Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran: Intertextuelle Lektüre im katholischen Religionsunterricht 9783170418127, 9783170418134, 3170418122

Inwiefern ist Teilhabe christlicher SchülerInnen an Bibel und Koran im katholischen Religionsunterricht möglich? Dieser

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Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
1. Teilhabe an Bibel und Koran im katholischen Religionsunterricht
1.1 Gesellschaftliche Teilhabe
1.2 Theologische Teilhabe
1.3 Systematisierung der Zielperspektiven zum Lernen mit Bibel und Koran in der bisherigen Forschung
1.4 Jona als Schlüssel zur Teilhabe an Bibel und Koran
1.5 Kanonisch-intertextuelle Methodik: Steigende Komplexität mit steigender Anzahl von Jona-Rezeptionen
1.6 Christliche Lektüreperspektive im konfessionell gebundenen katholischen Religionsunterricht
2. Jona in der zwei-einen Bibel
2.1 Jona im Alten Testament
2.1.1 Das Buch Jona im Alten Testament
2.1.1.1 Das Buch Jona: ein literarisches Meisterwerk
2.1.1.2 Elementare Struktur: Gottes Gerichtsankündigung und Gnade
Gnade und Barmherzigkeit
Gottes Gerichtsankündigung und Gerechtigkeit
2.1.1.3 Elementare Struktur: Universalität
Gemeinschaftliche Gotteszuwendung
Allein vor Gott
2.1.1.4 Elementare Struktur: Umkehr
Gottes Reue
Ninives radikale Umkehr
2.1.1.5 Elementare Struktur: Lern- und Lehrerzählung
Jona lernt
Die Jona-Erzählung lehrt LeserInnen
2.1.2 Alttestamentliche Intertextualität
2.1.2.1 Der Name „Jona“
2.1.2.2 Der „große Fisch“
2.1.2.3 „Ninive“ als Schauplatz
2.1.2.4 Die Gnadenformel
2.1.2.5 Das Zwölfprophetenbuch als Kontext
2.1.3 Jona in der Septuaginta
2.1.4 Zusammenfassende Thesen
2.1.4.1 Elementare Strukturen des alttestamentlichen Jona-Buches
2.1.4.2 Intertextualität: Das Jona-Buch im Alten Testament
2.2 Jona im Neuen Testament
2.2.1 Jona im Matthäusevangelium
2.2.1.1 Jona-Rezeption in Mt 12,38–42
2.2.1.2 Kontext: „Zeichen“ als Beweis für Jesu Vollmacht
2.2.1.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2–3: Jona im großen Fisch und Ninives Umkehr als Zeichen der Hoffnung und Mahnung für die „böse Generation“
2.2.1.4 Akzentverschiebung: Von der alttestamentlichen Identifikationsfigur zum neutestamentlichen Idealbild
2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“
2.2.1.6 Elementare Strukturen von Mt 12: Christologie und endzeitliches Gericht
2.2.1.7 Steigende Komplexität: Fortgesetzte Jona-Rezeption aus Mt 12 in Mt 16,1–4
2.2.1.8 Kontext: „Zeichen“ als Warnung vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer
2.2.1.9 Intertextuelle Anknüpfungen an Mt 12: Fortgesetzte Rezeption des Jona-Zeichens
2.2.1.10 Akzentverschiebung: Von der Figur Jona zum Zeichen Jonas
2.2.1.11 Novum: Zugespitzte Zeichenforderung
2.2.1.12 Elementare Strukturen von Mt 16: Zeichenforderung im Zentrum
2.2.2 Jona im Lukasevangelium
2.2.2.1 Jona-Rezeption in Lk 11,29–32
2.2.2.2 Kontext: Hören auf das Wort Gottes als Kontrast zur Zeichenforderung
2.2.2.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 3 und Mt 12: Ninives Umkehr als positive Kontrastfolie zur „bösen Generation“
2.2.2.4 Akzentverschiebung: Von der Figur Jona zur Schwerpunktsetzung auf Ninives Umkehr
2.2.2.5 Novum: Das Zeichen Jonas als Paränese zur Umkehr
2.2.2.6 Elementare Strukturen von Lk 11: Kontinuierliche Heilsrelevanz der Umkehrbotschaft
2.2.3 Weitere Bezüge zur alttestamentlichen Jona-Erzählung im Neuen Testament
2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christliche Lektüreperspektive
3. Jona im Koran
3.1 Den Koran von der Bibel aus lesen
3.1.1 Die Bibel aus der Perspektive des Korans
3.1.2 Positionierung aus katholischer Perspektive
3.2 Asymmetrien von Koran und Bibel als „Heilige Schriften“
3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans
3.4 Jona-Rezeption in Sure 68:48–50
3.4.1 Kontext: Gottes Gnade als Verknüpfung von Muhammad und Jona
3.4.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3: „Jona“ als Gesandter Gottes und der „große Fisch“
3.4.3 Akzentverschiebung: Von der Jona-Erzählung zur heilsgeschichtlichen Verortung Muhammads
3.4.4 Novum: Jonas Ungeduld als Negativbeispiel
3.4.5 Elementare Strukturen von Sure 68: Gnädiger Gott rettet aus der Not
3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148
3.5.1 Kontext: Jonas und Muhammads Lobpreis als Beispiel für die Gläubigen
3.5.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3: „Jona“ als Gesandter Gottes und sein Lobpreis im Fisch
3.5.3 Akzentverschiebung: Jona als erfolgreicher Gesandter
3.5.4 Novum: Einzigartige Rettung Gottes aller Gläubigen
3.5.5 Elementare Strukturen von Sure 37: Jonas Lobpreis als Wendepunkt zum erfolgreichen Gesandten
3.6 Jona-Rezeption in Sure 21:87–88
3.6.1 Kontext: Prophetenerzählungen als Mahnung zum Lobpreis
3.6.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2: Jonas Lobpsalm im Fisch und Gottes Rettung aus der Not
3.6.3 Akzentverschiebung: Von der Erzählung zur allgemeingültigen Lehre
3.6.4 Novum: Zentralität des monotheistischen Glaubensbekenntnisses
3.6.5 Elementare Strukturen von Sure 21: Jonas Lobpsalm als exemplarische Umkehr
3.7 Jona-Rezeption in Sure 10:98
3.7.1 Kontext: Gottes Zeichen
3.7.2 Intertextuelle Anknüpfungen: der Glaube eines ganzen Volkes (Jona 3) im Kontrast zur Zeichenleugnung (Mt 12; Mt 16; Lk 11)
3.7.3 Akzentverschiebung: Von der Jona-Figur zum Gottesglauben des Volkes
3.7.4 Novum: „Jonas Volk“ anstelle Ninives
3.7.5 Elementare Strukturen von Sure 10: Das gesamte Volk Jonas glaubt
3.8 Jona-Rezeption in Sure 6:86
3.8.1 Kontext: Prophetenliste von Abraham bis Muhammad
3.8.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität: die Namen „Salomo“ und „Jona“
3.8.3 Akzentverschiebung: Idealisierung Jonas
3.8.4 Novum: Jonas Höherstellung und Sukzession
3.8.5 Elementare Strukturen von Sure 6: Prophetensukzession bis Muhammad
3.9 Jona-Rezeption in Sure 4:163
3.9.1 Kontext: Glaube an Gott und seine Gesandten
3.9.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität: „Jona“ und sein Prophetenamt sowie „Salomo“
3.9.3 Akzentverschiebung: Typisierter Prophet Jona
3.9.4 Novum: Prophetensukzession als koranisches Kernelement
3.9.5 Elementare Strukturen von Sure 4: Jona als ein prophetisches Vorbild Muhammads
4. Ertrag: Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran
4.1 Exegetische und hermeneutische Erträge einer christlichen Koranlektüre
4.1.1 Vielfalt der Jona-Texte im Koran
4.1.2 Entwicklungslinien der Jona-Texte im Koran
4.1.3 Intra- und Intertextualität der Jona-Texte als Verknüpfung von Bibel und Koran
4.1.4 Asymmetrien der biblischen und koranischen Jona-Texte: Prophetie und Offenbarung
4.1.5 Thesen
4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht
4.2.1 Christliche Lektüreperspektive als Zugang zum Koran
4.2.1.1 Koran als Literatur lesen
4.2.1.2 Vom literarturwissenschaftlichen zum theologischen Zugang
4.2.2 Anfragen an die bisherige Jona-Didaktik
4.2.2.1 Gerichtsthematik
4.2.2.2 Christologie und Prophetie
4.2.3 Anfragen an die bisherige Islam-Didaktik im katholischen Religionsunterricht
4.2.4 Dekonstruktion binärer Oppositionen: ‚fremd‘ und ‚eigen‘
4.2.5 Blickfeld: SchülerInnen und Texte
4.2.5.1 Mehrperspektivität und (Multi-)Religiosität der Lerngruppe
4.2.5.2 Positionierung anstelle von Beliebigkeit
4.2.6 Blickfeld: Texte und SchülerInnen
4.2.7 Exemplarische Konkretisierung: „Jona und der Fisch“ in Bibel und Koran intertextuell gelesen
4.3 Perspektiven
Literatur
Primärquellen
Sekundärquellen
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Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran: Intertextuelle Lektüre im katholischen Religionsunterricht
 9783170418127, 9783170418134, 3170418122

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Studien zur Interreligiösen Religionspädagogik Herausgegeben von Martina Kraml Zekirija Sejdini In der Reihe „Studien zur Interreligiösen Religionspädagogik“ erscheinen Bände zur Arbeit an den Grundlagen einer theologisch orientierten interreligiösen Religionspädagogik und Religionsdidaktik einerseits, sowie zur evidenzbasierten Analyse von interreligiösen Prozessen in der schul- und hochschuldidaktischen Forschung bzw. Bildungsforschung andererseits. Die Bände zeichnen sich daher durch eine enge Verzahnung von empirischer Analyse und theoriebildender Reflexion aus. Dabei bilden die Identitätsperspektive („learning in religion“), der Wechsel zwischen inter- und intrareligiösen Phasen, die mehrdimensionale Aufmerk­samkeit (Biografie, Inter­akt­ion, Kontextualität, Thematik), die Prozessorientierung, die Begegnungsorientierung sowie die Vernetzung von konkreten Lehr- und Lernprozessen mit der wissenschaftlichen Reflexionsebene zentrale Leitaspekte.

Julia Bubenheim

Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran Intertextuelle Lektüre im katholischen Religionsunterricht

Verlag W. Kohlhammer

Diese Arbeit wurde unter dem Titel „Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran. Intertextuelle Lektüre im katholischen Religionsunterricht“ als Dissertation in der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie der TU Dortmund eingereicht und am 19.03.2021 erfolgreich verteidigt. Sie wurde für die Drucklegung leicht überarbeitet. Das dieser Dissertationsschrift zugrundeliegende Vorhaben wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1930 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin.

1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-041812-7 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-041813-4 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis Danksagung ................................................................................ 11 1. Teilhabe an Bibel und Koran im katholischen Religionsunterricht .................................... 13 1.1 Gesellschaftliche Teilhabe .................................................................. 14 1.2 Theologische Teilhabe ........................................................................ 16 1.3 Systematisierung der Zielperspektiven zum Lernen mit Bibel und Koran in der bisherigen Forschung ......................... 17 1.4 Jona als Schlüssel zur Teilhabe an Bibel und Koran ....................... 20 1.5 Kanonisch-intertextuelle Methodik: Steigende Komplexität mit steigender Anzahl von Jona-Rezeptionen................................. 22 1.6 Christliche Lektüreperspektive im konfessionell gebundenen katholischen Religionsunterricht .............................. 24

2. Jona in der zwei-einen Bibel ............................................. 27 2.1 Jona im Alten Testament .................................................................... 27 2.1.1 Das Buch Jona im Alten Testament ......................................... 28 2.1.1.1 Das Buch Jona: ein literarisches Meisterwerk ....................... 35 2.1.1.2 Elementare Struktur: Gottes Gerichtsankündigung und Gnade ........................................................................................... 40 2.1.1.3 Elementare Struktur: Universalität ........................................ 46 2.1.1.4 Elementare Struktur: Umkehr ................................................. 49 2.1.1.5 Elementare Struktur: Lern- und Lehrerzählung ................... 55 2.1.2 Alttestamentliche Intertextualität.......................................... 59 2.1.2.1 Der Name „Jona“ ........................................................................ 60 2.1.2.2 Der „große Fisch“ ....................................................................... 62 2.1.2.3 „Ninive“ als Schauplatz............................................................. 64 2.1.2.4 Die Gnadenformel ...................................................................... 65 2.1.2.5 Das Zwölfprophetenbuch als Kontext .................................... 67 2.1.3 Jona in der Septuaginta ............................................................. 71 2.1.4 Zusammenfassende Thesen...................................................... 74

6

Inhaltsverzeichnis

2.1.4.1 Elementare Strukturen des alttestamentlichen Jona-Buches ................................................................................ 2.1.4.2 Intertextualität: Das Jona-Buch im Alten Testament ...........

2.2 Jona im Neuen Testament .................................................................. 2.2.1 Jona im Matthäusevangelium .................................................. 2.2.1.1 Jona-Rezeption in Mt 12,38–42 ................................................ 2.2.1.2 Kontext: „Zeichen“ als Beweis für Jesu Vollmacht............... 2.2.1.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2–3: Jona im großen Fisch und Ninives Umkehr als Zeichen der Hoffnung und Mahnung für die „böse Generation“ ............. 2.2.1.4 Akzentverschiebung: Von der alttestamentlichen Identifikationsfigur zum neutestamentlichen Idealbild ..... 2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“ ............................................ 2.2.1.6 Elementare Strukturen von Mt 12: Christologie und endzeitliches Gericht ................................................................. 2.2.1.7 Steigende Komplexität: Fortgesetzte Jona-Rezeption aus Mt 12 in Mt 16,1–4 ............................................................... 2.2.1.8 Kontext: „Zeichen“ als Warnung vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer .......................................................... 2.2.1.9 Intertextuelle Anknüpfungen an Mt 12: Fortgesetzte Rezeption des Jona-Zeichens ................................................... 2.2.1.10 Akzentverschiebung: Von der Figur Jona zum Zeichen Jonas ............................................................................................. 2.2.1.11 Novum: Zugespitzte Zeichenforderung ................................. 2.2.1.12 Elementare Strukturen von Mt 16: Zeichenforderung im Zentrum ................................................ 2.2.2 Jona im Lukasevangelium ......................................................... 2.2.2.1 Jona-Rezeption in Lk 11,29–32 ................................................. 2.2.2.2 Kontext: Hören auf das Wort Gottes als Kontrast zur Zeichenforderung ...................................................................... 2.2.2.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 3 und Mt 12: Ninives Umkehr als positive Kontrastfolie zur „bösen Generation“ ................................................................................. 2.2.2.4 Akzentverschiebung: Von der Figur Jona zur Schwerpunktsetzung auf Ninives Umkehr ............................ 2.2.2.5 Novum: Das Zeichen Jonas als Paränese zur Umkehr .......... 2.2.2.6 Elementare Strukturen von Lk 11: Kontinuierliche Heilsrelevanz der Umkehrbotschaft ....................................... 2.2.3 Weitere Bezüge zur alttestamentlichen Jona-Erzählung im Neuen Testament .................................................................

74 75

77 79 80 81 83 87 89 97 99 99 101 102 103 105 106 107 107 109 110 111 114 115

Inhaltsverzeichnis

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2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christliche Lektüreperspektive .............................................................................. 116

3. Jona im Koran...................................................................... 125 3.1 Den Koran von der Bibel aus lesen .................................................... 3.1.1 Die Bibel aus der Perspektive des Korans .............................. 3.1.2 Positionierung aus katholischer Perspektive ........................ 3.2 Asymmetrien von Koran und Bibel als „Heilige Schriften“ ..........

126 127 128 133

3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans ............................... 134 3.4 Jona-Rezeption in Sure 68:48–50 ....................................................... 3.4.1 Kontext: Gottes Gnade als Verknüpfung von Muhammad und Jona ................................................................ 3.4.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3: „Jona“ als Gesandter Gottes und der „große Fisch“ ............. 3.4.3 Akzentverschiebung: Von der Jona-Erzählung zur heilsgeschichtlichen Verortung Muhammads ...................... 3.4.4 Novum: Jonas Ungeduld als Negativbeispiel ......................... 3.4.5 Elementare Strukturen von Sure 68: Gnädiger Gott rettet aus der Not ............................................. 3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148 ................................................... 3.5.1 Kontext: Jonas und Muhammads Lobpreis als Beispiel für die Gläubigen ........................................................................ 3.5.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3: „Jona“ als Gesandter Gottes und sein Lobpreis im Fisch........................ 3.5.3 Akzentverschiebung: Jona als erfolgreicher Gesandter ...... 3.5.4 Novum: Einzigartige Rettung Gottes aller Gläubigen .......... 3.5.5 Elementare Strukturen von Sure 37: Jonas Lobpreis als Wendepunkt zum erfolgreichen Gesandten .......................... 3.6 Jona-Rezeption in Sure 21:87–88 ....................................................... 3.6.1 Kontext: Prophetenerzählungen als Mahnung zum Lobpreis ....................................................................................... 3.6.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2: Jonas Lobpsalm im Fisch und Gottes Rettung aus der Not............................... 3.6.3 Akzentverschiebung: Von der Erzählung zur allgemeingültigen Lehre ...........................................................

141 141 143 145 146 148

149 150 151 155 158 161

162 163 164 165

8

Inhaltsverzeichnis

3.6.4 3.6.5

Novum: Zentralität des monotheistischen Glaubensbekenntnisses ............................................................. 166 Elementare Strukturen von Sure 21: Jonas Lobpsalm als exemplarische Umkehr ............................................................. 168

3.7 Jona-Rezeption in Sure 10:98 ............................................................. 3.7.1 Kontext: Gottes Zeichen............................................................ 3.7.2 Intertextuelle Anknüpfungen: der Glaube eines ganzen Volkes (Jona 3) im Kontrast zur Zeichenleugnung (Mt 12; Mt 16; Lk 11) .................................................................. 3.7.3 Akzentverschiebung: Von der Jona-Figur zum Gottesglauben des Volkes ......................................................... 3.7.4 Novum: „Jonas Volk“ anstelle Ninives ................................... 3.7.5 Elementare Strukturen von Sure 10: Das gesamte Volk Jonas glaubt ....................................................................... 3.8 Jona-Rezeption in Sure 6:86 ............................................................... 3.8.1 Kontext: Prophetenliste von Abraham bis Muhammad ...... 3.8.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität: die Namen „Salomo“ und „Jona“ ............................................. 3.8.3 Akzentverschiebung: Idealisierung Jonas .............................. 3.8.4 Novum: Jonas Höherstellung und Sukzession ....................... 3.8.5 Elementare Strukturen von Sure 6: Prophetensukzession bis Muhammad .................................... 3.9 Jona-Rezeption in Sure 4:163 ............................................................. 3.9.1 Kontext: Glaube an Gott und seine Gesandten ...................... 3.9.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität: „Jona“ und sein Prophetenamt sowie „Salomo“................... 3.9.3 Akzentverschiebung: Typisierter Prophet Jona .................... 3.9.4 Novum: Prophetensukzession als koranisches Kernelement ............................................................................... 3.9.5 Elementare Strukturen von Sure 4: Jona als ein prophetisches Vorbild Muhammads ......................................

168 169 170 172 173 174

175 175 176 176 177 179

180 180 181 183 183 184

4. Ertrag: Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran ................ 187 4.1 Exegetische und hermeneutische Erträge einer christlichen Koranlektüre ......................................................................................... 187 4.1.1 Vielfalt der Jona-Texte im Koran ............................................ 187

Inhaltsverzeichnis

4.1.2 4.1.3

9

Entwicklungslinien der Jona-Texte im Koran ....................... Intra- und Intertextualität der Jona-Texte als Verknüpfung von Bibel und Koran ......................................... Asymmetrien der biblischen und koranischen Jona-Texte: Prophetie und Offenbarung ................................ Thesen ..........................................................................................

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4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht ......................... 4.2.1 Christliche Lektüreperspektive als Zugang zum Koran ....... 4.2.1.1 Koran als Literatur lesen........................................................... 4.2.1.2 Vom literarturwissenschaftlichen zum theologischen Zugang ......................................................................................... 4.2.2 Anfragen an die bisherige Jona-Didaktik ............................... 4.2.2.1 Gerichtsthematik ....................................................................... 4.2.2.2 Christologie und Prophetie ...................................................... 4.2.3 Anfragen an die bisherige Islam-Didaktik im katholischen Religionsunterricht ........................................... 4.2.4 Dekonstruktion binärer Oppositionen: ‚fremd‘ und ‚eigen‘ ....................................................................................................... 4.2.5 Blickfeld: SchülerInnen und Texte .......................................... 4.2.5.1 Mehrperspektivität und (Multi-)Religiosität der Lerngruppe.................................................................................. 4.2.5.2 Positionierung anstelle von Beliebigkeit ............................... 4.2.6 Blickfeld: Texte und SchülerInnen .......................................... 4.2.7 Exemplarische Konkretisierung: „Jona und der Fisch“ in Bibel und Koran intertextuell gelesen ............................... 4.3 Perspektiven .........................................................................................

195 196 199

4.1.4 4.1.5

189 190 193

202 203 203 206 208 210 215 221 223 225 228

235

Literatur...................................................................................... 237

Danksagung intertextus – verwoben: Meine Forschung hat mir die tiefe Verwobenheit von Bibel und Koran, von Christentum und Islam, aber auch von mir selbst mit meinen KollegInnen, meiner Familie und meinen FreundInnen eindrucksvoll vor Augen geführt. In vielen Dialogen und gemeinsamen Denkprozessen eröffnete sich ein eindrucksvolles Gewebe. Mein Dank gilt meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Egbert Ballhorn, der mich schon im Studium dazu inspirierte, biblische Texte immer wieder neu erklingen zu lassen, mich ermutigte, das Wagnis Promotion einzugehen und mein eigenes Herzensthema zu erforschen. Seit meinem Theologiestudium an der TU Dortmund habe ich von ihm und von meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Claudia Gärtner kontinuierliche Beratung und Stärkung erfahren, wofür ich mich bei Ihnen und auch bei JProf. Dr. Alexander Unser für die Mitwirkung an der Disputation herzlich bedanke. Ich durfte sowohl an der TU Dortmund als auch an der WWU Münster mit hilfsbereiten und kompetenten KollegInnen, insbesondere mit meinen LehrstuhlkollegInnen Dr. Kristin Konrad, Anna Reuling, Philipp Graf und Lara Westermeyer, neue Ideen reflektieren, fortentwickeln und in der Praxis anwenden. Ich bedanke mich an dieser Stelle auch für das Engagement und die konstruktive Rückmeldung der Studierenden der katholischen Theologie an der TU Dortmund und der islamischen Theologie an der WWU Münster. Die kooperativen Seminargestaltungen und Dialoge mit meiner geschätzten Kollegin PD Dr. Dina El Omari waren eine wichtige Faser des Gewebes, an das wir und andere Menschen hoffentlich in Zukunft weiter anknüpfen können. Ich blicke gerne zurück auf Gespräche mit Prof. Dr. Peter Weimar, Prof. Dr. Maria Neubrand MC, Prof. Dr. Angelika Neuwirth, Prof. Dr. Georg Steins, mit dem Oberseminar AT (TU Dortmund/Universität Osnabrück) und an die interreligiösen Begegnungen im Kontext der Jüdisch-Christlichen Bibelwoche und der JCM (Jewish-Christian-Muslim) Tagung. Diese Dialoge waren wichtige und inspirierende Meilensteine meines Lernprozesses. Die wöchentlichen Austauschformate mit meinen KollegInnen von DoProfiL zeigten neue, interdisziplinäre, inklusionsorientierte Wege und Möglichkeiten auf, deshalb bedanke ich mich auch bei der Projektleitung Prof. Dr. Stephan Hußmann und Prof. Dr. Barbara Welzel sowie beim Koordinationsteam, dem DoKoLL und DoBuS für die großartige Unterstützung. Ebenso gebührt meinen studentischen Mitarbeiterinnen Stephanie Tomasik und Luisa Köppeler großer Dank für wertvolle Gespräche sowie formale und sprachliche Anmerkungen. Darüber hinaus gilt mein Dank dem Bereich Schule und Hochschule im Erzbistum Paderborn für einen Druckkostenzuschuss, dem Kohlhammer-Verlag für die kompetente Beratung sowie dem Herausgeberteam Prof. Dr. Martina Kraml und Prof. Dr. Zekirija Sejdini für die Aufnahme in die Reihe Studien zur Interreligiösen Religionspädagogik.

12

Danksagung

Meine Familie und meine Studienfreundinnen standen mir während der Promotion mit Wort und Tat zur Seite und griffen mir während des Endspurts mit Korrekturanmerkungen unter die Arme. Tausend Dank dafür Amelie, Anika, Desi, Franzi, Lotte, Meike und an meine Mutter, die mich stets unterstützt und stärkt. Ganz besonders bedanke ich mich bei meinem Ehemann Arne, der den gesamten Weg mit all seinen Kurven, Sprint- aber auch Durststrecken sowie der Zielgeraden mit viel Herz und Humor begleitet hat und dabei mittlerweile selbst zum Experten für das Lernen mit Bibel und Koran geworden ist. Ohne seine stärkenden Worte, seine konstruktiv-kritischen Rückmeldungen und etliche Tage der redaktionellen Arbeit würde das vorliegende Buch bestimmt ganz anders aussehen. Ich wünsche mir, dass der erste Funke, der in (inter-)religiösen Gesprächen mit FreundInnen, meiner Familie und KollegInnen entsprang, immer wieder in unterschiedlichen Dialogsituationen entfacht, neue Blickwinkel ermöglicht und wir uns alle ebenso wie Jona stets neu auf den Weg machen, um von und mit Gott zu lernen. Julia Bubenheim

1.

Teilhabe an Bibel und Koran im katholischen Religionsunterricht Gewiss, Wir offenbarten dir so, wie Wir offenbarten Noah und den Propheten nach ihm. Und Wir offenbarten Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen und Jesus und Ijob und Jona und Aaron und Salomo und Wir gaben David den Psalter. (Sure 4:163)

Wenn LehrerInnen diese Worte im katholischen Religionsunterricht vorlesen, denken viele SchülerInnen an die Bibel, einige an den Koran. Noah, Abraham, Ismael, Isaak, Jakob, die Stämme, Jesus, Ijob, Jona, Aaron, Salomo und David sind allesamt aus der Bibel bekannt und der katholische Religionsunterricht als Lernsetting legt biblisches Lernen nahe. Auch wenn SchülerInnen nur selten in der Bibel lesen, kennen viele SchülerInnen die Namen „Jesus“, „Abraham“, „Noah“, „David“ oder auch „Jona“.1 In diesem kurzen Vers kommt die tiefe Schriftverbundenheit, die über die gemeinsamen Figuren in Bibel und Koran verläuft, zum Ausdruck. Gott offenbarte sich Muhammad „so, wie“ er sich schon zuvor offenbart hat: Die Parallelisierung der Figuren hebt die Verbindung von Bibel und Koran hervor. Darüber hinaus spricht ein „Wir“ sein Gegenüber „dir“ an – Gott spricht Muhammad an – doch nicht der Name Muhammad, sondern zwölf andere Namen sind aufgelistet. Die Namen wecken Assoziationen zu vielen verschiedenen biblischen Erzählungen. Einer der Namen ist „Jona“, der trotz seiner Position in der Mitte der Aufzählung möglicherweise für SchülerInnen hervorsticht, wenn sie etwas mit dieser speziellen Figur verbinden. Intertextuelle Verknüpfungen zur biblischen Jona-Erzählung stellen für christliche LeserInnen und HörerInnen einen Zugang zum Koran dar. Neben den biblischen Namen fällt die mehrfache Verwendung des Begriffes „offenbaren“ auf. Gott teilt sich mit, die Menschen haben teil an Gott: Teilgabe und Teilhabe. Bibel und Koran eröffnen ihren LeserInnen und HörerInnen Zugänge zu gesellschaftlicher und theologischer 1

Gennerich und Zimmermann 2020, S. 99–100; Hanisch und Bucher 2002, S. 40. Gennerich und Zimmermann haben neben deutschen Kindern (68% der Stichprobe) SchülerInnen in Australien, England und Kanada befragt (n = 1413). Die SchülerInnen waren im Alter von 9–20 Jahren (M = 13,52 Jahre), in der 5.–6./10.–11. Klasse. 39% der Kinder waren katholisch, 40% evangelisch, 10% konfessionslos und 4% muslimisch (Gennerich und Zimmermann 2020, S. 65–69). Hanisch und Bucher haben n = 2402 Kinder am Ende der Grundschulzeit in Baden-Württemberg und Berlin befragt, davon waren 21,5% katholisch und 78,5% evangelisch (Hanisch/Bucher, Netze 2002, S. 14–15).

14

1. Teilhabe an Bibel und Koran

Teilhabe, zu horizontalen und vertikalen Diskursen. Es ist zu untersuchen, inwiefern eine Teilhabe christlicher SchülerInnen an Bibel und Koran im katholischen Religionsunterricht möglich ist.

1.1

Gesellschaftliche Teilhabe

Bibel und Koran eröffnen katholischen SchülerInnen eine gesellschaftliche Teilhabe in zweierlei Hinsicht: Erstens ermöglicht die Beschäftigung mit Bibel und Koran SchülerInnen eine Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen über Christentum und Islam. Zweitens tragen ReligionslehrerInnen mit dem Angebot, Bibel und Koran im Religionsunterricht zu lesen, zu einer gesamtgesellschaftlichen Teilhabe an Bibel und Koran als kulturellem Erbe bei (sharing heritage).2 In Zeiten von ansteigendem Rassismus in Deutschland, speziell gegenüber dem Islam, ist die Auseinandersetzung mit dem Koran eine gesellschaftliche Notwendigkeit.3 Speziell in der Schule, die als „Kristallisationspunkt“ der Begegnung unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen gilt,4 ist eine Sensibilisierung notwendig. Die Gegenüberstellung von Islam und Christentum mit ‚dem‘ Islam als der ‚fremden‘ Religion verstärkt gesellschaftliche Ängste und (Alltags-)Rassismen gegenüber dem Islam sowie Benachteiligung von MuslimInnen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt.5 Eine Konstruktion solcher binärer Oppositionen zielt auf Grenzziehungen und „Vereindeutigung“ ab.6

2

3 4 5

6

Bibel und Koran gelten als kulturelles Erbe der Menschheit (Neuwirth 2010, S. 24. Vgl. auch Assmann 2018, S. 163; Mitchell 2005, S. 567; Sajak 2016). Schon in den 1930er Jahren hob der ägyptische Literaturwissenschaftler Ḥusain die Bedeutung des Korans als kulturelles Erbe hervor (Wielandt 2002, S. 131). Für alle Menschen einen Zugang zum kulturellen Erbe zu eröffnen, ist eine gesellschaftliche Verantwortung (Schüppel und Welzel 2020, S. 8). Die Begriffe „kulturelles Erbe“ und „kulturelles Gedächtnis“ gelten häufig als Synonyme. Kulturelles Erbe vermittelt kulturelles Gedächtnis (Robertson-von Trotha und Hauser 2011, S. 18). Leimgruber 2001, S. 74. Kirste 2005, S. 465. Zu negativer medialer Darstellung: Gellner und Langenhorst 2013, S. 174–176; Lähnemann 2005, S. 414; von Stosch 2016b, S. 824; zur Angst vor dem Islam: Affolderbach 2005, S. 77; Bertelsmann Stiftung 2016, S. 5; Lähnemann 2005, S. 414; Messerschmidt 2014, S. 51; zu (Alltags-)Rassismus gegenüber dem Islam: Broden 2007, S. 12; Fereidooni 2015, S. 66, 142– 143 u. 305; Messerschmidt 2014, S. 41 u. 54; zu Bildungsungleichheiten: Affolderbach 2005, S. 80; Foroutan und Schäfer 2009, S. 12–13; zu Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt: Behr 2008, S. 9; Foroutan und Schäfer 2009, S. 13. Nehring und Tielesch 2013, S. 146. Nach dem Islamwissenschaftler Bauer ist eine Tendenz der „Vereindeutigung“ und ein Verlust an Ambiguitätstoleranz im 21. Jahrhundert zu beobachten (Bauer 2018, S. 13 u. 19)

1.1 Gesellschaftliche Teilhabe

15

Auch wenn religiöse Pluralität in Deutschland durch Globalisierung und Migration ansteigt und sich die räumliche Nähe zum Islam verringert, nehmen deshalb „Vertrautheit und Zugehörigkeit […] nicht einfach automatisch zu, möglich sind sogar entgegengesetzte Tendenzen.“7 In Zeiten von Islamophobie, Extremismus und Fundamentalismus, die allesamt in „Vereindeutigung“ begründet sind, ist die Einübung von Mehrperspektivität ein dringliches gesellschaftliches Anliegen. Lernen mit Bibel und Koran kann die Entwicklung von Mehrperspektivität positiv beeinflussen. Obwohl ‚der‘ Islam in vielerlei Hinsicht in Medien und Gesellschaft diskutiert wird, fällt auf, dass theologische Stimmen nur selten erklingen.8 Eine Auseinandersetzung mit Bibel und Koran ermöglicht eine fachlich-kompetente Beteiligung am Gespräch über Christentum und Islam in Deutschland.9 Theologie muss daran gelegen sein, an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen, um nicht zu einem abgeschlossenen „Inseldiskurs“10 zu verflachen. Außerdem sind Bibel und Koran als kulturelles Erbe der Menschheit von Relevanz. Speziell in Europa scheint eine Reflexion der Bedeutung des Korans vonnöten. Eine künstlich konstruierte Gegenüberstellung von christlichem Abendland und islamischem Morgenland suggeriert, dass allein die Bibel kulturelles Erbe Europas ist, der Koran hingegen nicht. Doch der Koran ist als theologischer Gesprächspartner christlicher und jüdischer Traditionen im spätantiken Denkraum kein Gegenüber zur Bibel.11 Darin ist er prägend für die europäische Kultur sowie für die religiösen Diskurse der drei Weltreligionen. Es ist wünschenswert, dass der Koran als bisher marginalisierte Stimme im Diskurs über das europäische Kulturerbe neu erklingt. Dafür ist eine Re-Fokussierung auf den literaturwissenschaftlichen Wert des Korans ertragreich.12 Die intertextuellen Verbindungslinien heben hervor, dass der Koran theologischer Diskurspartner der Bibel ist und nicht „Rivale“ oder „Konkurrent“.13 Der Europarat fordert in der „Rahmenkonvention über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft“ (‚Faro-Konvention‘ 2005) „alle Formen von Kulturerbe gleich [zu] behandeln und somit den Dialog zwischen Kulturen und Religionen [zu] fördern“.14 Die Definition des kulturellen Erbes ist weit gefasst. Bibel und Koran fallen darunter. Als Ankerpunkte des kulturellen Erbes tragen sie zur Überlieferung des kulturellen Gedächtnisses bei.15 Sie vermitteln Werte, die be-

7 8 9 10 11 12 13 14 15

Riegger 2011, S. 67. von Stosch 2016b, S. 824. Middelbeck-Varwick 2014, S. 173; von Stosch 2016b, S. 824; Zirker 2012, S. 14. Pregill 2007, S. 656. Im englischen Original verwendet Pregill den Ausdruck insularity. Neuwirth 2010, S. 24. Vgl. auch Assmann 2018, S. 163; Sajak 2016. Neuwirth 2007, S. 117. Bal 2004, S. 16. Europarat 2005, Präambel. Robertson-von Trotha und Hauser 2011, S. 18.

16

1. Teilhabe an Bibel und Koran

reits über Jahrhunderte hinweg tradiert wurden und die bis heute von einer Gemeinschaft an Menschen wertgeschätzt werden.16 Schulische und außerschulische Lernorte sind dazu verpflichtet, allen Menschen, insbesondere auch jungen Menschen, eine Teilhabe am kulturellen Erbe zu ermöglichen, um „den Aufbau einer friedlichen und demokratischen Gesellschaft und […] kulturelle[…] Vielfalt“17 zu fördern.18 Die Betrachtung von Bibel und Koran im Religionsunterricht trägt dazu bei.

1.2

Theologische Teilhabe

Neben einem wertschätzenden Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen eröffnet die Lektüre von Bibel und Koran außerdem einen theologischen Horizont. Der Glaube an den einen Gott verbindet Christentum und Islam. Der katholische Religionsunterricht ist ein Ort der Begegnung von SchülerInnen mit der Bibel. Darüber hinaus können ReligionslehrerInnen Wege in den Koran eröffnen. Lernen mit Bibel und Koran ist Teilhabe und Teilgabe: SchülerInnen treten mit Texten und anderen SchülerInnen in einen Diskurs. Sie nehmen und geben im Diskurs, indem sie selbst eine Perspektive einnehmen und diese preisgeben. Die Texte aus Bibel und Koran ermöglichen ebenfalls Teilhabe und Teilgabe: Sie eröffnen Perspektiven und gewinnen durch die Rezeption der LeserInnen und HörerInnen an Bedeutung. Die Teilhabe an Bibel und Koran kann für SchülerInnen einen Zugang zu Gott eröffnen,19 was für „eine Welt und Menschheit, für die Gott zunehmend verstummt“,20 eine bedeutungsvolle Lernchance ist. SchülerInnen können zu MultiplikatorInnen werden, indem sie in Diskursen über Islam und Christentum ihre theologische Perspektive fachkompetent einbringen und so die Gesellschaft an theologischen Diskursen über Christentum und Islam teilhaben lassen. Das Lernen mit Bibel und Koran im Religionsunterricht ist nicht ‚nur‘ politisch und gesellschaftlich, sondern auch theologisch begründet: „Weil Gott das Heil für alle Menschen will, ist der respektvolle Umgang mit anderen Religionen als christliche Grundhaltung zu verstehen.“21 Das stößt in die Mitte der theologischen Beschäftigung mit dem Thema Inklusion: Inklusion zielt auf Teilhabe.22 Beide Konzepte lassen sich schöpfungstheologisch (Unterscheidung ist gottgewollt 16 17 18 19 20 21 22

Europarat 2005, Artikel 2. Europarat 2005, Artikel 1. Europarat 2005, Artikel 1, 12 u. 13. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.1.2. Gäde 2004, S. 301. Baumann 2005, S. 400. Grosche 2015, S. 20; Pithan 2015; Saalfrank und Zierer 2017, S. 7.

1.3 Systematisierung der Zielperspektiven

17

und alle Wesen sind Teil der Schöpfung), anthropologisch (Gottesebenbildlichkeit ruft zu Verantwortung und Gleichberechtigung auf), christologisch (Teilhabe am Reich Gottes ohne [soziale] Benachteiligung), soteriologisch (Heils- und Erlösungsperspektive für alle sowie die Leiderfahrungen des Gerechten – Kreuzestheologie/Gottesknecht), gnadentheologisch (unbedingte Annahme aller Menschen) sowie ekklesiologisch (Teilhabe aller an der Gemeinschaft/Gemeinde als die vielen Glieder des einen Leib Christi) begründen und stoßen dementsprechend weitreichende theologische Reflexionshorizonte an.23 Die Jona-Erzählung und ihre Rezeptionen leisten Impulse zum Thema Teilhabe.24 Young erkennt in der Beschäftigung mit der Jona-Erzählung eine herausragende Lernchance, um das Konzept „Universalismus“ zu reflektieren.25 Gottes Gerichtsankündigung, aber auch sein Heil und seine Barmherzigkeit gelten allen Menschen und Tieren (Jona 3–4). Auch die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen bieten Anlass, um über die universal ausgerichtete Teilhabe am endzeitlichen Gericht nachzudenken. Die koranischen Jona-Texte legen einen Schwerpunkt auf die Rettung aller Menschen. Gott schätzt die Vielfalt, das hebt auch die koranische Botschaft hervor. Die Verschiedenheit der Menschen, ihrer „Sprachen und Farben“ ist Zeichen von Gottes Schöpfung (Suren 42:11; 30:22, 16:13). Auch die Vielfalt an gläubigen Gemeinschaften entspricht dem göttlichen Willen: „Hätte Gott gewollt, hätte Er euch zu einer Gemeinschaft gemacht, zu einer einzigen. Aber Er lässt eintreten, wen Er will, in Seine Barmherzigkeit.“ (Sure 42:8; vgl. Suren 16:93; 11:118; 5:48) Muslimische Gläubige sind nach dem Koran die „Gemeinschaft der Mitte“ (Sure 2:143) und sind deshalb zum Dialog mit Judentum und Christentum aufgerufen.26 So eröffnen Bibel und Koran insgesamt und die Jona-Erzählung und ihre Rezeptionen im Speziellen eine Perspektive auf Momente der theologischen Teilhabe.

1.3

Systematisierung der Zielperspektiven zum Lernen mit Bibel und Koran in der bisherigen Forschung

Eine wechselseitige Teilhabe und Teilgabe gilt als Ziel interreligiösen Lernens: SchülerInnen unterschiedlicher Religionen lernen miteinander und voneinander.27 Es gibt unzählige Beiträge zu den verschiedensten interreligiösen Bildungsprozessen. Der Anspruch dieses Forschungseinblicks ist es, Beiträge zu 23

24 25 26 27

Pemsel-Maier 2014, S. 57. Mehr zu Inklusion aus theologischer Perspektive in: Liedke und Wagner 2016; Pemsel-Maier und Schambeck 2014; Pithan 2015; Pithan et al. 2013. Mehr dazu in den Abschnitten 2.1.1.3.1, 2.2.1.6, 2.2.2.6, 3.4.4, 3.6.5. Young 2004, S. 104. Behr 2008, S. 12; Güngör 2006, S. 110. Reinmuth 2010, S. 65.

18

1. Teilhabe an Bibel und Koran

Lernprozessen mit Bibel und Koran im Religionsunterricht konkret zu betrachten und nicht, interreligiöses Lernen im Allgemeinen. Die bisherigen Beiträge sind alle an interreligiösen Bildungsprozessen ausgerichtet und benennen dabei unterschiedliche Zielperspektiven.28 Schwerpunkte liegen auf Dialogfähigkeit, Perspektivübernahme, Toleranzförderung, Wissenserwerb und religiöser Kompetenzerweiterung. Die ‚Kategorien‘ gesellschaftliche und theologische Teilhabe sind für eine Systematisierung dienlich. Unter gesellschaftliche Teilhabe fallen vor allem die Ziele der Verständigung, des (Werte-)Austausches, der Toleranz und der Konfliktlösung für ein friedliches Miteinander der Menschen.29 Das trialogische Lernen rückt dabei die Verständigung und Begegnung zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen GesprächspartnerInnen ins Blickfeld. Es fällt auf, dass die Texte aus Bibel und Koran dabei häufig „Basis“, „Medium“ und „Ausgangspunkt“ für interreligiöse Lernprozesse und Begegnungen sind.30 Die theologische Teilhabe steht in der bisherigen Forschung im Kontext einer interreligiösen Diversifikations- und Relationskompetenz. Die Wahrnehmung der ‚eigenen‘ und der ‚fremden‘ Schrift, „Selbstverstehen“ und „Fremdverstehen“,31 und insbesondere ein Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden stehen im Vordergrund,32 um einerseits etwas über die ‚andere‘ bzw. ‚fremde‘ Schrift und Religion zu lernen oder/und um andererseits etwas Neues über die ‚eigene‘ Schrift und Religion zu erfahren. Langenhorst und von Stosch legen den Schwerpunkt auf die Wahrnehmung der eigenen Schrift: SchülerInnen entdecken den „Reichtum an Gottes- und Menschenerfahrungen“,33 vertiefen

28

29 30 31

32 33

Hervorzuheben sind vor allem die Sammelbände „Die Heiligen Schriften des anderen im Unterricht. Bibel und Koran im christlichen und islamischen Religionsunterricht einsetzen“, herausgegeben von van der Velden (2011) und das „Handbuch Interreligiöses Lernen“, herausgegeben von Schreiner (2005), in denen jeweils Beiträge zum Thema Bibel und Koran im Religionsunterricht enthalten sind. Darüber hinaus sind die Beiträge aus der Trialogischen Religionspädagogik (Sajak 2016/Langenhorst 2016) sowie der Komparativen Theologie (Burrichter et al. 2015) und die Publikationen von Schambeck „Interreligiöse Kompetenz“ (2013), von Sajak „Kippa, Kelch und Koran“ (2010), von Leimgruber/Wimmer „Von Adam bis Muhammad. Bibel und Koran im Vergleich“ (2005) sowie von Meyer „Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht“ (2012) zu erwähnen. Meyer, Gellner und Langenhorst sowie Sajak betrachten nicht (nur) Bibel und Koran, sondern religiöse „Zeug(-)nisse“ und „Artefakte“, die auch Texte aus Koran und Bibel umfassen, außerdem aber auch den Gebetsruf des Muezzins, heilige Worte wie „Akbar“ oder die Erfahrung einer Pilgerreise (Meyer 2012, S. 216–220; Gellner und Langenhorst 2013, S. 352–353; Sajak 2010, S. 44–45). Langenhorst 2008, S. 289; Leimgruber 2005, S. 128; Mitchell 2005, S. 573; Nipkow 2005, S. 374; Sajak 2016; Schambeck 2013, S. 18; Sieg 2005, S. 392. Kirste 2005, S. 467; Lähnemann 2005, S. 415; Leimgruber und Wimmer 2005, S. 15 u. 18. Nipkow 2005, S. 371. Vgl. auch Leimgruber und Wimmer 2005, S. 18–19; Sajak 2016; Schambeck 2013, S. 213–216. Lähnemann 2005, S. 415; Leimgruber und Wimmer 2005, S. 18; Schambeck 2013, S. 214. Gellner und Langenhorst 2013, S. 345.

1.3 Systematisierung der Zielperspektiven

19

die Wahrnehmung bereits bekannter Erzählungen „im Spiegel einer Fremdsprache“34 und reflektieren, „ob der Text […] Wichtiges und vielleicht auch Neues zu sagen hat“.35 Die islamische Religionspädagogin Müller hebt hervor, dass SchülerInnen durch Differenzlernen ihre eigene religiöse Identität weiterentwickeln können.36 Bei Meyer, Mitchell, Schambeck, Sajak, Sieg und Lähnemann geht es vor allem um die Wahrnehmung der ‚anderen‘ Schrift. Dabei spielt der Erwerb von Wissen eine Rolle.37 Mit den Zielen Anerkennung, Respekt und Toleranz liegt der Schwerpunkt auch hier auf gesellschaftlicher Teilhabe. Meyer betont, dass SchülerInnen durch innere Auseinandersetzung, ritualisierende Begegnung und die Wahrnehmung von Fremdheit „einen Sinn für“ religiöse Zeugnisse entwickeln können.38 Mitchell hebt hervor, dass SchülerInnen methodische Kompetenzen ausbauen und eine „inter-religious literacy“ entwickeln können.39 Nach Sajak steht „die breite Bedeutung des Korans für das Glaubensleben und für die Rechtsauffassung der Muslime“40 im Mittelpunkt. Schambeck hebt ebenfalls die Bedeutung des Korans für MuslimInnen hervor: Ziel ist es, „die Weite und Tiefe des islamischen Gottesverständnisses“ zu erkennen, damit christliche SchülerInnen lernen, „wie andere Menschen Gott verstehen“.41 Der Vergleich einer Sure mit dem „Lobpreis Gottes“ von Franz von Assisi (anstelle eines biblischen Textes!) rückt die Bedeutung der Texte für Gläubige ins Zentrum, nicht die Texte selbst. Schambeck schlägt dafür vor, einen muslimischen „Experten“ einzuladen, „der darüber erzählt, was die Sure ihm bedeutet“.42 Der kurze Einblick in die bisherige Forschung zeigt, dass es etliche Beiträge zu interreligiösen Bildungsprozessen gibt, sich diese jedoch erheblich ausdünnen, wenn es konkret um die Ziele von Bibel- und Koranlektüre im Religionsunterricht geht. Bisher ist vor allem die „Funktion“ von Bibel und Koran als „Vorbereitung“ auf interreligiöses (Begegnungs-)Lernen zentral sowie Ziele gesellschaftlicher Teilhabe. Die Reflexion des Eigenwerts einer Bibel- und Koranlektüre, die Bedingungen und Gründe, inwiefern und warum christliche SchülerInnen neben der Bibel auch an und mit dem Koran lernen können, erscheint ertragreich.

34 35 36 37 38 39 40 41 42

Langenhorst 2011, S. 111. von Stosch 2016a, S. 16. Müller 2005, S. 148. Lähnemann 2005, S. 414; Sajak 2016. Meyer 2012, S. 289–290. Mitchell 2005, S. 567; Nipkow 2005, S. 369. Sajak 2010, S. 157. Schambeck 2013, S. 216. Schambeck 2013, S. 216.

20

1.4

1. Teilhabe an Bibel und Koran

Jona als Schlüssel zur Teilhabe an Bibel und Koran

Toleranz und Teilhabe sind übergreifende Konzepte und der Blick in die Fachliteratur zeigt, dass eine Konkretisierung anhand eines Lerngegenstands sinnvoll erscheint. Lernprozesse mit Bibel und Koran sind sowohl für SchülerInnen als auch für ReligionslehrerInnen herausfordernd. Deshalb soll die Betrachtung eines spezifischen Lerngegenstands verdeutlichen, warum sie dennoch ertragreich und wertvoll sind und gerade auch in Abgrenzung zu anderen interreligiösen Lernprozessen, beispielsweise dem sogenannten „Königsweg Begegnungslernen“ (Leimgruber), einen eigenen, speziellen Beitrag leisten. „Jona in Bibel und Koran“ erweist sich als ein passender Lerngegenstand, weil er die Schriftverbundenheit von Bibel und Koran unterstreicht. Sowohl Langenhorst als auch Neumann heben hervor, dass sich biblische Figuren gut für das Lernen mit Bibel und Koran im katholischen Religionsunterricht eignen, sogar schon im Primarbereich.43 Behr postuliert dies ebenfalls für den islamischen Religionsunterricht.44 Das Lernen an Figuren stellt weder ethische Fragestellungen noch die religiöse Lebenspraxis von gläubigen MuslimInnen in den Vordergrund. Letzteres resultiert häufig darin, dass sich Vorurteile gegenüber dem Islam verstärken.45 Im Gegensatz dazu rückt das Lernen mit Bibel und Koran die Schriftverbundenheit und den Glauben an „den alleinigen Gott“ (Nostra Aetate 3) in den Mittelpunkt. Texte aus Bibel und Koran ermöglichen eine tiefgründige Auseinandersetzung, auch für SchülerInnen mit wenig Vorwissen, indem sie Gesprächsstoff liefern.46 Bei den Jona-Perikopen in Bibel und Koran handelt sich um einen vergleichbaren und überschaubaren Textbestand (Altes Testament: 4 Kapitel, 48 Verse; Neues Testament: 2 Evangelien, 21 Verse; Koran: 6 Suren, 17 Verse). Jona kommt sowohl in den alttestamentlichen als auch in den neutestamentlichen Schriften vor, sodass die Betrachtung der Jona-Texte eine innerbiblische Reflexion anstößt. Das alttestamentliche Jona-Buch bietet sich für die Lektüre von Ganzschriften und für intertextuelle Lernprozesse im Religionsunterricht an.47 Im Gegensatz zur Abrahamsfigur ist die Auseinandersetzung mit Texten über Jona aus Bibel und Koran weniger emotional aufgeladen oder politisch funktionalisiert. Zu Abraham gibt es eine Fülle an Texten in Bibel und Koran und Behr stuft „Abraham eine Nummer zu groß“48 ein. 43 44 45 46 47 48

Langenhorst 2011, S. 118–119; Neumann 2011, S. 161. Behr 2014, S. 145–146. Sajak et al. 2014, S. 215. Kammeyer 2012, S. 198–199, 203 u. 207–208. Baumann 2020. Behr 2005, S. 150. Vgl. auch Krochmalnik, der die (emotionale) Nähe zu Abraham für jüdische, christliche und muslimische Gläubige als Herausforderung benennt (Krochmalnik 2011, S. 58).

1.4 Jona als Schlüssel zur Teilhabe

21

Die Jona-Figur ist sowohl im Christentum als auch im Islam bekannt und beliebt. Die Erzählung kommt in etlichen christlichen Kinderbibeln und in deutschen Kinderkoranen vor.49 Verschiedene Bücher, Filme und Lieder knüpfen als literarische Rezeptionen an die alttestamentliche Jona-Erzählung an und verankern sie tief im kulturellen Gedächtnis der Menschheit.50 Sie scheint aufgrund ihrer Offenheit, ihrer märchenhaften Poesie, ihrer Dialogizität und der Möglichkeit, sich in Jona und in Gott hineinzufühlen, so beliebt zu sein.51 Trotz ihrer Bekanntheit ermöglicht die Jona-Erzählung Neuentdeckungen, denn viele SchülerInnen kennen nur einzelne Motive, nicht aber die gesamte Erzählung in ihrer theologischen Tiefe.52 Als Lehr-Erzählung ist das Jona-Buch ein passender Lerngegenstand im Religionsunterricht. Hennecke stellt heraus, dass sich die befragten SchülerInnen einer Längsschnittuntersuchung in der Grundschule an keine andere biblische Erzählung „so gut und so ausführlich“53 erinnern konnten, wie an die Jona-Erzählung. Die alttestamentliche Jona-Erzählung bietet vielfältige theologische und religionspädagogische Lernanlässe, die LehrerInnen noch nicht im vollen Umfang ausschöpfen.54 Die Jona-Rezeptionen in Bibel und Koran können einen positiven Impuls leisten, den religionspädagogischen „Kanon im Kanon“ zu sprengen. LehrerInnen neigen dazu, ihren Lerngruppen ein kleines Repertoire an biblischen Texten anzubieten und an diesen Texten dieselben Themen und theologischen Fragestellungen zu bearbeiten. Gründe für einen solchen „subjektiven Kanon“ sind mangelnde theologische und hermeneutische Kompetenzen der Lehrpersonen sowie persönliche Vorlieben oder Abneigungen.55 Eine Betrachtung neuerer religionspädagogischer Beiträge und aktueller Materialien für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht legt offen, dass die Figur Jona das Hauptaugenmerk im Unterricht darstellt. Es findet eine Inszenierung Jonas als Identifikationsfigur für SchülerInnen statt.56 Jonas Auftrag, Flucht, Angst, Zorn, gar sein Tod bieten (angeblich) Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt der 49 50 51 52

53

54 55 56

Kaddor und Müller 2010; Mohagheghi und Steinwede 2010. Sherwood 2000, S. 198–199. Sherwood 2000, S. 199. Khorchide stellt das für SchülerInnen des islamischen Religionsunterrichts heraus (Khorchide 2018, S. 82). Hennecke 2012, S. 306. Hennecke hat dafür zwei katholische Lerngruppen eines 3. Schuljahres in zwei Grundschulen in einer Längsschnittuntersuchung über ein Schuljahr beobachtet und befragt (Hennecke 2012, S. 109). Pemsel-Maier 2018, S. 104. Pemsel-Maier 2018, S. 105. Beiträge aus der katholischen Theologie: Hennecke 2012, S. 314; Pedrazzini und Rotner 2008, S. 10; Schärer 2004, S. 81; Scheller 2019, S. 76; Schmid 2016, S. 180; Beiträge aus der evangelischen Theologie, die allerdings nicht nur ausschließlich für den evangelischen Religionsunterricht konzipiert sind: Dressler 2012, S. 79; Forssman 2020; Freudenberg 2008, S. 16; Kessler 1997, S. 340; Lachmann 2018, S. 202 u. 205–206; Munzel 2003, S. 111 u. 114; Steinkühler 2012, S. 75.

22

1. Teilhabe an Bibel und Koran

Kinder. Dabei handelt es sich um ein verzerrtes und reduziertes Bild der alttestamentlichen Jona-Erzählung, das auch den heterogenen lebensweltlichen Erfahrungen der SchülerInnen nicht gerecht wird.57 Die Jona-Rezeptionen im Neuen Testament und Koran heben hervor, dass es sich bei dem Zugang über Jona als Identifikationsfigur um eine eingeschränkte Perspektive handelt. Jona ist vorrangig ein Vorbild für Christus sowie Muhammad. Auch schon im Kontext des alttestamentlichen Jona-Buches stößt der Zugang zur Jona-Erzählung über Jona als Identifikationsfigur an seine Grenzen: „‚Jona – das Buch‘, nicht ‚Jona – die Figur‘ ist die biblisch vorgegebene Einheit.“58 Jona ist eine sperrige Figur in einer wundersamen Erzählung über menschliche Umkehr und Gottes Barmherzigkeit. Als Prophet nimmt er eine herausragende Rolle in der Geschichte Gottes mit seinem Volk ein.

1.5

Kanonisch-intertextuelle Methodik: Steigende Komplexität mit steigender Anzahl von Jona-Rezeptionen

Die intertextuelle Herangehensweise eröffnet SchülerInnen vielfältige Zugänge zur Jona-Erzählung.59 Sinnstiftende Verknüpfungen ermöglichen SchülerInnen ein Eintauchen in die Textwelt von Bibel und Koran. Dadurch findet eine Begegnung von Text- und Lebenswelt statt, in der die Texte, aber auch die SchülerInnen als lesende Subjekte Wertschätzung erfahren.60 Das Anbahnen von intertextuellen Lernprozessen ist einerseits der didaktische Zugriff auf den Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“ und andererseits auch die methodische Basis der Exegese. Intertextualität ist ein „konstitutives Merkmal von Diskursen und Texten gleichermaßen“61 und bietet sich für die Betrachtung von Bibel und Koran an,62 weil sie vielfache semantische, syntaktische und pragmatische Verknüpfungen vorweisen. So stößt eine intertextuelle Lektüre eine Reflexion des Verhältnisses von Bibel und Koran zueinander an.63 In der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine synchrone, kanonisch-intertextuelle Erschließung der

57 58 59 60 61 62 63

Ballhorn und Gärtner 2017, S. 20; Schwarzkopf 2016, S. 224. Ballhorn und Gärtner 2017, S. 20. Oberthür 2006, S. 255. Ballhorn und Gärtner 2017, S. 135. Spieß 2007, S. 208. Renz und Takim 2010, S. 264. Takim 2010, S. 196.

1.5 Kanonisch-intertextuelle Methodik

23

biblischen Texte auf Hebräisch und Griechisch sowie der koranischen Texte auf Arabisch.64 Intertextualität basiert auf einem Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität.65 Deshalb ist es sinnvoll, neben Anknüpfungen auch Akzentverschiebungen im Kontext von Erwähnung und Nicht-Erwähnung zu berücksichtigen, um spezifische Linien der Schwerpunktsetzung zu entdecken. Die Reihenfolge der Exegese der Jona-Perikopen ergibt sich aus ihrer kanonischen Anordnung in Bibel und Koran. Die Texte in ihrem kanonischen Rahmen mit dem Ziel der Anbahnung eines „Text- und Wirklichkeitsverständnis“66 bei den SchülerInnen stehen im Mittelpunkt und nicht die Entstehung oder literarischen Abhängigkeiten der Texte.67 Die Bedeutung des Textes ist nicht vom Autor festgelegt, stattdessen entwickelt sie sich dynamisch im Kontext der Rezeption.68 Trotz einer Wertschätzung der Texte als offene Verweisstrukturen liegt ein strukturalistisches, gemäßigtes Verständnis von Intertextualität zugrunde, weil es exegetisch operationalisierbar und bibeldidaktisch begründbar ist.69 Da es sich um die Herauskristallisierung einer christlichen Lektüreperspektive handelt, bildet die Bibel den Ausgangspunkt. Die Exegese der alttestamentlichen Jona-Erzählung stellt die Basis dar. Die darauffolgende Analyse der alttestamentlichen und neutestamentlichen Verbindungslinien nimmt jeweils Rückbezug auf die alttestamentliche Jona-Erzählung und auf alle Jona-Rezeptionen, die im Kanon vor der jeweiligen Perikope stehen. Die Betrachtung des Korans bezieht sich sowohl auf die alttestamentlichen als auch auf die neutestamentlichen Erkenntnisse, sodass sich die Komplexität stetig steigert. Die vorliegende Exegese gilt nicht als die eine ‚wahre‘ Auslegung. Sie versteht sich als wissenschaftlicher Prüfstein für die Lerngruppe im Spannungsfeld von Offenheit und Begrenztheit der Bibelauslegung und bietet Lektüremöglichkeiten an.70 Der biblische und koranische Kanon sind normativ voneinander unabhängig bei gleichzeitiger intertextueller Verknüpfung.71 Der jeweilige Kanon bietet ei-

64

65 66 67 68 69 70 71

Die Texte der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) 51997, der Septuaginta (Rahlfs) 1982, das Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland) 282016 sowie die weltweit zum Standard gewordene arabische Kairiner Koranausgabe (1924) bilden die Textgrundlage. Weitgehend wird die Verwendung von Begriffen auf Hebräisch, Griechisch oder Arabisch vermieden, um einen Lesefluss zu gewährleisten. An Stellen, wo es wichtig erscheint, mit der Originalsprache zu argumentieren, stehen die Begriffe gemäß den WiBiLex-Transliterationen (URL: bibelwissenschaft.de/wibilex/transliteration). Moyise 2002, S. 422. Reese 2007, S. 87. Steins 2007, S. 64. Moyise 2002, S. 418; Schiffner 2008, S. 40; Ternès 2016, S. 74. Kropač 2016, S. 67. Konrad 2020, S. 298; Steins 2007, S. 63. Mehr dazu in Abschnitt 4.1.5. Der Begriff „Kanon“ ist nicht üblich in der islamischen Theologie, dennoch gilt der Koran insofern als Kanon, als dass er die autoritative Schrift für

24

1. Teilhabe an Bibel und Koran

nen ersten literarischen Kommunikationsraum an. Darüber hinaus kann eine intertextuelle Lektüre einen zweiten literarischen Großtext der Jona-Texte in Bibel und Koran erschließen.72 Die Bibel ist für christliche Gläubige der vordergründige Kommunikationsraum und der Koran ist ein zweiter Diskursraum, der neue Lektüreperspektiven für ChristInnen eröffnet.

1.6

Christliche Lektüreperspektive im konfessionell gebundenen katholischen Religionsunterricht

Die Texte aus Bibel und Koran bieten einen reichhaltigen Textfundus und vielfältige Lernanlässe. Sowohl das Setting als auch die Lektüreperspektiven der LeserInnen haben Einfluss auf den Lerngegenstand „Jona in Koran und Bibel“. Um tiefgreifende Einblicke zu gewähren, liegt der Schwerpunkt auf einer christlichen Koranlektüre im katholischen Religionsunterricht. Erstens ist der katholische Religionsunterricht als Lernsetting ein bestimmender Faktor. Dieses Setting beeinflusst die Lektüre von Jona in Bibel und Koran, weil die Trias von „Lehrer, Lehre, Schüler“73 als die drei Bestimmungsfaktoren des katholischen Religionsunterrichts eine spezifische Lektüreperspektive anbietet. In den meisten deutschen Bundesländern wird der Religionsunterricht konfessionell erteilt und „[i]n der Religionspädagogik herrscht ein weitgehender Konsens über die Beibehaltung konfessioneller Bildungsangebote vor.“74 Deshalb scheint der konfessionell gebundene katholische Religionsunterricht ein sinnvolles Lernsetting für Überlegungen zu Bibel- und Koranlektüre zu sein. Konfessionalität bedeutet jedoch nicht „Selbstbeharrung, Abgrenzung oder Selbstisolierung“,75 stattdessen zielt sie auf „grundlegende Öffnung zu den anderen christlichen Konfessionen […] und den nichtchristlichen Religionen“76 ab. Die Bibel als Glaubenszeugnis stellt den Ort der Reflexion für diese Öffnung dar.77

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muslimische Gläubige ist und der (liturgische) Gebrauch Kanonisierungsprozesse durchlief. Gemeindebildung und Kanonisierung gingen wechselseitig einher (Graham 2005; Neuwirth 2002b, S. 246; Sinai 2009). Steins 1999, S. 17. Die deutschen Bischöfe 2009, Abschnitt 5.3. Gärtner 2016a, S. 46. Konfessionell-kooperative sowie interreligiöse Lernformate sind deshalb nicht ausgeschlossen, weil diese ebenfalls dem konfessionellen Paradigma entsprechend gelehrt werden können (Gärtner 2016a, S. 46. Vgl. auch Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 12). Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 1. Die deutschen Bischöfe 2009, Abschnitt 9.2. Die deutschen Bischöfe 2009, Abschnitt 4.4.

1.6 Christliche Lektüreperspektive im kath. Religionsunterricht

25

Zweitens nehme ich als katholische Autorin eine bestimmte Perspektive ein. Die Formulierung dieser Perspektive schafft Transparenz.78 Keine Lektüre ist unvoreingenommen oder unwissend, sie ist immer perspektivisch. Die Bibel ist Ausgangs- und Orientierungspunkt für eine Betrachtung des Korans. Ebenso befinden sich katholische ReligionslehrInnen „im Innenraum Bibel“79 und schauen als Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft nie neutral auf die Bibel. Eine standortfreie Lektüre des Korans ist unmöglich.80 Platow fordert eine Reflexion von Chancen und Herausforderungen für „einen möglichen didaktischen Einsatz (heiliger) Texte“81 im Religionsunterricht. Die vorliegende Arbeit erhebt den Anspruch, hermeneutisch-exegetische Leitlinien und Impulse für den katholischen Religionsunterricht anzubieten. Es ist zu untersuchen, inwiefern exegetische und hermeneutische Einblicke in die alttestamentliche Jona-Erzählung und ihre neutestamentlichen Rezeptionen eine christliche Lektüreperspektive auf die koranischen Jona-Rezeptionen eröffnen und inwiefern der Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“ Einfluss auf die Jona-Didaktik im katholischen Religionsunterricht hat. Eine Verortung der Lektüre von Bibel und Koran in interreligiösen Lernsettings erscheint sinnvoll, geht allerdings nicht vollends in dieser Perspektive auf. Interreligiöses Lernen ist bereits ein Ziel des Lerngegenstands Bibel und Koran. Der Aspekt des interreligiösen Lernens und die Entwicklung von konkretem Unterrichtsmaterial ist im Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht vordergründig anvisiert, stattdessen steht die Reflexion von Lernen an und mit Bibel und Koran im Mittelpunkt. Es handelt sich um eine christlich-biblische Sichtweise. Im Zentrum steht die Bibel als gemeinsame Schrift der christlichen Konfessionen. Zwar gibt es zwischen den christlichen Konfessionen Abweichungen bezüglich des Umfangs und der Länge der Bibel, doch das hat keinen Einfluss auf die biblische Jona-Lektüre. Das Jona-Buch ist sowohl Teil des katholischen als auch des evangelischen Kanons. Es steht als Schrift des Zwölfprophetenbuchs in beiden Kanon-Anordnungen am Ende des Alten Testaments vor den Büchern Micha bis Maleachi. Auch die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen stehen an gleicher Stelle in den beiden Kanon-Anordnungen. Neben Richtlinien und Dokumenten der katholischen Kirche werden Beiträge von katholischen und evangelischen sowie islamischen TheologInnen berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit erhebt den Anspruch, eine christliche Lektüreperspektive auf die Jona-Perikopen im Alten und Neuen Testament zu erschließen, um im Anschluss eine christliche Lektüreperspektive auf 78

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Schweitzer geht ebenfalls davon aus, dass es wichtig ist, die eigene (evangelische) Perspektive im Kontext von interreligiöser Bildung zu benennen (Schweitzer 2014, S. 40. Vgl. auch die katholischen Theologen Langenhorst und von Stosch, die ihre Perspektive auf den Koran bzw. im trialogischen Lernen (Langenhorst) als „christlich“ definieren (Langenhorst 2008, S. 293; von Stosch 2016a, S. 16). Steinkühler 2019. Langenhorst 2011, S. 116. Platow 2011, S. 180.

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1. Teilhabe an Bibel und Koran

den Koran zu eröffnen. Sie zielt nicht darauf ab, eine islamische Perspektive auf die Jona-Erzählung zu rekonstruieren, gar zu imitieren oder zu ersetzen. Die Herausarbeitung einer christlichen Lektüreperspektive ist offen für Ergänzungen, Bearbeitungen und Weiterführungen. Es ist wünschenswert, dass weitere Arbeiten dialogisch anknüpfen. Beispielsweise stellt eine islamische Bibellektüre eine fruchtbare Resonanz dar. Außerdem ist eine jüdische Response, die die Jona-Erzählung der Hebräischen Bibel als Ausgangspunkt setzt, dabei aber eine andere Lektüreperspektive einnimmt und andere Lernsettings vor Augen hat, eine Bereicherung. Zusätzliche christliche Betrachtungen, die unterschiedliche (kulturelle) Kontexte reflektieren, sind ertragreich, weil die vorliegende Erarbeitung kontextuell und kulturell bedingt ist.82 Die Erkenntnisse sind anschlussfähig für weitere Lernsettings. Kooperationen zwischen christlichen Konfessionen (z. B. KoKoRU), zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen (z. B. christlicher, islamischer, jüdischer Religionsunterricht sowie Ethik- oder Philosophieunterricht) oder multireligiöse Lerngruppen erfordern die Entwicklung eigener Learning-Outcomes, die unterschiedliche Lektüreperspektiven und Lernbedarfe gezielt berücksichtigen. Die Schwerpunktsetzung einer christlichen Bibel-Koranlektüre im katholischen Religionsunterricht kann dafür eine Basis darstellen.

82

(Inter-)Religiöses Lernen ist immer kulturell bedingt (Bernlochner 2012, S. 83).

2.

Jona in der zwei-einen Bibel

Als Ausgangspunkt für die Exegese der koranischen Jona-Texte aus christlicher Perspektive ist eine Analyse der biblischen Jona-Texte notwendig. Die meisten religionspädagogischen Beiträge zu „Jona in der Bibel“ legen den Schwerpunkt auf das alttestamentliche Jona-Buch. Diese Schwerpunktsetzung ist nachvollziehbar, jedoch umfasst die Bibel neben dem Jona-Buch mehrere Jona-Rezeptionen. Der Name „Jona“ kommt 29-mal in der christlichen Bibel vor, davon 20-mal im Alten Testament (2 Kön 14,25; Jona 1–4) und neunmal im Neuen Testament (Mt 12,39–42; Mt 16,4; Lk 11,29–32). Neben dem Namen „Jona“ gibt es noch weitere intertextuelle Motive, die das Jona-Buch mit anderen biblischen Texten vernetzen (z. B. der „große Fisch“ oder die Umkehr Ninives). Eine Betrachtung der elementaren Strukturen des alttestamentlichen Jona-Buches stellt die Basis dar,83 um die intertextuellen Verknüpfungslinien innerhalb der Bibel zu untersuchen und sie im Anschluss für eine christliche Perspektive auf die koranischen Jona-Texte fruchtbar zu machen.

2.1

Jona im Alten Testament „Das Wort des Herrn geschah an Jona“ (Jona 1,1)

Das alttestamentliche Jona-Buch beginnt mit Gottes Wort an Jona. Überall im Alten Testament, wo der Name „Jona“ vorkommt, richtet Gott sein Wort an den Propheten (Jona 1,1; 3,1; 2 Kön 14,25). Das alttestamentliche Jona-Buch hebt damit gleich zu Beginn der Erzählung die Kommunikation zwischen Gott und Jona als Hauptaspekt hervor, fächert im Anschluss auch andere, teils überraschende Momente auf.

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Die elementaren Strukturen gelten als erste von fünf Dimensionen des Tübinger Elementarisierungsmodells. Bei biblischen Texten handelt es sich dabei um eine exegetische Erschließung, die einerseits einen Zugang zum Text darstellt und andererseits die Aspekte gebündelt herausstellt, die für eine bestimmte Lerngruppe bedeutsam sind (Schweitzer 2018, S. 435).

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2.1 Jona im Alten Testament

2.1.1 Das Buch Jona im Alten Testament Jona 1 1 Und das Wort des Herrn geschah an Jona, dem Sohn des Amittai, folgendermaßen: 2 Steh auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und rufe über sie: Fürwahr, hinaufgestiegen ist ihre Bosheit vor mein Angesicht. 3 Und Jona stand auf, um nach Tarschisch zu fliehen, weg vom Angesicht des Herrn. Und er stieg hinab nach Jafo. Und er fand ein Schiff, das nach Tarschisch fuhr. Er gab seinen Fahrpreis, und er stieg hinab, in das Schiff hinein, um mit nach Tarschisch zu fahren, weg vom Angesicht des Herrn. 4 Und der Herr schleuderte einen großen Wind auf das Meer. Und ein großer Sturm war auf dem Meer. Und das Schiff drohte zu zerbrechen. 5 Und die Seeleute fürchteten sich, und sie schrien, ein jeder Mann zu seinem Gott. Und sie schleuderten die Geräte, die auf dem Schiff waren, ins Meer. Um es leicht zu machen, schleuderten sie die Geräte von sich weg. Jona war hinabgestiegen in den untersten Schiffsraum, er hatte sich hingelegt und war in einen tiefen Schlaf gesunken. 6 Und der Kapitän näherte sich ihm und er sagte zu ihm: Was schläfst du? Steh auf! Rufe zu deinem Gott, vielleicht wird der Gott an uns denken und wir werden nicht zugrunde gehen. 7 Und sie sagten, ein jeder Mann zu seinem Mitmenschen: Gehen wir, wir wollen Lose fallen lassen, und wir wollen erkennen, um wessentwillen uns diese Bosheit trifft. Und sie ließen Lose fallen, und das Los fiel auf Jona. 8 Und sie sagten zu ihm: Erzähl uns doch, um wessentwillen diese Bosheit über uns ist? Was ist deine Arbeit?

2.1.1 Das Buch Jona

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Und woher kommst du? Was ist dein Land? Und aus welchem Volk bist du? Und er sagte zu ihnen: Ich bin ein Hebräer. Den Herrn, den Gott der Himmel, fürchte ich, der das Meer und das trockene Land gemacht hat. Und die Männer fürchteten sich in großer Furcht, und sie sagten: Was hast du da getan? Ja, sie erkannten, dass er floh, weg vom Angesicht des Herrn, weil er es ihnen erzählte. Und sie sagten zu ihm: Was sollen wir mit dir machen, damit sich das Meer beruhigt für uns? Denn das Meer wogt und stürmt. Und er sagte zu ihnen: Nehmt mich hoch und schleudert mich ins Meer. Und das Meer wird sich beruhigen für euch, denn ich habe erkannt, dass um meinetwillen dieser große Sturm über euch gekommen ist. Und die Männer ruderten, um das Schiff zum trockenen Land zurückzubringen, aber sie vermochten es nicht. Ja, das Meer wogte und es stürmte über ihnen. Und sie riefen zum Herrn: Ach, Herr, wir wollen nicht zugrunde gehen wegen der Seele dieses Mannes und bringe nicht unschuldiges Blut über uns, denn du, Herr, hast getan, wie du es gewünscht hast. Und sie nahmen Jona hoch und sie schleuderten ihn ins Meer. Und das Meer ließ ab von seinem Wüten. Und die Männer fürchteten den Herrn in großer Furcht. Und sie opferten dem Herrn ein Opfer und sie gelobten Gelübde.

Jona 2 1 Und der Herr bestellte einen großen Fisch, um Jona zu verschlingen. Und Jona blieb im Inneren des Fisches drei Tage und drei Nächte. 2 Und Jona betete zum Herrn, seinem Gott, aus dem Inneren des Fisches heraus. 3 Und er sprach: Ich rief aus meiner Bedrängnis zum Herrn

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2.1 Jona im Alten Testament

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und er antwortete mir, aus der Mitte der Unterwelt rief ich um Hilfe, du hörtest meine Stimme. Du hast mich geworfen tief in das Herz der Meere und eine Strömung umfließt mich. Alle deine Wogen und Wellen, über mich gehen sie hinüber. Und ich, ich habe gesagt: Ich bin verstoßen worden, weg von der Nähe deiner Augen. Gewiss, ich werde wieder zum Tempel deines Heiligtums aufblicken. Wasser umgab mich bis an die Seele, die Urflut umschloss mich. Schilf wickelte sich um mein Haupt. Zu den Gründen der Berge bin ich hinabgestiegen, die Erde hat ihren Riegel hinter mir geschlossen auf ewige Zeit. Du lässt hinaufsteigen mein Leben, weg aus der Grube, Herr, mein Gott. Beim Dahinschwinden meiner Seele in mir, dachte ich an den Herrn. Und zu dir kam mein Gebet, zum Tempel deines Heiligtums. Diejenigen, die den Windhauch des Nichtigen verehren, deren Güte werden sie verlassen. Und ich, mit der Stimme des Dankes, ich werde dir opfern; was ich gelobt habe, das werde ich erfüllen. Beim Herrn ist die Rettung. Und der Herr sprach zum großen Fisch und er spie Jona ans trockene Land.

Jona 3 1 Und das Wort des Herrn geschah an Jona zum zweiten Mal, folgendermaßen: 2 Steh auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und rufe ihr die Botschaft zu, die ich zu dir spreche. 3 Und Jona stand auf, und er ging nach Ninive, dem Wort des Herrn gemäß, und Ninive war eine große Stadt vor Gott, drei Tagesreisen lang. 4 Und Jona begann in die Stadt hineinzugehen, eine Tagesreise lang. Und er rief und er sagte: Noch 40 Tage und Ninive ist umgedreht! 5 Und die Menschen von Ninive glaubten an Gott, und sie riefen ein Fasten aus, sie kleideten sich mit Säcken, jeder von den Großen bis zu den Kleinen.

2.1.1 Das Buch Jona 6

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Und das Wort erreichte den König Ninives, und er stand auf, weg von seinem Thron, und er legte seinen Mantel ab, weg von sich, und er bekleidete sich mit einem Sack und er setzte sich in die Asche. Und er ließ in Ninive ausrufen: Auf Beschluss des Königs und seiner Großen: Menschen und Vieh, Rinder und Schafe sollen gar nichts essen, sie sollen nicht weiden und kein Wasser trinken! Und Menschen und Vieh sollen mit Säcken bedeckt sein und sollen mit aller Kraft zu Gott rufen und sie sollen umkehren, jeder von seinem bösen Weg und von der Gewalttat, die an seinen Händen ist. Wer weiß, vielleicht wendet sich Gott und lässt es sich gereuen und kehrt um von der Glut seines Zornes, sodass wir nicht zugrunde gehen. Und Gott sah ihre Taten, dass sie von ihrem bösen Weg umkehrten. Und Gott ließ sich die Bosheit gereuen, die er ihnen zu tun angesagt hatte, und er tat es nicht.

Jona 4 1 Und Jona war böse mit großer Bosheit und er wurde zornig. 2 Und er betete zum Herrn und sagte: Ach, Herr! War das nicht meine Rede, als ich noch in meinem Land war? Deshalb floh ich schnell nach Tarschisch! Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich die Bosheit gereuen lässt. 3 Und nun, Herr, nimm doch meine Seele von mir! Denn es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe! 4 Und der Herr sprach: Ist es recht, dass du zornig bist? 5 Und Jona ging aus der Stadt hinaus und ließ sich östlich von der Stadt nieder. Und er machte sich dort eine Hütte;

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und er saß darunter im Schatten, um zu sehen, was mit der Stadt geschah. Da bestellte Gott, der Herr, einen Rizinus und ließ ihn über Jona emporwachsen, damit Schatten über seinem Kopf sei, ihn von seiner Bosheit zu befreien. Und Jona freute sich über den Rizinus mit großer Freude. Aber Gott bestellte einen Wurm am folgenden Tag, beim Aufgang der Morgenröte, der stach den Rizinus, sodass er verdorrte. Und es geschah, als die Sonne aufging, da bestellte Gott einen sengenden Ostwind und die Sonne stach Jona auf den Kopf, sodass er ermattet niedersank. Und er wünschte seiner Seele den Tod und sagte: Es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe! Und Gott sprach zu Jona: Ist es recht, dass du wegen des Rizinus zornig bist? Und er sagte: Mit Recht bin ich zornig bis zum Tod! Und der Herr sprach: Du hast Mitgefühl aufgrund des Rizinus, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand und als Sohn einer Nacht zugrunde ging. Und ich, ich sollte nicht Mitgefühl haben wegen Ninive, der großen Stadt, in der mehr als 120.000 Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und eine Menge Vieh?

Das Buch Jona gehört zu den Büchern der Prophetie und steht in der Hebräischen Bibel zwischen den Büchern Obadja und Micha an fünfter Stelle des Zwölfprophetenbuches bzw. in der griechischen Übersetzung an sechster Stelle des Dodekaprophetons zwischen Obadja und Nahum. Das Zwölfprophetenbuch versteht sich als Sammlung einzelner Schriften, die durch Wort- und Themenverknüpfungen eine spannungsreiche Bucheinheit bilden. Die verschiedenen Positionierungen des Jona-Buches in der Hebräischen Bibel und in der griechischen Übersetzung der Septuaginta sind auf unterschiedliche Anordnungsprinzipien

2.1.1 Das Buch Jona

33

zurückzuführen. Während die masoretische Fassung verstärkt auf eine Kombination aus zeitgeschichtlicher und räumlicher Anordnung sowie thematischer Verwandtschaft basiert, ist die griechische Übersetzung von der Abfolge von Nord- und Südreich-Prophetie geprägt.84 Die nur in Textfragmenten gefundene Qumranrolle 4QXIIa gilt als ältester materieller Textzeuge der biblischen JonaErzählung. Dort steht das Jona-Buch hinter dem Buch Maleachi am Schluss des Zwölfprophetenbuches.85 In allen Anordnungen kommt die besondere Rolle des Jona-Buches zum Ausdruck: In der masoretischen Fassung sowie in der Septuaginta als Herzstück und in 4QXIIa als Abschluss des Zwölfprophetenbuches. Wenn das Jona-Buch an letzter Stelle steht, endet das gesamte Zwölfprophetenbuch mit einer offenen Frage Gottes, die das Mitgefühl Gottes in den Vordergrund rückt.86 Diese Frage lädt LeserInnen und HörerInnen in den Text ein und regt durch seine Offenheit eine Reflexion und erneute Lektüre an. Als Schrift in der Mitte leitet diese Frage die Lektüre der an das Jona-Buch anknüpfenden Zwölfprophetenschriften (Micha, Nahum) ein. Themen des Jona-Buches kehren in den anderen Schriften wieder. Die Position des Jona-Buches in der Mitte des Zwölfprophetenbuches hebt die Zentralität der (theologischen) Botschaft der Jona-Erzählung hervor. Auch wenn die Abfolge der Zwölfprophetenbücher in der masoretischen Fassung eine gewisse Chronologie widerspiegelt, sind viele der Schriften, auch das Jona-Buch, zeitlich schwer zu verorten.87 Die Rede von den „Gebeine[n] der Zwölf Propheten“ (Sir 49,10) markiert den Terminus ante quem, wonach die Endredaktion des Zwölfprophetenbuches und zur Zeit der Abfassung von Sir (um 84

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Schart 2007. MT: Untergang Nordreich [Hos, Joel, Am], Völker und Israel [Obd, Jona], Untergang Judas [Mi, Nah, Hab, Zef], persische Herrschaft [Hag, Sach, Mal]; LXX: Hos, Am, Mi als geschlossener Block der Nordreichprophetie) hin zu Südreichprophetie [Joel, Obd, Jona, Nah, Hab, Zef, Hag, Sach, Mal]. Die Anordnung der Schriften in der LXX gibt eher Aufschluss über die Rezeption der biblischen Texte als über mögliche Intentionen der Autoren. Es gab vielfache Manuskripte der LXX, in denen die Anordnung der einzelnen Schriften nicht identisch war, erst die Kodices gaben eine Reihenfolge vor. Die hier verwendete kritische Ausgabe von Rahlfs beruht auf den Kodices Vaticanus (B), Alexandrinus (A) und Sinaiticus (S) (Ausloos und Lemmelijn 2020, S. 28–29; Kreuzer und Ziegert 2012). Gerhards 2008; Kim 2007, S. 517; Weimar 2017, S. 59. Dennoch ist wahrscheinlich, dass nicht die Qumranrolle 4QXIIa, sondern die masoretische Fassung die ursprüngliche Anordnung abbildet. Weimar und Wöhrle führen redaktionsgeschichtliche Argumente dafür an (Weimar 2017, S. 60–61; Wöhrle 2008, S. 410). Die Hypothese, dass das Jona-Buch 4QXIIa abschließt, ist nicht gesichert, weil es keine Qumran-Rolle gibt, auf der das gesamte XII steht (Ausloos 2014, S. 485). Ausloos und Guillaume gehen von einer ehemals flexiblen Anordnung der Zwölfprophetenschriften aus (Ausloos 2014, S. 485; Guillaume 2007, S. 10). Weimar 2017, S. 60. Das scheint auch ein Grund dafür zu sein, dass das Jona-Buch in den Anordnungen von MT, LXX und 4QXIIa an unterschiedlichen Stellen steht. Kim bezeichnet das Jona-Buch „chronologically mobile“ (Kim 2007, S. 515). Bei der Chronologie handelt es sich um die zeitgeschichtliche Einordnung der Erzählungen, nicht um die Zeit der Abfassung.

34

2.1 Jona im Alten Testament

175 v. Chr.) abgeschlossen sein müssen.88 Weniger sicher ist die Abgrenzung nach vorne.89 Die Datierungen des Jona-Buches reichen zurück bis in das 8. Jahrhundert v. Chr.90 Simon führt als Terminus post quem die eindeutige intertextuelle Abhängigkeit vom Jeremia Buch an und bestimmt das Jona-Buch damit als nachexilisch.91 Die Charakterisierung „Jona, dem Sohn des Amittai“ (Jona 1,1) verweist auf die Regierung des Nordreichkönigs Jerobeams II. im 8. Jhd. v. Chr. (2 Kön 14,25). Das läuft einer nachexilischen Datierung nicht entgegen, weil die Möglichkeit besteht, dass der Erzähler „in einer gewissen zeitlichen wie örtlichen Distanz zum Geschehen steh[t].“92 Die gegenwärtige Forschung geht aufgrund von sprachlichen, religions- und motivgeschichtlichen Hinweisen sowie intertextuellen Bezügen mehrheitlich von einer nachexilischen Entstehung im 3. Jhd. v. Chr. aus.93 Das Jona-Buch ist theologisch vielschichtig und gilt als „eine in Stufen gewachsene literarische Einheit.“94 Die meisten ExegetInnen gehen davon aus, dass der Psalm (Jona 2,2–10) eine sekundäre Einfügung darstellt.95 Er gilt vor allem in der älteren Jona-Forschung als nachträglich eingefügt, weil ein Dankpsalm an dieser Stelle der Erzählung unpassend erscheint und Jona sich als frommer und vorbildlicher Beter in Jona 2 von der Jona-Darstellung in den Kapiteln eins, drei und vier unterscheidet.96 Cohn, Gese, Gerhards und Magonet plädieren dafür, dass der Psalm zum Grundbestand des Jona-Buches gehört.97 Gegen eine nachträgliche Einfügung spricht die sprachliche Verknüpfung von Jona 2 mit dem

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Cohn und Sperling 2007a, S. 389; Gerhards 2006, S. 62; Simon 1994, S. 67. Das Buch Jesus Sirach ist um 175 v. Chr. datiert, weil die einschneidenden Ereignisse der Regierungszeit unter dem Seleukidenherrscher Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) nicht vorkommen (Gerhards 2006, S. 63; Reiterer 2006; Schart 2007; Ueberschaer 2006). Gerhards 2006, S. 62. Cohn und Sperling 2007a, S. 389; Weber 2016, S. 30–31. Simon 1994, S. 64. Weber 2016, S. 31. Gerhards 2006, S. 55 u. 63; Weber 2016, S. 31; Weimar 2017, S. 65–66; Zenger 2012a, S. 660. Levin 2013, S. 277. Bührer, S. 29 u. 48; Gerhards 2006, S. 53; Simon 1994, S. 55; Steffen 1994, S. 6. Während Wöhrle für eine Grundschicht (Jona 1,1–5a.7. 8aαb.9.11–13.15; 2,1.11; 3,1–5; 4,5.6) mit einer Überarbeitung („Gnadenschicht“ Jona 1,5b.6.8αβ.10abα.14.16; 2,2–10; 3,6–10; 4,1–4.6–10– 11) argumentiert, geht Weimar davon aus, dass das Jona-Buch „ein mehrschichtiges literarisches Gebilde“ (Weimar 2017, S. 55) ist, das aus einer Grunderzählung und zwei Überarbeitungsschichten besteht: „einer älteren, die sich neben einer schärferen Profilierung der Handlungsträger insbesondere durch ein anderes, offeneres Verständnis der Gerichtsbotschaft an Ninive im Sinne einer Mahnung zur Umkehr auszeichnet, sowie einer jüngeren, deren Interesse sich nicht zuletzt auf eine Neuprofilierung und ein Neuverständnis vor allem der Figur Jona richtet.“ (Weimar 2017, S. 55) Weimar 2017, S. 52. Gerhards 2006, S. 26; Gese 1991, S. 137; Magonet 1983, S. 54.

