punkt an, der Gestaltung ausmacht. Der Philosoph Andreas Dorschel (2003) schreibt übereinstimmend, dass Zwecke, Technik und Material die Gestaltung nie vollkommen determinieren; sie setzen nur Grenzen, innerhalb derer die Gestalterin immer noch gestalten kann. Der immer auch teilweise unbefriedigende Kompromiss aus den unterschiedlichen Erfordernissen ergibt sich damit „nicht aus der Natur der Sache […], sondern aus der Entscheidung derer, die sie gestalten“ (ebd., S. 31). Ähnlich argumentiert auch die Designphilosophin Manja Unger-Büttner (2015, S. 85f), die den Spielraum der Entscheidungsfreiheit als charakteristisch für jedes gestalterische Handeln begreift. Mit dem Blick auf Obst- und Gemüseerzeugnisse als gestaltete Dinge verfolge ich in diesem Sinne das Ziel, auf das Andersmöglichsein dieser Produkte hinzuweisen.
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Die vorliegende Arbeit soll demnach dabei helfen, sich ein Stück weit frei zu machen von den oberf lächlichen Vorstellungen von Natürlichkeit – aber auch von dem „technisch-ökonomischen Soseinmüssen“ (Geiger 2018, S. 293) unserer pf lanzlichen Lebensmittel. Stattdessen möchte ich mit dieser Arbeit dazu ermutigen, neu darüber nachzudenken, wie wir unsere Ernährung gestalten wollen. Mit der Betonung des vorhandenen Entscheidungsspielraumes soll nicht – wie sonst im Designdiskurs häufig – die Vorstellung der grenzenlosen menschlichen Gestaltungsfreiheit gestützt werden. Jeder Entscheidungsspielraum hat gewisse Abmessungen – für verschiedene Akteure ist er unterschiedlich groß. Wie frei ist die menschliche Gestalterin angesichts der Einschränkungen, die der Gestaltung von Seiten des gestalteten Materials, aber auch von wirkmächtigen Konventionen auferlegt werden? Die Akteure im Designdiskurs und in der Gestaltung von Obst- und Gemüseerzeugnissen tendieren hier zu sehr unterschiedlichen Antworten. Im Designdiskurs zeigt sich eine Tendenz, den eigenen Entscheidungsspielraum und die eigene Gestaltungsmacht zu überschätzen.1 Lange Zeit herrschte hier das Narrativ des genialen Designers als der kreativen Persönlichkeit, die vollkommen allein gestaltet und mit ihren inspirierten Einfällen den Nerv der Zeit trifft. Diesen Mythos des einzelnen und allmächtigen Designers relativieren Perspektiven aus den STS, allen voran die Akteur-Netzwerk-Theorie. Sie weist darauf hin, dass gestalterische Handlungen stets – nicht nur im Fall der Produktion von Obst und Gemüse – in Netzwerke eingebettet sind, wobei die Handlungsmacht in den Netzwerken verteilt ist und den einzelnen Akteuren immer nur eine begrenzte Handlungsmacht zukommt. Entsprechend wird die Vorstellung des inspirierten Genies und des unbegrenzten gestalterischen Freiraumes in den letzten Jahren in der Designtheorie und -geschichte dekonstruiert (vgl. z.B. Lees-Maffei 2009). In der Produktion von Obst- und Gemüseerzeugnissen ist jedoch eine gegensätzliche Rhetorik häufig anzutreffen: Hier sind zahlreiche Akteure überzeugt, im Grunde keine Wahl zu haben. Die Akteure des Netzwerkes nehmen sich in vielen Fällen nicht als selbst entscheidende Gestalter wahr, die ihr eigenes Gestaltungspotential nutzen und einsetzen, sondern als untergeordnete Zuarbeiter, die die Erwartungen der Kooperationspartner oder 1 Vgl. z.B. Asmus (2008), der überzeugt ist: „Der Gestalter lebt im Raum unendlicher Möglichkeiten“ (ebd., S. 336).