2.1.1.1 Das Buch Jona: ein literarisches Meisterwerk

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restlichen Jona-Buch.98 Die Brüche in der Jona-Erzählung entsprechen „dem Darstellungsprinzip der Erzählung“99 und weisen nicht auf unterschiedliche Textschichten hin, denn das Jona-Buch ist von einem Zusammenspiel aus Pro- und Analepsen, Brüchen, Verbindungslinien und Leerstellen geprägt.

2.1.1.1 Das Buch Jona: ein literarisches Meisterwerk Das Jona-Buch gehört zu den beliebtesten, aber auch zu den meist unterschätzten Büchern der Bibel. Es gilt als „Kindergeschichte“ und kommt häufig in (christlichen) Kinderbibeln vor, weil die märchenhaften Elemente der Erzählung, insbesondere Jonas Aufenthalt im „großen Fisch“, eine Faszination für Kinder darstellen. Doch das Jona-Buch ist vielmehr: ein „literarisches Kunstwerk“,100 „ein Meisterwerk der Erzählkunst“,101 ein „mit aller Kunstfertigkeit gestaltetes Meisterwerk“102 mit einer tiefgreifenden theologischen Botschaft über Gottes Barmherzigkeit und Umkehr. Das Jona-Buch ist eine bewegte und bewegende Lehr-Erzählung. Die gesamte Erzählung ist von einer enormen Dynamik geprägt: Flucht, (überraschende) Wendungen, Charakterentwicklungen, Umwälzung, Umkehr, Blicke voraus sowie zurück. Es gibt unterschiedliche Versuche, die Gattung der Jona-Erzählung zu definieren: eine theologische Prophetenerzählung,103 eine Parabel mit satirischen und fantastischen Zügen,104 eine Kurzgeschichte, die der klassischen Satire ähnelt,105 „eine Novelle mit didaktischem Interesse“,106 „eine äußerst kunstvoll und überlegt gestaltete ‚Lehrdichtung‘ mit märchenhaft-fiktiven, symbolisch-typisierenden und humorvoll ironischen Zügen“,107 eine didaktische Erzählung mit Märchenmotiven,108 eine „didaktische Novelle“109 oder auch eine „Lehr-Erzählung, die in narrativer Gestalt theologische und ethische Probleme darstellt und zu lösen versucht.“110 Doch der Versuch einer eindeutigen Gattungsbestimmung erscheint fragwürdig, weil die Jona-Erzählung „unterschiedliche Gattungselemente aufnimmt und in sich vereint.“111 Als Lehr-Erzählung über einen Propheten unterscheidet sich das Jona-Buch von anderen biblischen Prophetenbüchern, 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111

Cohn und Sperling 2007b, S. 388. Gerhards 2006, S. 55. Zenger 2012a, S. 661. Weber 2016, S. 22. Weimar 2017, S. 39. Simon 1994, S. 34; Zenger 2012a, S. 656. Alter 2011, S. 37; Steffen 1994, S. 4. Ackerman 1997, S. 234. Jeremias 2002, S. 98. Adam und Lachmann 2018, S. 200. Schellenberg 2015, S. 366. Gerhards 2008. Levin 2013, S. 276. Weimar 2017, S. 39.

36

2.1 Jona im Alten Testament

weil dort das Wort, dass Gott durch einen Propheten spricht, dominiert.112 Im Jona-Buch geschieht das Wort Gottes an Jona (Jona 1,1) und durch die Jona-Erzählung auch an den LeserInnen und HörerInnen. Nicht nur das Wort Gottes, sondern auch „[d]ie erzählenden Passagen [der Bibel] stehen im Dienst der Wortverkündigung.“113 Das Wundervolle, Fantastische und Märchenhafte ereignet sich auf der Ebene der Erzählung. Als literarische Prophetie verkündet die JonaErzählung das Wort Gottes,114 wobei die theologische Lehre über Gottes Barmherzigkeit (Jona 4,2) und nicht die kurze Prophetenrede Jonas „Noch 40 Tage und Ninive ist umgedreht!“ (Jona 3,4) im Mittelpunkt steht. Die märchenhaften Züge der Erzählung betonen, dass es sich um theologische Fiktionalität handelt: Weltmodellierung anstelle von Weltabbildung steht im Vordergrund.115 Der Text bietet Impulse, die Welt mit und von Gott her zu deuten. Die reale, historische Ebene steht im Hintergrund, um die theologische Dimension der Erzählung hervorzuheben.116 Außer Jona trägt keine Erzählfigur einen Namen, die Orte Ninive, Jafo und Tarschisch sind weder geografische noch historische Angaben, stattdessen haben sie einen symbolisch-literarischen Charakter.117 Die Zeit- und Zahlenangaben haben als hyperbolische Stilfiguren ebenfalls Symbolcharakter (drei, 40, 120.000). Eine Überlebensdauer Jonas von drei Tagen im Fisch ist nicht naturwissenschaftlich zu erklären, stattdessen legt eine intertextuelle Betrachtung des Merismus „drei Tage und drei Nächte“ (1 Sam 30,12; Est 4,16) den symbolischen Charakter der Zeitangabe frei. Es geht immer um Gottes Rettung aus der Not. Die Zahlenangaben in Jona spiegeln keine Tatsachen wider und zielen nicht auf historische Verortung. Politische und religiöse Details fehlen im Buch Jona.118 Das Jona-Buch setzt in V. 1 ohne eine Exposition und damit ohne eine Verankerung der „Handlung in Raum, Zeit und näheren äußeren Umständen“119 ein. Auch die Stellung im Kanon deutet darauf hin, dass das Jona-Buch prophetische Literatur und nicht Historiografie ist: Obwohl das Jona-Buch sich von den anderen Schriften im Zwölfprophetenbuch unterscheidet und als Prophetenerzählung mehr den Elija- und Elischa-Erzählungen ähnelt, ließe sich das Jona-Buch mit dem unbekannten König Ninives nicht in die Geschichte Israels in den Königsbüchern einordnen.120 Die Erzählung zielt auf die Vermittlung der theologischen Botschaft von Gottes Barmherzigkeit ab. Trotz aller literarischer Komplexität ist das Jona-Buch wegen seiner klaren Struktur, dem überschaubaren Umfang und dem Leitwörterstil eine eingängige 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Weimar 2017, S. 35. Zenger 2012b, S. 515. Zenger 2012a, S. 657. Weber 2016, S. 15. Simon 1994, S. 31. Simon 1994, S. 31. Simon 1994, S. 31; Weber 2016, S. 86. Simon 1994, S. 73. Simon 1994, S. 25; Steffen 1994, S. 4.

2.1.1.1 Das Buch Jona: ein literarisches Meisterwerk

37

Erzählung. Der zweigliedrige Aufbau mit fast identischem Wortlaut (Jona 1,1–3; 3,1–3) teilt das Jona-Buch in zwei symmetrische Hälften (Jona 1–2; 3–4). LeserInnen können aufgrund der symmetrischen Struktur inhaltliche Verbindungslinien erkennen.121 Gottes Auftrag und Jonas Flucht (Jona 1,1–3) verlaufen parallel zur erneuten Beauftragung und Erfüllung des Prophetenauftrags (Jona 3,1–3). Vor allem in Jona 1 und 3 doppeln sich Begriffe und Wendungen,122 sodass die beiden Kapitel identisch einsetzen, doch einerseits in die Flucht Jonas (Jona 1,3) und andererseits in die Ausführung des göttlichen Auftrags (Jona 3,3) münden. Das hebt den Kontrast der beiden Handlungen Jonas vor. Die Szene über den Seesturm Gottes, den Glauben der Schiffsleute sowie Jonas Distanzierung (Jona 1,4– 16) sind ein symmetrisches Gegenüber zu den göttlichen Gerichtsworten, Ninives Glauben und Jonas erneuter Distanzierung (Jona 3,4–4,4). Jonas Isolation von anderen Menschen bei gleichzeitig intensiver Kommunikation mit Gott findet zunächst im Fisch (Jona 2) und dann „östlich von der Stadt“ (Jona 4,5–11) statt. In der Mitte des Jona-Buches, am Ende des Psalms, steht in Form einer kurzen Bekenntnisformel Jonas ein theologischer Hauptaspekt der Erzählung: „Beim Herrn ist die Rettung.“ (Jona 2,10) Gottes Rettung hat unterschiedliche Facetten und Adressaten im Jona-Buch: das Ende des Sturms als Rettung der Seeleute, der Fisch als Rettung Jonas, Gottes Umkehr von seiner Gerichtsandrohung als Rettung Ninives, der Rizinusstrauch als (rettende) Entgegnung auf Jonas Todeswunsch. Der Aspekt der Gnade und Barmherzigkeit Gottes stellt das bedeutendste Moment der Erzählung dar. Neben der symmetrischen Struktur verstärken Leitwörter den Eindruck einer in sich verwobenen Erzähleinheit. Die häufigen Nennungen Gottes (Herr 26-mal, Gott 16-mal) und des Namens „Jona“ (18-mal) verdeutlichen, dass Gott als Hauptaktant der Erzählung mit Jona kommuniziert. Beide Erzählfiguren kommen in allen vier Kapiteln vor. Gott „bestellt“ (hebr. mnh Piel wajəman) den Fisch, den Rizinusstrauch, den Wurm und den Ostwind und wirkt dadurch aktiv und kontinuierlich eingreifend. Obwohl Jonas Schweigen zu Beginn Passivität suggeriert, handelt er, indem er „flieht“ (Jona 1,2.3; 4,2), „weg vom Angesicht des Herrn.“ (Jona 1,3.3) Er flieht nach Tarschisch und damit einerseits in den fernsten Westen und anderseits in die Gottesferne „hinab“. Das Leitwort „hinabsteigen“ (hebr. jrd Qal jārad Jona 1,3.3.5; 2,7) hebt Jonas Bewegung „als Ausdruck für die vertikale Flucht des Propheten vor seinem in den Höhen wohnenden Gott“123 hervor. Er steigt bis in die Unterwelt hinab, bis „zu den Gründen der Berge“ (Jona 2,7). In diesem Vers kommt das Verb „hinabsteigen“ (hebr. jārad) zum letzten Mal vor, wobei der Abstieg in die Unterwelt das absolute „Sich-Entfernen vom Heilsbereich Gottes“124 versinnbildlicht. Auch die ähnlich klingenden Wörter 121 122

123 124

Simon 1994, S. 48. „Und das Wort des Herrn geschah an Jona“ (Jona 1,1; 3,1); „folgendermaßen: Steh auf, geh nach Ninive, der großen Stadt“ (Jona 1,2; 3,2); „Und Jona stand auf“ (Jona 1,3; 3,3). Simon 1994, S. 77. Weber 2016, S. 77.

38

2.1 Jona im Alten Testament

„hinlegen“ (hebr. waîišəkav) und „in tiefen Schlaf sinken“ (hebr. wîerādam) sind Teil von Jonas Flucht (Jona, 1,5). Dieser Schlaf gilt als todesähnlich,125 was ein weiteres, wiederkehrendes Wortfeld ist, das um die Erzählfigur Jona kreist („Tod“ hebr. māwæt Jona 4,3.9 „Seele“ hebr. næfæš Jona 1,14; 2,6.8; 4,3.8).126 Bevor Jona hinabsteigt, steht er zunächst auf (hebr. qûm Qal wajāqām Jona 1,3). Diese entgegengesetzte Bewegung hebt das ambivalente Verhalten Jonas hervor. Sowohl Gott als auch der Kapitän sagen zu Jona: „Steh auf!“ (Jona 1,2.6) Durch wiederkehrende Ausdrücke stehen Handlungen Jonas, aber auch Gottes und der anderen Figuren in Beziehung zueinander. Nicht nur Gott „schleudert“ (hebr. ṭûl Hifal) einen großen Sturm auf das Meer (Jona 1,4), auch die Seeleute „schleudern“ Geräte (Jona 1,5) und Jona (Jona 1,12.15) vom Schiff als Reaktion auf Gottes Sturm. Gott und der Kapitän fordern Jona auf, zu „rufen“ (hebr. qr‘ Qal). Gott will, dass Jona zu Ninive ruft (Jona 1,2; 3,2) und der Kapitän verlangt von Jona, zu Gott zu rufen (Jona 1,6). Neben Jona (Jona 2,3; 3,4) „rufen“ die Seeleute zu Gott (Jona 1,14) und die Leute von Ninive „rufen“ ein Fasten aus (Jona 3,5). Der König von fordert von Ninive: „Und Menschen und Vieh […] sollen mit aller Kraft zu Gott rufen“ (Jona 3,8). Neben der „großen“ (hebr. gādôl) Stadt Ninive (Jona 1,2; 3,2.3; 4,11), in der von „groß“ bis klein jeder am Fasten teilnimmt (Jona 3,5), auch der König und seine „Großen“ (Jona 3,7), sind auch der Fisch (Jona 2,1), der Sturm (Jona 1,4.4.12), die Furcht der Seeleute (Jona 1,10.16), Jonas Freude (Jona 4,6), aber auch seine Bosheit (Jona 4,1) „groß“. Sowohl Jona ist „böse“ (hebr. rā‘, rā‘āh und r‘‘ Jona 4,1.6) als auch die Stadt Ninive (Jona 1,2), die dann von ihren „bösen Wegen“ (Jona 3,8.10) umkehrt. Darüber hinaus nehmen die Seeleute den Sturm Gottes als „Bosheit“ (Jona 1,7.8) wahr und Jona stellt fest, dass Gott sich seine „Bosheit“ gereuen lässt (Jona 4,2). In Jona 1,10.16; 4,1 verstärkt die Stilfigur der Figura etymologica die Aussagen über die Furcht der Seeleute, ihren Eifer im Gottesglauben und Jonas Bosheit über Gottes Reue. Und auch der growing phrase unterstreicht die Aussage über die Furcht der Seeleute, indem die Verse stetig wachsen.127 Dieser growing phrase ist als ein „Prozess der Wandlung von einer Furcht aus existentieller Lebensbedrohung zu einer unmittelbar auf JHWH sich richtende Gottesfurcht“128 ein weiteres Strukturmerkmal mit theologischer Aussagekraft. Der andere growing phrase im Jona-Buch dient zur Beschreibung Ninives, die sich dadurch immer 125 126

127

128

Weimar 2017, S. 139. Die „Seele“ hebr. næfæš gilt im Alten Testament als Sitz des Lebens. Die Übersetzung von hebr. næfæš mit „Kehle“ ist auch möglich (Kügler 2016b, S. 390). In Jona 2,6 ist auch die Übersetzung „Wasser umgab mich bis an die Kehle“ denkbar, doch die kontinuierliche Übersetzung mit „Seele“ hebt den hebräischen Leitwortstil in der deutschen Übersetzung hervor. „Und die Seeleute fürchteten sich“ (Jona 1,5) < „Und die Männer fürchteten sich in großer Furcht“ (Jona 1,10) „Und die Männer fürchteten den Herrn in großer Furcht“ (Jona 1,16). Weimar 2017, S. 187. Magonet hat den Begriff growing phrase für die Analyse dieses Stilmittels im Jona-Buch geprägt (Magonet 1983, S. 40–44).

2.1.1.1 Das Buch Jona: ein literarisches Meisterwerk

39

mehr konkretisiert.129 Die LeserInnen erfahren zunehmend mehr über Ninive und vor allem über die Gottesbeziehung der Stadt. So bereitet das Stilmittel die LeserInnen allmählich auf das Mitgefühl Gottes für Ninive im letzten Vers des Buches vor. Die Gottesrede rahmt das Jona-Buch (Jona 1,2; 4–10–11). Sowohl zu Beginn als auch am Ende spricht Gott ein Wort über „Ninive, [die] große[…] Stadt“ (Jona 1,2; 4,10) aus. Jedoch erfüllt Ninive entgegengesetzte Funktionen: „In der ersten Rede steht [der Begriff „Ninive“] im Zeichen des göttlichen Gerichts und begründet die Größe der Sündhaftigkeit der Stadt. Dagegen dient der gleiche Ausdruck in der letzten Rede der göttlichen Gnade, da er zum Grund für das Wirken von Gottes Erbarmen wird, das über seine vielen Geschöpfe ergeht.“130 Die intertextuellen Verknüpfungen dienen der Gegenüberstellung. Die Worte Gottes (Jona 1,2; 3,2; 4,4.9–11) sind Grundgerüst und Rahmung der Jona-Erzählung. Sie fordern zum Vergleich heraus und betonen Gottes aktive Rolle. Das Jona-Buch ist eine „Wort-Gottes-Geschichte“.131 Gott ist eine aktive und dynamische Erzählfigur: Er ist „von Anfang bis Ende der eigentliche Akteur des Geschehens“.132 Er kommuniziert vor allem in Form von Fragen mit Jona. Gottes offene Frage am Ende schließt die Erzählung nicht ab. Stattdessen lädt sie LeserInnen zu weiterführenden Reflexionen und Sinnsuche ein. Die Offenheit der Erzählung trägt zum Spannungsaufbau bei. Jonas Gedanken und Handlungsmotive sind unbekannt und stellen ein überraschendes Moment in Jona 4 dar: „[Z]um beredeten Schweigen des Protagonisten, als Bestandteil der Handlung, [kommt] noch das Schweigen des Erzählers hinzu[…], als Bestandteil der Erzähltechnik.“133 Die These, dass das Jona-Buch gerade aufgrund eines Zusammenspiels von Pro- und Analepsen, Brüchen, Verbindungslinien und Leerstellen funktioniert, zeigt sich im letzten Kapitel besonders prägnant. Prolepsen (Vorwegnahmen) bieten Deutungsfolien, die sich von Erwartungen der LeserInnen unterscheiden können: Jona spricht einen Dankpsalm. Das schlägt eine Deutung des Fisches als Rettungsraum vor, während LeserInnen aufgrund der vorangegangenen Lektüre die Notsituation aus Jona 1 einspielen. Das „Schweigen“ regt dazu an, die Leerstellen während des Leseprozesses zu füllen und mit Hilfe von Analepsen (Rückblenden/Wiederaufnahmen) zu reflektieren. Jona selbst greift seine Flucht (Jona 1) in Kapitel 4 wieder auf, indem er das Motiv seiner Flucht zu diesem späten Zeitpunkt ergänzt und damit die Leerstelle aus Jona 1 füllt. Jonas Fluchtmotiv (Jona 4,2) überrascht: Jona nennt als Grund für seine 129

130 131 132 133

„Ninive, der großen Stadt“ (Jona 3,2) < „Ninive war eine große Stadt vor Gott, drei Tagesreisen lang“ (Jona 3,3) < „Und ich, ich sollte nicht Mitgefühl haben wegen Ninive, der großen Stadt, in der mehr als 120.000 Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und eine Menge Vieh?“ (Jona 4,11). Simon 1994, S. 139. Lux 1994, S. 90; Weimar 2017, S. 281. Zenger 2012a, S. 657. Simon 1994, S. 72.

40

2.1 Jona im Alten Testament

Flucht die Gnade und Barmherzigkeit Gottes, von der er von Beginn an wusste, womit er einen „Vorsprung“ vor den LeserInnen der Erzählung hat. So stößt die Jona-Erzählung eine fortwährende Reflexion bei den LeserInnen an, die durch die Jona-Erzählung etwas über den Propheten Jona, aber vor allem über Gott und sich selbst lernen.

2.1.1.2 Elementare Struktur: Gottes Gerichtsankündigung und Gnade Gottes Gnade und Gericht sind in der Bibel miteinander verbunden. Das Verhältnis von Gottes Gerichtsankündigung und seiner gnadenvollen Zuwendung im Spannungsfeld von Treue und Reue, von statischer und dynamischer Gerechtigkeit, ist das theologische Moment der Jona-Erzählung.

Gnade und Barmherzigkeit Das Buch Jona setzt mit dem Wort Gottes an Jona ein, über die große Stadt Ninive auszurufen, dass „ihre Bosheit vor [Gottes] Angesicht [hinaufgestiegen ist]“ (Jona 1,2). Der Eindruck, dass es sich um Gerichtsprophetie handelt, verschärft sich bei den Worten Jonas zu Ninive: „Noch 40 Tage und Ninive ist umgedreht!“ (Jona 3,4) Erst im letzten Kapitel ist explizit die Rede von Gottes Gnade und Barmherzigkeit (Jona 4,2), dennoch dreht sich die gesamte Jona-Erzählung um dieses theologische Moment. Es wirkt einerseits wie ein Fazit der Erzählung, das deshalb erst gegen Ende des Jona-Buches steht. Andererseits steht es zugleich im Herzen der Erzählung, da es Jonas Motiv und Antrieb seiner Handlungen ist. Im Gegensatz zu den LeserInnen weiß Jona schon zu Beginn um Gottes Barmherzigkeit und Gnade: „Ach, Herr! War das nicht meine Rede, als ich noch in meinem Land war? Deshalb floh ich schnell nach Tarschisch! Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich die Bosheit gereuen lässt.“ (Jona 4,2) Hier ergibt sich eine Spannung. Jona weiß von Anfang an, dass Gott gnädig und barmherzig ist, auch wenn er es nicht offenlegt. Die „Rede“ Jonas ist den LeserInnen nicht bekannt und bleibt zu Beginn der Erzählung ungehört. Die LeserInnen erfahren zunehmend mehr über Jona und Gott. Der Eindruck eines Gottes, der das Gericht über Ninive spricht, wandelt sich und das Bild eines barmherzigen und gnädigen Gottes tritt in den Vordergrund. Der Text führt LeserInnen „Schritt für Schritt so immer tiefer in das tiefste Geheimnis Gottes hinein[…], dessen eigentliches Wort Barmherzigkeit, ja Menschlichkeit heißt, nicht Gericht.“134 Das regt zur Re-Lektüre und Reflexion an: Die Erzählung unter dem Vorzeichen eines barmherzigen Gottes erneut zu lesen.

134

Weimar 2017, S. 462.

2.1.1.2 Elementare Struktur: Gottes Gerichtsankündigung und Gnade

41

Bei den Worten Jonas handelt es sich um eine formelhafte Aneinanderreihung von Gottesattributen, die mehrfach in fast identischem Wortlaut im Alten Testament stehen (‚Gnadenformel‘). Im Jona-Buch hadert der Prophet mit den ansonsten in der Bibel positiv wahrgenommenen Eigenschaften Gottes: Sie sind der Grund für Jonas Flucht. Die drei Begriffe „Gnade“ (hebr. chanûn), „Barmherzigkeit“ (hebr. rachûm) und „Güte“ (hebr. chæsæd) in Jona 4,2 beschreiben das innerste Wesen Gottes und ein gemeinschaftliches Verhältnis Gottes zu den Menschen.135 Sie sind Ausdruck einer heilsamen Zuwendung Gottes als eine unverdiente, freie Gabe Gottes.136 Gottes „Gnade“ (hebr. chanûn) bedeutet für Menschen Leben und Rettung (Neh 9,31; Ps 86,15–16; 116). Gott hält den Bund mit seinem Volk aus „Barmherzigkeit“ (hebr. rachûm Dtn 4,31). Menschen „loben“ und „preisen“ Gott für seine „Gnade“, „Barmherzigkeit“ (hebr. chanûn/rachûm in Ps 103; 111; 112; 145) und „Güte“ (hebr. chæsæd Jes 63,7). Jonas Worte stechen hervor, da er sich in Zorn äußert und Gottes Barmherzigkeit nicht lobt, ohne jedoch konkrete Gründe zu nennen. Dafür gibt es verschiedene Auslegungsmöglichkeiten. Weimar, Döhling und Gerhards gehen davon aus, dass Jona insbesondere dadurch herausgefordert ist, dass Gottes Reue über seiner Treue steht.137 Jona distanziert sich von Gottes Reue: Der Wechsel von der direkten Ansprache „dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist“ (Jona 4,2) zur Rede über Gott „einer, der sich die Bosheit gereuen lässt“ (Jona 4,2) hebt das hervor. Gott lässt „Gnade vor Recht“138 walten und Jona protestiert „gegen den von allen und jedem durch Umkehr zu Gnade und Reue beeinflußbaren Gott.“139 Spieckermann hebt dabei den Aspekt der Universalität der Gnade Gottes („von allen und jedem“) als Anstoß für Jonas Flucht hervor. Auch für Jeremias geht es um die „Ausweitung des Theologumenons auf die Heiden“.140 Kaiser betont Jonas Unwillen, den Heiden Gottes Barmherzigkeit zu gönnen.141 Die Argumentation, dass die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden mit Jona als Vertreter eines partikularen Gottesglaubens im Zentrum steht, ist ein Auslegungsschwerpunkt, der in der christlichen Theologie zu antijudaistischen Auslegungen führte und abzuweisen ist.142 Darüber hinaus vertraten viele ExegetInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Meinung, dass Jona zornig über Gottes 135

136 137

138 139 140

141 142

Janowski 2016a, S. 148, 2016b, S. 237; Kampling 2016, S. 112; Mark 2013, S. 208; Vanoni 1995, S. 74; Wagner 2019. Janowski 2016a, S. 148. Mehr dazu in Abschnitt 2.1.1.2.2. Döhling 2009, S. 528; Gerhards 2006, S. 199; Weimar 2017, S. 269. Spieckermann 1990, S. 12. Spieckermann 1990, S. 13. Jeremias 2002, S. 98. Jeremias rückt dabei die Selbstbeherrschung Gottes in den Mittelpunkt. Darunter fallen Gottes Gnade und Reue: „Nicht um sachliche Neufassung des Theologumenons geht es dem Buch Jona, sondern allein um den neuen Adressaten: Jahwes Verschonungswille gilt auch den Heiden.“ (Jeremias 2002, S. 108) Kaiser 1973, S. 102. Zenger 1996, S. 48–49.

42

2.1 Jona im Alten Testament

Barmherzigkeit sei, weil seine Verkündigung von Ninives Untergangs aufgrund von Gottes Reue nicht eintrifft und Jonas Unheilsbotschaft dadurch zur Falschprophetie wird.143 Die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten zeigen, dass der Text eine bewusste Leerstelle setzt und nicht den Grund für Jonas „Zorn“ in den Mittelpunkt rückt, sondern die Wirkung von Gottes Barmherzigkeit. Seine Barmherzigkeit und Gnade lösen sowohl Freude als auch Zorn bei Menschen aus. Im Gegensatz zu Gott ist Jona häufig „zornig“ (hebr. chrh Qal chārāh Jona 4,1.4.9.9). In anderen alttestamentlichen Texten ist die Rede von Gottes Zorn (hebr. chrh Qal Ex 4,14; 32,11; Jes 5,25), doch nur sehr wenige Menschen erzürnen gegen Gott. Neben Jona sind es nur Kain (hebr. chrh Qal Gen 4,5) und David (hebr. chrh Qal 2 Sam 6,8). Kain ist zornig, nachdem Gott nur auf Abels Gaben schaut, aber nicht auf seine Gaben (Gen 4,4–5). David ist zornig und hat Angst vor Gott, da Gott Usa aus Zorn erschlägt, nachdem Usa die Lade Gottes beim Transport versehentlich anfasst (2 Sam 6,3–9). Der Begriff „zornig sein/sich erzürnen“ (hebr. chrh) kommt wesentlich seltener im Alten Testament vor als die synonym verwendeten Begriffe ’nf/’af.144 Bei beiden Begriffen handelt es sich um eine körperliche Erregung: ’nf bzw. ’af (= durch die Nase schnauben) und chrh (= heiß werden).145 chrh gilt als eine intensive Beschreibung von „Zorn“.146 In der Rizinusepisode erscheint die Rede vom „heißen Zorn“ (hebr. chrh) Jonas passend, weil der „sengende[…] Ostwind und die Sonne“ (Jona 4,8) Jona plagen. Zorn und Barmherzigkeit sind kontrastive Eigenschaften Gottes in der Bibel.147 Die Gnadenformel betont die Barmherzigkeit, Gnade und Güte und stellt sie über seinen Zorn.148 Das hebt auch die Jona-Erzählung insgesamt hervor, da Gott weder über Jonas Flucht noch über seinen Zorn erzürnt. Aus Jonas Perspektive reut es Gott, weil er barmherzig und gnädig ist. Gott selbst legt dar, dass ihn „Mitgefühl“ (hebr. chûs Jona 4,11) antreibt. Als Selbstaussage Gottes und Schlusswort kommt diesem Aspekt eine hohe Relevanz zu. Die drei Begriffe „Gnade“ (hebr. chanûn), „Güte“ (hebr. chæsæd) und „Mitgefühl“ (hebr. chûs Qal chāsāh) fangen allesamt mit demselben Buchstaben an, sodass die Aussage Gottes in Jona 4,11 phonetisch auf Jonas Aussage zurückweist. Gottes Reue und Gnade hängen eng mit Gottes Mitgefühl zusammen und bilden keine Kontraste.149 Gottes Rede über sein Mitgefühl vertieft das Verständnis seiner Reue: Die Objekte von Gottes Mitgefühl sind „Ninive, die große Stadt“ und „eine Menge Vieh“, die in Jona 3 als aktive Subjekte der Umkehr hervorstechen.150 Die 143 144 145 146 147 148 149 150

Gerhards 2006, S. 110–112. Freedman und Lundbom 1982, S. 182. Wälchli 2014. Freedman und Lundbom 1982, S. 182. Wälchli 2014. Groß 2013, S. 477. Döhling 2009, S. 465. Döhling 2009, S. 479.

2.1.1.2 Elementare Struktur: Gottes Gerichtsankündigung und Gnade

43

semantischen Verbindungen heben hervor, dass Gottes Reue und sein Mitgefühl zusammenhängen und sich ergänzen: Gottes Reue als Außenperspektive auf der Erzählebene (Jona 3) verhält sich komplementär zur Selbstaussage Gottes als Darstellung aus der Innenperspektive (Jona 4). Bei hebr. chûs geht es nicht primär um „Mitgefühl für Leid und Schmerz, sondern [um die] Würdigung und Wertschätzung für die Existenz“151 anderer Geschöpfe. Der Begriff „Mitgefühl“ kommt selten im Alten Testament vor. Fast überall sind es entweder Selbstaussagen Gottes, in denen es heißt, dass er (Israel) „kein Mitgefühl zeigt“ (Jer 13,14; Ez 5,11; 7,4.9; 8,18; 9,10; 16,5; 24,14) oder Aufforderungen Gottes, dass Israel kein Mitgefühl mit anderen Völkern oder unrecht handelnden Menschen haben soll (Dtn 7,16; 19,13.21). Neben Jona 4,11 ist nur in Ez 20,17 die Rede von Gottes Mitgefühl: Nachdem er etliche Male sagt, dass er wegen der Vergehen Israels kein Mitgefühl mehr mit seinem Volk hat, sagt er es Israel letztendlich doch zu: „Aber mein Auge zeigte Mitgefühl mit ihnen, sodass ich sie nicht verdarb: Ich rottete sie nicht völlig aus in der Wüste.“ (Ez 20,17) Daher ist die Aussage Gottes, dass er Mitgefühl mit Ninive hat, ein hervorstechendes theologisches Moment. Während Gott aufgrund seines Bundes mit Israel Mitgefühl hat (Ez 20), ist sein Mitgefühl mit Ninive im Jona-Buch schöpfungstheologisch begründet.152 Gottes Mitgefühl ist in beiden Fällen Teil seiner Barmherzigkeit und Grund für seine Reue und Umkehr vom Gericht. So steht Gottes Mitgefühl im Spannungsfeld von Gnade und Gericht.

Gottes Gerichtsankündigung und Gerechtigkeit Obwohl der Begriff „Gerechtigkeit“ nicht explizit im Jona-Buch vorkommt, ist die Gerechtigkeit Gottes ein bedeutsames theologisches Moment der Jona-Erzählung. Gottes Gerechtigkeit und Gericht sind biblisch eng miteinander verbunden. Sie sind Formen seiner Zuwendung, Gemeinschaftstreue und Rechtsdurchsetzung.153 Das Thema des göttlichen Gerichts steht gleich zu Beginn der Jona-Erzählung, denn Gott fordert Jona auf, Ninive Gerichtsworte zu verkünden (Jona 1,1–2). In Jona 3,4 „Noch 40 Tage und Ninive ist umgedreht!“ verkündet Jona eine Gerichtsbotschaft, die Ninive hört und daraufhin umkehrt. Jonas Worte sind trotz aller Knappheit aufgrund des Begriffes „umgedreht“ (hebr. hpk Nifal) mehrdeutig, weil hpk je nach Kontext sowohl „vernichten“ als auch „umkehren“ oder „verändern“ bedeuten kann.154 Wie Weimar herausstellt, haben Jonas Worte für Sprecher und Angesprochene eine unterschiedliche Bedeutung: 151 152 153 154

Simon 1994, S. 137. Mehr dazu in Abschnitt 2.1.1.3.1. Janowski 2016a, S. 147. Seybold 1977, S. 455; Spina 2005, S. 110; Tucker 2006, S. 70; Weber 2016, S. 89; Weimar 2017, S. 314; Ziethe 2018, S. 349. Ein Vergleich der deutschen Bibelübersetzungen führt das Bedeutungsspektrum des hebräischen Verbs vor Augen: EÜ und ELB übersetzen mit „zerstört“, wobei bei der ELB die Anmerkung steht, dass es auch „umwenden“ heißen kann;

44

2.1 Jona im Alten Testament

Jona versteht es als Gerichtswort und damit als Ultimum, während Ninive es als Mahnung und damit als Ultimatum hört.155 Die Worte bewegen sich „zwischen der von Jona beigegebenen Bedeutung […] und der durch das Gerichtswort ausgelösten Bedeutung“.156 Durch diese Mehrdeutigkeit kommt sowohl Gottes Freiheit als auch der Handlungsspielraum der Menschen und der Lektüre zum Ausdruck. Gottes Wort ist nicht auf eine Bedeutung einzugrenzen. Jonas Botschaft zeigt Wirkung, doch das Gericht vollzieht sich in Ninives Umkehr und nicht in der Zerstörung der Stadt. Im Jona-Buch reut es Gott und er vollstreckt das verkündete Unheil nicht, weil Ninive umkehrt (Jona 3,10). Jona hadert mit der Verschonung Ninives, da sie „böse“ sind, woran für Jona auch ihre Umkehr nichts zu ändern scheint. Gottes dynamisches Gerechtigkeitskonzept (Reue) läuft Jonas statischer Gerechtigkeitsvorstellung (Treue) entgegen. Jona, „Sohn der Treue“157 (hebr. ben ’amitaî Jona 1,1 vgl. hebr.’ämæt „Treue“ Ex 34,6) hadert mit Gottes Treue. Jona ist zornig, im Gegensatz zu Gott, den Jona als „langsam zum Zorn“ (Jona 4,2) wahrnimmt. Jonas Zorn kann mit dem Ausbleiben von Gottes Zorn zusammenhängen, doch der Text lässt das offen. Eine Betrachtung der Worte Jonas im Spiegel der Gnadenformel von Ex 34,6–7 zeigt, dass die Aussagen über Gottes „Treue“ (Ex 34,6) und der Gerichtsaspekt („aber er spricht nicht einfach frei, er sucht die Schuld der Väter bei den Söhnen und Enkeln heim, bis zur dritten und vierten Generation.“ Ex 34,7) nicht in Jona 4,2 vorkommen. Jona erwähnt Gottes Barmherzigkeit, doch spricht nicht über Gottes Treue und sein Gericht in Jona 4,2. Jonas Einforderung einer unveränderbaren, statischen Gerechtigkeit Gottes scheint der Maßstab für Andere (Ninive) und nicht für sich selbst zu sein. Er lobt und dankt Gott im Fisch für seine (unverdiente) Rettung. Die Begriffe „Barmherzigkeit“, „Gnade“ und „Gericht“ kommen zwar nicht explizit vor, dennoch symbolisiert der Fisch neben dem Aspekt der Rettung auch Gottes Gericht. Eine „ohne Eingreifen Gottes unumkehrbar[e]“158 Situation wendet sich: Obwohl sich Jona so weit wie nur möglich von Gott wegbewegt, lässt ihn Gott wieder aufsteigen und bietet ihm mit dem Fisch einen Raum der Rettung und Gotteskommunikation an. Gott vollzieht sein Gericht an Jona, um ihn zu lehren, dass seine Gnade und Barmherzigkeit kein „Ausdruck von geistiger und gefühlsmäßiger Schwäche und Hilflosigkeit“159 ist.

155 156 157 158 159

in der Lutherbibel steht „untergehen“, in der Übersetzung von Buber/Rosenzweig steht „umgestürzt“ und in der BIG „umgeworfen“ mit dem Verweis „Das Verb bezeichnet einen Umsturz, der zur Zerstörung oder zum Heil führen kann (Est 9,22; Jer 31,13).“ Weimar 2017, S. 316. Weber 2016, S. 89. Döhling 2012; Weimar 2017, S. 55; Wick 2015, S. 22. Simon 1994, S. 99. Simon 1994, S. 21.

2.1.1.2 Elementare Struktur: Gottes Gerichtsankündigung und Gnade

45

Jona erfährt immer wieder göttliches Gerichtshandeln: Der Wurm, der Ostwind, der Rizinusstrauch, aber auch der Fisch sind Gerichtswerkzeuge,160 die Gott allesamt „bestellt“ (hebr. mnh Piel). Gott verfügt über alle Geschöpfe: vom großen Fisch bis hin zum kleinen Wurm. Das Verb mnh im Piel kommt nur selten im Alten Testament vor. Zumeist sind es Könige, die etwas „bestellen/anordnen“ (Dan 1,5.10.11). Gott in Subjektstellung hebt seine souveräne Verfügungsgewalt hervor.161 In Ijob 7,3 ist Gott, wie im Buch Jona, derjenige, der „bestellt“. Gott bestellt Ijob „Nächte voller Mühsal“ (Ijob 7,3), obwohl Ijob das Böse meidet, Gott fürchtet, „untadelig und rechtschaffen“ ist (Ijob 1,1). Es handelt sich um eine Reflexion des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, denn vielfach erleben Menschen (in der Bibel), dass „die Entsprechung von Tun und Ergehen nicht glatt aufgeht.“162 Das scheint auch ein Reflexionshorizont für das Jona-Buch zu sein, das in vielerlei Hinsicht Parallelen zum Ijob-Buch aufweist. Ebenso wie Ijob lädt Jona weniger zur Identifikation ein als das er das Verhältnis von souveränem Schöpfer und Geschöpf vor Augen führt.163 Gottes Reaktionen auf Jonas Flucht und Todeswunsch überraschen in ihrem Wechselspiel aus Barmherzigkeit und Gericht. Sowohl der Fisch, der Ostwind als auch der Rizinusstrauch symbolisieren Gericht und Gnade. Neben dem Fisch „bestellt“ Gott den Rizinus (Jona 4,6), den Wurm (Jona 4,7) und den sengenden Ostwind (Jona 4,8). Der „Rizinus“ (hebr. qîqājôn) kommt nur im Jona-Buch vor, weshalb die Bedeutung schwer festzulegen ist. Die Septuaginta und die Vetus Latina übersetzen „Kürbis“, die Vulgata „Efeu“.164 Obwohl es sich um einen seltenen biblischen Begriff handelt, kommt er in Jona 4 direkt fünfmal vor. Der Rizinus scheint ein wichtiger Bestandteil der Szene zu sein, jedoch nicht in seiner botanischen Ausprägung, sondern in seiner Wirkung als Gottes Gerichtswerkzeug auf Jona, da er nur wenig umschrieben ist. Sowohl der Fisch als auch der Rizinus stellen „die Verbindung von Gericht und Gnade und

160

161 162 163 164

Gerhards 2006, S. 198; Jeremias 2008a, S. 212; Shemesh 2010, S. 9; Weber 2016, S. 116–117; Weimar 2017, S. 422–423. Conrad 1984, S. 979. Gerhards 2013b, S. 188. Simon 1994, S. 34; Zenger 2012a, S. 657. Weimar 2017, S. 393. Der „Rizinus“ gilt aufgrund seines schnellen Wachstums und seiner Größer als optimaler Schattenspender. Als schnellwachsende Wunderpflanze passt er zum Duktus der Jona-Erzählung (Steffen 1998, S. 179; Weimar 2017, S. 418). Weimar und Simon vermuten, dass die LXX mit „Kürbis“ übersetzt, weil „das Bild des an der Hütte hochkletternden Kürbis das Problem der Dopplung vom Schatten der Hütte und dem Schatten des Qiqayon löst.“ (Simon 1994, S. 133. Vgl. auch Weimar 2017, S. 418). Außerdem ist der Kürbis, ebenso wie der Rizinus, ein schnell wachsender Schattenspender, wobei der Kürbis im Kulturraum der LXX wohl bekannter war (Weimar 2017, S. 418). Gleiches kann für den als Kletterpflanze wachsenden Efeu gelten: Schnellwachsend, auch an Hütten rankend und zudem „[a]ls immergrüne Pflanze […] ein Sinnbild des fortlaufenden, ewigen Lebens.“ (Steffen 1998, S. 183)

46

2.1 Jona im Alten Testament

das doppelte Angesicht der starken und liebenden Hand“165 dar. Gott ruft Emotionen bei Jona hervor, um ihm Einblicke in seine Gnade und sein Gericht zu geben. Jona verspürt größte Freude über das Emporwachsen des Rizinus (Jona 4,6) und ist „zornig bis zum Tod“ (Jona 4,9) nachdem Gott den Rizinus verdorren lässt. Jonas Freude und Zorn über den Rizinus sind ein emotionaler Vergleichspunkt mit Gottes Mitgefühl mit Ninive,166 woran Gottes Argumentation in Jona 4,11 anknüpft. Gott, der Schöpfer, rettet Ninive aufgrund der unglaublichen Größe,167 was er Jona durch den Rizinus zu lehren versucht. Jonas Gefühle übermannen ihn, obwohl der Rizinus ‚nur‘ ein kleines, kurzlebiges Gewächs ist. Umso stärker müssen die Gefühle des Schöpfers für „mehr als 120.000 Menschen […] und eine Menge Vieh“ (Jona 4,11) sein. Es handelt sich um einen a-minori-admaius-Schluss, der einen Vergleich zwischen dem unbedeutenden, kleinen Rizinus und der großen Stadt Ninive herstellt.168 Zwar scheint Jona fast mehr Mitleid mit sich selbst als mit dem Rizinus zu haben, dennoch lässt Gott sich damit auf eine emotionale Auseinandersetzung ein. Das Wachstum des Rizinus symbolisiert Gottes Gnade, das Verdorren sein Gericht.169 Dieses plötzliche Wechselspiel von Gnade und Gericht ist Ausdruck einer „Erfahrung der Fremdheit Gottes, die an Gott verzweifeln lässt.“170 Das menschliche Ringen mit Gottes Gericht und Gnade, wobei Jona beide Eigenschaften Gottes weder ausschließlich positiv noch negativ wahrnimmt, stehen im Zentrum des Jona-Buches.

2.1.1.3 Elementare Struktur: Universalität „Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld. Der Herr ist gut zu allen, sein Erbarmen waltet über all seinen Werken.“ (Ps 145,8–9)

Psalm 145 hebt die Bedeutung von Gottes Barmherzigkeit für alle göttlichen Geschöpfe/Werke prägnant hervor. Ebenso wie in Jona 4,2 geschieht das in den Worten der sogenannten Gnadenformel. Im Gegensatz zu Jona 4,2 sticht der Begriff „alle“ (hebr. kol) durch eine zweifache Aufführung in Ps 145,8–9 hervor. Der Aspekt der universalen Barmherzigkeit Gottes ist in Ps 145 der theologische Hauptaspekt. Obwohl der Aspekt der Universalität in der Gnadenformel im Jona-Buch nicht an erster Stelle steht, „ist Gottes unparteiische Sorge um das Wohlergehen

165 166 167 168 169

170

Simon 1994, S. 133. Simon 1994, S. 132. Simon 1994, S. 132. Simon 1994, S. 138. Preuß 1982, S. 403; Weber 2016, S. 120–121; Weimar 2017, S. 423. Jona 4,7 „verdorren“ hebr. jvš Qal ist eine göttliche Gerichtshandlung (Preuß 1982, S. 403). Gerhards 2006, S. 199.

2.1.1.3 Elementare Struktur: Universalität

47

aller seiner Geschöpfe“171 dennoch ein Grundanliegen. Das hebt der letzte Vers des Jona-Buches hervor.

Gemeinschaftliche Gotteszuwendung Das Volk Israel kommt im Jona-Buch nicht vor. Es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Israel und den Völkern oder um „Protest gegen die Ausweitung der göttlichen Gnade auf die Götzendiener“.172 Jona ringt mit Gottes Gnade, Barmherzigkeit sowie Reue und nicht mit „den Heiden“. Dieses Ringen um und mit Gott ist kein spezifisch israelitisches Problem, weshalb das Buch Jona es „in einem a-historischen Kontext unter den Völkern“173 diskutiert. Jona identifiziert sich zwar als „Hebräer“ (hebr. ‘ibərî Jona 1,9), aber auch als einer, der den „Herrn, den Gott der Himmel, fürchte[t], der das Meer und das trockene Land gemacht hat.“ (Jona 1,9) Dieses Bekenntnis bündelt die drei Wortfelder „Meer“, „Land“ und „Himmel“, die Jona 1 dominieren,174 in einem Vers als Attribute göttlichen Schöpfungshandelns. Der Begriff „Hebräer“ (hebr. ‘ibərî) kommt selten in der Bibel vor. Er ist eine ethnische und keine vorrangig religiöse Bezeichnung.175 Zum ersten Mal begegnet der Begriff „Hebräer“ in Gen 14,13 als Charakterisierung Abrahams „dem Hebräer Abram“. Und auch Jonas Bekenntnis zum „Gott der Himmel […], der das Meer und das trockene Land gemacht hat“, weist zurück auf Abraham. Es ist ein Bekenntnis, das in Gesprächskontexten zwischen verschiedenen Völkern vorkommt: als Bekenntnis Abrahams (Gen 24,3.7), aus dem Mund des persischen Königs Kyrus, der von Gottes Geist erfüllt zum Volk Israel spricht (2 Chr 36,23; Esra 1,2), in Nehemias Gebet in der persischen Burg Susa (Neh 1,4–5; 2,4) und in Daniels Gespräch mit dem König Nebukadnezzar (Dan 2,18.19.37.44). Lang hebt hervor, dass es ein Ausdruck „universale[r] göttliche[r] Souveränität“ ist.176 Diese Worte verdeutlichen, dass Jona Gott „als Schöpfer und Herr über alle Bereiche des Kosmos“177 wahrnimmt. Auch der sofortige Glaube der Stadt Ninive ist Ausdruck ihres, aber auch Jonas universalen Gottesglaubens. Jona erwähnt Gott nicht explizit in seiner kurzen Verkündigung in Ninive, er stellt ihn nicht vor. Das kann zwar auch damit zusammenhängen, dass Jona nur in knappster Form in Kontakt zu Ninive treten will, dennoch hebt 171 172 173 174

175 176 177

Greenberg 1973, S. 26. Simon 1994, S. 17. Vgl. auch Zenger 2012a, S. 661. Simon 1994, S. 54. Vgl. auch Kim 2007, S. 515; Shemesh 2010, S. 22. Meer: Schiff (Jona 1,2.4.5.5); Bord (Jona 1,2); Meer (Jona 1,3.5.9.11.11.12.12.13.15.15); Seeleute (Jona 1,5); Kapitän (Jona 1,6); rudern (Jona 1,13); Land: Weg (Jona 1,2), Tarschisch (Jona 1,2.3), Jafo (Jona 1,2); Land (Jona 1,8.13), trockenes Land (Jona 1,9); Himmel: großer Wind (Jona 1,4), großer Sturm (Jona 1,4), Himmel (Jona 1,9); wogen (Jona 1,11); stürmen (Jona 1,13); wüten (Jona 1,15). Albertz 2012, S. 50. Lang 2002, S. 255. Vgl. auch Forṭi 2011, S. 368. Gerhards 2013a, S. 145. Vgl. auch Forṭi 2011, S. 362; Weimar 2017, S. 160–161.

48

2.1 Jona im Alten Testament

die Selbstverständlichkeit, mit der Jona über Gott spricht und Ninive dieses Wort annimmt, die Universalität Gottes hervor: Ninives „Glaube an einen universalen Gott bildet die Brücke zwischen ihnen und Jona. Auf Grund dieses Glaubens hören sie auf das Wort des Propheten und tun Buße.“178 Gottes Selbstaussage am Ende des Jona-Buches hat ebenfalls eine universale Ausrichtung. Gottes Mitgefühl ist hier universal-schöpfungstheologisch begründet. Ihm ist an der Rettung Ninives gelegen, weil es Geschöpfe Gottes sind. Der Zusatz, „die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken“ (Jona 4,11), weist nicht darauf hin, dass die Niniviten nicht moralisch oder ethisch-religiös urteilsfähig sind. Diese Deutung läuft dem Ninive-Bild des JonaBuches entgegen. Ninive wirkt wie eine einsichtige Gemeinschaft, die die religiös-praktischen Umkehrrituale auf Gottes Gerichtsbotschaft hin anwenden (Jona 3). Es weist weniger auf fehlende ethische Urteilsfähigkeit als auf die Unwissenheit und Kindlichkeit der Stadt hin.179 Allen, Groß und Klein, Menschen und Tieren, gilt Gottes Mitgefühl. Das verstärken auch die letzten Worte des Buches „und eine Menge Vieh“ (Jona 4,11). Dieser Zusatz eröffnet eine holistische Perspektive, indem Gottes Mitgefühl neben den Menschen auch dem Vieh gilt. Es unterstreicht den universalen Heilswillen Gottes.180 Ein anthropozentrischer Blickwinkel verdeckt oftmals die Bedeutung von Tieren in ethischen und theologischen Bereichen, das prägnante Schlusswort sowie die Teilhabe der Tiere an den Bußritualen (Jona 3) hebt hingegen eine holistische Perspektive hervor.181 Obwohl einige Ausleger das Fasten der Tiere als groteske, überraschende, satirische oder ironische Züge des Jona-Buches beurteilen,182 impliziert die doppelte Hervorhebung der Tiere die Relevanz und Ernsthaftigkeit der dahinterliegenden theologischen Botschaft. Die Tiere erfahren eine Wertschätzung als aktive Teilnehmer an den Umkehrritualen.183 Tier und Mensch sind als Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden. Das weist zurück auf die Sintflut-Erzählung: „Wegen der Bosheit der Menschen wurden nicht nur die Tiere und Vögel bei der Sintflut mitgerichtet (Gen 6,5–7), auch die Rettung der Gattung Mensch war an die Rettung der Tiere gebunden.“184 Die explizite Erwähnung der Tiere zeugt von Wertschätzung, aber auch Mitverantwortung: Gottes Gerechtigkeit gilt Menschen und Tieren.185 Als gemeinschaftliche Gotteszuwendung von Menschen und Tieren stellt Jona 3 eine utopische „Verkörperung einer Gegenwelt“ dar.186 Sie richtet sich „an der Idee 178 179 180 181 182 183 184 185 186

Gerhards 2003, S. 72. Simon 1994, S. 140–141. Shemesh 2010, S. 24. Zu einer Theologie der Tiere vgl. Horstmann et al. 2018. Shemesh 2010, S. 4. Adam und Lachmann 2018, S. 200; Alter 1997, S. 30; Kim 2007, S. 501. Forṭi 2011, S. 371; Shemesh 2010, S. 5. Simon 1994, S. 116. Shemesh 2010, S. 20; Stipp 2013, S. 116. Weimar 2017, S. 339.

2.1.1.4 Elementare Struktur: Umkehr

49

eines in der ursprünglichen Schöpfungsordnung gründenden friedlichen Zusammenlebens des Menschen mit der übrigen Schöpfung“187 aus und weist visionär in Form präsentischer Eschatologie voraus. Die Interaktion von Menschen und Tieren als Schicksalsgemeinschaft ist ein utopisches Vorbild für ein auf Gott ausgerichtetes Friedensreich.

Allein vor Gott Die Jona-Figur scheint kein Teil der gemeinschaftlichen Gotteszuwendung zu sein. Immer wieder bewegt sich Jona von der Gemeinschaft, die sich Gott zuwendet, weg (Jona 1,3; 4,5). Er entzieht sich, indem er flieht, schläft, sich über Bord schleudern lässt, aufsteht und geht. Nur in Momenten der Einsamkeit spricht Jona zu Gott (Jona 2; Jona 4). Es handelt sich um einen Wechsel von Außen- und Innenperspektive. In den Szenen, wo Jona alleine ist, bekommen die LeserInnen Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt Jonas. Sie hören die Worte des ansonsten wortkargen Propheten. Er ist eine isolierte Erzählfigur. Das ist typisch für biblische Propheten. Neben Jona ist beispielsweise Jeremia „einsam“ (Jer 15,17). Er leidet unter Spott (Jer 20,7), weil er den Menschen Gottes (Gerichts)Worte verkündet (Jer 20,8). Jona erfährt keine negativen Reaktionen, dennoch ist eine Parallele zwischen Jona und Jeremia erkennbar: Für beide stellt Gottes Wort eine Herausforderung dar. Jona treibt es in die Selbstisolation, Jeremia in die Fremdisolation. So stiftet Gottes Wort im Jona-Buch einerseits eine Schicksalsgemeinschaft der Seeleute sowie der Menschen und Tiere in Ninive, andererseits prägt es Jonas individuellen Weg zu und mit Gott. Eine Hervorhebung eines künstlich konstruierten Dualismus von Universalismus (Glaube der NichtIsraeliten) und Partikularismus (Jonas Glaube) ist vor allem aus der christlichen Auslegung hervorgegangen.188 Doch Jona ist kein Vertreter eines partikularen Gottesglaubens, denn er setzt sich weder für Israel (oder gar für die Juden) ein, noch gegen die Seeleute oder Ninive, weil sie Heiden sind. Er ficht seinen Glauben allein mit Gott aus, wobei partikulare Aspekte keine Rolle spielen. Der Wechsel von Außen- und Innenperspektive unterstreicht, dass Jonas Gottesbeziehung und nicht die Völkerfrage im Mittelpunkt steht.

2.1.1.4 Elementare Struktur: Umkehr Das Thema Umkehr hat viele Facetten in der Jona-Erzählung, die allesamt mit Gottes Gnade und Gericht zusammenhängen. Primär und explizit kehren Gott und Ninive in Jona 3 um: Ninive hört Gottes Worte, glaubt, vollzieht Bußrituale

187 188

Weimar 2017, S. 337. Bolin 2009, S. 5; Sherwood 2000, S. 179.

50

2.1 Jona im Alten Testament

und wendet sich von seinen bösen Wegen ab, hin zu Gott. Ninives „Glaube transformiert das unbedingte in ein bedingtes Unheilswort.“189 Gott sieht Ninives Umkehr und er vollzieht das angekündigte Unheil nicht, da es ihn reut. Auch Jona scheint Momente der Umkehr zu haben. Bei ihm handelt es sich um ein Lernen mit und über Gott. Es ist keine eindeutige, dauerhafte Wende erkennbar.190 Das Thema Umkehr ist sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Liturgie von großer Bedeutung: Die jüdische Gemeinde hört das Jona-Buch in der Lesung aus den Prophetenbüchern (Haftara) an Jom Kippur in der Synagoge.191 Die besondere Bedeutung des Jona-Buches kommt zum Ausdruck, denn es ist das einzige biblische Buch ist, das ein Gemeindemitglied komplett am höchsten jüdischen Fasten- und Feiertag verliest. Ninives Umkehr soll jüdischen Gläubigen als Ansporn und „Musterbeispiel für eine vollkommene Verbindung von Fasten, Gebet und Abkehr vom Weg des Unrechts“192 dienen. In der katholischen Liturgie ist Jona 3,1–5.10 für die österliche Fastenzeit vorgesehen. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Umkehr Ninives und Gottes. Ninives sofortige Umkehr ist ein Vorbild für die Gotteszuwendung der Gläubigen in der Fastenzeit. Gottes Reue stiftet Hoffnung auf sein Heil und bereitet ChristInnen darüber hinaus auf die österliche Auferstehungshoffnung vor.193 Auch wenn das Thema Umkehr hervorsticht, ist es nicht losgelöst von Gottes Gericht und Gnade zu verstehen. Die menschliche Umkehr dominiert in Jona 3,5–9, mündet dann in Gottes Reue (Jona 3,10–11) und führt schließlich auf das theologische Moment in Jona 4 hin: Gottes Barmherzigkeit und Gnade, in der Gottes Reue begründet ist.

Gottes Reue Gottes Barmherzigkeit und Gnade ist das Fundament seiner Reue und Umkehr vom Gericht. Das Jona-Buch eröffnet allerdings zuerst eine andere Perspektive: Auf Ninives Umkehr folgt Gottes Reue (Jona 3). Gott scheint es aufgrund eines extrinsischen Impulses zu reuen. Erst in Jona 4,2 setzt Jona Gottes Reue mit seiner Barmherzigkeit in Beziehung und Gott ergänzt, dass sein Mitgefühl der Grund für die Verschonung Ninives ist (Jona 4,11). Die LeserInnen erfahren – anders als Jona, der von Beginn an um Gottes Barmherzigkeit weiß – Schritt für 189 190 191

192 193

Döhling 2009, S. 477. Mehr dazu in Abschnitt 2.1.1.5.1. Cohn und Sperling 2007b, S. 390; Magonet 1998, S. 109; Krochmalnik 2008, S. 5; Simkovich 2017, S. 580; Simon 1994, S. 13. Simon 1994, S. 13. In den katholischen und evangelischen Bahnlesungen kommen noch weitere Teile des Jona-Buches vor. In der evangelischen Perikopenordnung kommt die Jona-Erzählung häufiger vor: Als Predigttext an Karsamstag, Ostermontag und an den drei Sonntagen nach Trinitatis. Im Laufe des sechsjährigen Lesezyklus sind Predigten über das gesamte Jona-Buch vorgesehen, mit einem Schwerpunkt auf Jona 2 (Liturgische Konferenz 2019, S. 811).

2.1.1.4 Elementare Struktur: Umkehr

51

Schritt mehr über Gottes Reue. Gottes Reue ist weder ein „beliebiger Willenswandel“194 noch etwas, worüber Menschen verfügen können. Gott handelt souverän: Er hat die Macht, eine angekündigte Unheilsdrohung zurückzuziehen.195 Gottes Reue basiert auf Liebe zu seiner Schöpfung und er lässt „Gnade vor Recht“196 walten. Es handelt sich um einen bewussten Willenswandel und nicht um Schuldgefühle oder Umkehr von einer nachträglich als Unrecht empfundenen Haltung.197 Das zuvor angekündigte Gottesgericht gilt dadurch nicht als Fehlurteil, stattdessen ist die Reue Gottes Ausdruck seiner Barmherzigkeit, seines Mitgefühls und seines Langmutes zum Zorn. Kiefer bezeichnet die Reue Gottes als biblische „Spitzenaussage“,198 die die Schriftprophetie und insbesondere das Zwölfprophetenbuch als Leitmotiv durchzieht.199 Die Reue Gottes ist im JonaBuch sowie in vielen weiteren biblischen Perikopen mit Hilfe der sogenannten Gnadenformel in eine dynamische Beziehung zu seiner Gnade und Barmherzigkeit gesetzt. Reue ist Bestandteil von göttlichem Heilshandeln an den Menschen. Sie ist Ausdruck seiner Zuwendung und hebt hervor, „dass Gott (als literarische Figur der Texte) aufs Engste mit dem Tun und Lassen der Menschen verwoben ist“.200 In Jona 3 handelt es sich um eine „doppelte Umkehr“: Gottes Reue als „reziproke Reaktion auf Ninives tätige Hoffnung.“201 Es ist ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen: Es geht „darum, dass Menschen in der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit diese Freiheit als Chance zu eigener Umkehr ernst nehmen.“202 Das Wissen über Gottes Reue ist ein positiver Anstoß für Menschen, umzukehren. Dennoch verfügen Menschen nicht über Gottes Reue, sie können sie nicht bewirken, sondern ‚nur‘ darauf hoffen: „Wer weiß, vielleicht wendet sich Gott und lässt es sich gereuen und kehrt um von der Glut seines Zornes, so dass wir nicht umkommen.“ (Jona 3,9) „Wer weiß“ (hebr. mî jôd’a) ist ein „Ausdruck für Zweifel und Hoffnung“203 eines Menschen, der nicht weiß, ob die menschliche Umkehr Gottes Gericht abwenden kann.204 Gottes Reue ist im Wesen Gottes begründet.

194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204

Giercke-Ungermann und Jöris 2016, S. 119. Giercke-Ungermann und Jöris 2016, S. 119; Kiefer 2017. Kiefer 2017. Jeremias 2002, S. 110. Kiefer 2017. Döhling 2012; Scoralick 2002, S. 204. Döhling 2012. Döhling 2009, S. 478. Döhling 2012. Simon 1994, S. 118. Vgl. auch Jeremias 2004, S. 562; Weber 2016, S. 97. Auch David fastet in der Hoffnung, dass sein Kind mit Urija am Leben bleibt: „Wer weiß, vielleicht ist der Herr mir gnädig und das Kind bleibt am Leben.“ (2 Sam 2,22) Doch David wendet Gottes Gerichtswort, dass das Kind sterben muss (2 Sam 2,14), nicht ab und es stirbt (2 Sam 2,19).

52

2.1 Jona im Alten Testament

Das Verb „umkehren“ (hebr. šûv) steht im Jona-Buch nur als Handlung der Niniviten (Jona 3,8.9.9.10), obwohl es in anderen biblischen Schriften auch Ausdruck von Gottes „tiefe[r] Beweglichkeit und Bewegbarkeit in den Beziehungen zu Israel, der belebten Schöpfung, einzelnen Völkern und Menschen“205 ist. Doch im Jona-Buch ist von seiner „Reue“ (hebr. nchm Nifal nicham) die Rede, ein Begriff, der wesentlich seltener als das Wort „Umkehr“ (hebr. šûv) in der Bibel vorkommt.206 nchm hat ein breites biblisches Bedeutungsspektrum und umschließt sowohl Verhaltens- als auch Einstellungsänderungen, retrospektiv und prospektiv, und umfasst damit auch die innere Zurücknahme einer Gerichtsandrohung.207 Bei Gottes „Reue“ (hebr. nchm) geht es um die Rücknahme eines eigentlich verdienten Gerichts, weil das Volk böse gehandelt hat. Das Motiv der göttlichen Reue im Jona-Buch knüpft an zwei biblischen Grunderzählungen an: die Erzählung über die Sintflut und die Erzählung über das goldene Kalb.208 Während diese beiden Erzählungen die Bosheit des Volkes detailliert schildern, ist die Bosheit Ninives im Jona-Buch nur kurz erwähnt („hinaufgestiegen ist ihre Bosheit vor mein Angesicht“ Jona 1,2). Ninives Umkehr ist hingegen ausführlich beschrieben (Jona 3,5–9). Gottes Reue hängt mit der in den Blickpunkt gerückten Umkehr (Jona 3), mit seinem gnädigen Wesen (gnadentheologisch Jona 4,2) und mit seinem unbedingten Mitgefühl mit seiner Schöpfung (schöpfungstheologisch Jona 4,10–11) zusammen: „Reue- und Mitleidsaussage und also Umkehrund Schöpfungstheologie stehen dabei nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz, sondern ergänzen einander auf spezifische Weise.“209 Bei Gottes Selbstaussage über sein Mitgefühl mit Ninive handelt es sich um eine Darstellung aus der Innenperspektive.210 Hingegen argumentiert Jona gnadentheologisch aus der Außenperspektive und legt offen, dass er selbst die Umkehr Ninives entweder nicht ernst nimmt oder überhaupt nicht beobachtet hat, denn erst nach Jonas Worten (Jona 4,2) heißt es: „Und Jona ging aus der Stadt hinaus und ließ sich östlich von der Stadt nieder. Und er machte sich dort eine Hütte; und er saß darunter im Schatten, um zu sehen, was mit der Stadt geschah.“ (Jona 4,5) Jona 205 206

207 208

209 210

Döhling 2012. „Umkehr“ hebr. šûv kommt 1072-mal vor, „Reue“ hebr. nchm hingegen 108-mal. Grund dafür ist erstens, dass šûv nicht nur „Umkehr“ als eine innere Bewegung meint, sondern auch „zurückkehren“ als äußere Bewegung. Zweitens bezeichnet šûv häufig menschliche Umkehr und Bewegung, nchm ist hingegen vornehmlich auf Gott bezogen (Döhling 2012). Döhling 2012. Wegen der menschlichen Bosheit reut es Gott, dass er die Menschen erschafft hat und er will alle außer „Noah“ (hebr. noach phonetisch ähnlich zu nchm) „vom Erdboden vertilgen“ (Gen 6,7). Im Anschluss an die Sintflut „räumt [Gott] der böse bleibenden Menschheit den Bestand in einer stabilen Schöpfung ein.“ (Döhling 2012. In Ex 34 möchte Gott das Volk vernichten, weil es vor einem aus Gold gegossenen Kalb Götzendienst betrieben hat. Mose bittet Gott, dass er sich das Unheil reuen lässt (Ex 34,12) und Gott erhört seine Bitte und lässt vom angedrohten Unheil ab (Ex 34,14). Döhling 2009, S. 471. Döhling 2009, S. 472.

2.1.1.4 Elementare Struktur: Umkehr

53

scheint Ninives Umkehr zu verpassen, weil er (auf der Textebene) abwesend ist und erst nach Abschluss der Fastenrituale Ninive beobachtet. Außerdem versäumt Jona es, die Umkehr Ninives in seine Auseinandersetzung mit Gott einzubeziehen. Die Wörter „Ninive“ und „Umkehr“ kommen nicht in Jona 4,2 vor. Jona hadert mehr mit dem barmherzigen und gnädigen Wesen Gottes als mit Ninives Verhalten.

Ninives radikale Umkehr Die Niniviten kehren um, indem sie Gott „glauben“ (Jona 3,5), „ein Fasten aus[rufen]“ (Jona 3,5), das ganze Volk, der König und die Tiere sich mit Säcken kleiden (Jona 3,5.6.8). Darüber hinaus steigt der König vom Thron, setzt sich „in die Asche“ (Jona 3,6) und lässt ein Dekret mit allen Buß- und Umkehrritualen ausrufen (Jona 3,7–8). Alle sollen teilhaben, „von den Großen bis zu den Kleinen“ (Jona 3,5), „Menschen und Vieh, Rinder und Schafe“ (Jona 3,7). Sie „sollen mit aller Kraft zu Gott rufen“ (Jona 3,8) und von der Bosheit sowie von der Gewalt umkehren (Jona 3,8). Es ist eine allumfassende, radikale, innere und äußere Umkehr. Ninive gesteht seine Bosheit durch äußere (Kasteiung und Entkleidung) und innere (Gottesglaube) Umkehr ein.211 Ninives Verhalten ist „ein Musterbeispiel für eine vollkommene Verbindung von Fasten, Gebet und Abkehr vom Weg des Unrechts.“212 Trotz dieser positiven Darstellung scheint die Erzählung nicht auf die Identifikation der LeserInnen mit den Niniviten abzuzielen. Dafür ist die Erzählung zu überraschend und ohne jegliche Details geschildert. Die Niniviten sind eine anonyme Menge ohne Konkretisierung anhand von Namen oder Wesensbeschreibungen. Die Umkehr Ninives fällt aufgrund der universalen Teilhabe aller Menschen und Tiere sowie der sofortigen Umkehr „aus der menschlichen Wirklichkeit weit mehr heraus als die außernatürlichen Wunder, die Jona widerfahren.“213 Ninives Umkehr ist weder ein historischer Tatsachenbericht noch ein realistisches Vorbild zur Nachahmung. Unterbrechungen und Wiederholungen unterstreichen, dass der Schwerpunkt nicht auf Ninive liegt, stattdessen scheint die Erzählung rasch zu Jonas Auseinandersetzung mit Gott zurückkehren zu wollen.214 Ninives sofortiger Glaube betont, dass Ninives Umkehr außergewöhnlich und wundersam ist. Das Verb „glauben“ (hebr.’mn Hifil) steht selten in Verbindung mit dem Objekt „Gott“ (hebr. be’lohim nur Jona 3,5; Ps 78,22) und ist häufig

211 212 213 214

Jeremias 2004, S. 563. Simon 1994, S. 13. Simon 1994, S. 28. Weimar 2017, S. 338.

54

2.1 Jona im Alten Testament

negiert, wodurch es negativ konnotiert ist.215 Gott nimmt wahr, dass sein Volk „nicht glaubt“ (Num 14,11; 20,12; Dtn 1,32; 2 Kön 17,14; Ps 78,22). Der Ruf zur Umkehr ist ein Hauptaspekt der prophetischen Verkündigung, „[a]ber zunächst dominiert bei den Propheten die Erfahrung, daß Israel nicht umkehrt.“216 Nur Gen 15,6 und 2 Chr 20,20 sowie Jona 3,5 sind Beispiele positiven Glaubens an Gott.217 Ninives Umkehr stellt ein Hoffnungsmoment dar: Umkehr ist möglich. Als „bottom-up“218 Prozess hat Ninives Umkehr utopische Züge. Sie geht vom Volk, „von unten“, aus. Das königliche Dekret zeigt bereits vor seiner Veröffentlichung allumfassende Wirkung. Damit enthält die Umkehr Ninives ein machtkritisches Moment. Sie geht vom Volk aus und erreicht dann erst die Mächtigen. Der König entmachtet sich durch einen Selbstminderungsritus: „Und das Wort erreichte den König Ninives, und er stand auf, weg von seinem Thron, und er legte seinen Mantel ab, weg von sich, und er bekleidete sich mit einem Sack und er setzte sich in die Asche.“ (Jona 3,6) Der König Ninives ist die einzige biblische Herrscherfigur, die sich mit einem „Sack“ (hebr. śāq) bekleidet.219 Die Erniedrigung des Königs ist durch den „Sack“ mit der Buße der Menschen und Tiere (Jona 3,5.8) verknüpft, da sie ebenfalls in Säcke gekleidet sind. Er symbolisiert soziale Gleichheit und Solidarität.220 In der Umkehr sind alle gleich, „jeder von den Großen bis zu den Kleinen“ (Jona 3,5). Dieser Verzicht auf Macht und Status ist ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Hinwendung zu Gott.221 Er ist als Ausblick auf eine endgültige Heilszeit, wo Gott allein als König (auf dem Zion) thront, Ausdruck präsentischer Eschatologie.222 Die Königsherrschaft Gottes kommt im Jona-Buch nicht vor, stattdessen legt die Erzählung einen Schwerpunkt auf präsentische Heilsvorstellungen.

215

216 217

218 219 220

221 222

Tucker 2006, S. 71–72; Weimar 2017, S. 318. In Verbindung mit dem Gottesnamen: Gen 15,6; Ex 14,31; Num 14,11; 20,12; Dtn 1,32; 2 Kön 17,14; 2 Chr 20,20. Rendtorff 2001, S. 218. Abraham glaubt an Gott und an Gottes Verheißung einer zahlreichen Nachkommenschaft (Gen 15,6). In 2 Chr 20,20 fordert der judäische König Joschafat sein Volk auf, an Gott zu glauben. Weber 2016, S. 95. Köhlmoos 2012. Das Tragen von Säcken, das Sitzen in Asche und das Fasten sind Ausdruck von Trauer. Umkehr- und Trauerrituale sind in der Bibel häufig miteinander verbunden (Bachmann 2013, S. 54; Köhlmoos 2012; Thiel 1993, S. 851–852). Neumann 2016, S. 435. Koenen 2007.

2.1.1.5 Elementare Struktur: Lern- und Lehrerzählung

55

2.1.1.5 Elementare Struktur: Lern- und Lehrerzählung Die wunderhafte Lehrerzählung schildert Lern- und Umkehrprozesse. Jonas Lernweg mit Gott und Ninives Umkehr stellen sich als lehrreich für LeserInnen und HörerInnen heraus.

Jona lernt Jonas Lernprozess ist keine fortschreitende Weiterentwicklung, dennoch sind verschiedene Stationen auf Jonas Weg mit und zu Gott erkennbar: Auftrag, Flucht, Opfer, Gebet, erneuter Auftrag, Verkündigung, Rückzug, Zorn, Freude, Mitgefühl. Jona „weiß“ von Anfang an, dass Gott „ein gnädiger und barmherziger Gott“ ist (Jona 4,2) und zeigt sich dadurch als einer, „der meint, alles über Gott zu wissen“223 und es gar „besser als Gott zu wissen“224 scheint. Jonas Bekenntnis (Jona 1,9), sein Gebet im Fisch (Jona 2) und die Gnadenformel (Jona 4,2) sind intertextuell mit anderen biblischen Worten aus dem Pentateuch, den Psalmen und prophetischen Schriften verbunden. Dadurch weist sich Jona als ein Gelehrter aus, „der sich bestens in der Tradition und Überlieferung auskennt, mit ihr argumentieren und sie situationsadäquat übersetzen kann“.225 Dennoch ist er Schüler und Lernender, der durch die Begegnung mit Gott und anderen Menschen sein Wissen in Kontexte setzt und reflektiert, aber auch damit ringt. Höhepunkt von Jonas Hinwendung zu Gott ist sein Gebet im Fisch (Jona 2). Obwohl der Begriff „Umkehr“ nicht vorkommt, ist der Psalm Ausdruck eines Lernprozesses. Jona wendet sich Gott zu, indem er einen „Dankpsalm/Lobdank“ (hebr. tôdāh „Dank“ Jona 2,10; Ps 116,17) spricht.226 Er bringt seine Not zum Ausdruck,227 dennoch überwiegen Lob und Dank. Die Verben im Psalm stehen im Perfekt und konsekutiven Imperfekt. Demnach sind sie Ausdruck einer abgeschlossenen Handlung. Zugleich ist der Psalm proleptisch: Jona nimmt durch sein Gebet Gottes Rettung vorweg. Hierfür gibt es diachrone und synchrone Interpretationsansätze. Simon und Jeremias gehen davon aus, dass der Dankpsalm 223 224 225 226

227

Schmitz 2006, S. 178. Simon 1994, S. 21. Schmitz 2006, S. 178. Simon 1994, S. 94; Weber 2016, S. 73; Weimar 2017, S. 52; Wick 2015, S. 65. Der Begriff „Dank“ hebr. tôdāh hängt auch mit dem „Dankopfer“ zusammen (Müller, Reinhard, Psalmen (AT); 2013, wibilex). Der Begriff tôdāh kommt in der Tora zum ersten Mal im Kontext von Gottes Weisungen über die Opfergaben vor (Lev 7,12–15). Auch im Jona-Buch geloben einerseits die Seeleute (Jona 1,16), aber auch Jona (Jona 2,10) Gott am Tempel aus Dank für die Rettung zu opfern. „[um Hilfe] rufen“, „Bedrängnis“ (Jona 2,3); „in das Herz der Meere [geworfen]“, „ein Strom umschließt mich“, „Wogen und Wellen über mich“ (Jona 2,4); „vertrieben“ (Jona 2,5); „Wasser umgab mich“, „Urflut umschloss mich“ (Jona 2,6); „hinabgestiegen“, „Erde hat ihren Riegel um mich herum geschlossen auf ewige Zeit“, „Grube“ (Jona 2,7); „Dahinschwinden meiner Seele in mir“ (Jona 2,8); „Glauben verlassen“ (Jona 2,9).

56

2.1 Jona im Alten Testament

sekundär eingefügt worden ist,228 weil dieser nicht zum restlichen Textduktus passt. Ein Klage- anstelle eines Dankpsalms erscheint narratologisch sinnvoller.229 Hingegen gehen Gerhards und Weber davon aus, dass das Jona-Buch einheitlich ist, da semantische und syntaktische Verbindungen zwischen dem Psalm und dem restlichen Jona Text bestehen.230 Gerhards legt dar, dass Jona bereits das Verschlingen und nicht erst das Ausspeien als Rettung wahrnimmt.231 Die Rettung hat demnach bereits vor dem Psalm stattgefunden, sodass der Schwerpunkt nicht auf der wundersamen Rettung, sondern auf Jonas Reaktion und seiner Gottesbeziehung liegt. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Umkehr während des Aufenthalts im Fisch stattgefunden hat, jedoch bevor der Psalm gesprochen worden ist und die LeserInnenschaft deshalb einen dankbaren anstelle eines klagenden Psalmbeters erlebt. Die verschiedenen Deutungsansätze zeigen, dass der Psalm mehrdeutig ist. Der Fisch ist „Todes- und Rettungserfahrung“232 zugleich. Es findet eine „Vergleichzeitigung“ von Not und Rettung statt.233 Jona spannt im Psalm einen großen Bogen: „von der Unterwelt als Ort der Gottesferne hin zum Tempel in Jerusalem als Sehnsuchtsort erfahrener Gottesnähe, dessen Erreichen zwar noch aussteht, dessen Wirklichkeit im Gebet für Jona aber schon erlebbar wird.“234 Dabei ist der Psalm von einer starken Todesmetaphorik geprägt.235 Jona dankt Gott, dass er ihn „aus der Mitte der Unterwelt“ (Jona 2,3), „aus der Grube“ (Jona 2,7) hinaufsteigen lässt. Jonas Aufenthalt im Fisch, in seinen Worten „in der Unterwelt“, scheint „ohne Eingreifen Gottes unumkehrbar“.236 Deshalb deuten sowohl die christliche als auch jüdische Auslegung die drei Tage und drei Nächte im Fisch „als wirkliche Auferstehung vom Tod“.237 228

229 230 231 232 233 234 235

236 237

Jeremias 2008a, S. 203; Levin 2013, S. 291; Simon 1994, S. 58. Die parallele Erzählstruktur und die Spieglung von Jona 2 und 4 erleiden durch eine Ausklammerung des Psalms massive Störungen (Bührer, S. 39; Weber 2016, S. 68). Die Frage nach der Einheitlichkeit des Jona-Buches kann nicht abschließend bearbeitet werden. Das ist für die Rezeption der heutigen Textgestalt nicht auschlaggebend, weil die Jona-Erzählung in ihrer Gesamtheit auf die LeserInnen und HörerInnen wirkt und gerade der Psalm eine wichtige Rolle in der Auslegung, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Jona-Buches einnimmt. Das bestreitet auch Jeremias nicht, selbst wenn er den Psalm als sekundäre Hinzufügung betrachtet (Jeremias 2008a, S. 203). Simon 1994, S. 55. Gerhards 2006, S. 25; Weber 2016, S. 68. Gerhards 2008. Weimar 2017, S. 261. Weber 2016, S. 75. Weimar 2017, S. 264. „Mitte der Unterwelt“ (Jona 2,3); „bis an die Seele“ (Jona 2,6); „zu den Gründen der Berge bin ich hinabgestiegen“, „Erde hat ihren Riegel um mich herum geschlossen auf ewige Zeit“, „Grube“ (Jona 2,7); „Dahinschwinden meiner Seele in mir“ (Jona 2,8). Simon 1994, S. 99. Simon 1994, S. 99. Vgl. auch Chow 1995, S. 43. Die christliche Auslegung der Jona-Erzählung ist stark geprägt von der intertextuellen Anknüpfung in Mt 12,40, die Jonas Aufenthalt als Auferstehungserzählung deutet. Mehr dazu in Abschnitt 2.2.1.

2.1.1.5 Elementare Struktur: Lern- und Lehrerzählung

57

Im erzählenden Rahmen ist zwar noch nicht die Rede von Jonas Rettung, doch die Begrenzung auf „drei Tage und drei Nächte“ impliziert ein Rettungsgeschehen: Der Merismus kommt nur dreimal im Alten Testament vor. In den anderen beiden alttestamentlichen Perikopen geht es um Rettung aus der Not. In 1 Sam 30,12 rettet David einen Ägypter, der „drei Tage und drei Nächte kein Brot gegessen und kein Wasser getrunken“ hat. In Est 4,16 befiehlt Ester allen JüdInnen, drei Tage und drei Nächte lang zu fasten, um sie vor der Ausrottung, die von Haman veranlasst worden ist (Est 3,8–13), zu retten. Obwohl erzählte Zeit und Erzählzeit in Jona 2 nicht übereinstimmen, scheinen die drei Tage für Jona „eine gefüllte, ja erfüllte Zeit […], ein Freiraum, nicht ein Leerraum“238 zu sein. Im Psalm selbst kommt der „große Fisch“ nicht vor. Lediglich im erzählenden Rahmen heißt es, dass Jona sich in einem „Fisch“ befindet. Der Psalm knüpft an Noterfahrungen im und auf dem Meer an, denn der Psalm ist „durchtränkt“ von einer Wassermetaphorik.239 So steht die Erfahrung von Bedrängnis, Todesangst sowie Rettung und nicht der wundersame Fischaufenthalt im Mittelpunkt des Psalms. LeserInnen können sich in Jona hineinversetzen und den Psalm mit eigenen Todes- und Rettungserfahrungen anreichern, denn „[d]ie Wirkung vieler Psalmen basiert darauf, dass sich die Lesenden als Betende mit dem Standort des Ichs identifizieren, mit diesem „aus Tiefen rufen“ (Ps 130,1)“.240 Der Psalm ist keine nahtlose Fortführung der Erzählung, stattdessen rückt er die Kommunikation von Jona und Gott in den Vordergrund. Im Fisch spricht Jona erstmals zu Gott, obwohl Gott schon vorher zu ihm gesprochen hat.241 Auch wenn der Psalm Ausdruck eines intensiven Lernprozesses ist und damit ein Höhepunkt von Jonas Hinwendung zu Gott, ist es dennoch nicht der Wendepunkt in seiner Gottesbeziehung. Nach Jona 2 verhält sich Jona immer noch ambivalent, ist zornig und freudig, will leben und sterben. Jonas Todeswunsch ist eine Form seiner Flucht vor Gott und als Jonas letztes Wort in der Erzählung hoch zu gewichten.242 Die Flucht vor Gott ist Bestandteil seines Weges zu Gott und nimmt verschiedene Formen im Jona-Buch an: Er flieht auf einem Schiff nach Tarschisch (Jona 1,3), entzieht sich Gott im Schlaf (Jona 1,5) und durch die Aufforderung, ihn ins Meer zu schleudern (Jona 1,12). Er zieht sich zurück in eine Hütte (Jona 4,5) und wünscht sich seinen Tod (Jona 4,3.8.9). Gott zeigt ihm immer wieder durch aktives Eingreifen, dass seine Flucht vergeblich ist: Er sendet einen Sturm, holt Jona aus der Unterwelt hinauf und sendet ihn erneut nach Ninive. Gott bestellt den Fisch, den 238 239

240 241

242

Weimar 2017, S. 214. „Herz der Meere“, „Strom“, „Wogen und Wellen“ (Jona 2,4); „Wasser“, „Urflut“, „Schilf“ (Jona 2,6). Geiger 2012. Jona spricht Gott direkt an: Pronomen in 2. Person Sg.: „du“ (Jona 2,3.4.7), „deine/r/s“ (Jona 2,4.5.8); „dir“ (Jona 2,8.10); Vokativ: „Herr“ (Jona 2,7); Beziehungsaussage „mein Gott“ (Jona 2,7). Weimar 2017, S. 429.

58

2.1 Jona im Alten Testament

Rizinus, den Wurm sowie den sengenden Ostwind als Zeichen seiner souveränen Verfügungsgewalt, egal wo Jona sich befindet.243 Doch Jona zeigt neben seinem Todeswunsch auch seinen Lebenswillen: Im Psalm dankt er Gott, dass er ihn aus der Unterwelt hinaufsteigen hat lassen und ihm Leben gewährt hat (Jona 2,7). Auch in Kapitel 4 unterstreicht Jonas großer Frohsinn über den schattenspendenden Rizinus seine Lebensfreude. Aufgrund der Ambivalenz der Jona-Figur, aber auch der Offenheit der Erzählung mit Gottes Frage am Ende, worauf Jona keine Antwort gibt, bleibt „das Maß seiner (persönlichen) Wandlung“244 ungewiss. Es bleibt unausgesprochen, was Jona konkret am Ende lernt, weil der Schwerpunkt vielmehr auf den Lern- und Lehrprozessen der LeserInnen liegt.

Die Jona-Erzählung lehrt LeserInnen Die Jona-Erzählung ist als eine theologische Lehrerzählung konzipiert. Neben Jona und Ninive lernen auch die LeserInnen von und mit Gott. Dabei verlaufen die Entwicklungen nicht linear ab. Während Jonas Lernprozesse von Abbrüchen, Rückgriffen und Neuanfängen geprägt sind und Ninive einen rapiden Lernzuwachs im Kontext der radikalen Umkehr vollzieht, erfahren LeserInnen im Laufe der Erzählung stetig mehr. Im Jona-Buch herrscht eine fortwährende Dissonanz zwischen dem Wissen der LeserInnen und Jona. Meist weiß Jona mehr: Die LeserInnen wissen nicht, warum Jona flieht (Jona 1,3) oder zornig ist (Jona 4,1). Die LeserInnen scheinen hingegen vor Jona zu erfahren, was mit Ninive geschieht, nachdem Jona die göttliche Botschaft verkündet. Die Erzählung ist geprägt von Leerstellen und Rückgriffen. Auch das Ende des Buches schließt die Erzählung nicht ab: „Es geht nicht um fertige Antworten und satzhafte Gewissheiten […]. Damit verändert sich die Art des Theologietreibens von dem Gestus des Wissens in die Haltung des prozessorientierten Suchens und ergebnisoffenen Fragens in einer fiktional erzählten Geschichte“.245 Das Buch lädt zum Diskurs und zur Reflexion ein. Gottes Frage am Ende zeigt, dass sein „Interesse von Anfang an auf die Bewahrung, nicht auf die Vernichtung Ninives gerichtet war.“246 Mit der Erkenntnis über Gottes Barmherzigkeit und Gnade können LeserInnen das Buch neu verstehen. Jonas ambivalenter Ruf „Noch 40 Tage und Ninive ist umgedreht!“ (Jona 3,4) liest sich im Kontext einer zweiten Lektüre anders: nicht nur als unabwendbares Gericht, auch als mahnender Umkehrruf. Außerdem fordert Jonas Wahrnehmung des Fisches als Ort der Rettung, bevor Gott ihn tatsächlich rettet, keine literarkritische Scheidung heraus. Stattdessen ist es Ausdruck von Jonas theologischem Bekenntnis (Jona 4,2): Er weiß, dass Gott barmherzig ist und kann deshalb voll Zuversicht beten: „Beim Herrn ist die Rettung.“ (Jona 4,10) 243 244 245 246

Conrad 1984, S. 979; Weimar 2017, S. 124. Simon 1994, S. 14. Schmitz 2006, S. 179. Weimar 2017, S. 456.

2.1.2 Alttestamentliche Intertextualität

59

LeserInnen lernen über Gottes Barmherzigkeit und Gnade im Kontext von Gnade und Reue sowie Jonas „prophetische[r] Berufung und/oder über die Bedeutung der Gerichts- und Unheilsprophetie.“247 Dabei sprengt die Jona-Figur jegliche Modelle und Schemata eines „typischen“ biblischen Propheten.248 Erstens gibt es keine Berufungserzählung. Zweitens ist sein Gerichtswort an Ninive untypisch, weil eine prophetische Einführungsformel, eine Anklageerhebung, eine konditionale Gerichtsansage und ein Appell zur Umkehr fehlen.249 Drittens ist er der einzige Prophet, der zornig auf Gott ist. Viertens flüchtet er wortlos vor Gottes Auftrag. Außerdem endet das Jona-Buch nicht, nachdem Jona Gottes Botschaft verkündet hat.250 Im letzten Kapitel ist Jonas prophetischer Auftrag zugunsten der Rede über Gottes Barmherzigkeit, Gnade und Mitgefühl in den Hintergrund gedrängt. Gottes Wesen und nicht Jonas Prophetenamt steht im Zentrum des Buches: „Jona ist nicht der Protagonist des Buches, sondern eher eine exemplarische Lernfigur, die durchaus auch mit viel Humor durch die sich wandelnden Szenerien des Buches geführt wird. Und Gott führt immer Regie.“251 Gott hat das letzte Wort und auf seine Frage folgt keine Antwort Jonas. Die Erzählung fordert LeserInnen nicht dazu auf, „die Person des verzweifelten, mutigen, hartnäckigen, rechtschaffenen und lachhaften Flüchtigen [zu] beurteilen.“252 Stattdessen sind LeserInnen dazu herausgefordert, eine eigene Antwort auf Gottes Frage zu suchen. Die Leerstellen laden LeserInnen ein, sich in Jona hineinzuversetzen und Gespräche mit Gott zu führen. Neben Leerstellen, Pround Analepsen heben auch „die vielen Zitate und Anspielungen auf andere biblische Texte“253 den lehrhaften Charakter des Jona-Buches hervor. Die intertextuellen Verknüpfungen fordern LeserInnen heraus, unterschiedliche biblische Erzählungen einzuspielen und dadurch Antworten zu finden sowie neue Fragehorizonte zu eröffnen. So leitet die Jona-Erzählung zu einem kontinuierlichen Lernprozess mit und über Gott an.

2.1.2 Alttestamentliche Intertextualität Das Jona-Buch weist etliche intertextuelle Verknüpfungen zu anderen alttestamentlichen Schriften auf, deshalb handelt es sich bei den intertextuellen An-

247 248 249 250 251 252 253

Zenger 2012a, S. 661. Wick 2015, S. 30. Weber 2016, S. 89. Weimar 2017, S. 434. Ballhorn und Gärtner 2017, S. 21. Simon 1994, S. 34. Gerhards 2008.

60

2.1 Jona im Alten Testament

knüpfungen „Jona“, „Fisch“, „Ninive“, die Gnadenformel und das Zwölfprophetenbuch um eine gezielte Auswahl.254 Diese intertextuelle Auswahl trägt zu einer Kontextualisierung bei und die Betrachtung der neutestamentlichen Jona-Rezeptionen in Abschnitt 2.2 knüpft daran an. Die Reflexion der biblischen JonaPerikopen im Alten und Neuen Testament ist die Basis für die Eröffnung einer christlichen Perspektive auf die Jona-Texte im Koran.

2.1.2.1 Der Name „Jona“ „[…] wie es der Herr, der Gott Israels, durch seinen Knecht, den Propheten Jona, den Sohn Amittais aus Gat-Hefer, vorhergesagt hatte.“ (2 Kön 14,25)

Der Name „Jona“ kommt im Alten Testament außer im Jona-Buch noch in 2 Kön 14,25 vor. Er stellt die eindeutigste intertextuelle Verknüpfung dar, weil Namen einen hohen Wiedererkennungswert haben. Intertextuelle Verknüpfungen, die über das Aufgreifen von Namen verlaufen, nennen sich Interfiguralität.255 Es handelt sich nicht um Duplikate der ursprünglichen Figuren,256 denn eine „reine Verdopplung einer Figur ist schon deshalb unmöglich, weil jeder neue Kontext Differenzen einträgt.“257 Der kurze Vers in 2 Kön und das Jona-Buch weisen drei intertextuelle Verknüpfungen vor: Erstens den Namen „Jona“ (Interfiguralität), zweitens die Charakterisierung Jonas als „Sohn Amittais“ und drittens das „Wort des Herrn“. Biblischen Namen haben häufig Symbolcharakter. Das unterstreicht, dass es sich um exemplarisch-typisierte Figuren und nicht um historisch-reale Personen handelt. Sie geben Einblicke in das Wesen der Namensträger (nomen est omen).258 Der hebräische Begriff jônāh bedeutet „Taube“.259 Die „Taube“ symbolisiert Israel (Hos 7,11; 11,11) sowie die schöne, makellose Geliebte und ihre Augen (Hld 1,15; 2,14; 4,1; 5,212; 6,9). Tauben versinnbildlichen als Schuld- sowie Sühneopfer, Reinigung und Hinwendung zu Gott (Lev 1,14; 5,7.11;12,6.8; 14,22.30; 15,14.29; Num 6,10). Außerdem ist die Taube Gerichts- und Heilszeichen (Gen 8,8.9.10.11.12; Jes 38,14; Jer 48,28; 59,11; Ez 7,16; Hos 11,11; Nah 2,8). Der Name

254

255 256 257 258 259

Kim, Simon, Weber und Weimar leisten umfassende Beiträge zu den intertextuellen Bezügen des Jona-Buches im Alten Testament (Kim 2007; Simon 1994; Weber 2016; Weimar 2017). Müller 1991, S. 103. Müller 1991, S. 109. Rakel 2003, S. 248–249. Pfister 1997, S. 222; Weber 2016, S. 34. Ackerman 1997, S. 234–235; Ellwood 2017, S. 569; Kim 2007, S. 511; Steffen 1994, S. 4.

2.1.2.1 Der Name „Jona“

61

„Jona“ hat vielfältige und unterschiedliche Interpretationen hervorgerufen.260 Eine Deutung des Namens, die sich lediglich auf eine Bibelstelle stützt, zum Beispiel, dass Jona die „Verkörperung Israels“261 darstellt, scheint zu einseitig. Die Vielfalt und Offenheit der intertextuellen Verknüpfungen heben die Mehrdeutigkeit der Jona-Figur hervor. Die Charakterisierung Jonas als „Sohn Amittais“ stellt die zweite Verknüpfung von 2 Kön 14,25 und Jona 1,1 dar. Sie schafft eine eindeutige intertextuelle Brücke zwischen dem Jona-Buch und 2 Kön 14,25, weil „Amittai“ nur an diesen beiden Stellen in der Bibel vorkommt. Jona 1,1 erinnert an andere Buchüberschriften (Jer 1,1; Hos 1,1; Joel 1,1) oder Erstnennungen von Erzählfiguren in den Richter- und Königsbüchern (Ri 4,6; 2 Kön 18,1).262 Auch hierbei handelt es sich nicht um eine Typisierung und nicht um eine Historisierung. Es fehlen konkrete zeitliche und räumliche Angaben.263 Amittai ist weder zeitgeschichtlich noch biblisch zu verorten. Er tritt weder vorher noch nachher als eigenständige, biblische Figur auf. Deshalb trägt der Name „Amittai“ zur Charakterisierung Jonas bei: Jona ist „Sohn der Treue“ (hebr. ben ’amitaî).264 Die Spannung zwischen Vater und Sohn, zwischen „Treue“ und „Taube“, zwischen „Beständigkeit“ und „Flatterhaftigkeit“ ist Ausdruck von Jonas ambivalentem Charakter und seinem Ringen mit Gottes Reue.265 Außerdem ergeht sowohl im Jona-Buch als auch in den Königsbüchern (und an vielen weiteren Stellen in der Bibel) „das Wort des Herrn“. 2 Kön 14,25 charakterisiert Jona als „Propheten“ (hebr. nāvi’) und „Knecht“ (hebr. ’ævæd) Gottes. „Knecht“ und „Prophet“ stehen oft als Synonyme im Alten Testament (2 Kön 9,7; 17,13; 21,10; Jer 7,25; 26,5; 35,15; 44,4; Ez 38,17; Am 3,7; Sach 1,6). Dabei handelt es sich häufig um Worte Gottes. In 2 Kön 14,25 rahmen die beiden Begriffe den Namen Jonas. Das hebt „dessen Würde als Übermittler des Wortes Gottes“266 hervor. Die beiden Ehrentitel kommen jedoch nicht im Jona-Buch vor. In fast allen prophetischen Schriften begegnet der Begriff „Prophet“, häufig direkt zu Beginn (Hab 1,1; Hag 1,1; Sach 1,1). Die einzigen Ausnahmen im Zwölfprophetenbuch bilden Jona, Obd und Nah. Im Jona-Buch impliziert die Verwendung der Wortereignisformel, dass Jona ein Prophet ist (Jona 1,1).267 Die Wortereignisformel kommt wiederum nicht in 2 Kön 14,25 vor. Hier heißt es, dass Jona „dem Wort des Herrn gemäß“ (hebr. kidəbar jhwh vgl. auch Jona 3,3). In 2 Kön steht zudem, dass Jona aus „Gat-Hefer“ (hebr. gat haḥefær) kommt. Die weniger ausführliche

260 261 262 263 264 265 266 267

Ellwood 2017, S. 569. Steffen 1994, S. 4. Simon 1994, S. 73. Simon 1994, S. 73. Döhling 2012; Weimar 2017, S. 55; Wick 2015, S. 22. Weimar 2017, S. 55; Wick 2015, S. 22. Weimar 2017, S. 79. Krispenz 2014.

62

2.1 Jona im Alten Testament

Charakterisierung Jonas weist darauf hin, dass Gott im Zentrum des Jona-Buches steht. Gottes Wort im Jona-Buch und in 2 Kön 14,25 unterscheidet sich voneinander. Im Buch der Könige handelt es sich um ein Heilswort für Israel: Dem „Wort des Herrn gemäß“ stellt der israelitische Jerobeam II, der Sohn des Joasch, „die Grenzen Israels wieder her von Lebo-Hamat bis zum Meer der Araba“ (2 Kön 14,25).268 Obwohl König Jerobeam II „tat, was böse war in den Augen des Herrn“ (2 Kön 14,24), dehnt sich der Herrschaftsbereich Israels aus. Gott „hilft“ und „rettet“ Israel trotz der „Sünden ihres Königs“ (2 Kön 14,24–27), weil Gott „die bittere Not Israels [sieht]: dass bis zum letzten Mann alle dahinschwanden und dass es für Israel keinen Retter gab“ (V. 26) und Gott „nicht im Sinn [hat], den Namen Israels unter dem Himmel auszutilgen.“ (V. 27) Durch die Verknüpfung mit 2 Kön 14,25 gilt Jona als Zeitgenosse Jerobeams II und als prophetischer Mitstreiter von Hosea sowie Amos, die „in den Tagen“ Jerobeams II (Hos 1,1; Am 1,1) wirken. Während Hosea Gottes Wort im Südreich unter dem judäischen König Hiskia (Hos 1,1) verkündet, gelten Amos und Jona als Nordreichpropheten. Die Verknüpfung von 2 Kön 14,25 und Jona vernetzt die drei Schriften des Zwölfprophetenbuchs miteinander und rückt Jona in eine besondere Nähe zu Amos. Beide verkünden Gottes Worte unter König Jerobeam II, doch die Botschaft unterscheidet sich drastisch: Amos verkündet „das Ende“ (Am 8,2) Israels und Jona sagt Gottes Hilfe, Rettung und Israels Ausbreitung an (2 Kön 14,25–28). Diese göttlichen Heilsworte für Israel unter König Jerobeam II finden im Jona-Buch keine Erwähnung. Die thematische Überschneidung ist Gottes rettendes Wirken trotz der Boshaftigkeit der Menschen. Jedoch kehrt niemand in 2 Kön 14 um. In den Königsbüchern verkündet Jona eine göttliche Heilsbotschaft, im Jona-Buch hingegen Unheilsworte. In beiden Erzählungen handelt Gott gnädig.269 Die Aussagen über Gottes „Barmherzigkeit“ (hebr. rachûm), „Gnade“ (hebr. chanûn), „Güte“ (hebr. chæsæd) und „Mitgefühl“ (hebr. chûs) kommen allerdings nur explizit im Jona-Buch vor. In 2 Kön 14 steht der Aspekt der Rettung („Retter“ hebr. ‘ozer V. 26; „retten“ hebr. jš‘ Hifil V. 27) vor vollkommener Auslöschung (hebr. mchh Hifil V. 27) im Vordergrund. Die Verse zuvor (2 Kön 14,26– 27) verstärken diesen Eindruck, da das „Elend“ bereits über Israel eingebrochen ist und Gott es stoppt. Ninive wendet es vorher ab.

2.1.2.2 Der „große Fisch“ Der „große Fisch“ nimmt eine prominente Rolle in der Auslegungs-, Rezeptionsund Wirkungsgeschichte des Jona-Buches ein, obwohl er ‚nur‘ in drei Versen der alttestamentlichen Erzählung vorkommt (hebr. dāg Jona 2,1.1.11; dāgāh Jona 2,2) 268

269

Zuletzt war die Grenze soweit nördlich unter der ruhmreichen Friedensherrschaft König Salomos (1 Kön 8,65) verlaufen (Simon 1994, S. 59). Ellwood 2017, S. 569; Gerhards 2008; Weimar 2017, S. 80.

2.1.2.2 Der „große Fisch“

63

und keine detaillierte Beschreibung erfährt. Lediglich das Adjektiv „groß“ (hebr. gādôl) beschreibt den Fisch näher, wobei das Adjektiv „eher ein theologisches Interesse“270 verfolgt als eine Längenbeschreibung zu sein. Nicht die Größe des Fisches, sondern „die Größe des göttlichen Einsatzes“271 steht im Vordergrund. Er verschlingt Jona und speit ihn wieder aus, beides im Auftrag Gottes. Das „ursprünglich wohl als Chaos symbolisierende, schlangenhaft vorzustellende mythische Wesen“272 scheint als Werkzeug Gottes „depotenziert […], um so die Macht des Schöpfers zu unterstreichen.“273 Im Jona-Buch kommt der „Fisch“ im Maskulinum (hebr. dāg) und im Femininum (hebr. dāgāh) vor. Dieser Genuswechsel hat verschiedene Deutungen angestoßen.274 Er bleibt schließlich doch unerklärbar und hebt dadurch die Vieldeutigkeit des Fisches hervor.275 Der „große Fisch“ kommt relativ selten im Alten Testament vor. Außer in Jona 2 geht es bei dāg/dāgāh um viele Fische als Lebensmittel oder die Gesamtheit der Fische als Repräsentanten aller Tiere des Wassers, die Gott, neben den Vögeln des Himmels, erschaffen und gesegnet hat. Diese allumfassende Schöpfermacht zeigt sich auch in Jonas Bekenntnis: „Den Herrn, den Gott der Himmel, fürchte ich, der das Meer und das trockene Land gemacht hat.“ (Jona 1,9) Gott verfügt als Schöpfer über die Fische. Das kommt auch durch das Sterben aller Fische im Kontext der Plagenerzählungen (Ex 7,18.21) zum Ausdruck. Fische sind Zeichen des göttlichen Heils (Ez 47,10), aber auch des Gerichts: „Und vor mir werden beben die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und die Tiere des Feldes und alle Kriechtiere“ (Ez 38,20).276 Diese Doppeldeutigkeit von Heil und Gericht spiegelt sich im Jona-Buch wider, wo der Fisch zugleich Zeichen von Gottes Gericht und Rettung ist. Die Erwähnung des großen Fisches im Jona-Buch ist Zeichen göttlichen Wirkens in der Welt. Dabei steht jedoch nicht der Fisch im Vordergrund, worauf sowohl die knappe Erwähnung im erzählenden Rahmen als auch die gänzlich fehlende Erwähnung im Jona-Psalm hinweist. Auch die intertextuellen Verknüpfungen tragen nicht zu einer Vertiefung des Verständnisses bei, weil Gott nirgendwo sonst einen „großen Fisch“ bestellt.

270 271 272 273 274

275 276

Weimar 2017, S. 225. Weimar 2017, S. 225. Weimar 2017, S. 226. Gerhards 2013a, S. 145. Schmitz deutet es z. B. als Oszillieren von Gender- und Sexkonstruktionen, die die Motive um „Zeugung, Geburt und Schöpfung“ miteinander verbinden (Schmitz 2006, S. 164–165). Jeremias wiederum begründet die Verwendung der femininen Form in V. 2 als stilistische Abweichung (Jeremias 2008a, S. 204). Gerhards argumentiert, dass hebr. dāgāh nicht unbedingt ein Femininum sein muss. Er deutet den Fisch als Maskulinum mit h-locale und damit als Aufenthaltsort Jonas (Gerhards 2006, S. 52). Steffen weist darauf hin, dass es sich in Jona 2, ebenso wie im Midrasch Jona, um zwei verschiedene Fische handeln kann (Steffen 1994, S. 28–29). Simon 1994, S. 98; Tucker 2006, S. 49. Riede 2010.

64

2.1 Jona im Alten Testament

2.1.2.3 „Ninive“ als Schauplatz „Ninive ist verwüstet!“ (Nah 3,7)

Die Stadt Ninive nimmt eine herausragende Rolle im Jona-Buch und im Alten Testament ein. In der Bibel ist sie als assyrische Hauptstadt und Großmacht bekannt. Letzteres gilt auch als Grund, warum Israel Ninive als „böse“ und bedrohlich wahrnimmt.277 Im Jona-Buch steht jedoch Gottes und nicht Israels Wahrnehmung im Mittelpunkt: „Fürwahr, hinaufgestiegen ist ihre Bosheit vor mein Angesicht.“ (Jona 1,3) Die Jona-Erzählung liefert keine historische Darstellung Ninives als assyrische Hauptstadt, denn sie vermischt Vorstellungen der assyrischen und persischen Großmächte miteinander,278 sodass Ninives Größe und Bosheit im Vordergrund stehen und nicht der geografische oder ethnische Aspekt. Doch Ninive steht nicht nur für das Böse im Jona-Buch. Sie ist auch die Stadt, die umkehrt. Die außerordentliche Kehrtwende der Stadt Ninive von ihren bösen Wegen kommt durch ihre allumfassende Umkehr zum Ausdruck. Ein Vergleich von Jona 3 und Jer 36 führt das vor Augen.279 Sowohl Jona 3 als auch Jer 36 drehen sich um die „Umkehr“ (hebr. šûv) von „bösen Wegen“ (hebr. dæræk rā‘). In beiden Perikopen handelt es sich um ein Hoffnungsmoment: In Jona 3 hofft der ninivitische König, dass es Gott reut (Jona 3,7) und lässt deshalb Umkehr über Ninive ausrufen. In Jer 36 hoffen Gott (Jer 36,3) und der Prophet Jeremia (Jer 36,7), dass das Haus Juda umkehrt. Das Haus Juda kehrt allerdings nicht um und der König Jojakim reagiert ganz anders als der König Ninives. Im Jeremia-Buch verkünden mehrere Personen Gottes Wort, indem sie das auf einer Schriftrolle niedergeschriebene Wort Gottes verlesen und darüber sprechen (Jer 36,8.10.13.15.21). Anders als im Jona-Buch kehrt der König nicht um und er „zerreißt“ (hebr. qāra‘ Qal) seine Kleider nicht (Jer 36,24). Stattdessen „zerreißt“ (hebr. qāra‘ Qal) er die Worte Gottes auf der Schriftrolle mit einem Schreibermesser und wirft die einzelnen Spalten ins Feuer (Jer 36,23). Im Gegensatz zum „König in Ninive verweigert Jojakim, der König von Jerusalem, die Umkehr und bleibt unbußfertig.“280 Ninives Umkehr in Jona 3 mit dem ninivitischen König „als positiver Antitypos zum schuldigen König Jojakim“281 wirkt im intertextuellen Vergleich umso erstaunlicher. Sowohl Umkehr zu als auch Abwendung von Gott sind mögliche menschliche Reaktionen. 277 278

279 280 281

Gerhards 2003, S. 65; Rollinger 2013, S. 37. Gerhards 2003, S. 72. Darauf weist nach Gerhards erstens der universale Gottesglauben Ninives, zweitens die enge Zusammenarbeit des Königs mit seinen Räten und drittens die Bußrituale Ninives mit der Teilhabe der Tiere hin, die allesamt typisch für die persische Kultur und Regierung waren, wie auch die biblischen Bücher Judit, Ester und Esra erzählen (Gerhards 2003, S. 67–70). Vgl. auch Weimar 2017, S. 337–338. Weimar 2017, S. 352–328. Weber 2016, S. 102. Jeremias 2004, S. 561.

2.1.2.4 Die Gnadenformel

65

Außer in der Jona-Erzählung, kommt Ninive im Zwölfprophetenbuch noch in Nah und Zef vor. In beiden Büchern vollstreckt Gott sein Gericht und vernichtet Ninive vollkommen (Nah 3,7; Zef 2,13). Das steht im Kontrast zur göttlichen Verschonung Ninives im Jona-Buch. Ninive gilt sowohl im Jona-Buch als auch in Nahum als „böse“ (hebr. rā‘āh Jona 1,2; Nah 1,11; 3,19). Das Verb „zugrunde gehen“ (hebr. abd Jona 1,6.14; 3,9; 4,10; Zef 2,13) stellt die Verbindunglinie der Bücher Jona und Zefania dar. In den Büchern Nahum und Zefania kehrt Ninive nicht um, woraufhin die Stadt im göttlichen Gericht zugrunde geht. Der biblische KanonMT/LXX weist die Abfolge Jona – Nah – Zef vor,282 die impliziert, dass Ninives Umkehr und Verschonung befristet sind. Gottes Reue erweist sich im kanonischen Kontext als dynamisch. Zwar ist sie begründet in Gottes Barmherzigkeit, Gnade, Güte und Mitgefühl, aber zugleich ist die göttliche Reue auch eine „reziproke Reaktion“283 auf menschliche Hoffnung und Umkehr. Gottes Gnade und Reue der Gerichtsankündigung sind das herausragende Moment des JonaBuches.

2.1.2.4 Die Gnadenformel „Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich die Bosheit gereuen lässt.“ (Jona 4,2)

Diese beeindruckende Charakterisierung Gottes kommt so oder in ähnlicher Form mehrfach im Alten Testament vor (Ex 34,6–7; Num 14,18; Dtn 4,31; 5,9–10; 2 Chr 30,9; Neh 9,17.31; Ps 78,38; 86,5.15; 103,8; 111,4; 116,5; 145,8; Weish 15,1; Sir 2,11; Joel 2,13; Jona 4,2; Nah 1,3). Spieckermann hat den Begriff „Gnadenformel“ für diese Gottesbeschreibung geprägt.284 Sie erklingt im Alten Testament aus dem Munde unterschiedlicher Erzählfiguren: im Gottesruf einiger Leviten (Neh 9,17), in den Worten eines Psalmbeters (Ps 86,15; 103,8; 145,8 u. a.),285 in der prophetischen Rede Joels (Joel 2,13) und als Selbstaussage Gottes (Ex 34,6). Zum ersten Mal und prägend für die gesamte Bibel begegnet die Gnadenformel in Ex 34. Dort ist sie göttliche Selbstoffenbarung, die an andere Selbstaussagen Gottes im Exodus-Buch anknüpft (Ex 3,14–15; 20,5–6; 22,20–26; 32,9–10; 282

283 284

285

In der masoretischen Fassung steht zwischen diesen drei Büchern jeweils ein weiteres Buch der XII (Jona, Mi, Nah, Hab, Zef). In der LXX ist das Buch Mi an dritte Stelle des XII vorgezogen, sodass sich folgende Reihenfolge ergibt: Jona, Nah, Hab, Zef. Döhling 2009, S. 478. Spieckermann 1990, S. 3. Spieckermann betrachtet dabei vor allem Ex 34,6 (und nicht Ex 34,7). Vgl. auch Scoralick 2002, S. 23; Vanoni 1995, S. 69–71; Zernecke 2015. Die Gnadenformel ist nicht nur in den Psalmen in Gebeten eingebettet, sondern auch in anderen biblischen Perikopen. So auch im Jona-Buch (hebr. pll Hitpael wajitəpalel).

66

2.1 Jona im Alten Testament

33,19): An die Offenbarung seines Namens und Wesens (Ex 3,14–15; 33,19) sowie an seine Selbstbeschreibung als „gütig“ (hebr. chæsæd Ex 20,6), „zornig“ (hebr. ’af Ex 22,23), „barmherzig“ (hebr. rchm Ex 33,19) und „gnädig“ (hebr. chanûn Ex 22,26 chnn Ex 33,19). Moses Fürbitte steht vor der Gottesrede in Ex 34. Er spricht über Gottes „Zorn“ (hebr. ’af) und bittet, dass Gott sich das Unheil „reuen“ (hebr. nchm) lässt (Ex 32,11–13). Auf Gottes Erscheinung am Sinai (Ex 19), seine Gebote (Ex 20) und auf den Bundesschluss mit Israel (Ex 24) folgt Israels „große Sünde“ (Ex 32,30): der Götzendienst Israels am goldenen Kalb in Moses Abwesenheit (Ex 32). Gott sagt daraufhin zu Mose: „Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt!“ (Ex 32,10) Doch Mose besänftigt Gott mit seiner Fürbitte (Ex 32,11). Ex 34 erzählt von einer erneuten Stiftung der Gottesgemeinschaft.286 Jede weitere Erwähnung der Gnadenformel ist ein Moment der erneuten Gottesbegegnung. Indem Jona die Gnadenformel zitiert, verweist er auf Gottes Bund am Sinai.287 Jona spricht ebenso wie Mose mit Gott, doch Jona und Mose unterscheiden sich voneinander: Während Mose Fürbitte für Israel hält und um Gottes Reue bittet, hadert Jona mit ebendieser. Jona erkennt Gottes Barmherzigkeit, kann sie jedoch nicht ertragen. Jona stellt Gottes „Reue“ (hebr. nchm) heraus, die ansonsten im Kontext der Gnadenformel nur noch in Ex 32,12–14 und Joel 2,13–14 steht. Die Rede über göttliche Reue hebt das dialektische Verhältnis von Gottes Gericht und Barmherzigkeit hervor.288 Dabei betont Jona die „Gnade“ Gottes (hebr. chanûn), denn sie steht ebenso wie in 2 Chr 30,9; Ps 111,4; 145,8, Neh 9,31; Joel 2,13; Sir 2,11 an erster Stelle und die Begriffe „Gnade“ (hebr. chanûn) und „Barmherzigkeit“ (hebr. rachûm) kommen im alttestamentlichen Kanon nach Jona 4,2 nicht mehr vor. Es fällt auf, dass die Aufzählung der Eigenschaften Gottes mit der Erwähnung von „Gnade“ (hebr. chanûn), „Barmherzigkeit“ (hebr. rachûm), Langmut „zum Zorn“ (hebr. ’af), „Güte“ (hebr. chæsæd) und „Reue“ (hebr. nchm) nur bei Jona und Joel so umfassend sind. Die Gnadenformel im Joel-Buch (Joel 2,13) stellt daher die stärkste intertextuelle Verknüpfung zu Jona 4,2 dar. Joel gilt als Hinführung zum Jona-Buch, weil es vor der Jona-Erzählung im Zwölfprophetenbuch steht und beide Bücher formale und theologische Überschneidungen aufweisen.289 Ebenso wie das Jona-Buch ist das Joel-Buch zweiteilig und rückt in Form von literarischer Prophetie das Gericht Gottes (Tag des Herrn) und den Ruf zur Umkehr in den Vordergrund.290 An die Gnadenformel knüpft das prophetische „Vielleicht“ an: „Wer weiß, vielleicht kehrt Gott um und es reut ihn und er lässt Segen zurück“ (Joel 2,14). Die Worte des Propheten Joel erinnern an die Hoffnung des ninivitischen Königs (Jona 3,9). Die Hoffnung auf Gottes Umkehr und die Freiheit Gottes sind in beiden Büchern zentral. Jedoch lässt das Joel-Buch im 286 287 288 289 290

Aurelius 1988, S. 121. Routledge 2017, S. 54. Döhling 2009, S. 526. Jeremias 2008b. Scoralick 2017a, S. 2094.

2.1.2.5 Das Zwölfprophetenbuch als Kontext

67

Gegensatz zum Jona-Buch offen, wie die HörerInnen auf den göttlichen Umkehrruf reagieren. Ein Vergleich aller intertextuellen Bezüge zur Gnadenformel zeigt, dass es um göttliche Selbstoffenbarung und um die menschliche Erkenntnis der göttlichen Offenbarung geht. Gottes „Gnade“ und „Barmherzigkeit“ stehen dabei im Mittelpunkt, zumeist auch in einem dialektischen Verhältnis zu seinem „Zorn“ und seinem „Gericht“. Die Gnadenformel in Jona 4,2 hebt dieses Spannungsverhältnis hervor und macht es zum theologischen Hauptthema des gesamten Buches. Jonas Gebet ist in der biblischen Tradition verortet und regt eine intertextuelle, biblische Lektüre an. Ebenso wie Mose „zitiert“ er Gottes Selbstoffenbarung und bezieht sich damit auf Gottes Bund und die menschliche Hoffnung auf Umkehr. Jona führt die Gnadenformel als Grund für seine Flucht an und gibt ihr dadurch eine andere Konnotation: Es ist ein Hadern mit Gott und kein Lobgesang. Gott kennen und erkennen hat sowohl positive als auch herausfordernde Seiten.

2.1.2.5 Das Zwölfprophetenbuch als Kontext Neben den starken intertextuellen Bezügen zum Joel-Buch, knüpft das JonaBuch noch an weitere Schriften des Zwölfprophetenbuches an. Das Zwölfprophetenbuch ist eine Komposition aus zwölf einzelnen Schriften, die sich jedoch thematisch und theologisch aufeinander beziehen. Deshalb erscheint es sinnvoll, Jona im Kontext des gesamten Zwölfprophetenbuches zu lesen. Dafür stellt die Gnadenformel einen theologischen Schlüssel dar: Die Rede von Gottes „Barmherzigkeit“ (hebr. rachûm), „Erbarmen“ (hebr. rchm), „Gnade“ (hebr. chanûn) und „Güte“ (hebr. chæsæd) verbindet gleich mehrere Bücher miteinander.291 Aber auch Gottes Gericht und sein „Zorn“ sind wiederkehrende Motive des Zwölfprophetenbuches.292 Gott fordert Umkehr und kehrt selbst um.293 Das Zwölfprophetenbuch hebt sich von Ex 34 ab, weil nur hier die Rede von menschlicher und göttlicher Umkehr ist.294 Gottes Handeln in der Welt, sein Gericht und seine Gnade, hängen auch immer mit menschlicher Umkehr zusammen. Die fortwährende Forderung nach Umkehr unterstreicht, dass damit eine dauerhafte Hinwendung zu Gott gemeint ist und kein einmaliges Ereignis. Die Erzählungen sowie Prophetenworte erinnern daran.295 Die Verknüpfung von Gnade, Gericht 291

292

293 294 295

Hebr. rachûm Joel 2,13; Jona 4,2 hebr. rchm Hos 1,6.7; 2,6.25; 14,4; Mi 7,19; Hab 3,2; Sach 1,12; 10,6; hebr. chanûn: Joel 2,13; Jona 4,2 hebr. chæsæd Hos 2,21; 4,1; 6,4.6; 10,12; 12,7; Joel 2,13; Jona 2,9; 4,2; Mi 6,8; 7,18.20; Sach 7,9. Hebr. chrh Hos 8,5; Jona 4,1.4.9.9; Hab 3,8; Sach 10,3; hebr. ’af Hos 8,5; 11,9; 13,11; 14,5; Joel 2,13; Am 1,11; 4,10; Jona 3,9; 4,2; Mi 5,14; 7,18; Nah 1,3.6; Hab 3,8.12; Zef 2,2.2.3; 3,8; Sach 10,3. Zur Bedeutung des Umkehr-Motivs im XII: Biberger 2011. Scoralick 2002, S. 206. Wöhrle 2008, S. 417.

68

2.1 Jona im Alten Testament

und Umkehr im Kontext der Gnadenformel betont zugleich „Gottes Vergebungsbereitschaft wie auch die Ernsthaftigkeit des göttlichen Gerichtswillen“.296 Die Aufforderung zur Umkehr steht schon innerhalb des Zwölfprophetenbuches in unterschiedlichen zeitlichen Kontexten und spricht darüber hinaus alle LeserInnen aufs Neue im Lektürevorgang an. Das Wort Gottes ist dadurch zugleich zeitlich verortet und zeitlos. Ein prägnantes Motiv des Zwölfprophetenbuches, das allerdings nicht explizit im Jona-Buch vorkommt, dafür aber in den Büchern Joel, Amos, Obadja, Zefania und Maleachi, ist die Ankündigung des „Tag des Herrn“ (hebr. jôm jhwh). Insgesamt kommt der Ausdruck „Tag des Herrn“ nur 16-mal im Alten Testament vor, davon allein 13-mal im Zwölfprophetenbuch. Im Zwölfprophetenbuch stellt der „Tag des Herrn“ einerseits ein „punktuelles Gerichtshandeln JHWHs gegen sein eigenes Volk“297 und andererseits das universale, endzeitliche Weltgericht dar.298 Es dreht sich um die Ankündigung eines nahenden göttlichen Gerichts, insofern liegt eine Überschneidung mit den Unheilsworten in Jona 3,4 vor, doch die eindringlichen Beschreibungen der „Tag des Herrn“-Motivik („Finsternis“, „Schreie“, „Heimsuchung“, „Kriege“, „Kämpfe“, aber auch „Rettung“ auf dem „Berg Zion“ und in „Jerusalem“) kommen nicht im Jona-Buch vor. Zudem vermittelt das Jona-Buch keinen Eindruck von Endgültigkeit, wie die Offenheit der Erzählung, Gottes dynamisches Handeln und die an Jona anknüpfenden Schriften des Zwölfprophetenbuches betonen, während die „Tag des Herrn“-Motivik einen Schwerpunkt auf die Wende zur endgültigen Heilszeit setzt. Im Zwölfprophetenbuch kommen Herausforderungen und Fragestellungen mehrerer Jahrhunderte miteinander ins Gespräch,299 weil unterschiedliche Redestimmen in verschiedenen zeitlichen und örtlichen Erzählkontexten zu unterschiedlichen Adressaten in unterschiedlichen Formen der Adressierung sprechen. Gott redet (durch und mit seinen Propheten) zu seinem Volk oder zu den Völkern, zu einer Stadt oder mehreren Städten.300 So ergibt sich ein theologisch 296 297 298

299 300

Scoralick 2002, S. 204; Weimar 2017, S. 386. Beck 2008. Vgl. Am 5,4: „Ja, so spricht der HERR zum Haus Israel“. Vgl. Joel 2,6 „Bei ihrem Anblick winden sich Völker, alle Gesichter glühen vor Angst.“; Obd 15 „über alle Völker“; Zef 1,9 „an jenem Tag suche ich jeden heim“. Wöhrle 2008, S. 417. „Stadt“ hebr. ‘îr Hos 8,14.14; 11,6; 13,10; Am 4,6.8; 9,14; Obd 20; Mi 5,10.13; 7,12; Zef 1,16; 3,6; Sach 1,12.17; 7,7; 8,20; „Städte“ hebr. ‘îrim Joel 2,9; Am 3,6.6; 4,7.7.8; 5,3; 6,8; 7,17; Jona 1,2; 3,2.4; 4,5.5.5.11; Mi 6,9; Nah 3,1; Hab 2,12; Zef 2,15; 3,1; Sach 8,3.5; 14,2.2.2; Zur Bedeutung der „Stadt“ und „Städte“ im XII: Krispenz und Schart 2012. „Volk“ hebr. ‘am (kommt in allen XII-Schriften vor, ins. 74-mal) „Völker“ hebr. ‘amîm (27-mal in Hos, Joel, Mi, Hab, Zef, Sach); „Volk“ hebr. gôj (13-mal in Joel, Am, Mi, Hab, Zef, Hag, Mal) „Völker“ hebr. gôjim (kommt in allen XII-Schriften außer in Jona vor, ins. 59-mal), „Volk“ hebr. lǝ’om (Hab 2,13). Diese Betrachtung zeigt, dass das Wortfeld „Volk/Völker“ im Jona-Buch im Vergleich zu den anderen XII-Schriften sehr selten vorkommt. Das unterstützt die Argumentation, dass das Völkerthema kein Hauptaspekt des Jona-Buches ist (Abschnitt 2.1.1.3). Mehr zum Völkerthema im XII in Roth 2005.

2.1.2.5 Das Zwölfprophetenbuch als Kontext

69

spannungsreiches Geflecht verschiedener Gottesaussagen mit vielfältigen kontextuellen Färbungen.301 Die Bücher setzen verschiedene theologische und thematische Schwerpunkte, wobei Gottes Ringen mit seinem Volk (und den Völkern) der übergreifende Horizont ist. Durch die Spannung von Unheil und Heil, Gericht und Gnade sind alle Schriften miteinander verknüpft. Die unterschiedlichen Perspektiven, Kontexte und Adressaten des Zwölfprophetenbuches lehnen die Konstruktion von simplifizierten Gegensatzpaaren („Volk Israel“ vs. „Völker“ oder „Nordreich“ vs. „Südreich“) ab.302 Die Propheten empfangen und verkünden Gottes Worte und schauen seine Visionen, stehen aber nicht als individuelle Menschen im Zentrum der Erzählungen. Mit der Rede über Gottes Barmherzigkeit, Gnade und Güte sowie seinem Zorn steht die Beschreibung von Gottes Wesen im Mittelpunkt. Das Jona-Buch verortet sich theologisch und thematisch in der Mitte des Zwölfprophetenbuches. In der Art, wie es von Gottes Gnade und Gericht erzählt, liegt ein Unterscheidungsmerkmal: Das Jona-Buch ist eine narrative Unterbrechung, die zwischen der Vision Obadjas und den Worten Gottes, die der Prophet Micha verkündet (oder in der Septuaginta: die Nahum über Ninive ausspricht), steht. Die Frage am Ende des Jona-Buches öffnet es für daran anknüpfende Lektürevorgänge. In der masoretischen Fassung folgen die Bücher Micha und Nahum. In der Septuaginta schließt das Nahum-Buch als direkte Antwort an. Die beiden Bücher eröffnen unterschiedliche Perspektiven auf die Frage nach Gottes Mitgefühl mit seinen Geschöpfen (Jona 4,10). Der Begriff „Mitgefühl“ (hebr. chûs) kommt in Jona 4,11 zum letzten Mal im biblischen Kanon vor und findet daher keine explizite Erwähnung in den Schriften Micha und Nahum. Weimar beschreibt das Buch Micha als „eine Art Echo auf den Schluss der Jonaerzählung“303 mit dem letzten Vers des Micha-Buches als Antwort auf Gottes Frage in Jona: „Du wirst Jakob Treue und Abraham Liebe erweisen, wie du unseren Vätern geschworen hast in den Tagen der Vorzeit.“ (Mi 7,20) Das Gottesvolk lobpreist Gottes „Treue“ (hebr. ’ämæt) und „Liebe“ (bzw. „Güte“ hebr. chæsæd). Auch die jüdische Leseordnung an Jom Kippur hebt die Verknüpfung der Frage in Jona mit dem letzten Vers des Micha-Buches als Antwort hervor: Auf die Lesung des JonaBuches folgt Mi 7,18–20 als zweite Lesung und Antwortgebet.304 Im Buch Micha bilden Gottes „Güte“ (hebr. chæsæd Mi 7,18.20), „Erbarmen“ (hebr. rchm Mi 7,19) und „Treue“ (hebr. ’ämæt Mi 7,20) keine Gegensätze. Der Konflikt des Jona-Buches ist relativiert. Der Lobpreisende nimmt Gott gleichzeitig als gütig und treu wahr und sieht darin keinen Widerspruch. Das Buch Micha hat im Gegensatz zum Jona-Buch eine starke endzeitliche Ausrichtung: Gott kommt herab, thront und richtet alle Völker auf dem Zion (Mi 4,1–5). Die Vision eines allumfassenden 301 302 303 304

Schart 2007. Scoralick 2002, S. 205. Weimar 2017, S. 439. Magonet 1998, S. 120.

70

2.1 Jona im Alten Testament

Friedensreiches leuchtet auf. Zwar erwähnt das Micha-Buch Ninive nicht explizit, doch Mi 5,5 deutet auf die Zerstörung der assyrischen Stadt Ninives hin, weil Assur als Metonymie für Ninive gilt und Nimrod als Gründungsfigur Ninives (Gen 10,11): „Sie werden das Land Assur mit dem Schwert weiden, Nimrods Land an seinen Zugängen. Er wird uns vor Assur retten, wenn es in unser Land kommt und in unser Gebiet eindringt.“ (Mi 5,5) An die Rede von der völligen „Verwüstung“ (hebr. šdd Nifal Mi 2,4) Assyriens knüpft Nah 3,7 an und grenzt sie auf die Stadt Ninive ein: „Verwüstet ist Ninive.“ (hebr. šdd Pual) Die Verkündigung des Gerichts über Assur (Mi 5,5) und die Verwüstung Ninives (Nah 3,7) kommentieren die Verschonung Ninives im JonaBuch: Die Umkehr Ninives ist nicht beständig und Gott reagiert darauf.305 Ninive ist (wieder) „böse“ (hebr. rā‘āh Jona 1,2; Nah 1,11; 3,19). Die kanonische Lektüre der drei Bücher hebt die Dynamik von Gottes Reue und seinen Verschonungswillen hervor. Gott ist zwar „langsam zum Zorn und groß an Güte“ (Jona 4,2), dennoch ist seine Güte und seine Barmherzigkeit nicht grenzenlos. Sein Zorn kann entflammen, wenn sich der menschliche Umkehrwille nicht als nachhaltig erweist. Nah 1,3 knüpft, wie Jona 4,2, ebenfalls an Ex 34,6–7 an. Im Gegensatz zu Jona 4,2 hebt Nah 1,3 Gottes Zorn hervor: „Der Herr ist langmütig und groß an Kraft; doch ganz sicher lässt der Herr nicht ungestraft.“ (Nah 1,3, vgl. Ex 34,7) Während dieser letzte Versteil, der die Gnadenformel in Ex 34,7 abschließt, nicht in Jona 4,2 vorkommt, steht der Begriff „davonkommen lassen“ (hebr. nqh Piel, wortwörtlich wie in Ex 34,7 hebr. wənaqeh lo‘ jənaqæh) zweimal aufeinanderfolgend in Nah 1,3. Dadurch sticht Gottes Gerichtswille und Gerechtigkeitsliebe hervor. Das Buch Nahum schließt genau wie das Jona-Buch mit einer offenen Frage ab, allerdings legt es einen anderen Schwerpunkt. Während das Jona-Buch mit der Rede über Gottes Mitgefühl endet und es gleichzeitig durch die Frageform für anknüpfende Antworten öffnet, nimmt das Nahum-Buch diesen Fragekomplex auf und stellt die „Unausweichlichkeit des göttlichen Gerichts [in den] Vordergrund.“306 Dabei behält es die Offenheit des Jona-Buches bei, indem es ebenfalls mit einer Frage endet und eine weiterführende Lektüre bei den LeserInnen anregt. Das Ringen mit der ambivalenten Wahrnehmung von Gottes Barmherzigkeit und seinem Gerichtshandeln trägt die LeserInnen durch das gesamte Zwölfprophetenbuch. Als letzte Schrift des Zwölfprophetenbuches eröffnet Maleachi eine hoffnungsvolle Perspektive.307 Rettung im Gericht ist möglich, wenn die Menschen umkehren (Mal 3,24). Der Prophet Elija wird erneut auftreten, bevor der „Tag des Herrn“ kommt und lässt die Herzen der Väter und Söhne zueinander „umkehren“ (hebr. šûv Hifil). Der Schwerpunkt liegt allerdings nicht auf dem Ruf zur Umkehr (hebr. šûv Qal), wie an vielen anderen Stellen des Zwölfprophetenbuches, 305 306 307

Simon 1994, S. 24. Weimar 2017, S. 63. Weimar 2017, S. 65.

2.1.3 Jona in der Septuaginta

71

sondern auf Rettung (hebr. šûv Hifil auch „retten“, „wiederherstellen“) und Eintracht, bevor der „Tag des Herrn“ kommt.308 Es handelt sich um eine endzeitliche Verheißung. Daher eröffnet auch der letzte Vers der letzten Schrift des Zwölfprophetenbuches (und des christlichen Alten Testaments insgesamt) eine Perspektive nach vorne. Der Vers schließt das Buch nicht ab, stattdessen lässt es LeserInnen hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

2.1.3 Jona in der Septuaginta Weil jede Übersetzung auch Interpretation ist,309 gilt auch die Septuaginta als griechische Übersetzung des hebräischen Urtextes als eine Jona-Rezeption. Ein Vergleich der hebräischen und griechischen Fassung macht deutlich, dass sich die Jona-Erzählung in der masoretischen Fassung und in der Septuaginta nur minimal unterscheidet.310 Dennoch gibt es einige wenige, dafür aber markante Unterschiede. Erstens stellt sich Jona als „Knecht Gottes“ (griech. doulos kyriou Jona 1,9LXX) in der Septuaginta vor und nicht als „Hebräer“ (hebr. ‘ibərî). Der Titel „Knecht“ (griech. doulos) kommt im Dodekapropheton achtmal vor. In der Kombination „Knecht Gottes“ steht er jedoch nur im Jona-Buch. Wenn er ohne den Zusatz „Gott“ im Dodekapropheton steht, handelt es sich häufig um ein Synonym zum Begriff „Prophet“ (griech. prophētēs Am 3,7; Joel 3,2; Sach 1,6). Im Zwölfprophetenbuch steht der Begriff „Hebräer“ (hebr. ‘ibərî) nur in Jona 1,9, ansonsten übersetzt die Septuaginta den hebräischen Begriff „Sklave/Knecht“ (hebr. ‘ævæd) mit „Knecht“ (griech. doulos). Der hebräische Begriff „Sklave/Knecht“ (hebr. ‘ævæd) kommt zwar nicht im Jona-BuchMT vor, jedoch in der Rede über Gottes „Knecht, den Propheten Jona, den Sohn Amittais aus Gat-Hefer“ in 2 Kön 14,25. Die Septuaginta hebt die intertextuelle Beziehung der beiden Perikopen (4 Kgt 14,25 [= 2 Kön 14,25MT] und Jona 1,9) durch die verknüpfende Charakterisierung Jonas als 308 309

310

Otto 2009. Das ist unabhängig davon, ob ein Übersetzer die Bedeutung des Textes bewusst oder unbeabsichtigt verändert (Ausloos und Lemmelijn 2020, S. 23). Die Septuaginta entstand zwischen dem 3.–1. Jhd. v. Chr. und gilt als „die ‚Mutter‘ aller Bibelübersetzungen“ (Aejmelaeus 2009, S. 545). Sie genoss hohes Ansehen im antiken, griechischen Judentum. Das hat sich allerdings im Laufe der Zeit geändert: „Parallel zu der Entwicklung, dass die S. mit dem NT zur Heiligen Schrift der frühen Kirche avancierte, vollzog sich auf jüdischer Seite durch die rabbinische Restauration nach der Tempelzerstörung eine Hinwendung zum Hebräischen Text in Abgrenzung vom hellenistischen Judentum und zu Lasten des jüdischen Strangs der Septuaginta-Tradierung. Aufgrund ihrer Überlieferungsgeschichte ist die S. daher heute ein christlich geprägtes Buch (und die offizielle Textgrundlage der griechisch-orthodoxen Kirche); gleichwohl ist sie unter hermeneutischen Gesichtspunkten als eine Christentum und Judentum gemeinsame Grundlage neben der Hebräischen Bibel anzusprechen.“ (Ulrich 2009; vgl. auch Veltri 2009, S. 548). Fuller 2000, S. 556; Hoheisel 1998a, S. 673.

72

2.1 Jona im Alten Testament

„Knecht“ (griech. doulos) Gottes hervor. Die Veränderung des ersten Wortes von Jonas Bekenntnis („Knecht“ anstelle von „Hebräer“) rückt Jonas Prophetenamt in den Mittelpunkt, weil „Knecht“ (griech. doulos) und „Prophet“ (griech. prophētēs) im Dodekapropheton und in 4 Kgt 14,25 Synonyme bilden. Jona soll eine „Botschaft“ (griech. kērygma) „verkünden“ (griech. kēryssō). Der griechische Begriff kērygma ist selten in der Septuaginta und kommt nur dreimal vor (2 Chr 30,5; Esdras A 9; Jona 3,2). Das Verb kēryssō kommt etwas häufiger vor, proportional gesehen mit fünf Vorkommnissen (Jona 1,2; 3,2.4.5.7) sehr häufig im JonaBuch. Jona ist der einzige Prophet, der in der Septuaginta eine „Botschaft“ (griech. kērygma) verkündet.311 In der Septuaginta ist das Wortfeld „Verkündigung“ ein Leitthema des Jona-Buches. Neben Jona „verkünden“ auch die „Männer von Ninive“ (Jona 3,5) und der „König von Ninive“ (Jona 3,7). Außerdem unterscheidet sich Jonas Verkündigung in der Septuaginta hinsichtlich der Frist, bis Gottes Gericht einsetzt. Sie ist mit drei anstelle von 40 Tagen wesentlich kürzer. Weimar geht davon aus, dass die Zeitangabe in der masoretischen Fassung ursprünglich ist und die Septuaginta sie verändert, weil die Zahl drei im Jona-Buch häufig vorkommt.312 Beide Zahlen haben symbolischen Wert. Die Zahl 40 symbolisiert einen Zeitraum des göttlichen Gerichts, der Umkehr und Gottesbegegnung. Sie kommt zum ersten Mal in Gottes Ankündigung der Sintflut vor: „dann lasse ich es 40 Tage und 40 Nächte lang auf die Erde regnen und tilge vom Erdboden alle Wesen, die ich gemacht habe.“ (Gen 7,4) Neben der mehrfachen Verwendung der Zahl 40 in der Sintflut-Erzählung (Gen 7,4.4.12.12.17; 8,6) trägt Ezechiel „40 Tage lang die Schuld des Hauses Juda“ (Ez 4,6) auf sich. Bei beiden Erzählungen handelt es sich ebenso wie im Jona-Buch um einen begrenzten Gerichtszeitraum. Zudem kommt die Angabe „40 Tage“ im Kontext von intensiver Gottesbegegnung vor (Mose und Gott in Ex 24,18; 34,28; Dtn 9,9.11.18.25; 10,10; Elija und Gott in 1 Kön 19,8). Bei einer Begrenzung auf 40 Tage handelt sich um eine Bewährungsfrist.313 Die Angabe „drei Tage“ (griech. treis ēmeras) hingegen rückt das Fasten Ninives in den Mittepunkt, da es sich bei drei Tagen um einen typischen Fastenzeitraum handelt.314 Darüber hinaus ist es ein Zeitraum, in dem Menschen Rettung erfahren (1 Sam 30,12; Est 4,16; Jona 2,1). Die Angabe „drei Tage“ kommt viermal im Jona-BuchLXX vor (Jona 2,1.1; 3,4.5). Sie verknüpft Jonas Verkündigung in Ninive mit seiner Rettung im Fisch und verbindet so die Gotteserfahrungen von Ninive und Jona miteinander. In der Septuaginta heißt es im erzählenden Rahmen, dass sich Jona „im Bauch des großen Fisches“ (griech. tē koilia tou kētous) befindet. Ebenso wie in der masoretischen Fassung kommt der Begriff „großer Fisch“ (griech. kētous) nicht im Psalm vor, jedoch stellt der „Bauch“ (griech. koilia) eine semantische Brücke 311 312 313 314

Wolter et al. 2008, S. 425. Weimar 2017, S. 297. Döhling 2009, S. 439. Weimar 2017, S. 298.

2.1.3 Jona in der Septuaginta

73

zwischen erzählender Einleitung und Psalm dar. Jona ruft aus der Bedrängnis, aus dem „Bauch des Hades“ (griech. koilias adou) zu Gott (Jona 2,3). So verbindet die Septuaginta Jonas Aufenthalt im Fisch und die Erfahrung von Gottesferne miteinander. Der Begriff „großer Fisch“ (griech. kētous Jona 2,1: kētei megalō) kommt im Dodekapropheton nur im Buch Jona vor. Insgesamt kommt der griechische Begriff kētous zwölfmal in der Septuaginta vor und davon am häufigsten im Jona-Buch (Jona 2,1.1.2.11). In allen Perikopen kommt die göttliche Macht zum Ausdruck: Gott, der Schöpfer, verfügt selbst über große Fische. Lobpreis und (Ehr-)Furcht erklingen. Die Septuaginta übersetzt unterschiedliche hebräische Begriffe mit griech. kētous. In Gen 1,21 steht hebr. tanninim („Wassertiere“), in Ijob 3,8 hebr. liwejātān („Leviathan“), in Ijob 9,13 und 26,12 hebr. rahab („Rahab“). Nur im Jona-Buch steht der griechische Begriff kētous als Übersetzung der hebräischen Wörter dāg/dāgāh. Die Begriffe dāg/dāgāh übersetzt die Septuaginta ansonsten häufig mit dem griechischen Begriff ichthys. Der Begriff ichthys steht auch in der TobitErzählung (Tob 6,2.3.3.4.5.7.17; 8,2; 11,4). Zwar sind es unterschiedliche Begriffe für den Fisch, dennoch hebt Finitsis die Verknüpfung der beiden Fisch-Episoden im Jona- und Tobit-Buch hervor, weil der Fisch in beiden Erzählungen sowohl Rettung als auch Not symbolisiert.315 Das Tobit-Buch weist einige andere intertextuelle Verknüpfungen zum Jona-Buch auf: Die Rede über Ninive (Tob 1,3.10.17.19.22; 2,2; 7,3; 11,1.15.16.18; 14,1.4.8.9.10.15), der tieftraurige Tobit (Tob 3,1 „in der Seele tieftraurig“) und sein Todeswunsch (Tob 3,6 „Denn es ist besser für mich, zu sterben als zu leben.“) 3 Makk 6,8 bezieht sich explizit auf den „großen Fisch“ im Jona-Buch: „Und den Jona, der im Bauch eines in der Meerestiefe lebenden Seeungetüms schonungslos hinschwand, hast du, Vater, allen Angehörigen unversehrt wieder gezeigt.“ Dabei handelt es sich um die Worte des Priesters Eleasar, der zu Gott betet. Er lobpreist Gott als König (3 Makk 6,2), als mächtigen Schöpfer (3 Makk 6,2) und hebt vor allem Gottes rettendes sowie machtvolles Eingreifen hervor. Gott rettete das Volk vor dem ägyptischen Pharao (3 Makk 6,4; vgl. Ex 14–15) und vor dem assyrischen König Sanherib (3 Makk 6,5; vgl. 4 Kgt 18–19 [= 2 Kön 18–19MT]). Er rettet die drei jungen Männer aus dem glühenden Feuerofen (3 Makk 6,6; vgl. Dan 3) und Daniel aus der Löwengrube (3 Makk 6,7; vgl. Dan 6). Die Rettung Jonas aus dem Fischbauch schließt Eleasars Lobpreisung der göttlichen Rettungshandlungen ab. Sie mündet in einer Fürbitte um Gottes „Mitgefühl“ (3 Makk 6,9) und „Rettung“ (3 Makk 6,9–15) für sich und sein Volk. Das Gebet Eleasars konnotiert den Fisch positiv und hebt Jonas Aufenthalt im Fisch als eine zentrale Erfahrung göttlicher Rettung hervor. Insgesamt gibt es nur wenige auffällige Unterschiede zwischen der hebräischen und der griechischen Fassung der Jona-Erzählung. Die Septuaginta rückt

315

Finitsis 2017, S. 574.

74

2.1 Jona im Alten Testament

Jonas Verkündigung und die göttliche Rettung in den Vordergrund. Gottes rettendes Wirken kommt sowohl Jona als auch Ninive zugute. Die Begriffe „Botschaft“ (griech. kērygma), „Fisch“ (griech. kētous) und der Zeitraum „drei Tage“ (griech. treis ēmeras) sind Leitwörter in der Septuaginta. Alle drei Begriffe kommen ebenfalls in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen vor. Das unterstreicht, dass die Septuaginta eine Brücke zu den neutestamentlichen Rezeptionen alttestamentlicher Erzählungen darstellt.316

2.1.4 Zusammenfassende Thesen Die Herausarbeitung der elementaren Strukturen des alttestamentlichen JonaBuches verdeutlicht die theologische Tiefe des „kleinen“ Jona-Buches. Lerngruppen können elementare Wahrheiten aushandeln – über sich und über Gott mehr erfahren.317 Das Jona-Buch lädt aufgrund seiner literarischen Offenheit und zahlreicher intertextueller Verknüpfungen zu einer weiterführenden Sinnsuche ein. Die elementaren Strukturen stellen die Basis dafür dar.

2.1.4.1 Elementare Strukturen des alttestamentlichen Jona-Buches –



316

317

Das Jona-Buch ist eine bewegte und bewegende Lehr-Erzählung: Sie bietet Impulse, die Welt mit und von Gott her zu deuten. Die theologische Dimension der Erzählung ist bedeutend: Das Verhältnis von Gottes Gerichtsankündigung und seiner gnadenvollen Zuwendung im Spannungsfeld von Treue und Reue, von statischer und dynamischer Gerechtigkeit ist das theologische Moment der Jona-Erzählung. Gottes Wesen und nicht Jonas Prophetenamt steht im Mittelpunkt des Buches. Das Jona-Buch ist eine „Wort-Gottes-Geschichte". Dabei tritt Gott als aktive und dynamische Erzählfigur auf. Als literarische Prophetie verkündet

Silva 2016, S. 431–432; Wischmeyer 2009, S. 312. Darüber hinaus stellen die Wörter „Jona“ (griech. Iōnas), „im Innersten“ (griech. en tē koilia), „großer Fisch“ (griech. kētous), „drei Tage und drei Nächte“ (griech. treis ēmeras kai treis nyktas), „Männer von Ninive“ (griech. andres Nineuitai), „Botschaft“ (griech. kērygma) und „umkehren“ (griech. metanoeō) semantische Parallelen zwischen dem alttestamentlichen Jona-Buch in der LXX und der JonaRezeption im Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland) dar. Mehr dazu in Abschnitt 2.2.1.3. Bei den elementaren Wahrheiten handelt es sich um eine weitere Dimension des Tübinger Elementarisierungsmodells. Die Erschließung der alttestamentlichen Jona-Erzählung im Religionsunterricht stößt existenzielle Gespräche über Glaubensfragen und -perspektiven an (Schweitzer 2018, S. 435). Die alttestamentliche Jona-Erzählung leistet Impulse, (göttliche) Gerechtigkeit zu thematisieren. Das kann zu Gesprächen über das eigene Ringen mit Gott sowie der Wahrnehmung von Zorn und Gnade, Not und Rettung führen.

2.1.4.2 Intertextualität: Das Jona-Buch im Alten Testament

















75

die Jona-Erzählung das Wort Gottes, wobei die theologische Lehre über Gottes Barmherzigkeit (Jona 4,2) zentral ist und nicht die kurze Prophetenrede Jonas (Jona 3,4). Erst im letzten Kapitel ist explizit die Rede von Gottes Gnade und Barmherzigkeit (Jona 4,2), dennoch dreht sich die gesamte Jona-Erzählung um dieses theologische Moment. Ein Zusammenspiel von Pro- und Analepsen, Brüchen, Verbindungslinien und Leerstellen bereitet die LeserInnen allmählich auf das theologische Finale im letzten Kapitel vor. Jonas Worte über Gott stechen hervor, weil Jona die Barmherzigkeit Gottes nicht lobt. Stattdessen ist er zornig. Die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten zeigen, dass der Text eine bewusste Leerstelle setzt und so die Wirkung von Gottes Barmherzigkeit in den Vordergrund rückt. Seine Barmherzigkeit und Gnade lösen Freude und Zorn bei Menschen aus. Dieses Ringen um und mit Gott ist kein spezifisch israelitisches Problem, weshalb das Jona-Buch es losgelöst von der Völkerfrage in einem ahistorischen Kontext diskutiert. Die Interaktion von Menschen und Tieren als bußfertige Schicksalsgemeinschaft ist ein utopisches Vorbild für ein auf Gott ausgerichtetes Friedensreich. Diese universale Perspektive unterstreicht sowohl die Wertschätzung als auch die Verantwortlichkeit aller Geschöpfe. Nur Jona distanziert sich immer wieder von der Gemeinschaft, die sich Gott zuwendet. Jonas Einforderung einer statischen Gerechtigkeit Gottes scheint der Maßstab für Andere und nicht für sich selbst zu sein. Er lobt und dankt Gott im Fisch für seine (unverdiente) Rettung. Der Fisch ist wenig detailliert am Rande der Erzählung erwähnt. Im Psalm ist Jonas Not und Gottes Rettung als globale Erfahrung (und nicht als einmaliges Wunderereignis) bedeutend. Erst die Wirkungsgeschichte rückt den großen Fisch in den Mittelpunkt. In der Jona-Erzählung ist er (neben dem Wurm, Ostwind und Rizinus) ein Symbol für Gottes souveräne Verfügungsgewalt, für Not und Rettung, Gericht und Gnade zugleich. Die allumfassende, radikale, innere und äußere Umkehr Ninives sticht in Jona 3 hervor. Sie leitet auf das theologische Moment in Jona 4 hin: Gottes Barmherzigkeit und Gnade, in der Gottes Reue und menschliche Umkehr begründet sind. Die Hoffnung auf Gottes Reue stößt menschliche Umkehr an. Die offene Frage am Ende der Erzählung lädt zu einer weiterführenden biblischen Lektüre ein. Das Jona-Buch fordert LeserInnen heraus, eigene Antworten (in anderen biblischen Erzählungen) zu finden.

2.1.4.2 Intertextualität: Das Jona-Buch im Alten Testament –

Die Offenheit und Mehrdeutigkeit der alttestamentlichen Jona-Erzählung lädt zur intertextuellen Sinnsuche ein.

76 –









2.1 Jona im Alten Testament 2 Kön 14,25 und das Buch Jona weisen drei intertextuelle Verknüpfungen auf: Den Namen „Jona“ (Interfiguralität), Jonas Charakterisierung als „Sohn Amittais“ und die Rede vom „Wort des Herrn“. Neben dem Jona-Buch kommt der Name „Jona“ im Alten Testament nur hier vor. Gottes rettendes Wirken trotz der Boshaftigkeit der Menschen ist die thematische Verknüpfung von 2 Kön 14,25 und dem Jona-Buch. Es gibt jedoch markante Unterschiede zum Jona-Buch: In 2 Kön verkündet Jona Israel eine göttliche Heilsbotschaft. Außerdem findet keine menschliche Umkehr statt. Gottes unbedingter Rettungswille steht im Zentrum. Der „große Fisch“ kommt relativ selten im Alten Testament vor. Dabei geht es nie um einen speziellen Fisch. Nur im Jona-Buch steht der Fisch im Singular, wobei Gottes machtvolles Verfügen über den Fisch im Mittelpunkt steht. Die intertextuellen Verknüpfungen tragen nicht zu einem vertieften Verständnis bei, sondern bewahren die Mehrdeutigkeit des Fisches als Zeichen von Rettung und Gericht. „Ninive“ ist als assyrische Hauptstadt und (böse) Großmacht in der Bibel bekannt. Im Jona-Buch steht Gottes und nicht Israels Wahrnehmung im Vordergrund. Er nimmt Ninives Bosheit und Umkehr wahr. Im Anschluss an das Jona-Buch ist im Kontext des Zwölfprophetenbuches ebenfalls in Nahum und Zefania die Rede von Ninive: In beiden Büchern vollstreckt Gott sein Gericht und vernichtet Ninive vollkommen (Nah 3,7; Zef 2,13). Das steht im Kontrast zur göttlichen Verschonung Ninives im Jona-Buch. Ninives Umkehr scheint nicht von Dauer zu sein, das Buch Nahum charakterisiert es abermals als „böse“. Und auch Gottes Reue erweist sich im kanonischen Kontext als dynamisch. Zwar ist sie begründet in Gottes Barmherzigkeit, Gnade, Güte und Mitgefühl, aber zugleich ist die göttliche Reue auch eine Reaktion auf menschliche Hoffnung und Umkehr, von der in den Büchern Zef und Nah nicht mehr die Rede ist. Jonas Worte über Gottes „Barmherzigkeit“ und „Gnade“ weisen mehrere intertextuelle Verknüpfungen im Alten Testament auf mit Gottes Selbstaussage in Ex 34 als dem Bezugspunkt. Bei den Bezügen handelt es sich meistens um positive Beschreibungen Gottes. Doch Jona greift die göttliche Selbstbeschreibung im Zorn auf. Er führt die Gnadenformel als Grund für seine Flucht an und gibt ihr dadurch eine andere Konnotation: Es ist ein Hadern mit Gott. Gott kennen und erkennen hat sowohl positive als auch herausfordernde Seiten. Die Rede über Gottes Reue steht nur dreimal im Kontext der Gnadenformel (Ex 32,12–14; Joel 2,13–14; Jona 4,2) und hebt das dialektische Verhältnis von Gottes Gericht und Barmherzigkeit hervor. Die Aneinanderreihung göttlicher Attribute ist nirgendwo so umfassend wie in den Büchern Jona und Joel. Das Buch Joel gilt als Hinführung zum Jona-Buch, da es im Zwölfprophetenbuch vor der Jona-Erzählung steht und beide Bücher sowohl formale als

2.2 Jona im Neuen Testament





2.2

77

auch theologische Überschneidungen aufweisen. Die Hoffnung auf Gottes Umkehr und die Freiheit Gottes ist in beiden Büchern zentral. Das Jona-Buch verortet sich theologisch und thematisch in der Mitte des Zwölfprophetenbuches. Das Zwölfprophetenbuch umfasst Herausforderungen und Fragestellungen mehrerer Jahrhunderte. Unterschiedliche Redestimmen sprechen in unterschiedlichen zeitlichen und örtlichen Erzählkontexten zu unterschiedlichen Adressaten. Jonas Rede von Gottes „Barmherzigkeit“, „Erbarmen“, „Gnade“, „Güte“, „Gericht“ und „Zorn“ stellt eine verbindende theologische Linie dar. Auch die „Umkehr“-Motivik kommt in fast allen Schriften des Zwölfprophetenbuches vor. Die fortwährende Forderung nach „Umkehr“ unterstreicht, dass damit eine dauerhafte Hinwendung zu Gott gemeint ist und kein einmaliges Ereignis. Das Ringen mit der ambivalenten Wahrnehmung von Gottes Barmherzigkeit und seinem Gerichtshandeln trägt LeserInnen durch das gesamte Zwölfprophetenbuch. Der letzte Vers des Zwölfprophetenbuches (und des christlichen Alten Testaments insgesamt) eröffnet eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive: Rettung im Gericht ist möglich, wenn die Menschen umkehren (Mal 3,24). Die Septuaginta ist als griechische Übersetzung eine Rezeption der hebräischen Jona-Erzählung. Sie rückt Jonas Verkündigung und die göttliche Rettung in den Vordergrund. Die Septuaginta erweist sich als Brücke zwischen der alttestamentlichen Erzählung und den neutestamentlichen Rezeptionen: Die Begriffe „Botschaft“, „Fisch“ und der Zeitraum „drei Tage“ sind Leitwortfelder in der Septuaginta und kommen ebenfalls in der neutestamentlichen Jona-Rezeption vor.

Jona im Neuen Testament „ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas.“ (Mt 12,39; 16,4; Lk 11,29)

Der Vers „ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas“ steht in allen drei neutestamentlichen Perikopen. Die Bedeutsamkeit der Verknüpfung beider Substantive „Jona“ und „Zeichen“ sticht hervor. Der Name „Jona“ steht neunmal im Neuen Testament, davon fünfmal im Matthäus- und viermal im Lukasevangelium.318 Die Vernetzung von Altem und Neuem Testament verläuft 318

Mt 12,39.40.41.41; 16,4; Lk 11,29.30.32.32. Das Kriterium für die Textauswahl basiert auf der Verwendung des Namens „Jona“ (griech. Iōnas). Der Name einer Figur schafft starke intertextuelle Verknüpfungen (Interfiguralität) und ist vom Bedeutungsgehalt auf einer Ebene mit Zitaten (Müller 1991, S. 103). Mehr zu Interfiguralität in Abschnitt 2.1.2.1. In der „loci citati vel allegati“ der 28. Nestle-Aland Ausgabe sind 14 Jona-Allusionen (Mt 8,24;

78

2.2 Jona im Neuen Testament

über Zitate, Erzählungen, Motive und Figuren. Der Name „Jona“ regt an, die neutestamentlichen Texte im Spiegel der alttestamentlichen Jona-Erzählung zu lesen und schreibt diese gleichzeitig fort (Interfiguralität). Im Matthäusevangelium kommt „Jona“ in zwei Perikopen (Mt 12,38–42 und Mt 16,1–4) vor und im Lukasevangelium einmal (Lk 11,29–32). In den neutestamentlichen Texten finden sich Referenzen zu vielen alttestamentlichen Propheten. Von den Propheten des Dodekaprophetons erwähnen die neutestamentlichen Schriften „Jona“ am häufigsten.319 Von allen anderen alttestamentlichen Propheten erwähnt das Matthäusevangelium lediglich den Propheten „Jesaja“ mit sechs Erwähnungen öfter als „Jona“. Im Lukasevangelium steht „Jona“ (viermal) sogar häufiger als „Jesaja“ (zweimal).320 Die Jesaja-Zitate im Matthäus- und Lukasevangelium stehen zumeist im Kontext der Erfüllungszitate mit der Einleitung „damit sich erfüllen sollte, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist“ (Mt 8,17; 12,17). Die Jona-Rezeption weicht von dieser formalen Struktur ab. Deshalb ist es sinnvoll, die Referenzlogik der Jona-Perikopen unabhängig zu untersuchen. Mt 12,38–42, Mt 16,1–4 und Lk 11,29–32 weisen semantische und pragmatische Parallelen auf.321 Die Perikopen beleuchten jedoch unterschiedliche Aspekte aus der alttestamentlichen Jona-Erzählung und setzen verschiedene theologische Schwerpunkte. Die Exegese der einzelnen Perikopen ist notwendig, um die neutestamentliche Rezeption und Reflexion der alttestamentlichen Jona-

319

320

321

11,21; 12,41; 16,4; 23,35; 26,38; Mk 4,37.41; 14,34; Lk 10,13; 11,32; Joh 11,50; Apg 27,19; Offb 11,13) und ein Jona-Zitat (Mt 12,40) aufgeführt (Nestle-Aland 282016, S. 867). Einzelne Begriffe der alttestamentlichen Jona-Erzählung klingen in den neutestamentlichen Perikopen an. Die Jona-Perikopen finden Berücksichtigung in der kanon-hermeneutischen Reflexion in Abschnitt 2.3. Der Schwerpunkt liegt auf Mt 12,38–42; 16,1–4 und Lk 11,29–32, die auch nach Förster, Hoheisel und Weber die geläufigen Jona-Rezeptionen sind (Förster 2017, S. 571; Hoheisel 1998b, S. 678; Weber 2016, S. 183–184). Von den Propheten des Dodekaprophetons lassen sich neben Jona noch Hosea (Röm 9,25) und Joel (Apg 2,16) im Neuen Testament finden. In Lk 3,25 stehen die Namen Amos und Nahum (Lk 3,25) im Stammbaum Jesu, jedoch scheint es sich dabei nicht um die Propheten des Zwölfprophetenbuches zu handeln, sondern um unbekannte Männer mit den Namen Nahum und Amos (Fitzmyer 1981, S. 500; Nolland 2000, S. 171). Jesaja spielt nach Luz im Mt.-Ev. und „im Urchristentum, unter allen Propheten die wichtigste Rolle.“ (Luz 2002, S. 191) Das kann daran liegen, dass direkte Zitate aus dem JesajaBuch einfacher möglich waren, weil es Schriftrollen des Propheten Jesaja in den matthäischen Gemeinden gab (Luz 2002, S. 191) Außerdem bietet das Jesaja-Buch fruchtbaren Nährboden für die Deutung Jesu Christi als universalen Friedensfürsten, Gesalbten und Gottesknecht (Berges 2010, S. 175; Kreuch 2015) Mt 12,38–42 und Lk 11,29–32 sind Paralleltexte, die aus Q schöpfen. Mt 16,1–4 bezieht sich auf Mk 8,10–13 (Hetzelein 2019, S. 66 u. 146; Hölscher 2017, S. 345–346; Lybaek 2002, S. 220–221). Bovon und Müller gehen davon aus, dass Mt 16,2–3 par Lk 12,54–56 eingefügte Verse aus Q sind (Bovon 1993, S. 179; Müller 2007, S. 171). Allerdings weisen Lk 12,54–55 und Mt 16,2–3 starke semantische Unterschiede auf, weshalb Luz bezweifelt, dass Lk 12,54–55 und Mt 16,2–3 aus derselben Quelle Q schöpfen (Luz 2016, S. 444).

2.2.1 Jona im Matthäusevangelium

79

Erzählung zu entschlüsseln. Dabei tragen direkte Zitate, selektive Bezüge, aber auch neuartige Aspekte, die keine Verknüpfungen zur alttestamentlichen JonaErzählung aufweisen, zum Verständnis der Jona-Rezeption bei. Die Reihenfolge der Betrachtung der neutestamentlichen Perikopen ergibt sich aus ihrer kanonischen Anordnung. Die Exegese der jeweiligen Perikope nimmt Rückbezug auf die Jona-Texte, die im Kanon vor der Perikope stehen, sodass sich die Komplexität stetig steigert. Die neutestamentliche Untersuchung schärft eine dezidiert christliche Perspektive auf das Jona-Material im Koran und trägt zur Analyse der koranischen Textstellen und deren Bezugnahme und Abgrenzung vom biblischen Material bei.

2.2.1 Jona im Matthäusevangelium Das Matthäusevangelium ist zwischen 80–90 n. Chr. in Syrien verfasst worden und damit „in der politisch und religiös schwierigen Situation nach der Zerstörung des Tempels“322 entstanden. Syrien stand zu der Zeit unter römischer Herrschaft und in den Großstadtgemeinden lebten JüdInnen und NichtjüdInnen.323 Der Verfasser ist unbekannt und da er höchstwahrscheinlich selbst kein Augenzeuge war, nimmt er den Namen des Herrenjüngers Matthäus in Anspruch, um seine Schrift zu legitimieren.324 Das Matthäusevangelium bezieht sich vielfach auf die Schriften des Alten Testaments. Neben den rund 100 direkten Zitaten, enthält es etwa 400 biblische Anspielungen.325 Das Matthäusevangelium bezieht sich vor allem auf die prophetischen Schriften des Alten Testaments.326 Die stetige Auseinandersetzung verschiedener religiöser Strömungen über die Frage nach der Zuwendung Gottes ist prägend für den Alltag in der matthäischen Gemeinde und ist im Matthäusevangelium narrativ verarbeitet.327 Die Gespräche der religiösen Gruppierungen kreisen dabei vor allem um „die Aktualisierung der Heiligen Schriften und ihre Aneignung für die eigene Glaubensüberzeugung“.328 Das zeigt sich in Mt 12,38–42 und Mt 16,1–4, denn hier möchte Jesus den Pharisäern, Schriftgelehrten und Sadduzäern Gottes Wirken in der Welt anhand der Schriften nahebringen.

322 323 324 325 326 327 328

Frankemölle 2018, S. 9. Frankemölle 2018, S. 10. Schnelle 2017, S. 289. Frankemölle 2018, S. 11. Lybaek 2002, S. 249. Frankemölle 2018, S. 11. Frankemölle 2018, S. 10.

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2.2 Jona im Neuen Testament

2.2.1.1 Jona-Rezeption in Mt 12,38–42 38

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Dann antworteten einige Schriftgelehrte und Pharisäer, die sagten, Lehrer, wir wollen von dir ein Zeichen sehen. Und er antwortete, er sagte ihnen: Eine Generation böse und treulos sucht ein Zeichen, und ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas des Propheten. Gerade so wie ja Jona im Innersten des großen Fisches drei Tage und drei Nächte war, so wird der Menschensohn im Herzen der Erde drei Tage und drei Nächte sein. Die Männer von Ninive werden sich erheben im Gericht mit dieser Generation, und sie verurteilen diese, weil sie auf die Botschaft Jonas hin umkehrten. Und siehe, mehr als Jona ist hier. Die Königin des Südens wird erweckt werden im Gericht mit dieser Generation, und sie verurteilt diese, weil sie von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomos zu hören. Und siehe, mehr als Salomo ist hier.

Der Name „Jona“ steht im Kanon des Neuen Testaments zum ersten Mal und gleichzeitig am häufigsten in Mt 12,38–42. Der Begriff weist eindeutig zurück auf den Propheten des alttestamentlichen Jona-Buches, weil neben dem Namen „Jona“ mit den Begriffen „Ninive“, „Botschaft“, „umkehren“, „böse“, „Innersten/Bauch“ und dem Vers „Jona im Innersten des großen Fisches drei Tage und drei Nächte war“ vielfache Überschneidungen vorhanden sind.329 In Mt 12,38–42 führt Jesus einen Dialog mit den Schriftgelehrten und den Pharisäern. Der Text

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„Ninive“ (griech. Nineuē in der LXX: Jona 1,2; 3,2.3.3.4.5.6.7 und griech. Nineuitēs in Mt 12,41); „Botschaft“ (griech. kērygma Jona 3,2 und Mt 12,41); „umkehren (griech. metanoeō Jona 3,9.10; 4,2 und Mt 12,41); „böse“ (griech. ponēros Jona 3,8.10; Mt 12,39); „Innerste“ (griech. koilia Jona 2,1.2.3; Mt 12,40) und „Jona im Innersten des Fisches drei Tage und drei Nächte war“ (griech. ēn Iōnas ēn tē koilia tou kētous treis nyktas Jona 2,1; Mt 12,40).

2.2.1.2 Kontext: „Zeichen“ als Beweis für Jesu Vollmacht

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besteht fast ausschließlich aus wörtlicher Rede, wobei Jesus den größten Sprechanteil besitzt.330 In der wörtlichen Rede erwähnt Jesus die alttestamentlichen Erzählfiguren „Jona“, „großer Fisch“, „die Männer von Ninive“, „die Königin des Südens“331 und „Salomo“. Sowohl die alttestamentliche Jona-Erzählung als auch die Erzählungen über Salomos Begegnung mit der Königin des Südens (1 Kön 10,1–14; 2 Chr 1–12) sind bedeutsame Intertexte. Außerdem spricht Jesus über „diese Generation“ und über den „Menschensohn“. Die Begriffe „Generation“ und „Menschensohn“ tauchen zwar im Alten Testament auf, sind jedoch nicht der Kategorie alttestamentlicher Erzählfiguren zuzuordnen, da es keine eindeutige Referenzstelle gibt. Stattdessen liegen vielfache intertextuelle Bezüge vor, sowohl im Alten („Menschensohn“ Ez 2,1; Dan 7,13/„Generation“ Gen 7,1; Jes 51,8) als auch im Neuen Testament („Menschensohn“ Mt 8,20; Joh 3,13/„Generation“ Lk 7,31; Hebr 3,10). Der häufige Gebrauch im Matthäusevangelium legt nahe, dass die Wörter „Generation“ und „Menschensohn“ charakteristisch für die matthäische Sprache sind.332

2.2.1.2 Kontext: „Zeichen“ als Beweis für Jesu Vollmacht Mt 12,38–42 steht im Zentrum des Matthäusevangeliums.333 Die Perikope ist aufgrund der verknüpfenden Wörter „böse“ (V. 34, 35, 35, 35, 39, 45), „Generation“ (V. 38, 41, 42, 45), „Gericht“ (V. 36, 41, 42), „Menschensohn“ (V. 32, 40) und „Pharisäer“ (V. 32, 40) in den Nahkontext Mt 12,22–45 eingeflochten. Die semantischen Verknüpfungen und die syntaktische Strukturierung setzen Impulse, das Matthäusevangelium zusammenhängend zu lesen.334 Der anaphorische und kataphorische Erzählstil regt ein mehrmaliges Lesen an. Hinsichtlich der Aspekte Zeit-, Figuren-, Themen- und Semantikwechsel grenzt sich Mt 12,38–42 ab. Das temporale Adverb „dann“ (griech. tote V. 38) eröffnet 330

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Die Perikope umfasst insgesamt 121 griechische Wörter, davon sind 101 Wörter (83%) Bestandteil der Rede Jesu, die Frage der Pharisäer und Schriftgelehrten beinhaltet 6 Wörter (5%) und der Erzähltext umfasst 14 Wörter (11,6%). Stein und Jost identifizieren die „Königin des Südens“ eindeutig als die aus 1 Kön 10,1–13 bekannte „Königin von Saba“ (Jost 2012; Stein 2014.) Das Wort „Generation“ steht 43-mal im Neuen Testament, davon 13-mal im Matthäusevangelium (≈ 30%); „Menschensohn“ kommt insgesamt 50-mal in den neutestamentlichen Schriften vor, wobei es 21-mal (42%) im Matthäusevangelium steht. Es gibt keinen Konsens bezüglich eines Gliederungsmodells, weil das Matthäusevangelium eine übergangslose Lektüre mit Hilfe einer intertextuellen Verklammerung anregt und klare Abgrenzungen vermeidet (Luz 2002, S. 26). Bei einer Einteilung in sechs Abschnitte ordnen Luz (Luz 2016, S. 225), Konradt (Konradt 2015, S. 4) und Schweizer (Schweizer 1986, S. 178) Mt 12,38–42 dem dritten Abschnitt zu. Laut Schnelle (Schnelle 2017, S. 294) kann das Matthäusevangelium in 14 Abschnitte gegliedert werden, wobei Mt 11,2–12,50 Abschnitt sieben darstellt. Mt 12,38–42 steht bei all diesen Gliederungsmodellen im Zentrum des Evangeliums. Luz 2002, S. 26.

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2.2 Jona im Neuen Testament

die Perikope zeitlich. Zudem fungiert es aufgrund der dichten Verwendung im Matthäusevangelium als Verknüpfungspartikel der Erzählabschnitte.335 Dadurch strukturiert die Partikel das Evangelium zeitlich und führt die LeserInnenschaft durch die Erzählung. Das Gespräch beginnt mit dem Erzähltext „Dann antworteten einige Schriftgelehrten und Pharisäer, die sagten“ (V. 38). Das Verb „antworten“ suggeriert, dass Jesus zuvor zu den Schriftgelehrten und Pharisäern gesprochen hat, doch diese Figurenkonstellation kommt vorher noch nicht vor.336 Während die Pharisäer in Mt 12,24 über Jesus in seiner Abwesenheit reden, sprechen sie ihn in Mt 12,38 erstmals direkt an. Die Forderung der Pharisäer und Schriftgelehrten leitet ein neues Diskussionsthema ein. Die Substantive „Jona“ und „Zeichen“ (griech. sēmeion) bilden mit jeweils vier Erwähnungen die Leitwörter der Perikope. Darüber hinaus kommen die Wörter „Generation“ und „sehen“ (jeweils dreimal), „Erde“, „antworten“, „sagen“, „Gericht“, „verurteilen“ und „Salomo“ (jeweils zweimal) sowie ganze Satzteile „drei Tage und drei Nächte“, „und siehe“, „mehr als […] ist hier“, „und sie verurteilt/verurteilen diese, weil sie […]“ (jeweils zweimal) mehrmals vor. Zudem verdeutlichen die Wörter „großer Fisch“ (Mt 12,40 griech. kētous), „Prophet“ (Mt 12,39 griech. prophētēs), „drei“ (Mt 12,40.40.40.40 griech. treis), „treulos“ (Mt 12,39 griech. moichalis) und „Männer von Ninive“ (Mt 12,41 griech. Nineuitēs), dass die vorliegende Perikope eine thematische Einheit bildet, da sie nur hier auftauchen. Mt 12,22–37 und Mt 12,42–45 rahmen Mt 12,38–42 und setzen das Gespräch von Jesus mit den Pharisäern und Schriftgelehrten in den Kontext der Debatte um den (Heiligen) Geist. Auf der einen Seite ist die Rede vom „Geist Gottes“ (Mt 12,28) sowie vom „Heiligen Geist“ (Mt 12,32) und auf der anderen Seite von Dämonen (Mt 12,24.24.27.28), unreinen und bösen Geistern (Mt 12,43.45). Der davor geschaltete Disput eröffnet mehrere Möglichkeiten, die Zeichenforderung zu deuten. Es ist unklar, ob das Zeichen beweisen soll, dass 1) Jesus Davids Sohn ist (Mt 12,23), oder dass 2) Jesus Dämonen durch den Geist Gottes (Mt 12,28) und nicht durch Beelzebul austreibt (Mt 12,24–27), oder dass 3) seine Gerichtsankündigung in Erfüllung geht (Mt 12,31.36–37). Die Rahmung (Mt 12,22–37.42–45) legt den Schwerpunkt auf die Vollmacht Jesu, Dämonen und böse Geister durch den Geist Gottes auszutreiben.

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Das griech. Adverb tote ist 160-mal im Neuen Testament zu finden. Davon überdurchschnittlich oft im Matthäusevangelium: 90-mal (60%) aller NT-Vorkommnisse (Weren 2014, S. 24). In Mt 5,20 kommen die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ zwar schon einmal vor, jedoch nicht als sprechende Figuren, stattdessen redet Jesus über sie in ihrer Abwesenheit.