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des Marktes erfüllen. Auf meine Frage hin, warum ein bestimmtes Kriterium von Bedeutung ist, wird so in der Regel auf die Erwartungen der anderen Akteure verwiesen. Die dominanten Zielvorstellungen werden damit aus der Sicht zahlreicher Akteure auf die anspruchsvollen, aber nur oberf lächlich informierten Verbraucherinnen2 oder auch auf einen in gewisser Weise personifizierten Markt zurückgeführt, der bestimmte Merkmale zu verlangen scheint. Damit wird die Verantwortung dafür, dass Obst- und Gemüseprodukte so und nicht anders sind, im Netzwerk hin und her geschoben. Die eigene Gestaltungsfreiheit wird von vielen Akteuren als sehr gering eingeschätzt. Die Untersuchung legt nahe, dass beide Vorstellungen – die der vollkommen freien, allein handelnden Gestalterin wie auch die des übermächtigen personifizierten Marktes – an der Wirklichkeit vorbei gehen. Ein realistischeres Bild liegt wohl zwischen den beiden dargestellten Positionen. Denn auch wenn die Lebendigkeit der Materie ihre unumgänglichen Forderungen stellt und auch wenn die Mechanismen der Märkte und wirkmächtige Konventionen den Handlungsspielraum beschränken, bleibt stets eine gewisse Freiheit der Akteure, die Gültigkeit der Einschränkungen infrage zu stellen und inmitten der von außen formulierten Bedingungen gestalterische Entscheidungen zu treffen. Die Möglichkeit zur Gestaltung ist durch die einschränkenden Bedingungen nicht aufgehoben. Mit der Hervorhebung des Andersmöglichseins von Obst- und Gemüseerzeugnissen möchte ich die einzelnen Akteure – von der Züchterin über den 2 Bei der Übertragung der Verantwortung an die Konsumenten muss jedoch bedacht werden, dass Konsumenten in der Regel keine Experten für die Beurteilung von Obst- und Gemüseerzeugnissen sind. Häufig sind sie angesichts der Vielfalt der angebotenen Produkte und der dazu verfügbaren Informationen gar nicht in der Lage, im Rahmen von alltäglichen Einkaufssituationen fundierte und informierte Entscheidungen zu treffen. Allzu oft tun sie schlicht das Offensichtliche und fällen ihre Entscheidungen in Abhängigkeit von Preis und Aussehen des Produktes. Dass die Macht der Konsumenten häufig romantisiert wird, zeigen auch Studien aus dem Bereich der STS (z.B. Ponte & Gibbon 2005, S. 9). Carter (2015, S. 3) arbeitet zudem heraus, dass die relevanten Vorstellungen von Qualität stets im Rahmen der Produktion konstruiert werden. Als besonders wirkmächtige Akteure erweisen sich in meiner Untersuchung wie auch in der Literatur (z.B. Morgan et al. 2006, S.4; Ponte & Gibbon 2005, S. 22) die Vertreter von zentralisierten Handelskonzernen – die sich selbst jedoch an vielen Stellen genau so wenig wie Vertreterinnen aus Züchtung, Anbau und Regulierung als gestaltende Akteure beschreiben (vgl. E-Mail Kommunikation mit einem Einkäufer, 15.02.2019).
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Händler bis zu der Konsumentin – und vielleicht sogar den Politiker – dazu ermutigen, ihre gestalterischen Möglichkeiten neu zu entdecken. Damit soll Raum geschaffen werden für die Verhandlung neuer Bewertungen der Intentionen, die die Gestaltung unserer Nahrungsmittel lenken. Für diese Neubewertung der Kriterien stehen zahlreiche plausible Kandidaten zur Wahl, die im Verhältnis zu bisher dominanten Zielen wie Ertrag, Homogenität und attraktivem Aussehen aufgewertet werden könnten: beispielsweise der Geschmack, die Effizienz im Hinblick auf den Verbrauch von Energie und Wasser in der Produktion, die Vielfalt oder die Unabhängigkeit von stark zentralisierten Systemen. Bei der kontinuierlichen Abwägung der Ziele kommt es auf das im Design häufig besprochene kollektive Wünschen an: Wünschen wir uns tatsächlich das, was wir bekommen? Oder wünschen wir uns – bei näherem Hinsehen – eigentlich etwas anderes?