2.2.1.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2–3: Fisch & Umkehr

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2.2.1.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2–3: Jona im großen Fisch und Ninives Umkehr als Zeichen der Hoffnung und Mahnung für die „böse Generation“ Das „Zeichen Jonas“ umfasst zwei abgrenzbare Themenbereiche: Jonas Aufenthalt im Fisch (Mt 12,40) und Jonas Botschaft mit der daraus resultierenden Umkehr Ninives (Mt 12,41). Es liegen markante Verknüpfungen zwischen der Septuaginta-Jona-Erzählung und Mt 12,38–42 vor: „Jona“ (griech. Iōnas), „im Innersten“ (griech. en tē koilia), „großer Fisch“ (griech. kētous), „drei Tage und drei Nächte“ (griech. treis ēmeras kai treis nyktas), „Männer von Ninive“ (griech. andres Nineuitai), „Botschaft“ (griech. kērygma), „umkehren“ (griech. metanoeō). Während Mt 12,40 auf Jona 2 rekurriert, verarbeitet Mt 12,41 Jona 3 literarisch. Mt 12,40 sticht am stärksten hervor, weil zwölf Wörter „Jona im Innersten des großen Fisches drei Tage und drei Nächte war“ in Mt 12,40 und Jona 2,1LXX in Form und Anordnung identisch sind.337 Wie Weber feststellt, hat Jona 2 die Wirkungsgeschichte Jonas am stärksten geprägt.338 Einerseits kann darin begründet sein, warum Mt 12,40 Jona 2,1 wortwörtlich aufgreift, andererseits ist der Rückgriff auf Jona 2,1 im Matthäusevangelium für eine starke Beachtung in der christlichen Wirkungsgeschichte bis heute mitverantwortlich. Der Rückbezug zur alttestamentlichen Jona-Erzählung ist explizit und legt den Schwerpunkt auf Jonas Aufenthalt im Fisch. Die Beschreibung von Jona im Fisch in Mt 12,40 beschränkt sich auf drei grundlegende alttestamentliche Aspekte: Auf „Jona“ als Erzählfigur, auf den „Fisch“ als Raum und auf „drei Tage und drei Nächte“ als Zeitangabe. In Mt 12,40 bildet „Jona“ das Subjekt des Verses, im Unterschied zu den anderen Jona-Referenzen in Mt 12,38–42, in denen „Jona“ als Genitivattribut die Substantive „Zeichen“ und „Botschaft“ ergänzt. Nur in V. 40 ist dem Wort „Jona“ ein Verb zugeordnet. Das Verb in Mt 12,40 „war“ (griech. ēn) entspricht dem Verb in Jona 2,1LXX. Das Verb steht in Mt 12,40 und Jona 2,1LXX als vollwertiges Prädikat im Imperfekt. Das Imperfekt unterstreicht, dass Jona keine Handlung in der Gegenwart vollzieht. Jona tritt nicht als aktiv handelnde Figur auf, wie „Mose und Elija“ (Mt 17,3), die erscheinen und mit Jesus reden, stattdessen redet Jesus über Jona.339 In Verbindung mit einer Präposition unterstreicht das Verb „war“ eine Zugehörigkeit von Subjekt und Objekt.340 Der starke Zusammenhang zwischen „Jona“, der im (griech. ēn) „Innersten des großen Fisches […] war“ kommt zum Ausdruck. 337

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„war Jona im Innersten des Fisches 3 Tage und 3 Nächte.“ (griech. ēn Iōnas ēn tē koilia tou kētous treis nyktas). Weber 2016, S. 66. Mose und Elija erscheinen (griech. ōphthē Aorist Indikativ) und reden (griech. syllaloutes Partizip Präsens) mit Jesus. Balz 1992, S. 951.

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2.2 Jona im Neuen Testament

Jona befindet sich „im Innersten des großen Fisches“ und damit in einem geschlossenen Raum. Der Fisch als ganz spezieller Erfahrungsraum Jonas unterscheidet sich von jeder alltäglichen Erfahrung und baut eine räumliche Distanz zu den LeserInnen auf.341 Ein räumliches Äquivalent bildet der Aufenthalt des Menschensohnes „im Herzen der Erde“ (Mt 12,40). Jonas Aufenthalt im Fisch ist in Mt 12,40 mit der Grabesruhe Christi parallelisiert. Das Wort „großer Fisch“ (griech. kētous) steht nur einmal im Neuen Testament, in der Septuaginta kommt es zwölfmal vor.342 In den alttestamentlichen Schriften verfügt Gott über den großen Fisch bzw. die großen Fische. Der Fisch unterstreicht als göttliches Werkzeug seine souveräne Schöpfermacht.343 Selbst über den größten Fisch hat Gott die absolute Verfügungsgewalt. Gott „erschuf die großen Wassertiere“ (Gen 1,21), er beugt und zerschmettert „Rahab“, den großen Fisch (Ijob 9,13; 26,12), schickt ihn und gibt ihm Befehle (Jona 2,1.11). Der große Fisch soll als ein Geschöpf Gottes (Sir 43,25) Gott lobpreisen (Ode 8,79; Dan 3,79). Im Jona-Psalm ist der Fisch ein Raum der intensiven Gotteserfahrung und der Kommunikation mit Gott im Gebet. In 3 Makk 6,8 heißt es, dass Gott Jona aus dem Bauch des großen Fisches unversehrt gerettet hat. Der Fisch symbolisiert einen Raum des Lobpreises und der Rettung. Obwohl der Fisch groß und mächtig wirkt, verfügt Gott über ihn, sodass Gottes Macht eindrücklich hervorsticht. Durch die intertextuelle Verknüpfung von Jona 2,1 und Mt 12,40 schwingt die Assoziation des Aufenthalts im Fisch als Rettungserlebnis mit. In Jona 2 geht es vor allem um „die Rettung“ (Jona 2,10) eines Einzelnen und nicht um die Rettung des ganzen Volkes Israel (Ex 14,13). Genau wie Gottes befreiende Rettung die Identität Israels prägt,344 ist Jonas Identität vom rettenden Wirken Gottes bestimmt. Außerdem spielt die Zeitangabe „drei Tage und drei Nächte“ (Mt 12,40) eine wichtige Rolle. Die Zahl „drei“ in Kombination mit dem Merismus „Tag und Nacht“ schlägt eine literarische Brücke zwischen Mt 12,40 und Jona 2,1. Sowohl die Zahl „drei“ als auch der Merismus „Tag und Nacht“ kommen häufig in der Bibel vor und betonen die Ganzheit und den Aspekt der Dauer.345 Die Verbindung der Zahl „drei“ und des Merismus „Tag und Nacht“ tritt nur viermal in der Bibel

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Geiger 2012. Gen 1,21; 3 Makk 6,8; Ode 8,79; Ijob 3,8; 9,13; 26,12; Sir 43,25; Jona 2,1.1.2.11; Dan 3,79. Die LXX-Bezeichnung kētous ist die griech. Übersetzung für verschiedene hebr. Wörter dāg (Jona 2,1–1–11), dāgāh (Jona 2,2), tannin (Gen 1,21), rahab (Ijob 9,13; 26,12). Auch die Einheitsübersetzung wählt unterschiedliche deutsche Wörter: „großer Fisch“ (Jona 2,1), „Fisch“ (Jona 2,1.2.11); „große Wassertiere“ (Gen 1,21); „Rahab“ (Ijob 9,13; 26,12). Gerhards 2013a, S. 145. Kügler 2016a, S. 377. Seiler 2013, S. 322.

2.2.1.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2–3: Fisch & Umkehr

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(1 Sam 30,12; Est 4,16; Jona 2,1; Mt 12,40) auf. In den drei alttestamentlichen Texten geht es um Rettung aus der Not.346 Nach Mt 12,40 taucht der komplette Merismus nicht mehr auf. Der erste Teil „drei Tage“ steht noch einmal in Mt 27,63. Die Hohepriester und Pharisäer erzählen Pilatus, dass Jesus zuvor behauptet habe, er würde „nach drei Tagen auferstehen“ (griech. treis ēmeras egeiromai). Die Verknüpfungen von Mt 12,40 und Mt 27,63 unterstreichen, dass die Pharisäer Jonas dreitägigen Aufenthalt im Fisch (Mt 12,40) als Ankündigung von Jesu Auferstehung deuten, obwohl es in Mt 12,40 nicht explizit steht. Eine ganzheitliche Lektüre des Matthäusevangeliums regt die Deutung von Jonas Aufenthalt im Fisch als Auferstehungsmetaphorik an. Chow stellt mit der Analyse von Schriften aus der frühjüdischen Tradition heraus, dass die Auslegung von Jonas Aufenthalt im Fisch als Auferstehung in den neutestamentlichen Schriften und ebenfalls in der jüdischen Tradition angelegt ist.347 Schon frühjüdische Traditionen deuten Jonas Aufenthalt im Fisch als wundersames Eingreifen Gottes, das Ausdruck göttlicher Macht und Barmherzigkeit ist.348 Dem jüdischen Exegeten Simon zufolge verdeutlicht die Personifikation „aus der Mitte der Unterwelt“ (Jona 2,3), dass der Psalmbeter das rettende Eingreifen Gottes „nicht als Verhinderung des Todes, sondern als wirkliche Auferstehung vom Tod auffasst [sic!]“,349 weil der Psalmbeter „aus einer Lage gerettet wird, die ohne Eingreifen Gottes unumkehrbar ist“.350 Geischer stellt fest, dass die Deutung von Jonas Aufenthalt im Fisch als Erfahrung von Tod und Auferstehung „nicht einfach der alttestamentlichen Erzählung entspringt, sondern als feste aus dem Judentum übernommene Auslegungstradition zu erklären ist.“351 In Mt 12,40 ist laut Geischer lediglich ein spezifischer Aspekt der jüdischen Auslegungstradition pointiert. Dadurch verschiebt sich „die eigentliche Mitte der [alttestamentlichen] Erzählung, [nämlich] die Bußpredigt und ihre Folge“,352 um den christologischen und soteriologischen Charakter von Mt 12 zu akzentuieren. Jona als wundersam gerettete Gestalt stellt das verbindende Moment der jüdischen und christlichen Auslegung dar.353 Jonas Aufenthalt im Fisch und das Verweilen des Menschensohnes im Herzen der Erde sind mit Hilfe der Temporalbestimmung „drei Tage und drei Nächte“ und der Vergleichspartikel „gerade so wie […] so“ 346

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In 1 Sam 30,12 rettet David einen Ägypter, der „drei Tage und drei Nächte kein Brot gegessen und kein Wasser getrunken“ hat. In Est 4,16 befiehlt Ester allen JüdInnen drei Tage und drei Nächte lang zu fasten, um sie alle vor der Ausrottung, die von Haman veranlasst worden ist (Est 3,8–13), zu retten. In Jona 3 erhoffen sich die Niniviten durch Fasten und Verzicht auf Wasser und Speisen (Jona 3,7) die Umkehr Gottes (Jona 3,10). Chow 1995, S. 43. Chow 1995, S. 42–43. Simon 1994, S. 99. Simon 1994, S. 99. Geischer et al. 2018, S. 265. Geischer et al. 2018, S. 197. Geischer et al. 2018, S. 263.

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2.2 Jona im Neuen Testament

parallelisiert. Dadurch steht der Aufenthalt Jonas im Fisch in einem christologischen Deutungshorizont. In Mt 12,40 sind mit der Verknüpfung von Jona 2,1 und der Vorausschau auf Jesu Tod die Perspektiven Rettung und Auferstehung miteinander verschränkt. Auch Mt 12,41 greift einige alttestamentliche Jona-Motive auf. Das Substantiv „Botschaft“ ist einzigartig im Matthäusevangelium und bildet eine Verknüpfung zu Jona 3,2LXX. Der Begriff „Botschaft“ (Jona 3,2) kommt zwar in der alttestamentlichen Jona-Erzählung vor, jedoch ist es hier die Botschaft Gottes und nicht die „Botschaft Jonas“ (griech. kērygma Iōna Mt 12,41).354 Insgesamt ist der Begriff „Botschaft“ viermal in der Septuaginta zu finden (2 Chr 30,5; Esra 9,3; Spr 9,3; Jona 3,2) und hängt immer mit dem Motiv der Umkehr zusammen. Sowohl im Jona-Buch als auch in anderen prophetischen Schriften des Alten Testaments kommt der Ausdruck „das Wort des Herrn“ (griech. logos kyriou) wesentlich häufiger als „die Botschaft“ vor.355 In den Evangelien steht der Begriff „Botschaft“ zweimal und bezieht sich jedes Mal auf Jona (griech. Iōna Mt 12,41; Lk 11,32). Das Verb „predigen“ (griech. kēryssō) kommt hingegen häufiger im Matthäusevangelium vor und ist meistens Jesus zugeordnet.356 Daher sind Jesu Taten mit Jonas Botschaft verknüpft. Jesus agiert als aktiver Botschafter in der Kontinuität von Jonas Botschaft. Jonas Funktion als Bußprediger kommt in Mt 12,41 explizit zum Ausdruck: Jona ist dem Substantiv „Botschaft“ (griech. kērygma), die Umkehr (griech. metanoeō) auslöst, als Genitivattribut zugeordnet.357 Der Inhalt von Jonas Botschaft und die Art und Weise, wie und warum Ninive umkehrt, sind kein Bestandteil der neutestamentlichen Perikope. Die literarische Abfolge der alttestamentlichen Erzählung bleibt in der Matthäus-Perikope erhalten: Zuerst ist Jona im Fisch (Jona 2; Mt 12,40), daraufhin folgt Jonas Botschaft an Ninive (Jona 3; Mt 12,41). Weder der alttestamentliche noch der neutestamentliche Text schaffen einen ausgeprägten semantischen oder syntaktischen Zusammenhang zwischen den beiden Handlungen Jonas. Im Alten Testament sind Jona 1 und 3 parallel aufgebaut. Gott gibt Jona zweimal den Auftrag nach Ninive zu gehen (Jona 1,1– 2; Jona 3,1–2). Aufgrund der symmetrischen Struktur von Jona 1 und 3 erscheint Jonas Aufenthalt im Fisch (Jona 2) als ein zentraler, aber dennoch eigenständiger 354

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LXX: griech. to kērygma to emprosthen, o egō elalēsa pros se („die vorige Botschaft, die ich [Gott] zu dir [Jona] sage.“ (Jona 3,2) Insgesamt tritt der Ausdruck „das Wort des Herrn“ (griech. logos kyriou) 116-mal in der Biblia Graeca auf, davon 104-mal in den prophetischen Schriften und zweimal allein in Jona (Jona 1,1; 3,1). Auffällig erscheint, dass der Ausdruck „das Wort des Herrn“ (griech. logos kyriou) nur im Alten Testament vorkommt. Im Neuen Testament steht meist der Ausdruck „das Wort Gottes“ (griech. logos tou theou). Das hängt damit zusammen, dass Jesus den Titel „Herr“ (griech. kyrios) trägt und deshalb „Wort Gottes“ eindeutiger darauf hinweist, dass nicht die Worte Jesu gemeint sind. Griech. kēryssō („predigen“ neunmal im Matthäusevangelium, davon viermal mit Jesus als Subjekt des Satzes). In Jona 3,2 steht das Substantiv „Botschaft“ ohne Genitivattribut.

2.2.1.4 Akzentverschiebung: … zum neutestamentlichen Idealbild

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Erzählstrang in der Mitte. In Mt 12 sind Jonas Botschaft (Mt 12,41) und sein Aufenthalt im Fisch (Mt 12,40) nicht miteinander verbunden. Stattdessen regt die Parallelisierung von V. 41 und 42 einen Vergleich von Jonas Botschaft (V. 41) und Salomos Weisheit (V. 42) an. Der Aufenthalt im Fisch ist ein unabhängiger Erzählstrang. „Jona“ kommt viermal in Mt 12,38–42 vor, womit er die meistgenannte Erzählfigur der Perikope ist. Es zeigt sich, dass der Bezug zum Propheten Jona und nicht das Gespräch zwischen Jesus, den Schriftgelehrten und Pharisäern im Mittelpunkt steht.358 Es herrscht ein intertextueller Bezug sowohl zu Jona als Figur als auch zu Jona als Erzählung. Die Begriffe „drei Tage und drei Nächte“, „großer Fisch“, „Männer von Ninive“, „Botschaft“ und „umkehren“ weisen verstärkt auf die Ebene Jona als Erzählung hin. Der Begriff „Prophet“ hebt den Aspekt Jona als Figur vor, weil das Wort „Prophet“ ein Figurenmerkmal darstellt. Mit der Zuschreibung „Prophet“ ist die alttestamentliche Vorstellung verbunden, dass Propheten selbst Zeichen Gottes sind.359 Insgesamt zeigt sich, dass drei alttestamentliche Themenkomplexe in Mt 12,38–42 anklingen: 1) Jonas auf drei Tage und Nächte begrenzter Aufenthalt im Fisch als Raum der (individuellen) Rettung durch Gottes machtvolles Einwirken in seine Schöpfung. 2) Jonas (prophetische) Botschaft, die bei 3) Ninive (kollektive) Umkehr bewirkt. Der Aspekt der Rettung Gottes ist bedeutsam. Der Vergleich mit dem „Menschensohn im Herzen der Erde drei Tage und drei Nächte“ legt den Schwerpunkt auf die Auferstehung als Rettungsereignis. Bei „Jona im Innersten des Fisches drei Tage und drei Nächte“ (Jona 2,1; Mt 12,40) handelt es sich um hoffnungsvolle Erinnerung, während Ninives Umkehr (Jona 3; Mt 12,41) als mahnendes Beispiel dient. Neben der Rettung von herausragenden Individuen (Jona und der Menschensohn) ist die kollektive Rettung wichtig. Sie hängt maßgeblich von der Umkehrbereitschaft eines jeden Menschen ab. Jonas Botschaft hat Umkehr bewirkt und Jesus agiert als aktiver Botschafter in der Kontinuität von Jonas Botschaft.

2.2.1.4 Akzentverschiebung: Von der alttestamentlichen Identifikationsfigur zum neutestamentlichen Idealbild Es fällt auf, dass Mt 12,38–42 keinen Bezug zu Jona 1 und 4 herstellt. Mt 12,38–42 bezieht sich auf einzelne Verse und Motive aus Jona 2 und 3. Der Rückbezug zur alttestamentlichen Jona-Erzählung ist selektiv und verändert das Jona-Bild dras-

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Der Name „Jesus“ kommt nicht in der Perikope vor. Die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ steht einmal in der Perikope. Die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ begegnen einmal. Nicht als Einzelerwähnungen, sondern in genau dieser durch die Konjunktion griech. καὶ („und“) verbundenen Aufzählung. Rengstorf 1966, S. 232.

88

2.2 Jona im Neuen Testament

tisch. Die Charakterisierung Jonas findet in der alttestamentlichen Jona-Erzählung im Spannungsfeld von „Kommunikation vs. schweigen“ statt. Jona ist größtenteils Adressat direkter Rede in der alttestamentlichen Erzählung. In Mt 12 tritt Jona nicht als kommunikatives Gegenüber auf, stattdessen spricht Jesus über Jona. Außerdem handelt Jona in Mt 12 nicht aktiv. Der alttestamentliche Jona ist eine runde Figur, weil er sich entwickelt, überrascht und verschiedene Facetten von sich offenbart.360 Dagegen wirkt Jona in Mt 12 wie eine flache Figur mit einem Ansatz einer Kurve. Im Vergleich zu einer komplett flachen Figur, die nur eine Facette hat, umfasst die Figurendarstellung des Jona zwei Aspekte (Aufenthalt im Fisch und Umkehrbotschaft in Ninive). Die Flucht des Propheten ist ein wichtiger Aspekt der Jona-Erzählung und unterscheidet Jona von anderen alttestamentlichen Propheten.361 Die Flucht steht direkt zu Beginn der alttestamentlichen Jona-Erzählung und prägt die Wahrnehmung des Propheten als störrisch,362 ungehorsam,363 sperrig,364 rebellierend365 und widerspenstig.366 Die Ausklammerung von Jonas Flucht in Mt 12 bewirkt eine veränderte Wahrnehmung des Propheten. Es fällt auf, dass die Matthäus-Perikope auf positive Aspekte zurückgreift und eine Idealisierung Jonas vollzieht. Als makelloser Prophet bietet Jona jedoch nur wenig Identifikationspotenzial. Urbanz verwendet für biblische Identifikationsfiguren den Begriff des Vorbildes und kommt zu dem Schluss, dass Schattenseiten ein wichtiges Merkmal für Vorbilder in der Bibel sind.367 Dabei ist eine konkrete, anschauliche und umfangreiche Präsentation zentral, um die Figur in ganzer Bandbreite zu erleben.368 Ein biblisches Vorbild ist „mit Schwächen behaftet“.369 Im Alten Testament illustriert Jonas Flucht (Jona 1,3) seine Unvollkommenheit als Prophet. Mt 12,38–42 greift am stärksten auf das zweite Jona-Kapitel zurück. Während der Fisch explizit vorkommt, ist das Gebet im Fisch nicht relevant. Jonas Gebet im Alten Testament spiegelt eine Innenperspektive wider und lädt zur Identifikation und zum Mitbeten ein. In Mt 12 fehlt dieses Identifikationsangebot für die LeserInnen. Stattdessen wirkt Jona wie ein herausragendes Individuum, das für

360

361 362 363 364 365 366 367 368 369

Die Begriffe „runde Figur“ und „flache Figur“ sind von den englischen Begriffen „round/flat character“ abgeleitet (Forster 1985, S. 67 u. 78). Forsters Definition bezieht sich auf die Gattung der Erzählung und bildet eine Grundlage für die Figurencharakterisierung von biblischen Texten (Bar-Efrat 2006, S. 112; Finnern und Rüggemeier 2016, S. 203.) Schellenberg 2015, S. 355. Struppe 1996, S. 71. Simon 1994, S. 72. Scoralick 2017b, S. 2125. Weber 2018, S. 396. Steffen 1994, S. 9; Weber 2018, S. 397. Urbanz 2012. Urbanz 2012. Lachmann 2005, S. 1209.

2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“

89

eine begrenzte Zeit in dem großen Fisch war. Jonas Einzigartigkeit ist mit der Einzigartigkeit des Menschensohnes parallelisiert. Die Inhalte und Motive aus Jona 4 finden keinen Einzug in die matthäischen Jona-Perikopen. Die Kommunikation zwischen Gott und Jona spannt sich über die gesamte Erzählung im Alten Testament, die in einem intensiven Dialog zwischen Jona und Gott in Jona 4 mündet. LeserInnen erfahren mehr über Jonas Gefühlswelt, sein Fluchtmotiv und über seine Beziehung zu Gott. Gott agiert als Handlungs- und Aushandlungspartner, der um seinen Propheten bemüht ist und diesem herausfordernd begegnet. Es ist signifikant, dass der neutestamentliche Text das abschließende Kapitel ausspart. Die negativen Emotionen Jonas dominieren in Jona 4. Er ist zornig (Jona 4,1.9) und wünscht sich den Tod (Jona 4,9). Nach Keen identifizieren sich HörerInnen und LeserInnen mit Figuren, deren negative Emotionen wahrnehmbar sind.370 Durch die Ausklammerungen verliert Jona an Identifikationspotenzial und die Streichung seiner negativen Emotionen bewirkt eine Idealisierung. So unterliegt Jona dem Wandel vom alttestamentlichen Vorbild zum neutestamentlichen Idealbild. Er soll in seiner Rolle des Propheten (Mt 12,39) wahrgenommen werden und ist so eingereiht in die vielen intertextuellen Bezüge zu anderen alttestamentlichen Propheten im Matthäusevangelium. Jonas Rettungserlebnis (Jona 2; Mt 12,40) und seine Botschaft, die bei den Niniviten Umkehr bewirkt (Jona 3; Mt 12,41), steht im Vordergrund.

2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“ Auch die neu hinzugefügten Aspekte sind aufschlussreich, um die Bedeutung der Jona-Rezeption in Mt 12,38–42 zu entschlüsseln. Besonders häufig treten die Begriffe „Zeichen“ (dreimal) und „Jona“ (viermal) in Mt 12,38–42 auf. Das Wort „Zeichen“ kommt nicht in der alttestamentlichen Jona-Erzählung vor. Die Pharisäer und Schriftgelehrten bringen das Wort „Zeichen“ mit der Forderung „wir wollen von dir ein Zeichen sehen“ (Mt 12,38) in das Gespräch ein. Es bleibt unklar, was die Pharisäer und Schriftgelehrten mit dem Zeichen meinen. Mit der Spezifizierung „von dir“ ordnen sie das Zeichen Jesus zu und das Verb „sehen“ verdeutlicht, dass das Zeichen sichtbar sein soll. Darauf reagiert Jesus mit den Worten „eine Generation böse und treulos sucht ein Zeichen“ (V. 39). Jesus greift weder die Spezifizierung „Sichtbarkeit“ noch die Zuordnung zu seiner Person auf. Er legt jedoch eine „böse“ Absicht hinter der Zeichensuche offen. Der Begriff „Zeichen“ weist eine Bedeutungsvielfalt im biblischen Kanon auf und reicht von prophetischen Zeichenhandlungen zur Illustration von göttlichen Botschaften über wundersame Zeichen zur Demonstration der Wirkmächtigkeit Gottes bis hin zu kosmischen Zeichen als endzeitliche Ankündigung.371 In Mt 12,38–42 ist das Zeichen mehrdeutig, deshalb findet Sinnstiftung im Rezeptionsprozess statt. 370 371

Keen 2007, S. 72. Hieke 2016, S. 469–470.

90

2.2 Jona im Neuen Testament

Die Deutungen des Zeichens hängen vom rezipierenden Subjekt ab. Demzufolge ist das Zeichen kontext- und subjektbezogen und damit wandelbar. Konventionen bestimmen dabei das Zeichenverständnis. Das heißt, dass RezipientInnen das „Zeichen Jonas“ entsprechend ihres Vorwissens deuten, wobei Mt 12,40–41 die Aufmerksamkeit auf Jona 2 und 3 lenken, indem Rückgriffe auf diese Kapitel das Vorwissen (re-)aktivieren. Mt 12,38–42 setzt kein normatives Zeichenverständnis, sodass das „Zeichen Jonas“ auch noch in der heutigen Exegese als rätselhaft gilt.372 In seiner Rätselhaftigkeit zeugt es von der Unverfügbarkeit Gottes, denn Gottes Wirken kann nicht eingefordert werden (V. 39). Das Moment der Ungewissheit bleibt bis zum endzeitlichen Gericht (V. 41–42) erhalten. Das „Zeichen Jonas“ stellt „eine poetische Annäherung“373 und keine eindeutige Lehre über Gott dar. Damit wahrt es den Charakter endzeitlicher Gerichtsankündigung und göttlicher Offenbarung. Es gibt verschiedene Deutungsmöglichkeiten für das „Zeichen“, fest steht jedoch, dass der Zusatz „Jona“ bedeutsam für die Perikope ist. „Jona“ steht als Genitivattribut bei dem Begriff „Zeichen“. Es ist unklar, ob es sich um einen genitivus appositivus/epexegeticus (Jona ist das Zeichen = der Prophet Jona als Zeichen), einen genitivus subjectivus (Jona gibt ein Zeichen = die Umkehrbotschaft Jonas als Zeichen) oder um einen genitivus objectivus (an Jona ist ein Zeichen erkennbar/Jona hat selbst ein Zeichen erfahren = Jonas Aufenthalt im Fisch und Gottes Rettung) handelt.374 Die Offenheit der Deutung des Jona-Zeichens symbolisiert nach Huber Jesu Verweigerung ein Zeichen zu geben, „weil für dessen Erkennen und Verstehen bereits Umkehr und Glaube notwendig wären, die ihrerseits aber eine Zeichenforderung ausschließen.“375 V. 40–41 bieten zwei verschiedene Deutungen des Jona-Zeichens (V. 39) an: V. 40 deutet das Zeichen Jonas „eindeutig als Hinweis auf die wunderbare Errettung aus dem Tod“376 und V. 41 rückt Ninives Umkehr als Reaktion auf Jonas Botschaft in den Vordergrund. V. 40 erzählt davon, dass Jona selbst ein Zeichen erfahren hat (genitivus objectivus) und in V. 41 gibt Jona das Zeichen in Form seiner Umkehrbotschaft (genitivus subjectivus). In V. 40 liegt der Schwerpunkt auf dem Aspekt der Rettung. Gottes rettendes Wirken ist auf besondere Individuen beschränkt. Die christliche Auslegung von Mt 12 greift auf die jüdische Tradition zurück, die Jona als Retter deutet. Nach dieser Auslegungstradition lässt sich Jona ins Meer schleudern, um von „Gottes lebensschenkender Macht“377 zu zeugen. Die christliche Auslegungstradition bezieht diese jüdische Jona-Deutung auf das Opfer Christi.378 Christus erlöst durch 372 373 374 375 376 377 378

Chow 1995, S. 11; Kowalski 2015, S. 48 u. 52; Luz 2016, S. 274; Sherwood 2000, S. 12. Koenen 2007. Huber 1998, S. 82–85; Kowalski 2015, S. 49. Huber 1998, S. 85. Huber 1998, S. 87. Geischer et al. 2018, S. 262. Geischer et al. 2018, S. 265.

2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“

91

seinen Tod und seine Auferstehung ChristInnen (Hebr 9,15). Pemsel-Maier schreibt über Christi Tod: „Durch ihn sollen alle Menschen gerettet werden, nicht nur einige Auserwählte oder ein auserwähltes Volk, sondern alle, auch und gerade die Sünderinnen und Sünder, wenn sie zur Umkehr bereit sind.“379 Jona und Jesus treten als passive Helden auf, die Gottes Heilshandeln in der Welt deutlich machen.380 Die Menschen können an Gottes rettendem Wirken teilhaben, indem sie das prophetische Wirken und die Rettungserfahrung von Jona bzw. dem Menschensohn existenziell durch Umkehr annehmen. In Mt 12,41–42 ist das Motiv der Umkehr hervorstechend. Das Verb „umkehren“ (griech. metanoeō) steht sowohl in Mt 12,41 als auch in Jona 3,9.10LXX und 4,2LXX. Das Verb „umkehren“ kommt 34-mal im Neuen Testament vor und bezeichnet den Akt der Sinnesänderung entweder zum Bösen oder zum Guten.381 In den synoptischen Evangelien bezieht sich das Verb „umkehren“ am häufigsten auf die Umkehrbotschaft des Johannes.382 Johannes der Täufer fordert Israel auf umzukehren (Mt 3,2). Nur wenige Belege beziehen sich auf Jesus als Umkehrprediger.383 Im Matthäusevangelium kritisiert Jesus die fehlende Umkehr. In Mt 12,41 steht Jesu Umkehrbotschaft in einem endzeitlichen Gerichtskontext.384 Während in Mt 12,41 die Männer von Ninive umkehren, bezieht sich das Verb in Jona 3,9.10LXX und 4,2LXX auf die Umkehr Gottes. Das ist eine bemerkenswerte theologische Verschiebung. Während sich die göttliche Umkehr bedeutunsvoll für die Theologie der alttestamentlichen Jona-Botschaft erweist, kommt sie in Mt 12,41 nicht vor. Im alttestamentlichen Jona-Buch geht es um eine präsentische Heilsvorstellung. Die Boshaftigkeit auf der Erde hat ein Ende. Die Vorstellung eines irdischen Friedensreiches, in dem fremde Völker eingeschlossen sind, kommt zum Ausdruck.385 Gottes Verschonung als Reaktion auf die irdische Umkehr Ninives ist als Wende der Zeit zum Friedensreich essenziell. Dagegen ist die Reaktion Gottes im neutestamentlichen Kontext auf das Endzeitgericht verlagert und bleibt in Mt 12,38–42 unangekündigt. Genau wie bei Jonas Botschaft (Jona 3,4) handelt es sich bei Jesu Worten um ein Gerichtswort. In der alttestamentlichen Jona-Erzählung hofft Ninive darauf das Gericht durch Buß- und Fastenrituale abzuwenden und ist erfolgreich. Gott reut „das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er tat es nicht.“ (Jona 3,10) Dieses Moment der Hoffnung ist in den neutestamentlichen Jona-Perikopen nicht zu erkennen. Jegliche Chance auf Heil vor dem endzeitlichen Gericht ist

379 380 381 382 383 384 385

Pemsel-Maier 2016. Geischer et al. 2018, S. 198. Merklein 1992, S. 1024. Merklein 1992, S. 1025. Merklein 1992, S. 1026. Merklein 1992, S. 1027. Koenen 2007.

92

2.2 Jona im Neuen Testament

vertan.386 Es ist eine radikale Gerichtsdrohung.387 Es steht fest, dass die umkehrwilligen Niniviten „diese Generation“ im endzeitlichen Gericht verurteilen werden (Mt 12,41). Dennoch handelt sich um einen „letzten, dringlichen Appell“388 die Umkehraufforderung wahrzunehmen, um eine Heilschance im Endzeitgericht nicht völlig auszuschließen. V. 41 hat paränetischen Charakter und damit einen imperativen Anspruch.389 Der endzeitliche Gerichtskontext ist, wie im gesamten Matthäusevangelium,390 von großer Bedeutsamkeit in Mt 12. Die Aufforderung zur Umkehr gewinnt im Kontext der endzeitlichen Gerichtsankündigung (Mt 12,41) an Brisanz und im Zusammenhang mit der Verkündigung Jesu „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“ (Mt 4,17) an Dringlichkeit.391 Die verschiedenen irdischen Bußpraktiken (Jona 3,5–8) scheinen irrelevant zu sein. Es geht nicht um irdische Bußrituale, wie Fasten (Jona 3,5.7), Tragen von Bußgewändern (Jona 3,5.6.8) oder Niedersetzen in Asche (Jona 3,6), sondern um den Erkenntnisgewinn – das Himmelreich als Heilsvorstellung zu erkennen. Der Schwerpunkt liegt nicht darauf, wie Ninive Buße vollzieht, sondern, dass Ninive umkehrt. Ninive hat auf die Botschaft Jonas gehört und legitimiert sich dadurch als endzeitlicher Richter. Die Männer Ninives und nicht der Menschensohn fungieren als Richter. Dass Menschen über andere Menschen im Endgericht richten, ist selten im Alten Testament belegt („die Frommen“ in Ps 149; „die Heiligen“ in Dan 7)392 und dass es sich um nicht-israelitische Richter handelt, kommt überhaupt nicht im Alten Testament vor.393 Die Attribute „fromm“ oder „gerecht“ spielen in Mt 12,38–42 keine Rolle. Stattdessen qualifizieren sich die Männer von Ninive aufgrund ihrer durchgeführten Umkehr als endzeitliche Richter. Ziethe geht davon aus, dass „[d]ie Männer von Ninive sich erheben im Gericht“ (Mt 12,41), um Zeugnis abzulegen. Dabei gilt ihnen ihre Umkehrbereitschaft als Maßstab für die Verurteilung von „dieser Generation“.394 Ob nun in der Rolle der Richter oder Zeugen, von entscheidender Bedeutung ist, dass die Umkehr als Maßstab dient. 386 387 388 389 390 391 392

393 394

Simon 1997, S. 162. Strecker und Horn 2015, S. 334. Luz 2016, S. 275. Niebuhr Karl-Wilhelm 2003, S. 631. Rölver 2019, S. 159; Ziethe 2018, S. 312. Rölver 2019, S. 161. In Ps 149,2 ist explizit von Israel die Rede, ab V. 5 ist dann nur noch die Rede von den Frommen. Das legt nahe, dass „die Frommen“ ein synonymes Wort für „Israel“ abbilden. Auch Ringgren identifiziert die Frommen aus Ps 149 als das Volk Israel (Ringgren 1982, S. 86). Ein endzeitliches Gerichtsszenario, indem die Frommen die Völker richten, ist aufgrund des Gesamtkontextes wahrscheinlich (Ballhorn und Zenger 2017, S. 1457). Bauer identifiziert „die Heiligen“ aus Dan 7 als das jüdische Volk (Bauer 2017, S. 2054). Vorzuziehen ist Helms‘ Position, der in „den Heiligen“ das irdische Israel als Repräsentant des endzeitlichen Gottesvolkes erkennt (Helms 2018). Ziethe 2018, S. 325. Ziethe 2018, S. 326.

2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“

93

Die Umkehrbotschaft als Mahnung und Trost gilt nicht nur den Pharisäern und Schriftgelehrten. Während sie Jesus mit dem Vokativ „Lehrer“ (griech. didaskale V. 38) adressieren, spricht Jesus sie nicht direkt an. Er spricht über „eine böse und treulose Generation“. Das Adjektiv „böse“ (26-mal) kommt im Gegensatz zu „treulos/ehebrecherisch“ (zweimal, jeweils im Kontext der Zeichenforderung) häufig im Matthäusevangelium vor (26-mal). Leonhardt-Balzer ordnet das Adjektiv „böse“ im Neuen Testament dem moralisch Bösen zu.395 In Mt 12,39 bezieht sich das Adjektiv „böse“ auf die Gottlosigkeit derjenigen, die ein Zeichen fordern.396 Der Begriff „Ehebruch“ steht in den alttestamentlichen Schriften im Kontext der Beziehung des Volkes Israels zu Gott.397 Der Begriff „Generation“ steht vielfach im Kontext der alttestamentlichen Bundestheologie, beispielsweise Gottes Bund mit Abraham (Gen 17,7.9.10.12). Hier zeigt sich, dass der alttestamentliche Kanon eine sinnstiftende Größe für die Interpretation des neutestamentlichen Textes darstellt, weil sich die Treulosigkeit der Generation in der Beziehung zu Gott offenbart. Die Abgrenzung von „gut“ und „böse“ kommt bereits in der Urgeschichte (Gen 1–11) vor und die Tora ist Gottes Mittel, um gegen das Böse anzugehen.398 Wer böse handelt, erfährt Ausschluss aus der Gemeinde des Gottesvolkes.399 Du Toit führt die Zugehörigkeit zu „dieser Generation“ im Matthäusevangelium auf spirituelles Fehlverhalten zurück.400 Mt 12,38– 42 steht im Kontext der Austreibung von Dämonen und bösen Geistern durch den Geist Gottes. Das unterstreicht, dass der Schwerpunkt auf der spirituellen Dimension von Boshaftigkeit liegt. Auch Ziethe argumentiert, dass die Verurteilung und „die Frage nach dem Heil für die Völker“401 im endzeitlichen Gericht von ethischen und nicht von ethnischen Kriterien abhängt.402 Der ethische Charakter der Gerichtsankündigungen ist typisch für das Matthäusevangelium.403 Der biblische Nahkontext legt nahe, dass „diese Generation“ im Gegensatz zu denjenigen, die gute Früchte tragen (Mt 12,33), keinen Umkehrwillen zeigt.404 Jeder Mensch, der nicht umkehrbereit ist, gehört zu „dieser Generation“. Außerdem hat die Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ eine endzeitliche Dimension im Matthäusevangelium (Mt 13,49), denn im endzeitlichen Gericht gibt es eine Verurteilung des Bösen.405 Die Scheidung zwischen Heil und Unheil im

395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405

Leonhardt-Balzer 2011, S. 2. Leonhardt-Balzer 2011, S. 6. Dyma 2010. Kiefer 2018, S. 438. Leonhardt-Balzer 2011, S. 10. Du Toit 2018, S. 5. Ziethe 2018, S. 321. Ziethe 2018, S. 321. Wetz 2017. Du Toit 2018, S. 3. Leonhardt-Balzer 2011, S. 9.

94

2.2 Jona im Neuen Testament

Endgericht hängt von der Bereitschaft, sich Gottes Botschaft zuzuwenden und nicht von religiösen oder ethnischen Zuschreibungsmerkmalen ab. Obwohl Jesus eigentlich zu vielen Pharisäern und Schriftgelehrten spricht, steht das Verb „siehe“ im Singular. Das Verb fungiert als Anrede und Inklusion der LeserInnenschaft. Wie Fiedler herausstellt, geschieht das hauptsächlich im Kontext „der Wort- und Tatverkündigung Jesu“406 mit der Hauptfunktion die RezipientInnen anzusprechen. Das Verb „siehe“ in der 2. Person Singular Imperativ kommt häufig im Matthäusevangelium vor (59-mal) und tritt meistens inmitten des Erzähltextes auf. Im Matthäusevangelium steht „und siehe“ fünfmal in der direkten Rede (Mt 7,4; 12,41.42; 28,7.20). Außer in Mt 28,7, wo die Engel Jesu Auferstehung verkünden, ist Jesus jedes Mal der Sprecher. „Und siehe“ dient als Bekräftigung und steht meist in endzeitlichen Reden, um zu betonen, dass die Verheißung sicherlich eintritt.407 Es ist zwar ein Füllwort, Fiedler stellt jedoch mit seiner Untersuchung heraus, dass es nichtsdestotrotz eine theologische Intention innehat, weil die Partikel für den damaligen griechischen Sprachduktus fremdartig ist und es keine Belege in säkularer griechischer Literatur gibt.408 Außerdem kommt „und siehe“ systematisch im Neuen Testament vor und steht an besonderen erzählerischen Nahtstellen im Matthäusevangelium.409 Die Formel „und siehe“ steht auch schon in der Septuaginta. Fiedler schließt daraus, dass sich die neutestamentliche Verfasserschaft den alttestamentlichen Sprachstrukturen, zu denen „und siehe“ zuzuordnen ist, bedient, um den neutestamentlichen Texten „eine ihrer Würde angemessene Gestalt zu verleihen und schon äußerlich ihre Gleichrangigkeit mit den Worten der bisher einzig geltenden Heiligen Schrift zu bekunden.“410 So trägt die Sprachformel „und siehe“ zur Verzahnung von Altem und Neuem Testament bei. Der Rückverweis auf Jona macht deutlich, dass Jesus in der Kontinuität der Schrift zu verstehen ist. Die Botschaft der alttestamentlichen Schrift erklingt durch Jesu Worte in einem neuen Kontext. Die vergangene Botschaft reicht bis in die narrative Gegenwart hinein und weist zusätzlich darüber hinaus, indem sie einen Deutungshorizont für zukünftige Ereignisse eröffnet. Die Verben im Futur unterstreichen den Zukunftscharakter der Perikope. Das illustriert den prophetischen Charakter der Worte Jesu in Mt 12. Prophetie gilt als „bewegendes Wort“,411 weil die prophetische Botschaft räumliche und zeitliche Grenzen überschreitet und eine fortwährende Dynamik anstößt. Eine vergangene Anrede ragt in die textimmanente Gegenwart und weist zugleich in eine noch unbekannte Zukunft. In Mt 12,40 heißt es: „Gerade so wie ja Jona im Innersten des Fisches drei Tage und drei Nächte war, so wird der Menschensohn im Herzen der Erde drei 406 407 408 409 410 411

Fiedler 1969, S. 82. Fiedler 1969, S. 83–84. Fiedler 1969, S. 25. Fiedler 1969, S. 81. Fiedler 1969, S. 49. Steins 2018, S. 444.

2.2.1.5 Novum: Christologisches „Mehr“

95

Tage und drei Nächte sein.“ In diesem Vergleich kommt der Titel „Menschensohn“ vor, der kein Bestandteil der alttestamentlichen Jona-Erzählung ist. Der Begriff ist nicht nur für heutige LeserInnen befremdlich, er war es auch schon im matthäischen Kontext.412 Der Ausdruck „Menschensohn“ ist „ein Stück ‚Christussprache‘“413, der christliche HörerInnen und LeserInnen innehalten lässt, um über Jesu Selbstverständnis nachzudenken. Der Begriff „Menschensohn“ kommt häufig im Matthäusevangelium vor und steht dabei in unterschiedlichen Kontexten: Jesus verwendet den Begriff, wenn er über die Wiederkunft in Herrlichkeit redet (Mt 24,30) und im Kontext seines Leidens und Sterbens (Mt 17,22–23). Der Titel charakterisiert ihn „als eine himmlische Gestalt“414 im endzeitlichen Charakter. Es ist eine Selbstbezeichnung Jesu, die er in der dritten Person Singular verwendet. Dadurch hebt er den Unterschied zwischen seinem irdischen Wirken und seiner Funktion als endzeitliche Gestalt vor. Die endzeitliche Deutung des Menschensohnes prägt das Neue Testament und ist auf Dan 7,13 zurückzuführen. Während das Wort „Menschensohn“ in fast allen alttestamtlichen Schriften ein menschlicher Titel ist (Ps 80,18; Ijob 25,6; Ez 2,1.3.6.8), bezieht sich der Begriff in Dan 7,13 auf eine aus dem Himmel kommende Gestalt. Im Fachdiskurs gilt Dan 7 deshalb als Deutungshorizont für das neutestamentliche Menschensohn-Verständnis.415 Es ist ein Titel der würdevollen, königlichen, universalen, ewigen und unvergänglichen Herrschaft (Dan 7,14), keine Selbsterniedrigung. Der Menschensohn steht im Kontrast zu machtbesessenen und zerstörerischen Herrscherfiguren, die im Gericht vor Gott niedergehen (Dan 7,4–12). Jona fungiert einerseits als Vergleichsobjekt „denn wie Jona“ (Mt 12,40) und andererseits unterstreicht der Rückverweis „hier ist mehr als Jona“ (Mt 12,41) den neutestamentlichen Überschuss. Ein Vergleich dient auch dazu, Asymmetrien zu benennen. Sie schärfen das theologische Profil der neutestamentlichen Christuserzählung. In ihrer Neuartigkeit bietet die Perikope einen Mehrwert. Der Komparativ „mehr als“ (V. 41–42) hebt das auf der semantischen Ebene hervor. Diese Verse haben in der Rezeptionsgeschichte viele Diskussionen entfacht. Die Auslegung, dass Jesus als Überbietung der alttestamentlichen Figuren „Salomo“ und „Jona“ fungiert, stellt sich als ‚Eisegese‘ heraus, weil in V. 41–42 kein Vergleichssubjekt im Nominativ steht. Es heißt „mehr als Jona ist hier“ und nicht „Jesus ist mehr als Jona“. Da es kein Subjekt im Vergleich „hier ist mehr als Jona“ gibt, handelt es sich um eine Überhöhung ohne Präzision.416 Dennoch sind einige konkretisierende Aspekte erkennbar. Erstens ist feststellbar, dass sich das „mehr als“ auf V. 41 und nicht auf V. 40 bezieht. Die Konjunktion „und“ verbindet den Satzteil „siehe, mehr als Jona ist 412 413 414 415 416

Luz 2016, S. 498. Luz 2016, S. 500. Zeller 2011. Luz 2016, S. 499; Zeller 2011; Ziethe 2018, S. 336. Huber 1998, S. 88.

96

2.2 Jona im Neuen Testament

hier“ mit der „Botschaft Jonas“ (V. 41). Der dreitägige Aufenthalt Jonas im „großen Seetier[…]“ (V. 40) und des „Menschensohn[s] im Herzen der Erde“ (V. 40) sind davon unabhängig. Das griechische Wort für „mehr als“ (griech. pleion) steht genau wie „die Botschaft“ im Neutrum. Das „mehr als“ bezieht sich auf Jonas Botschaft und nicht auf Jona im Fisch. Einen zweiten Hinweis liefert das lokale Adverb „hier“ (griech. ōde), das insgesamt 18-mal im Matthäusevangelium vorkommt und jedes Mal als Marker einer irdischen Anwesenheit, vor allem der irdischen Anwesenheit des Menschensohnes fungiert. Das verdeutlicht die letzte Verwendung des Adverbs „hier“ (Mt 28,6). Dort verkünden die Engel: „Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden“ (Mt 28,6). Nach seiner Auferstehung ist Jesus nicht mehr auf der Erde präsent, nicht mehr „hier“. Er wirkt dann durch den Heiligen Geist und seine Jünger (Mt 28,19– 20). Während seines irdischen Wirkens macht er durch die Aussage „und siehe, hier ist mehr als Jona“ (Mt 12,41) und die darauffolgende Parallelaussage „und siehe, hier ist mehr als Salomo“ (Mt 12,42) deutlich, dass er genau in diesem Moment im Gegensatz zu Jona und Salomo anwesend ist. Kampling stellt heraus, dass das Neue Testament die alttestamentliche Konzeption der Barmherzigkeit Gottes aufgreift und um „die christologische Komponente in dem Sinne [erweitert], dass sich das Heil und die Barmherzigkeit Gottes in Jesus präsentisch konkretisieren“.417 Mt 12,41 legt nahe, dass Jesus Christus als präsenter Botschafter auftritt und nicht nur Jonas Botschaft tradiert. Drittens regt der Parallelismus (V. 41f.) einen Vergleich von Salomo und Jona an. Genau wie „Jona“ scheint die Figur „Salomo“ geglättet zu sein. Die breitgefächerte und ambivalente alttestamentliche Repräsentation Salomos ist auf einen Aspekt reduziert: Auf die „Weisheit Salomos“ (Mt 12,42).418 Salomo kommt insgesamt siebenmal im Neuen Testament vor, wobei jede Textstelle ein anderes Charakteristikum Salomos herausstellt.419 Mt 12,42 und Lk 11,31 bilden das Zentrum der neutestamentlichen Salomo-Repräsentation und identifizieren ihn als ultimativen Weisen, der seine Weisheit allen, auch der fremden Königin des Südens, zugänglich macht. Die beiden alttestamentlichen Figuren Jona und Salomo zeichnet jeweils ein Charakteristikum aus. Jesus hingegen vereint Weisheit (Mt 13,54) und Prophetie (Mt 13,57; 21,11) in sich. 417 418

419

Kampling 2016, S. 112. Die Weisheit ist auch im Alten Testament ein prägnantes Attribut Salomos. Darüber hinaus werden unter anderem der Tempelbau (1 Kön 9,1), Reichtum (1 Kön 10,23), seine Liebe zu vielen Frauen (1 Kön 11,1) und Israels Blütezeit (1 Kön 5,5) mit der Erzählfigur Salomo assoziiert. Er gilt als Friedensfürst (1 Kön 5,4), erfolgreicher König (1 Kön 1,34; 2 Chr 1,1) und Sohn Davids (1 Kön 1,13). Im Stammbaum Jesu (Mt 1,6.7) taucht er als Sohn Davids (Mt 1,6) und Vater Rehabeam (Mt 1,7) auf. Als direkter Nachfahre Davids, der durch die Erwähnung des Königstitels (Mt 1,6) hervorsticht und die Aufführung seiner Mutter Urija liegt eine Betonung auf Salomo. Mt 6,29 und Lk 12,27 betonen Salomos Reichtum, der anhand seiner prächtigen Kleidung sichtbar ist. In Apg 7,47 gilt er als Erbauer des Gotteshauses.

2.2.1.6 Elementare Strukturen von Mt 12

97

Der Komparativ „mehr als“ (griech. pleion) ist im Matthäusevangelium immer in die Rede Jesu eingeflochten (Mt 5,20; 6,25; 12,41.41; 20,10; 21,36; 26,52). Er ist mehrdeutig, doch bezeichnet immer eine Steigerung und in Mt 12,41–42 eine aus Q stammende christologische Steigerung.420 Der Komparativ „mehr als“ im Neutrum bezieht sich vornehmlich auf die Botschaft, weil nur die „Botschaft Jonas“ im Neutrum steht. Daraus schlussfolgert Landes, dass die Botschaft, die von Weisheit erfüllt ist, das „Mehr“ ausmacht.421 Bei dem „Mehr“ des Textes handelt es sich um einen christologischen Zuwachs. Nach Pemsel-Maier gilt der Komparativ „mehr“ als „symptomatisch für die Sprechversuche der impliziten Christologie“.422 Die implizite Christologie ist ein Reden über Christus, dass vor dem Auferstehungsereignis anzusiedeln ist. Deshalb fehlt es noch an konkreten Sprachformen und christologischen Titeln. Implizites christologisches Reden stellt den Versuch dar, Jesus als den Christus wahrzunehmen. Das findet Ausdruck in einem Vokabular der Überbietung. Der Komparativ „mehr als“ unterstreicht, dass Jesus bekannte Deutungsmuster sprengt, zum Beispiel die alttestamentliche Prophetie. Jesu Ankündigung und „sein[…] Umgang mit dem ihm bevorstehenden Todesschicksal“423 ist Ausdruck impliziter Christologie, weil Jesus sich hierin grundlegend von anderen Menschen unterscheidet. Die Konkretisierung der Eigenschaften Jesu Christi gemäß einer „expliziten Christologie ist erst nachösterlich möglich und setzt die Erfahrung der Auferweckung […] voraus.“424 Das „mehr“ ist keine Degradierung der alttestamentlichen Propheten, sondern ein unvollkommener Sprechversuch, um Christi Botschaft zu definieren.

2.2.1.6 Elementare Strukturen von Mt 12: Christologie und endzeitliches Gericht –





420 421

422 423 424

Die Betrachtung von Mt 12,38–42 eröffnet vielfältige Perspektiven. Der neutestamentliche Text arbeitet selektiv, modifizierend und interpretierend mit dem alttestamentlichen Material. Die Jona-Rezeption erweist sich gerade in ihrer Ambiguität als fruchtbar. Jona als Figur ist in Mt 12 ein idealisiertes Abbild der vielschichtigen JonaFigur des Alten Testaments. Jona ist als prophetisches Idealbild ein Vorbild für Jesu Wirken und damit keine Identifikationsfigur für LeserInnen. Genau wie Jona ist Salomo in Mt 12,42 ebenfalls idealisiert und typisiert. Die komprimierte Darstellung und Parallelstruktur in Mt 12,41–42 unterstreicht Lybaek 2002, S. 137; Nebe 1992, S. 242. Landes 1996, S. 148. Auch Correns legt dar, dass der Schwerpunkt in Mt 12,41–42 auf der Prophetie liegt, weil der Vers über die prophetische Botschaft Jonas in der Perikope vor dem Vers über die Weisheit Salomos steht (Correns 1980, S. 93). Pemsel-Maier 2015. Pemsel-Maier 2015. Pemsel-Maier 2015.

98











2.2 Jona im Neuen Testament jeweils ein Charakteristikum der alttestamentlichen Figuren: Die Weisheit von König Salomo und Jonas prophetische Umkehrbotschaft. Das „mehr als“ regt einen Vergleich von Jona und Jesus an. Es handelt sich um ein Versuch Christi Botschaft vor dem Auferstehungsereignis zu definieren und christologisch zuzuspitzen: o Jesus Christus als präsenter Botschafter. o Vereinigung von Weisheit und Prophetie in Christi Botschaft. Außerdem spielt Mt 12,40–41 auf den Aspekt Jona als Erzählung an. Die intertextuellen Anknüpfungen deuten Jonas begrenzten Aufenthalt im Fisch (Jona 2) als göttliches Rettungsereignis eines (israelitischen) Individuums, das implizit auf Christi Auferstehung hinweist. o Die Rede von der Rettung und Auferstehung der Individuen Jona und Jesus sind Momente der kollektiven Hoffnung. o Das Kollektiv kann am rettenden Wirken Gottes teilhaben, indem es das prophetische Wirken und die Rettungserfahrung Einzelner (Jonas Aufenthalt im Fisch und der Menschensohn im Herzen der Erde) existenziell durch Umkehr annimmt. Außerdem knüpft Mt 12,38–42 an Jonas Botschaft und Ninives Umkehr (Jona 3) an, wodurch Jesu Umkehrruf in den prophetischen Schriften des Alten Testaments verortet ist. Die Worte Jesu sind eine Mahnung für alle Menschen, die sich vor der prophetischen Umkehrbotschaft Gottes verschließen. In Mt 12 dient die Umkehr Ninives als positives Beispiel, um der bösen Generation ihren Starrsinn vor Augen zu führen. Jeder Mensch, der keine Umkehrbereitschaft zeigt, ist Teil dieser Generation. Jona als Erzählung hat paränetischen Charakter. Die Aufforderung zur Umkehr gewinnt im Kontext der endzeitlichen Gerichtsankündigung an Brisanz, denn die Reaktion Gottes steht noch aus. Präsentische (Jonas Aufenthalt im Fisch, Jesu Wirken und Auferstehung als Zeichen des angebrochenen Gottesreiches) und futurische (kollektiven Totenauferstehung im endzeitlichen Gericht) Heilsvorstellungen sind miteinander vernetzt. Das „Zeichen Jonas“ ist rätselhaft und wahrt so den Charakter endzeitlicher Gerichtsankündigung und göttlicher Offenbarung. Genau wie die Auferstehung Christi, bleibt das „Zeichen Jonas“ ein unverfügbares Geheimnis und Geschenk Gottes. Es verdeutlicht, dass eine Reduzierung des Alten Testaments als Verstehenshilfe des Neuen Testaments nicht zielführend ist, da der neutestamentliche Text auch unter Einbezug des Alten Testaments weiterhin rätselhaft bleibt.

2.2.1.8 Kontext: „Zeichen“ als Warnung

99

2.2.1.7 Steigende Komplexität: Fortgesetzte Jona-Rezeption aus Mt 12 in Mt 16,1–4 1

2

3

4

Und die Pharisäer und Sadduzäer traten hinzu, um ihn zu versuchen, sie fordert ihn auf, ihnen ein Zeichen aus dem Himmel zu zeigen. Und er antwortete, er sagte ihnen: Des Abends kommend sagt ihr: Schönes Wetter, feuerrot ist nämlich der Himmel und frühmorgens: Heute ist Sturm, feuerrot ist nämlich der Himmel, der trübe ist. Das Angesicht des Himmels wisst ihr zu deuten, aber die Zeichen der Zeiten könnt ihr nicht deuten. Eine Generation böse und treulos sucht ein Zeichen, und ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas. Und sie verlassend, ging er weg.

Sowohl die alttestamentliche Jona-Erzählung als auch die Jona-Rezeption in Mt 12,38–42 bilden die Basis für die Erörterung der Jona-Rezeption in Mt 16,1–4. Mit 71 Wörtern ist der Text der vorliegenden Perikope (Mt 16,1–4) etwa halb so lang wie Mt 12,38–42.425 Der Text besteht aus wörtlicher Rede, wobei Jesus den größten Sprechanteil besitzt. Die Sadduzäer und Pharisäer kommen nur indirekt zu Wort. Einerseits in der indirekten Rede in V. 1, andererseits gibt Jesus die Worte der Sadduzäer und Pharisäer wieder (V. 2–3).

2.2.1.8 Kontext: „Zeichen“ als Warnung vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer Verschiedene Gliederungsmodelle des Matthäusevangeliums ordnen Mt 16, genau wie Mt 12, den Streitgesprächen Jesu zu,426 wobei Mt 16 bereits einem weiterführenden Abschnitt angehört.427 Bei Mt 16,1–14 handelt es sich um eine zweite Zeichenforderung und damit um eine Verschärfung oder Profilierung.428 425

426 427 428

Mt 12,38–42 besteht aus 122 Wörtern. Die Rede Jesu in Mt 12 ist mit 101 Wörtern mehr als doppelt so lang als die Rede Jesu in Mt 16 (47 Wörter). Luz 2016, S. 225–226; Schnelle 2017, S. 294; Schweizer 1986. Luz 2016, S. 443. Konradt 2015, S. 227; Luz 2016, S. 443.

100

2.2 Jona im Neuen Testament

Mt 16 befindet sich in der Mitte des Evangeliums und fungiert als Schnittstelle zweier größerer Abschnitte. Mt 16 markiert den Wendepunkt vom Wirken Jesu in Galiläa zu seinem Passionsweg.429 Mt 12,38–42 und 16,1–4 bilden aufgrund der intertextuellen Übereinstimmungen eine Rahmung. Der Redeblock Mt 13,1–52, der verschiedene Gleichnisse Jesu enthält, trennt die beiden Perikopen voneinander.430 Die Rahmung unterstreicht die Bedeutung von Mt 13 als das „Evangelium im Evangelium“,431 in dem Jesus das Himmelreich und die Herrschaft Gottes in Form von Gleichnissen verkündet. Die Perikope Mt 16,1–4 ist eine semantisch und pragmatisch eigenständige Einheit. Wie in Mt 12 sind Verben der Kommunikation bedeutsam: „versuchen“ (griech. peirazō Mt 16,1), „auffordern“ (griech. eperōtaō Mt 16,1), „antworten“ (griech. apokrinomai Mt 16,2), „sagen“ (griech. legō Mt 16,2.2), „deuten“ (griech. diakrinō Mt 16,3). Außerdem kommen Verben der Bewegung vor: „hinzutreten“ (griech. proserchomai Mt 16,1), „verlassen“ (griech. kataleipō Mt 16,4) und „weggehen“ (griech. apererchomai Mt 16,4). Diese Verben lassen die Figuren „Pharisäer und Sadduzäer“ und Jesus aktiv erscheinen. Das Hinzutreten (Mt 16,1) der Pharisäer und Sadduzäer sowie das Abtreten Jesu („verlassen“ und „gehen“ Mt 16,4) unterstreichen die Eigenständigkeit der Perikope. Das Substantiv „Zeichen“ (Mt 16,1.3.4.4.4) ist mit fünf Erwähnungen ein Leitwort der Perikope. Darüber hinaus kommen die Begriffe „Himmel“ (griech. ouranos Mt 16,1.2.3.3) und „feuerrot“ (griech. pyrrazō Mt 16,2.3) mehrfach vor. Mt 16,1–4 ist ein Teilabschnitt von Mt 16,1–12. Nach Konradt gilt Mt 16,1–4 „als Anlass für die in V. 5–12 ausgesprochene Warnung.“432 Semantische Verbindungslinien bilden die Figuren der Pharisäer (Mt 16,1.6.11.12) und Sadduzäer (Mt 16,1.6.11.12). Während Jesus in Mt 16,1–4 mit den Pharisäern und Sadduzäern spricht, redet er im darauffolgenden Abschnitt über sie. Zuvor ist Jesus von den Jüngern und der Volksmenge umgeben (Mt 15,36), die er entlässt und sich nach Magadan aufmacht. Daraufhin folgen die Jünger Jesus (Mt 16,5) und er greift im Gespräch die vorangegangene Begegnung mit den Pharisäern und Sadduzäern auf. Das geschieht mit der Metapher des Sauerteigs. Die Warnung vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer steht im Kontext der Auslegung des Speisungswunders.433 Die Jünger verstehen Jesu Worte vorerst falsch und denken an Brot als Nahrungsmittel, dann erkennen sie jedoch, dass der Sauerteig die „Lehre“ (griech. didachē) der Pharisäer und Sadduzäer symbolisiert (Mt 16,12). Die „Lehre der Pharisäer und Sadduzäer“ (Mt 16,12) steht in Spannung zur Lehre Jesu. Der Begriff „Lehre“ kommt ansonsten im Matthäusevangelium nur in Kombination mit dem Namen „Jesus“ vor (Mt 7,28; 22,33). Der „Sauerteig der Pharisäer und 429 430 431 432 433

Frankemölle 2018, S. 13; Konradt 2015, S. 265; Schweizer 1986, S. 217. Schnelle 2017, S. 294. Frankemölle 2018, S. 12. Konradt 2015, S. 255. Chibici-Revneanu.

2.2.1.9 Intertextuelle Anknüpfungen an Mt 12

101

Sadduzäer“ (Mt 16,6.11) unterstreicht als Metapher, dass die „Lehre der Pharisäer und Sadduzäer“ (Mt 16,12) eine negative Auswirkung auf Jesu Lehre hat.434 In Mt 16,13 setzt ein neuer Handlungsstrang ein, der in der Gegend von Cäsarea Philippi verortet ist. Insgesamt lassen sich im Nahkontext der Perikope viele Ortswechsel feststellen. Jesus ist in Bewegung und spricht entweder mit der Volksmenge, den Jüngern oder den Pharisäern und Sadduzäern. Außerdem heilt er Menschen aus der Volksmenge (Mt 15,21–31; 17,18). Dadurch verkündet Jesus das Himmelreich in Wort und Tat.

2.2.1.9 Intertextuelle Anknüpfungen an Mt 12: Fortgesetzte Rezeption des Jona-Zeichens Klare semantische Stichwortverbindungen zwischen Mt 12 und 16 bilden die Begriffe „Zeichen“ (Mt 12,38.39.39.39; 16,1.3.4.4.4), „Jona“ (Mt 12,39.40.41.41; 16,4), „Generation“ (Mt 12,39.41.42; 16,4), „böse und treulos“ (Mt 12,39; Mt 16,4), „suchen“ (Mt 12,39; 16,4) und „Pharisäer“ (Mt 12,38; 16,1). Mt 12,39 besteht aus 23 Wörtern. Davon stehen 21 Wörter explizit in Mt 16,2.4. Die Einleitung „Und er antwortete, er sagte ihnen“ (Mt 12,39; Mt 16,2) ist identisch. Darauf folgt die wörtliche Rede Jesu, die unterschiedlich beginnt und andere Schwerpunkte setzt: In Mt 12,40–41 liegt der Schwerpunkt auf Jonas Aufenthalt im Fisch als implizite Auferstehungsankündigung Jesu Christi und Jonas Umkehrbotschaft. In Mt 16,2–3 geht es um die Deutung von Zeichen am Himmel. Der Begriff „Zeichen“ ist mit insgesamt neun Erwähnungen in beiden Perikopen wichtig. Die „böse und treulose Generation“ scheint ebenfalls von hohem Stellenwert zu sein. Die Leitwörter „Zeichen“, „Generation“ und „treulos“, welche die beiden matthäischen Perikopen miteinander verbinden, haben keine semantischen Verknüpfungen zur alttestamentlichen Jona-Erzählung. Lediglich das Wort „böse“ (griech. ponēros) ist in Jona 3,8.10LXX zu finden. Dort steht das Adjektiv im Kontext der Umkehr Ninives von den bösen Wegen und Taten. Es fällt auf, dass sich Mt 16 stärker vom alttestamentlichen Textbestand löst als Mt 12. Während Mt 12 Jona 2 und 3 rezipiert, bezieht sich Mt 16 nur auf das Zeichen Jonas und ist somit eine Rezeption der neutestamentlichen Rezeption in Mt 12. Entgegen der These, dass Mt 16 eine ‚bloße‘ Dublette von Mt 12 darstellt,435 zeigt die exegetische Betrachtung, dass es sich bei Mt 16 um eine verknüpfende Fortführung handelt. Der Begriff „Dublette“ entstammt der literarkritischen Forschung, womit der Schwerpunkt auf dem Bezug der jeweiligen Perikope zu einer Quelle liegt.436 Die Dubletten sollen beweisen, dass das Matthäus- und Lukasevangelium neben dem Markusevangelium noch Bezug auf eine weitere

434 435 436

Chibici-Revneanu. Konradt 2015, S. 255; Schweizer 1986, S. 217. Findeis 1995, S. 392.

102

2.2 Jona im Neuen Testament

Quelle nehmen.437 Dieser Diskurs liefert keine Schlüsse über den theologischen Bedeutungsgehalt des Matthäusevangeliums in seiner Endgestalt. Luz verwendet für die Beschreibung der Verknüpfungen von Mt 12 und 16 „[d]as Bild eines ‚Zopfes‘, in dem immer wieder ein Erzählstrang an die Oberfläche kommt“.438 Mt 16,1–4 fungiert intratextuell439 als dramaturgischer Abschnitt der matthäischen Jesuserzählung, der eine inner-matthäische Vernetzung anregt.

2.2.1.10 Akzentverschiebung: Von der Figur Jona zum Zeichen Jonas Es findet keine Explikation des Jona-Zeichens statt, sondern eine Charakterisierung der Zeichensuchenden. Diejenigen, die ein Zeichen suchen, sind „böse und treulos“ (V. 4) und haben die Absicht, Jesus zu „versuchen“ (V. 1).440 Alle Informationen über die Pharisäer und Sadduzäer stehen in indirekter Rede (V. 1) und in der Figurenrede (V. 2–4). Ein verbum dicendi leitet beide indirekten Reden ein.441 Aufgrund der indirekten Rede erscheint die Distanz zwischen der LeserInnenschaft und den Figuren der Sadduzäer und Pharisäer größer als in Mt 12, wo die Pharisäer und Schriftgelehrten direkt zu Wort kommen. LeserInnen erfahren von Jesus, was die Pharisäer und Sadduzäer gesagt haben sollen. Es handelt sich dabei um einen Verlust der „Wörtlichkeit“ zugunsten der Stärkung des narrativen Modus.442 Im Matthäusevangelium überwiegt ansonsten die direkte Rede, weil sich die LeserInnenschaft von den Worten Jesu angesprochen fühlen soll.443 Die direkte Rede Jesu und die indirekte Rede der Pharisäer und Sadduzäer bilden einen Kontrast, der unterstreicht, dass die Pharisäer und Sadduzäer in Kommunikation mit Jesus eintreten, jedoch nicht mit den LeserInnen und HörerInnen. Außerdem finden die „Königin des Südens“ und „Salomo“ keine Erwähnung. Daraus lässt sich schließen, dass Jona wichtiger für die Zeichenforderung im Matthäusevangelium ist als Salomo. Die verstärkte Verwendung des Jona-Namens in Mt 12,38–42 hebt das bereits hervor und die Streichung Salomos und der Königin des Südens betont es zusätzlich. Jona handelt und spricht nicht in Mt 16, stattdessen steht der Name „Jona“ als Genitivattribut bei dem Begriff 437 438 439

440 441 442 443

Ebner und Heininger 2015, S. 168–169. Luz 2016, S. 226. Bei der Intratextualität handelt es sich um semantische, syntaktische und pragmatische Verknüpfungen innerhalb eines Textzusammenhanges. Bei der Bibel bilden zum Beispiel einzelne biblische Bücher bzw. Schriften einen Intratext. „Die Analyse intratextueller Strukturen gibt Aufschluss über die kontextuelle Einbettung und die textimmanente Bedeutung der intertextuell organisierten Textstelle.“ (Ternès 2016, S. 89) Die Betrachtung intratextueller Verknüpfungen des Matthäusevangeliums legt hermeneutische und theologische Strukturen offen. Mehr dazu in Abschnitt 2.2.1.11. Mt 16,1 „auffordern“ (griech. epērōtēsan); Mt 16,2 „sagen“ (griech. legete). Martínez und Scheffel 2016, S. 55. Luz 2002, S. 55.

2.2.1.11 Novum: Zugespitzte Zeichenforderung

103

„Zeichen“. Der Genitivzusatz „des Propheten“ (Mt 12,39) sowie der christologische (Mt 12,40) und der endzeitliche Gerichtskontext (Mt 12,41) kommen nicht vor. Mt 16 bietet keine (weiteren) Charakteristika Jonas an.

2.2.1.11 Novum: Zugespitzte Zeichenforderung Obwohl Mt 16 primär auf Mt 12 zurückweist, setzt Mt 16 auch eigene Akzente. Während das Wort „Himmel“ (griech. ouranos) in Mt 12,38–42 nicht vorkommt, ist es mit vier Vorkommnissen ein Leitwort von Mt 16. Der Begriff „Himmel“ ist mit 82 Vorkommnissen einer der wichtigsten Begriffe im Matthäusevangelium. Während in den anderen Evangelien die Rede vom „Reich Gottes“ (griech. basileia tou theou) ist, kommt das „Reich Gottes“ nur an zwei Stellen im Matthäusevangelium vor (Mt 12,28; 21,43), überall sonst steht der Begriff „Himmelreich“ (griech. basileia tōn ouranōn 17-mal im Matthäusevangelium). Der Ersatz des Begriffes „Gott“ durch das Wort „Himmel“ beruht auf einer jüdischen Tradition den Gottesnamen zu meiden, um die Heiligkeit Gottes zu ehren.444 Mit der Forderung nach „einem Zeichen aus dem Himmel“ ist die Forderung nach einem „Indiz göttlichen Handelns“445 gemeint, weil der Himmel der Wohnsitz Gottes ist.446 Die Zeichenforderung hängt mit der Erwartung der Ankunft des Messias zusammen.447 Zeichen aus dem Himmel kündigen das endzeitliche Gericht an (Mt 24,30; Lk 21,11.25, Offb 15).448 Der Zusatz „aus dem Himmel“ in Mt 16 verdeutlicht, dass es sich um die Forderung nach einem Zeichen Gottes mit endzeitlichem Charakter handelt. Die Konkretisierung „ein Zeichen aus dem Himmel“ verknüpft V. 1 mit V. 2– 3. Der Begriff „Himmel“ kommt in V. 2–3 dreimal vor. In V. 2–3 ist „der Himmel“ das Subjekt des Verses und dem Verb „feuerrot sein“ (griech. pyrrazei V. 2–3) zugeordnet. Das Verb „feuerrot sein“ ist schwierig zu entschlüsseln, da keine weiteren neutestamentlichen Textstellen zur Deutung beitragen. In Verbindung mit dem Verb „deuten“ (Mt 16,3), dass im Kontext der Deutung von endzeitlichen Zeichen steht,449 kann das Verb „feuerrot sein“ (griech. pyrrazei V. 2–3) auf endzeitliche Zeichen hinweisen. In der Offenbarung des Johannes steht das Adjektiv „feuerrot“ (griech. pyrros Offb 6,4; 12,3) im Kontext endzeitlicher Zeichen aus dem Himmel. Bovon geht ebenfalls davon aus, dass mit den „Zeichen der Zeit“ die „Verheißungen der letzten Tage“450 im Matthäusevangelium gemeint sind. Das einleitende Substantiv von V. 2 „Schönes Wetter“ (griech. eudia) ist ein Hapax legomenon und kommt an keiner anderen Stelle im Neuen Testament vor. 444 445 446 447 448 449 450

Berlejung 2016, S. 270; Luz 2002, S. 144. John 2015. Reddish 1992, S. 90. Berlejung 2016, S. 270. Blumenthal 2019, S. 94; Reddish 1992, S. 90. Dautzenberg 1992, S. 736. Bovon 1993, S. 182.

104

2.2 Jona im Neuen Testament

Das Substantiv „Sturm“ (griech. cheimōn) leitet V. 3 ein und kommt insgesamt sechsmal im Neuen Testament vor, darunter noch ein weiteres Mal im Matthäusevangelium im Kontext der Endzeitrede Jesu (Mt 24,20). Die für die Bibel untypischen Begriffe bilden die Singularität der Perikope ab. John legt Mt 16,2f. als Deutung der kommenden Wetterlage aus.451 Es geht um die Vorhersage der nahen Zukunft „abends“ (V. 2), „morgens“ (V. 3) und „heute“ (V. 3). Die Vorhersage des Wetters stellt sich als eine zukunftsnahe Prognose und damit als ein falsches Verständnis von Prophetie heraus. Die Farbe „feuerrot“ ist sichtbar. Der Schwerpunkt liegt nicht auf einer theologischen Dimension, denn der Himmel stellt weder Gottes Wohnsitz noch seine Schöpfungszone dar. Es handelt sich um eine Reduzierung auf weltliche und sichtbare Dinge. Bei der dritten und letzten Verwendung des Begriffes „Himmel“ sind die Wörter „Himmel“ und „Aussehen“ (griech. prosōpon) als Genitivkonstruktion miteinander verbunden. Der Begriff „Aussehen“ kommt zehnmal im Matthäusevangelium vor und steht ansonsten nie im Zusammenhang mit dem Begriff „Himmel“. Stattdessen handelt es sich in den anderen Versen um das „Angesicht“ eines Menschen oder Gottes. Einerseits spielt die Begriffsverwendung auf visuelle Aspekte und andererseits auf eine theologische, endzeitliche Dimension an. Jesus greift in seiner Rede über „das Aussehen des Himmels“ die Forderung der Pharisäer und Sadduzäer nach einem „Zeichen aus dem Himmel“ auf, wobei er den Begriff „Zeichen“ durch das Wort „Aussehen“ ersetzt und die Forderung so als ein Verlangen nach einem sichtbaren Beweis Gottes enttarnt. Er setzt die Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer in Differenz zu seinem Zeichenverständnis. Das entspricht nach poststrukturalistischen Ansätzen dem „Prinzip der Differentialität, wonach die Bedeutung einem Zeichen nicht für sich, sondern in der bestimmten Differenz zu anderen Zeichen zukommt.“452 Die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zeichenverständnisse verdeutlicht, was das Zeichen Jonas nicht ist: Es ist kein visueller Gottesbeweis und keine Vorhersage der nahen Zukunft. Die Begriffe in Mt 16,2–3 weisen auf einen endzeitlichen Kontext hin. Die Pharisäer und Sadduzäer sind in der Lage, endzeitliche Zeichen zu unterscheiden und können trotzdem „die Zeichen der Zeit“ – Jesus Christus als den kommenden Menschensohn – nicht erkennen.453 Dieser Kontrast steigert die Absurdität, dass sie ein Zeichen fordern. Neben der Konkretisierung des Zeichens stellt die Wahl anderer Figuren eine Veränderung dar. Die Pharisäer und Schriftgelehrten in Mt 12 stehen sich nicht trennscharf gegenüber, weil nur die Pharisäer eine Religionspartei bilden.454 Die Schriftgelehrten klassifizieren sich aufgrund ihres intensiven Schriftstudiums als Tora-Experten und es gibt sowohl Schriftgelehrte innerhalb der 451 452 453 454

John 2015. Angehrn 2009, S. 682. Müller 2007, S. 175. Deines 1999, S. 204.

2.2.1.12 Elementare Strukturen von Mt 16

105

Gruppe der Pharisäer als auch in anderen Religionsparteien, wie unter den Sadduzäern.455 In Mt 16 treten die beiden Religionsparteien der Pharisäer und Sadduzäer auf. Aufgrund unterschiedlicher religiöser Einstellungen, besonders im Kontext der Gesetzesvorschriften und der Bedeutung von mündlichen und schriftlichen Überlieferungen, gelten die Pharisäer und Sadduzäer als konkurrierende religiöse Parteien.456 Trotz aller Differenzen schließen sie sich zusammen, um Jesus zu „versuchen“ (griech. peirazō Mt 16,1). Das Verb „versuchen“ kommt sechsmal im Matthäusevangelium vor (Mt 4,1.3; 16,1; 19,3; 22,18.35). Zuerst in Mt 4, wo der Teufel Jesus versuchen will. Im Anschluss sind es die Pharisäer, die Jesus versuchen wollen. Jesus befindet sich immer in der Rolle des Versuchten. Das Verb „versuchen“ leitet die Gespräche zwischen Jesus und seinen jeweiligen „Versuchern“ ein (Mt 4,1 „dort sollte er vom Teufel versucht werden“, Mt 19,3 „Da kamen Pharisäer zu ihm, um ihn zu versuchen,“ und Mt 22,35 „ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen“). Das Verb legt offen, dass die Versucher „[f]alsche ‚menschliche‘ Erwartungen“457 an Jesus herantragen. Das Verb „versuchen“ weist auf eine Bindung zwischen Versucher und Versuchtem hin. Die Versuchung der Pharisäer und Sadduzäer ist kein Ausdruck ihrer Distanzierung von Jesus. Stattdessen verdeutlicht der Begriff die zunehmende Erkenntnis der Pharisäer und Sadduzäer, dass Jesus der Gottessohn ist.458 Jesu Antwort ist kürzer als in Mt 12 und im Anschluss entfernt er sich sofort von den Pharisäern und den Sadduzäern (Mt 16,4). In Mt 16,2–3 spricht Jesus die Pharisäer und Sadduzäer direkt mit „sagt ihr“ (V. 2), „wisst ihr“ (V. 3) und „könnt ihr“ (V. 3) an. In V. 4 weitet Jesus den Adressatenkreis aus, indem er über die böse und treulose Generation spricht. Die Forderung nach einem sichtbaren Gottesbeweis ist das Kriterium für die Zugehörigkeit zu der bösen und treulosen Generation.

2.2.1.12 Elementare Strukturen von Mt 16: Zeichenforderung im Zentrum –



455 456 457 458

Mt 16,1–4 ist eine Rezeption der neutestamentlichen Jona-Rezeption. Das Zeichen Jonas verweist auf Mt 12 zurück und löst sich von der alttestamentlichen Jona-Erzählung. Mt 16 ist keine Dublette, sondern fungiert intratextuell als dramaturgischer Abschnitt der matthäischen Jesuserzählung. Die Zeichenforderung und die Zeichenfordernden stehen im Vordergrund. Die Zeichenforderung ist eine provokante Versuchung und mit dem Zusatz „aus dem Himmel“ konkreter als in Mt 12,38–42. Die Frage nach einem Zeichen aus dem Himmel unterstreicht das Ringen der Menschen um einen sichtbaren Gottesbeweis.

Gielen 2000, S. 264; Jacobs 2004, S. 1006. Deines 1999, S. 204; Schröder 2004, S. 732. Schneider 2000, S. 1792. Schneider 2000, S. 1793.

106 –

2.2 Jona im Neuen Testament Die Reaktion Jesu ist kürzer und er beendet das Gespräch mit seinem Rückzug. Jesu Ablehnung illustriert, was das Zeichen Jonas nicht ist: Ein sichtbarer Gottesbeweis oder eine Vorhersage der nahen Zukunft. Mt 16 illustriert, dass das Zeichen durch erneutes Aufgreifen nicht notwendigerweise verständlicher erscheint. Obwohl die Forderung konkreter ist, erscheint die Antwort abstrakter.

2.2.2 Jona im Lukasevangelium Das Lukasevangelium ist wie das Matthäusevangelium um 80–90 n. Chr. entstanden.459 Bei dem Verfasser handelt es sich vermutlich um einen gebildeten Heidenchristen, der mit der Septuaginta vertraut war und ein hellenistisches Christentum bezeugt.460 Er richtet sein Evangelium an den „hochverehrte[n] Theophilus“ (Lk 1,3), den er „von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen“ (Lk 1,4) möchte, indem er „der Reihe nach“ (Lk 1,3) „eine Erzählung über die Ereignisse […], die sich unter uns erfüllt haben“ (Lk 1,1), verfasst. Theophilus ist zugleich realer und stellvertretender Adressat.461 Er repräsentiert alle „Christen, die wie Theophilus eine grundlegende Unterweisung im Glauben bereits erfahren haben“462 (Lk 1,4), um über einen Wissenserwerb hinaus eine existenzielle Aneignung anzubahnen.463 Hauptthemen sind die Umkehrbotschaft, Reflexion über Benachteiligungen und die Hingabe Christi, der durch sein Leiden stellvertretend Israel und die Heiden von Schuld und Sünde erlöst.464 Die Theologie des Lukasevangeliums ist biblisch verortet und zeugt vom Schöpfergott, dessen Barmherzigkeit keine partikulare Begrenzung kennt.465 Das Lukasevangelium spricht ins „Hier“ hinein, indem die Verkündigung der Sündenvergebung die Bereitschaft der LeserInnen und HörerInnen zur Umkehr stärkt und wachruft.466 Das Lukasevangelium ist das dritte Evangelium im biblischen Kanon und folgt auf das Matthäus- und Markusevangelium.467

459 460 461

462 463 464 465 466 467

Eisele 2018, S. 183. Bovon 2019a, S. 22–23; Eisele 2018, S. 183. Es handelt sich vermutlich auch um einen realen Adressaten, der als wohlhabender und angesehener Christ, die Verbreitung der Schriften des Lukas (Lk; Apg) finanziell unterstützt hat (Werlitz 2018). Eisele 2018, S. 188. Eisele 2018, S. 188. Bovon 2019a, S. 25; Mittmann 2018, S. 477. Bovon 2019a, S. 25. Eisele 2018, S. 187. Mt 12,38–42 und Lk 11,29–32 sind Paralleltexte, die aus der Quelle Q schöpfen (Hölscher 2017, S. 345–346; Lybaek 2002, S. 220–221).

2.2.2.2 Kontext: Hören auf das Wort Gottes als Kontrast

107

2.2.2.1 Jona-Rezeption in Lk 11,29–32 29

30 31

32

Als aber immer mehr der Volksmenge zusammenkamen, begann er zu sagen: Diese Generation ist eine böse Generation Sie sucht nach einem Zeichen und ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas. Denn wie Jona für die Niniviten ein Zeichen war, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein. Die Königin des Südens wird erweckt werden im Gericht mit den Männern dieser Generation, und sie verurteilt diese, weil sie von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomos zu hören. Und siehe, mehr als Salomo ist hier. Die Männer von Ninive werden sich erheben im Gericht mit dieser Generation, und sie verurteilen diese, weil sie auf die Botschaft Jonas hin umkehrten. Und siehe, mehr als Jona ist hier.

Das Lukasevangelium setzt eigene theologische Akzente, deshalb erscheint es sinnvoll, die Jona-Perikope in Abgrenzung zur alttestamentlichen Jona-Erzählung und den matthäischen Perikopen zu betrachten. Der Name „Jona“ steht nur in einer Perikope. Obwohl die lukanische Erzählung über den „Weg Jesu nach Jerusalem gegenüber Markus und Matthäus um ein Vielfaches“468 länger ist, ist die Jona-Perikope komprimiert (Lk 11,29–32). Einzelne Aspekte, die in Mt 12 und 16 vorkommen, stehen nicht im Lukasevangelium und trotz der Komprimierung sind auch Einfügungen, die nicht in Mt 12 und 16 vorkommen, erkennbar.

2.2.2.2 Kontext: Hören auf das Wort Gottes als Kontrast zur Zeichenforderung Lk 11,29–32 umfasst 97 Wörter und ist damit kürzer als Mt 12,38–42, jedoch länger als Mt 16,1–4. Genau wie in Mt 12 und 16 sind die Begriffe „Jona“ (Lk 11,29.30.32.32), „Zeichen“ (Lk 11,29.29.29.30) und „Generation“ (Lk 11,29.29.30.31.32) Leitwörter der Perikope. Während in Mt 12 die Begriffe „Jona“ und „Zeichen“ und in Mt 16 das Wort „Zeichen“ am häufigsten vorkommen, überwiegt in Lk 11 der Begriff „Generation“. Zudem treten die Begriffe „Männer“ und „Ninive“ mit jeweils zwei Erwähnungen in Lk 11 öfter als in Mt 12 und 16 auf. Die Perikope besteht hauptsächlich aus der Rede Jesu. Davor steht lediglich der 468

Schnelle 2017, S. 231.

108

2.2 Jona im Neuen Testament

kurze Einleitungssatz „Als aber immer mehr der Volksmenge zusammenkamen, begann er zu sagen“ (V. 29). Die Perikope ist semantisch und pragmatisch in den Nahkontext Lk 11,1–54 eingeflochten, doch sie grenzt sich hinsichtlich der Aspekte Zeit-, Figuren-, Themen- und Semantikwechsel ab. Der zeitliche Marker „als aber“ signalisiert einen neuen Handlungsstrang. Das Verb „zusammenkommen“ (griech. epathroizō) ist ein Hapax legomenon und verdeutlicht, dass Jesus nun eine erweiterte Adressatengruppe anspricht. Die Infinitivkonstruktion „begann er zu sagen“ leitet im Lukasevangelium einen neuen thematischen Abschnitt ein.469 Die Begriffe „Jona“ (V. 29.30.32.32), „Salomo“ (V. 31.31), „Ninive“ (V. 30.32), „Männer“ (V. 31.32), „Königin des Südens“ (V. 31), „verurteilen“ (V. 31.32), „mehr“ (V. 31.32), „hier“ (V. 31.32), „Menschensohn“ (V. 30), „umkehren“ (V. 32) und „Botschaft“ (V. 32) grenzen die Perikope ab. Dagegen gibt es mit den Begriffen „Generation“ (Lk 11,29.29.30.31.32.50.51), „Zeichen“ (Lk 11,16.29.29.29.30), „suchen“ (Lk 11,9.10.16.24.29), „Gericht“ (Lk 11,31.32.42), „hören“ (Lk 11,28.31), „Weisheit“ (Lk 11,31.49), „siehe“ (Lk 11,31.32.41) Stichwortverbindungen zum Nahkontext. Die Zeichenforderung steht im Kontext der Beelzebul-Kontroverse (Lk 11,14–23).470 Die Austreibung unreiner Geister und Dämonen durch Jesus ist ein Zeichen für die kommende Gottesherrschaft und ist ebenso wie im Matthäusevangelium direkt vor die Zeichenforderung (Mt 12,22–37) geschaltet.471 Lk 11,29 knüpft mit den Begriffen „Zeichen“ und „suchen“ an Lk 11,16 an. Dazwischen redet Jesus über die Austreibung unreiner Geister „durch den Finger Gottes“ (Lk 11,20) und die Rückkehr unreiner Geister (Lk 11,24–26). Eine Frau aus der Menge preist Jesu Mutter selig (Lk 11,27f.), woraufhin Jesus alle, „die das Wort Gottes hören und es befolgen“ (Lk 11,28) seligpreist.472 Im Anschluss an die Jona-Episode folgt die Rede über die Leuchte (Lk 11,33–36), die auf den Paralleltext Lk 8,16–18 zurückverweist. Dort symbolisiert die Leuchte eindeutig das „Wort Gottes“ (Lk 8,11.21).473 Die Hervorhebung der Bedeutsamkeit des Gotteswortes (Lk 11,27– 28.33–36) rahmt die Jona-Perikope und bildet einen positiven Kontrast zur Zeichenforderung: Selig sind die, „die das Wort Gottes hören und es befolgen“ (Lk 11,28).

469 470 471 472

473

Bovon 2019b, S. 198. Löning 2006, S. 65. Hieke 2016, S. 470. Diese doppelte Seligpreisung steht nicht im Matthäus- oder Markusevangelium und entstammt höchst wahrscheinlich dem Sondergut des Lukasevangeliums (Bovon 2019b, S. 185). Bovon 2019b, S. 207; Eisele 2018, S. 239 u. 266.

2.2.2.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 3 und Mt 12

109

2.2.2.3 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 3 und Mt 12: Ninives Umkehr als positive Kontrastfolie zur „bösen Generation“ Lk 11,29–32 ist am stärksten mit Mt 12,38–42 verknüpft. Darüber hinaus lassen sich signifikante Verbindungslinien zu Mt 16,1–4 erkennen.474 Zur alttestamentlichen Jona-ErzählungLXX bilden die Begriffe „Jona“, „Männer“, „böse“, „Ninive“, „umkehren“, „Botschaft“, „denn wie“ und „beginnen“ Stichwortverknüpfungen.475 Dabei fällt das Verb „beginnen“ auf, weil es Jonas Rede in der alttestamentlichen Erzählung sowie Jesu Worte in der Lukas-Perikope einleitet. Sowohl Jona als auch Jesus beginnen zu einer Menge zu sprechen: Jesus zu der wachsenden Volksmenge und Jona zu den Bewohnern von Ninive. Das Verb „beginnen“ leitet Jonas prophetische Rede (Jona 3,4) ein, sodass das Aufgreifen dieses Verbs Jesu Worte ebenfalls als prophetische Rede erklingen lässt. Es handelt sich um einzelne Begriffe, die Lk 11,29–32 mit der alttestamentlichen Erzählung verknüpfen. Die sieben Lexeme, die Jona und Lk 11 semantisch verbinden, sind allesamt mindestens einmal in Jona 3 zu finden. Der Schwerpunkt liegt auf dem dritten Kapitel des alttestamentlichen Prophetenbuches. Dagegen gibt es keine Stichwortverknüpfung zum zweiten Jona-Kapitel, das die wichtigste intertextuelle Verknüpfung vom Jona-Buch und Mt 12 bildet. Intertextuelle Überschneidungen von Mt 12,38–42 und Lk 11,29–32 liegen vor allem bei der jeweiligen Rede Jesu vor. Mt 12,41–42 und Lk 11,31–32 stimmen bis auf die Reihenfolge und einige wenige Ergänzungen fast überein.476 Der Schwerpunkt von Lk 11,31–32 liegt ebenso wie bei Mt 12,41–42 auf dem endzeitlichen Gerichtsszenario im Kontext von Weisheit und Prophetie. Dabei bilden die alttestamentlichen Figuren „Königin des Südens“ und „Männer von Ninive“ eine positive Kontrastfolie zur bösen Generation.477 Die Königin des Südens hört auf die Weisheit Salomos und kommt von den Enden der Erde. Die Männer Ninives reagieren mit einer radikalen Umkehr auf die Verkündigung Jonas. Die Hinwendung zu Gott lässt die Männer Ninives und die Königin des Südens am Endgericht 474

475

476 477

Von den 97 Wörtern der Lk-Perikope sind 71 in identischer Form in Mt 12,38–42 erkennbar. Mit Mt 16,1–4 stimmen exakt 13 Wörter überein. Die Begriffe „Generation“, „Zeichen“, „Menschensohn“, „Gericht“, „Königin des Südens“, „Weisheit Salomos“, „Enden der Erde“, „verurteilen“ und viele parallele Satzstrukturen (Lk 11,29.30.31.32) deuten auf klare Verbindungen zu Mt 12,38–42 hin. Die Begriffe „Jona“, „Zeichen“, „Generation“, „böse“, „geben“ und die Verssegmente „eine böse Generation“ (Lk 11,29) und „und ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas“ (Lk 11,29) verbinden alle drei neutestamentlichen Perikopen. „Jona“ (Jona 1,1.3.5.7.12.15; 2,1.1.2.11; 3,1.3.4; 4,1.4.5.6.6.8.9; Lk 11,29.29.32), „Männer“ (Jona 1,10.10.13.16; 3,5; Lk 11,31.32), „böse“ (Jona 3,8.10; Lk 11,29), „Ninive“ (griech. Nineuē Jona 1,2; 3,2.3.3.4.5.6.7; 4,1; griech. Nineuitēs Lk 11,30.32), „umkehren“ (Jona 3,9.10; 4,2; Lk 11,32), „Botschaft“ (Jona 3,2; Lk 11,32), „denn wie“ (Jona 3,3; Lk 11,30) und „beginnen“ (Jona 3,4; Lk 11,29). Mehr zu den Ergänzungen und Akzentverschiebungen in Abschnitt 2.2.2.5. Wolter et al. 2008, S. 423.

110

2.2 Jona im Neuen Testament

teilhaben. In allen drei neutestamentlichen Perikopen charakterisiert Jesus seine Adressaten als eine böse Generation. Seine Mahnung „ein Zeichen wird ihr nicht gegeben außer dem Zeichen Jonas“ kommt überall vor. Das Verb „geben“ (griech. dothēsetai) ist ein passivum divinum und steht im Futur.478 Das Zeichen ist einerseits auf Gott und außerdem auf die Zukunft hin geöffnet. Der Verweis auf das „Zeichen Jonas“ ist nicht nur ein Verweis auf ein vergangenes und bereits bekanntes Zeichen, sondern auch auf ein kommendes Zeichen.

2.2.2.4 Akzentverschiebung: Von der Figur Jona zur Schwerpunktsetzung auf Ninives Umkehr Die Aspekte, die zwar in Mt 12, aber nicht in Lk 11,29–32 vorkommen, geben Aufschluss über die Eigenlogik der lukanischen Perikope. Während die Pharisäer und Schriftgelehrten in Mt 12,38 direkt zu Wort kommen und die Forderung der Pharisäer und Sadduzäer in Form einer indirekten Rede Mt 16 einleitet, steht keine direkte oder indirekte Forderung eines Zeichens zu Beginn der lukanischen Perikope.479 Ohne diese einleitende Zeichenforderung erscheinen Jesu Worte nicht wie eine Reaktion oder Antwort (griech. apokrinomai Mt 12,39; 16,1), sondern wie eine Ansprache, die parallel zu anderen Reden Jesu im Lukasevangelium laufen. Das verdeutlicht auch die wiederkehrende Einleitungsformel „begann zu sprechen“ (Lk 4,21; 7,15.24; 12,1; 20,9). Der Vergleich von Mt 12,40 und Lk 11,30 ist aufschlussreich. Beide Verse liegen im Zentrum der jeweiligen Perikope. Der Vergleich von Jonas Aufenthalt im Fisch mit dem Aufenthalt des Menschensohnes im Herzen der Erde für drei Tage und drei Nächte (Mt 12,40) verschränkt die Perspektiven „Rettung“ und „Auferstehung“ miteinander. Hiervon bleibt lediglich der Begriff „Menschensohn“ in Lk 11,30 erhalten. In Lk 11,30 heißt es: „Denn wie Jona für die Niniviten ein Zeichen war, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein.“ Hier steht der Vergleich von Jona und dem Menschensohn in Bezug auf ihren Zeichencharakter für eine Gruppe im Blickfeld. Die Aspekte Rettung und Auferstehung herausragender israelitischer Individuen (Mt 12,40) tauchen nicht auf. Es gibt keine Anspielung auf Jesu Christi Auferstehung. Der Rückbezug zur alttestamentlichen Jona-Erzählung in Lk 11,32 beschränkt sich auf Jonas Botschaft und Ninives Umkehr in Jona 3. Der Zusatz „der Prophet“ kommt nicht vor, obwohl Jonas Umkehrbotschaft ein wichtiges Element von Lk 11 ist und der Begriff „Prophet“ ansonsten ein Schlüsselbegriff im Lukasevangelium bildet.480 Das zeigt, dass in Lk 11 die Botschaft und die Wirkung

478 479

480

Löning 2006, S. 68; Wolter et al. 2008, S. 423. Eine Zeichenforderung steht über zwanzig Verse zuvor im Erzähltext. Mehr dazu in Abschnitt 2.2.2.5. Dormeyer 2012.

2.2.2.5 Novum: Das Zeichen Jonas als Paränese zur Umkehr

111

und nicht Jona als prophetische Figur im Vordergrund stehen. Die Männer Ninives sind das Subjekt von V. 32. Ihre Bereitschaft zur Umkehr steht im Mittelpunkt und das Präpositionalobjekt „auf die Botschaft Jonas hin“ bildet den Anlass. Jona ist im Lukasevangelium eine flache Figur, weil sich die Darstellung nur auf eine Facette beschränkt (Jonas Umkehrbotschaft in Ninive).481 In Lk 11,29–32 liegt der Schwerpunkt auf der Teilhabe am endzeitlichen Gericht: Die Königin des Südens und die Männer Ninives sind vorbildliche Beispiele, die sich Jonas Botschaft sowie Salomos Weisheit zuwenden und deshalb am endzeitlichen Gericht teilhaben.

2.2.2.5 Novum: Das Zeichen Jonas als Paränese zur Umkehr Obwohl Lk 11,29–32 viele Parallelen zu Mt 12,38–42 aufweist, setzt die Lukas-Perikope dennoch eigene Akzente. Insbesondere weicht die Einleitung der Perikope von den matthäischen Textausschnitten ab. Im Gegensatz zu Mt 12 und 16 richtet Jesus seine Rede an eine immer größer werdende Volksmenge (Lk 11,29) und nicht an „einige Schriftgelehrte und Pharisäer“ (Mt 12,38) oder an „die Pharisäer und Sadduzäer“ (Mt 16,1). Erst im Anschluss an die Perikope spricht er mit den Pharisäern (Lk 11,37) und den Schriftgelehrten (Lk 11,53). Der Begriff „Volk“ (griech. ochlos) kommt 41-mal im Lukasevangelium vor und ist überwiegend positiv konnotiert.482 Das Volk ist Adressat der Worte Jesu und grenzt sich von den Pharisäern, Schriftgelehrten und Sadduzäern ab, die allesamt eine Führungselite repräsentieren.483 Es handelt sich um eine anonyme Menge, mit der Jesus im öffentlichen Raum redet.484 Das Verb „zusammenkommen“ verdeutlicht, dass immer mehr Menschen der Lehre Jesu folgen. Mit fünf Vorkommnissen ist der Begriff „Zeichen“ ein Leitwort der Perikope. Insgesamt kommt das Wort „Zeichen“ elfmal im Lukasevangelium vor, wobei es verstärkt in Kontexten von Unheilsbotschaften steht. Es kommt bei der Ankündigung der Tempelzerstörung und der endzeitlichen Not (Lk 21,7.11.24), im Kontext der Anklage Jesu Christi vor Herodes (Lk 23,8) und in Simeons Worten zu Maria vor: „Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele zu Fall kommen und aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34). Zwar enthalten Simeons Worte die Heilsankündigung, „dass in Israel viele […] aufgerichtet werden“, doch die Betonung liegt auf der Unheilsankündigung am Satzanfang, „dass in Israel viele zu Fall kommen“. Lk 11,29–32

481 482 483 484

Forster 1985, S. 67. Merz 2016, S. 451. Merz 2016, S. 451. Merz 2016, S. 451. Im Gegensatz dazu spricht Jesus ab Lk 11,37 in einem privaten Raum mit den Pharisäern und Gesetzeslehrern bei Tisch.

112

2.2 Jona im Neuen Testament

ist ebenfalls vornehmlich eine Gerichtsankündigung.485 Die einzige Stelle im Lukasevangelium an der das Wort „Zeichen“ im Kontext einer Heilsbotschaft steht, ist die Verkündigung des Engels an die Hirten: „Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ (Lk 2,12) Jesus Christus, der Herr und Retter (Lk 2,11), ist das Zeichen. An fast allen Stellen im Lukasevangelium weist das Zeichen auf Jesus Christus und seine Handlungen hin. Lediglich in Lk 11,29 hat das Zeichen keinen direkten Bezug zu Jesus, sondern zu Jona. In Lk 11,30 weist das Zeichen auf Jona und den Menschensohn hin. Lk 11,30 deutet das Zeichen als genitivus appositivus/epexegeticus („Jona ist das Zeichen“), weil Jona und der Menschensohn selbst das Zeichen sind.486 Jona war ein Zeichen für Ninive, und der Menschensohn wird ein Zeichen für diese Generation sein. In V. 32 hat die Umkehrbotschaft Jonas Zeichencharakter. Daher bietet der Vers eine Deutung des „Zeichen Jonas“ als genitivus subjectivus (Jona gibt ein Zeichen) an.487 Das verdeutlicht, dass sowohl bei Jona als auch bei Jesus „Botschaft und Person untrennbar miteinander verbunden und nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind.“488 Die Worte Jesu schließen semantisch an die Zeichenforderung in Lk 11,16 an („Zeichen“ Lk 11,16.29.29.29.30 „suchen“ Lk 11,16.29). „Andere wollten ihn versuchen und forderten ein Zeichen aus dem Himmel von ihm“ (Lk 11,16) ähnelt der Zeichenforderung in Mt 16,1, weil die Begriffe „versuchen“ und „ein Zeichen aus dem Himmel“ in beiden Versen vorkommen.489 Jedoch fordern „Andere“ (Lk 11,16) und nicht „die Pharisäer und Sadduzäer“ (Mt 16,1) ein Zeichen. Bovon geht davon aus, dass die Zeichenforderung bereits in Lk 11,16 steht, um die Beelzebul-Kontroverse mit der Zeichenforderung zu vernetzen.490 Durch die Voranschaltung der Zeichenforderung ist der Konflikt zwar nicht gestrichen, jedoch im Kontext der Ausführung des „Zeichen Jonas“ marginalisiert. Im Zentrum steht das Zeichen als Paränese zur Umkehr für die „böse Generation“ und nicht der Konflikt zwischen Jesus und den Führungseliten. Das Gericht über die böse Generation erscheint unabwendbar, doch „mit Jona gelesen, ist Umkehr möglich und damit auch die Abwendung des Unheils.“491 Aber die Abwendung des Unheils verlagert sich auf das Endgericht. In seiner Rede spricht Jesus einen Teil der Volksmenge mit dem Begriff „böse Generation“ (Lk 11,30) an, die Anrede ist

485

486 487 488 489

490 491

Giercke-Ungermann und Jöris 2016, S. 122; Kim-Rauchholz 2008, S. 38; Wolter et al. 2008, S. 424. Rengstorf 1966, S. 231; Wolter et al. 2008, S. 424; Kim-Rauchholz 2008, S. 58. Huber 1998, S. 86. Huber 1998, S. 86. Mt 16,1 griech. Kai proselthontes oi Pharisaioi kai Sadddoukaioi peirazontes epērōtēsan auton sēmeion ek tou ouranou epideichai autois; Lk 11,16 griech. eteroi de peirazontes sēmeion ech ouranou ezētoun par autou. Bovon 2019b, S. 195. Giercke-Ungermann und Jöris 2016, S. 123.

2.2.2.5 Novum: Das Zeichen Jonas als Paränese zur Umkehr

113

deshalb nicht nur auf die Schriftgelehrten, Pharisäer und Sadduzäer zu beziehen. Das bestätigt die Annahme, dass „diese (böse) Generation“ keine ethnische oder religiöse Kategorie ist, sondern alle Menschen umfasst, die keine Umkehrbereitschaft zeigen. „Sich-Einlassen auf Jesu Wort und Tat“492 ist die Grundlage für Umkehr im Lukasevangelium. Der wichtigste Aspekt der Umkehrbotschaft im Lukasevangelium ist die Sündenvergebung (Lk 24,47).493 Die Umkehrbotschaft Jesu richtet sich vor allem an sündige Menschen (Lk 5,32), denn „im Himmel [wird] mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben.“ (Lk 15,7). Gerade diejenigen, die durch böse Taten und Wege auffallen, sind zur Umkehr aufgefordert und Ninive illustriert, dass eine Umkehr von bösen Wegen möglich ist. Die Charakterisierung als „böse“ schafft einen Verknüpfungspunkt mit dieser Generation und der Vergleich mit Ninive stellt den Starrsinn dieser Generation heraus. Der Wortlaut von Lk 11,31–32 und Mt 12,41–42 unterscheidet sich nur geringfügig. In Lk 11,31 stellt das Substantiv „die Männer“ eine Hinzufügung dar. Das maskuline Substantiv „Männer“ im Plural bildet einen Kontrast zum femininen Subjekt im Singular „Die Königin des Südens“. Eine Frau, passend zur Hervorhebung der Frauen im Lukasevangelium,494 geht mit positivem Beispiel voran. Schon in Lk 11,27 ist es eine Frau, die eine andere Frau, die Mutter Jesu, seligpreist und damit den Konflikt unterbricht. Jesus preist dabei das Hören auf das Wort Gottes (Lk 11,28). Das bildet auch eine Verbindungslinie zum Hören der Königin des Südens auf Salomos Weisheit (Lk 11,31). Dennoch geht es nicht um die Degradierung von Männern, denn im darauffolgenden Vers gehen die Männer Ninives mit positivem Beispiel voran. Das unterstreicht die umfassende Perspektive des endzeitlichen Gerichts: Männer und Frauen, Heiden und Israeliten, Führungsspitze und (Fuß-)Volk nehmen teil und die Rolle, die ein jeder und eine jede einnimmt, hängt weder vom Geschlecht, noch vom sozialen Status oder von der religiösen Zugehörigkeit ab, sondern von der Bereitschaft, sich der (weisheitlichen und prophetischen) Verkündigung zuzukehren. In Lk 11,31 ist die Rede von Salomo und der Königin des Südens, in V. 32 von Jona und Ninive. Mt 12,41–42 führt die beiden Schlussverse in umgekehrter Anordnung auf. Die unterschiedliche Anordnung führt Luz auf die Reihenfolge in Q zurück, die der Verfasser des Lukasevangeliums vermutlich übernommen hat. Der Verfasser des Matthäusevangeliums dagegen hat den Jona-Vers wahrscheinlich vorgezogen, weil ihm V. 41 anschlussfähig an die Jona-Thematik von V. 39– 40 erschien.495 Chow teilt diese Meinung und will beweisen, dass die Matthäus-

492 493 494 495

Merklein 1992, S. 1026. Merklein 1992, S. 1028. Klein 2005, S. 301. Luz 2016, S. 273. Vgl. auch Hagner 2000, S. 352–353.

114

2.2 Jona im Neuen Testament

perikope eine sekundäre, stärker modifizierte Version als die ältere Lukasperikope darstellt.496 Correns geht davon aus, dass Mt 12 der ursprüngliche Text ist, da es nicht sinnvoll sei, dass Matthäus eine historisch korrekte Anordnung von Lukas umgedreht hätte.497 Neben diesen diachronen Argumenten erscheint es sinnvoll, die synchrone Wirkung der Anordnung zu betrachten. Die Historisierung ist ein leitendes Konzept der literarischen Anordnung des Lukasevangeliums.498 Im Lukasprolog heißt es, dass die Erzählung zuverlässig ist (Lk 1,4), weil sie „der Reihe nach“ (Lk 1,3) niedergeschrieben ist. Eine Anordnung des SalomoVerses vor dem Jona-Vers spiegelt die historische Abfolge wider und setzt das Prinzip der Historisierung über das Konzept einer stringenten Argumentationslinie.499 Lk 11,31 ruft ein Moment der Irritation hervor, indem der Vers die Worte über das Jona-Zeichen durch den Einschub der alttestamentlichen Erzählung über Salomo und die Königin des Südens unterbricht. Der Vergleich in V. 30 suggeriert, dass Jona und der Menschensohn ein Zeichen darstellen, doch es ist unklar wofür. Der nächste Vers greift dann weder das Wort „Zeichen“, noch die Begriffe „Menschensohn“, „Ninive“ oder „Jona“ auf. Die einzige Stichwortverknüpfung bildet „diese Generation“. Die Zeichenfunktion bleibt offen und rätselhaft. V. 32 holt schließlich die Begriffe „Ninive“ und „Jona“ ein und unterstreicht die Bedeutsamkeit der Botschaft. Die Worte „Gericht mit [den Männern] dieser Generation“, „sie verurteilt/verurteilen diese“ und der Versabschluss „und siehe, mehr als Salomo/Jona ist hier“ kommen in beiden Versen vor und unterstreichen die Bedeutung des Gerichtskontextes. Zwischen Jona/Ninive und Salomo/der Königin des Südens lassen sich keine Vernetzungen im Alten Testament erkennen. Erst Mt 12 und Lk 11 bringen Jona und Ninive mit Salomo und der Königin des Südens in Verbindung. Die Einspielung der Salomo-Erzählung inmitten der Jona-Perikope in Lk 11,31 verstärkt das Moment der Verflechtung der beiden, bis dahin unabhängigen, alttestamentlichen Erzählungen. Die beiden alttestamentlichen Figuren repräsentieren jeweils ein spezifisches Charakteristikum: Weisheit und Prophetie. Die Parallelisierung betont, dass gerade die Vereinigung von Prophetie und Weisheit das „Mehr“ abbildet

2.2.2.6 Elementare Strukturen von Lk 11: Kontinuierliche Heilsrelevanz der Umkehrbotschaft –

Lk 11 ist am stärksten mit Jona 3 und Mt 12 verknüpft. Der Schwerpunkt liegt auf der Umkehrbotschaft Jonas in Ninive und nicht auf nicht auf der einzelnen Figur Jona, seiner Rettungserfahrung und der damit in Mt 12 verbundenen impliziten Ankündigung der Auferstehung Christi. Stattdessen steht die

496

Chow 1995, S. 13 u. 78. Correns 1980, S. 86 u. 92. Moessner 2016, S. 11. Correns 1980, S. 90.

497 498 499

2.2.3 Weitere Bezüge zur alttestamentlichen Jona-Erzählung









115

Teilhabe eines (umkehrbereiten) Volkes am endzeitlichen Gericht im Vordergrund. Die intertextuellen Verknüpfungen von Lk 11 und Jona 3 betonen den prophetischen Charakter der Umkehrbotschaft von Jona und Jesus. Der Nahkontext hebt die Bedeutung des göttlichen Wortes hervor. Jesus lässt Jonas Botschaft erklingen und unterstreicht damit die Kontinuität des göttlichen Wortes über die Zeiten hinweg. Die Botschaft der Umkehr ist und bleibt heilsrelevant. Der Umkehrruf hat ethischen Charakter und richtet sich vor allem an sündige und böse Menschen. Die Bosheit ist der Vergleichspunkt von „dieser Generation“ und „Ninive“ und betont „Ninives“ vorbildliche Umkehr als Kontrast zum Starrsinn „dieser Generation“. Bei den Worten Jesu handelt es sich nicht um einen Konflikt mit den religiösen Autoritäten. Stattdessen spricht Jesus die Volksmenge an. Jesus spricht alle an. Das hebt die umfassende Perspektive des endzeitlichen Gerichts hervor: Männer und Frauen, Heiden und Israeliten, Führungsspitze und (Fuß)Volk nehmen teil und die Rolle, die ein jeder und eine jede einnimmt, hängt weder vom Geschlecht noch von der religiösen und sozialen Zugehörigkeit ab, sondern von der Bereitschaft sich der weisheitlichen und prophetischen Botschaft zuzukehren. Der Einschub des Salomo-Verses (Lk 11,31) ruft ein Moment der Irritation hervor, weil er die Jona-Perikope unterbricht. Die Parallelisierung von Salomo und Jona unterstreicht die Bedeutung der Verknüpfung von Prophetie und Weisheit.

2.2.3 Weitere Bezüge zur alttestamentlichen Jona-Erzählung im Neuen Testament Neben Lk 11, Mt 12 und 16 gibt es noch weitere neutestamentliche Perikopen (Mt 8,24; 11,21; 23,35; 26,38; Mk 4,37.41; 14,34; Lk 10,13; Joh 11,50; Apg 27,19, Offb 11,13), die sich im weitesten Sinne auf die alttestamentliche Jona-Erzählung beziehen.500 Der Name „Jona“ steht in keiner dieser Perikopen, stattdessen handelt es sich um wiederkehrende Motive und Leitwörter der alttestamentlichen JonaErzählung. Die meisten dieser (impliziten) neutestamentlichen Jona-Rezeptionen nehmen Bezug auf die Seesturmszene aus Jona 1,4–15 (Mt 8,24; 23,35; Mk 4,37.41; Joh 11,50; Apg 27,19; Offb 11,13). Verbindungslinien sind vor allem die Leitwörter „groß“ (Mt 8,24; Mk 4,37; Offb 11,13), „Meer“ (Mt 8,24; Mk 4,41) und „Schiff“ (Mt 8,24; Mk 4,37; Apg 27,19).

500

Breytenbach 2009, S. 31; Ham 2009, S. 52; Menken 2009, S. 94; Nestle-Aland 282016, S. 867.

116

2.2 Jona im Neuen Testament

Mt 11,21 und Lk 10,13 beziehen sich auf Jona 3 („Sack“, „Asche“, „umkehren“). Sie stehen vor den Jona-Perikopen (Mt 12,38–42; Lk 11,29–32) und unterstreichen die Dringlichkeit, Umkehr und Buße zu leisten. Jedoch ist die Rede von der Umkehr der Städte Tyrus und Sidon im Gegensatz zu Ninives Umkehr hypothetisch.501 Mehrere Gerichtsworte erklingen in den prophetischen Schriften des Alten Testaments gegen die phönizischen Städte Tyrus und Sidon (Jes 23, Jer 25, Joel 4), doch die Städte kehren nicht um. Bei den Worten über die Umkehr von Tyrus und Sidon handelt es sich ‚nur‘ um eine Vermutung: „Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind – längst schon wären sie in Sack und Asche umgekehrt.“ (Mt 11,21; Lk 10,13) Bei Ninive handelt es sich hingegen um ein in den alttestamentlichen Schriften belegtes Beispiel (Jona 3). Mt 8,24; 23,35; 26,38; Mk 4,37.41; 14,34 und Joh 11,50 regen einen Vergleich von Jona und Jesus an. Jona ist aufgrund der Parallelisierung mit Jesus und den Gerechten idealisiert (griech. dikaios Spr 6,17; Klgl 4,13; Joel 4,19; Jona 1,14; Mt 23,35). Außerdem hebt der Vergleich die Unterschiede zwischen Jona und Jesus hervor. Jesus stillt im Gegensatz zu Jona den Sturm (Mt 8,26; Mk 4,39) und er „sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch, um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln.“ (Joh 11,52, auch Mt 23,37) Es geht sowohl um die Rettung aus einer bedrohlichen Lage (Jona 1) als auch um die Vereinigung des Gottes Volkes durch Christus. Die kanonische Stapelung verschiedener Jona-Anspielungen zeigt die Vielfalt an Interpretations- sowie Anschlussmöglichkeiten und verdeutlicht darüber hinaus die hermeneutische Besonderheit des Neuen Testaments in seiner Beziehung zum Alten Testament. Man kann nicht von dem Verhältnis des Neuen zum Alten Testament sprechen, weil den neutestamentlichen Schriften unterschiedliche hermeneutische Konzeptionen zugrunde liegen.

2.3

Ertrag: Biblische Intertextualität als christliche Lektüreperspektive

Die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen setzen individuelle Schwerpunkte, die kanonisch-intertextuell ein vielschichtiges Jona-Bild im christlichen Kanon bilden. Sowohl das Lukas- als auch das Matthäusevangelium rezipieren die alttestamentliche Jona-Erzählung, jedoch steckt eine andere Hermeneutik hinter den Rezeptionen. Die Kirche entschied sich, „für die Multiperspektivität unterschiedlicher Bücher mit verschiedenen Jesus-Bildern“502, indem sie vier Evange-

501 502

Gillner 2015, S. 82. Theobald 2018, S. 8.

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive

117

lien in den biblischen Kanon aufnahm. Die literarische Vielfalt ermöglicht Zugänge für individuelle LeserInnen und für ganze Lesegemeinschaften. Das Lukasund Matthäusevangelium beziehen sich selektiv in einer neugestalteten Form auf die alttestamentliche Jona-Erzählung. Es geht nicht darum, Gültigkeit durch Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Jona-Erzählung zu erlangen. Stattdessen erlangt die Neuinterpretation ihre bindende Kraft durch die Vollmacht Jesu Christi.503 Seine Vollmacht ist in den alttestamentlichen Schriften begründet: Jesus Christus agiert in der Rolle des Menschensohns (vgl. Dan 7) als universaler König. Die Schrifthermeneutik des Matthäusevangeliums ist geprägt von einer Verschränkung von Schriftbezug und christologischer Neuinterpretation.504 Das Matthäusevangelium steht zu Beginn des Neuen Testaments, obwohl es nicht das älteste Evangelium ist. Blomberg vermutet, dass das Matthäusevangelium zu Beginn des Neuen Testaments steht, da es die meisten und eindeutigsten Verbindungslinien zum Alten Testament aufweist.505 Die alttestamentlichen Rückbezüge sind für die neutestamentliche Christologie bedeutsam, weil sie den messianischen und prophetischen Charakter Jesu Christi herausstellen.506 Mt 12,38– 42 weist die eindeutigsten intertextuellen Überschneidungen zum alttestamentlichen Jona-Buch auf. Die frühe Kirche hat Mt 12,40 am stärksten rezipiert und Jona als Typos für die Taufe gedeutet.507 Sowohl das Zeichen Jonas als auch das Sakrament der Taufe finden in den Deutungen der patristischen Literatur „ihre Mitte in Christus. Beide verbindet die starke christologische Zentrierung.“508 Seit Ende des 1. Jhd. n. Chr. gilt Mt 12,40 als kirchliche Standardinterpretation der Jona-Figur.509 In Mt 12,40 sind durch den Vergleich von Jonas Aufenthalt im Fisch mit der Grabesruhe Christi die Perspektiven Rettung und Auferstehung miteinander verschränkt. Indem sich Mt 16,1–4 verstärkt auf Mt 12 und nicht auf das alttestamentliche Jona-Buch bezieht, fungiert diese Jona-Rezeption als dramaturgisches Teilstück der matthäischen Erzählung über Jesus. Mt 16 ist keine Explikation des Jonazeichens, stattdessen dreht sich die Perikope um die fehlende Erkenntnis „der Zeichen der Zeit“: Jesus Christus, als dem kommenden Menschensohn. In der lukanischen Jona-Perikope steht die Teilhabe einer umkehrbereiten Gemeinschaft am endzeitlichen Gericht im Mittelpunkt. Die unvermittelte Ein-

503 504 505 506 507 508 509

Schnelle 2017, S. 302. Ziethe 2018, S. 380. Blomberg 2007, S. 2. Gradl 2018, S. 104. Laichner 2008, S. 184. Laichner 2008, S. 182. Chow 1995, S. 212.

118

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive

spielung der Gerichtsverse in Lk 11,31–32 spiegelt „die Plötzlichkeit und Überraschung des Endes“510 wider. Trotz historisierender Tendenzen des Lukasevangeliums (vgl. vorgezogener Salomo-Vers als Unterbrechung der Rede über das „Zeichen Jonas“ in Lk 11,31) beschränkt sich die Bedeutung der Worte nicht auf die Vergangenheit. Die überhistorische Anrede „Generation“ und die Verben im Futur unterstreichen, dass das Zeichen des Menschensohns noch aussteht: Das Warten auf die Wiederkunft des Menschensohns ist typisch für das Lukasevangelium.511 Aufgrund der Parusieverzögerung sind sowohl damalige als auch heutige und zukünftige LeserInnen dazu aufgefordert, umzukehren. Der Zugang über die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen eröffnet vielfältige theologische Einblicke. Gottes Offenbarung ist nicht einförmig: „Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn“ (Hebr 1,1–2). Die Jona-Texte heben Gottes kontinuierlichen Kommunikationswillen hervor. Gott offenbart sich in verschiedenen Kontexten, in unterschiedlicher Art und Weise. Er spricht durch und mit Jona; Jesus spricht über Jona. Dabei nimmt Gottes Offenbarung im Alten Testament eine zeitliche und theologische Prae-Position ein, da Gott sich zuerst dem Volk Israel offenbart hat und daran anknüpfend in Jesus Christus.512 Die neutestamentlichen Anknüpfungen an die alttestamentlichen Schriften betonen das Moment der biblischen Vielfalt und regen einen kontinuierlichen, reflexiven Leseprozess an. Jede Lektüre stößt andersartige theologische Impulse an, sodass LeserInnen und HörerInnen Gott immer wieder neu begegnen können. Das fordert dazu heraus, die Bibel kontinuierlich neu zu lesen, sodass HörerInnen und LeserInnen „mit der Zeit ein Gefühl für die Zähigkeit eines trotz aller Brüche auch konsistenten ‚kulturellen Gedächtnisses‘“513 bekommen. Der Schriftbezug dient der Legitimation und Autorisierung des Matthäusund Lukasevangeliums. Die Rückbezüge der beiden Evangelien regen dazu an, dass RezipientInnen die Jesusgeschichte im Lichte der Geschichte Gottes mit seinem Volk lesen. Das Neue Testament setzt die ‚großen Erzählungen‘ Israels fort.514 Es handelt sich um theologische Kontinuität zwischen Israel und der Kirche.515 Die Verknüpfungen zur alttestamentlichen Jona-Erzählung sind eine autoritative Setzung für Christusgläubige, die vorangehenden Schriften als verbindliche und fortbestehende Offenbarung Gottes zu lesen. Die neutestamentlichen Jona-Texte betonen die Bedeutung der alttestamentlichen Schriftprophetie. Sie wollen das Alte Testament nicht ersetzen, sondern es als verbindliches

510 511 512 513 514 515

Childs 1994, S. 329. Wetz 2017. Dohmen und Stemberger 1996, S. 154. Valentin 2009, S. 162. Wischmeyer 2009, S. 312. Childs 1994, S. 97; Lybaek 2002, S. 19.

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive

119

Glaubenszeugnis festlegen.516 Durch inhaltliche, theologische, semantische und syntaktische Verknüpfungen gewinnt die Jona-Erzählung an kanonischem Wert. Der Kanon „sichert die Gruppenidentität durch die Umschreibung der normativen Grundlagen der Gemeinschaft“517 und zeugt davon, was für die Glaubensgemeinschaft wichtig ist. Dabei treibt „der Wunsch nach Begegnung mit dem Herrn“518 die christliche Kanonbildung an. Das „Zeichen Jonas“ unterstreicht, dass die Jona-Erzählung für den christlichen Gottesglauben wichtig ist. Es handelt sich um Bekräftigung der Relevanz des Propheten Jona. Es ist nicht notwendig, die vorangegangenen Propheten zu ersetzen sowie es überflüssig erscheint, dass Jesus neue prophetische Wundertaten bewirkt. Die alttestamentlichen Propheten haben den Gott Israels bereits verkündet und in dieser Linie will sich Jesus verstanden wissen. Die Schriftverbundenheit steigert die theologische Komplexität, indem sie weitere und neue Perspektiven auf Gott eröffnet. Die alttestamentliche Jona-Erzählung dient zwar auch als Verstehenshilfe, da Jesu Worte über Jona im Matthäus- und Lukasevangelium ansonsten vollkommen unverständlich wären. Doch eine Reduzierung des Alten Testaments auf die Funktion als Verstehenshilfe wäre zu kurz gegriffen. Der neutestamentliche Text bleibt weiterhin rätselhaft. Die Offenheit der Texte fordert ChristInnen heraus, die Jona-Erzählung mit eigenen Deutungsperspektiven zu revitalisieren. Die Jona-Perikopen kreisen um das Thema der Rätselhaftigkeit von Gottes Offenbarung. Gott hat sich bereits durch seine Propheten offenbart. Ein jeder Mensch kann an Gottes Offenbarung durch die Annahme der prophetischen Botschaft teilhaben. Ein neues Zeichen zu fordern, stellt eine Versuchung Gottes dar. Der Zusammenhang von Altem und Neuem Testament ist komplex und alle Versuche den Zusammenhang begreiflich zu machen, sind Annäherungen, Gottes Offenbarung zu verstehen.519 Ein Versuch, das Verhältnis der alt- und neutestamentlichen Jona-Perikopen zu bestimmen, ist die Typologie.520 Die Methode der typologischen Auslegung ist von jeher Bestandteil der christlichen Exegese. Sie ist eine Auslegungsmethode der interpretativen Hermeneutik und ist von den RezipientInnen her zu denken.521 Typologie macht die Perspektivität der AuslegerInnen deutlich. Im Kontext der Jona-Auslegung problematisieren christliche TheologInnen eine bis 516 517 518 519 520

521

Childs 1994, S. 97. Steins 1999, S. 16. Reis und Ruster 2014, S. 68. Michel 1997, S. 390. Gerhards, Soulen und Vette schreiben Jona im Matthäusevangelium eine typologische Funktion zu (Gerhards 2008; Soulen 2008, S. 331–343; Vette 2007). Obwohl die griech. Bezeichnung typos nicht auftaucht, liegt dennoch eine Typologie vor. Wie Ostmeyer feststellt, ist die Verwendung des griech. Wortes typos nicht ausschlaggebend für die Zuschreibung „Typologie“ (Ostmeyer 2000b, S. 113). Stattdessen sind Textpassagen typologisch, wenn zwei Aspekte in Relation zueinander stehen, wobei ein Aspekt, der Typos, einen anderen Aspekt sichtbar macht (Ostmeyer 2000b, S. 119). Dohmen und Dirscherl 2001, S. 323; Weigl 2009, S. 613.

120

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive

dato praktizierte Überbietungshermeneutik.522 Die Auslegung des Verses „hier ist mehr als Jona“ nach der Jesus die Überbietung (Antitypos) der alttestamentlichen Entsprechung Jona (Typos) darstellt, ist ein Beispiel dieser Überbietungshermeneutik.523 Golka stellt in seinem Beitrag „Jonaexegese und Antijudaismus“ heraus, dass christlicher Antijudaismus den jüdisch-christlichen Jona-Diskurs in der Vergangenheit geprägt hat.524 Und auch Zenger betont, dass das alttestamentliche „Jonabuch von den Christen meist zu schnell mit christlicher Brille gelesen wurde und wird“525 und die christliche Jona-Auslegung „voll von latenten Antijudaismen“526 ist. Der Vergleich von Jesus und Jona mündete in Degradierungen des Propheten Jona und in einer christlichen Überbietungshermeneutik.527 Jona gilt fälschlicherweise als „Symbol des nichtassimilierten Juden“,528 „als Repräsentant des unbußfertigen Judentums“,529 als Heilsegoist und engstirniger Partikularist, der den Heiden Gottes Zuwendung nicht gönnt.530 Insbesondere die Schreckenserfahrungen der Shoa rufen ChristInnen in die Pflicht, von einem Überlegenheitsanspruches umzukehren.531 Jedoch steht der Begriff „Antitypos“ weder im Matthäus- noch im Lukasevangelium und überhaupt lassen sich keine biblischen Befunde für eine Überbietungshermeneutik finden.532 Wie Ostmeyer illustriert, ist die Annahme, dass jeder Typos einen Antitypos benötigt, ein Trugschluss.533 Insbesondere die Hierarchisierung von Typos und Antitypos mit der Priorisierung des Antitypos im Sinne einer Überbietungshermeneutik ist falsch.534 Ein antithetisches Verhältnis zweier Figuren ist biblisch nicht anvisiert.535 Der Typos ist ein Relationsbegriff und kein Gegenbegriff. In den neutestamentlichen Jona-Perikopen fungiert das „Zeichen Jonas“ als Typos, der Jesu Wirken sichtbar macht. Es geht um Kontinuität und nicht um eine sich abgrenzende Überbietung. Die typologische Verknüpfung von Jona und Jesus unterstreicht die Verortung Jesu in die Heilsgeschichte Israels. Die Wertschätzung des Alten Testaments als wichtiger Bestandteil des christlichen Kanons bei gleichzeitiger Anerkennung der Hebräischen Bibel als eigenständiges, wertvolles, jüdisches Glaubensdokument ist fortwährend zu betonen. 522 523 524 525 526 527

528 529 530 531 532 533 534 535

Dohmen und Dirscherl 2001, S. 323. Vette 2007. Golka 1986, S. 51. Zenger 1996, S. 46. Zenger 1996, S. 47. Das stellen Luz und Vette heraus und grenzen sich selbst davon ab (Luz 2016, S. 280; Vette 2007). Golka 1986, S. 52. Zenger 2012a, S. 656. Golka 1986, S. 53; Kessler 1997, S. 338; Zenger 2012a, S. 661. Young 2004, S. 111. Ostmeyer 2000b, S. 114. Ostmeyer 2000a, S. 199. Ostmeyer 2000a, S. 51. Ostmeyer 2000a, S. 51.

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive

121

Jesu Umkehrruf in den neutestamentlichen Jona-Perikopen richtet sich nicht nur an die Pharisäer, Sadduzäer oder Schriftgelehrten, sondern an alle HörerInnen und LeserInnen, ihre eigenen „bösen Wege“ zu enttarnen. Eine christliche Lektüreperspektive kann Tendenzen von Vereinnahmung, Überbietung und Verwerfung der alttestamentlichen Schriften entgegentreten. Immer wieder nähern sich ChristInnen den alttestamentlichen Schriften selektiv, indem sie nur einige wenige alttestamentliche Perikopen rezipieren und diese allein als Verheißung auf Jesus Christus lesen.536 Kalloch beobachtet „Vernachlässigung bis hin zu Ablehnung des Alten Testaments“ im katholischen Religionsunterricht.537 Die Lektüre der neutestamentlichen Jona-Perikopen im Lichte der alttestamentlichen Jona-Erzählung rückt die Aspekte „Umkehr“ und „Rettung“ in den Vordergrund. Jesu Grabesruhe und die Ankündigung des endzeitlichen Gerichts stehen im Kontext von „Umkehr“ und „Rettung“. Das spannungsreiche Verhältnis von Mahnung und Hoffnung kommt dadurch verstärkt zum Ausdruck. Die Re-Lektüre der alttestamentlichen Jona-Erzählung, die an die Rezeption der neutestamentlichen Jona-Texte anknüpft, eröffnet für ChristInnen eine zweite Lektüreperspektive. Der ambivalente Dank- und Klagepsalm Jonas erklingt im Kontext der Botschaft von Christi Auferstehung als ein hoffnungsvolles Gebet. Die dialogische Form der zwei-einen-Bibel fordert ChristInnen als „ein Wink Gottes“538 dazu auf, die eigene Religion im fortwährenden Dialog mit anderen Religionen zu verstehen. Christliche SchülerInnen können lernen, einen christlichen Standpunkt in einer religiös pluralen Gesellschaft einzunehmen und christologische Aussagen als Positionierung ohne Abwertung zu reflektieren. Diese Positionierung ist ein wichtiger Baustein für die christliche Betrachtung des Korans. Die Jona-Worte stehen sowohl im Alten und Neuen Testament als auch im Koran in Kommunikationskontexten: Zwischen Gott und seinem Propheten (AT, Koran), zwischen Prophet und Volk (AT, NT, Koran), zwischen Jesus und religiösen Vertretern (NT) sowie zwischen Muhammad und seinen Gegnern (Koran). Ein Dialog über Gott ist, damals wie heute, gerade im Gespräch verschiedener religiöser Strömungen zündend und regt zum theologischen Nachdenken an. Jona als eine der ‚großen Erzählungen’ findet Einzug in den neutestamentlichen Kanon und erweist sich als identitätsstiftend für das Christentum. „Texte und Zeichen sind Stiftungen von Gedächtnis“539 und die neutestamentlichen Jona-Perikopen prägen als Bestandteil des biblischen Kanons das kulturelle Gedächtnis des Christentums fortwährend.540 Die neutestamentlichen Rezeptionen stoßen eine Re-Lektüre des alttestamentlichen Jona-Buches an. Christliche Le536 537 538 539 540

Kuschel 2017, S. 84. Kalloch 2001, S. 23. Gäde 2010, S. 151. Bader 2009, S. 665. Danz 2009, S. 314.

122

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive

serInnen treten mit neuen Fragen und Deutungsmöglichkeiten an die „bekannte“ Jona-Erzählung heran. Es entsteht ein neuer, explizit christlicher Reflexionshorizont. Das Neue Testament fügt dem Alten Testament neben seinem eigenständigen, theologischen Gehalt, eine zusätzliche christliche Perspektive hinzu. Die neutestamentlichen Schriften reichern die schon für das Alte Testament charakteristische Vielfalt weiter an: Jonas Aufenthalt im Fisch als Moment der Hoffnung im Kontext von Christi Auferstehung zu lesen und die Umkehr Ninives nicht nur als vergangene Rettung eines fremden Volkes zu verstehen, sondern auch als Hoffnung auf Rettung im endzeitlichen Gericht für alle Umkehrbereiten.

Zusammenfassende Thesen –











Die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen setzen individuelle Schwerpunkte, die kanonisch-intertextuell ein facettenreiches Mosaik bilden. Die kanonische Stapelung der drei Jona-Perikopen und der impliziten Jona-Anspielungen im Neuen Testament unterstreicht, dass Gott sich in verschiedenen Kontexten, in unterschiedlicher Art und Weise offenbart. Die Vielfalt der biblischen Schriften fordert eine kontinuierliche Lektüre und Reflexion heraus. Mt 12 weist die stärksten intertextuellen Verknüpfungen zum Jona-Buch auf und stellt zugleich die intensivste christologische Umdeutung dar: Jonas Aufenthalt im Fisch als implizite Ankündigung von Christi Auferstehung. Mt 16 verweist verstärkt auf Mt 12 und fungiert als dramaturgisches Teilstück der matthäischen Jesuserzählung. Die matthäische Jona-Rezeption grenzt sich aufgrund der christologischen Umdeutung stärker von der alttestamentlichen Jona-Erzählung ab als die lukanische Jona-Rezeption. In der lukanischen Jona-Perikope steht die Teilhabe einer umkehrbereiten Gemeinschaft am endzeitlichen Gericht im Kontext des Wartens auf die Wiederkunft des Menschensohns im Mittelpunkt. Auch wenn Jesu Worte über Jona im Matthäus- und Lukasevangelium ohne die Lektüre der alttestamentlichen Jona-Erzählung vollkommen unverständlich wären, ist eine Reduzierung des Alten Testaments auf die Funktion als Verstehenshilfe zu kurz gegriffen. Die wechselseitige Lektüre von Altem und Neuem Testament steigert die theologische Komplexität. Die Rückbezüge der beiden Evangelien unterstreichen, dass die Jesuserzählung an die Geschichte Gottes mit seinem Volk anknüpft. Es handelt sich nicht um eine theologische Kontinuität. Bei den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen handelt es sich um eine autoritative Setzung für Christusgläubige, die vorangehenden Schriften als fortbestehende Offenbarung Gottes zu lesen. Jesus will den Propheten Jona nicht ersetzen, sondern seine Relevanz bekräftigen.

2.3 Ertrag: Biblische Intertextualität als christl. Lektüreperspektive –





123

Der christliche Kanon gibt eine Leserichtung vom Alten zum Neuen Testament vor. Bei der Jona-Lektüre sind theologische Grund- und Verbindungslinien erkennbar, dabei spielt die Teilhabe an Gottes Heil eine bedeutende Rolle. Die typologische Auslegung regt eine Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament an. In den neutestamentlichen Jona-Perikopen fungiert das „Zeichen Jonas“ als Typos, der Jesu Wirken sichtbar macht. Die typologische Verknüpfung von Jona und Jesus betont Jesu Verortung in der Heilsgeschichte Israels. Es handelt sich um Kontinuität und nicht um Überbietung. Das Neue Testament fügt dem Alten Testament eine zusätzliche christliche Lektüreperspektive hinzu. Die neutestamentlichen Perikopen greifen die alttestamentlichen Schriften in einer neugestalteten Form auf. Die Schwerpunkte des Jona-Buches „Umkehr“ und „Rettung“ sind in den neutestamentlichen Perikopen mit der Auferstehung Christi und der Ankündigung des endzeitlichen Gerichts verknüpft.

3.

Jona im Koran „Und gewiss, Jona ist wahrlich einer der Gesandten.“ (Sure 37:139)

Jona ist eine Schlüsselfigur in der Bibel und im Koran. Genau wie im Neuen Testament gibt es mehrere Textstellen im Koran, die an die alttestamentliche JonaErzählung anknüpfen und dabei neue theologische Impulse setzen. In vier Suren (37:139; 10:98; 6:86; 4:163) kommt der arabische Name „Yūnus“ vor und in zwei Suren stehen Jonas Beinamen „der mit dem Fisch“ (21:87 arab. nūni), „der Gefährte des großen Fisches“ (68:48 arab. kaṣāḥibi l-ḥūti).541 Die Jona-Perikopen gehören zu den Prophetenerzählungen im Koran.542 Diese kommen an vielen Stellen im Koran vor und weichen einerseits stark von den biblischen Erzählungen ab, weisen andererseits aber auch enge intertextuelle Verknüpfungen zur Bibel auf.543 Neben Jona kommen 24 weitere biblische Figuren im Koran vor. Darunter sind elf Figuren, die auch in der Bibel als „Prophet“ gelten.544 Jona ist jedoch der einzige Schriftprophet unter den biblischen Figuren im Koran. Jesaja, Jeremia oder auch Hosea, die im Alten Testament zu den Propheten zählen und auch in 541

Burge, Nasr, Koloska, Wimmer und Leimgruber ordnen den Namen „Yūnus“ und die Beinamen „der Gefährte des großen Fisches“ und „der mit dem Fisch“ eindeutig Jona zu (Burge 2017a, S. 586; Koloska 2016, S. 86; Nasr et al. 2015, S. 824; Leimgruber und Wimmer 2005, S. 185). Genau wie viele deutsche Koranübersetzungen den Namen „Jona“ anstelle des arabischen Namens „Yūnus“ verwenden (Bobzin, Karimi und Paret „Jonas“, Zirker) wird auch in dieser Arbeit der Name „Jona“ verwendet, um zu unterstreichen, dass es sich um eine intertextuelle Rezeption von ein und derselben Figur handelt. Vergleichbar ist die Übersetzung des arabischen Begriffes allah im Deutschen entweder mit „Gott“ oder „Allah“. Beide Übersetzungen sind in deutschen Koranausgaben geläufig. Bobzin, Karimi, Paret und Zirker verwenden „Gott“. Das ist theologisch und sprachlich angemessen, weil der arabische Begriff allah kein Eigenname, sondern ein Kompositum aus dem bestimmten Artikel al und dem Substantiv ilāh („Gott“) ist (Bobzin 2001, S. 22; Wielandt 2000). Die arabischen Übersetzungen der Bibel verwenden den Begriff allah ebenfalls für „Gott“ (Bobzin 2001, S. 23). Die deutsche Übersetzung von allah mit „Gott“ unterstreicht das verbindende Moment mit den

542 543 544

biblischen Übersetzungen.

Burge 2017b, S. 599; Koloska 2020. el Omari 2019, S. 75. Die biblischen Figuren im Koran sind: Adam, Henoch, Noah, Abraham, Lot, Ismael, Isaak, Jakob, Josef, Amram, Mose, Aaron, Mirjam, Jitro, Saul, David, Salomo, Elija, Elischa, Ijob, Jona, Zacharias, Johannes, Jesus und Maria/Mirjam. Davon steht der Begriff „Prophet“ in der Bibel bei Abraham (Gen 20,7), Mose (Dtn 34,10), Aaron (Ex 7,1), Mirjam (Ex 15,20), Saul (1 Sam 10,10), Elija (1 Kön 18,22), Elischa (1 Kön 19,16), Jona (2 Kön 14,25), Zacharias (Lk 1,67), Johannes (Lk 1,76) und Jesus (Mt 21,11).

126

3. Jona im Koran

den neutestamentlichen Texten namentlich vorkommen, finden keine Erwähnung im Koran. Alle 25 biblischen Figuren gelten im Koran als Prophet. Das zeugt von höchster Wertschätzung und zeigt, dass der Koran ein anderes Konzept von Prophetie verfolgt. Der Koran verwendet die Begriffe „Prophet“ (arab. nabī) und „Gesandter“ (arab. rasūl) für die Boten Gottes.545 Er benennt nur wenige Figuren gleichzeitig als „Prophet“ und „Gesandter“. In Sure 37:139 gilt Jona als „Gesandter“ und in Sure 4:163 als „Prophet“. Neben Jona ist Muhammad Träger beider Ehrentitel. Die Jona-Erzählung ist von herausragender Bedeutung im Koran, weil sie sechsmal in unterschiedlichen literarischen Kontexten vorkommt und sowohl in Mekka als auch in Medina Teil von Gottes Offenbarung an Muhammad ist. Außerdem ist eine Sure nach „Jona“ benannt und der Koran rühmt Jona mit den beiden Ehrentiteln „Prophet“ und „Gesandter“. Darüber hinaus werfen die Jona-Perikopen zentrale theologische Fragehorizonte auf und eine intertextuelle Lektüre aller Jona-Episoden eröffnet einen Zugang zur gesamten Botschaft des Korans.

3.1

Den Koran von der Bibel aus lesen „Dem Koran zu lauschen bedeutet, Gott zu lauschen.“ (Umar as-Suhrawardī)546

Katholische ReligionslehrerInnen treibt die Frage um, wie und warum sie den Koran gemeinsam mit SchülerInnen im Religionsunterricht lesen können. Die Kernlehrpläne fordern dazu auf, religiöse Zeugnisse anderer Religionen, vor allem des Islams, zu erschließen, um einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und Vorurteile kritisch zu reflektieren.547 Die Förderung des interreligiösen Dialogs und der Toleranz gegenüber anderen Religionen gelten als Grundanliegen.548 Ob-

545 546

547

548

Mehr dazu in Abschnitt 3.9.2. As-Suhrawardī, U./Gramlich, R. Die Gaben der Erkenntnisse des Umar as-Suhrawardi 1978, S. 41; zitiert nach Schimmel 1995, S. 204. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2011, S. 15, 17, 24 u. 33, 2014, S. 17–18, 25 u. 32–33; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2013a, S. 14–15, 2013c, S. 14–16, 2013b, 14–16, 33 u. 40, 2008, S. 175. Der Begriff „religiöses Zeugnis“ ist allerdings nicht trennscharf definiert. In religionspädagogischen Beiträgen sind damit Texte aus dem Koran gemeint, darüber hinaus aber auch andere „Artefakte“ wie zum Beispiel der Gebetsruf des Muezzins, heilige Worte wie „Akbar“ oder die Erfahrung einer Pilgerreise (Gellner und Langenhorst 2013, S. 352–353; Meyer 2019, S. 216–220; Sajak 2018, S. 62–64). Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2011, S. 16 u. 33, 2014, S. 26 u. 33, 2013b, S. 15–16 u. 40, 2013a, S. 15 u. 17, 2013c, S. 16, 2008, S. 167.

3.1.1 Die Bibel aus der Perspektive des Korans

127

wohl diese Forderung schulformübergreifend in allen Kernlehrplänen in Nordrhein-Westfalen verzeichnet ist, erscheint sie wenig konkret.549 SchülerInnen sollen den Umgang mit religiösen Zeugnissen des christlichen Glaubens und anderer Religionen erlernen.550 Der Begriff „religiöse Zeugnisse“ ist unscharf und schlägt ein symmetrisches Verhältnis von Koran und Bibel vor. Die hermeneutische Herangehensweise und theologische Zielperspektive bleiben unklar.

3.1.1 Die Bibel aus der Perspektive des Korans Der Koran versteht sich als eigenständige, normative und autoritative Schrift für muslimische Gläubige. Als „Bestätigung“, „Wiederholung“, „Erinnerung“ und „Mahnung“ (Suren 46:12.30; 39:23; 36:11; 35:31; 26:5; 21:24; 20:99.113; 16:44; 5:48; 4:47; 3:3; 2:41.97) bezieht sich der Koran mehrfach auf die vorangegangenen Schriften, aber grenzt sich auch als „Erklärung“ (Suren 16:64.89; 5:15) „in deutlicher arabischer Sprache“ (Suren 46:12; 26:195; 16:103) von diesen ab. Er lädt JüdInnen und ChristInnen mit dem Begriff „Schriftbesitzer“ in die koranische Verkündigung ein und möchte dabei zeigen, worin sich die Schriftbesitzer bisher uneinig sind (Suren 27:76; 16:64).551 Der Dialog zwischen MuslimInnen, ChristInnen und JüdInnen gilt als Wetteifern um das Gute: Und streitet mit den Leuten der Schrift nur auf die schönste Weise, außer mit denen, die Böses tun. Und sprecht: ‚Wir glauben an das, was auf uns herabgesandt und was auf euch herabgesandt worden ist. Und Unser Gott und Euer Gott ist der Eine. Und Ihm sind wir ergeben.‘ (Sure 29:46, vgl. auch 5:48)

549

550

551

Die Kernlehrpläne in Nordrhein-Westfalen sind exemplarisch aufgeführt. Sie richten sich nach den Kirchlichen Richtlinien für den katholischen Religionsunterricht, die einen länderübergreifenden Anspruch haben (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 5, 2010, S. 5). Der Wortlaut ist an vielen Stellen identisch. Auch hier zählt die Beschäftigung mit anderen Religionen zu den Gegenstandsbereichen (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 30, 2010, S. 19; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, S. 18, 25 u. 32), wobei der Islam eine zentrale Rolle spielt (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 37, 2010, S. 34). Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2011, S. 15, 2013b, S. 14, 2013c, S. 14, 2013a, S. 14. Rubin 2004a, S. 298; Sharon 2004, S. 36; Zirker, H. Der Koran 52016, S. 7. Mehrfach spricht der Koran JüdInnen und ChristInnen direkt mit den Worten „O ihr Schriftbesitzer“ an (Suren 5:15.19.47.59.68.77; 4:171; 3:64.65.70.71.98.99; 2:105.109). Darüber hinaus macht der Koran Aussagen über die Schriftbesitzer (Suren 33:26; 29:46; 16:43; 5:47.65; 4:123.153.159; 3:69.72.75.110.113.199; 2:105.109).

128

3.1 Den Koran von der Bibel aus lesen

Beim Koran handelt es sich um eine bedingte Bestätigung der Bibel, weil aus seiner Perspektive einzelne Teile, vor allem „die Tora“ und „das Evangelium“ göttliche Offenbarung sind (Suren 9:111; 5:66.68; 3:3). Dabei liefert der Koran keine Definition, was er unter „Tora“ und „Evangelium“ versteht.552 Er vergleicht sich am stärksten mit dem Evangelium, weil beide die Tora bestätigen (Suren 61:6; 5:46). Dennoch unterscheidet sich das Verhältnis von Bibel und Koran von der Bezugnahme der neutestamentlichen Schriften auf das Alte Testament. Altes und Neues Testament gelten für ChristInnen als untrennbarer Kanon. Während christliche LeserInnen die Schriften des Alten Testament als normativen Kanon rezipieren, nehmen MuslimInnen Tora, Psalter und Evangelium als zusätzliche Schriften wahr, die wertvoll und wichtig, jedoch kein verbindliches Glaubensdokument sind. ChristInnen können die Grenze zwischen Bibel und Koran mit einer Schwerpunktsetzung auf den Glauben an den einen Gott „zwar theologisch relativieren, aber nicht aufheben.“553 Der Vorwurf der Schriftverfälschung (Suren 5:13.41; 4:46; 2:75) kommt wesentlich seltener vor als die Betonung, dass der Koran die biblischen Schriften bestätigt. Es handelt sich um ein begrenztes Urteil und ist keine grundsätzliche Abwertung der Bibel. Laut Koran haben einige „Leugner“ einen Teil der Schriften verfälscht, sodass nicht alle Schriftbesitzer oder gar die gesamte Bibel aus koranischer Perspektive als verfälscht gelten. Der Koran hat den Anspruch, das unverfälschte Glaubensdokument für muslimische LeserInnen und HörerInnen zu sein,554 aber nicht, die Bibel als Glaubensdokument für christliche oder jüdische Gläubige zu ersetzen.

3.1.2 Positionierung aus katholischer Perspektive Während im Koran Aussagen über das Verhältnis des Korans zu den vorangegangenen Schriften zu finden sind, ist das aus Gründen der zeitlichen Abfolge nicht der Fall in der Bibel. Deshalb ist die Betrachtung von kirchlichen Dokumenten für eine Positionierung aus katholischer Perspektive notwendig.555 Die dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ über die Kirche (1964), die Erklärung „Nostra Aetate“ über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (1965), die dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ über die göttliche Offenbarung (1965) und die Verlautbarung Nr. 196 „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“ der päpstlichen Bibelkommission (2014) erweisen sich 552

553 554 555

Kuschel 2017, S. 81. Es handelt sich nicht um den schriftlichen Kanon der Bibel, sondern um einen Sammelbegriff für mündliche und schriftliche Überlieferungen (Behr 2014, S. 146). Zirker 2001, S. 11. Gnilka 2004, S. 42; Graham 2004, S. 561. Zirker 2001, S. 4.

3.1.2 Positionierung aus katholischer Perspektive

129

als aufschlussreich. „Nostra Aetate“ und „Lumen Gentium“ gelten als Wegbereiter für den christlich-islamischen Dialog. „Dei Verbum“ und „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“ sind für die Verortung der Bibel im Kontext der göttlichen Offenbarung von Interesse. „Nostra Aetate“ ist eine der drei Erklärungen des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965). Die Erfahrungen von zwei Weltkriegen und gesellschaftlichen Umbrüchen gelten als Anlass dafür, dass Papst Johannes XXIII. das II. Vatikanische Konzil mit dem Ziel einer theologischen und institutionellen Neuausrichtung der katholischen Kirche „Aggiornamento“ (ital. „auf den Stand der Zeit bringen“) einberief.556 Die Worte „Nostra Aetate“ (lat. „in unserer Zeit“) greifen das Anliegen einer Neuausrichtung der katholischen Kirche auf, indem der erste Satz der Erklärung „auf die religiöse und kulturelle Pluralität der Menschheit und dem Auftrag der Kirche in diesem Kontext“557 verweist. „Nostra Aetate“ ist mit fünf Abschnitten das kürzeste Konzilsdokument.558 Neben dem Islam würdigt das Dokument die jüdische (NA 4), hinduistische, buddhistische und „die übrigen in der ganzen Welt verbreiteten Religionen“ (NA 2).559 Dem Islam (NA 3) und Judentum (NA 4) sind eigene Abschnitte gewidmet, wobei die Hochachtung der jüdischen Religion „das Herzstück“560 der Erklärung bildet. Bei NA 3 handelt es sich um eine theozentrische Würdigung des Islams, die den Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten von Islam und Christentum legt.561 Der Glaube an „den alleinigen Gott […], den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmel und der Erde“ steht als Kernaussage am Beginn von NA 3. Das theozentrische Bekenntnis, dass die Kirche und die MuslimInnen den einen „alleinigen Gott anbeten“, ist revolutionär und stellt eine grundlegende Wende der katholischen Kirche im christlich-islamischen Dialog dar. Diese einzigartige Wertschätzung ist ein Grund dafür, dass NA als „eine besondere Inspiration des Geistes“562 gilt. Darüber hinaus würdigt NA den Islam hinsichtlich der Suche nach Gottes „verborgenen Ratschlüssen“ (NA 3), der Erwartung des endzeitlichen Gerichts, der Auferweckung und der Verehrung Gottes in Form von Unterwerfung „durch Gebet, Almosen und Fasten“ (NA 3) in der Nachfolge Abrahams.

556 557 558

559

560 561

562

Flynn 1998; Hünermann 2005; Renz 2014, S. 95. Renz 2014, S. 131. Die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ ist mit 130 Abschnitten am längsten. Durchschnittlich umfassen die Dokumente des II. Vatikanum 40 Abschnitte. Nach Siebenrock sind mit den „übrigen in der ganzen Welt verbreiteten Religionen“ Naturreligionen gemeint (Siebenrock 2004, S. 171). Renz 2014, S. 147. Vgl. auch Sajak 2005, S. 20. Güngör 2006, S. 108; Middelbeck-Varwick 2011, S. 148; Renz 2014, S. 142; Zirker 2011, S. 539. Siebenrock 2004, S. 168.

130

3.1 Den Koran von der Bibel aus lesen

Die dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ hat einen ähnlichen Wortlaut. Sowohl in NA als auch in LG ist eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Islam erkennbar: „Der Heilswille umfaßt aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim[e], die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.“ (LG 16) Muslimische Gläubige können laut LG 16 „das ewige Heil erlangen“, weil sie „aus ehrlichem Herzen“ (LG 16) auf der Suche nach dem alleinigen Gott sind. Der Schwerpunkt liegt auf der Nennung von Gemeinsamkeiten. Dabei handelt es sich dennoch nicht um eine Nivellierung von theologischen Unterschieden oder einem Verlust der eigenen Position, sondern um die Betonung von Einheit als Vertrauensbasis für ein friedvolles Miteinander in einem Zeitalter von politischen und religiösen Unruhen.563 Es fällt auf, dass NA und LG weder den Koran noch Muhammad explizit erwähnen. Auf das Schweigen über Koran und Muhammad gab es aus christlicher und islamischer Perspektive unterschiedliche Reaktionen.564 Nur wenige islamische TheologInnen haben die Erklärung „Nostra Aetate“ bisher ausgiebig rezipiert. Renz vermutet, dass der Abschnitt über die Würdigung der jüdischen Religion (NA 4) „vor dem Hintergrund des Israel-Palästina-Konflikt […] wohl den Blick auf eine unvoreingenommene Wahrnehmung und Würdigung des Konzilsdokuments insgesamt erschwert [hat].“565 Die islamischen Theologen Aydin und Güngör bewerten NA 3 als wichtigen Wegbereiter des christlich-islamischen Dialogs und zeigen Verständnis dafür, dass ein offizielles Dokument der katholischen Kirche den Koran nicht erwähnt.566 Dennoch weist diese Leerstelle ihres Erachtens darauf hin, dass der Islam keine eigenen, vom Christentum unabhängigen Heilswege anbiete und die katholische Kirche implizit Missionierung und Evangelisierung des Islams bezwecke.567 Der Begriff „Koran“ steht zwar nicht explizit in NA 3, doch der Teilsatz „die den alleinigen Gott anbeten, […] der zu den Menschen gesprochen hat“ (NA 3) kann eine implizite Anspielung auf den Koran darstellen.568 Renz geht davon aus, dass die Rede vom „lebendigen und in sich seienden“ Gott in NA 3 ein Zitat des koranischen Thronverses (2:255) ist.569 Der Thronvers ist einer der bedeutendsten Verse des Korans. Ob es sich um ein Zitat handelt, ist nicht eindeutig, aber NA 3 greift damit neben der „Barmherzigkeit Gottes“ (NA 3) wichtige koranische Gottesepitheta auf. Neben Renz bewerten auch Alboğa, Zirker, Leimgruber und

563 564 565 566 567 568 569

Renz 2014, S. 130; Siebenrock 2004, S. 165–166. Renz 2014, S. 143. Renz 2014, S. 164. Aydin 2002, S. 46; Güngör 2006, S. 107–108. Aydin 2002, S. 44–46; Güngör 2006, S. 107. Vgl. auch Ayoub und Omar 2007, S. 240. Renz 2014, S. 143. Renz 2014, S. 142.

3.1.2 Positionierung aus katholischer Perspektive

131

Wimmer das Vermeiden der expliziten Nennung des Korans positiv.570 Die Leerstelle lässt Spielraum für eine an das Konzilsdokument anknüpfende theologische Reflexion des Korans als Gottes Offenbarung.571 Der Text ist eine Suchbewegung, die anstrebt, neue Perspektiven im Dialog mit der islamischen Theologie zu entwickeln und trifft deshalb keine fertigen, vollständigen Aussagen über den Islam.572 Das Konzilsdokument zielt darauf ab, die Gemeinsamkeiten der beiden Religionen hervorzuheben, um nach jahrhundertelangen Konflikten ein Zeichen für einen friedlichen, gemeinsamen Weg zu setzen. Das Dokument markiert als bedeutender Wegbereiter nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem Islam aus katholischer Perspektive. Im Gegensatz zu „Nostra Aetate“ findet sich in „Dei Verbum“ kein spezifischer Bezug zu den „Muslimen“, sondern lediglich zu „Nichtchristen“ (DV 25). DV fordert ChristInnen dazu auf, „Nichtchristen“ eine Teilhabe an der Bibel zu ermöglichen: „Die Seelsorger und die Christen jeden Standes sollen auf jede Weise klug für ihre Verbreitung sorgen.“ (DV 25) Der Schwerpunkt von DV liegt auf Jesus Christus. Als fleischgewordenes Wort (DV 2, 4, 17, 18, 23) eröffnet er durch den Heiligen Geist ChristInnen einen Zugang zum Vater im Himmel (DV 2). Die Bibel als Heilige Schrift der Kirche bildet gemeinsam mit der Heiligen Überlieferung „den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes.“ (DV 10) Vor allem der vierte Abschnitt scheint für ein Gespräch von Bibel und Koran auf Augenhöhe problematisch zu sein, weil es einerseits die christliche Heilsordnung als „unüberholbar“ deklariert und zudem eine öffentliche Offenbarung vor der Wiederkunft Jesu Christi negiert: „Nachdem Gott viele Male und auf viele Weisen durch die Propheten gesprochen hatte, ‚hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns gesprochen im Sohn‘ (Hebr 1,1– 2). […] Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13).“ (DV 4) Für ein christlich-islamisches Gespräch ist die Würdigung des Korans als Offenbarung für ChristInnen keine notwendige Voraussetzung. Hingegen ist die Wertschätzung des Korans als Offenbarung für muslimische Gläubige wichtig, deshalb scheint eine allgemeine Ablehnung einer Offenbarung Gottes in Kombination mit dem Überlegenheitsanspruch, „unüberholbar“ zu sein, unangemessen. Die in DV 4 genannten Bibelstellen legen den Schwerpunkt auf die Wirkung des Schriftstudiums, das zu guten Werken und Gerechtigkeit anspornt. Auch der Koran bringt fortwährend das Hören auf die Schrift, den Glauben und die guten Werke der Menschen zusammen (Suren 98:7; 65:11; 48:29). Die Wertschätzung, 570

571 572

Alboğa 2009, S. 133; Renz 2014, S. 143; Leimgruber und Wimmer 2005, S. 221; Zirker 2012, S. 31. Renz 2014, S. 143; Siebenrock 2004, S. 173; Zirker 2012, S. 31. Renz 2014, S. 157; Siebenrock 2004, S. 169.

132

3.1 Den Koran von der Bibel aus lesen

dass der Koran für muslimische Gläubige Gottes Offenbarung darstellt und dass das Koranstudium für ChristInnen eine nützliche Belehrung und ein Ansporn zu guten Werken und Gerechtigkeit sein kann, stellt einen weiteren, wertvollen Schritt im christlich-islamischen Dialog aus katholischer Perspektive dar. Diesen Weg bestreitet die Verlautbarung Nr. 196 „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“ der päpstlichen Bibelkommission (2014): „Die semina Verbi (Samen des Wortes Gottes) sind in der ganzen Welt ausgesät und können daher nicht auf den Text der Bibel begrenzt werden. Die Kirche hat festgelegt, was sie für inspiriert hält, sie hat aber über den ganzen Rest kein negatives Urteil gefällt.“573 Der Koran kann als ein solcher Samen des Wortes Gottes gelten. Dabei ist die Bibel als Heilige Schrift „das Unterscheidungskriterium für die Wahrheit aller anderen religiösen Zeugnisse“.574 Die Bibel gilt als Maßstab und Ausgangspunkt „einer unbegrenzten Öffnung für die Offenbarung Gottes in der Geschichte.“575 Die Bibel ist der Ausgangs- und Orientierungspunkt einer christlichen Beschäftigung mit dem Koran, weshalb sich eine verknüpfende Gestalt wie Jona anbietet. Zwar ist der Anspruch legitim, koranische Themen unabhängig von der Bibel zu betrachten, doch für eine theologische Wertschätzung aus christlicher Perspektive ist die Verknüpfung von Bibel und Koran von immenser Bedeutung. Die Bibel bietet Orientierung und zeigt, „was Gehör verlangt“.576 Insgesamt stellt die Verlautbarung einen Fortschritt im christlich-islamischen Dialog dar. Zwar kommt der Begriff „Koran“ auch hier nicht explizit vor, stattdessen ist die Rede von „literarischen Traditionen anderer Religionen“, „geistlichen Schätze[n] der anderen Religionen“ und „alle[n] anderen religiösen Zeugnisse[n]“.577 Einerseits holt die Verlautbarung dadurch eine umfassende Perspektive ein. Das ist Ausdruck von Toleranz gegenüber vielfältigen religiösen Traditionen. Andererseits setzt das Dokument dadurch alle Religionen gleich. Das lässt die besondere Beziehung von Christentum und Islam verblassen. Neben der Verlautbarung Nr. 196 hat sich Papst Johannes Paul II. für den christlich-islamischen Dialog eingesetzt und dadurch die lehramtlichen Ausführungen bekräftigt sowie weitergedacht. Neben etlichen Grußworten und Ansprachen an seine muslimischen Brüder und Schwestern, stellt vor allem der Kuss des Korans von Papst Johannes Paul II. ein Zeichen der Wertschätzung des Korans dar.578 Es handelt sich dabei nicht nur um einen privaten Gestus, darüber hinaus symbolisiert der Kuss ebenfalls die kirchliche Wertschätzung des Korans.579 Insgesamt zeigt sich, dass die Würdigung des Korans aus katholischer

573 574 575 576 577 578 579

Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Alboğa 2009, S. 150. Valentin 2009, S. 165.

3.2 Asymmetrien von Koran und Bibel als „Heilige Schriften“

133

Perspektive stetig zugenommen hat, bei gleichzeitiger Bewahrung der christlichen Glaubensidentität.

3.2

Asymmetrien von Koran und Bibel als „Heilige Schriften“

Der Begriff „Heilige Schriften“ ist für den Vergleich von Bibel und Koran auf mehreren Ebenen problematisch: Erstens ist der Begriff ursprünglich nur auf die Bibel bezogen. Petrus Venerabilis (gest. 1156) führte den Begriff im Kontext seiner Unterscheidung von Bibel als „Heilige Schrift“ (lat. sacra scriptura) im Gegensatz zum Koran als „frevelhafte Schrift“ (lat. nefaria scriptura) ein.580 Zweitens suggeriert die Verknüpfung von „heilig“ und „Schrift“, dass die Heiligkeit von vornherein aus den Texten hervorgeht. Die „Heiligkeit“ von Bibel und Koran ist eine Lektüreperspektive der jeweiligen Glaubensgemeinschaft und keine allgemeingültige Zuschreibung für alle LeserInnen und HörerInnen.581 Die Wahrnehmung der Schriften als „heilig“ erfolgt aus einer Glaubens- und Bekenntnisperspektive. Nach DV 11 gelten die biblischen Bücher „mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, da sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (vgl. Joh 20,31; 2 Tim 3,16; 2 Petr 1,19–21; 3,15–16), Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind.“ (DV 11) Wenn Menschen in der Rezeption Gott begegnen, sind Bibel oder Koran heilig für sie. So sind Bibel und Koran zugleich, je nach Glaubens- und Leseperspektive, heilige und profane Texte. Drittens regt der Begriff „Heilige Schriften“ einen primären Vergleich von den Büchern Bibel und Koran an. In der islamischen Theologie steht der Koran im Mittelpunkt,582 allerdings als rezitiertes Wort Gottes und nicht in seiner Buchform. Den Koran als „Inliberation“ des Gotteswortes mit Jesus Christus als „Inkarnation“ des Gotteswortes zu vergleichen, ist angemessener als der Vergleich der „Bücher“ Koran und Bibel,583 greift aber ebenfalls zu kurz.584 Der Koran inszeniert sich als ein Ereignis von Gottes Verkündigung, das MuslimInnen durch Rezitation miterleben können und nicht primär als Buch.585 Gottes Offenbarung ist 580

581 582 583 584

585

Graham 2004, S. 559. Petrus Venerabilis deshalb als anti-islamisch zu bezeichnen ist nicht angemessen. Er beschäftigte sich intensiv mit dem Koran, gab die erste lateinische Koranübersetzung in Auftrag und begründete damit das christlich-islamische Gespräch über Bibel und Koran mit (Hillebrandt 2003). Graham 2004, S. 559; Loughlin 2006, S. 315. Gäde 2010, S. 133; Graham 2004, S. 563. Nasr 1979, S. 43. Barth 1997, S. 15; Karimi 2015, S. 182; Madigan 2003, S. 100–101; Wild 2001, S. 6; Winter 2004, S. 51. Karimi 2015, S. 190; Neuwirth 2010, S. 179; Valentin 2009, S. 166.

134

3.2 Asymmetrien von Koran und Bibel als „Heilige Schriften“

nach islamischer Auffassung kein äußerlicher Akt,586 keine Überreichung von Schrifttafeln oder Büchern Gottes an Muhammad.587 Stattdessen ist sie göttliche Vergegenwärtigung „als eine ästhetische und zugleich existenzielle Erfahrung“,588 als eine Einsicht, „dass Gott immer schon gegenwärtig war und ist“.589 Der arabische Begriff kitāb „Schrift“ (Karimi, Paret, Zirker) bzw. „Buch“ (Bobzin) ist von herausragendem Stellenwert im Koran. Das Wort kommt 250mal vor und bezeichnet sowohl den Koran (arab. qur'ān) als auch die Tora (arab. tawrāt), das Evangelium (arab. injīl) und den Psalter (arab. zabūr). ChristInnen und JüdInnen gelten als „Schriftbesitzer“ im Koran (Suren 37:117; 4:171) und MuslimInnen sind dazu aufgefordert, im Glaubenszweifel die Schriftbesitzer zu konsultieren (Sure 10:94). Der Begriff kitāb steht für vielfache Kommunikationsmodi, nicht nur für schriftliche Kommunikation.590 „Nicht ein Buch steht als Verkörperung des Gotteswortes an der Stelle der Inkarnation, sondern […] eine sinnlich wahrnehmbare akustisch-sprachliche Manifestation.“591 Der Koran ist aus islamischer Perspektive die ewig fortwirkende, lebendige Botschaft, die durch Rezitation immer wieder aufs Neue erklingt. Der Aspekt des „Hörens“ (arab. Wurzel sīn mīm ‘ayn 185-mal) ist wichtig und die Koranrezitation ist aus islamischer Perspektive ein sakrales Erlebnis der Gegenwart Gottes. Durch die Rezitation vergegenwärtigen Gläubige die göttliche Verkündigung des Korans. Und auch die Bibellektüre vergegenwärtigt für ChristInnen Gott. Koran und Bibel stellen für die jeweiligen Glaubensgemeinschaften die lebendige Botschaft Gottes dar: „Denn lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ (Hebr 4,12).

3.3

Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

Der Begriff qur'ān „Lesung/Rezitation“ kommt 70-mal im Koran vor und betont das Außergewöhnliche der islamischen Offenbarungsschrift. Er ist „Rechtleitung“ (Suren 16:89; 2:185), „klares Zeichen“ (10:15; 41:3), „Herabsendung“ (5:101; 17:82), „Offenbarung“ (6:19; 20:114), „Warnung“ (6:19); „Wahrheit“ (9:111), „frohe Kunde“ (16:89), „Barmherzigkeit“ (16:89), „Erklärung“ (16:64), „Bestätigung“ der vorangegangenen Schriften „Tora und Evangelium“ (10:37; 6:92; 3:3) 586 587 588 589 590 591

Karimi 2015, S. 185. Karimi 2015, S. 186. Karimi 2015, S. 188. Karimi 2015, S. 190. Vgl. auch Graham 2004, S. 563–564; Khorchide 2018, S. 147. Cornell 2004, S. 37. Neuwirth 2010, S. 167. Vgl. auch Madigan 2004, S. 439.

3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

135

sowie „Vortrag“, dem Menschen zuhören sollen (7:204; 10:15.61). Letzteres hebt die Bedeutung der mündlichen Überlieferung hervor. Auch in der heute vorliegenden schriftlichen Gestalt ist sein mündlicher Verkündigungscharakter deutlich erkennbar. Der Koran ist nicht nur ein Buch, sondern gilt den Gläubigen auch als personifizierter Fürbitter.592 Die Personalpronomina unterstreichen, dass es sich um eine Kommunikationssituation zwischen Gott („Wir“ 2:3; 69:45 und „Ich“ 2:40; 68:45) und Muhammad („du“ 2:96; 68:46) handelt. Der Name „Muhammad“ (48:29; 47:2; 33:40; 3:144) kommt nur viermal im Koran vor, weil Gott Muhammad fast immer direkt anspricht. Gott ist zugleich Redestimme und Handelnder, der „aus dem ‚Off‘ der Transzendenz“593 mit einem innerweltlichen „du/ihr“ kommuniziert. Gott spricht mit Muhammad („du“), der Gemeinde („ihr“) und Außenstehenden („ihr Schriftbesitzer“, „ihr Kinder Israels“). Kommentare von Menschen, beispielsweise Vorwürfe gegen Muhammad in Form einer wörtlichen Rede, sind als Beispieldialoge in die Gottesrede eingebettet. Der Koran ist polyphon, da verschiedene Redestimmen aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten erklingen. Gott reagiert, indem er Trost spendet und Warnungen ausspricht. Die Worte „Trag vor im Namen deines Herrn, der erschuf“ (96:1) gelten als die ersten Worte Gottes an Muhammad und unterstreichen die Bedeutung der Rezitation.594 Die rhythmische und rhetorische Textstruktur des Korans, in der Sinneinheiten und Atemeinheiten übereinstimmen, unterstreicht, dass der Koran als akustisches und ästhetisches Erlebnis gestaltet ist.595 Die Botschaft Gottes richtet sich sowohl an Muhammad als auch an die LeserInnen und HörerInnen der koranischen Verkündigung. Die Rezitation geht ursprünglich vom Propheten Muhammad aus, weitet sich aber auf zukünftige Gläubige im Sinne einer „imitatio des Propheten“596 aus. In der Nachfolge Muhammads treten die BeterInnen „aus dem profanen Ort-Zeit-Rahmen heraus und in einen sakralen Zustand ein“597 und vollziehen eine eigene Lektüre und Erinnerung.598 Lesen und Hören sind Akte der Vergegenwärtigung Gottes und Verkündigung in Gemeinschaft und keine „Informationsübermittlung und inhaltlichen Hinterfragung“599 eines Individuums. Die Verkündigung von Gottes Offenbarung geschieht an Muhammad in den Jahren 610–632 n. Chr. Der Auszug (arab. hidjra) der islamischen Urgemeinde von Mekka nach Medina in 622 n. Chr. teilt die Offenbarung in zwei Phasen ein.600 Für

592 593 594 595 596 597 598 599 600

Schimmel 1995, S. 205. Neuwirth 2010, S. 563. Koshul 2004, S. 113; Madigan 2004, S. 441; Neuwirth 2010, S. 168. Karimi 2016; Kermani 2018; Neuwirth 2010, S. 170; Zirker 2012, S. 14. Neuwirth 2010, S. 179. Neuwirth 2010, S. 169. Neuwirth 2010, S. 179. Neuwirth 2010, S. 171. Leimgruber und Wimmer 2005, S. 88; Sinai 2012, S. 13.

136

3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

diese Einteilung macht sich vor allem die chronologisch-literaturwissenschaftliche Exegese stark, die eine geeignete Basis für eine kanonische Lektüre des Korans darstellt. Darüber hinaus gibt es noch andere exegetische Zugänge zum Koran, doch die Einteilung der Offenbarung in (mindestens) zwei Phasen mit der hidjra als Hauptschnittstelle ist weit verbreitet in der islamischen Theologie. Die islamische Zeitrechnung beginnt zum Zeitpunkt der hidjra und hebt damit den Auszug nach Medina als historischen Anfangspunkt des Islams hervor.601 Die hidjra ist als Schnittstelle der Offenbarungskontexte in Mekka und Medina wichtig für die Analyse der biblischen Erzählungen im Koran, weil die biblischen Erzählungen „in Mekka noch als allgemein zugängliches monotheistisches Traditionsgut“602 gelten, hingegen in Medina Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen den Interpretationsgemeinschaften sind.603 Das liegt daran, dass einige christliche und viele jüdische Gelehrte in Medina lebten und im theologischen Diskurs mit Muhammad und der islamischen Religionsgemeinschaft (arab. umma) standen.604 In Mekka lebten hingegen hauptsächlich heidnische und „monotheistisch orientierte wenn auch konfessionell nicht gebundene“605 Menschen, sodass es nur zu wenigen theologischen Streitgesprächen kam. Muhammads Tod in 632 n. Chr. kennzeichnet den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung, da seine Anhänger zu dem Zeitpunkt damit begannen, seine Worte niederzuschreiben.606 Der erste Kalif Abū Bakr (632– 634 n. Chr.) beauftragte den Schreiber Zaid Ibn Thābit, die mündliche Überlieferung zu verschriftlichen. Der dritte Kalif ‘Uthmān (644–656 n. Chr.) legte Zaids Niederschrift als Standardtext fest.607 Zaids Standardtext ist als Konsonantengerüst (arab. rasm) ohne Punktierung und Vokalisierung vieldeutig, sodass sich mindestens sieben verschiedene Lesarten herausbildeten.608 Die heutigen Übersetzungen basieren größtenteils auf der von Ḥafṣ (gest. 796 n. Chr.) überlieferten Lesart von ‘Āṣim aus Kufa, weil der erste islamische Korandruck in Kairo (1924) diese Lesart bevorzugte.609 Die Übersetzung ins Deutsche von Paret mit philologischem und inhaltlichem Schwerpunkt prägt den wissenschaftlichen Diskurs in

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Karimi 2015, S. 27. Neuwirth 2010, S. 27. Neuwirth 2010, S. 27. Neuwirth 2010, S. 26–27. Hierbei handelt es sich um Hypothesen, die durch historische Quellen gestützt sind. Dennoch ist nicht endgültig auszuschließen, dass auch JüdInnen und ChristInnen in Mekka lebten und dass Muhammad dort theologische Streitgespräche führte (Neuwirth 2010, S. 26). Sinai 2012, S. 12. Lang 2015, S. 208; Sinai 2012, S. 20. Madigan 2004, S. 447; Sinai 2012, S. 21. Hartwig 2018, S. 41; Neuwirth 2010, S. 30.