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Dank Meine Einbindung in den Lehrstuhl für Industrial Design an der TUM und den vom BMBF geförderten sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungsverbund zur Sprache der Biofakte boten mir komfortable Bedingungen für das relativ autodidaktisch angelegte Dissertationsprojekt, das dieser Publikation zugrunde liegt. In diesem Kontext galt es, die vielfältigen Möglichkeiten des Lehrstuhls, des Forschungsverbundes, des Munich Center for Technology in Society und der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung sowie der internationalen Designforschungscommunity klug zu nutzen, um aus allen Bereichen Anknüpfungspunkte zusammen zu sammeln und sich dabei langsam eine eigene Position in den Netzwerken zu erarbeiten. Viele verschiedene Menschen haben mich in diesem Prozess besonders unterstützt – ihnen möchte ich an dieser Stelle aufrichtig und herzlich danken. Ich bedanke mich bei Fritz Frenkler für den Freiraum, den er mir für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat und für die ausnahmslose Unterstützung aller meiner anspruchsvollen Forderungen. Karin Zachmann danke ich für den Vertrauensvorschuss, unser Design-Teilprojekt in den Forschungsverbund der Biofakte mit aufzunehmen, für die ermutigenden Gespräche und herausfordernden Fragen und für die treue und geduldige Unterstützung meines Vorhabens. Ich danke Dietrich Erben für die Ermutigung und das stetige Interesse an meiner Arbeit, für die motivierenden Unterhaltungen, die Zuverlässigkeit und die pragmatischen Aufforderungen. Laura Popplow und Veit Braun danke ich für den hilfreichen inhaltlichen Austausch und den gemeinsam gegangenen Weg. Theres Lehn und Barbara Brandl danke ich für ihr offenes Ohr, ihre wohlwollenden Gedanken und die tatkräftige Unterstützung. Den Kolleginnen des Forschungsverbundes zur „Sprache der Biofakte“ danke ich für ihre Offenheit und Diskussionsbereitschaft und für alle
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hilfreichen Rückmeldungen zu meinen verschiedenen Formulierungsversuchen. Bei Christina Büchl möchte ich mich herzlich für die zuverlässige und tatkräftige Unterstützung bei der Transkription und Auswertung des Datenmaterials und die hilfreichen Gespräche bedanken. Ich danke Sandra Hirsch für alles, was ich in so kurzer Zeit von ihr lernen durfte und dafür, dass durch ihr Vorbild die Idee einer Promotion im Designbereich für mich sinnvoll und machbar wurde. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen Kommilitonen und den Mitarbeiterinnen des Munich Center for Technology in Society, in dessen Kolloquien ich dreimal einen Zwischenstand der vorliegenden Arbeit vorstellen durfte, für die offene Atmosphäre und die konstruktiven Diskussionen. Ich danke den zahlreichen Gesprächspartnern, deren Bekanntschaft ich während meines Forschungsaufenthaltes im Sommer 2016 am Goldsmiths College in London machen durfte, für die anregenden Unterhaltungen und die Hilfestellung bei der Ausrichtung meiner Arbeit. Alex Wilkie danke ich dafür, dass er diesen Aufenthalt für mich möglich gemacht hat. Zudem danke ich allen Mitstreitern, den Promovierenden im Design, die ich im Rahmen meiner wiederholten Teilnahme an dem Kolloquium „design promoviert“ der DGTF kennen lernen durfte, für den hilfreichen Austausch und die gegenseitige Ermutigung. Den Mitarbeiterinnen und anonymen Gutachtern der TUM Graduate School danke ich für die Förderung durch den TUM Degree Completion Grant, der zum Ende des Projektes drei Monate des intensiven Schreibens finanziell bezuschusste. Zutiefst dankbar bin ich allen Gesprächspartnern aus der Obst- und Gemüsebranche für die Zeit und die mir entgegengebrachte Offenheit, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern und meiner Schwester für ihre treue Begleitung durch die turbulenten Jahre und Hannes und Jakob für ihre Liebe und Geduld.