3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

137

Deutschland bis heute. Die Koranzitate in dieser Arbeit basieren auf einer eigenen Übersetzung unter Berücksichtigung der Übersetzungen von Paret, Bobzin, Karimi und Zirker.610 Der Koran umfasst nach kufischer Zählung 6.236 Verse (arab. āya/āyāt) in 114 Suren (arab. sūra).611 Die Suren gelten als Einheit in Vielfalt, denn sie bringen unterschiedliche Themen, Erzählstränge und Gattungen zu einer spannungsreichen Einheit zusammen. Sie sind überwiegend nach dem formalen Prinzip der absteigenden Länge angeordnet, wobei Sure 2 mit 286 Verse die längste Sure ist.612 Diese Art der Anordnung setzt einen textästhetischen anstelle eines inhaltlichen Schwerpunktes. Obwohl Sure 1 kürzer als Sure 2–96 ist, steht sie als „Die Eröffnende“ am Anfang des Korans. Sure 1 „al-fātiḥa“ ist von herausragender Bedeutung im täglichen muslimischen Gebet.613 Sie steht als Proömium direkt zu Beginn und lädt HörerInnen und LeserInnen in Form eines Gebets in den Koran ein.614 Die Suren sind mit Überschriften versehen, die größtenteils Wörter aus dem ersten Vers oder ein Schlüsselbegriff der jeweiligen Sure sind. In seltenen Fällen geben die Namen die Funktion der Sure wieder (Sure 112 „Das reine Gottesbekenntnis“; Sure 1 „Die Eröffnende“).615 Teilweise existieren mehrere Namen für eine Sure. Das liegt daran, dass die Surennamen nicht zum geoffenbarten Text gehören und die Herausgeber der jeweiligen Koranausgabe sie auswählten.616 Die Surennamen der amtlichen Kairiner Koranausgabe (1924) gelten als Standard im Fachdiskurs.617 Erzählzusammenhänge und wiederkehrende Strukturkonventionen bieten Orientierung an, um die Loslösung einzelner Verse aus dem Kontext zu vermeiden.618 Eine kanonische Lektüre ist sinnvoll, um die Perikopen in ihrem literarischen Kontext wahrzunehmen und theologische Entwicklungslinien zu entdecken. Eine Koranlektüre von hinten nach vorne bietet sich an, weil die hinteren Suren kürzer und prägnanter sind und zu den frühesten Offenbarungen Gottes an Muhammad gelten.619 Die hinteren Suren sind weniger komplex als die um-

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Bobzins und Zirkers Übersetzungen sind literarisch und interreligiös ausgerichtet. Karimis Übersetzung setzt einen ästhetischen Schwerpunkt. Insgesamt kommt der Begriff „Vers/Zeichen“ arab. āya/āyāt 382-mal im Koran vor. Der arab. Begriff sūra steht insgesamt zehnmal im Koran (Suren 47:20.20; 21:1; 11:13; 10:38; 9:64.86.124.127; 2:23). Bobzin, Karimi und Zirker übersetzen mit „Sure“. Leimgruber/Wimmer übersetzen mit „Reihe“. Das entspricht einer „Strophe“ oder einem „Kapitel“ (Leimgruber und Wimmer 2005, S. 55 u. 87). Sinai 2012, S. 11–12 u. 54; Leimgruber und Wimmer 2005, S. 57. Asad 2013, S. 24. Neuwirth 2020b. Kandil 1992, S. 49; el Omari 2019, S. 47–48. el Omari 2019, S. 46. Kandil 1992, S. 45; el Omari 2019, S. 47. „Steinbruch“-Lektüre bzw. atomistic approach (Rahman 1982, S. 2; Sinai 2012, S. 54). Bauschke 2014, S. 129.

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3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

fangreichen, polythematischen Suren, die zu Beginn des Korans stehen. Eine Koranlektüre von hinten nach vorne leistet einen geeigneten Einstieg für LeserInnen, weil sie ein prozessuales, entdeckendes Lesen unterstützt. Eine Lektüre der Jona-Perikopen von hinten nach vorne (Suren 68, 37, 21, 10, 6, 4) stimmt mit Nöldekes klassischer chronologischer Surenanordnung gemäß ihrer Offenbarung überein (frühmekkanisch Sure 68; mittelmekkanisch Sure 37 und 21; spätmekkanisch Sure 10 und 6; medinensisch Sure 4).620 Nöldekes Einteilung basiert hauptsächlich auf der Länge der Suren, inhaltlichen Beobachtungen und der Verwendung spezieller Wörter oder sprachlicher Wendungen.621 Der Schwerpunkt der kanonischen Exegese liegt zwar nicht auf der Chronologie der Suren, dennoch stellt Nöldekes Anordnung eine geeignete Orientierung für eine Lektüre der Jona-Perikopen dar.622 Sie ist hilfreich, um die Gesamtkomposition des Korans als Zeugnis von Gottes stetiger Verkündigung an Muhammad wahrzunehmen und die einzelnen Jona-Perikopen verknüpfend zu lesen.623 Die frühmekkanischen Suren bestehen aus kurzen (5–16 Silben pro Vers), prosaischen (viele Reimwechsel und -typen) Versen.624 Sie gelten als „Keimzelle der Korangenese“ und die dort vorwiegend behandelte Thematik des Jüngsten Gerichts gilt als „Primärbotschaft“ des Korans.625 Die Kritik an den moralischen Missständen der Gegenwart und die Verkündigung des Jüngsten Gerichts bedingen einander, da sich die Menschen vor Gott für ihre Taten verantworten müssen. Im Gericht scheidet Gott zwischen Lohn und Strafe, zwischen Glückseligkeit und Leiden, wofür die fruchtbaren Gärten und das brennende Höllenfeuer bildlich stehen.626 Lohn erhalten gläubige Menschen, die sich Gott und ihren Mitmenschen zugewandt haben.627 Es handelt sich um paränetische Prophetie mit dem Schwerpunkt auf der eschatologischen Zukunft.628 Darin ähneln die frühmekkanischen Suren der prophetischen Sozialkritik und den eschatologischen Drohworten der Bibel.629 Erst gegen Ende der frühmekkanischen Verkündigung rückt

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Nöldekes Anordnung basiert auf hypothetischen Rückschlüssen, ist jedoch die bisher tragfähigste Anordnung (Johns 2003, S. 70; Sinai 2012, S. 65). Das Projekt Corpus Coranicum baut auf Nöldekes Surenanordnung auf (Neuwirth 2020a). Auch nach der chronologischen Surenanordnung des französischen Orientalisten Blachère entspricht die Reihenfolge der Offenbarung der Jona-Perikopen von hinten nach vorn: Suren 68, 37, 21, 10, 6 u. 4 (Johns 2003, S. 70). Sinai 2012, S. 63. Sinai 2012, S. 65 u. 70. Neuwirth 2010, S. 48. Sinai 2012, S. 63. Sinai 2012, S. 78. Vgl. auch Smith 2002, S. 44. Khorchide 2015, S. 58–61. Sinai 2012, S. 78. Körner 2005, S. 201; Neuwirth 2010, S. 562 u. 605. Neuwirth 2010, S. 498; Sinai 2012, S. 79–81.

3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

139

der Monotheismus als „die markanteste theologische Lehre des Korans“630 ins Zentrum. Die Verse der mittel- und spätmekkanischen Suren sind mit 13–16 Silben unwesentlich länger. Es gibt weniger Reimwechsel und die Gottesbezeichnung „der Barmherzige“ (arab. raḥmān) kommt häufig vor.631 Insgesamt steht der arabische Wortstamm rā ḥā mīm 339-mal im Koran und die „Barmherzigkeit“ stellt die am meisten genannte göttliche Eigenschaft im Koran dar.632 Dennoch kommt das Wortfeld rund um Gottes „Barmherzigkeit“ nicht in den Jona-Perikopen vor, obwohl es ein bedeutsames Motiv der alttestamentlichen Jona-Erzählung ist. Trotz aller inhaltlichen Vielfalt und Komplexität der Suren lassen sich thematische Schwerpunkte erkennen. Bei den meisten mittel- und spätmekkanischen Suren erscheint die Einteilung in thematische Abschnitte sinnvoll, wobei die Erzählungen über (biblische) Gottesgesandte im Zentrum der Suren stehen.633 Der Koran bezieht sich in der mittel- und spätmekkanischen Phase vorwiegend positiv „auf jüdisches und christliches Traditionsgut.“634 Er versteht sich als Bestätigung der „Schrift von Mose“ (46:12.30) und Muhammad gilt als ein weiterer Prophet in einer Reihe der Gottesgesandten (43:6). In den spätmekkanischen Suren gibt es etliche Jenseitsschilderungen und „Erzählungen über vergangene göttliche Strafgerichte sowie Aufzählungen göttlicher Gnadenerweise.“635 Der Blick in Vergangenheit und Zukunft kann eine Reflexion des menschlichen Handelns in der Gegenwart anregen. Die medinensischen Suren umfassen die längsten Verse (bis zu 70 Silben pro Vers) und sind prosaisch. Auffällig sind die häufigen Vokative, wie beispielsweise „O ihr Menschen“ (Suren 4:1.170.174; 2:21.168), „O ihr Kinder Israel“ (2:40.47.122), „O Leute der Schrift“ (3:64.65.70.71.98.99) oder „O ihr Gläubigen“ (22:77; 5:1.2.6.8.11.35).636 Sie untermauern den intensiven „Ansprache- und Predigtcharakter“637 der medinensischen Suren. Neben der Hervorhebung des Korans und des Monotheismus ist bei diesen Suren die Abgrenzung vom Judentum und Christentum zentral.638 Der Koran ist die autoritative Schrift für die eigene Glaubensgemeinschaft bei gleichzeitiger Würdigung von Tora und Evangelium (Sure 5:66–68).639 Der Koran bestätigt die vorangegangenen Schriften, bejaht die gottgewollte Pluralität der Glaubensgemeinschaften und fordert sie auf, um das Gute zu wetteifern (5:48). Im Gegensatz zu der eschatologischen Zukunftsausrichtung 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639

Sinai 2012, S. 87. Sinai 2012, S. 64. Khorchide 2015, S. 40. Sinai 2012, S. 64. Grünschloß 1999, S. 96. Sinai 2012, S. 89. Das „O“ markiert die arabische Vokativpartikel yā in der deutschen Übersetzung. Sinai 2012, S. 96. Sinai 2012, S. 65. Sinai 2012, S. 99–100.

140

3.3 Entstehung, Struktur und Sprache des Korans

der mekkanischen Suren, sprechen die medinensischen Suren in die Gegenwartsdiskurse der Gesellschaft hinein.640 Der Schwerpunkt der nachfolgenden Exegese liegt auf den Korantexten, obwohl die Hadithe (kanonisierte Worte des Propheten Muhammad) sowie die Sunna (normsetzende Praxis des Propheten Muhammad) ebenfalls einen Beitrag leisten können.641 In den Hadith-Sammlungen von al-Buḫārī steht, dass Muhammad über Jona gesagt hat, dass kein Diener Gottes behaupten soll, er sei besser als Jona.642 In den Hadithen kommt zum Ausdruck, dass Muhammad Jona achtete und seine Wertschätzung auf seine Anhängerschaft überging. Das unterstreichen auch die ausführlichen Legendenkränze, die um die Jona-Erzählung ranken.643 Die Frage nach der Gültigkeit der Hadithe beschäftigt die islamische Theologie bis heute.644 Außerdem sind die Hadithe und die Sunna für den innermuslimischen Gebrauch vor allem bezüglich der Rechtsordnungen sowie der normsetzenden Praxis wichtig.645 Die Worte des Korans sind stets übergeordnet zu behandeln und die Hadithe sind eine zweite Grundlage.646 Deshalb erscheint es im Kontext der intertextuellen Lektüre der Jona-Perikopen sinnvoll, den Blick auf die Texte des Korans zu konzentrieren. Die theologischen Hauptthemen des Korans sind der Monotheismus, Gottes Gericht am Jüngsten Tag, Auferstehung der Toten in Gottes Neuschöpfung, Gottes Offenbarung und Rechtleitung durch Zeichen (Engel, Schriften und Gesandte).647 Diese Themen kommen in den Jona-Perikopen vor und eine Betrachtung der einzelnen Perikopen (Abschnitt 3.3–3.8) kann Aufschluss über Entwicklungslinien und einen korantheologischen Gesamtentwurf geben. Die Exegese spezifiziert, welche theologischen Erträge eine wechselseitige Erschließung im Religionsunterricht erzielen kann.

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Neuwirth 2010, S. 562. von Stosch 2010, S. 246; Zirker 2001, S. 4. al-Buḫārī und Sharif 2007, S. 378–380. Die Überlieferungskette (arab. isnād) von al-Buḫārīs (gest. 870) Hadith-Sammlung gilt als glaubwürdig (arab. ṣaḥīḥ) und erfährt als eine der sechs kanonischen Sammlungen besondere Wertschätzung (al-Buḫārī 1991, S. 12; Schimmel 1995, S. 217). Hoheisel 1996, S. 620. Schimmel 1995, S. 219. al-Buḫārī 1991, S. 15. al-Buḫārī 1991, S. 8. Bobzin 2015, S. 58, 66, 69 u. 73; Günther 2016, S. 113; Reeber 2000, S. 46.

3.4.1 Kontext: Gottes Gnade als Verknüpfung von Muhammad und Jona

3.4

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Jona-Rezeption in Sure 68:48–50 48

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Gedulde dich, warte auf das Urteil deines Herrn, und sei nicht so wie der Gefährte des großen Fisches, als er rief, während er notleidend war. Wenn nicht die Gnade seines Herrn ihn ereilt hätte, wahrlich, er wäre auf das kahle Land geworfen worden während er verachtet worden wäre. Doch sein Herr erwählte ihn und machte ihn zu einem der Rechtschaffenen.

Die erste Jona-Perikope im Koran zieht die LeserInnen und HörerInnen mit dem Imperativ „Gedulde dich“ ins Geschehen ein. Der Name „Jona“ kommt zwar nicht vor, dennoch legt die Verwendung des Beinamens „der Gefährte des großen Fisches“ und die kurze Erzählung nahe, dass es sich um eine Jona-Rezeption handelt. Die Perikope ist mit 26 Wörtern in drei Versen kurzgehalten, jedoch ist sie nicht die kürzeste Jona-Perikope im Koran. Die Perikope steht im letzten Abschnitt von Sure 68 „al-qalam“ (Das Schreibrohr I 68:1–16 II 68:17–32 III 68:33–47 IV 68:48–52)648 und ist durch Stichwortvernetzungen im Gesamtkontext der Sure verortet.

3.4.1 Kontext: Gottes Gnade als Verknüpfung von Muhammad und Jona Sure 68 gilt als frühmekkanisch und erklingt im prosaischen Monoreim. Der durchgehende Endreim hebt die Vernetzung der einzelnen Verse hervor. Obwohl es in den frühmekkanischen Suren nur wenige biblische Referenzen gibt, spielt Sure 68 die biblische Rezeption der Jona-Erzählung ein. Im Gegensatz zu den Jona-Perikopen in den chronologisch späteren Suren, in denen neben Jona viele weitere biblische Figuren auftreten, ist Jona in Sure 68 die einzige biblische Figur. Genau wie das Jona-Buch im Kontext der Zwölfprophetenbücher formal (keine Gottesrede, sondern eine Lehrerzählung) und theologisch (Gottes Umkehr und Verschonung Ninives) hervorsticht, ist auch die Jona-Perikope in Sure 68:48–50 herausragend. Ein Prophet verhält sich falsch, dennoch erwählt ihn Gott aus Gnade. Sure 68 behandelt das Thema der Verkündigung des Jüngsten Gerichts und die damit zusammenhängende Paränese für die Gegenwart. Diese beiden Themen 648

Auch nach Sinais Einteilung steht die Jona-Perikope im letzten Abschnitt. Sinai teilt die Sure in drei Abschnitte ein (I 68:1–16 II 68:17–34 III 68:35–52; Sinai 2020).

142

3.4 Jona-Rezeption in Sure 68:48–50

sind typisch für die frühmekkanische Verkündigung.649 Die göttliche Prüfung von „Gottesfürchtigen“ und „Leugnern“,650 Lohn und Strafe im Jenseits und die Schrift als Mahnung stehen im Vordergrund. Muhammads Gegner hinterfragen seine Autorität sowie Integrität und werfen ihm Besessenheit vor (68:2.51). Gott stärkt Muhammad mit der Parabel über die Besitzer des Gartens (68:17–34) und mit der Erzählung über Jona.651 Die Eröffnungsformel, die sogenannte Basmala „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“ (arab. bis'mi l-lahi l-raḥmāni l-raḥīmi), setzt einen theologischen Schwerpunkt und weist auf die herausragende Bedeutung von Gottes Barmherzigkeit hin. Gottes Barmherzigkeit ist von fundamentaler Bedeutung im Koran.652 Die Basmala steht zu Beginn einer jeden Sure (außer Sure 9). Sure 1 unterstreicht durch die Wiederholung „des Erbarmers, des Barmherzigen“ (1:3 arab. al-raḥmāni l-raḥīmi), dass dieser Teil der Basmala besonders wichtig ist. Neben dieser gesamtkanonischen Lektüreperspektive ist Gottes Barmherzigkeit und Gnade auch das zentrale theologische Thema von Sure 68. Das Substantiv „Gnade“ (68:2.49 arab. ni'mat 68:34 arab. na‘īm) kommt dreimal vor und steht als Rahmung am Anfang (68:2) und am Ende (68:49) der Sure. In der Mitte der Sure steht „die Gnade“ als Genitivattribut bei den Gärten. Die Menschen erfahren Gottes Gnade in der Welt (68:2.49) und in den jenseitigen „Gärten der Gnade“ (68:34). Die Sure setzt damit ein, dass Gott Muhammad seine Gnade zusagt (68:2), so wie er Jona seine Gnade gewährte (68:49). Gottes gnadenvolle Zuwendung schafft eine Brücke zwischen Muhammad und Jona. Der Begriff „Gnade“ steht als Wendepunkt von der Not (68:48) hin zur Erwählung Jonas (68:50) im Zentrum der Perikope. Nach der Basmala setzt Sure 68 mit dem Buchstaben Nūn ein. 29-mal eröffnen Buchstaben (arab. muqatta’at „unverbundene Buchstaben“) eine Sure.653 Sie sind integraler Teil des Textes und gelten als mehrdeutig und geheimnisvoll.654 Der arabische Buchstabe Nūn zu Beginn der Sure 68 weist aufgrund seiner bauchigen Form (‫ )ن‬auf ein Tintenfass hin und hebt damit den Aspekt des Schreibens hervor.655 Auf den Buchstaben Nūn folgt „Und beim Schreibrohr und was sie schreiben!“ (68:1). Das „Schreibrohr“ gehört ebenso wie die „wohlverwahrten 649 650

651 652 653 654 655

Sinai 2012, S. 78. Der Begriff „Leugner“ ist die Übersetzung von arab. kāfirūn. In vielen deutschen Koranausgaben steht die Übersetzung „Ungläubige“ (Bobzin, Zirker), doch „Leugner“ (Karimi) ist vorzuziehen, weil es den ursprünglichen Sinn des arab. Wortes kufr „leugnen/verbergen“ angemessen wiedergibt (Lane 1863, S. 2620). Es handelt sich nicht um eine dogmatische Zuschreibung von Glauben und Unglauben, sondern um eine innere Ablehnung bzw. Leugnung von Gott und seinen Zeichen in der Welt, die auch gläubige Menschen einnehmen können (Khorchide 2015, S. 102–105). Koloska 2016, S. 86. Khorchide 2018, S. 151. Asad 2013, S. 1207. Asad 2013, S. 1207; Nasr et al. 2015, S. 13; Leimgruber und Wimmer 2005, S. 58. Nasr et al. 2015, S. 1401.

3.4.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3

143

Tafeln“ (85:22; 7:145) zu den himmlischen Schreibrequisiten. Beide illustrieren die „Neuorientierung der Gemeinde hin zu einem schriftgetragenen, biblischen Selbstverständnis.“656 Die Verschriftlichung ermöglicht das Studium (68:37). Der Buchstabe Nūn verweist auf Gottes Offenbarung, die sich auch als schriftliche Offenbarung an die Menschen richtet.657 Neben dieser Deutung kann der Buchstabe Nūn auch an die Namen Gottes als „der Barmherzige“ (arab. raḥmān), „das Licht“ (arab. nūr) und „der Helfer“ (arab. naṣīr) erinnern.658 Außerdem scheint der Buchstabe Nūn auf Jona als den Mann mit dem „Fisch“ (arab. nūn) vorauszuweisen. Zwar steht in 68:48 ṣāḥib l-ḥūti und nicht wie in 21:87 ḏū l-nūni, dennoch ist die Deutung geläufig aufgrund der synonymen Verwendung der beiden arabischen Begriffe ḥūti und nūn.659 Dass der Name Jona in Sure 68 nicht explizit vorkommt, sondern der Beiname ṣāḥib l-ḥūti, ist typisch für den Koran. Statt der (biblischen) Namen sind oftmals charakteristische Beinamen der Figuren vorzufinden, die in Kombination mit den kurzen Erzählsträngen ausreichend Wiedererkennungswert haben.660

3.4.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3: „Jona“ als Gesandter Gottes und der „große Fisch“ Der Beiname „der Gefährte des großen Fisches“ stellt die einschlägigste intertextuelle Anknüpfung von Sure 68 an die biblische Jona-Erzählung dar. Sogar ohne die Anführung des Namens „Jona“ hat die Perikope aufgrund des „großen Fisches“ einen hohen Wiedererkennungswert. Sowohl Jona 2,1.2–11 als auch Mt 12,40 klingen an, weil in beiden Jona-Perikopen „der große Fisch“ ein Kernelement darstellt. Sure 68:49 konzentriert sich auf den „großen Fisch“: Hier fehlt der Name „Jona“ sowie der Aspekt, dass er sich für drei Tage und drei Nächte im Fisch aufhält. Das Substantiv „großer Fisch“ reicht aus, um auf die Jona-Erzählung zu verweisen. Insgesamt ist die Jona-Perikope in Sure 68:48–50 schemenhaft. Sie spielt nur wenige alttestamentliche Motive ein. Obwohl Sure 68 die neutestamentlichen Jona-Perikopen thematisch nicht aufgreift (die Zeichenforderung, Ninives Umkehr und die Parallele zur Königin des Südens kommen nicht vor), ähneln sich die Jona-Perikopen in Mt 12,38–42 und Sure 68:48–50 in Hinblick auf ihre Funktion. In Mt 12 ist Jona keine Identifikationsfigur für LeserInnen, stattdessen weist Jonas begrenzter Aufenthalt im Fisch auf Christi Auferstehung voraus. In Sure 68 dient die Jona-Perikope dazu, die Situation Muham-

656 657 658 659 660

Neuwirth 2010, S. 174. Asad 2013, S. 1208; Nasr et al. 2015, S. 13. Nasr et al. 2015, S. 1401. Johns 2003, S. 53; Nasr et al. 2015, S. 1401; Sinai 2020. Horovitz 1926, S. 78; Kadi und Mir 2003, S. 211; Koloska 2016, S. 86.

144

3.4 Jona-Rezeption in Sure 68:48–50

mads in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu setzen. Muhammad und Jesus erfahren Widerstand von ihren Gegnern. Während religiöse Gruppierungen Jesus mit ihrer Zeichenforderung testen wollen, bezweifeln die Gegner Muhammads seine Autorität und Legitimität und werfen ihm Besessenheit vor (Sure 68:2.51). Die Funktion im Neuen Testament und im Koran ist ähnlich, doch die Jona-Rezeptionen haben unterschiedliche theologische Deutungsansätze: In Mt 12,40 weist Jonas Aufenthalt im Fisch auf die Auferstehung voraus, in Sure 68 hilft der Rückverweis auf die Jona-Erzählung Muhammad, seine gegenwärtigen Erfahrungen zu deuten. Die Wahrnehmung des Fisches als Ort der Not und Gotteszuwendung kommt sowohl in Jona 2 als auch in Sure 68 zum Ausdruck. Genau wie in Jona 2 ist es Gott, der Jona in Sure 68 aus der Not rettet. In Sure 68 erscheint der Aspekt von Gottes Gnade in Bezug auf Jonas (nicht Ninives!) Rettung wichtiger als in der biblischen Jona-Erzählung. Der Begriff „Gnade“ (arab. ni'mat) steht im Zentrum der Jona-Perikope in Sure 68 und ist der Wendepunkt von der Not (68:48) hin zur Erwählung Jonas (68:50). Die Sure setzt damit ein, dass Gott Muhammad seine Gnade zusagt (68:2), wie er auch Jona seine Gnade gewährte (68:49). Gottes gnadenvolle Zuwendung schafft eine Brücke zwischen Muhammad und Jona. Auch in der alttestamentlichen Jona-Erzählung ist Gottes Gnade das theologische Moment (Jona 4,2). Jona beschwert sich, dass Gott sich gegenüber Ninive als gnädig erweist (Jona 4,2). Die sogenannte Gnadenformel in Jona 4,2, hat vielfache intertextuelle Anknüpfungen im Alten Testament. Der erste Beleg im biblischen Kanon ist in Ex 34,6 zu finden und gilt als die Referenzstelle.661 Ex 34,6 ist eine Selbstaussage Gottes und der Begriff „barmherzig“ (hebr. rachum) leitet die Gnadenformel ein. In Jona 4,2 redet Jona über Gott und setzt das Wort „gnädig“ (hebr. channun) an den Anfang. In Sure 68:49 trifft Gott eine Aussage über sich selbst in der dritten Person (vgl. Ex 34,6). Gott charakterisiert sich als „gnädig“ (arab. ni'mat). Ebenso wie beim Wort „Erbarmen“ (arab. raḥīm) handelt es sich um einen relationalen Begriff, weil Gottes Gnade sich in seiner Liebe und Zuwendung zu den Menschen äußert. Dahingegen ist die „Barmherzigkeit“ (arab. raḥmān) eine absolute und bedingungslose Gotteseigenschaft.662 Gottes Gnade ist Reaktion auf menschliches Handeln, fordert die Menschen aber auch heraus, zu antworten. Sie zeugt von Gottes Schuldvergebung (48:2). Gott führt die Menschen aus Gnade auf dem rechten Weg (49:7–8; 48:2) und reagiert gnadenvoll auf menschliche Notrufe (39:8.49; 16:53). Auch Jona ist in Not und ruft zu Gott. Der Psalm im Inneren des Fisches (Jona 2) ist in Sure 68:48 in größtmöglicher Kürze zusammengefasst. 68:48 stellt drei Aspekte heraus: Jona wendet sich in seiner Not (1) Gott rufend zu (2) und erfährt seine Gnade (3). Gottes Gnade ist Zeichen des Bundes und der Erwählung (14:65; 12:6; 5:20.110; 2:40.47.122). Das Verb „erwählt“ (arab. ij'tabā) kommt im Koran nur 661 662

Zernecke 2015. Khorchide 2015, S. 37–38.

3.4.3 Akzentverschiebung

145

zehnmal vor, neben Jona erwählt Gott Joseph (12:6), Abraham (16:121), Adam (20:122), die Stämme von Ismael, Elischa, Jona und Lot (6:87), allgemein die Gesandten (3:179), Propheten (19:58), Gläubige (22:78) und „wen Er will“ (42:13). Die Erwählung ist Zeichen einer Gottesbeziehung und ist nicht auf Propheten beschränkt. In der alttestamentlichen Erzählung erwählt Gott Jona direkt zu Beginn vor seiner Rettung aus dem Fisch.663 In Sure 68 erwählt Gott Jona nach seiner Rettung aus dem Fisch und zwar aus Gnade. Gottes Gnade markiert Jonas Weg aus der Not hin zur Erwählung.

3.4.3 Akzentverschiebung: Von der Jona-Erzählung zur heilsgeschichtlichen Verortung Muhammads Es fällt auf, dass sich Sure 68 fast ausschließlich auf den poetischen Teil des JonaBuches bezieht. Die prosaischen Erzählteile (Jona 1; 3–4) spielen keine Rolle. Die Sure lässt offen, warum Jona zornig ist und erwähnt seine Flucht nicht. Der Bezug zur Figur „Jona“ und dessen Handlungen ist kurzgehalten, weil Muhammads und nicht Jonas Not im Mittelpunkt steht. Das (allgemeine) Gefühl der Bedrängnis und Not ist entscheidendes Moment in Sure 68 und nicht Jonas Taten oder seine Worte im Fisch. Ninives umfassende und vorbildliche Umkehr, die in Jona 3, Mt 12,41 und Lk 11,32 herausragendes Moment ist, kommt in Sure 68 nicht vor. Der Schwerpunkt in Sure 68 liegt auf Muhammad und nicht auf dem Volk als kollektive Größe, wie beispielsweise bei den Straflegenden im Koran.664 Muhammad hadert mit menschlichen Widerständen. Seine Gegner werfen ihm vor, besessen zu sein (68:2.51) und leugnen Gottes Mahnung (68:15.44.51). Sie prüfen Muhammad (68:6) und wollen ihn von seinem Weg abbringen, indem sie Hetze, Verleumdung und Gesetzesbruch betreiben (68:10–12). Muhammads Zeitgenossen verhalten sich frevelhaft. Das stellt eine Prüfung für Muhammad dar und steht anstelle der kollektiven Umkehr im Vordergrund. In der Bibel verhält sich Jona ambivalent und sprunghaft. Nachdem Gott Jona beauftragt, nach Ninive zu gehen (Jona 1,2), flieht Jona vor Gott bis hin zu einem Ort der absoluten Gottesferne (Jona 2,3). Da wendet sich Jona Gott betend, rufend und lobpreisend zu (Jona 2,2.3.10) und befolgt Gottes Auftrag, indem er sein Wort in Ninive verkündet (Jona 3,4). Jona scheint sich entwickelt zu haben, doch auf Gottes Umkehr und Ninives Verschonung folgt Jonas Missgunst und Zorn (Jona 4,1). Jonas Emotionen schwanken hin und her, von seinem Wunsch zu sterben (Jona 4,3), über große Freude (Jona 4,6), zurück zur Todessehnsucht 663

664

Der Begriff „erwählen“ steht zwar nicht in der alttestamentlichen Jona-Erzählung, doch die Wortereignisformel in Jona 1,1 zeigt an, dass Gott Jona als seinen Propheten erwählt hat. Mehr zu den Straflegenden in Abschnitt 3.5.4.

146

3.4 Jona-Rezeption in Sure 68:48–50

(Jona 4,8). Der Text endet mit einer Frage Gottes und lässt offen, wie Jona sich fühlt und was er denkt. Im Gegensatz dazu ist in Sure 68 eine eindeutige Entwicklung erkennbar: Von einem ungeduldigen Notbedürftigen (68:48) hin zu Gottes erwähltem Rechtschaffenen (68:50). Insgesamt ist die Jona-Perikope in Sure 68:48–50 kurz und bündig. Gott und Muhammad sind die Hauptaktanten und Jona eine Nebenfigur, die als Negativbeispiel dient. Der Begriff „Herr“ (arab. rabb) kommt dreimal in der Jona-Perikope vor und sticht in der Rezitation als Endsilbe zu Beginn aller drei Verse (68:48.49.50) hervor. Der Imperativ direkt zu Anfang von 68:48 betont die Kommunikationssituation mit Muhammad. Gottes Rede zu Muhammad und der Gemeinde steht im Zentrum des Korans, während die Prophetenerzählungen dahinter „zu typologischen Präzedenzen“665 verblassen. Genau wie die biblische Typologie des Neuen Testaments, schafft die Typologie im Koran ein relationales Verhältnis zwischen zwei Figuren. Die zunächst voneinander eigenständigen Figuren Jona und Muhammad stehen dadurch in einem wechselseitigen Interpretationsverhältnis. Während die Jona-Rezeptionen im Matthäus- und Lukasevangelium dazu dienen, Jesu Lehre und Wirken zu deuten und auf seine Auferstehung (Mt 12,40) und das endzeitliche Gericht (Mt 12,41; Lk 11,32) vorauszuweisen, trägt die Jona-Rezeption im Koran zur Deutung von Muhammads Rolle und Selbstbild bei.

3.4.4 Novum: Jonas Ungeduld als Negativbeispiel Trotz der Kürze der Jona-Perikope fügt Sure 68 eigene Akzente hinzu. Auffällig ist das Motiv der Ungeduld. Es kommt in keiner biblischen Jona-Perikope explizit vor. In Sure 68 setzt die Jona-Perikope mit den Worten „Gedulde dich, warte auf das Urteil deines Herrn“ (68:48) ein. Der Imperativ „Gedulde dich“, gilt zuvorderst Muhammad. Darüber hinaus spricht Gott auch alle HörerInnen und LeserInnen an. Es ist eine Mahnung Gottes, nicht so ungeduldig wie Jona zu sein. Die „Geduld“ (arab. ṣabr) ist eine grundlegende Tugend, die Gott im Koran fordert. Die Wurzel kommt 103-mal in verschiedenen Formen (als Verb „sich gedulden“, Adjektiv „geduldig“, Substantiv „Geduld“ und Partizip „die Geduldigen“) im Koran vor. In den Jona-Perikopen taucht der Begriff „Geduld“ nicht noch einmal auf, aber in 21:85 im direkten Kontext: Ismael, Idrīs und Ḏū l-Kifl666 gelten allesamt als geduldig in den Augen Gottes (21:85) und stehen in der Prophetenliste 665 666

Neuwirth 2010, S. 168. Idrīs Identität ist nicht endgültig geklärt. Einige islamische Gelehrte gehen davon aus, dass es sich um Henoch (Kains Sohn Gen 4,17 oder Jereds Sohn Gen 5,18–24) handelt, andere vermuten, dass es sich um Andreas aus dem Alexanderroman handelt (Bobzin 2010, S. 791). Auch Ḏū l-Kifl ist schwer zu deuten. Die etymologische Bedeutung von Ḏū l-Kifl ist entweder „Zusage/Garantie“ oder „Doppelt“. ExegetInnen haben ihn deshalb mit den biblischen Figuren Obadja (1 Kön 18), Elija oder Elischa (2 Kön 2) identifiziert (Bellamy 1996,

3.4.4 Novum: Jonas Ungeduld als Negativbeispiel

147

direkt vor Jona. Wie in 68:48 steht der Imperativ „Gedulde dich“ häufig als Aufforderung Gottes an Muhammad (30:60), aber auch die „Schriftbesitzer“ gelten als geduldig (28:52–54). Geduld stiftet Gemeinschaft zwischen Gläubigen und Gott (16:42; 8:46; 2:153) und Gott belohnt die Geduld der Gläubigen nach ihrem Tod (28:54.80; 16:41). In 68:48 fordert Gott von Muhammad, sich auf Gottes Urteil zu gedulden. Bei arab. ḥuk'm handelt es sich um ein Urteil über Gläubige und Leugner nach dem Tod (68:33–39). In Sure 68 heißt es, dass Jona verachtet worden wäre, wenn Gott seine Gnade nicht erwiesen hätte. Der Begriff „verachtet“ (arab. madhmūm) kommt nur selten im Koran vor. Der Aspekt von Gottes Gnade und der Mahnung zum Monotheismus ist zentral (17:18–22). Der arabische Begriff madhmūm reimt sich auf majnūn (68:2.51) und parallelisiert, dass Jona nicht verachtet ist, so wie Muhammad „nicht besessen“ ist.667 Der Reim schafft eine weitere Verknüpfung von Jona und Muhammad. Gott ist gnädig und erwählt Jona in Sure 68:49, obwohl er ungeduldig war. Der Grund für Jonas Ungeduld scheint unwichtig zu sein, der ungeduldige Jona dient lediglich als Negativbeispiel für Muhammad.668 Der Appell an Muhammad geduldig zu sein, ist zugleich ein Zuspruch, dass Gott Muhammad gnädig ist. Wenn Gott selbst dem ungeduldigen Jona gegenüber gnädig war, dann hat Muhammad, wenn er geduldig ist, erst recht eine Chance auf Gottes Gnade und Zuwendung. Jonas Beispiel spendet Muhammad Trost und Beistand. Jona dient Muhammad und seiner Gemeinde als Gegenbeispiel, weil er nicht geduldig war: „sei nicht so wie der Gefährte des großen Fisches.“ (Sure 68:48) Es fällt auf, dass Sure 68 als chronologisch erste Jona-Rezeption des Korans, anstelle des Namens „Jona“, den Beinamen „Gefährte des großen Fisches“ verwendet. Die Genitivkonstruktion „Gefährte des großen Fisches“ unterstreicht die enge Assoziation der Jona-Figur mit dem Fisch. Der Fisch ist in Sure 68 positiv konnotiert und essenzielles Motiv der inneren Zuwendung zu Gott. Mit dem Begriff „Gefährte“ (arab. ṣāḥib) spricht Gott ansonsten Muhammad (81:22; 53:2; 34:46; 7:184) an. Außerdem besteht eine phonetische Brücke zum letzten Begriff der Perikope „Rechtschaffenen“ (arab. ṣāliḥ). Damit steht Jona mit „Abraham“ (29:27), „Isaak“ (37:112), „Ismael, Idrīs und Ḏū l-Kifl“ (21:85) und „Zacharias, Johannes, Jesus und Elija“ (6:85) in einer Reihe „Rechtschaffener“. Aber auch „Sklaven und Sklavinnen“ (24:32) und diejenigen, „die glauben und gute Werke tun“ (29:9) sind Rechtschaffene. Der Begriff „Rechtschaffener“ ist keine Amtsbezeichnung herausragender Einzelpersönlichkeiten, die der Koran beispielsweise nur für Propheten und Gesandte verwendet. Es ist ein Ehrentitel für Gläubige, die mit Gott verbunden sind und gute Werke leisten. Gott belohnt die guten

667 668

S. 199). Bellamy, Bobzin und Horovitz wollen sich auf keine dieser Deutungsmöglichkeiten festlegen (Bellamy 1996, S. 199; Bobzin 2010, S. 788; Horovitz 1926, S. 113). Johns 2003, S. 53. Nasr et al. 2015, S. 1400; Johns 2003, S. 54.

148

3.4 Jona-Rezeption in Sure 68:48–50

Werke der Rechtschaffenen mit ewigem Aufenthalt in den paradiesischen Gärten (29:27; 4:122). Die Begriffe „Gefährte“ und „Rechtschaffener“ unterstreichen die Verknüpfung von Muhammad und Jona. In den neutestamentlichen Jona-Perikopen gilt Jona als vorbildlicher und makelloser Prophet (Mt 12,40–41; Lk 11,32). Hingegen ist Jona in Sure 68 kein mustergültiges Vorbild, dem Muhammad und mit ihm alle Gläubigen nacheifern sollen, sondern ganz im Gegenteil ein Negativbeispiel zum geforderten „Geduldigen“. Jona ist der einzige Gottesbote im Koran, an dem Gott so offenkundig Kritik übt.669 Jonas Negativbeispiel zeigt, dass Gottes Gnade letztendlich über das menschliche Verhalten und Verständnis hinausreicht. Gott erwählt, „wen Er will“ (42:13). Das Wort „Umkehr“, das alle biblischen Jona-Perikopen prägt, kommt in Sure 68 zwar nicht vor, doch Jonas Ruf zu Gott leitet seine Entwicklung und Zuwendung zu Gott und seine Erwählung ein. Wenn von Umkehr die Rede sein kann, dann bezieht sie sich auf Jona und nicht auf das Volk Ninive (Jona 3, Mt 12,41; Lk 11,32).

3.4.5 Elementare Strukturen von Sure 68: Gnädiger Gott rettet aus der Not –









669

Die Jona-Rezeption in Sure 68:48–50 knüpft nur an wenige alttestamentliche Motive an, wobei Jona 2 und der „große Fisch“ im Mittelpunkt der intertextuellen Anknüpfungen stehen. Der Psalm im Inneren des Fisches (Jona 2) ist in Sure 68:48 in größtmöglicher Kürze zusammengefasst und hebt zwei Aspekte hervor: Jona wendet sich in seiner Not Gott rufend zu und erfährt Gottes Gnade. Die Gnade Gottes ist das theologische Moment der Sure, vergleichbar mit der Einspielung der Gnadenformel in Jona 4,2. Jedoch gewährt Gott im alttestamentlichen Jona-Buch Ninive Gnade, während in Sure 68 Jona Gottes Gnade erfährt. Gottes Gnade markiert als Mittel- und Wendepunkt der Perikope Jonas Entwicklung vom notleidenden Rufer (68:48) hin zu Gottes erwähltem Rechtschaffenen (68:50). Die Kommunikation von Gott mit Muhammad und seiner Gemeinde steht im Vordergrund. Das Beispiel Jonas trägt zur Verortung Muhammads in einem heilsgeschichtlichen Kontext bei. Jona dient als Gegenbeispiel: Muhammad soll nicht so ungeduldig wie Jona sein. Darüber hinaus spendet sein Beispiel Trost. Obwohl Jona ungeduldig war, erwählt Gott ihn aus reiner Gnade.

Horovitz 1926, S. 32.

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

3.5

149

Jona-Rezeption in Sure 37:139–148 139 Und gewiss, Jona ist wahrlich einer der Gesandten. 140 Als er floh zum beladenen Schiff, 141 da zog er Lose, da war er einer der Verstoßenen. 142 Da verschlang ihn der große Fisch, während er sich selbst tadelte. 143 Und wenn er nicht einer der Lobpreisenden gewesen wäre, 144 wahrlich, er wäre geblieben in seinem Bauch bis zu dem Tag, an dem sie auferweckt werden. 145 Da warfen Wir ihn auf das kahle Land, während er schwach war. 146 Und Wir ließen über ihn einen Kürbisbaum sprießen. 147 Und Wir sandten ihn zu 100.000 oder mehr. 148 Da glaubten sie, da gestatteten Wir ihnen Lebensgenuss für eine Weile.

Die Jona-Perikope in Sure 37 „al-ṣāffāt“ (Die in Reihen Schreitenden) ist mit zehn Versen und 47 Wörtern eindeutig am längsten. Der Name „Jona“ kommt hier chronologisch zum ersten Mal vor und steht direkt zu Beginn der Perikope. Auch der Fisch als Erkennungsmerkmal Jonas taucht erneut auf. Die Verse sind kurz und viele Motive der alttestamentlichen Jona-Erzählung folgen dicht aufeinander. Sure 37 gilt als die zweite Offenbarung Gottes in der mittelmekkanischen Periode. Typisch für die mittelmekkanischen Suren sind ausgefeilte und ausführliche Erzählepisoden, weshalb sie auch „als das eigentliche Herzstück der koranischen Botschaft gelten.“670 Insgesamt umfasst die Sure 182 Verse. Im Mittelteil befinden sich sechs Prophetenerzählungen über acht biblische Figuren (Noah, Abraham und Isaak, Mose und Aaron, Elija, Lot, Jona). Wie die meisten mittelmekkanischen Suren hat Sure 37 einen dreiteiligen Aufbau (I 37:1–74 II 37:75–148 III 37:149–182).671 Die Prophetenerzählungen stehen im Zentrum der Sure. Die Jona-Perikope schließt die Prophetenerzählungen von Sure 37 ab.

670 671

Neuwirth 2020e. Neuwirth 2020d; Sinai 2012, S. 64.

150

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

3.5.1 Kontext: Jonas und Muhammads Lobpreis als Beispiel für die Gläubigen Sure 37 beginnt mit einer Schwurserie. Schwüre sind typisch für die mittel- und spätmekkanischen Suren.672 Sie kommen häufig zu Beginn einer Sure vor: Gott schwört bei seiner Schöpfung (Suren 92, 91, 89, 86, 85), bei sich selbst (Sure 92), bei der Schrift/dem Koran als Mahnung (Suren 52, 50, 44, 43, 38 36), bei den Gesandten (Sure 77), bei der Auferstehung (Sure 75) und bei heiligen Orten (Suren 95, 90). Die Schwüre in Sure 37 gelten den beim Jüngsten Gericht anwesenden Engeln (vgl. Sure 79). Das legt die Sure aber erst gegen Ende (37:149–166) offen.673 Leerstellen, Vernetzungen und Rückbezüge erzeugen einen anhaltenden Spannungsbogen bis zum Ende der Sure.674 Am Anfang der Sure stehen Diskurse über Gott als den Einzigen und über das endzeitliche Gerichtsgeschehen. Sure 37 ist von Kontrasten geprägt: Engel vs. satanische Geister und die Dschinn, Muhammad vs. seine Gegner, die Gesandten und Gläubigen vs. Leugner, die Hölle als Strafe vs. Gärten als jenseitiger Lohn. Anders als in Sure 68 prüfen nicht die Gegner Muhammad: Gott fordert ihn auf, die Leugner zu prüfen. Gottes Sendung der Gesandten ist ein Hauptthema der Sure. Die arabische Wurzel rā sīn lām kommt achtmal vor, zweimal als Verb „senden“ (arab. arsala 37:72.147) und sechsmal als Partizip Passiv „Gesandter“ (arab. mur'sal 37:37.123.133.139.171.181). Beide Formen kommen auch in der Jona-Perikope vor. Jona ist genau wie Elija und Lot von Gott gesandt. Muhammad reiht sich ihnen als „Gesandter“ (arab. mur'sal 37:181) ein, indem er die früheren „Gesandten“ bestätigt (37:37). Diese Sure gliedert Muhammad in die Reihe der Gesandten Gottes ein, sodass „er also selbst in einer spirituellen Genealogie, der Gesandtenkette, steht.“675 Der Glaube an Gott spielt eine wichtige Rolle in Sure 37. Das Partizip „Gläubige“ kommt fünfmal (arab. mu'min 37:29.81.111.122.132) vor und das Verb „glauben“ einmal (arab. āmana 37:148). Neben den Gesandten (Noah, Abraham, Mose und Aaron) sind auch die „100.000 oder mehr“ gläubig, zu denen Gott Jona sendet. Der Begriff der (gläubigen) „Knechte Gottes“ (arab. ‘abd) kommt in dieser Sure chronologisch zum ersten Mal und mit zehn Vorkommnissen überdurchschnittlich häufig vor. Sowohl die biblischen Figuren als auch Muhammad und seine Zeitgenossen sind damit gemeint. Das ist Ausdruck davon, dass sich Muhammad und die „Gemeinde als zum biblischen Gottesvolk gehörig [wahrnehmen].“676 Das Verb „anbeten“ (arab. ‘abada) teilt eine Wurzel mit (arab. ‘abd) 672 673 674 675 676

Sinai 2012, S. 64. Nasr et al. 2015, S. 1084; Sinai 2012, S. 59. Sinai 2012, S. 57. Neuwirth 2020d. Neuwirth 2020d.

3.5.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3

151

und steht dreimal in Sure 37. An allen drei Stellen handelt es sich um die Anbetung von Götzen (37:85.95.161). Die Knechte Gottes beten im Gegensatz zu den Götzendienern nur Gott allein an. Wie in den meisten Suren ab der mittelmekkanischen Zeit ist die Mahnung zum Monotheismus auch in Sure 37 ein Hauptthema (37:4–5.35.86). In Diskursen über Menschen, die beigesellen, kommt der Appell zum Lobpreis Gottes häufig vor (10:18; 6:100; 4:171), so auch in Sure 37. Der Lobpreis Gottes ist ein wichtiges Element der Sure und verknüpft alle Gläubigen mit Jona und den Engeln. Nicht nur der Begriff „Lobpreis“, sondern auch die vielfachen „Zitatsplitter aus dem Gemeindegebet, der fātiḥa“ (37:18.19.69.71.87.182) unterstreichen die Bedeutung von Lobgesang und Gebet als Formen der Gotteszuwendung und fordern LeserInnen und HörerInnen implizit dazu auf, ins Gebet und in den Lobgesang einzusteigen und die fātiḥa zu rezitieren.677

3.5.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3: „Jona“ als Gesandter Gottes und sein Lobpreis im Fisch Die Jona-Perikope in Sure 37 weist von allen Suren die vielfältigsten intertextuellen Verknüpfungen zur alttestamentlichen Jona-Erzählung auf. Direkt im ersten Vers steht der Name „Jona“ und der Ehrentitel „Gesandter“. Beides kommt in Sure 68 nicht vor. Die Charakterisierung Jonas als einer der Gesandten Gottes weckt Erwartungen bei den HörerInnen und LeserInnen: Jona ähnelt als Gesandter Gottes den anderen Gesandten, insbesondere Noah, Abraham, Isaak, Mose, Aaron, Elija und Lot, die Jona in Sure 37 vorangehen. Die Zentralität der Gesandten Gottes und das damit verbundene Prophetenamt entwickeln sich in der Zeit der Offenbarung der mittelmekkanischen Suren zum herausragenden Element der koranischen Botschaft.678 Genau wie in der alttestamentlichen Jona-Erzählung folgt auf Jonas Charakterisierung als Prophet das überraschende Moment der Flucht (Jona 1,3; 37:140). Dadurch sprengen sowohl die biblische als auch die koranische Jona-Erzählung die Erwartungen an einen Gesandten Gottes. Sure 37 setzt mit der Nennung des Namens „Jona“ ein. Die Verwendung von Namen nimmt im Laufe von Gottes Offenbarung des Korans zu. Grund dafür ist nach Horovitz, dass der Koran sich einem Predigtstil annähert und mit den Erzählungen von bereits bekannten (biblischen) Figuren Muhammad und seine Gemeinde belehrt.679 Namen haben einen hohen Wiedererkennungswert und regen eine intertextuelle Lektüre an (Interfiguralität).680 Bei Jona im Koran handelt

677 678 679 680

Neuwirth 2020d. Griffith 2013, S. 62–64; Neuwirth 2020e. Horovitz 1926, S. 79. Müller 1991, S. 103. Mehr zu Interfiguralität in Abschnitt 2.1.2.1.

152

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

es sich um eine Neuerzählung in einem anderen Kontext und nicht um ein bloßes Duplikat der biblischen Jona-Figur. Der Name „Jona“ regt an, die Texte des Korans im Spiegel der biblischen Jona-Erzählung zu lesen und schreibt gleichzeitig die Jona-Erzählung fort, indem der Koran die Jona-Erzählung selektiv aufgreift und mit neuen Aspekten anreichert. Neben dem Namen „Jona“ taucht auch der „Fisch“ (37:142) wieder auf. Im Gegensatz zu anderen Tieren kommt der Fisch selten im Koran vor und ist vorrangig mit Jona assoziiert.681 Der Begriff „Fisch“ (arab. ḥūt) steht im Koran viermal als determiniertes Substantiv im Singular: zweimal in den Jona-Perikopen (68:48; 37:142) und zweimal in der Mose-Episode (18:61.63). Mose ist mit seinem Diener auf der Suche nach dem Ort, „wo sich die beiden Ströme treffen“ (18:60). Dort „vergessen sie ihren Fisch“ (18:61) und der Fisch nimmt „seinen Weg ins Meer auf wundersame Weise.“ (18:63) Die Mose-Erzählung stellt ein rätselhaftes Wunderereignis dar.682 In der Bibel ist der Fisch nicht mit Mose assoziiert und ein vergleichbares Gegenstück zur koranischen Fischepisode lässt sich in der Bibel nicht finden.683 Obwohl der Begriff „Fisch“ in der Bibel häufiger vorkommt,684 ist der „große Fisch“ in der Bibel ebenfalls stark mit der Jona-Erzählung verknüpft, wie auch in der neutestamentlichen Rezeption in Mt 12,40 zu erkennen ist. In Sure 37 nimmt der Fisch einen breiten Raum an. Jona hält sich in „seinem Bauch“ (37:143) auf und lobpreist Gott im Fisch. Er ist Zeichen von Gottes Macht.685 Der Lobpreis im Fisch ist in Sure 37, wie in Jona 2, eine Schlüsselszene, denn ohne Jonas Lobpreis „wahrlich, er wäre geblieben in seinem Bauch bis zu dem Tag, an dem sie auferweckt werden.“ (37:144) Jonas Lobpreis ist ein wichtiges Element der Sure. Der Begriff „Lobpreis“ kommt viermal in Sure 37 vor (37:143.159.166.180). In der Jona-Perikope steht er zum ersten Mal. Darauf folgen zwei Appelle „Lobpreis sei Gott“ (37:159.180) und die Aussage der Engel: „wir sind es, die lobpreisen.“ (37:166) Wie auch in anderen Suren, sind es die himmlischen Heerscharen, die Engel, die Gott lobpreisen (39:75; 21:26; 13:13; 2:30). Außerdem schließt die Sure mit einem Zitat der fātiḥa „Lobpreis sei Gott, dem Herrn der Weltbewohner!“ (arab. ḥamdu lillahi rabbi l‘ālamīna 37:182) ab und ruft zum Einstimmen in den Lobpreis auf. Dieser Vers ist eine Schlussklausel, die ein metatextuelles Element mit katechetischer Funktion

681 682 683

684

685

Eisenstein 2001, S. 94–95. Nasr et al. 2015, S. 750. Nasr et al. 2015, S. 748.

Es gibt sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen mehrere Begriffe für „Fisch“. Im Jona-Buch stehen in der masoretischen Fassung hebr. dāg/dāgāh, in der LXX steht griech. kētous. Dieser Begriff steht ebenfalls in Mt 12,40 im Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland). Der Begriff hebr. dāg kommt 19-mal im Alten Testament vor, hebr. dāgāh 15-mal. In der LXX steht griech. kētous zwölfmal und im Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland) einmal. Eisenstein 2001, S. 99.

3.5.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 1–3

153

darstellt.686 Die Schlussklausel kommentiert die Sure und erinnert daran, dass die Sure Offenbarung Gottes ist. Sie stuft das Gesagte als gültigen Konsens ein und bietet der Gemeinde eine einprägsame Kurzformel.687 Die Schlussfolgerung der Jona-Perikope und der gesamten Sure ist, Gott zu loben und zu preisen. Der biblisch geprägte Lobpreis steht im Mittelpunkt der koranischen JonaPerikope und stellt den Wendepunkt in Jonas Entwicklung und Hinwendung zu Gott im Koran dar. Jonas Rettung basiert auf seiner Initiative. Jonas Lobpreis ist der Grund dafür, dass er nicht im Bauch des Fisches bleibt. Der Begriff „Bauch“ ist ambivalent im Koran. Der Bauch ist einerseits Schöpfungsbereich Gottes, denn Gott erschafft und segnet im Mutterleib (53:32, 39:6, 16:78, 3:35). Andererseits ist der „Bauch“ auch Ort der Strafe für Leugner, an dem Gott Feuer entfacht (22:20; 4:10; 2:174) und Öl kocht (44:45). In 37:11 heißt es: „wahrlich, er wäre geblieben in seinem Bauch bis zu dem Tag, an dem sie auferweckt werden.“ Der Aufenthalt erscheint von Anfang an begrenzt zu sein, doch da Jona Gott lobpreist, verkürzt er seine Zeit im Fisch. Das Verb „bleiben“ (arab. labitha) bezieht sich auf einen begrenzten Aufenthalt: Einerseits „auf der Erde“ (23:112), wie zum Beispiel Joseph im Kerker (12:42), Mose bei den Midianitern (20:40) und beim Pharao (26:18) oder andererseits auf die Zeit im Grab vor dem Tag der Auferstehung, die den Menschen kurz vorkommt (30:55; 20:103.104; 46:35; 79:46; 17:52). Die Begrenzung „bis zu dem Tag, an dem sie auferweckt werden“ (37:144) symbolisiert die Grabesruhe im Koran (vgl. Mt 12,40). Die Wendung „bis zu dem Tag, an dem sie auferweckt werden“ kommt sechsmal im Koran vor und ist ansonsten auf Iblīs688 (38:79; 15:36; 7:14) und Leugner (23:100; 7:167) bezogen. In Sure 23:100 steht das arabische Wort barzakh „Scheidewand“. Der barzakh gilt als ein Zustand zwischen Tod und Auferstehung.689 Der Koran sagt nur wenig über den barzakh bzw. die Zeit zwischen Tod und Auferstehung aus.690 Es ist eine Zeit im Grab zwischen den beiden Trompetenstößen Gottes (39:68). Erst beim zweiten Trompetenstoß findet die Auferstehung aller Toten statt.691 Jonas Aufenthalt im Bauch verläuft auf der Grenze zwischen Gottes Strafe und Schöpfung im Kontext der Auferweckung. Sure 37:144 spielt eine endzeitliche Perspektive ein, die vergleichbar mit den Mahnungen Jesu in den neutestamentlichen Jona-Perikopen ist. Jonas begrenzter Aufenthalt im Fisch ist in Mt 12,40 mit Christi Verweilen im Schoß der Erde parallelisiert. In Sure 37 ist Jonas Aufenthalt ebenfalls mit der Auferweckung assoziiert: Jedoch mit der Grabesruhe und Auferweckung aller Toten („sie“) und nicht mit der Auferstehung Jesu Christi. Jonas Aufenthalt im 686 687 688

689 690 691

Neuwirth 2002a, S. 337. Neuwirth 2002a, S. 337. Iblīs gilt als Widersacher menschlichen Lebens, der wie Satan, die Menschen versucht zu verführen (Bobzin 2010, S. 791; Rippen 2002). Gott fordert Iblīs auf, vor den Menschen niederzufallen, doch Iblīs weigert sich, weil er hochmütig ist (Suren 38:74–75; 17:61; 2:34). Günther 2016, S. 121. Smith 2002, S. 46. Günther 2016, S. 118.

154

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

Fisch steht ebenso wie in Mt 12 in einem endzeitlichen Gerichtskontext, hat aber keine christologischen Implikationen. Im alttestamentlichen Psalm schreit Jona „aus der Mitte der Unterwelt“ (Jona 2,3) zu Gott und preist Gottes Rettung: „Du lässt hinaufsteigen mein Leben, weg aus der Grube, Herr, mein Gott.“ (Jona 2,7) Genau wie in Sure 37 nimmt Jona den Fisch als Ort der Not und Rettung wahr, und sein Gebet zu Gott ist Lobpreis, trotz oder gerade wegen seiner Notsituation. Während Jona in Sure 37 eine klare Entwicklung durchläuft und seine Rettung auf den Lobpreis folgt, ist Jona 2 von größeren Ambivalenzen geprägt. Der Lobpreis nimmt zwar eine herausragende Schlüsselfunktion in Jona 2 ein, stellt jedoch keinen eindeutigen Wendepunkt dar. Schon vor Jonas Lob heißt es, dass seine Zeit im Fisch auf „drei Tage und drei Nächte“ (Jona 2,1) begrenzt ist. Jona nimmt Gott bereits im Fisch als Retter wahr (Jona 2,10). In der alttestamentlichen Erzählung ist der Fisch zugleich Ort der größten Gottesferne und Gottesnähe. In Mt 12,40 ist Jonas Verbleiben im Fisch ein Moment der Hoffnung und vollkommen idealisiert; in Sure 37 ist er hingegen negativ behaftet und ein Schicksal, das Jona durch Lobpreis abwendet. Neben dem Fisch kommen noch weitere, kürzere Motive der alttestamentlichen Jona-Erzählung in Sure 37 vor: Jonas Flucht auf das beladene Schiff (37:140; Jona 1,3–5), der Loswurf (37:141; Jona 1,7), Jona zurück an Land (37:145; Jona 2,11), Gott lässt eine Pflanze über Jona wachsen (37:146, Jona 4,6), Gott sendet Jona zu vielen Menschen (37:147–148; Jona 1,1–2; 3,1–4) und der Gottesglaube der vielen Menschen im Anschluss an Jonas Sendung (37:147; Jona 3,5). Diese Motive stehen in kurzen aneinandergereihten Versen, sodass die Jona-Perikope in Sure 37 dicht und ereignisreich erscheint. Die Jona-Perikope enthält fünf Hapax legomena („fliehen“ arab. abaqa 37:140; „Lose ziehen“ arab. fasāhama 37:141; „Verstoßener“ arab. mud'ḥaḍīn 37:141; „verschlingen“ arab. al'taqama 37:142; „Kürbisbaum“ arab. yaqṭīn 37:146). Die vielfältigen Hapax legomena unterstreichen, dass sich die Jona-Perikope von den anderen Prophetenerzählungen in Sure 37 unterscheidet, da die Episoden zwar untereinander, aber nicht mit der Jona-Perikope semantisch vernetzt sind.692 Die koranische Jona-Perikope endet mit dem Vers „Da glaubten sie, da gestatteten Wir ihnen Lebensgenuss für eine Weile.“ (37:148) Während sich 37:139– 146 fast ausschließlich um Jona drehen und wie er sich Gott gegenüber verhält, ist der Blick in 37:147–148 auf das Volk und seine Gottesbeziehung ausgeweitet. Die alttestamentliche Jona-Erzählung wirft den Blick auf Jona und Gott, auf Jona mit den Seeleuten und Ninive und wiederum ihre Interaktion mit Gott. Obwohl in Jona 4 der Dialog zwischen Jona und Gott im Zentrum steht, holt die offene Frage Gottes im letzten Vers wieder eine allumfassende Perspektive ein. 37:147– 148 stechen hervor, weil Gott erzählt, dass ein ganzes Volk auf seinen Gesandten hört und an Gott glaubt. Gott charakterisiert Jona zwar nicht als gläubig, dafür aber die „100.000 oder mehr“, zu denen er Jona sendet. Genau wie in der Bibel 692

Koloska 2016, S. 89.

3.5.3 Akzentverschiebung: Jona als erfolgreicher Gesandter

155

fällt das Volk durch seinen Glauben auf. In der alttestamentlichen Erzählung ruft Jona ein Unheilswort über Ninive aus und Ninive glaubt Gott (hebr. ’mn Hifil in Jona 3,5).693 Der Glaube Ninives zeigt sich in ihrer sofortigen Umkehr. Gott reagiert darauf, indem auch er umkehrt. In den alttestamentlichen und neutestamentlichen Perikopen ist die allumfassende Umkehr Ninives von Bedeutung. In Sure 37 sowie im gesamten Koran spielt der „Glaube“ eine wichtige Rolle. Der Begriff „glauben“ (arab. mu'min 37:29.81.111.122.132; āmana 37:148) kommt sechsmal in Sure 37 vor. In Sure 68 kommt der Begriff „Glaube“ noch nicht vor, doch in den Jona-Perikopen, die chronologisch auf Sure 37 folgen, gewinnt der Glaube an Bedeutung.694 Während die neutestamentliche Jona-Rezeption die Umkehr Ninives in den Vordergrund rückt, ist es in Sure 37 der kollektive Glaube. Sowohl in dieser Sure als auch in den neutestamentlichen Rezeptionen tritt Jona als ein wirkungsvoller Gesandter auf.

3.5.3 Akzentverschiebung: Jona als erfolgreicher Gesandter Die Jona-Perikope in Sure 37 knüpft an viele alttestamentliche Motive an, führt sie jedoch nicht bis ins Einzelne aus. Sie ist die einzige koranische Jona-Rezeption, in der das beladene Schiff, der Loswurf und der Kürbisbaum vorkommen. Die drei alttestamentlichen Elemente bleiben rätselhaft und islamische Gelehrte, wie der iranische Islamwissenschaftler Nasr, versuchen die bewusst gesetzten Leerstellen in den koranischen Jona-Perikopen mit Hilfe der biblischen Erzählung zu füllen.695 Die Schiffsleute sowie ihre Interaktion mit Gott und Jona bleiben unerwähnt. Jona wirft selbst das Los. Sein Schicksal bleibt in seiner und Gottes Hand, andere Aktanten greifen nicht ein. Das Motiv von Jonas Flucht bleibt unklar. Die HörerInnen und LeserInnen erfahren nicht wohin und warum Jona flieht. Afsar und Johns gehen davon aus, dass Jona schon vor der Flucht zu seinem Volk gepredigt hat und flieht, weil sein Volk ihn abgelehnt hat,696 doch Belege gibt es dafür im Koran nicht. Das Wort „fliehen“ (arab. abaqa 37:140) ist ein Hapax legomenon, deshalb können keine anderen koranischen Kontexte zur Klärung bei-

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Neben hebr. ’mn Hifil ist auch die „Gottesfurcht“ (hebr. jr‘) Ausdruck des Glaubens im Alten Testament (Brandscheidt 2013). Das Wort „fürchten“ (hebr. jr‘) kommt viermal im Jona-Buch vor: Neben den Seeleuten (Jona 1,5.10.16) fürchtet Jona „[d]en Herrn, den Gott der Himmel“ (Jona 1,9). Fünfmal in Sure 21 (u. a. in 21:88), 30-mal in Sure 10 (davon sogar zweimal in 10:98), 26mal in Sure 6; und 64-mal in Sure 4 (dreimal direkt vor dem Jona-Vers in 4:162). Nasr et al. 2015, S. 1096–1097. Afsar 2009, S. 325; Johns 2003, S. 48.

156

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

steuern. Das arabische Verb abaqa findet im allgemeinen Sprachgebrauch üblicherweise in Erzählungen und Berichten über entlaufene Sklaven Verwendung. Das trägt zur Wahrnehmung bei, dass Jonas Flucht unrechtmäßig ist, da er als Knecht Gottes vor seinem Herrn flieht.697 Die Wendung „als er rief“ (arab. idh nādā), die auf Jona (68:48; 21:87) und andere gläubige Gottesmänner bezogen ist (Noah 37:75; 21:76; Ijob 38:41; 21:83; Zacharias 21:89),698 ist hier Ausdruck einer gegensätzlichen Bewegung: auf „als“ (arab. idh) folgt „fliehen“ und nicht „rufen“. Jona schweigt und rennt weg. Das unterstreicht, dass sich Jona von Gott räumlich entfernt und sich ihm nicht rufend zuwendet. Die Flucht vor Gott ist allerdings nur subtil in den koranischen Text eingeschrieben. In der biblischen Erzählung hingegen steht zweimal explizit, dass er „weit weg vom Herrn“ (Jona 1,3.3) flieht. Ebenso wenig erfahren LeserInnen und HörerInnen, was Jona zu den 100.000 sagt. Stattdessen steht deren Reaktion im Mittelpunkt. Es fällt auf, dass die 100.000 eine anonyme Menge bleiben. In der Bibel geht Jona zur großen Stadt Ninive (Jona 1,1; 3,2; 4,11), die für „ihre Schlechtigkeit“ (Jona 1,2), aber auch für ihre sofortige Umkehr (Jona 3,5–10; Mt 12,41; Lk 11,32) bekannt ist. In Jona 4,11 heißt es, dass in der großen Stadt Ninive „mehr als 120.000 Menschen“ leben, ähnlich viele Menschen wie in Sure 37:147 („100.000 oder mehr“). Sure 10:98 identifiziert die vielen gläubigen Menschen als „Stadt“ und „Jonas Volk“, doch in 37:147 ist nichts außer der großen Anzahl an gläubigen Menschen bekannt. Es geht nicht um die tatsächliche Bevölkerungsanzahl, sondern um die Betonung der Vielzahl an Menschen: Es sind etliche Menschen und alle glauben im Anschluss an Jonas Sendung an Gott. Im Gegensatz zu den anderen Gesandten in Sure 37 folgt auf Jonas Sendung eine Verschonung aller Menschen. In den anderen Erzählungen vernichtet Gott die Mehrheit des Volkes und rettet nur einige wenige.699 Das hebt den außergewöhnlichen Erfolg von Jonas Sendung hervor. Es ist weniger wichtig, wen Gott rettet, sondern dass ein ganzes Volk an Gott glaubt und Gott es verschont. Jonas Todeswunsch kommt nicht in Sure 37 vor. In der alttestamentlichen Erzählung äußert Jona seinen Zorn (Jona 4,1.4.9.9) und Todeswunsch (Jona 4,3.8.8.9) besonders häufig in der Szene am Rizinusstrauch. Genau wie der Kürbisbaum im Koran ist der Rizinus in der Bibel ein Hapax legomenon, deshalb ist die Übersetzung umstritten. Der Begriff „Kürbisbaum“ ist der biblischen Jona-Tradition nicht fern. Die Septuaginta übersetzt den hebräischen Begriff mit „Kür697 698

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Kadi und Mir 2003, S. 207. Horovitz 1926, S. 35.

Gott rettet Noah und einige Nachkommen, alle anderen ertrinken (37:77.82); bei Abraham scheint Gott fast alle außer Abraham und Isaak zu vernichten (37:98); Gott rettet Mose, Aaron und ihr Volk (37:115); in der Elija-Episode rettet er nur Elija (37:127); in der Lot-Episode rettet Gott nur Lot und „seine Leute“, während er alle anderen, auch Lots Frau, vernichtet (37:134–136).

3.5.3 Akzentverschiebung: Jona als erfolgreicher Gesandter

157

bisstaude“ (griech. kolokynthē). Diese griechische Übersetzung beeinflusst christliche Darstellungen von Jona, auf denen Jona unter einer Kürbisstaude sitzt.700 Sowohl in der Bibel als auch im Koran veranlasst Gott, dass eine Pflanze wächst. Der Unterschied zur biblischen Erzählung ist einschlägig. In Jona 4 lässt Gott die Pflanze nicht nur wachsen (hebr. mnh), sondern „bestellt“ (ebenfalls hebr. mnh) einen Wurm, um sie verdorren zu lassen. Daran schließt Jonas Zorn und Gottes Frage nach Jonas Mitgefühl mit Gottes Schöpfung an. Der Wurm, der Ostwind, der Rizinusstrauch, aber auch der Fisch sind Gerichtswerkzeuge,701 die Gott allesamt „bestellt“ (hebr. mnh). Gott verfügt über alle Geschöpfe, vom großen Fisch bis hin zum kleinen Wurm. Während Gott den Rizinus in der Bibel als eine Lehre für Jona wachsen lässt, manifestiert der Kürbisbaum im Koran Gottes schöpferisches Wirken und Fürsorge („über ihn“).702 Er symbolisiert Schatten und Nahrung für Jona.703 Die Szene des Kürbisbaumes beeinflusst Jonas Emotionen nicht negativ im Koran, stattdessen knüpft Jonas erfolgreiche Sendung an die Kürbisbaum-Szene an. Jonas Erfolg und nicht sein Zorn steht am Ende der Jona-Rezeption in Sure 37. In der alttestamentlichen Erzählung ist Jona emotional zerrissen, freudig und zornig, er wünscht sich den Tod und ist dankbar, dass Gott ihn lebendig „aus der Grube“ heraufholt. Im Koran entwickelt er sich vom Verstoßenen (37:141) zum erfolgreichen Gesandten (37:147–148). Der Lobpreis stellt den Wendepunkt dar. Jonas Lobpreis ist zentral in Sure 37, aber anders als in Sure 21 ist in Sure 37 Jonas Lobpreis nicht in wörtlicher Rede angeführt, stattdessen charakterisiert Gott Jona als Lobpreisenden (arab. musabbiḥūn). Es geht um die Eigenschaft, sich Gott im Lobpreis zuzuwenden und nicht um den individuellen Wortlaut von Jonas Lobpreis. Neben Jona bezeichnet Gott nur die Engel mit dem Ehrenteil „Lobpreisende“ (37:166). Die Worte Gottes „Lobpreis sei Gott“ (37:159.180) knüpfen an die Jona-Perikope an und sind neben Muhammad an alle HörerInnen und LeserInnen gerichtet. Gott fordert dazu auf, in den Lobpreis Jonas und der Engel einzustimmen.

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703

Koloska 2016, S. 89. Gerhards 2006, S. 198; Jeremias 2008a, S. 212; Shemesh 2010, S. 9; Weber 2016, S. 116–117; Weimar 2017, S. 422–423. In 37:146 steht das Verb „wachsen“ (arab. anbata), das im Koran Schöpfungsvokabular ist (50:7, 31:10, 22:5). Nasr et al. 2015, S. 1097.

158

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

3.5.4 Novum: Einzigartige Rettung Gottes aller Gläubigen Die Jona-Perikope steht im Kontext der Straflegenden.704 Straflegenden kommen häufig im Koran vor und sind Zyklen, in denen mehrere Erzählungen aneinandergereiht und oftmals durch formelhafte Wendungen, Refrains und gemeinsame Themen miteinander verbunden sind. Sie kommen besonders häufig in den mittel- und spätmekkanischen Suren vor und dienen als Stärkung für Muhammad und seine Gemeinde, trotz aller Rückschläge in Mekka am Gottesglauben festzuhalten.705 Das verbindende Thema der Straflegenden ist Gehorsam, Vertrauen und Treue der Menschen gegenüber Gott.706 Durch die Wiederholungen und listenartige Aneinanderreihung liegt der Schwerpunkt auf allgemeingültigen Lehren sowie Mahnungen und nicht auf einzelnen Erzählungen.707 Sure 37 ist das einzige Beispiel, wo mit Noah, Abraham und Isaak, Mose und Aaron, Elija, Lot und Jona ausschließlich biblische Figuren auftreten.708 In anderen Straflegenden kommen beispielsweise Figuren der arabischen Geschichte, wie Hūd (26:124; 11:50) oder Ṣāliḥ (26:142; 11:61) vor. In den Straflegenden sendet Gott einen Auserwählten zu (s)einem Volk, das nicht hört und häufig den Gesandten Gottes bedroht. Daraufhin vernichtet Gott alle, die nicht auf die Botschaft hören, zum Beispiel indem er „starken Regen“ (26:173; 7:84), „den Schrei“ (11:67.94), „Ziegelsteine“ (11:82) oder „das Beben“ (7:78.91) schickt. Die Strafe Gottes fehlt in seltenen Fällen, in den Jona-Perikopen fehlt sie ausnahmslos.709 Die Straflegenden können als Präzedenzfälle Gottes Mahnung vor dem endzeitlichen Gericht verschärfen, aber auch zeigen, dass der Glaube die Chance auf Gottes Rettung eröffnet.710 Für Gläubige spenden die Prophetenerzählungen Trost, deshalb sind es sowohl Straf- als auch Rettungserzählungen.711 Die Prophetenerzählungen sind Leitsatz und Zeichen für die Gläubigen (20:128). Sie zeugen davon, dass Gott die Menschen nie unangekündigt oder maßlos bestraft, sondern seine Gesandten als Mahnung und Zeichen von Gottes immer wiederkehrender Zuwendung sendet (37:72; 17:15). In Sure 37 sind sieben biblische Namen als Hauptfiguren gelistet (Noah, Abraham, Mose und Aaron, Elija, Lot, Jona) und Isaak als Nebenfigur. Alle Figuren aus Sure 37 kommen häufig im Alten Testament vor. Die neutestamentlichen Schriften rezipieren alle acht Figuren. Die

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Koloska 2016, S. 88; Neuwirth 2020d; Sinai 2012, S. 90. Marshall 2004, S. 320; Rubin 2004a, S. 306; Sinai 2012, S. 65. Pregill 2007, S. 647. Horovitz 1926, S. 32. Neuwirth 2002a, S. 332. Hoheisel 1996, S. 617; Marshall 2004, S. 320. Sinai 2012, S. 91. Sinai 2012, S. 91.

3.5.4 Novum: Einzigartige Rettung Gottes aller Gläubigen

159

Figuren sind für die Botschaft des Korans und für die neutestamentliche Botschaft wichtig. Die Abraham-Episode ist als Doppelerzählung das Herzstück der Sure.712 Sie ist die einzige, die länger als die Jona-Perikope ist. In der ersten Erzählung wendet sich Abraham von seinen Vorfahren ab, weil sie Götzendienst betreiben (37:83–98), woraufhin Gott im zweiten Teil der Doppelerzählung Abraham seinen Sohn Isaak verkündet (37:90–113). Die Anordnung der Figuren entspricht weder einer historischen noch einer biblisch-kanonischen Anordnung. Es geht dem Koran um die theologischen Botschaften der Episoden und nicht um die Darstellung linearer Geschichtsdarstellung.713 Vor allem die Positionierung der Lot-Erzählung zwischen der Elija- und Jona-Episode fällt auf. Die Erzählung über Abrahams Neffen Lot (Gen 11,27; 12,5) ist Bestandteil der biblischen Erzeltern-Erzählungen, insbesondere der Abraham-Erzählung. Doch im Koran ist die Lot-Episode direkt vor die Jona-Erzählung geschaltet und mit ihr formal verbunden, da beide keinen Refrain oder eine Eulogie haben „Friede sei über [Noah/Abraham/Mose und Aaron/Elija]. Siehe, so belohnen Wir die, die Gutes tun. Wahrlich, er ist einer Unserer gläubigen Knechte“ (Suren 37:79–81; 109–111; 120–122; 130–132). Die beiden Perikopen über Lot und Jona brechen mit der sich wiederholenden Struktur von Sure 37. Die Erzählungen über Noah, Abraham, Mose und Aaron und Elija schließen ab mit der Affirmation „Wahrlich, er ist einer Unserer gläubigen Knechte.“ (37:81.111.122.132) Nur am Ende der Erzählung von Lot und Jona steht diese Affirmation nicht. Neuwirth betrachtet das als „Hinweis auf die auch in der spätantiken Tradition nicht unambivalente Rolle der beiden Figuren“.714 Die Lot-Episode ist die kürzeste Erzählung in der Reihe der Prophetenerzählungen in Sure 37. Lot ist Gesandter Gottes, da Gott ihn erwählt hat und nicht weil er der Neffe Abrahams ist. Das entspricht der mittelmekkanischen Hervorhebung, dass der Gottesglaube sowie Gottes gnadenvolle Erwählung und nicht die Blutsverwandtschaft den Gesandten Autorität verleiht.715 LeserInnen und HörerInnen erfahren lediglich, dass Gott ihn und „seine Leute“ rettet und alle anderen Menschen, auch seine Frau, vernichtet. Es handelt sich eindeutig um eine Straflegende.716 Im Gegensatz dazu liegt der Schwerpunkt bei der Jona-Episode auf Gottes Rettung. Während die Wahrnehmung von Jona und Lot als ambivalente Charaktere in der spätantiken Tradition vergleichbar ist,717 steht sich die theologische Botschaft von Gottes Vernichtung (37:136) und Rettung (37:148) in Sure 37 entgegen. Der Aspekt der befristeten Rettung Gottes kommt in Sure 37 stärker als in der Bibel zum Ausdruck. Zwar erfahren die HörerInnen und LeserInnen im Kontext des Zwölfprophetenbuches, dass Gott Ninive zerstört (Nah 2), doch im Jona712 713 714 715 716 717

Neuwirth 2020d. Neuwirth 2010, S. 230. Neuwirth 2002a, S. 330. Donner 1998, S. 106 u. 111; Neuwirth 2020e. Marshall 2004, S. 320. Neuwirth 2002a, S. 330.

160

3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148

Buch erscheint Gottes Umkehr und Verschonung Ninives nicht befristet. In 37:148 klingt bereits an, dass Gottes Zuwendung nur befristet ist: „Da glaubten sie, da gestatteten Wir ihnen Lebensgenuss für eine Weile.“ Gott gestattet Lebensgenuss „für eine Weile“ und nicht ewig. Der Begriff „Lebensgenuss“ (arab. matta‘) leitet sich vom Scheidungsrecht ab und eine Übersetzung mit „Nutzungsrecht“ oder „Nießbrauch“ bietet sich ebenfalls an. Gott sagt zu den Männern: „Vergesst nicht die Güte zwischen euch!“ (2:237) und fordert die Männer dazu auf, auch nach einer Scheidung für ihre Frauen aufzukommen (2:237; 33:49). Der Begriff ist meist negativ konnotiert. Der „Lebensgenuss“ gilt nur als „schöner Schein“ (33:28) und lenkt von Gottes Mahnung ab (25:18). Er ist auf das irdische Leben begrenzt (33:28; 28:61; 20:131) und die schmerzhafte Strafe (31:24; 11:48) des Feuers (2:126) folgt darauf. Zwar handelt es sich bei der Jona-Perikope vorrangig um eine Rettungslegende, doch die Zuwendung Gottes ist befristet und eine jenseitige Strafe Gottes scheint nicht ausgeschlossen. Gott rettet die 100.000 nicht, weil Jona ein idealer Gesandter Gottes ist. Im Gegenteil, Gott kritisiert keinen anderen Gesandten mehr als Jona. Jona ist „einer der Verstoßenen“ (37:141), der tadelnswert ist (37:142). Das Partizip „Verstoßener“ (arab. mud'ḥaḍīn) ist ein Hapax legomenon. Obwohl der Vers „einer der Verstoßenen“ suggeriert, dass neben Jona noch mehr Menschen „Verstoßene“ sind, ist Jona doch der einzig explizit angeführte „Verstoßene“ im Koran. Jona hat sich durch seine Flucht und seinen Loswurf selbst in die Lage gebracht ein Verstoßener zu sein. Er ähnelt den Leugnern und Verdammten, welche die Wahrheit, Liebe und Barmherzigkeit Gottes abstreiten und als Konsequenz Gottes Strafe erfahren (40:5; 18:59).718 Das Partizip „der sich selbst tadelte“ (arab. mulīm) steht neben 37:142 nur noch in der Erzählung über den Pharao und seine Heerscharen, die Gott ins Meer wirft (51:40). Neuwirth deutet den Tadel als Umkehr und Reue des Pharaos im letzten Moment.719 Gott prangert seine späte Umkehr an, doch rettet ihn trotzdem (10:91–92). Im Lichte dieser späten Reue und Rettung bietet sich die Deutung von Jonas Tadel als Akt seiner späten Umkehr und Gottes Rettung an. Sure 37 idealisiert Jona nicht. Er begeht Fehler, spricht Lobpreis und ist ein „Modell für den reumütigen Sünder“.720 Jonas Lobpreis steht im Zentrum der Perikope. Das heben auch die Koran-Rezitatoren durch langsame (Al-Afasy; Al-Shuraim)721 oder doppelte Rezitation (Al-Ghamdi) hervor.722 Die Koran-Rezitation unterliegt einem ausführlichen Regelwerk, „das die genaue

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Das Partizip „Verstoßener“ (arab. mud'ḥaḍīn) teilt sich eine Wortwurzel mit dem Verb „streiten“ (40:5; 18:56). Leugner „streiten mit Falschheit“ (40:5; 18:56), damit sie Gottes Wahrheit entkräften. Neuwirth 2020d. Neuwirth 2020d. Al-Afasy; Al-Shuraim. Al-Ghamdi.

3.5.5 Elementare Strukturen von Sure 37

161

Aussprache und Betonung der koranischen Sprache bis ins kleinste Detail festlegt, aber zugleich dem individuellen Vermögen des Interpreten Raum bietet.“723 In Sure 37 ist der Fisch Jonas Antagonist und kommt nicht als Genitivattribut „der Gefährte des großen Fisches“ (68:48) zum Zwecke der Kennzeichnung Jonas oder als sein Verbündeter vor. Er handelt aktiv gegen Jona, indem er ihn verschlingt. In Jona 2,1 heißt es: „Der Herr aber schickte einen großen Fisch, dass er Jona verschlinge.“ In der Bibel ist der Fisch Gottes Werkzeug. Das kommt in Sure 37:142 nicht zum Ausdruck. In Sure 37 veranlasst Gott nicht die Verschlingung Jonas. Der Fisch taucht plötzlich auf, nachdem es heißt, dass Jona loste und „einer von den Verstoßenen“ (37:141) war. Zwar liegt nahe, dass Jona vom Meer und damit von Fischen umgeben ist, weil sich Jona auf einem Schiff befindet, doch das Meer, der Sturm oder ein Meereswurf leiten das Verschlingen des Fisches nicht ein. Jona scheint im ersten Abschnitt unabhängig von Gott zu agieren. Erst nach Jonas Lobpreis (37:143) kommt Gott ins Spiel. Gott rettet Jona, indem er ihn „auf das kahle Land [wirft], während er schwach war.“ (37:145) Das „kahle Land“ knüpft an die alttestamentliche Beschreibung des Landes als „trocken“ an (Jona 2,11). Im Koran folgt darauf der Vers „Und Wir ließen über ihn einen Kürbisbaum sprießen“ (37:146), sodass das kahle Land im Kontrast zum Wachstum des Kürbisbaumes steht. Gott macht das „kahle Land“ fruchtbar. Jonas Flucht hat Konsequenzen, der Fisch verschlingt ihn und er ist schwach, doch Gott wendet sich Jona schützend und stärkend zu. In Sure 37 stehen Gott sowie seine Rettung der 100.000 im Blickpunkt und nicht Jona. Ab 37:145 ist Gott und nicht mehr Jona das Subjekt des Satzes. Der Refrain „Friede sei über [Noah/Abraham/Mose und Aaron/Elija]. Siehe, so belohnen Wir die, die Gutes tun. Wahrlich, er ist einer Unserer gläubigen Knechte“ (Sure 37:79–81.109–111.120–122.130– 132) fehlt und so endet die Jona-Perikope mit Gottes umfassender Rettung und nicht mit seiner Segnung des Gesandten.

3.5.5 Elementare Strukturen von Sure 37: Jonas Lobpreis als Wendepunkt zum erfolgreichen Gesandten –



723

Jona gilt (trotz seiner Flucht) als ein erfolgreicher Gesandter. Er entwickelt sich vom Verstoßenen zum erfolgreichen Gesandten. Dabei stellt sein Lobpreis den Wendepunkt dar. Sein Lobpreis dient als Beispiel für die individuelle Gotteszuwendung. Im Gegensatz zu Sure 68 basiert Jonas Rettung nicht auf Gottes Gnade, sondern auf seiner eigenen Initiative (Lobpreis). Während Jonas Aufenthalt im Fisch im Alten Testament mehrdeutig ist, zugleich Not und Rettung, Ort der größten Gottesferne und Gottesnähe und in Leimgruber und Wimmer 2005, S. 24.

162







3.5 Jona-Rezeption in Sure 37:139–148 Mt 12,40 als Vorankündigung der Auferstehung Christi ein Moment der Hoffnung darstellt, ist der Aufenthalt im Fisch in Sure 37 negativ behaftet und ein Schicksal, das Jona durch seinen Lobpreis abwendet. Sure 37 spielt wie die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen eine endzeitliche Perspektive ein, indem sie auf die Auferstehung der Toten hinweist, jedoch Jona im Fisch nicht als individuelles Auferstehungsszenario umdeutet. Im zweiten Abschnitt steht Gottes Rettung im Vordergrund. Die Jona-Perikope steht im Kontext der Straf- und Rettungslegenden und Jona gilt als einer der Gesandten Gottes, wobei die Jona-Perikope die letzte Prophetenerzählung in Sure 37 darstellt und einen eindeutigen Schwerpunkt auf die Rettung Gottes legt. Gottes Rettung hängt vom Glauben des Volkes und nicht von der Stellung des Gesandten (bei Gott und beim Volk) ab. In Sure 37 sowie im gesamten Koran spielt der „Glaube“ eine wichtige Rolle. Die 100.000 Gläubigen fungieren als ein Vorbild für Muhammad, seine Gemeinde und für alle LeserInnen und HörerInnen. Muhammad reiht sich als „Gesandter“ (arab. mur'sal 37:181) ein, indem er die früheren „Gesandten“ bestätigt. Der Lobpreis ist der primäre Verknüpfungspunkt zwischen Jona und Muhammad.

3.6

Jona-Rezeption in Sure 21:87–88 87

88

Und dieser des Fisches. Als er erzürnt wegging, und dachte, dass Wir ihn nicht einschränken können. Da rief er in der Finsternis: Kein Gott außer Dir! Lobpreis Dir! Gewiss ich, ich war einer der Frevler! Da antworteten Wir ihm und retteten ihn aus der Not und so retten Wir die Gläubigen.

Die Jona-Perikope in Sure 21 „al-anbiyā’“ (Die Propheten) ist mit 31 Wörtern in zwei Versen die zweitlängste Jona-Erzählung im Koran. Sure 21 gilt genau wie Sure 37 als mittelmekkanisch.724 Sie hat wie Sure 37 einen dreiteiligen Aufbau (I 21:1–47 II 21:48–191 III 21:92–112). Die Jona-Perikope steht in der Mitte der Sure, als achte der insgesamt zehn Prophetenerzählungen. Sie ist die einzige koranische Jona-Perikope, die eine wörtliche Rede Jonas enthält. Der Name „Jona“ 724

Neuwirth 2020e.

3.6.1 Kontext: Prophetenerzählungen als Mahnung zum Lobpreis

163

kommt wie in Sure 68 nicht vor. Stattdessen steht hier abermals „der Fisch“ als Erkennungsmerkmal.