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Wie sehen gute Äpfel aus? (EDEKA Handelsgesellschaft Südwest mbH, 2019) – darin verwendetes Foto: „various kinds of apples“ des Fotografen Magone über www.istockphoto.com Abb. 1.2: Die angebotenen Äpfel der Marke „Unsere Heimat“ in einem EDEKA-Supermarkt Abb. 1.3: Obst und Gemüse als Biofakte: zwei Blickrichtungen und zwei Schwerpunkte Abb. 5.1.1: Erdbeerzüchtung Abb. 5.1.2: Gewächshaus für die Apfelzüchtung Abb. 5.1.3: Resistenzversuche in der Getreidezüchtung Abb. 5.1.4: Düngungsversuche in der Getreidezüchtung Abb. 5.1.5: Erdbeerzüchtung Abb. 5.1.6: keimende Samen Abb. 5.2.1: Anbau von Gemüsepaprika im Gewächshaus Abb. 5.2.2: Cocktailrispentomaten reifen heran Abb. 5.2.3: Tomatenanbau auf 10,5 Hektar Gewächshausf läche Abb. 5.2.4: Natur und Technik umschlingen sich Abb. 5.2.5: die Pf lanzen wachsen auf mit Substrat gefüllten Säcken Abb. 5.2.6: Säcke mit Nährstoffen Abb. 5.2.7: die Schnüre hängen auf Bügeln oben im Gewächshaus Abb. 5.2.8: Hummeln bestäuben die Blüten Abb. 5.2.9: Verpackungsstation Abb. 5.2.10: Anbau von Salatgurken Abb. 5.3.1: Tafeltrauben der Klasse Extra im elektronischen Schadbildkatalog (BLE 2019b) Abb. 5.3.2: der Kontrolleur bei der Arbeit in einem Zentrallager Abb. 5.3.3: ein Apfel der Klasse „Extra“ im elektronischen Schadbildkatalog ELSKA 4.0 (AQOGS 2011)
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Abb. 5.3.4: Äpfel schwimmen durch das Wasserbad einer Sortieranlage Abb. 5.3.5: Apfelsortierung: Äpfel der gleichen Sortiergruppe sammeln sich in einer Wasserbahn Abb. 5.3.6: Farbfächer einer Bananenmarke für die Bestimmung des Reifegrades von Bananen Abb. 5.3.7: die Software ELSKA 4.0 (AQOGS 2011) Abb. 5.3.8: die Webanwendung ELSKA (BLE 2019b) Abb. 5.3.9: die Reife einer Pf laume wird an der Färbung sichtbar (AQOGS 2011) Abb. 5.3.10: Wann ist ein Lauch „sauber“? (AQOGS 2011) Abb. 5.3.11: Schadbilder bei Karotten: Fraßstellen, Bruch, Frostschäden (AQOGS 2011) Abb. 5.3.12: ein „ziemlich gut geformter Eissalat“ (AQOGS 2011) Abb. 5.3.13: der blaue Hintergrund ist nicht normiert (AQOGS 2011) Abb. 5.3.14: Ein-Euro-Münze als Größenreferenz (AQOGS 2011) Abb. 5.3.15: Grundriss der Sortierhalle Abb. 5.3.16: Screenshot aus dem Online-Werbevideo für die Software iQS (Greefa 2012) Abb. 5.4.1: bayerischer Salat im Großhandel Abb. 5.4.2: unreife italienische Nektarinen werden aus dem Verkehr gezogen Abb. 5.4.3: spanische Rispentomaten in einem Kopf lager Abb. 5.4.4: Äpfel vom Bodensee in einem Zentrallager Abb. 5.4.5: Frühlingszwiebeln warten auf den Weitertransport Abb. 5.4.6: im Handel zeigt sich, was für die Kunden zählt Abb. 7.1.1: Growth Assemby. Bauteile eines Herbizidsprühgerätes wachsen als Teile von gentechnisch manipulierten Pf lanzen (Ginsberg & Pohf lepp 2009) Abb. 7.1.2: Design for the Sixth Extinction. Die Einheit zur biologischen Sanierung soll bei der Auf bereitung von verseuchten Böden helfen (Ginsberg 2013) Abb. 7.1.3: Biophilia: Organ Crafting. Seidenraupen spinnen Gerüste für menschliche Organe (Ranner 2010)
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Alle Darstellungen ohne Quellenangabe sind eigene Darstellungen der Autorin.
Architektur und Design Daniel Hornuff
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Katharina Brichetti, Franz Mechsner
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Architektur und Design Andrea Rostásy, Tobias Sievers
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