3.6.1 Kontext: Prophetenerzählungen als Mahnung zum Lobpreis Sure 21 setzt mit der Polemik der „Frevler“ gegenüber Muhammad ein (21:1–5). „Frevler“ (arab. ẓalama/ẓālim) verhalten sich gegenüber ihren Mitmenschen und Gott unrecht.725 Sie werfen Muhammad vor, dass er „nur ein Mensch“ (21:3), ein Zauberer (21:3), Träumer (21:5) und „ein Dichter“ (21:5) sei. Darauf folgt ein Trostwort Gottes: Den Gesandten vor Muhammad erging es ähnlich, denn die Frevler hörten auch schon nicht auf ihre Mahnungen (21:6–47). Gott rettet die Gesandten, „viele frevlerische Städte zermalmt[…]“ (21:11) er hingegen. Als Konkretisierung folgen die Erzählungen über Mose und Aaron (21:48–50), Abraham, Lot, Isaak und Jakob (21:51–73), Lot (21:74–75), Noah (21:76–77), David und Salomo (21:78–82), Ijob (21:83–84), Ismael, Idrīs und Ḏū l-Kifl (21:85–86), Jona (21:87–88), Zacharias, seine Frau und Johannes (21:89–90) sowie Maria und Jesus (21:91). Im Anschluss rückt wieder Muhammad mit seiner Gemeinde und den Frevlern in den Blickpunkt, die allesamt Rechenschaft im endzeitlichen Gericht ablegen müssen. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft stehen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Die Prophetenerzählungen dienen Muhammad und den Gläubigen als Trost, den Frevlern hingegen als Mahnung. Das Wortfeld um den Begriff „Frevler“ kommt häufig vor, unter anderem dreimal in der Jona-Perikope.726 Die Frevler bestreiten Gottes Mahnung (13-mal), Offenbarung (fünfmal), Wahrheit (fünfmal) und Zeichen (fünfmal). Im Gegensatz zu den Frevlern zeichnen sich die Gesandten und Diener Gottes durch Lobpreis sowie ihren Glauben aus.727 Gottes Einzigartigkeit und rettendes Eingreifen (21:3.9.71.74.76.88.88) sind wichtige Themen der Sure, die neben dem Kontrast von „Frevler“ und „Lobpreisender“ die Jona-Perikope prägen.

725

726

727

Die „Frevler“ (arab. ẓalama/ẓālim) sind Menschen, die Unrecht handeln (Lane 1863, S. 1920). „freveln“ arab. ẓalama 21:3.47; „Frevler“ arab. ẓālim 21:14.29.46.59. 64.87.97; „frevlerisch“ arab. ẓālimat 21:11; „Finsternis“ arab. ẓulumāt 21:87. Lobpreis (21:20.22.26.33.79.87); Glauben (21:6.6.30.88.94).

164

3.6 Jona-Rezeption in Sure 21:87–88

3.6.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 2: Jonas Lobpsalm im Fisch und Gottes Rettung aus der Not Die Jona-Perikope in Sure 21:87–88 knüpft an Jona 1 und 2, wobei der Schwerpunkt auf Jonas Lobpsalm im Fisch und seiner Rettung durch Gott liegt (Jona 2). Nirgendwo sonst im Koran spricht Jona zu Gott. In Sure 68:48 heißt es zwar, dass er ruft (arab. nādā), doch darauf folgen keine Worte. Jonas Worte stehen im Zentrum der Perikope und stechen als eine Aneinanderreihung wichtiger koranischer Glaubensaussagen hervor: Das Bekenntnis zum einzigen Gott, der Lobpreis und das Schuldbekenntnis. Genau wie in Sure 37 ist Jonas „Lobpreis“ ein wichtiges Element in Sure 21. Jonas Worte im Koran erklingen in einer poetischen Sprache, die an die biblischen Psalmen erinnert, weshalb die Bezeichnung „Lobpsalm Jonas“ naheliegend ist. Die Rezeption von Jona 1 ist komprimiert auf: „Als er erzürnt wegging, und dachte, dass Wir ihn nicht einschränken können.“ (21:87) Während Jonas Flucht in der alttestamentlichen Erzählung ausführlich geschildert ist (Jona 1,3–15), stellt seine Flucht lediglich die narrative Einleitung des poetischen Lobgesangs in Sure 21 dar. Sowohl in der Bibel als auch im Koran erwähnt Jona den Fisch nicht explizit in seinem Lobpreis. Der Begriff „Fisch“ steht zwar als Erkennungsmerkmal Jonas (vgl. Sure 68) direkt zu Beginn der Perikope in der prosaischen Einleitung, doch im poetischen Lobpsalm kommt er nicht erneut vor. Das Wort „Finsternis“ zu Beginn des koranischen Jona-Psalms weist auf seinen Aufenthalt im Fisch hin.728 Der Begriff „Finsternis“ versinnbildlicht Jonas Situation. Die „Finsternis“ bildet im Koran den Kontrast zum Licht Gottes (35:20; 13:16). Gott rettet aus der Finsternis (6:63) und führt Menschen mit Hilfe seiner Gesandten aus der Finsternis ins Licht (65:11; 57:9; 33:43; 5:16; 2:257). Der „Bauch“ (39:6) der Mutter und das abgrundtiefe Meer (24:40; 6:97) gelten als Orte der „Finsternis“. Das stellt eine Brücke zu Jona im „Bauch“ (Jona 2,1) des Fisches, in der Meerestiefe (Jona 2,4.6), dar. Die „Finsternis“ illustriert auf der physischen Ebene Orte der Dunkelheit, wie der Fisch und das Meer, und auf einer psychologischen Ebene Isolation und Distanz von Gott.729 Nicht der einzigartige wundersame Aufenthalt Jonas im Fisch, sondern das Gefühl von Not und Rettung ist zentral. Das greift Erfahrungen von Muhammad und den LeserInnen auf. Jona spricht als exemplarischer Frevler, der sich Gott zuwendet. Wie in Jona 2 nimmt Jona seine Situation zugleich als Not und Rettung wahr (21:87) und er spricht seinen Lobpreis, bevor ihn Gott aus der Not rettet (21:88). Gottes Rettung folgt auf Jonas Initiative, einen Lobpreis zu sprechen (vgl. Sure 37) und nicht aus reiner Gnade (vgl. Sure 68).

728 729

Nasr et al. 2015, S. 825. Afsar 2009, S. 333.

3.6.3 Akzentverschiebung: … zur allgemeingültigen Lehre

165

3.6.3 Akzentverschiebung: Von der Erzählung zur allgemeingültigen Lehre Jonas Botschaft, Ninives sofortige Umkehr und Gottes Umkehr sind kein Bestandteil der Jona-Perikope in 21:87–88. Auch die Seeleute kommen nicht vor. Der Schwerpunkt liegt auf der Interaktion zwischen Gott und Jona: Die Kommunikation verdichtet sich im Lobpsalm Jonas, den einzigen Worten Jonas im Koran. Gott sieht, erhört und rettet Jona. Erst der letzte Vers holt eine umfassende Perspektive ein „und so retten Wir die Gläubigen.“ Das Verb „retten“ im letzten Teilvers steht im Unterschied zu den anderen Verben im generellen Präsens (Imperfekt im Arabischen) und nicht im Präteritum (Perfekt im Arabischen).730 Jonas Beispiel verdeutlicht, wie sich Frevler durch Lobpreis Gott zuwenden können. Jonas Handeln ist von Vorbildfunktion sowohl für Muhammad als auch für einen jeden Gläubigen. „Vorbild“ heißt dabei nicht, „dass Menschen anstreben sollen, Propheten zu werden.“731 Stattdessen haben die Prophetenerzählungen Vorbildcharakter, indem sie den LeserInnen und HörerInnen menschliche Gottesbeziehungen exemplarisch darlegen.732 Jonas Lobpreisung als menschliche Zuwendung zu Gott dient allen Gläubigen als Lehrerzählung. Die Gründe für Jonas Zorn bleiben unerwähnt. Nasr legt dar, dass die Ursache für Jonas Zorn zweideutig ist: Entweder ist Jona zornig, weil Gott Ninive verschont hat, oder Jona und Gott sind beide zornig, weil das Volk ungehorsam ist.733 Sure 21:87 lässt Interpretationsspielraum, warum Jona zornig ist. Der Grund für seinen Zorn scheint weniger wichtig als der Wandel vom Zorn hin zum Lobpreis. Anders als in Jona 1 und Sure 37 steht in 21:87, dass Jona „erzürnt“ ist, während er weggeht. Im alttestamentlichen Buch ist Jona zornig, nachdem Gott Ninive verschont (Jona 4) und nicht während seiner Flucht. Im Gegensatz zur alttestamentlichen Jona-Erzählung ist eine eindeutige Entwicklung vom zornigen zum geretteten Jona erkennbar, wobei der Lobpreis den Wendepunkt vom Frevler zum Gläubigen darstellt. Auch die Gründe für Jonas Flucht scheinen irrelevant zu sein, wichtig ist nur, dass Gott seinen Ruf „erhört“ und Jona „rettet“.734 Die Perikope beinhaltet viele Leerstellen, sie wirft mehr Fragen auf als dass sie Antworten gibt. Die allgemeingültigen Lehren für Frevler und Gläubige stehen im Vordergrund und nicht die Erzählung über Jona.

730 731 732 733 734

Reuschel 1996, S. 93–94. Khorchide 2016, S. 49. Khorchide 2016, S. 49. Nasr et al. 2015, S. 824. Johns 2003, S. 60.

166

3.6 Jona-Rezeption in Sure 21:87–88

3.6.4 Novum: Zentralität des monotheistischen Glaubensbekenntnisses Wie in Sure 37 steht die Jona-Perikope in Sure 21 im Kontext der Prophetenerzählungen. Sure 21 listet insgesamt 19 Figuren in zehn Episoden (21:48–93) auf, von denen 17 biblisch sind. Nicht alle gelten als Propheten in der Bibel, doch die Überschrift der Sure 21 „Die Propheten“ deutet an, dass die Redaktoren die gelisteten Figuren zur Zeit der Erstellung der Surenüberschriften als Propheten wahrnahmen. Die Sure heißt „Die Propheten“, obwohl der Begriff „Prophet“ nirgendwo in der Sure vorkommt. Es ist äußerst selten, dass die Überschrift nicht als Begriff in der dazugehörigen Sure vorkommt.735 Die Überschrift „Die Propheten“ betont die Bedeutung der Prophetenerzählungen in dieser Sure. Es ist keine historische oder biblisch-kanonische Chronologie erkennbar mit der Ausnahme, dass zuerst alttestamentliche und dann neutestamentliche Figuren aufgelistet sind. Die längste Episode steht in der Mitte der Sure und handelt von Abraham (vgl. Sure 37). Die einzige Episode mit nur einem Vers handelt von Maria und Jesus (Sure 21:91).736 Jona ist die letzte alttestamentliche Figur der Prophetenerzählungen in Sure 21. An die Jona-Perikope schließt die Episode über Zacharias, seine Frau und Johannes an, bevor die Maria-Jesus-Episode die Prophetenerzählungen abschließt. Vor der Jona-Perikope treten in der IsmaelIdrīs-Ḏū l-Kifl-Episode die einzigen nicht-biblischen Figuren auf. Die Einfügung von nicht-biblischen Figuren in einer Reihe mit dem biblischen Ismael zeigt, dass die koranische Prophetie eigene Akzente setzt. Die Prophetenerzählungen regen dazu an, alle Figuren als Propheten wahrzunehmen, unabhängig davon, was die biblischen Texte über die Figuren aussagen. Es fällt auf, dass die Struktur der periodischen Wiederholungen und Vernetzungen die Gleichrangigkeit der Propheten unterstreicht. Die Propheten treten sukzessiv auf und bringen die immerwährende Botschaft Gottes an die Menschen. Die Struktur, dass ein Gesandter „ruft“ (21:76.83.97.89) und Gott ihn „erhört“ (21:76.84.88.90), verknüpft die Gesandten Noah, Ijob, Jona und Zacharias miteinander. Obwohl Sure 21:87–88 Jona nicht explizit „Gesandter Gottes“ nennt, regt die Auflistung in den Prophetenerzählungen die Wahrnehmung Jonas als Prophet an. Die Jona-Perikope in Sure 21 unterstreicht, dass Gesandte Gottes auch frevlerisch handeln und nicht unfehlbar sind. Nirgendwo sonst lehnt sich Jona so offenkundig gegen Gott auf, denn Jona „dachte, dass Wir ihn nicht einschränken können.“ (21:87) Das Verb „einschränken“ steht im Koran im Kontext von Gottes 735 736

Kandil 1992, S. 49; el Omari 2019, S. 48. Neben der Jona-Perikope ist es die einzige Episode, in der Erkennungsmerkmale anstelle des Namens angeführt sind. Der Name „Maria“ kommt hier nicht vor. Sie ist diejenige, „die ihre Scham hütete“, Gottes „Geist“ empfing und mit ihrem „Sohn“ ein „Zeichen für die Welten“ ist (Sure 21:91).

3.6.4 Novum: Zentralität des monotheistischen Glaubensbekenntnisses

167

Macht (22:74), der irdische Lebensgüter einschränken kann. Leugner unterschätzen die Macht Gottes, so auch Jona, der denkt, dass Gott ihn nicht einschränken kann bzw. „keine Macht über ihn verfügt“ (Karimi). Neben Jonas Ruf „Gewiss ich, ich war einer der Frevler!“ (21:87) erklingen diese Worte noch vier weitere Male in Sure 21, und zwar aus dem Mund der frevlerischen Städte (21:14), der „tauben“ Menschen, die nicht auf Gottes Offenbarung hören (21:16), der Götzendiener als Anklage gegen Abraham (21:59.64) und der reuenden Leugner (21:97). Jona ordnet sich mit seinen Worten in eine Reihe von Leugnern und Götzendienern ein. Doch sein Lobpsalm zeugt von seiner Umkehr: „Kein Gott außer Dir! Lobpreis Dir!“ Der Begriff „Umkehr“ kommt zwar nicht explizit vor, dennoch geht Rubin davon aus, dass Jonas Schuldbekenntnis in 21:87 seine Umkehr kennzeichnet.737 „Lobpreis Dir!“ ist ein monotheistisches Bekenntnis, das, unter anderem, Mose (7:143), die Engel (34:41; 2:32) und die Gläubigen (10:10) sprechen. Das monotheistische Bekenntnis „Kein Gott außer Dir!“ kommt sehr häufig in der Form „Kein Gott außer ihm!“ (73:9; 63:13; 27:26; 2:163 usw.) vor und gilt als der Kern des islamischen Glaubensbekenntnisses.738 Dieses bedeutende Bekenntnis steht nur einmal mit dem Personalpronomen „Dir“ (arab. anta) im Koran. Dadurch erscheint das monotheistische Bekenntnis in Sure 21:87 persönlich und dialogisch. Jona spricht Gott direkt an und er scheint Gottes Selbstaussage „Kein Gott ist außer mir! So dienet mir“ (21:25) zu beantworten und zu bekräftigen.739 Er kommt Gottes Appell nach und dient Gott durch sein monotheistisches Bekenntnis und seinen Lobpreis. Die Koran-Rezitatoren betonen „Kein Gott außer Dir!“ durch Pausen und Dehnung der Worte im besonderen Maße (Al-Afasy; Al-Ghamdi).740 Der koranische Lobpsalm Jonas ähnelt dem biblischen Jona-Psalm (Jona 2), setzt jedoch auch eigene theologische Akzente. Jonas Lobpsalm in Sure 21 ist zuvorderst ein monotheistisches Glaubensbekenntnis und Lobpreis, worauf sein Schuldbekenntnis folgt. In der Bibel ist der Jona-Psalm ein Dank- und Klagepsalm. In Jona 2 stehen Jonas Not sowie Gottes Rettung im Mittelpunkt und nicht Jonas monotheistische Bekenntnis. Der Aspekt der Rettung sticht auch in der koranischen Jona-Perikope hervor. In Sure 21 rettet Gott die Leute der Mahnung (21:9), Abraham und Lot (21:71.74), Noah und sein Haus (21:88). In der Jona-Perikope kommt das Verb „retten“ zweimal vor. Gott rettet neben Jona auch alle Gläubigen, die „so“ wie Jona handeln: Sich im Lobpreis Gott zuwenden und von frevlerischen Wegen umkehren. Es geht um Jonas und nicht um Ninives Umkehr. Jonas Bekenntnis zum einzigen Gott sowie sein Lobpreis erheben ihn vom Frevler zum Gläubigen und bewirken Gottes Rettung aus der Not. Der Lobpsalm ist nicht nur auf Jonas Situation bezogen. Stattdessen umfasst dieser koranische 737 738 739 740

Rubin 2004b, S. 430. Gnilka 2004, S. 47. Johns 2003, S. 61. Al-Afasy; Al-Ghamdi.

168

3.6 Jona-Rezeption in Sure 21:87–88

Grundaussagen der Gotteszuwendung: Das Bekenntnis zum einzigen Gott, Lobpreis und Schuldbekenntnis.

3.6.5 Elementare Strukturen von Sure 21: Jonas Lobpsalm als exemplarische Umkehr – –





In Sure 21 sind Jonas Lobpsalm und Gottes Rettung von Bedeutung. Es geht um Jonas und nicht um Ninives Umkehr. Im Gegensatz zur alttestamentlichen Jona-Erzählung ist in Sure 21 eine eindeutige Entwicklung vom zornigen zum geretteten Jona erkennbar, wobei der Lobpreis den Wendepunkt vom Frevler zum Gläubigen darstellt. Frevler können durch ein lobpreisendendes Bekenntnis zum einzigen Gott und ein Schuldeingeständnis auf Gottes Rettung hoffen. Jona befindet sich in der „Finsternis“, die sinnbildlich für den Fisch, aber auch für Gottesferne steht. Jona nimmt seine Situation zugleich als Not und Rettung wahr. Bevor Gott ihn rettet, spricht Jona bereits sein Gotteslob aus (vgl. Jona 2). Die Erzählung ist offen und mehrdeutig. Die allgemeingültigen Lehren für Frevler und Gläubige und nicht die individuelle Erzählung über Jona stehen im Vordergrund. Der Lobpsalm umfasst koranische Grundaussagen der Gotteszuwendung: Das lobpreisende Bekenntnis zum einzigen Gott und das Schuldeingeständnis. Nicht der einzigartige wundersame Aufenthalt Jonas, sondern das Gefühl von Not und Rettung stehen im Mittelpunkt. Jona spricht als exemplarischer Frevler, der sich Gott zuwendet. Jona ist sowohl Vorbild für Muhammad als auch für einen jeden Gläubigen.

3.7

Jona-Rezeption in Sure 10:98 98

Und warum gab es nicht eine Stadt, die glaubte, sodass ihr Glaube ihr genützt hätte außer Jonas Volk? Als es glaubte, entfernten Wir von ihnen die Strafe der Ungnade im Leben auf Erden und Wir gestatteten ihnen Lebensgenuss für eine Weile.

3.7.1 Kontext: Gottes Zeichen

169

Die spätmekkanische Sure „Yūnus“ (Jona) hat einen dreiteiligen Aufbau (I 10:1– 70 II 10:71–98 III 10:99–109) in dessen Zentrum die Prophetenerzählungen stehen.741 Obwohl Sure 10 den Titel „Jona“ trägt, ist die Jona-Perikope nur auf einen Vers am Ende des mittleren Abschnitts als letzte Prophetenerzählung beschränkt. Meistens sind die Suren nach einem sich wiederholenden Leitwort, das bereits im ersten Vers vorkommt, benannt, aber die Prophetennamen gelten ebenfalls als beliebte Surennamen aufgrund der Signifikanz der Propheten im Koran.742 Neben der Sure „Jona“ gibt es vier weitere Suren, die nach biblischen Propheten benannt sind: Joseph (12), Abraham (14), Maria/Mirjam (19) und Noah (71). Alle fünf sind alttestamentliche Figuren, die auch im Neuen Testament vorkommen. Maria fällt als Frau und neutestamentliche Figur auf. Ihre Verbindung zum Alten Testament verläuft über die typologische Vernetzung mit der Prophetin Mirjam im Koran.743 Von diesen fünf Suren stellt die Sure „Jona“ die späteste Offenbarung Gottes dar und ist gemeinsam mit Sure „Joseph“ am längsten. In Sure 10 treten neben Jona noch die biblischen Figuren Mose, Aaron, der Pharao und Noah auf. Die Mose-Aaron-Pharao-Episode (10:75–93) ist die längste Prophetenerzählung in Sure 10, dennoch ist die Sure nach Jona benannt. Vermutlich, da im Jona-Vers mit dem Glauben an Gott das wichtigste Thema von Sure 10 prägnant hervorsticht. Deshalb gilt 10:98 auch als Höhepunkt der Sure.744 Die Perikope sticht unter allen Jona-Perikopen hervor, weil der Schwerpunkt einzig auf der kollektiven Perspektive des Volkes liegt. Die individuelle Perspektive Jonas und seine Interaktion mit Gott ist irrelevant.

3.7.1 Kontext: Gottes Zeichen Sure 10 setzt mit der Buchstabenfolge Alif Lām Rā (arab. muqatta’at „unverbundene Buchstaben“) ein. Sie verbindet Sure 10 mit den Suren 11, 12, 14 und 15, denn alle fangen mit derselben Buchstabenfolge an. Identische Buchstabenfolgen am Anfang der Suren kennzeichnen bewusste inhaltliche Vernetzungen.745 In allen fünf Suren stehen Prophetenerzählungen über biblische und nicht-biblische Figuren. Keine der Figuren tritt in allen fünf Suren auf. „Abraham“ kommt in vier Suren (11, 12, 14, 15) und damit am häufigsten vor. Sure 10 (Jona), 11 (Hud), 12 (Joseph) und 14 (Abraham) sind nach Propheten benannt, Sure 15 (alHidschr) nach dem arabischen Volk Thamūd, zu dem der Prophet Ṣāliḥ geht.746 Die Prophetenerzählungen sind eingebettet in die Kommunikation zwischen 741 742 743 744 745 746

Koloska 2020; Burge 2017b, S. 599. Kandil 1992, S. 49. Neuwirth 2020c. Koloska 2016, S. 92; Johns 2003, S. 65. Sinai 2020. Bobzin 2010, S. 685.

170

3.7 Jona-Rezeption in Sure 10:98

Gott und Muhammad und dienen der Erinnerung, Mahnung und Stärkung. In allen fünf Suren steht der Begriff „Zeichen“ (arab. āyat) direkt zu Beginn (10:1; 11:1; 12:1; 14:5; 15:1) und ist mit der „Schrift“ (arab. kitāb) verknüpft. Die Zeichen der Schrift gelten als göttliche Beweise und Hinweise. Der Begriff „Zeichen“ (arab. āyat) kommt häufig in Sure 10 vor (18-mal) und ist syntaktisch mit dem Substantiv „Glauben“ verknüpft. Der Begriff „Glaube“ ist mit 30 Vorkommnissen ein Hauptaspekt der Sure. In jedem Volk (arab. qawm 16-mal) gibt es Gläubige und Leugner, die einen glauben an Gottes Zeichen, die anderen lehnen sie ab. Gott stärkt Muhammad mit den Prophetenerzählungen, die zeigen, dass es auch den früheren Gesandten ähnlich erging. Auch sie brachten Zeichen, die Menschen ablehnten. Gott entlastet Muhammad, indem er die Verantwortung von ihm nimmt. Nicht Muhammad, sondern Gott ist verantwortlich für das Heil der Menschen (10:108).747 Im endzeitlichen Gericht entscheidet und richtet Gott. Die Kontraste zwischen diesseitigem und jenseitigem Leben, Schöpfung und Neuschöpfung, Frevlern und Gläubigen, Strafe und Lohn, Vielgötterei und Monotheismus stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander.

3.7.2 Intertextuelle Anknüpfungen: der Glaube eines ganzen Volkes (Jona 3) im Kontrast zur Zeichenleugnung (Mt 12; Mt 16; Lk 11) Der Glaube eines ganzen Volkes und Gottes Reaktion ist in Sure 10:98 zentral. Jonas Volk sticht als Stadt, „die glaubte, sodass ihr Glaube ihr genützt hätte“ (10:98) hervor. Neben Jonas Volk gibt es keine andere Stadt, die glaubte. Viele bekannte Koran-Rezitatoren betonen die Einzigartigkeit von Jonas Volk, indem sie den Vers „außer Jonas Volk“ doppelt erklingen lassen (Al-Ghamdi; Basfar).748 Ebenso handelt es sich in Jona 3,5–10 um eine außergewöhnliche Begebenheit. Im biblischen Text gibt es zwar keinen direkten Vergleich zu anderen Völkern, doch die sofortige und allumfassende Umkehr des Volkes erscheint einzigartig. Jona ruft ein kurzes Unheilswort aus (Jona 3,4) und Ninive glaubt sofort an Gott (Jona 3,5) ohne Rückfragen zu stellen. Alle nehmen bedingungslos an der Umkehr teil. Die Verwendung des Adverbs „alle“ (Jona 3,7) sowie die Aufzählung sämtlicher Teilnehmer an der Umkehr „Groß und Klein“ (Jona 3,5), der „König“ (Jona 3,6), „Menschen und Tiere“ (Jona 3,7.8), „Rinder, Schafe und Ziegen“ (Jona 3,7) unterstreicht in Form einer Hyperbel, dass sich alle, das ganze Volk mitsamt den Tieren, Gott durch Umkehr zuwenden. Obwohl der Begriff „Umkehr“ nicht in 10:98 vorkommt, gilt das Verhalten von Jonas Volk als einzigartiges Beispiel

747 748

Rubin 2004a, S. 300. Al-Ghamdi.

3.7.2 Intertextuelle Anknüpfungen an Jona 3; Mt 12; Mt 16; Lk 11

171

der kollektiven Umkehr.749 In Sure 10:98 spielt das Fasten als Umkehrritual keine Rolle, stattdessen ist der Glaube die Schlüsselstelle. Auch im alttestamentlichen Jona-Buch kommt der Begriff „glauben“ (hebr. aman Jona 3,5) vor und steht als Ausgangsbedingung vor den Fastenritualen. Neben der kollektiven spielt die theologische Perspektive eine wichtige Rolle in beiden Perikopen. Sowohl Jona 3 als auch 10:98 enden mit der Perspektive Gottes. Der Glaube steht in Jona 3 zu Anfang, darauf folgt die Umkehr Ninives und die biblische Szene schließt mit Gottes Umkehr ab. Gott sieht Ninives Umkehr und kehrt selbst um, indem er das angedrohte Unheil abwendet (Jona 3,10). Genau wie im alttestamentlichen JonaBuch reagiert Gott im Koran auf den Glauben des Volkes, indem er „von ihnen die Strafe der Ungnade im Leben auf Erden“ (Sure 10:98) abwendet. Neben der eindeutigen intertextuellen Verknüpfung von Jona 3 und Sure 10:98, ist dem Jona-Vers eine Seesturmepisode (10:22–23) vorangeschaltet, die an Jona 1 anknüpft, aber zugleich auch auf Noahs „Schiff“ (arab. ful'k) in 10:73 vorausweist. Sure 10:22–23 ähnelt Jona 1 insofern, dass die Schiffsbesatzung in einer Notsituation zu Gott ruft, glaubt und Gott für die Rettung dankt (Jona 1,14.16; Sure 10:22). Das Schiff symbolisiert Rettung (Sure 10:22.73). In 10:73 rettet Gott Noah und alle, die an seine Zeichen glauben. Während die Seesturmepisode in Jona 1 nach dem Dank der Seeleute endet, folgt in 10:23 der Rückfall der Rufenden und Dankenden zum „Unrecht“. Das spiegelt Muhammads Erfahrungen mit seinen Zeitgenossen wider. Die Schiffsepisode als Erfahrung von Not und Gottes Rettung knüpft an die biblische Jona-Erzählung an und verbindet sie mit der Noah-Erzählung und den Erfahrungen Muhammads. Das Schiff ist ein Motiv einer spezifischen biblischen Erzählung, und darüber hinaus ein universales Zeichen Gottes für Not und Rettung. Nicht nur das Schiff ist ein Zeichen Gottes in Sure 10. Die Zeichenforderung spielt im Kontext der Jona-Perikope in Sure 10 eine wichtige Rolle, ebenso wie in den neutestamentlichen Jona-Perikopen. Der Begriff „Zeichen“ (arab. āyat) kommt mit 382 Erwähnungen sehr häufig im Koran vor und hat immer eine theologische Komponente. Sowohl die Verse des Korans (83:13; 68:15; 62:2; 45:25; 31:2.7) als auch Gottes Schöpfung von Himmel, Erde (30:20.25; 29:44) und Menschen (30:21), seine Liebe und Barmherzigkeit (30:21) oder auch Jesus (21:91; 19:21) gelten als göttliche Zeichen. In Sure 10 kommt der Begriff 18-mal vor.750 Der Zeichen-Diskurs verknüpft alle drei Abschnitte (I 10:1–70 II 10:71–98 III 10:99–109) miteinander. Der Begriff steht besonders häufig direkt zu Beginn der Sure im ersten Abschnitt. Die Schrift und die Schöpfung sind gleichermaßen Zeichen Gottes, die fortwährend von Gottes Präsenz zeugen. Dennoch leugnen Frevler die Zeichen Gottes und fordern andere Zeichen (10:17.20). Selbst Gottes Rettung aus der Not reicht nicht aus, dass die Menschen an Gottes Zeichen glauben (10:21). Gott parallelisiert Muhammads Erfahrungen der Ablehnung mit den 749 750

Rubin 2004b, S. 429; Basfar. Sure 10:1.5.6.7.15.17.20.21.24.67.71.73.75.92.92.95.97.101.

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3.7 Jona-Rezeption in Sure 10:98

Erfahrungen der früheren Gesandten. Noah, Mose und Aaron haben Gottes Zeichen zu den Menschen gebracht (10:71.75). Die Erzählungen über die Gesandten sollen Muhammad stärken, denn auch er erlebt, dass viele Menschen die Zeichen Gottes ablehnen. Trost und Hoffnung gehen ineinander über. Im letzten Abschnitt spendet Gott Muhammad Trost, denn die Leugner erkennen Gott trotz aller Zeichen nicht an (10:97.101). Gott fordert Muhammad auf: „Sei keinesfalls einer, der die Zeichen Gottes Lüge nennt.“ (10:95) In den neutestamentlichen Jona-Perikopen geht es ebenfalls um die Leugnung der Zeichen und die daraus resultierenden Konsequenzen im endzeitlichen Gericht. Jesus verkündet mit dem Zeichen Jonas die Kontinuität der Gottesbotschaft. Wie im Neuen Testament fordern die Leugner andere Zeichen. Doch Muhammad soll und kann nichts Anderes verkünden als die fortwährende Gottesbotschaft (10:15). Sowohl im Matthäus- und Lukasevangelium als auch in Sure 10 stehen die Jona-Perikopen im Kontext von Zeichenforderungen. Die Jona-Erzählung ist Zeichen der beständigen Botschaft Gottes und verdeutlicht den HörerInnen und LeserInnen sowohl im neutestamentlichen als auch koranischen Kontext, dass Ninive (Mt 12,41; Lk 11,32) bzw. Jonas Volk (Sure 10:98) auf die Botschaft Gottes gehört haben. Wie im Matthäus- und Lukasevangelium stellt Sure 10:98 den Starrsinn der gegenwärtigen Generation durch den Vergleich mit Ninive bzw. Jonas Volk heraus.751 Ninive bzw. Jonas Volk dient als positives Beispiel der Umkehr (Mt 12,41; Lk 11,32) und des Glaubens (Sure 10:98).

3.7.3 Akzentverschiebung: Von der Jona-Figur zum Gottesglauben des Volkes Es fällt auf, dass in Sure 10:98 anstelle der individuellen die kollektive und theologische Perspektive im Vordergrund steht. Die einzelnen Handlungen Jonas (Flucht, Gebet, Botschaft, Zorn, Verlassen der Stadt und Bau eines Laubdaches) spielen keine Rolle. Nach Neuwirth nehmen „die im Koran wieder auftauchenden biblischen Figuren […] selten die Dimension von autonom handelnden Helden an[…].“752 In Sure 37 erscheinen Jonas Handlungen wichtig, doch in Sure 10 sind sie vollkommen ausgeblendet. Der Schwerpunkt des Jona-Verses und von Sure 10 insgesamt liegt auf dem Glauben an Gott. Der Aspekt des Glaubens ist im biblischen Text auf Ninive als kollektive Größe bezogen. Das Volk und nicht der Prophet dient den LeserInnen und HörerInnen in beiden Texten als Glaubensvorbild. Sure 10:98 setzt mit dem Glauben des Volkes ein. Es gibt keine Vorgeschichte, warum und wie das Volk zum Glauben kam. 10:98 erzählt weder von 751 752

Reynolds 2010, S. 129. Neuwirth 2010, S. 603.

3.7.4 Novum: „Jonas Volk“ anstelle Ninives

173

Jonas Sendung (Jona 1,1–3; Sure 37:147) noch von seiner Botschaft (Jona 3,4). Zwar charakterisiert Gott das Volk als „Jonas Volk“ und schafft dadurch ein Verhältnis zwischen Jona und dem Volk, doch inwiefern sie aufeinander einwirken ist unbekannt. Das bildet einen Kontrast zu den anderen beiden Prophetenerzählungen in Sure 10, in denen Noah, Mose und Aaron als Gesandte Gottes zu ihrem Volk sowie zum Pharao und seinen Ältesten sprechen (10:71.75). Jona kommt in 10:98 nicht zu Wort und tritt nicht als handelnde Figur auf. Der Name „Jona“ fungiert lediglich als Genitivattribut, um das Volk näher zu bestimmen. Es ist Jonas Volk und damit ein Volk zu dem Gott einen Gesandten schickte. Selbst der Titel „Gesandter“ und Jonas Sendung bleiben unerwähnt. Die Erzählung ist auf einen einzigen Aspekt ausgerichtet: Auf den Gottesglauben des Volkes.

3.7.4 Novum: „Jonas Volk“ anstelle Ninives In Sure 10:98 sticht hervor, dass es sich um Jonas Volk und nicht um Ninive handelt. In der Bibel ist Ninive ein fremdes Volk, dessen „Bosheit“ zu Gott heraufgedrungen ist (Jona 1,2). In den neutestamentlichen Perikopen ist Ninive nicht negativ konnotiert, dennoch ist es nicht Jonas Volk, sondern ein auswärtiges Volk. Die Parallelisierung mit der ausländischen Königin des Südens unterstreicht, dass Ninive ein Beispiel für ein fremdländisches Volk darstellt. In der Bibel handelt es sich um einen Diskurs über Gottes universale Zuwendung, selbst ein fremdes, gar böses Volk erfährt Gottes Gnade, weil er Mitgefühl mit der gesamten Schöpfung hat (Jona 4,11). Die Zuschreibung „Jonas Volk“ in 10:98 setzt einen anderen Schwerpunkt. Die Grenze verläuft nicht zwischen dem eigenen und fremden Volk, sondern zwischen Glauben und Ablehnung. Jonas Volk ist das einzige Beispiel im Koran, dass diese Grenze sprengt, denn alle glauben. Außerdem weist der Ausdruck „Jonas Volk“ auf einen typischen Zug der koranischen Prophetie hin. Gott sendet zu jeder Gemeinschaft einen Gesandten (10:47). Der jeweilige Prophet entstammt aus der Mitte des Volkes (7:35), deshalb hat das Volk wenig Grund, dem jeweiligen Propheten zu misstrauen.753 Jedes Volk hat einen Gesandten (28:75; 18:84; 13:7; 10:47), der in der Sprache des Volkes die Botschaft Gottes klar und verständlich überbringen kann (14:4). In der alttestamentlichen Jona-Erzählung erstaunt die Reaktion Ninives, weil sie ausnahmslos auf die Worte eines fremden Mannes hören, ohne Rückfragen zu stellen. Das biblische Ninive sprengt die Grenze zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘, indem es sich bedingungslos der Botschaft Gottes zuwendet. Sure 10:98 greift diesen Diskurs nicht auf, sondern verlagert ihn auf die Unterscheidung zwischen „Glaube“ und „Ablehnung“, die auch sonst im Koran von hoher Bedeutung ist.

753

Kadi und Mir 2003, S. 212.

174

3.7 Jona-Rezeption in Sure 10:98

Der Jona-Vers ist Trost und Mahnung zugleich: Trost für alle Gläubigen, dass Gott sie verschont, Mahnung an alle Leugner. Es fällt auf, dass Gottes Verschonung auf das irdische Leben befristet ist. Die Vers-Abschlüsse von 10:98 und 37:148 sind fast identisch.754 Gott gestattet Lebensgenuss „für eine Weile“ und das zukünftige Gericht Gottes ist nicht ausgeschlossen. Der Aspekt der Befristung kommt in 10:98 stärker als in der alttestamentlichen Erzählung zum Ausdruck. Zwar erfahren die LeserInnen und HörerInnen im Kontext des Zwölfprophetenbuches, dass Gott Ninive zerstört (Nah 2), doch im Jona-Buch erscheint Gottes Umkehr und Verschonung Ninives nicht befristet. Die Spannung zwischen irdischer und jenseitiger Rettung prägt 10:98. Der Glaube allein ist keine Garantie für die jenseitige Rettung des Volkes. Vor ihrem Glauben lag „die Strafe der Ungnade“ (10:98) auf Jonas Volk. Jedoch erfahren LeserInnen und HörerInnen nicht mehr über die Gründe der Strafe. Der Begriff „Ungnade“ (arab. khiz' elfmal) kommt selten im Koran vor. Die Strafe der Ungnade trifft Frevler, Götzendiener und Menschen, die Gott, seine Gesandten und Zeichen leugnen (41:16; 39:26; 22:9; 16:27; 11:66; 9:63; 5:33.41; 2:85.114). Es handelt sich sowohl um irdische als auch um jenseitige Strafen Gottes. Der Begriff „Ungnade“ weist auf früheres Fehlverhalten von Jonas Volk hin. Das scheint der Grund für Gottes befristete Verschonung zu sein. Jonas Volk gilt zwar als Paradebeispiel der Hinwendung zu Gott im Glauben, dennoch ist es nicht durchweg positiv konnotiert.

3.7.5 Elementare Strukturen von Sure 10: Das gesamte Volk Jonas glaubt –





754

Die kurze Jona-Perikope in der Sure 10 „Jona“ unterscheidet sich von allen anderen Jona-Perikopen im Koran. Nicht Jonas individuelle Perspektive, sondern der kollektive Glaube eines ganzen Volkes und Gottes Reaktion ist in Sure 10:98 zentral. In Sure 10:98 handelt es sich nicht um das Volk Ninive, sondern um Jonas Volk. Das impliziert eine Beziehung zwischen Jona und dem Volk. Die Erzählung ist auf einen einzigen Aspekt ausgerichtet: auf den Gottesglauben des Volkes. Im Gegensatz zu allen anderen Völkern im Koran glaubt das gesamte Volk Jonas. Das Volk und nicht der Prophet dient LeserInnen und HörerInnen als Glaubensvorbild. Das Volk (Ninive/Jonas) dient als positives Beispiel der Umkehr (Mt 12,41; Lk 11,32) und des Glaubens (Sure 10:98), dennoch ist Jonas Volk nicht durchweg positiv konnotiert im Koran. Gottes befristete Aufhebung der „Strafe

Lediglich die Konjunktion in Sure 10:98 ändert sich von einer Konjunktion der zeitlichen Abfolge „da“ (arab. fa Sure 37:148) zu einer verbindenden Konjunktion „und“ (arab. wa).

3.8.1 Kontext: Prophetenliste von Abraham bis Muhammad



– –

175

der Ungnade“ deutet an, dass Jonas Volk vorher unrecht gehandelt hat und eine jenseitige Strafe Gottes nicht ausgeschlossen ist. Jonas Sendung zu seinem Volk ist ein typischer Aspekt der koranischen Prophetie, denn Gott sendet zu jeder Gemeinschaft einen eigenen Gesandten, sodass kein Volk einen Grund hat, Gottes Botschaft und den Propheten zu misstrauen und abzulehnen. Neben der kollektiven ist auch die theologische Perspektive von Bedeutung. Gott reagiert auf den Glauben des Volkes, indem er es verschont. Außerdem teilt Sure 10 eine paränetische Lehre mit den neutestamentlichen Jona-Perikopen: die Mahnung vor der Leugnung der Zeichen Gottes. Die Gesandten sind Zeichen Gottes und wie in den neutestamentlichen JonaPerikopen heißt es in Sure 10, dass viele Menschen die Zeichen Gottes ablehnen und immer wieder neue Zeichen fordern. Die Rezeption der Jona-Erzählung gilt als ein Zeichen von Gottes beständiger Botschaft.

3.8

Jona-Rezeption in Sure 6:86 86

Und Ismael und Elischa und Jona und Lot und alle: Wir stuften sie hoch über die Welten.

Der Jona-Vers in Sure 6 „al-an’ām“ (Das Vieh) besteht aus acht Wörtern und ist damit die kürzeste Jona-Perikope im Koran. Obwohl es sich in diesem Vers ‚nur‘ um eine Aufzählung mehrerer Gesandter Gottes handelt, erscheint eine Betrachtung dennoch sinnvoll, weil die Charakterisierung Jonas eine einzigartige Botschaft im Kontext aller koranischen Jona-Perikopen darstellt. Sie trägt dazu bei, eine chronologisch-kanonische Entwicklungslinie zu verfolgen. Sure 6 gilt als eine der letzten Offenbarungen in der spätmekkanischen Periode.755 Die JonaPerikope ähnelt der medinensischen Sure 4 am stärksten, setzt jedoch auch eigene Akzente.

3.8.1 Kontext: Prophetenliste von Abraham bis Muhammad Sure 6 lässt sich in drei Abschnitte einteilen (I 6:1–73 II 6:74–90 III 6:91–165). Abschnitt I und III sind polemische Auseinandersetzungen zwischen Muhammad und seinen Gegnern, zwischen Gläubigen und Frevlern. Muhammad ist mit Ablehnung und Leugnung konfrontiert. Wie in Sure 10 spielen die „Zeichen“ (32755

Koloska 2020.

176

3.8 Jona-Rezeption in Sure 6:86

mal) Gottes eine bedeutende Rolle. Die Prophetenerzählungen in der Mitte der Sure zeugen von der Konsequenz für Leugner, aber auch vom Lohn Gottes für die Gläubigen. Gott erwählt die Gesandten, leitet sie auf dem rechten Weg und stellt sie und ihre Nachkommen höher als andere Menschen (6:86–87). Die Propheten sind listenartig aneinandergereiht, nur die Abraham-Perikope stellt mit zehn Versen eine eigenständige Erzählung dar. Hauptthemen der Sure sind der Monotheismus, das Wissen (Gottes) und die Schöpfung Gottes. Zudem ist die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge wichtig und im letzten Abschnitt stehen (Speise-)Gebote Gottes. Insgesamt zeigt sich, dass Gott die Gesandten wertschätzt, rechtleitet und höherstellt.

3.8.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität: die Namen „Salomo“ und „Jona“ Außer dem Namen „Jona“ (Interfiguralität) gibt es keine direkten intertextuellen Anknüpfungen an die alttestamentliche Jona-Erzählung. Jona ist „Gesandter“ bzw. „Prophet“. Das steht zwar nicht explizit in 6:86, die Prophetenliste (6:74– 90) schlägt es jedoch vor. Die Begriffe „Gesandter“ und „Prophet“ kommen nicht im Kontext der Prophetenerzählungen/-listen in Sure 6:74–90 vor. Die Namen der Gesandten reichen aus, weil der Koran sie in anderen Suren explizit als „Gesandte“ und „Propheten“ bezeichnet. Jona, der Prophet stellt die stärkste intertextuelle Anknüpfung von 6:86 an die biblische Erzählung dar. Wie in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen ist Jona in 6:86 mit anderen alttestamentlichen Figuren parallelisiert. Mt 12,42 und Lk 11,31 führen Salomo gemeinsam mit Jona an. Salomo kommt auch in Sure 6 vor, nicht in demselben Vers, aber in unmittelbarer Nähe zu Jona: „Und Noah, Wir leiteten ihn schon früher recht; und aus seiner Nachkommenschaft: David und Salomo und Ijob und Joseph und Mose und Aaron.“ (6:84) In den neutestamentlichen Perikopen sind Jona und Salomo auf einen Charakterzug typisiert: Jona, der Prophet und Salomo, der Weise. Im Koran gelten beide als Gesandte. Salomo ist von Gott rechtgeleitet und Jona ist von Gott über die Welten gestellt. Beide eint ein intensives Gottesverhältnis.

3.8.3 Akzentverschiebung: Idealisierung Jonas Der Jona-Vers in 6:86 stellt keine eigenständige Erzählung dar. Er ist Bestandteil einer Prophetenliste; Jona handelt nicht aktiv, sondern steht in einer Reihe mit anderen biblischen Figuren. Der Vers selbst bietet wenige Informationen und nur der Kontext, der Jona als Prophet Gottes charakterisiert, knüpft an die alt-

3.8.4 Novum: Jonas Höherstellung und Sukzession

177

testamentliche Jona-Erzählung an. 6:86 weist kaum intertextuelle Verbindungslinien zu der alttestamentlichen Jona-Erzählung auf, aber ebenso wenige zu den koranischen Jona-Rezeptionen. Die einzige Information, dass Gott Ismael, Elischa, Jona, Lot und alle über die Welten stuft, spiegelt sich nicht in den Suren 68, 37, 21 und 10 wider. Diese Suren legen im Gegensatz zu 6:86 auch Jonas fehlbare und frevlerische Seiten offen – in 6:86 aber ist Jona idealisiert.

3.8.4 Novum: Jonas Höherstellung und Sukzession Trotz aller Kürze wirft 6:86 zwei neue Aspekte auf: Jona als einer der Nachkommen Noahs und Abrahams in einer Prophetensukzession, die bis Muhammad reicht sowie Gottes Auszeichnung, Jona hoch über die Welten zu stellen. Sure 6 listet die Figuren in der folgenden Reihenfolge auf: Abraham (6:74), sein Vater Azar756 (6:74), Isaak und Jakob (6:84), Noah (6:84), David, Salomo, Ijob, Joseph, Mose757 und Aaron (6:84), Zacharias, Johannes, Jesus und Elija (6:85), Ismael, Elischa, Jona, Lot und alle (6:86). Die eigentliche Prophetenliste geht von 6:84–86. Alle Figuren sind gleichrangig mit einem „und“ verbunden, wobei in jedem Vers eine spezifische Eigenschaft der aufgeführten Gesandten steht. Alle Figuren in 6:84–86 haben einen biblischen Ursprung und gelten als Nachkommen Noahs bzw. als Nachkommen Abrahams. Die Prophetenliste knüpft an die Abraham-Erzählung (6:74–83) an. Die Worte „Wir schenkten ihm [Abraham] Isaak und Jakob“ (6:84) sind zugleich Abschluss der Abraham-Erzählung und Einleitung der Prophetenliste. Noah gilt als einziger Vorfahre Abrahams, alle anderen sind „Nachkommen“ (arab. dhurriyyat 6:84.133 dhurriyyāt 6:87; „Nachfolge“ arab. khalīfat 6:165 is'takhlafa 6:133). Die Prophetenlisten sind typisch für die spätmekkanischen Suren und bilden eine Prophetensukzession, die von Noah über Abraham, Mose und Jesus (vgl. 6:84–85) bis hin zu Muhammad reicht.758 Sie gelten als Vorbilder Muhammads und ihre Erfahrungen stimmen mit den Erfahrungen Muhammads und seiner Gemeinde überein.759 Muhammad tritt in die Fußstapfen der vorherigen Propheten.760 Die Prophetenliste setzt alle Propheten als Nachkommen Noahs gleich. Die Propheten gelten als ebenbürtige Beispiele.761 Dabei sind die Propheten in Gruppen mit unterschiedlichen Charakteristika eingeteilt: Isaak, Jakob, Noah, David, Salomo, Ijob, Joseph, Mose und Aaron vollbringen als von Gott Rechtgeleitete gute Taten (6:84), Zacharias, Johannes, Jesus und 756 757

758 759 760 761

In der Bibel heißt Abrahams Vater „Terach“ (Gen 11,26). Sure 6:154 erwähnt Mose ein weiteres Mal: „Dann gaben Wir Mose die Schrift als Vollendung für einen, der recht handelte und als Darlegung aller Dinge und als Rechtleitung und Barmherzigkeit, damit sie an die Begegnung mit ihrem Herrn glauben.“ Neuwirth 2010, S. 230. Neuwirth 2010, S. 231. Johns 2003, S. 49. Donner 1998, S. 84.

178

3.8 Jona-Rezeption in Sure 6:86

Elija sind „Rechtschaffene“ (6:85 arab. ṣāliḥ vgl. 68:50) und Ismael, Elischa, Jona und Lot stuft Gott über die Welten (6:86). Die Anordnung der Propheten in Sure 6 entspricht weder einer historischen noch einer biblisch-kanonischen Chronologie. Auch die vorangehenden koranischen Jona-Perikopen weisen nicht auf die Zuordnung Jonas zu Ismael, Elischa und Lot hin. Lediglich Lot ist einmal im Kontext der Jona-Perikopen in Sure 37 angeführt. Hier stehen die Lot- und Jona-Erzählung im Kontrast zueinander: Die Lot-Erzählung legt als Straflegende den Schwerpunkt auf Gottes Vernichtung (37:136), hingegen ist die Jona-Perikope eine Rettungslegende, die vom Glauben der 100.000 und von Gottes Verschonung erzählt (37:148). In 6:86 gibt es keine Unterscheidung zwischen Lot und Jona. Elischa kommt ein weiteres Mal im Koran vor (38:48). Dort steht auch keine Erzählung über Elischa, sondern eine Prophetenliste, in der Elischa neben Ismael und Ḏū l-Kifl als „Rechtschaffener“ gilt. In 38:48 steht Ḏū l-Kifl anstelle der biblischen Figuren Jona und Lot – im Unterschied zu Jona ist Ḏū l-Kifl nicht eindeutig einer (biblischen) Figur zuzuordnen.762 Jedes Mal erwähnt der Koran Ḏū l-Kifl in einer Aufzählung mit Ismael. Er gilt als „Guter“ (38:48), „Rechtschaffener“ (21:86) und „Geduldiger“ (21:85). Der Name „Ismael“ kommt zwölfmal im Koran vor (38:48; 21:85; 19:54; 14:39; 6:86; 4:163; 3:84; 2:125.127.133.136.140). Er gilt als „Rechtschaffener“ (21:86), „Geduldiger“ (21:85) und „Guter“ (38:48). Er ist Gesandter, Prophet und Schriftbesitzer (19:54; 4:163; 3:84; 2:136). Darüber hinaus gilt er neben Abraham, Isaak und Jakob als Stammvater (4:163; 3:84; 2:133.136.140). Gemeinsam mit Abraham errichtet Ismael die Kaaba (2:125.127) und gebietet allen Gläubigen das Gebet und die Armensteuer (19:54; 2:125). Ismael nimmt eine herausragende Stellung im Koran und in der islamischen Theologie ein und Jonas Auflistung in einer Reihe mit Ismael zeugt von höchster Wertschätzung. Die Anordnung in 6:86 lässt kein eindeutiges Muster erkennen. Die vier Figuren sind allesamt biblischen Ursprungs, stehen jedoch in sehr unterschiedlichen Erzählzusammenhängen und biblischen Büchern.763 Im Koran gelten alle vier als Propheten, doch in der Bibel sind nur Jona und Elischa Propheten; Jona ist der einzige Schriftprophet. Während die Wahrnehmung von Jona und Lot im Koran und in der spätantiken Tradition nicht durchweg positiv ist,764 hat Ismael als Stammvater eine einzigartige Stellung im Koran und auch Elischa ist äußerst positiv im Koran konnotiert.765 In 6:86 gelten alle vier als herausragend. Die Konjunktion „und“ (arab. wa) verknüpft alle Figuren miteinander. Auch der Klang des Verses – fünf Wörter, die mit wa beginnen und sechs Wörter, die auf „a“ enden – unterstreicht die Prophetensukzession und Gleichrangigkeit akustisch. Gott erhebt (arab. faḍḍala) alle vier Propheten über die Welten. Neben 762 763

764 765

Bellamy 1996, S. 199; Bobzin 2010, S. 788; Horovitz 1926, S. 113. Ismael kommt zuerst in Gen 16,11 vor, Elischa in 1 Kön 19,16, Jona in 2 Kön 14,25 bzw. Jona 1,1 und Lot in Gen 11,27. Neuwirth 2002a, S. 330; Rubin 2004a, S. 303. Firestone 2002, S. 564; Tottoli 2002.

3.8.5 Elementare Strukturen von Sure 6

179

Ismael, Elischa, Jona und Lot erhebt Gott noch andere Propheten/Gesandte (27:15; 17:55; 2:253) und die Kinder Israels (45:16; 44:32; 7:140; 2:47.122) über die Welten. Diese Höherstellung hängt mit der „Erwählung“ (arab. an‘ama 2:47.122 ikh‘tāra 44:32) und „Gnade“ Gottes (arab. ni'mat 16:71; 2:47.122 vgl. ni'mat in 68:49) zusammen. Propheten und Gesandte gehören dem höchsten menschlichen Rang vor Gott an. Das gilt als ein Zeichen von Gottes Gnade (5:20).766 Das Verb „höherstellen“ (arab. faḍḍala) teilt eine Wurzel mit dem Substantiv „Gnade“ (arab. faḍl). Gottes Höherstellung von Propheten, Gesandten, den Kindern Israels und anderen Gläubigen ist semantisch und syntaktisch mit Gottes Gnade verknüpft. An die Prophetenliste „Und Ismael und Elischa und Jona und Lot“ schließt die Ergänzung „und alle“ (6:86) an. Gott stuft neben den vier Propheten aus 6:86 alle Propheten, die in Sure 6 aufgelistet sind, „hoch über die Welten.“ Die Ergänzung „und alle“ betont die Gleichrangigkeit aller Propheten. Das relativiert die Einteilung in Teilgruppen. Im Kontext der Prophetenlisten in Sure 6 ist die Höherstellung auf die Propheten bezogen, ansonsten sind es im Koran aber nicht nur die Propheten, sondern alle, die an Gott glauben, denn Gott erhöht, „wen Er will“ (12:76; 2:253). Die Prophetenlisten sind Trost für Muhammad. Er erleidet Spott von seinen Gegnern, die ihm vorwerfen, ‚nur‘ ein Mensch zu sein. Die Prophetenlisten heben einerseits die Einzigartigkeit der Gesandten Gottes hervor, sie suggerieren andererseits aber auch Gleichrangigkeit und Kontinuität. Der Aspekt der Parallelisierung der Propheten wiegt stärker als die Unterscheidung zwischen den Teilgruppen. So wie die vorherigen Gesandten erfährt auch Muhammad Gottes Gnade und reiht sich den Rechtgeleiteten (6:84), Rechtschaffenen (6:85) und denen, die über die Welten höhergestellt sind (6:86), ein. Jona und die anderen Propheten sind Vorgänger und Vorbilder Muhammads, die ihn auf seinem Weg mit Gott stärken.

3.8.5 Elementare Strukturen von Sure 6: Prophetensukzession bis Muhammad –



766

Jona, der Prophet stellt die intertextuelle Anknüpfung von 6:86 und der biblischen Jona-Erzählung dar. In 6:86 steht Gottes Erwählung und Höherstellung der Gesandten als Zeichen seiner Gnade im Vordergrund und nicht Jonas Handlungen. Wie in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen ist Jona in 6:86 mit anderen alttestamentlichen Figuren parallelisiert, unter anderem mit Salomo (vgl. Mt 12; Lk 11). Das intensive Gottesverhältnis von Jona und Salomo als Gesandte Gottes, als von Gott rechtgeleitet und über die Welten gestellt, Rubin 2004a, S. 290.

180



3.9

3.8 Jona-Rezeption in Sure 6:86 stellt die Parallele der beiden alttestamentlichen Figuren in Sure 6 dar. Beide sind, wie auch in den neutestamentlichen Rezeptionen, idealisiert. Der Jona-Vers in 6:86 ist die kürzeste Jona-Perikope im ganzen Koran. Er ist Bestandteil einer Prophetenliste und stellt keine eigenständige Erzählung dar. Trotz aller Kürze wirft 6:86 zwei neue Aspekte auf: Jona als einer der Nachkommen Noahs sowie Abrahams in einer Prophetensukzession, die bis Muhammad reicht und Gottes Auszeichnung, Jona sowie die Propheten hoch über die Welten zu stellen. Jona und die anderen Propheten sind Muhammads Vorgänger und Vorbilder und zeugen von Gottes Gnade

Jona-Rezeption in Sure 4:163 163 Gewiss, Wir offenbarten dir so, wie Wir offenbarten Noah und den Propheten nach ihm. Und Wir offenbarten Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen und Jesus und Ijob und Jona und Aaron und Salomo und Wir gaben David den Psalter.

Die chronologisch letzte Jona-Perikope steht im letzten Abschnitt der medinensischen Sure 4 „al-nisā’“ (Die Frauen).767 Sie besteht genau wie die Jona-Perikopen in 10:98 und 6:86 nur aus einem Vers, ist jedoch mit 25 Wörtern die längste einversige Jona-Perikope. Der Name „Jona“ ist in einer Prophetenliste angeführt.768 Neben Jona sind zehn weitere biblische Figuren aufgelistet.

3.9.1 Kontext: Glaube an Gott und seine Gesandten Sure 4 besteht aus zwei Großabschnitten (I 4:1–130.176 II 4:131–175). Der erste und ausführlichere Abschnitt (4:1–130) umfasst zahlreiche Gebote Gottes für einen maßvollen Umgang mit der Schöpfung und miteinander (Heirat, Erbe, Ehebruch, Scheidung, Prostitution, Gebet, Reinheitsgebote/Waschung, (Selbst-) Mord, Handel, der Umgang mit Eltern, Verwandten, Armen und Waisen). Die Gebote gelten den Gläubigen als „Schranken Gottes“ (4:13). 4:131–176 knüpft durch die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Leugnern an den ersten Abschnitt an. 4:153–172 ist eine Konkretisierung dieses zweiten Abschnitts: Die Erfahrungen der vorherigen Gesandten dienen Muhammad und seiner Gemeinde als Beispiel. Der letzte Vers der Sure (4:176) kehrt zum Erbrecht zurück. Gottes 767 768

Asad 2013, S. 146. Hoheisel 1996, S. 615; Nasr et al. 2015, S. 265.

3.9.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität

181

Gebote rahmen den Abschnitt II (4:131–175), der einen Aus- und Rückblick auf den irdischen und jenseitigen Lohn für die Einhaltung von Gottes Geboten gibt. Im Zentrum der Perikope steht der „Glaube“ (64-mal) an Gott. Gott hat seine „Schrift“ (24-mal), seine „Offenbarung“ (dreimal), „Weisheit“ (22-mal) und „Wissen“ (27-mal) seinen „Gesandten“ (31-mal) und „Propheten“ (dreimal) „herabgesandt“ (15-mal) bzw. „gegeben“ (35-mal).769 Menschen, die glauben, wenden sich Gott im „Gebet“ (elfmal) zu, „gehorchen“ ihm und seinen Gesandten (zehnmal). Sie „fürchten“ (siebenmal) Gott, „kämpfen“ (25-mal) für ihn und gehen auf Gottes „Wegen“ („Weg“ 27-mal „Wege Gottes“ zehnmal). Sure 4 ist eine leidenschaftliche und verbindliche Anrede Gottes an die Menschen („O ihr Menschen!“ 4:1.170.174, „O ihr, die ihr glaubt!“ 4:19.29.43.59.94. 135.136.144, „O ihr Schriftbesitzer!“ 4:47.171). Die Kommunikation Gottes mit Muhammad ist auf alle Menschen, vor allem auf alle Gläubigen, ausgeweitet. Gott wertschätzt die Gesandten und insbesondere den Gesandten Muhammad. Die Gläubigen sollen „Gott und seinem Gesandten“ gehorchen (4:13.59.69.80), sich beiden nicht widersetzen (4:14.42.115), an beide glauben (4:136). Im zweiten Abschnitt ist Gottes Appell nicht nur auf den Gesandten Muhammad beschränkt. Die Gläubigen sind aufgefordert, „an Gott und an Seine Gesandten“ zu glauben (4:152.171) und keine Unterschiede zwischen den Gesandten und Gott zu machen (4:150). Das kommt einer Gleichstellung Gottes mit seinen Gesandten nahe, doch Gott verfügt letztendlich über Lohn und Strafe der Menschen.

3.9.2 Intertextuelle Anknüpfungen durch Interfiguralität: „Jona“ und sein Prophetenamt sowie „Salomo“ Die intertextuellen Anknüpfungen von 4:163 und dem alttestamentlichen JonaBuch beschränken sich mit der Nennung des Namens „Jona“ auf den Aspekt der Interfiguralität und auf Jonas Prophetenamt. Im Gegensatz zu anderen biblischen Figuren der Prophetenliste in 4:163 (z. B. Ijob oder Salomo) gilt Jona in der Bibel als Prophet. Die Zuschreibung „Prophet“ verknüpft 4:163 mit dem alttestamentlichen Jona-Buch und mit den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen. Jona, der Prophet, hat Wiedererkennungswert, deshalb ist die Nennung von weiteren Eigenschaften oder Erzählsträngen nicht notwendig. Sein Prophetenamt ist von großer Bedeutung in den neutestamentlichen und koranischen Jona-Rezeptionen. Im Gegensatz zu den neutestamentlichen Jona-Perikopen ist Jona in 4:163 einer der Propheten Gottes und steht in einer Reihe mit anderen Propheten. Im Neuen Testament ist es „Jona, der Prophet“ (Mt 12,39), der eine „Botschaft“ (Mt 769

Das Verb „geben“ (arab. ātā) kennzeichnet, genau wie „herabsenden“ (arab. Wurzel nzl), prophetische Offenbarung Gottes (Madigan 2004, S. 443; Rubin 2004a, S. 294).

182

3.9 Jona-Rezeption in Sure 4:163

12,41; Lk 11,32) bringt. Abermals ist in 4:163 neben Jona Salomo genannt, so wie in 6:85, Mt 12,42 und Lk 11,31. Auch in 4:163 sind Salomo und Jona typisiert. Während sich die Ämter von Salomo (weiser König) und Jona (Prophet) in den neutestamentlichen Perikopen unterscheiden, sind sie in 4:163 als Propheten Gottes parallelisiert. Die Charakterisierung der beiden Figuren in Sure 4 verläuft über ihr intensives Gottesverhältnis: Gott offenbarte sich den Propheten Jona und Salomo. Biblische Motive sowie andere Charakteristika sind unwesentlich. Jonas Handlungen und Charaktereigenschaften sind in den neutestamentlichen Rezeptionen zwar auch nicht in Länge ausgeführt, doch dort ist er als einzelner Prophet aufgeführt und nicht wie in 4:163 in einer Prophetensukzession. Im Koran ist die intertextuelle Verknüpfung von Sure 4:163 und 6:86 am stärksten. Der Name „Jona“ steht in beiden Suren im Kontext der Prophetenliste, die bei Noah beginnt. In beiden Perikopen gelten Jona und die anderen Propheten als Vorgänger und Vorbilder Muhammads – die Erfahrungen Muhammads und seiner Gemeinde spiegeln sich in den Erfahrungen der Propheten wider. Nur in 4:163 steht der Begriff „Prophet“ (arab. nabī). In 68:50 ist Jona „der Rechtschaffene“ (arab. ṣāliḥ), in 37:139 „einer der Gesandten“ (arab. mur'sal), in 37:143 „der Lobpreisende“ (arab. musabbiḥūn) und in 21:88 einer der „Gläubigen“ (arab. mu'min). Jona gehört zu den wenigen Ausnahmen, die Gott sowohl „Prophet“ als auch „Gesandter“ nennt. Neben Jona sind das Noah, Lot, Ismael, Mose, Aaron, Elia, Jesus und Muhammad.770 Außer Muhammad sind es allesamt biblische Figuren, die beide Titel tragen. Alle sind von hoher Bedeutung im Koran und kommen in mehreren Suren vor. Eine trennscharfe Linie zwischen den „Gesandten“ (arab. rasūl) und „Propheten“ (arab. nabī) im Koran ist nicht erkennbar,771 jedoch gibt es einige wenige Unterscheidungsmerkmale: Der Begriff „Gesandter“ ist die umfassendere Bezeichnung und kommt häufiger im Koran vor (arab. rasūl 332mal und mur'sal 35-mal)772 als „Prophet“ (arab. nabī 75-mal). Die Gesandten kleiden vor allem „das Amt des Strafpredigers und Warners“773 und Gott sendet sie zu einem bestimmten Volk (Sure 10:47).774 Die „Propheten“ gelten als von Gott erwählt, gehören zu den „Schriftbesitzern“ und sind als Nachkommen Noahs bzw. Abrahams (arab. dhurriyyat 6:84; 3:33–34 dhurriyyāt 4:87) genealogisch miteinander verbunden.775 In den medinensischen Suren und damit auch in 4:163 gibt es keine Unterscheidung zwischen „Gesandten“ und „Propheten“.776 In der Prophetenliste in 6:83–86 kommen 18 Figuren vor, in 4:153–163 sind es 14 Namen. Beide Suren nennen nur biblische Figuren in den Prophetenlisten 770 771 772

773 774 775 776

Bobzin 2015, S. 73. Ghaffar 2018, S. 178. Die arab. Begriffe rasūl und mur'sal teilen eine Wortwurzel und gelten als Synonyme (Rubin 2004a, S. 289). Horovitz 1926, S. 45. Bobzin 2015, S. 73–74. Bobzin 2015, S. 74; Böttrich et al. 2013, S. 144; Rubin 2004a, S. 291. Hoheisel 1996, S. 613; Horovitz 1926, S. 51.

3.9.4 Novum Prophetensukzession als koranisches Kernelement

183

und die meisten Figuren treten in beiden Suren auf. Joseph, Zacharias, Johannes, Elija und Elischa kommen nicht in 4:163 vor, dafür aber Maria. Die Anordnung ist unterschiedlich, doch in beiden Suren scheint weder die biblisch-kanonische noch die historische Chronologie das Kriterium für die Anordnung zu sein. In beiden Suren steht der Name „Jona“ gegen Ende der Prophetenliste, in 6:86 zwischen Elischa und Lot und in 4:163 zwischen Ijob und Aaron. In Sure 4:163 ist die Parallelisierung Jonas mit anderen Figuren durch die Aneinanderreihung mit der Konjunktion „und“ (arab. wa) umfassender („Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen und Jesus und Ijob und Jona und Aaron und Salomo“). Während 6:86 vier biblische Figuren direkt miteinander parallelisiert, sind es in 4:163 zehn. Sie alle sind „Propheten“, denen sich Gott offenbarte. Das Verb „offenbarte“ kommt im Vers dreimal vor und verknüpft Muhammad, Noah und die zehn Propheten um Jona.

3.9.3 Akzentverschiebung: Typisierter Prophet Jona Der Jona-Vers ist eine Auflistung und keine eigenständige Erzählung. Weder Jonas Handlungen noch Worte sind von Bedeutung in Sure 4. Im Mittelpunkt stehen sein Prophetenamt, die damit verbundene Gottesbeziehung und die Konformität aller Propheten anstelle der Einzigartigkeit Jonas. Gott scheint sich allen Propheten gleichermaßen offenbart zu haben. Die unterschiedlichen Berufungserzählungen, Kontexte und Adressaten der Prophetie, Handlungen und Gefühle der Propheten spielen keine Rolle. Auch zwischen den Formen göttlicher Offenbarung scheint es keine Unterschiede zu geben, mit der Ausnahme, dass Gott David den Psalter gab (4:163). In anderen Suren heißt es, dass Gott Moses „die wohlverwahrten Tafeln“ (7:145)777 und Jesus das Evangelium (57:27; 5:46) gab, davon ist in 4:163 nicht die Rede. Mose und Jesus stehen gleichwertig neben Jona. 4:163 übt im Gegensatz zu den Suren 68, 37 und 21 keine Kritik an Jona. Er ist idealisiert und typisiert: Er ist einer der Propheten, denen sich Gott offenbarte.

3.9.4 Novum: Prophetensukzession als koranisches Kernelement Von Noah über Abraham, Ismael, Isaak, den Stämmen bis zu Jesus lässt sich eine gewisse genealogische Abfolge erkennen, daran schließen Ijob, Jona, Aaron, Salomo und David an. Es scheint, als ob die Figuren vor allem nach der Wichtigkeit 777

Obwohl die Begriffe „Tora“ und „Mose“ sehr häufig im Koran vorkommen, stehen sie nie in demselben Kontext. Nirgendwo steht, dass Gott „Mose“ die „Tora“ gegeben hat, sondern die „Schrift/Buch“ (arab. kitāb 25:35; 23:49; 17:2; 11:110; 6:91.154; 2:53.87) und die „Tafeln“ (arab. lawḥ 7:145.150.154).

184

3.9 Jona-Rezeption in Sure 4:163

im Koran und nicht nach einer historischen oder biblisch-kanonischen Chronologie angeordnet sind, wobei eine syntaktische Brechung der fortführenden Aneinanderreihung mit der Konjunktion „und“ Davids Bedeutung trotz der Endstellung (oder gerade wegen der Endstellung) hervorhebt. David und Jesus sind neben den Stammvätern Abraham, Ismael, Isaak und Jakob und ihrem Vorfahren Noah von höchster Bedeutung im Koran. Genau wie Muhammad haben sie eine Schrift von Gott erhalten. Die zusätzlichen Erzählungen über Abraham (4:125), Mose (4:153–155.164), Maria und Jesus (4:156–159.171–172) unterstreichen ihre Bedeutung. Mose kommt nicht in der Prophetenliste in 4:163 vor. Der Vers „und Gott sprach mit Mose unmittelbar“ (4:164) hebt seine Sonderstellung hervor. Neben diesen herausragenden Propheten finden „Ijob und Jona und Aaron und Salomo“ Erwähnung und stehen in einer Reihe mit wichtigen Figuren. Der Aspekt der Gottesbeziehung der Propheten ist zentral. Es handelt sich um eine Prophetensukzession. Sie ist ein Kernelement des koranischen Geschichtsbildes.778 Die Prophetensukzession unterstreicht, dass Gottes Offenbarung an die jüdischchristliche Heilsgeschichte anknüpft. In 4:163 dienen Jona und die anderen Propheten als Vorbilder für Muhammad. Alle Gläubigen können sich Gott zuwenden, indem sie „das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, und […] an Gott glauben und an den Jüngsten Tag“ (4:162). Die Propheten stechen aus der Menge der Gläubigen hervor. Gott offenbarte sich ihnen und alle Gläubigen können daran teilhaben, indem sie an Gottes Offenbarung glauben. Jona als Figur anstelle der Erzählung bzw. der Handlungen Jonas stellen die bedeutungsvolle Brücke zwischen 4:163 und den anderen (biblischen) Jona-Perikopen dar.

3.9.5 Elementare Strukturen von Sure 4: Jona als ein prophetisches Vorbild Muhammads –



778

Die chronologisch letzte koranische Jona-Perikope knüpft am stärksten an Sure 6:86 an, weil Jona auch hier in einer Reihe herausragender biblischer und koranischer Figuren steht, die eine Prophetensukzession von Noah, über Abraham, Jesus und eben Jona bis hin zu Muhammad bilden. Die Sortierung der Propheten spiegelt eine gewisse genealogische Tendenz wider, doch der Stellenwert der Figuren im Koran ist das primäre Anordnungsmerkmal. Im Vordergrund steht die Konformität aller Propheten und nicht die Einzigartigkeit Jonas. Der Prophet Jona sowie die anderen biblischen Figuren dienen Muhammad als Vorbilder.

Horovitz 1926, S. 44.

3.9.5 Elementare Strukturen von Sure 4 –



185

Die Verknüpfung zur alttestamentlichen Jona-Erzählung und den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen verläuft allein über den Namen „Jona“ (Interfiguralität) und das Prophetenamt und damit über Jona als Figur und nicht über Jona als Erzählung. Genau wie in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen ist Jona typisiert und idealisiert und mit Salomo parallelisiert. Anders als in den neutestamentlichen Jona-Perikopen gelten beide als Propheten in Sure 4:163.

4.

Ertrag: Jona als Schlüssel zu Bibel und Koran

Die Exegese der alttestamentlichen Jona-Erzählung und ihrer Rezeptionen im Neuen Testament und im Koran bieten hermeneutisch-exegetische Leitlinien für eine christliche Koranlektüre (Abschnitt 4.1) und damit Erträge für den Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“ für den katholischen Religionsunterricht an (Abschnitt 4.2).

4.1

Exegetische und hermeneutische Erträge einer christlichen Koranlektüre

Ein wesentlicher Ertrag der Betrachtung der Jona-Erzählung und ihrer Rezeptionen in Bibel und Koran ist die Entfaltung und Reflexion einer christlichen Lektüreperspektive des Korans. Die alttestamentliche Jona-Erzählung bildet die Grundlage und die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen sind fundamentaler Bestandteil der Entwicklung einer christlichen Sichtweise auf Jona. Die daran anknüpfende Betrachtung der Jona-Rezeptionen im Koran dient dem inhaltlichen und theologischen Vergleich der Jona-Texte in Bibel und Koran. Sie verdeutlicht hermeneutische Asymmetrien im Kontext einer wechselseitigen Lektüre.

4.1.1 Vielfalt der Jona-Texte im Koran Die exegetische Betrachtung der sechs Jona-Perikopen zeigt, dass die Jona-Rezeptionen im Koran, ebenso wie in der Bibel, vielschichtig sind. In Sure 68 ist Gottes Gnade in der Not zentral, in Sure 37 Jonas Lobpreis und Gottes individuelle sowie kollektive Rettung, in Sure 21 Jonas Lobpsalm, in Sure 10 der kollektive Glaube (von Jonas Volk), in Sure 6 die Sukzession von Jona und Muhammad als Gottes Gesandte und in Sure 4 die prophetische Vorbildfunktion Jonas für Muhammad. Jona ist für Muhammad sowohl eine negative Kontrastfolie (Sure 68) als auch Vorbild (Suren 37, 21, 6, 4). Der Glaube von Jonas Volk dient LeserInnen und HörerInnen als Musterbeispiel (Suren 37, 21, 10). Gott erweist sich als Retter (Suren 68, 37, 21, 10), der sich Jona (Suren 68, 37, 21) sowie dem Volk (Suren 37, 21, 10) aus Gnade (Suren 68, 10), auf Jonas Lobpreis (Suren 37, 21) und den Glauben des Volkes (Suren 37, 21, 10) hin, zuwendet. Die Jona-Perikopen sind

188

4.1 Exegetische und hermeneutische Erträge

göttliche Lehren über die Bedeutung des individuellen Lobpreises der Gesandten (Suren 37, 21), über Geduld (Sure 68), über Gottes Gnade sowie die Erwählung einzelner Gesandter als Stärkung und Zuspruch (Suren 68, 6, 4). Insgesamt liegt der Schwerpunkt der koranischen Jona-Texte auf dem Glauben der Menschen und Gottes Rettung. Der Glaube ist in allen Jona-Perikopen im Koran wichtig. Er ist die erste und wichtigste Pflicht im Islam und gilt als die grundlegende Botschaft des Korans.779 Die „Anekdoten“ über die (biblischen) Propheten ermahnen als Beispielerzählungen zum Glauben an den einen Gott.780 Der Gottesglaube ist untrennbar mit dem Bekenntnis (arab. al-iqrār) und dem „Für-wahr-Halten (arab. at-taṣdīq) der Offenbarung“781 verbunden. Er ist sowohl Zustand als auch eine Tätigkeit und zeigt sich „durch das Bekennen der Zunge (iqrār bi-l-lisān)“.782 Im Glauben gibt es keine Rangstufen: Alle Menschen, ob Jona, Muhammad oder das ganze Volk, sind darin gleich vor Gott.783 Das Gebet ist als eines der zentralen Merkmale des Glaubens von hoher Bedeutung im Koran,784 wie Jonas Lobpsalm, der LeserInnen und HörerInnen zum Einstimmen einlädt, unterstreicht. Jonas Lobpsalm im Koran ist eine Neuausrichtung und kein wortgetreuer Widerhall der Bibel. In wenigen Worten ist die koranische Grundbotschaft in Jonas Lobpsalm zusammengefasst: Der lobpreisende Glaube an den einen Gott und das Schuldeingeständnis.

4.1.2 Entwicklungslinien der Jona-Texte im Koran Die Jona-Perikopen durchziehen den Koran sowohl chronologisch (frühmekkanisch bis medinensisch) als auch literarisch-kanonisch (Suren 68, 37, 21, 10, 6, 4) wie ein roter Faden. In den Suren 68, 37, 21, 10 liegt der Schwerpunkt auf Jona als Erzählung und in den Suren 6 und 4 auf Jona als Figur, wobei alle koranischen Perikopen die alttestamentliche Erzählung partiell und akzentuiert rezipieren. Während Sure 37 die meisten alttestamentlichen Erzählelemente umfasst, ist Jona in Sure 6 und 4 vollkommen auf sein Prophetenamt stilisiert. Jona gilt hier als einer der Nachkommen von Noah und Abraham in einer Prophetensukzession, die bis Muhammad reicht. Eine allmähliche Idealisierung Jonas ist erkennbar. Sure 68, 37 und 21 zeigen negative Züge Jonas, in Sure 6 und 4 ist er vollkommen idealisiert.785 Doch nicht nur im kanonischen Gesamtblick, sondern auch in den einzelnen Perikopen ist eine positive Entwicklung Jonas erkennbar: 779 780 781 782 783 784 785

Donner 1998, S. 67; Karimi 2015, S. 30. Donner 1998, S. 69–70. Karimi 2015, S. 32. Karimi 2015, S. 33. Karimi 2015, S. 37 u. 40. Böwering 2004, S. 216. Eine Koranlektüre von hinten nach vorne bietet sich für eine kanonische Lektüre an, weil sie ein prozesshaftes, entdeckendes Lesen unterstützt. Mehr dazu in Abschnitt 3.3.

4.1.3 Intra- und Intertextualität der Jona-Texte

189

vom Ungeduldigen in der Not zum erwählten Rechtschaffenen (Sure 68), vom Verstoßenen auf der Flucht zum lobpreisenden, erfolgreichen Gesandten (Sure 37), vom erzürnten Frevler auf der Flucht zum geretteten Lobpreisenden (Sure 21). Die koranischen Jona-Perikopen sind stark miteinander vernetzt. Eine intratextuelle Lektüre der Jona-Perikopen im Koran eröffnet einen kanonischen Blickwinkel. Alle Jona-Texte sind in größere Diskurse eingebettet, sodass eine intertextuelle Lektüre die Vernetzung unterschiedlicher Ko- und Kontexte anregt. Im Zusammenhang der koranischen Prophetenerzählungen gewinnen die Jona-Perikopen an Bedeutung, weil sich Jona und sein Volk von allen anderen im Koran unterscheiden. Kein Prophet durchläuft eine Entwicklung, die vergleichbar mit Jonas Gotteszuwendung ist. Jonas Volk grenzt sich von allen anderen Völkern im Koran ab, da alle glauben und Gott alle rettet. Die Jona-Erzählung im Koran ist eine einzigartige Rettungslegende und der Vergleich mit anderen Gesandten Gottes und ihren Völkern unterstreicht Jonas Erfolg.

4.1.3 Intra- und Intertextualität der Jona-Texte als Verknüpfung von Bibel und Koran Die koranischen Jona-Perikopen regen neben einer intratextuellen auch eine intertextuelle Lektüre von Jona in Bibel und Koran an. Die stärksten intertextuellen Verknüpfungen stellen der Name „Jona“ und der „Fisch“ als Erkennungsmerkmal dar. Die Vorstellung vom gnädigen und barmherzigen Gott prägt sowohl die alttestamentliche Jona-Erzählung als auch die koranischen Jona-Perikopen. Gottes Fürsorge und Kommunikation mit seinem Propheten verknüpfen das alttestamentliche Jona-Buch mit den koranischen Jona-Perikopen. Sowohl die biblischen als auch die koranischen Jona-Perikopen erzählen von Jonas Sendung zu einem Volk, das Gott rettet. Die neutestamentlichen und koranischen Jona-Rezeptionen ähneln sich zudem in anderen Punkten: Jona ist idealisiert und mit anderen biblischen Figuren (in Mt 12; Lk 11; Sure 6 und 4 mit Salomo) parallelisiert. Eine typologische Interpretation bietet sich sowohl bei den neutestamentlichen als auch bei den koranischen Jona-Rezeptionen an, sodass nicht nur das Alte und Neue Testament, sondern auch Koran und Bibel in Relation zueinanderstehen. Während die Jona-Rezeptionen im Matthäus- und Lukasevangelium dazu dienen, Jesu Lehre und Wirken zu deuten und auf seine Auferstehung (Mt 12,40) und das endzeitliche Gericht (Mt 12,41; Lk 11,32) vorausweisen, trägt die Jona-Rezeption im Koran zur Deutung von Muhammads Rolle und Selbstbild bei. Die Erzählungen über Gottes Sendung der Gesandten als „das eigentliche Rückgrat koranischer Geschichte“786 leiten dazu an, die Korantexte als 786

Neuwirth 2020e.

190

4.1 Exegetische und hermeneutische Erträge

typologische Neuinszenierung der biblischen Erzählungen zu lesen und Muhammads Situation in der Geschichte Gottes mit seinem Volk zu verorten. Es findet keine vollkommene Loslösung der koranischen Jona-Perikopen vom biblischen Text statt. Selbst die kurzen Perikopen in Sure 6 und 4 verweisen durch die Nennung Jonas in einer Reihe von anderen biblischen Propheten ebenfalls deutlich auf die biblischen Schriften zurück. Erst eine intra- und intertextuelle Lektüre eröffnet den vollen Sinngehalt: „Je tiefer man einsteigt, desto unendlicher entfalten sich die Texte.“787 Die intertextuelle Lektüre der Jona-Texte weitet die Perspektive zu einem Gesamtblick auf Gottes Verkündigung in Bibel und Koran aus.

4.1.4 Asymmetrien der biblischen und koranischen Jona-Texte: Prophetie und Offenbarung Bei Jona im Koran handelt es sich nicht um ein bloßes Duplikat der biblischen Jona-Erzählung und -Rezeption. Stattdessen ist es eine Neuerzählung in einem anderen Kontext. Der Name „Jona“ regt an, die Texte des Korans im Spiegel der biblischen Jona-Erzählung zu lesen und schreibt sie gleichzeitig fort, indem er die Jona-Erzählung selektiv aufgreift und mit neuen Aspekten anreichert. Kontinuität und Diskontinuität prägen bereits das Verhältnis der alttestamentlichen und neutestamentlichen Jona-Texte. Während in den neutestamentlichen Perikopen vor allem die christologische Zuspitzung die Diskontinuität der JonaTexte darstellt, ist es in den koranischen Perikopen Muhammads Rolle als der Gesandte Gottes. Muhammad ist die Schlüsselfigur der göttlichen Offenbarung für MuslimInnen. Eine eingeschränkte Perspektive im jüdisch-christlich-islamischen Dialog wäre es, der Frage nachzugehen, was der „Autor“ Muhammad von der biblischen Tradition „übernommen“ oder gar „kopiert“ hat.788 Muhammad ist konstitutives Moment der göttlichen Offenbarung und nicht Autor eines Buches.789 Durch die Rezitation des Korans nehmen muslimische Gläubige an Muhammads Erlebnis teil. Der Prophet Muhammad markiert als Gründungsfigur der islamischen Religionsgemeinschaft etwas fundamental Neues.790 Zwar können christliche LeserInnen Muhammads Bedeutung für muslimische Gläubige mit größter Wertschätzung begegnen, doch die Aufforderung des Korans, an Gott und an seinen Gesandten Muhammad zu glauben (Suren 64:8; 58:4; 57:7.28;

787 788

789 790

Bechmann 2014, S. 148. Hewer, Middelbeck-Varwick und Neuwirth stellen heraus, dass diese Positionen in der christlichen Theologie vorzufinden sind. Hewer 2008, S. 315; Middelbeck-Varwick 2011, S. 161; Neuwirth 2010, S. 37 u. 42. Karimi 2015, S. 191; Pregill 2007, S. 644. Donner 1998, S. 149.

4.1.4 Asymmetrien der biblischen und koranischen Jona-Texte

191

48:9.13; 5:158; 4:163) entspricht nicht dem christlichen Glaubensbekenntnis. Jesus Christus eröffnet für ChristInnen ihren Zugang zu Gott und nicht der Koran als Verkündigungsereignis mit der Zentralität des Propheten Muhammads.791 Die stärksten intertextuellen Verknüpfungen verlaufen über die Figuren in Koran und Bibel und eröffnen gleichzeitig eine unterschiedliche Perspektive auf das Prophetiekonzept in Koran und Bibel.792 Etliche biblische Figuren kommen im Koran vor und unabhängig von ihrer biblischen Charakterisierung gelten sie im Koran allesamt als Propheten. Die Erzählungen über Gottes Propheten und Gesandte bilden das Kernelement der koranischen Heilsgeschichte.793 Gott sendet zahlreiche Propheten, um ein Volk nach dem anderen zu warnen.794 Der Koran hat einen lehrhaften „Ermahnungs- und Erinnerungsstil“795 und liefert keine linearen Erzählungen über Gottes Geschichte mit seinem Volk (und den Propheten), sondern kurze, zyklische Erzähleinheiten mit Gott.796 Die koranischen Prophetenerzählungen ähneln sich. Die Erzählungen über Glaube und Leugnung als Reaktionen auf die Sendung der Gesandten Gottes dienen dabei als Lehrerzählungen.797 Sie mahnen zum Glauben an den einen Gott. Die Prophetenerzählungen verorten Muhammads Geschick biblisch.798 Die biblischen Figuren sind Vorbilder Muhammads und ihre Erfahrungen stimmen mit den Erfahrungen Muhammads und seiner Gemeinde überein. Die ganze Gemeinde gilt aufgrund seiner Prophetensukzession als ein Volk, zu dem Gott einen Gesandten schickt. Sie treten damit „als neues Gottesvolk in die Heilsgeschichte der Früheren“799 ein. Die Prophetenerzählungen spiegeln die Erfahrungen Muhammads und seiner Gemeinde wider und dienen als Verständnismodelle, Vergegenwärtigung und Deutungsfolien.800 Sie mahnen, lehren und trösten. Gott fordert Muhammad auf: „Erzähle die Erzählungen, auf dass sie nachdenken!“ (Sure 7:176) Die Erzählungen sind nicht nur exklusiv für Muhammad 791

792 793 794 795 796

797 798 799 800

Der Diskurs um Muhammads Bedeutung für ChristInnen ist komplex. Die islamische Wertschätzung Jesu als Prophet verläuft nicht symmetrisch zur christlichen Anerkennung Muhammads als Prophet. Aus dem Koran geht hervor, dass Jesus aus islamischer Perspektive ein Prophet (jedoch nicht Gottes Sohn) ist. Eine Akzeptanz Jesu als Prophet ist also schon im Koran begründet und deshalb kein „Zugeständnis“ im christlich-islamischen Dialog. Hingegen stellt die Frage nach Muhammads Rolle für ChristInnen ein nachbiblisches Nachdenken dar. Eine Differenzierung des koranischen und biblischen Prophetiekonzeptes ist eine notwendige Grundlage für den Diskurs über Muhammads Rolle für ChristInnen. Mehr dazu in Hewer 2008; Leuze 2001; Troll 2007. Griffith 2013, S. 89. Graham 2004, S. 561; Horovitz 1926, S. 44. Graham 2004, S. 561. Takim 2010, S. 190. Donner 1998, S. 84; Neuwirth 2010, S. 561 u. 607; Schmitz 2013, S. 53; Kuschel 2017, S. 97; Zirker 2012, S. 126. Gharaibeh und Middelbeck-Varwick 2013, S. 241; Rubin 2004a, S. 302. Zirker 2012, S. 126. Neuwirth 2010, S. 231. Vgl. auch Rubin 2004a, S. 303. Neuwirth 2002a, S. 343.

192

4.1 Exegetische und hermeneutische Erträge

bestimmt, denn er soll die Verkündigung Gottes weitertragen. Sie dienen Muhammad sowie allen HörerInnen und LeserInnen dazu, über das eigene Leben, das zwischenmenschliche Verhalten und den Gottesglauben nachzudenken. Die Perspektive auf Propheten und die damit verknüpfte Rede über Gottes Offenbarung unterstreichen die Andersartigkeit von Bibel und Koran.801 Das Offenbarungsverständnis von Christentum und Islam unterscheidet sich und begründet eine hermeneutische Asymmetrie der Schriften. Das Thema „Offenbarung Gottes“ ist komplex, deshalb ist eine Schwerpunktsetzung auf die Rolle von Bibel und Koran sinnvoll. Gott offenbart sich in beiden Schriften in theologischer Sprache als ein personaler Gott, der zu den Menschen in unterschiedlicher Form spricht.802 Koran und Bibel unterscheiden sich bezüglich ihres hermeneutischen Stellenwertes für die jeweilige Glaubensgemeinschaft. Während aus christlicher Perspektive Altes und Neues Testament Glaubenszeugnisse sind und als „Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert“ (DV 13) einen Zugang zur Offenbarung Gottes eröffnen, hat der Koran aus islamischer Sicht den Anspruch, selbst göttliche Offenbarung zu sein.803 Die Bibel stiftet nach christlichem Verständnis Begegnung mit Gott durch Jesus Christus als Wort Gottes (DV 2, 4, 15). Für ChristInnen vereinen Altes und Neues Testament einen Dia-Logos als Dialog: Christliche RezipientInnen hören „denselben Logos, an den sie glauben, aus der Schrift Israels“.804 Jesus Christus erweist sich für ChristInnen „als der hermeneutische Schlüssel“805 zur Bibel und damit als „unerlässlich für das Verstehen bzw. Neuverstehen“806 der biblischen Schriften. Jesus Christus ist für ChristInnen Selbstmitteilung Gottes (DV 17). Jedoch gilt Jesus nicht als die einzige Selbstmitteilung, denn Gott hat sich auch schon zuvor auf vielfältigen Wegen selbst mitgeteilt (DV 2–3, 14–16): „Und auch wenn Jesus Christus die einzige, Mensch gewordene Gestalt des Logos Gottes ist, schließt das nicht aus, dass im Koran die Schönheit dieses Logos hörbar Wirklichkeit wird.“807 Die Vielstimmigkeit der biblischen Schriften fordert ChristInnen heraus, Gottes Offenbarung nicht auf das Christusereignis zu beschränken, sondern immer wieder „über den Zusammenklang des Heilshandelns Gottes in der Geschichte Israels und in Jesus Christus“808 nachzudenken. Die Jona-Perikope in Sure 4:163 hebt die koranische Perspektive auf Offenbarung hervor: „Gewiss, Wir offenbarten dir [Muhammad] so, wie Wir offenbarten Noah und den Propheten nach ihm. Und Wir offenbarten 801 802 803

804 805 806 807 808

Tatari 2013, S. 166. Gnilka 2004, S. 43; Kasiri 2010, S. 130. Barth 1997, S. 14; Gharaibeh und Specker 2016, S. 78; Gnilka 2004, S. 44; Khorchide 2018, S. 78; Kuschel 2017, S. 88; von Stosch 2010, S. 244. Gäde 2004, S. 301. Gäde 2010, S. 135. Gäde 2010, S. 136. von Stosch 2016b, S. 827. Middelbeck-Varwick 2011, S. 156.

4.1.5 Thesen

193

Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen und Jesus und Ijob und Jona“. Die Prophetensukzession unterstreicht, dass Gottes Offenbarung an die jüdisch-christliche Heilsgeschichte anknüpft. Gott offenbarte sich vielen Propheten und alle Gläubigen können daran teilhaben, indem sie an Gottes Offenbarung glauben.

4.1.5 Thesen –



– –







Bei den Jona-Texten handelt es sich um einen reichhaltigen intertextuellen Speicher. Die Offenheit und Mehrdeutigkeit laden zu einer reflexiven und verknüpfenden Lektüre ein. Eine fortwährende Reflexion der eigenen Perspektive macht die Textbegegnung spannend und nachhaltig. Die intertextuellen Verknüpfungen fungieren als Brücke zwischen Koran und Bibel. Die Figur „Jona“ eröffnet christlichen LeserInnen einen literarischen Zugang zum Koran, weil sie an die aus der Bibel „bekannte“ Jona-Erzählung anknüpfen können. Im Alten Testament liegt der Schwerpunkt der intertextuellen Verknüpfungen auf Gottes Gericht, Gnade und Rettung. Die neutestamentlichen Jona-Rezeptionen legen unterschiedliche Schwerpunkte: Jonas Aufenthalt im Fisch als implizite Ankündigung von Christi Auferstehung (Mt 12), die Verweigerung sichtbarer Zeichen Gottes (Mt 16) und die kollektive Umkehr als paränetische Botschaft vor dem endzeitlichen Gericht (Lk 11). In allen drei Perikopen wahrt das Jona-Zeichen einen rätselhaften Charakter. Die sechs Jona-Rezeptionen im Koran sind vielschichtig, doch die Aspekte „Glaube“ und „Rettung“ verknüpfen alle sechs Suren miteinander. Jona durchläuft im Koran sowohl im kanonischen Gesamtblick (zunehmende Idealisierung und Typisierung) als auch in den einzelnen Suren (vom Frevler zum Rechtschaffenen) eine positive Entwicklung. Er dient Muhammad zuerst als Mahnung und Trost, dann im Kontext der Prophetensukzession als idealisiertes Vorbild und prophetischer Vorfahre. Alle Jona-Perikopen stehen im Kontext von anderen Prophetenerzählungen. In diesem Kontext gewinnen die Jona-Perikopen an Bedeutung, weil sie sich als einzigartige Rettungslegende von allen anderen biblischen Prophetenerzählungen im Koran unterscheidet. Die vorrangige Verknüpfung der alttestamentlichen Jona-Erzählung und der neutestamentlichen Jona-Perikopen ist die Figur Jona und die Umkehr Ninives. Die vorrangige Verknüpfung der alttestamentlichen Jona-Erzählung und der koranischen Jona-Perikopen ist der Aspekt des gnädigen und barmherzigen Gottes sowie Jonas Sendung zu einem Volk, das Gott im Anschluss rettet.

194 – –













4.1 Exegetische und hermeneutische Erträge Die vorrangige Verknüpfung der neutestamentlichen Jona-Rezeptionen und der koranischen Jona-Perikopen ist die Idealisierung und Typisierung Jonas. Kontinuität und Diskontinuität ergeben ein spannungsreiches Verhältnis der Jona-Rezeptionen. Während in den neutestamentlichen Perikopen vor allem die christologische Zuspitzung die Diskontinuität der Jona-Rezeptionen zur alttestamentlichen Erzählung darstellt, ist es in den koranischen Perikopen Muhammads Rolle als der Gesandte Gottes. Die Jona-Rezeptionen im Matthäus- und Lukasevangelium dienen dazu, Jesu Lehre und Wirken zu deuten und weisen auf seine Auferstehung (Mt 12,40) und das endzeitliche Gericht (Mt 12,41; Lk 11,32) voraus. Die koranischen Jona-Rezeptionen tragen dazu bei, Muhammads Rolle für Gläubige zu deuten. Aus christlicher Perspektive unterscheidet sich die Verknüpfung von Altem und Neuem Testament von der Vernetzung von Koran und Bibel. Altes und Neues Testament stehen als normatives Glaubenszeugnis aus christlicher Sichtweise in einem untrennbaren Spannungsverhältnis. Für ChristInnen ist der biblische Kanon der erste und wichtigste Lektürekontext. Die zusätzliche, daran anknüpfende Betrachtung der koranischen Jona-Perikopen kann eine weitere, neue biblische Lektüre anstoßen. Die koranischen Texte lassen Gott für ChristInnen neu zu Wort kommen, indem die koranischen Texte andere Perspektiven auf die bekannten, biblischen Texte eröffnen. Die koranischen Texte regen eine Re-Lektüre der christlichen Bibellektüre an und stößt eine Reflexion an: o Jonas Prophetenamt, Entwicklung, Idealisierung, Identifikationspotenzial, Lobpsalm als integrales und hervorstechendes Moment der Erzählung, o Der Glauben eines ganzen Volkes als das Moment, während die Völkerfrage zweitrangig erscheint, o Gottes Rettung, die im Mittelpunkt steht. Die Jona-Texte im Koran sind keine normativen Texte für ChristInnen. Als semina Verbi (Samen des göttlichen Wortes) können sie von hohem theologischem Wert für ChristInnen sein. Die christliche Lektüre des Korans ist nie unvoreingenommen oder unwissend. Eine perspektivische Lektüre des Korans mit der Bibel als Ausgangs- sowie Orientierungspunkt zeugt von Wertschätzung und nicht von christlicher Überheblichkeit oder Vereinnahmung. Ziel einer christlichen Koranlektüre ist nicht nur muslimischen Gläubigen im Dialog zu begegnen, sondern auch Gott in Auseinandersetzung mit den Texten zu begegnen. Während christliche LeserInnen die Schriften des Alten Testaments als normativen Kanon rezipieren, nehmen MuslimInnen die Bibel als zusätzliche Schrift wahr, die wertvoll und wichtig, jedoch kein verbindliches Glaubens-

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht





4.2

195

dokument ist. ChristInnen können die Kanongrenze zwischen Bibel und Koran mit einer Schwerpunktsetzung auf den Glauben an den einen Gott zwar theologisch überschreiten, aber nicht auflösen. Christliche LeserInnen sind dazu aufgefordert, Muhammads Bedeutung für muslimische Gläubige mit größter Wertschätzung zu begegnen, doch eröffnet nicht der Koran als Verkündigungsereignis mit der Zentralität des Propheten Muhammads, sondern Jesus Christus für ChristInnen ihren Zugang zu Gott. Bei Jona im Koran handelt es sich nicht um eine Neuerzählung und nicht um ein bloßes Duplikat der biblischen Jona-Erzählung und -Rezeption. Dabei setzen die koranischen Jona-Perikopen die Bibel voraus und knüpfen daran an. Ein konkretes Beispiel dafür ist Jonas Lobpsalm im Koran, der eine Neuausrichtung und keinen biblischen Widerhall darstellt. In Jonas Lobpsalm ist die koranische Grundbotschaft in wenigen Worten zusammengefasst: Der lobpreisende Glaube an den einen Gott und ein Schuldeingeständnis. Die Umkehr vom christlichen Überlegenheitsanspruch ermöglicht eine fruchtbare Beschäftigung mit der Jona-Erzählung und ihren Rezeptionstexten. Die „Umkehr“-Motivik ist eine wichtige christliche Lektüreperspektive, die sowohl in der alttestamentlichen Jona-Erzählung als auch in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen zentral ist. Der Umkehrruf gilt neben den Erzählfiguren auch allen LeserInnen und HörerInnen der Jona-Texte. Sie stehen in der Pflicht, von den eigenen „bösen Wegen“ umzukehren.

Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Der katholische Religionsunterricht als Lernsetting beeinflusst die Lektüre von Jona in Bibel und Koran, weil die Trias von „Lehrer, Lehre, Schüler“809 als die drei Bestimmungsfaktoren des katholischen Religionsunterrichts eine spezifische Lektüreperspektive anbietet. Die Bibel ist Ausgangs- und Orientierungspunkt einer christlichen Koranlektüre. Die Reflexion der exegetischen sowie hermeneutischen Erkenntnisse für den katholischen Religionsunterricht versteht sich als „kritische Instanz der Theorie“810 und nicht als praktische Überführung. Daher geht es um die kritische Würdigung der exegetischen sowie hermeneutischen Erträge im Kontext einer Reflexion von Lernchancen und -hürden und nicht um die Entwicklung von konkretem Unterrichtsmaterial.

809 810

Die deutschen Bischöfe 2009, Abschnitt 5.3. Woppowa 2015, S. 15.

196

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

4.2.1 Christliche Lektüreperspektive als Zugang zum Koran Der umfangreiche exegetisch-hermeneutische Blick auf die innerbiblischen Vernetzungen mag bei einer Arbeit mit dem Titel „Jona im Dialog von Bibel und Koran“ auf den ersten Blick überraschen. Doch es zeigt sich, dass die Betrachtung der neutestamentlichen Jona-Rezeptionen einen wichtigen Beitrag für den Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“ im katholischen Religionsunterricht leistet. Die Vernetzung von alttestamentlichen und neutestamentlichen Jona-Perikopen eröffnet eine christliche Lektüreperspektive, die fruchtbar für eine weiterführende Rezeption der koranischen Jona-Texte ist. Die Einübung einer gesamtbiblischen Perspektive ist eine wichtige Grundlage für den Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“ und nicht das Wissen über Inhalte einzelner biblischer Erzählungen. Die exegetische und hermeneutische Betrachtung der Jona-Texte in Bibel und Koran legt offen, dass eine Reduzierung auf das eine Jona-Bild der Bibel im Kontrast zu dem Jona-Bild im Koran die Komplexität und Vielschichtigkeit der Jona-Texte nicht ernst und wahrnimmt. Ein solche Verkürzung verstärkt künstlich konstruierte binäre Oppositionen, die nicht den Texten aus Bibel und Koran entsprechen. Die Überfokussierung auf inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede erscheint sowohl hermeneutisch als auch didaktisch nicht sinnvoll. Genau wie exegetische Betrachtungen eines biblischen Textes verschiedene Sinnpotenziale eröffnen und nicht nur die eine Bedeutung festlegen, so gibt es auch nicht den einen biblischen Lernertrag. Stattdessen bieten sich vielfältige Lernanlässe an, die je nach Lerngruppe und -kontext fruchtbar sein können.811 Die Eröffnung einer christlichen Lektüreperspektive ist eng verknüpft mit dem Lernertrag der biblischen Vielfalt. Schon innerhalb der Bibel gibt es eine Vielfalt an Jona-Erzählsträngen und -bildern und nicht nur das eine Jona-Bild. Die neutestamentlichen Jona-Texte eröffnen neue Perspektiven auf die Jona-Figur im Alten Testament. Sie weisen Unterschiede untereinander und zur alttestamentlichen Jona-Erzählung auf. Das zeigt, dass ein Vergleich von inhaltlichen Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Jona-Erzählung in Bibel und Koran keine Aussagen über die Kategorien ‚fremd‘ und ‚eigen‘ macht. Die Jona-Erzählung und ihre Rezeptionen machen deutlich, dass schon das ‚Eigene‘ vielschichtig und teilweise ‚fremd‘ ist.812 Nach Reis und Ruster ist die Bibel immer schon Fremdreferenz für christliche LeserInnen und HörerInnen, unabhängig davon, ob es sich um bekannte oder unbekannte Inhalte handelt, weil sich die Textwelt von der eigenen Lebenswelt unterscheidet.813 Als Fremdreferenz stößt sie eine 811 812 813

Kropač 2005, S. 164. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.4. Reis und Ruster 2014, S. 63.

4.2.1 Christliche Lektüreperspektive als Zugang zum Koran

197

kritische Reflexion der Weltbeobachtung an. Gerade ‚Fremdes‘ kann ein Lernanreiz sein, „faszinieren und zu intensiver Beschäftigung motivieren“.814 „Die biblische Botschaft ist von Anfang an die Verheißung des Anderssein“815 und in bibeltheologischen Lernprozessen steht nicht das Fremde anderer Menschen im Vordergrund, sondern das eigene Anderssein in Konfrontation mit den biblischen Texten und mit Gott als dem „ganz Andere[n]“.816 Die Betrachtung der alttestamentlichen Jona-Erzählung und ihrer neutestamentlichen Rezeptionen ist herausfordernd. Die neutestamentlichen Rezeptionen eröffnen komplexe Fragehorizonte und dienen nicht nur als Verstehenshilfen. Die Jona-Texte regen Fragen über Heilsvorstellungen und Gerechtigkeit an, die für SchülerInnen neu und ungewohnt sein können. Der Religionsunterricht ist „für eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen der wichtigste und oft auch einzige Ort“,817 über solche existenziellen Fragen nachzudenken. Deshalb ist es wichtig, Raum für solche Fragekomplexe im Kontext der biblischen Jona-Lektüre zu schaffen. Eine suchende, fragende, vernetzende Bibellektüre fördert nachhaltige Lernprozesse und stiftet bleibende Erinnerungen an die biblischen Texte.818 Fragen stellen „und sich in Frage stellen zu lassen […] ist in der Schule erwünscht.“819 Die Erfahrung, dass Texte immer wieder neue Fragen aufwerfen anstelle einfache, schnelle Antworten zu liefern, stellt ein Grundanliegen des katholischen Religionsunterrichts dar,820 und ist in Zeiten zunehmenden Populismus von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. Im katholischen Religionsunterricht erfolgt der primäre Zugang zum Koran aus einer dezidiert christlichen Perspektive. Das bedeutet, katholische SchülerInnen lesen den Koran von der Bibel aus. Dafür bietet sich vor allem ein Zugang über Figuren wie Jona, die in Bibel und Koran vorkommen, an.821 LeserInnen können nicht voraussetzungslos an Texte herantreten. Die eigene Perspektive beeinflusst jede Lektüre. Das gilt auch für die Texte aus Bibel und Koran. Eine Bewusstmachung und Reflexion, „aus welcher Traditionsgemeinschaft man die Texte warum und wie versteht“,822 ist unabdingbar. Es zeugt von Wertschätzung, wenn christliche LeserInnen in Begegnung mit dem Koran die eigene Perspektive benennen und einnehmen. ChristInnen sind herausgefordert, zentrale (Glaubens-)Aspekte, die ihnen für ihre Bibel-, aber auch Koranlektüre wichtig 814

815 816

817 818 819 820 821 822

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 3.1. Vgl. auch Hennecke 2012, S. 315. Gäde 2004, S. 306. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 3.1. Vgl. auch Grümme 2012, S. 119. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Vorwort. Theis 2017. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1998, Artikel 2.3.2. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 3.3. Neumann 2011, S. 161. von Stosch 2010, S. 245.

198

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

sind, zu benennen, sodass ein christlich-islamisches Gespräch nicht in Banalisierung oder Beliebigkeit mündet. Konkret für die christliche Jona-Lektüre ist das erstens der Aspekt der Auferstehungsmetaphorik, die mit Jonas Fischaufenthalt verknüpft ist, und damit auch die soteriologische Deutung von Jesu Auferstehung für ChristInnen. Zweitens ist es die Spannung zwischen dem Bund Gottes mit dem Volk Israels und der Heilsverkündigung für alle Völker, die mit dem Ruf zur Umkehr verknüpft ist. Neutestamentlich sticht dabei die Schlüsselrolle Jesu Christi hervor: Christus verkündet Umkehr als präsentische Botschaft des angebrochenen Gottesreiches und als paränetische Vorankündigung des endzeitlichen Gerichts. Eine christliche Positionierung bei gleichzeitiger Würdigung anderer Glaubens- und Weltperspektiven ist Ausdruck von christlicher Pluralitätsfähigkeit und geht im christlichen Universalitätsanspruch auf, „nicht im Sinne einer totalen Inklusion, sondern in der Anerkennung des anderen als anderen, die heilend und heiligend darin ist, dass sie ihm zum Selbstsein verhilft.“823 Die Lektüre von Koran und Bibel führt christlichen LeserInnen unterschiedliche Perspektiven vor Augen und hilft bei einer Selbstverortung in der Welt. Dabei geht es zuvorderst um die Herausarbeitung vielfältiger Sichtweisen und Blickwinkel, die ihren Ursprung bei Gott haben und nicht um inhaltliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Durch das Bekenntnis zur Glaubensgemeinschaft schaffen christliche LeserInnen eine existenzielle Verbindung zur Bibel „als Wort des lebendigen Gottes“.824 Die Bibel eröffnet dann sowohl Welt- als auch Glaubensperspektiven. Der Koran spricht christliche LeserInnen direkt und indirekt an, um für ein friedvolles Miteinander zu werben und Kommunikation zwischen den Schriftbesitzern zu stiften. JüdInnen und ChristInnen sollen ihre „Religion“ oder „Schriften“ nicht aufgeben, stattdessen setzt der Koran Impulse zur Rückbesinnung. Er gibt Gründe an, warum JüdInnen und ChristInnen den Koran lesen sollen: Als Bestärkung und Gotteserkenntnis (Sure 17:107–109), als Freudenbotschaft und Warnung, die sich auch an die Schriftbesitzer richtet (Sure 5:15.19). Muhammad und seine Gemeinde sollen die Schriftbesitzer um Rat fragen (Sure 16:43). Sie sind dazu aufgefordert, „gemeinsam“ zu dienen sowie demütig und nachsichtig zu sein (Suren 3:64; 2:109). Außerdem soll der Koran die Schriftbesitzer an die Einhaltung von Tora, Evangelium, Gottes Gesetzen, ihre „Religion“ und den Glauben an Jesus erinnern (Sure 5:47.68.77; 4:123.159.171). Gott fordert Muhammad auf, die Schriftbesitzer anzusprechen: „Sag: ‚O ihr Schriftbesitzer! Kommt her zu einem gemeinsamen Wort zwischen uns und euch! Dass wir keinen anbeten außer Gott, dass wir Ihm nichts beigesellen und dass wir uns nicht untereinander zu Herrschern nehmen neben Gott.‘“ (Sure 3:64)

823 824

Reis und Ruster 2014, S. 77. Reis und Ruster 2014, S. 69.

4.2.1.1 Koran als Literatur lesen

199

Bei einer christlichen Koranlektüre geht es um Perspektivierung, um die Reflexion der „Bedeutung des Koran für Muslime“,825 aber auch für ChristInnen. Dasselbe, was für biblisches Lernen im katholischen Religionsunterricht gilt, ist auch auf die christliche Koranlektüre übertragbar: Zentral ist die Förderung von „intellektuelle[r] Neugier und Phantasie, Selbständigkeit und Kritikfähigkeit“826 und nicht „bloße Stoffaneignung und Reproduktion des Gelernten“.827 Steins hebt für biblisches Lernen im katholischen Religionsunterricht hervor, dass es unermesslich ist, „der Kraft der biblischen Texte zu vertrauen. Die Texte müssen im Vordergrund stehen, nicht die Informationen über die Texte und ihre Hintergründe.“828 Gleiches gilt für die koranische Lektüre im Lichte der Bibel: Die Texte stehen im Mittelpunkt. Die biblischen Texte stellen einen Ausgangspunkt für die christliche Koranlektüre dar und bieten Orientierungs- und Einstiegshilfen.

4.2.1.1 Koran als Literatur lesen Bibel und Koran eröffnen vielfältige und unterschiedliche Zugänge zum Wort Gottes. Für muslimische LeserInnen eröffnet sich ein anderer Zugang zum Koran als für ChristInnen: „Wer den Koran liest, ohne dass er Muslim ist, hat einen grundlegend anderen Standort als Muslime, nicht dieselben Verständnisvoraussetzungen und -perspektiven. Schon dass er das Buch zumeist liest und nicht hört, gar in Übersetzung liest und nicht im arabischen Wortlaut, dass ihm der Text nicht akustisch zukommt, schafft für ihn eine grundverschiedene Ausgangslage.“829 Der Unterschied liegt nicht allein in der Kompetenz, den Koran auf Arabisch wahrzunehmen. Die Rezitation des arabischen Textes ist ein herausragendes Moment, den Koran zu erleben,830 doch auch arabische ChristInnen lesen den Koran anders als arabische MuslimInnen. Während gläubige MuslimInnen den Koran zuvorderst als Glaubensdokument verstehen, lesen ihn ChristInnen als Rezeption der Bibel. Das wiederum unterscheidet beide Glaubensgemeinschaften von konfessionslosen LeserInnen. Für sie kann der Glaube an den einen Gott nicht als Zugang zum Koran gelten. Bekennende ChristInnen und MuslimInnen glauben an den einen Gott, dennoch unterscheidet sich eine christliche Koranlektüre von einer islamischen, beispielsweise hinsichtlich des Glaubens an den Propheten Muhammad, der ein Schlüsselmoment für die islamische Koranlektüre darstellt.831

825 826 827 828 829 830 831

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2010, S. 34. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1998, Artikel 1.2.3. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1998, Artikel 1.2.3. Steins 2009, S. 166. Zirker 2012, S. 19–20. Karimi 2016, S. 266; Neuwirth 2010, S. 179. Barth 1997, S. 11.

200

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Ein erster Zugang für christliche SchülerInnen, der die Basis für lohnenswerte, aber auch herausfordernde, theologische Diskurse schafft, ist ein literaturwissenschaftlicher Zugang zum Koran. Die Wertschätzung des Korans als literarisches Kunstwerk stellt eine fruchtbare Form der Lektüre für den katholischen Religionsunterricht dar. Die Betrachtung des Korans als Literatur hat im 21. Jahrhundert an Beliebtheit gewonnen.832 Der ägyptische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ḥusain gilt als Wegbereiter der Wertschätzung des Korans als Literatur in den 1930er Jahren.833 Naṣr Ḥāmid Abū Zaid (gest. 2010) steht als jüngster Vertreter der ägyptischen Tradition literaturwissenschaftlicher Koranexegese in seiner Nachfolge.834 Er stellt genau wie der pakistanische Islamwissenschaftler Fazlur Rahman (gest. 1988) und der islamische Theologe Özsoy die kulturelle und geschichtliche Bedingtheit der göttlichen Botschaft des Korans heraus.835 Schon die klassische islamische Exegese hebt die Vielstimmigkeit des Korans hervor. Sie legt einen Schwerpunkt auf die philologische Auslegung und unterstreicht die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten eines jeden Verses.836 Den Koran auf nur eine Deutungsmöglichkeit zu reduzieren, widerspricht dem Verständnis des Korans als Offenbarungsschrift: „Da die Lektüre des Korans ein Dialog mit Gott, dem Ursprung des Wortes, ist, sind die Möglichkeiten des Verständnisses ebenso unendlich wie Gott selbst; Er und Sein Wort können dem meditierenden Leser immer wieder neu erscheinen“.837 Es gibt nicht die eine richtige Leseweise und nicht nur die eine, islamische Lektüreperspektive.838 Jeder darf den Koran lesen und auslegen.839 Eine christliche Koranlektüre ist eine zusätzliche Lektüreperspektive, die ChristInnen einen eigenen Zugang zum Koran ohne Vereinnahmung oder gar Überbietung eröffnet. Es gibt vielfältige christliche Koranlektüreperspektiven, die „nicht auf einen allgemein gültigen Standard“840 zu begrenzen sind, aber dennoch eine gemeinsame Basis haben: den biblischen Ausgangspunkt. Der literaturwissenschaftliche Zugang zum Koran hat Einfluss auf biblisches Lernen im katholischen Religionsunterricht: Er fordert einerseits dazu auf, „die Bibel als ein Stück Literatur, als Buch unter Büchern, als ästhetisches Gegenüber preiszugeben“841 und andererseits die spezifische theologische Kraft der biblischen Texte für christliche LeserInnen wahrzunehmen. Die Lektüre von Bibel 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841

Kadi und Mir 2003, S. 206. Sinai 2012, S. 118. Vgl. auch Wielandt 2002, S. 131. Sinai 2012, S. 119. Körner 2005, S. 195–196; el Omari 2019, S. 14; Sinai 2012, S. 119. Asad 2013, S. 1203; Berg 2004, S. 155; Sinai 2012, S. 116–117. Schimmel 1995, S. 213. el Omari 2019, S. 13; Schmid und Ucar 2010, S. 17. Tatar 2010, S. 87. Zirker 2001, S. 3. Meurer 2004, S. 88.

4.2.1.1 Koran als Literatur lesen

201

und Koran regt eine Re-Kontextualisierung der Bibel an. Der Kontext eines Textes hat Einfluss auf seine Bedeutung für LeserInnen. Kropač benennt drei Kontexte: den literarischen Kontext, den kulturellen Kontext und die Interpretationsgemeinschaft. Alle drei Kontexte beeinflussen die Wahrnehmung der Texte im Rahmen einer wechselseitigen Lektüre im Religionsunterricht. Der erste literarische Kontext ist der jeweilige Kanon. Die Jona-Perikopen aus Bibel und Koran entfalten ihren Sinn im jeweiligen Kanon als literarischer Kontext. Aufgrund der intertextuellen Vernetzungen sind die Jona-Texte in Bibel und Koran Ko-Texte und entfalten zusätzliche Sinnpotenziale im Kontext einer wechselseitigen Lektüre. Auch der kulturelle Kontext hat Einfluss auf die Textwahrnehmung. Mit kulturellem Kontext ist nicht nur der Kontext gemeint, in dem die Texte entstanden sind, sondern auch der Kontext der Textrezeption (katholischer Religionsunterricht in Deutschland).842 Katholische SchülerInnen in Deutschland haben einen anderen Zugang zu den Jona-Texten in Bibel und Koran als SchülerInnen anderer (religiöser) Weltanschauungen (in anderen Ländern): Übersetzungen oder Glaubensperspektiven beeinflussen die Lektüreperspektive. Die jeweilige Interpretationsgemeinschaft (christliche und islamische Gemeinde) legt explizite und implizite Grenzen der Textdeutung fest.843 Die Lesegemeinschaft im Religionsunterricht unterscheidet sich von der Interpretationsgemeinschaft, weil im Religionsunterricht häufig SchülerInnen unterschiedlicher Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen anwesend sind. Aber auch in konfessionell gebundenen Lernsettings nehmen sich SchülerInnen unterschiedlich stark als RepräsentantInnen ihrer Interpretationsgemeinschaft wahr. Hieraus ergibt sich ein komplexes Gefüge aus Lektüreperspektiven. SchülerInnen nehmen verschiedene Lektüreperspektiven ein, doch alle SchülerInnen können Koran und Bibel auch als (Welt-)Literatur lesen. Als bedeutsames kulturelles Erbe sind Bibel und Koran von Relevanz für alle SchülerInnen. ReligionslehrerInnen tragen mit diesem Lerngegenstand zu einer gesamtgesellschaftlichen Teilhabe an Bibel und Koran als kulturellem Erbe bei (sharing heritage).844 Der Glaube an den einen Gott ist verbindendes Moment der jüdischen, christlichen und islamischen Religion und bietet eine Öffnung des Korantexts für eine christliche und jüdische Lektüre. Die Korantexte laden zu einer Reflexion ein, die den theologischen Kern der drei monotheistischen Religionen trifft.

842 843 844

Kropač 2005, S. 164. Kropač 2005, S. 165. Schüppel und Welzel 2020, S. 8. Schon in den 1930er Jahren hob der ägyptische Literaturwissenschaftler Ṭāhā Ḥusain (gest. 1973) die Bedeutung des Korans als kulturelles Erbe hervor (Wielandt 2002, S. 131).

202

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

4.2.1.2 Vom literarturwissenschaftlichen zum theologischen Zugang „Glaube ist nie selbstverständlich, er ist auch durch beste Lehrmethoden nicht organisierbar.“845

Der literaturwissenschaftliche Zugang im Kontext einer wechselseitigen Lektüre von Bibel und Koran kann auch theologische Relevanz für christliche SchülerInnen haben. Bedeutung entsteht in der Interaktion von LeserInnen und Text. „Lesen ist je neue Öffnung des Textes“846 und übersteigt die „Absicht“ des Autors.847 Eine Öffnung kann eine Veränderung der LeserInnen anstoßen. Das Wort Gottes ist keine „Einbahnstraße“, das zu den Menschen kommt, stattdessen „zielt dieses Kommen Gottes darauf ab, dass der Mensch zu Gott kommt“.848 Das Wort Gottes kann Menschen existenziell berühren, indem es an menschliche Erfahrungen anknüpft, aber auch als Fremdreferenz neue Perspektiven eröffnet und die menschliche Weltansicht verändert. Das biblische Jona-Buch ist dann eine persönlich Lehr- und Lebenserzählung für ChristInnen und nicht nur eine Erzählung über einen fernen Propheten. Wenn sich Gläubige dieser Botschaft öffnen, lassen die Jona-Rezeptionen im Koran die biblische Erzählung für ChristInnen neu erklingen. ReligionslehrerInnen können das Angebot machen, die biblischen JonaTexte wechselseitig zu erschließen. Doch ob die Jona-Erzählung die SchülerInnen als Wort Gottes ergreift, liegt nicht in der Verantwortung der LehrerInnen, sondern hängt von der Kommunikation eines jeden Subjekts mit Gott ab: „Offenbarung liegt im Text und geschieht durch ihn.“849 Gottes Offenbarung ist dialogisch angelegt, als Geschenk Gottes, und ein jeder Mensch hat die Freiheit, dieses göttliche Geschenk anzunehmen.850 Für ChristInnen kann der Koran als semina Verbi Gottes Wirken in der Welt auch für sie sichtbar machen.851 Die Bibel hilft ChristInnen, „die Welt aus der Perspektive Gottes zu beobachten“,852 zeigt ihnen, „was Gehör verlangt“853 und stößt dadurch „eine[…] unbegrenzte[…] Öffnung für die Offenbarung Gottes in der Geschichte“854 an. Die Bibel ist als Ausgangspunkt der christlichen Koranlektüre ein Türöffner und Orientierung für christliche LeserInnen. Der Koran stößt eine Reflexion der biblischen Texte an und lässt Gottes Stimme für ChristInnen erneut und neu erklingen. 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1998, Artikel 2.4.4. Steins 2003, S. 691. Steins 2003, S. 690. Gäde 2010, S. 148. Levinson und Blanco Wißmann 2012, S. 100. Pemsel-Maier und Weinhardt 2015. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Reis und Ruster 2014, S. 69. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148. Päpstliche Bibelkommission 2014, Nr. 148.

4.2.2.1 Gerichtsthematik

203

4.2.2 Anfragen an die bisherige Jona-Didaktik Die alttestamentliche Jona-Erzählung bietet vielfältige Lernanlässe, die ReligionslehrerInnen noch nicht in vollem Umfang ausschöpfen.855 Die Betrachtung der neutestamentlichen und koranischen Jona-Rezeptionen stößt eine Reflexion der bisherigen Jona-Didaktik im katholischen Religionsunterricht an. Die JonaRezeptionen leisten einen positiven Impuls, den religionspädagogischen „Kanon im Kanon“ zu sprengen und bewähren sich dabei selbst als wichtige Lehr- und Lerntexte.

4.2.2.1 Gerichtsthematik Die alttestamentliche Jona-Erzählung dreht sich wesentlich um das Gericht Gottes, doch ‚platte‘ Identifikationsangebote mit Jonas Angst, Zorn oder Flucht führen zu einer Ausklammerung dieses bedeutsamen theologischen Aspektes. Wie Pemsel-Maier feststellt, meiden ReligionslehrerInnen das Thema, weil es unbequem und anstößig ist.856 Gottes Gericht in Gesellschaft und konkret im Religionsunterricht nicht zu thematisieren, hat einschneidende Folgen für christliche Gläubige im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung. Die Negierung eines göttlichen Gerichts resultiert einerseits in Entlastung „von einer transzendenten Kontrollinstanz“,857 aber führt gleichzeitig auch zu Belastung aufgrund der Verantwortung, „selbst für Gerechtigkeit zu sorgen“.858 Die biblischen JonaTexte laden zur Auseinandersetzung mit dem göttlichen Gericht ein. Vor allem in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen kommt die Frage nach Gottes Gericht in pointierter Form vor. Dabei dienen sie „weder als Disziplinierungs- oder Abschreckungsinstrumentarium noch als billige Auflösung bestehender Unrechtsstrukturen.“859 Ein solcher Missbrauch läuft der biblischen Gerichtskonzeption zuwider. Gottes Gericht ist eine theologische Botschaft und kein menschlicher Unterdrückungsmechanismus. Allzu lange herrschte eine „schwarze Pädagogik“ vor, „die mit einem strafenden Gott drohte, der alles sieht und alles Böse in seinem Buch verzeichnet, und die Gerichtsvorstellungen pädagogisch und moralisch zu funktionalisieren versuchte.“860 Doch diese Funktionalisierung ist theologisch und didaktisch nicht haltbar.861 Weder die Bibel noch der Koran stellen einen starren Kontrast vom liebenden und strafenden Gott her. Die fehlleitende Gegenüberstellung des strafenden und liebenden Gottes hat auch schon 855 856 857 858 859 860 861

Pemsel-Maier 2018, S. 104. Pemsel-Maier 2018, S. 105. Gärtner 2015b, S. 242. Gärtner 2015b, S. 242. Gärtner 2015b, S. 243. Pemsel-Maier 2019. Ebertz 2011, S. 89–90; Khorchide 2015, S. 45–50.

204

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

eine falsche Wahrnehmung von Altem und Neuem Testament als gegensätzliche Schriften geprägt. Eine Betrachtung der neutestamentlichen Schriften legt offen, dass die Ankündigung des Gerichts untrennbar zur Verkündigung der frohen Botschaft Jesu Christi gehört,862 wie auch die neutestamentlichen Jona-Perikopen verdeutlichen: Sie erzählen von der entschiedenen Verkündigung des endzeitlichen Gerichts. Die Jona-Texte unterstreichen die Verknüpfung von Altem und Neuem Testament. Die Evangelien nach Matthäus und Lukas beziehen sich auf die alttestamentliche Jona-Erzählung und heben die positive Heilsperspektive im Jona-Buch hervor. Eine reflektierte Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament stellt die notwendige Voraussetzung für eine theologische Positionierung gegenüber dem Koran dar. Sowohl im Koran als auch in der Bibel sind Gottes Gericht und Barmherzigkeit miteinander verbunden. Gottes Heil und Gericht hängen mit der menschlichen Umkehr von bösen Wegen und der Gnade Gottes zusammen. Das unterstreichen sowohl die alttestamentliche Jona-Erzählung als auch die neutestamentlichen und koranischen Jona-Rezeptionen. Während in der alttestamentlichen Jona-Erzählung präsentische Heilsvorstellungen dominieren, liegt in den neutestamentlichen Jona-Perikopen ein Schwerpunkt auf zukünftiger Gerechtigkeit im endzeitlichen Gericht, die aber aufgrund der Reich Gottes Verkündigung auch ein Anspruch für gerechtes Leben auf Erden ist. Der Koran führt das Spannungsverhältnis von präsentischen und zukünftigen Heilsund Gerichtsvorstellungen fort, rückt jedoch weniger stark ein endzeitliches Gericht als die irdische Umkehr und Rettung Gottes „für eine Weile“ (Sure 10:98) in den Vordergrund. So hebt die Lektüre der Jona-Erzählung und ihrer Rezeptionen ein komplexes Zusammenspiel von präsentischen und zukünftigen Heilsund Gerichtsvorstellungen hervor. Die Erfahrung, dass menschliche Vergehen ungesühnt und „Täter“ ungestraft bleiben, ist besonders aus der Perspektive der Opfer schmerzlich. Die Erfahrung, dass Menschen keine Gerechtigkeit oder Zuwendung in der Welt erfahren kann Gesprächsgegenstand sein. Göttliche Zuwendung ist vor allem in Gottes Wesen, seiner Barmherzigkeit und Gnade begründet (Jona 4,2). Menschliche Umkehr zu Gott ist ein Schlüssel zur Rettung, dennoch ist Gottes Gnade größer (Sure 68:49). Das göttliche Gericht stellt eine Hoffnungsperspektive für Gläubige dar, um diese Erfahrungen anzusprechen und zu verarbeiten.863 Wie Jakobs feststellt, nutzen LehrerInnen diese religionspädagogische Chance momentan allerdings noch nicht.864 Die kanonische Lektüre des Zwölfprophetenbuches hebt die Dynamik von Gottes Reue und seinem Verschonungswillen hervor, die neutestamentlichen Jona-Perikopen fordern Umkehr bei gleichzeitiger Ansage des Gerichtes und auch Sure 37 kündigt das göttliche Gericht als Gerechtigkeitsinstanz 862 863 864

Söding 2000, S. 213. Englert 2011, S. 84. Jakobs 2011, S. 104.

4.2.2.1 Gerichtsthematik

205

für alle an. Nicht nur in Sure 37, sondern in etlichen Suren des Korans ist die Rede vom „Tag der Auferstehung“ (arab. yaum al-qiyāma), weshalb die Auferstehungs- und Gerichtsmotivik als eine der koranischen Hauptbotschaften gilt.865 Dabei geht es um die Rechenschaft, die alle Menschen vor Gott am Tag der Auferstehung ablegen müssen. Ein starrer Kontrast von „Hölle“ und „Himmel“ ist theologisch und didaktisch auch aus der Perspektive der islamischen Theologie nicht haltbar.866 Gott verkündet auch im Koran die Doppelbotschaft vom Gericht als Warnung und Freudenbotschaft.867 Die Begriffe „Diesseits“ und „Jenseits“ stellen keine Dualismen dar, weil sie im Horizont von Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitserfahrungen als ausgleichende Instanzen gelten.868 Die biblische Botschaft widerspricht ebenfalls jeglichem Dualismus und fordert die Menschen zur Teilhabe am Reich Gottes auf Erden auf, dessen Vollendung bei Gott bleibt.869 Menschen, aber auch Tiere (Jona 3) können am Heilswillen Gottes teilhaben, indem sie sich Gott zuwenden. In der alttestamentlichen Jona-Erzählung liegt der Schwerpunkt auf ritueller Umkehr durch Fasten und Buße (Jona 3) als Ausdruck des Gottesglaubens (Jona 3,5) und der Umkehr von bösen Wegen (Jona 3,8). In den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen steht die ethische Umkehr von den bösen Wegen im Mittelpunkt. Im Koran kommt der Begriff „Umkehr“ nicht vor, es handelt sich hier schwerpunktmäßig um eine Zuwendung zu Gott durch Lobpreis und Glauben. Die Heils- und Gerichtsvorstellungen in Koran und Bibel können ein fruchtbarer Lernertrag sein. Jakobs benennt die Thematisierung von Heils- und Gerichtsvorstellungen in verschiedenen Religionen als eines der drei wichtigen Lernziele der Eschatologie-Didaktik im christlichen Religionsunterricht, auch weil es auf Interesse bei Jugendlichen stößt.870 Die alttestamentliche Jona-Erzählung kann dafür ein Ausgangspunkt sein. Daran anknüpfend stellen die neutestamentlichen Jona-Perikopen einen ersten, christlichen Reflexionshorizont dar und die Jona-Perikopen (v. a. Sure 37) einen zusätzlichen Impuls, um eigene Jenseitsvorstellungen zu reflektieren und die Frage nach Gerechtigkeit anzusprechen. Wie Ebertz und Jakobs herausstellen, sind die Jenseitsvorstellungen gesamtgesellschaftlich zumeist positiv geglättet.871 Hoffnungen auf ein heilvolles Weiterleben im Himmel stehen im Zentrum, hingegen stellt die Hölle als Ort des Gerichts keine gängige Vorstellung dar – das gilt auch für einen Großteil der Jugendlichen. Die biblischen und koranischen Texte bieten Anreize, einseitige 865 866 867 868 869 870

871

Khorchide 2015, S. 53; Smith 2002, S. 44. Khorchide 2015, S. 45–46; Salwa Alzayed 2001, S. 107. Günther 2016, S. 113. Salwa Alzayed 2001, S. 107. Vgl. auch Smith 2002, S. 44. Jakobs 2011, S. 104. Neben diesem Lernziel benennt Jakobs noch therapeutisches Lernen als Befähigung und Bewältigung des Themas „Tod“ und zudem ethische Zielsetzungen im Kontext von universaler Gerechtigkeit (Jakobs 2011, S. 107). Ebertz 2011, S. 88–92; Jakobs 2011, S. 106.

206

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Vorstellungen aufzubrechen, wobei sie in ihrer Schärfe als „Zumutung“ neue Denkanstöße liefern.872 Die Jona-Texte eröffnen eine Hoffnungsperspektive bei gleichzeitiger paränetischer Verbindlichkeit. Die Behandlung des Themas ist ein wichtiger Baustein des Religionsunterrichts, um in Diskursen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Verantwortung und Freiheit Stellung nehmen zu können. In der Jona-Erzählung und in ihren Rezeptionen stehen das (endzeitliche) Gericht, die Hoffnung auf Umkehr und Verschonung sowie das Ringen mit Gottes Gerechtigkeit im Mittelpunkt. Die Suche und Frage nach Gerechtigkeit beschäftigt SchülerInnen und ist der Zugang zum Lerngegenstand „Gottes Gericht“.873 Menschen ringen mit Gerechtigkeit im Kontext von Leid, Krankheit und Tod: „Dass volle Gerechtigkeit auf dieser Welt nicht herstellbar ist, ist eine Erfahrung, die nicht nur an fremden Beispielen erworben wird, sondern auch in der eigenen Biographie.“874 An dieser Stelle kann die Jona-Figur als Identifikationsfigur dienen. Jona hadert und ringt mit Gottes Barmherzigkeit und Reue, mit dem Spannungsverhältnis von Gottes Gerichtsankündigung und seiner gnadenvollen Zuwendung, von Gottes Treue und Reue.875 Gottes dynamisches Gerechtigkeitskonzept (Reue) scheint Jonas statischer Gerechtigkeitsvorstellung (Treue) entgegenzulaufen. Das kann Anklang an SchülerInnenerfahrungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sowie von statischen und dynamischen Gerechtigkeitsmaßstäben finden. Die Erzählung und die vielfachen Rezeptionen führen vor Augen, dass es sich um eine kontinuierliche Aushandlung dieser Gerechtigkeitsfrage handelt. Sie regen eine fortwährende Beschäftigung an.

4.2.2.2 Christologie und Prophetie Im Kontext einer Lektüre von Jona in Bibel und Koran ist die christologische Ausrichtung der neutestamentlichen Schriften und die Reflexion der Christologie und Prophetie im Koran ertragreich.876 Vor allem die neutestamentlichen Jona-Perikopen stellen einen Impuls für den Lerngegenstand „Christologie“ im 872 873 874 875 876

Vgl. für die biblische Gerichtsbotschaft: Englert 2011, S. 86; Jakobs 2011, S. 109. Gärtner 2015b, S. 243; Pemsel-Maier 2019. Pemsel-Maier 2019. Mehr dazu in Abschnitt 2.1.1.2. Zwar vertritt der Koran „von Anfang an und ganz entschieden eine Christologie“ (Bauschke 2000, S. 192), die einen fruchtbaren Lerngegenstand im christlich-islamischen Dialog darstellt, doch für eine Schwerpunktsetzung auf koranische Christologie ist die Lektüre und Reflexion der Koran-Perikopen über Jesus (Suren 61:6.14; 57:27; 43:57–59.63–64; 42:13; 33:7; 23:50; 19:19–35; 6:85–90; 5:46.72–78.110–120; 4:156–159; 3:45–47.52.55.59.84; 2:87.146.253) zu empfehlen. Die koranische Christologie ist ein umfangreicher und herausfordernder Lerngegenstand. Die verschiedenen Jesus-Perikopen im Koran eröffnen vielfältige Perspektiven, wobei der Schwerpunkt auf einer theozentrischen Christologie mit Jesus als göttlichem Zeichen liegt (Bauschke 2000, S. 192–193).

4.2.2.2 Christologie und Prophetie

207

katholischen Religionsunterricht dar. Im Gegensatz zur Identifikation mit der Jona-Figur im Kontext von Gottes Gerechtigkeit sind die Erfahrungen Jonas mit dem Prophetenamt schwer mit dem didaktischen Modell der Korrelation einzuholen, weil sie sich nicht mit Erfahrungen von SchülerInnen spiegeln lassen.877 Die neutestamentlichen Jona-Perikopen unterstreichen das, denn Jona dient hier nicht den LeserInnen als Vorbild, sondern ist Vorbild für Jesus Christus. Wenn es um die Vorbildfunktion Jonas geht, sind die Themen „Prophetie“ und „Christologie“ geeignete Lerngegenstände, um eine ‚platte‘ Korrelation von Jona und dem lernenden Subjekt zu vermeiden. Auch die Christologie ist ein vernachlässigtes Thema im Religionsunterricht. Pemsel-Maier fordert „Mehr Mut zur Christologie – in allen Altersstufen“,878 weil die Christologie eine zentrale systematisch-theologische Disziplin des christlichen Glaubens ist und SchülerInnen Interesse an christologischen Zugängen haben.879 SchülerInnen nutzen komparative Formulierungen, um Jesus Christus zu definieren („mehr Mensch und mehr Vorbild“).880 Solche Formulierungen können allerdings entweder inhaltsleere Definitionen sein oder auf negativer Abgrenzung basieren. Die neutestamentlichen Jona-Perikopen leisten Impulse für die Diskussion über Jesus Christus, da sie an SchülerInnenvorstellungen anknüpfen und Anlass bieten, komparative Formulierungen kritisch zu hinterfragen. Das „mehr als“ in den neutestamentlichen Jona-Perikopen ist theologisch herausfordernd. Es ist eine christologische Aussage, die Positionierung ohne Abwertung einfordert. Durch eine Reflexion und Kontextualisierung des Komparativs „mehr als“ bleiben die Aussagen über Jesus Christus nicht inhaltsleer. Jesu Worte sind im Kontext der alttestamentlichen Verkündigung zu verstehen: „Mehr als Jona ist hier“ ist ein relationales Reden von Jesus Christus und regt dazu an, die alt- und neutestamentlichen Perikopen wechselseitig zu lesen. Jesus knüpft an die Botschaft der vorangehenden Propheten an und löst sie nicht ab. Die Jona-Perikopen unterstreichen die Vollmacht Jesu, der als präsenter Botschafter Weisheit und Prophetie in sich vereint. SchülerInnen können die Gründe (implizite Christologie) sowie die Wirkung (wertvolle, aber auch gefährliche Leerstellen) von komparativen Formulierungen herausarbeiten.881 Die Verknüpfung von Muhammad mit Jona verläuft hingegen auf einer anderen Ebene. Es handelt sich um eine Sukzession von Jona über Jesus hin zu Muhammad ohne die Verwendung von Komparativen. Jona dient als Beispiel, Mahnung und Lehre für die Verortung Muhammads in der biblischen Heilsgeschichte. Während Jesus den Vergleich zu Jona selbst zieht, um den HörerInnen

877 878

879 880 881

Ballhorn und Gärtner 2017, S. 21. Pemsel-Maier 2015. Pemsel-Maier bezieht sich dabei auf Hanisch und Hoppe-Graff 2002, S. 80. Englert 2017, S. 17; Kraft und Roose 2011, S. 51; Pemsel-Maier 2015. Pemsel-Maier 2015. Mehr dazu in Abschnitt 2.2.1.5.

208

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

und LeserInnen eine Deutung für das zukünftige Heilsereignis anzubieten, verorten die Worte Gottes im Koran Muhammads Erfahrungen in der Heilsgeschichte. In den neutestamentlichen Schriften steht die menschliche Fremdwahrnehmung Jesu Christi im Mittelpunkt, im Koran Muhammads Selbstwahrnehmung, die aber wiederum seine Fremdwahrnehmung beeinflusst. Außerdem ist eine Reakzentuierung der christologischen Deutung von Jonas FischAufenthalt als Auferstehungsereignis (Mt 12) zu einem Auferstehungsszenario aller Toten in Sure 37 erkennbar. Jonas Aufenthalt im Fisch steht im Koran ebenso wie in Mt 12 in einem endzeitlichen Gerichtskontext, hat jedoch keine christologischen Implikationen. Es geht um die Grabesruhe und Auferweckung aller Toten und nicht von Jesus Christus. Während in den neutestamentlichen Perikopen vor allem die christologische Zuspitzung die Diskontinuität der JonaTexte darstellt, ist es die Prophetie in den koranischen Perikopen mit Muhammads Rolle als der Gesandte Gottes.

4.2.3 Anfragen an die bisherige Islam-Didaktik im katholischen Religionsunterricht Die Betrachtung der Jona-Rezeptionen im Koran stößt außerdem ein Überdenken der bisherigen Islam-Didaktik im katholischen Religionsunterricht an. Die Reflexion des Islambildes ist nach Burrichter ein Ziel christlicher Religionsdidaktik.882 Die „Fünf Säulen“ mit dem Fastenmonat Ramadan als eine der fünf religiösen Grundpflichten ist häufig Thema im katholischen Religionsunterricht, wie ein Blick in katholische Lehrwerke aus Deutschland und Österreich offenlegt. Schon in den katholischen Religionslehrwerken der 1960er Jahre sind die „Fünf Säulen“ ein weit verbreitetes Thema.883 Auch die Schulbuchforschung von Vöcking, Zirker, Tworschka und Falaturi „Analyse der katholischen Religionsbücher zum Thema Islam“ (1988) identifiziert das Thema „religiöse Grundpflichten (Fünf Säulen)“ als Schwerpunkt in katholischen Lehrwerken, insbesondere in der Grundschule und Sekundarstufe I.884 Das scheint bis heute unverändert zu sein: In Lehrwerken für den katholischen Religionsunterricht in Deutschland, vor allem für die Grundschule und Sekundarstufe I, dominiert dieses Thema immer noch.885 Die Analyse von Unterrichtsreihen zum Islam in vier katholischen Lehrwerken für die Unter- und Oberstufe in Österreich illustriert, dass auch in

882 883 884 885

Burrichter und Kuld 2011, S. 162. Leimgruber 2001, S. 76–77. Vöcking et al. 1988, S. 160–161 u. 213–230. Bamming und Trendelkamp 2010, S. 130–133; Bosold und Michalke-Leicht 2012, S. 180, S. 132–133; Brüning 2016, S. 16; Funk et al. 2016, S. 72–105; Geißler und Boes 2017, S. 57–67; Halbfas 2010, S. 73; Janke 2015, S. 27–29; Jarzina und Radmehr 2018, S. 67–69.

4.2.3 Anfragen an die bisherige Islam-Didaktik im kath. RU

209

diesen Lehrwerken das Thema „Fünf Säulen“, insbesondere der Fastenmonat „Ramadan“, dominiert.886 Doch die Weltreligion Islam erschöpft sich nicht in der Thematisierung der „Fünf Säulen“. Bei diesem Lerngegenstand liegt der Schwerpunkt auf rituellen und religiösen Handlungen und Pflichten. Eine solche Überfokussierung ritueller und religiöser Pflichten läuft der Forderung nach einer theozentrischen Würdigung der Gemeinsamkeiten von Christentum und Islam (NA 3), um den Glauben an den einen Gott ins Zentrum zu rücken, entgegen. Neben den „Fünf Säulen“ sind „Muhammad“, die „Moschee“ sowie „Feste“ und „Essen“ die beliebtesten Themen in aktuellen, katholischen Schulbüchern über den Islam.887 Oftmals handelt es sich um simplifizierte Anhäufungen von (lexikalischem) Wissen.888 Auch der „Koran“ kommt vor,889 allerdings seltener als die „Fünf Säulen“. Doch theologische Mitte des Islams ist der Koran und nicht die rituellen Grundpflichten muslimischer Gläubiger.890 Laut Kernlehrplan in Nordrhein-Westfalen sollen GrundschülerInnen den Koran als wichtiges Element islamischen Glaubens kennenlernen und Bezüge zum Judentum und Christentum herstellen.891 Neben dem Koran sind Muhammad, die Moschee und der Ramadan als bedeutsame islamische Elemente angeführt. Das zeigt, dass die Anforderungen verschiedene Ebenen vermischen und eine gleichrangige Bedeutung implizieren, obwohl der Koran (z. B. im Gegensatz zur Moschee) von fundamentaler Bedeutung in der islamischen Theologie ist. Vöcking, Zirker, Tworschka und Falaturi postulieren in ihrer „Analyse der katholischen Religionsbücher zum Thema Islam“ (1988), dass die katholischen Lehrwerke eine verzerrte, tendenziell eher negativ-polemische Darstellung des Korans liefern.892 Außerdem kann eine Überfokussierung auf die religiösen Grundpflichten („Fünf Säulen“) zu einer Exotisierung des Islams führen. Die Exotisierung ist eine in interreligiösen und „interkulturellen Lernzusammenhängen häufig zu beobachtende Praxis“893 und führt dazu, dass christliche SchülerInnen die Religion 886

887

888 889

890 891 892 893

Genner 2017, S. 53 u. 58–59. Darüber hinaus ist „Abraham“ ein beliebter Unterrichtsgegenstand (Genner 2017, S. 58, 60 u. 63). Genner analysiert dafür die Religionsbücher Glaubensbuch 3 (2003); Thema: Religion 3 (2004); Leben – Glauben – Lernen 2 (2004); Religion belebt (2007). Bamming und Trendelkamp 2010, S. 126–127 u. 136–137; Bosold und Michalke-Leicht 2012, S. 177, 126–127, 134–135; Funk et al. 2016, S. 27–50; Geißler und Boes 2017, S. 40–42, 48–51 u. 68–79; Halbfas 2010, S. 70–75; Janke 2015, S. 18–21, 23–26 u. 35–40; Jarzina und Radmehr 2018, S. 64–66 u. 71–75; Schlereth 2016, S. 178. Dressler 2005, S. 88. Bamming und Trendelkamp 2010, S. 128–129; Bosold und Michalke-Leicht 2012, S. 178, S. 128; Burrichter et al. 2013, S. 40–41; Funk et al. 2016, S. 51–71; Geißler und Boes 2017, S. 43–47; Halbfas 2010, S. 70–75. Schimmel 1995, S. 196. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008, S. 175. Vöcking et al. 1988, S. 279–280. Dressler 2005, S. 88.

210

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

ihrer muslimischen MitschülerInnen als Fremd- und nicht als Nachbarreligion wahrnehmen. ‚Die‘ Fastenpraxis ‚der‘ MuslimInnen wirkt durch generalisierende, teilweise überspitzte Darstellungen befremdlich. Der Eindruck, dass die islamische Fastenpraxis eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit und -leistung mit sich bringt, führt zu Verfestigung, gar Verstärkung von Vorurteilen sowie zu rationaler Islamophobie.894 Deshalb ist von einer Überfokussierung auf die „Fünf Säulen“ und einer damit möglichweise verbundenen Generalisierung oder Exotisierung abzuraten. Die Jona-Erzählung und ihre Rezeptionen in Bibel und Koran bieten einen fachlichen Zugang. Sie heben Vernetzung und Multiperspektivität hervor.

4.2.4 Dekonstruktion binärer Oppositionen: ‚fremd‘ und ‚eigen‘ Ein Lernen mit Bibel und Koran, das sich als Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Schrift versteht, ist zu vermeiden. Ein solcher Zugang kann dazu führen, dass Vorurteile gegenüber ‚dem‘ Islam als der ‚fremden‘ Religion entstehen oder erstarken. Eine Lektüre von Bibel und Koran kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und SchülerInnen zu sprachfähigen und mündigen Bürgern heranzuziehen, die den gesellschaftlichen Diskurs über ‚den’ Islam durch Fachkompetenz und -wissen bereichern: „Wer sich ein Urteil über den islamischen Glauben bilden will, muss den Koran kennen und deuten können.“895 Die kritische Reflexion von Vorurteilen stellt eine grundlegende Kompetenz des katholischen Religionsunterrichts dar.896 Deshalb ist eine fundamentale Forderung der Deutschen Bischofskonferenz in der Arbeitshilfe „Christen und Muslime in Deutschland“ (2003), eine „Überprüfung von Vorurteilen“ im Religionsunterricht anzustoßen.897 ‚Fremd‘ und ‚eigen‘ sind als binäre Oppositionen trügerisch, da sie „Identitäten als feste, gegebene Größen mit klar umrissenen Grenzen“898 verstehen. Doch Identitäten sind fluid und sowohl das ‚Eigene‘ als auch das ‚Fremde‘ sind vielschichtig. Christliche LeserInnen entwickeln sich während der Lektüre von Bibel und Koran und die Wahrnehmung von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ kann sich während der Texterschließung ebenfalls verändern. Es gibt nicht die objektiv festgeschriebene Wahrnehmung von Bibel und Koran. Lehrpersonen befinden sich gemeinsam mit den SchülerInnen auf einer bibli-

894 895 896 897 898

Feichtinger 2016, S. 119. Middelbeck-Varwick 2014, S. 173. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2010, S. 18 u. 34. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2003, Artikel 3.3.5. Nehring und Tielesch 2013, S. 146

4.2.4 Dekonstruktion binärer Oppositionen: ‚fremd‘ und ‚eigen‘

211

schen und koranischen Entdeckungsreise. Jede Lerngruppe kann neue, unerwartete Dinge erschließen.899 Der jeweilige Kanon setzt verbindliche Grenzen, doch Bibel und Koran begrenzen LeserInnen und HörerInnen nicht. Sie erweisen sich aufgrund der vielfältigen Verknüpfungen als offen – eine intertextuelle Lektüre von Bibel und Koran regt Grenzgänge an. Eine Konstruktion des ‚Eigenen‘, das (nur) auf Abgrenzung basiert, verstärkt Machtstrukturen.900 Das zeigt beispielsweise die Konstruktion der binären Oppositionen ‚Okzident‘ und ‚Orient‘, die über eine Abgrenzung zwischen christlichem Abendland und islamischen Morgenland verläuft mit einer westlichen Betonung der „Überlegenheit“ des Abendlandes „zum Zweck der Etablierung eines hegemonialen europäischen Herrschaftsdiskurses.“901 Das ‚Fremde‘ gilt zumeist als weniger entwickelt und unaufgeklärt, aber auch als übermächtig und bedrohlich („othering“).902 Eine derartig problematische Konstruktion des ‚Fremden‘ wird in Deutschland besonders stark auf den Islam projiziert, der „in den letzten Jahrzehnten zum Prototyp des Fremden in der westlichen Welt geworden [ist].“903 Die räumliche Nähe zum Islam hat sich in Deutschland durch Globalisierung und Migration verringert, doch deshalb nehmen „Vertrautheit und Zugehörigkeit […] nicht einfach automatisch zu, möglich sind sogar entgegengesetzte Tendenzen.“904 MuslimInnen gelten in Deutschland häufig als ‚Fremde‘, die unterentwickelt, vormodern, unaufgeklärt, frauenfeindlich sowie undemokratisch sind, aber zugleich auch eine extremistisch-terroristische Bedrohung darstellen.905 Das kann nicht nur zur Spaltung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen SchülerInnen im Klassenverbund führen, sondern auch zu einer „inneren Entfremdung muslimischer Kinder, die sich dem zugeschriebenen Bild mit den Markern ‚fremd‘, ‚anders‘ oder ‚exotisch‘ anpassen.“906 Eine Dekonstruktion solcher gefährlichen, binären Oppositionen ist für ein friedvolles Miteinander in der Gesellschaft notwendig. Sie stößt eine Reflexion der eigenen strukturellen Privilegien an.907 Die Dekonstruktion ist eine poststrukturalistische Theorie und umfasst neben destruktiven Momenten auch immer (Neu-)Konstruktionen, sie bewegt sich „zwischen Kritik und Affirmation“.908 Die intertextuelle Lektüre von Bibel und Koran leistet einen wertvollen theolo-

899 900 901 902 903 904 905

906 907 908

Ruster 2000, S. 200. Bachmann-Medick 2018, S. 190. Bachmann-Medick 2018, S. 188. Bachmann-Medick 2018, S. 185. Rommelspacher 2017, S. 335. Vgl. auch Gellner und Langenhorst 2013, S. 174. Riegger 2011, S. 67 Affolderbach 2005, S. 77; Broden 2007, S. 10; Gellner und Langenhorst 2013, S. 174; Messerschmidt 2014, S. 51. Broden 2007, S. 12. Vgl. auch Foroutan und Schäfer 2009, S. 13. Messerschmidt 2014, S. 44. Zapf 2013, S. 123; Kropač 2016, S. 65.

212

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

gischen Beitrag, weil sie Vielfalt hervorhebt und starre, eindimensionale Konstruktionen von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ aufbricht. Die biblischen Texte eröffnen ebenfalls Alteritätsperspektiven, sodass auch das „christliche Selbst“ eine Verfremdung erfährt.909 Die alttestamentliche Jona-Erzählung und ihre neutestamentlichen Rezeptionen machen deutlich, dass schon das ‚Eigene‘ vielschichtig ist und katholischen SchülerInnen teilweise fremd erscheinen kann. Jesu Worte über das Zeichen Jonas können auf ChristInnen sogar fremder und rätselhafter wirken als die koranischen Jona-Rezeptionen. An den Jona-Perikopen im Koran lässt sich außerdem das Vorurteil eines statischen Gottes- und Prophetenbildes im Islam revidieren. Die kritische Reflexion des dogmatischen Prinzips der prophetischen Unfehlbarkeit (arab. isma) stellt sowohl für christliche als auch für islamische AuslegerInnen eine Herausforderung dar.910 Dieses Konzept entspringt nicht dem Koran, sondern entwickelte sich vermutlich aufgrund der schiitischen „Doktrin der Sündlosigkeit der Imame (gegen die sunnitischen Kalifen) und der Propheten“.911 Das Prinzip der prophetischen Unfehlbarkeit (arab. isma) setzt sich auch im Sunnitentum durch und prägt die islamische Exegese und SchülerInnenvorstellungen bis heute.912 Die Jona-Perikopen im Koran charakterisieren Jona als ungeduldig (Sure 68:48), als negatives Beispiel („sei nicht so wie der Gefährte des großen Fisches“ Sure 68:48), als „einer der Verstoßenen“ (Sure 37:141), der „sich selbst tadelte“ (Sure 37:142), als einer, der „erzürnt wegging“ (Sure 21:87), der denkt, dass Gott „ihn nicht einschränken“ (Sure 21:87) kann, der sich „in der Finsternis“ (Sure 21:87) befindet und ein „Frevler“ (Sure 21:88) ist. Der Vergleich von Jona und Muhammad zeigt außerdem, dass auch Muhammad mit Ungeduld (Sure 68:48) und Zweifel (Sure 10:94) ringt. Jona ist nicht unfehlbar und dient in dieser Hinsicht Muhammad als Vorbild. Die Propheten gelten als von Gott „geschützte“ (arab. isma) Botschafter, die „beim Überbringen der göttlichen Botschaft frei von Irrtum sind“913 und nicht per se als fehlerfreie Menschen. Die Jona-Perikopen regen eine Reflexion des isma-Verständnisses und einen Diskurs über die Gott-MenschBeziehung an. Gott wendet sich fehlbaren Menschen zu, vergibt und gewährt Umkehr. Die intertextuelle Lektüre öffnet scheinbar geschlossene Systeme, löst dadurch binäre Bedeutungsoppositionen auf, lässt LeserInnen blinde Flecken entdecken und stößt wertvolle Diskurse an.914 Die Zugänge sowohl zur Bibel als auch zum Koran sind so vielfältig wie die Lebenskontexte der LeserInnen und

909 910 911 912 913 914

Bachmann-Medick 2018, S. 206. Reynolds 2010, S. 120 u. 122. Lang 2015, S. 220. Lang 2015, S. 221. Mohagheghi 2014, S. 137. Zapf 2013, S. 123–124; Kropač 2016, S. 65.

4.2.4 Dekonstruktion binärer Oppositionen: ‚fremd‘ und ‚eigen‘

213

HörerInnen.915 Alteritätsmomente stoßen eine bewusste, achtsame Textwahrnehmung an, die mit Automatismen und Reduktionismus bricht. Sie lassen SchülerInnen während des Rezeptionsprozesses innehalten und zurück auf bereits „Bekanntes“ blicken. Eine christliche Koranlektüre kann Erinnerungen an biblische Erzählungen wachrufen und Deutungen der Texte neuakzentuieren. Zwischen den Texten sind Räume der Erinnerungen – Intertextualität eröffnet Erinnerungsräume.916 Dabei können neue theologische Denkräume entstehen.917 Differenzen zwischen Christentum und Islam, zwischen Bibel und Koran gelten als Ausgangs- und nicht als Endpunkt der Lernprozesse. Außerdem sind Bibel und Koran als kulturelles Erbe für alle Menschen von Bedeutung und nicht nur für die jeweilige Glaubensgemeinschaft. Obwohl der Koran „derselben geographischen Landschaft und Tradition“918 entstammt wie die biblischen Schriften und „ebenfalls prägend für Europa sowie die religiösen Diskurse der drei Weltreligionen“919 ist, gilt er „als ein gegenüber der europäischen Kultur grundlegend fremder Text“.920 Die Wahrnehmung des Islams von Nicht-MuslimInnen in Deutschland zeigt, dass mehr als die Hälfte der Deutschen den Koran nicht als kulturelles und integrales Erbe Europas wahrnimmt: „57 Prozent der nicht-muslimischen Bundesbürger sehen den Islam als Bedrohung, 61 Prozent meinen, der Islam passe nicht in die westliche Welt.“921 Die Herstellung von binären Oppositionen von Okzident und Orient bzw. Westen und Osten verläuft verstärkt über die Abgrenzung zwischen christlichem Abendland und islamischen Morgenland. Die intertextuelle Lektüre betont die Verknüpfung von Bibel und Koran sowie der Religionen und führt eine Konstruktion gegensätzlicher Traditionen ad absurdum. Der Koran, der sich als Gesprächspartner christlicher und jüdischer Traditionen versteht, ist prägend für die europäische Kultur sowie für die religiösen Diskurse der drei Weltreligionen.922 Die Betrachtung koranischer Texte leistet einen Beitrag zur Reflexion „eurozentrierte[r] Wissensordnungen und Repräsentationssysteme“.923 Auch wenn, oder gerade weil die Struktur des Korans befremdlich wirkt, kann sie eine Reflexion der eigenen kulturellen Verwurzelung anstoßen und das Literaturverständnis der SchülerInnen weiten.924 Der Koran weicht von bekannten, narrativen Strukturen ab: Die zirkuläre Struktur fordert LeserInnen und HörerInnen

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Gruber 2004, S. 57–59; el Omari 2019, S. 13. Lachmann 1990, S. 35. Takim 2010, S. 196. Neuwirth 2014, S. 139. Neuwirth 2010, S. 24. Neuwirth 2014, S. 139. Bertelsmann Stiftung 2016, S. 5. Neuwirth 2010, S. 24. Vgl. auch Assmann 2018, S. 163 Bachmann-Medick 2018, S. 184. Bachmann-Medick 2018, S. 193; Damrosch 2014, S. 5; Johns 1993, S. 204.

214

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

heraus, nicht ‚nur‘ einer fortschreitenden, linearen Erzählung zu folgen, sondern darüber hinaus Dialogen zuzuhören und darauf zu reagieren.925 Das kann eine Reflexion eines rein verstehensorientierten Zugangs zu Bibel und Koran anstoßen: Ästhetische Zugänge komplementieren kognitive Lernprozesse. Die Jona-Texte rücken die Umkehr von bösen Wegen ins Zentrum. Für christliche LeserInnen bedeutet das auch eine Umkehr von christlichen Überlegenheitsansprüchen: Neben einer wertschätzenden Haltung gegenüber der Hebräischen Bibel gilt das ebenfalls für eine christliche Koranlektüre. Jahrhundertelang haben ChristInnen den Koran als „Verfälschung der Bibel“,926 „Irrlehre“ oder „Lügenbuch“ missbilligt und eine Lektüre abgelehnt.927 Im theologischen Fachdiskurs sind apologetische und abwertende Kommentare zwar weitgehend überwunden,928 doch in Gesellschaft und Medien herrschen immer noch Vorurteile gegenüber dem Koran und Islam. Die Lektüre des Korans ist von gesellschaftlicher Relevanz und hat einen positiven Einfluss auf das Miteinander von muslimischen und katholischen SchülerInnen. Die Ergebnisse des Religionsmonitors 2017/19 der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass viele deutsche Nicht-MuslimInnen den Islam als Ideologie wahrnehmen.929 Eine Koranlektüre im katholischen Religionsunterricht kann dazu beitragen, dieses Vorurteil zu revidieren, weil der antiideologische Impetus im Koran deutlich erkennbar ist. Der Koran bietet Interpretationsspielräume sowie unterschiedliche Positionen und Blickwinkel an. Allein die Vielfalt der Jona-Perikopen im Koran mit unterschiedlichen theologischen Schwerpunkten verdeutlicht das. Im Aufsatz „Der Psalter als Haus der Stimmen. Heteroglossie als Schlüssel zu einer christlichen Lektüre der Psalmen“ stellt Ballhorn anknüpfend an Bachtins Begriff „Heteroglossie“ heraus, dass die biblischen Texte einen antiideologischen Impetus innehaben, weil mehrere spannungsreiche Stimmen erklingen und nicht nur eine Autorität zu Wort kommt.930 Der Aspekt der Vielstimmigkeit dominiert auch die Texte des Korans. Gott spricht in vielfältiger Weise. Gegensätzliche, auch sich widersetzende Stimmen erklingen: Gott, Muhammad, die Gemeinde sowie andere Gläubige, aber auch Leugner sprechen zueinander. Die Stimmen wechseln häufig und an manchen Stellen lässt der Text offen, wer spricht. Diese Mehrstimmigkeit kann SchülerInnen vor Augen führen, dass der Koran nicht die eine Lehrmeinung absolut setzt. Stattdessen lädt er LeserInnen und HörerInnen in den Text ein, um eigene Bedeutung im Rezeptionsprozess zu generieren.

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Bachmann-Medick 2018, S. 193; Damrosch 2014, S. 5; Kuschel 2017, S. 97; Neuwirth 2010, S. 607. Bobzin 2015, S. 8. Middelbeck-Varwick 2014, S. 172. Middelbeck-Varwick 2014, S. 172. El-Menouar 2019. Ballhorn 2017, S. 10.

4.2.5 Blickfeld: SchülerInnen und Texte

215

4.2.5 Blickfeld: SchülerInnen und Texte Ein Zugang über die Jona-Texte ermöglicht katholischen SchülerInnen eine Teilhabe sowohl an der Bibel als auch am Koran. Er muss sowohl den Bedarfen und Fähigkeiten der SchülerInnen entsprechen (Gefahr Überforderung/Irrelevanz) als auch dem Anspruch der Texte (Gefahr Reduktionismus/Funktionalisierung) Genüge leisten. Er erweist sich als komplex, weil er von SchülerInnen kognitive Fähigkeiten abverlangt.931 „Jona in Koran und Bibel“ ist herausfordernd, doch das stellt nicht automatisch eine Lernbarriere dar, denn sowohl die Hattie-Studie (2013) als auch die Erhebungen von Englert et al. illustrieren, dass ein kognitiv anspruchsvoller Lerngegenstand die Aneignungsintensität positiv beeinflussen kann.932 Die Bibel ist der Ausgangspunkt für eine christliche Koranlektüre. Auch wenn viele Kinder nur selten in der Bibel lesen, nur wenige biblische Erzählungen kennen und der Religionsunterricht oftmals der einzige Ort der Auseinandersetzung mit der Bibel darstellt, erweist sich dieser Gegenstand gerade auch deshalb als fruchtbare und wertvolle Begegnung mit der Bibel.933 Die Fremdheit der biblischen Erzählungen ist ein Lernanreiz und keine unüberbrückbare Hürde. Viele Kinder, auch gerade zu Beginn der Sekundarstufe I, wünschen sich eine Auseinandersetzung mit biblischen Erzählungen im Religionsunterricht.934 Daher scheinen die biblischen Erzählungen durchaus ein reizvoller Ausgangspunkt zu sein. Zudem kann die Zielperspektive, den Koran zu lesen, ein zusätzlicher Lernimpuls und Relevanzstifter sein, weil die Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben (anhand des Korans) von hoher gesellschaftlicher Relevanz in Deutschland ist.935 Dennoch kann die Beschäftigung mit mehreren Texten aus unterschiedlichen religiösen Traditionen SchülerInnen überfordern, einerseits aufgrund eines zu großen Textumfangs, andererseits wegen der Vielfalt an Deutungen. Die exegetische Erschließung der alttestamentlichen Jona-Erzählung mit den Re-

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Gärtner 2015b, S. 38; Gellner und Langenhorst 2013, S. 346. Englert et al. 2014, S. 127. Vgl. auch Hattie 2014, S. 58. Hanisch und Bucher 2002, S. 62. Die Umfrage von Hanisch und Bucher illustriert, dass 87,7% der Kinder die ihnen bekannten biblischen Erzählungen aus dem Religionsunterricht kennen, 38,1% der Kinder und/oder aus Kinderbibeln sowie 27,8% der Kinder und/aus dem Gottesdienst (Hanisch und Bucher 2002, S. 61). Hanisch und Bucher haben n = 2402 Kinder am Ende der Grundschulzeit in Baden-Württemberg und Berlin befragt, davon waren 21,5% katholisch und 78,5% evangelisch (Hanisch und Bucher 2002, S. 14– 15). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Berg 1993, S. 16; Büttner und Reis 2001, S. 43; Fuchs-Heinritz 2000, S. 167; Lenhard und Obst 2018, S. 471. Nach Hanisch und Bucher wünschen sich über 60% der Kinder zu Beginn der Sekundarstufe I in Haupt- und Realschule sowie auf dem Gymnasium mehr biblische Erzählungen kennenzulernen (Hanisch und Bucher 2002, S. 123). Schweitzer 2014, S. 21–36.

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4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

zeptionen in Bibel und Koran führt vor Augen, dass es einen reichhaltigen Fundus an Jona-Texten gibt. Das heißt allerdings nicht, dass SchülerInnen alle JonaTexte im Kontext einer Unterrichtsreihe kognitiv erschließen müssen. Stattdessen können LehrerInnen eine für ihre Lerngruppe geeignete Textauswahl treffen und differenzierte Zugänge anbieten.936 Unser hebt hervor, dass gerade Kinder, die ansonsten wenig lesen, Schwierigkeiten mit interreligiösen Lernprozessen haben, unabhängig davon, ob es sich um einen textbasierten Lerngegenstand handelt. Gerade die Auseinandersetzung mit Texten und die damit einhergehende Erfahrung von eigenständigen Erfolgen stärkt SchülerInnen und ihre Teilhabe an interreligiösen Lernprozessen.937 Die Lektüre von biblischen und koranischen Texten fordert und fördert die religiöse Lese- und Sprachkompetenz von SchülerInnen.938 Das ermöglicht SchülerInnen, die ansonsten wenig lesen und/oder eine geringe religiöse Sprachfähigkeit entwickelt haben, eine nachhaltige Teilhabe am Religionsunterricht. Eine differenzierte Aufbereitung der biblischen und koranischen Texte sowie passende Arbeitsaufträge, die den heterogenen (Lese-)Fähigkeiten und Fertigkeiten der SchülerInnen entsprechen, ist notwendig.939 Biblisches Lernen im Religionsunterricht zielt auf kognitiv-intellektuelle und auf affektiv-emotionale Bildungsprozesse ab.940 Ein rein kognitiver Zugang wird den heterogenen Bedarfen einer Lerngruppe, aber auch dem Selbstverständnis von Bibel und Koran nicht gerecht. Sie können und wollen mehrdimensional von LeserInnen erschlossen werden. Klang, Form und Inhalt sind in Koran und Bibel miteinander verbunden. SchülerInnen können Bibel und Koran tiefgreifend erschließen, indem sie die Texte lesen, hören, sprechen und mitgestalten. Sowohl der Koran als auch die Bibel fordert RezipientInnen zur Rezitation auf: „Muslime und Christen glauben gleichermaßen, dass sich durch das Hören auf einen Text ein Zugang zu Gott gewinnen lässt.“941 In der Bibel bringt das Schema Israel (Dtn 6,4–9) das eindrucksvoll zum Ausdruck: Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, 936

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Mehr zur Auswahl von einzelnen Texten und der damit einhergehenden Problematik der Funktionalisierung von biblischen und koranischen Texten in Abschnitt 4.2.6. Unser 2019, S. 326–327. Gellner und Langenhorst 2013, S. 364. Unser 2019, S. 327. Englert 2020, S. 161; Kropač 2001, S. 298; Langenhorst 2018, S. 4. von Stosch 2010, S. 249.

4.2.5 Blickfeld: SchülerInnen und Texte

217

wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.

Menschen sollen Gottes Worte „hören“, „lieben“, ins Herz schreiben, „wiederholen“, „sprechen“ und mit sich tragen. Die Bedeutung des Hörens („Wer Ohren hat, der höre“ u. a. in Mt 11,15; Mk 4,9; Lk 8,8; Offb 2,7) kommt auch in den neutestamentlichen Schriften fortwährend zum Ausdruck. Jesus Christus betont die Wichtigkeit des Schema Israels (Mk 12,29–30). Ein ästhetischer Zugang kann Audition, Rezitation, Meditation sowie Kreation umfassen und eröffnet dadurch eine allumfassende Teilhabe an Bibel und Koran. Erzählen und Zuhören stellen Formen der aktiven Auseinandersetzung mit biblischen und koranischen Erzählungen dar. Papst Franziskus hebt in seiner Botschaft zum 54. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel die Bedeutung vom Erzählen hervor, Gott ist „der Erzähler schlechthin“ und als logos selbst Erzählung geworden.942 Erzählen stiftet Erinnerung und neben biblischen Texten können auch andere Erzählungen „den Duft des Evangeliums an sich haben und jene Liebe bezeugen, die das Leben verwandelt.“943 In diesem Sinne ist das Erzählen von Texten aus Bibel und Koran liebevolle Verwandlung des menschlichen Lebens, indem sie Gott erahnen, den Duft der frohen Botschaft „riechen“ können. Ein ästhetischer Zugang ist nicht zwingend ein theologischer oder bekenntnisorientierter Zugang, auch konfessionslose SchülerInnen können sich der Bibel und dem Koran ästhetisch zuwenden.944 LehrerInnen müssen SchülerInnen heterogene Identifikationsmomente bieten, aber auch Raum zur Distanzierung ermöglichen. Katholische SchülerInnen können sich der Bibel und dem Koran ästhetisch zuwenden und gleichzeitig beide unterschiedlich wahrnehmen: Aus christlicher Perspektive ist die Bibel als Glaubenszeugnis von Bedeutung und der Koran als kulturelles Erbe, das die Bibel und Gott für ChristInnen neu erklingen lässt. Die Betrachtung der alttestamentlichen Jona-Erzählung und ihrer Rezeptionen ist ein fortwährender religiöser Lernprozess und keine einmalige Unterrichtsreihe.945 Anknüpfendes Lernen ermöglicht „nachhaltiges religiöses Lernen mit der Bibel“.946 Es handelt sich um eine spiralförmige Progression, in der es neben fortschreitendem Lernen auch Stillstand, Abbrüche und Rückbezüge

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Papst Franziskus 2020, Abschnitt 3. Papst Franziskus 2020, Abschnitt 4. Englert 2020, S. 109. Englert hebt das für die Bibel hervor. Kalloch 2001, S. 311; Kropač 2005, S. 166; Reese 2007, S. 90. Oberthür 2006, S. 258.

218

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

gibt.947 Lerngruppen können an Jona als „dem Bekannten“ unterschiedliche Themenkomplexe und Fragestellungen in ihrer Schullaufbahn erschließen. Die Kernlehrpläne spiegeln diesen Gedanken wider: Die Kompetenzentwicklung und inhaltlichen Schwerpunkte bauen aufeinander auf und sind keine einzelnen, abgeschlossenen Einheiten.948 So können SchülerInnen Jona in den Texten immer wieder neu begegnen, zu unterschiedlichen Lernanlässen und in vielfältigen Lernkontexten. Es ist laut Kernlehrplan vorgesehen, dass Jona im katholischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen bis zum Ende der Klasse 4 als Beispiel einer prophetischen Lehrerzählung vorkommt.949 In der Sekundarstufe I gibt es mehrere Anknüpfungspunkte zum Erlernten in der Grundschule. Jona kann als Beispiel für ein „prophetisches Zeugnis“ (Inhaltsfeld 2: Sprechen von und mit Gott) an allen weiterführenden Schulen Lerngegenstand sein.950 Im Kontext von „Inhaltsfeld 6: Die christliche Hoffnung auf Vollendung“, wenn SchülerInnen „Bilder von Gericht und Vollendung“ erschließen sollen, können die biblische Jona-Erzählung und die neutestamentlichen Rezeptionen in der gymnasialen Oberstufe erneuter Lerngegenstand sein.951 Diese Konkretisierung anhand der Kernlehrpläne in Nordrhein-Westfalen ist exemplarisch und kann je nach Lerngruppe unterschiedlich ausfallen. Es soll außerdem nicht der Eindruck entstehen, dass SchülerInnen verschiedene Themen ‚nur‘ noch an den Jona-Texten erschließen und andere biblische Texte nicht mehr kennenlernen. Stattdessen können die biblischen Jona-Perikopen Lernimpulse darstellen, die Lust auf andere biblische Texte machen. Das Jona-Buch ist intertextuell mit vielen biblischen Texten verknüpft, sodass ein reichhaltiges kanonisch-intertextuelles Arbeiten möglich ist. Es handelt sich um einen kumulativen Kompetenzaufbau, der seinen Ausgangspunkt in der Jona-Erzählung haben kann. SchülerInnen können die dort erworbenen Kompetenzen anhand anderer biblischer Texte (beispielsweise Amos und Jeremia) vertiefen.952 So können sie einen selbstständigen Umgang mit biblischen Texten einüben. Das gilt als die wichtigste bibeldidaktische Zielperspektive im kompetenzorientierten Religionsunterricht.953 Jona ermächtigt als eine „Insel der Vertrautheit“954 zu einem kompetenten Umgang mit der 947

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Das hebt Führing für interkulturelle Lernprozesse hervor und gilt gleichermaßen für den Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“. Vgl. auch Führing 1996, S. 127. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2011, S. 18. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008, S. 176. Im evangelischen Religionsunterricht ist Jona in der Schuleingangsphase zum Thema „Umkehr“ vorgesehen (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen 2008, S. 158). Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2011, S. 29, 2013a, S. 26, 2013c, S. 26, 2013b, S. 31. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, S. 31 u. 39. Fiß und Neebe 2018, S. 144. Lenhard und Obst 2018, S. 474. Steins 2009, S. 166.

4.2.5 Blickfeld: SchülerInnen und Texte

219

Bibel und lädt zur eigenständigen Erkundungsreise durch die Bibel und einem christlichen Zugang zum Koran ein. Neben der Textfülle stellt die Vielfalt an Deutungen und Perspektiven eine fruchtbare Herausforderung dar. SchülerInnen müssen vor allem die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und den Umgang mit Mehrdimensionalität sowie religiösen Fragen, auf die es nicht immer eindeutige Antworten gibt, erlernen. Dafür sind entwicklungspsychologische Erkenntnisse zu beachten.955 Die Auseinandersetzung mit offenen, religiösen Fragen ist nach Englert ertragreich, kann jedoch problematisch sein, wenn sie „nur für eine überschaubare, reflexiv und religiös besonders begabte Minderheit geeignet ist“956 und andere anwesende SchülerInnen überfordert. Unser hebt hervor, dass insbesondere SchülerInnen, die viel lesen, fähig sind, produktiv mit Mehrperspektivität (in interreligiösen Lernprozessen) umzugehen.957 Nicht nur Kinder, die bereits viel in ihrer Freizeit lesen, können einen Zugang erlangen, stattdessen können auch SchülerInnen, die ansonsten wenig lesen, mit Hilfe der Jona-Texte eine neue Leselust entfalten. Die Erschließung der Jona-Texte in Bibel und Koran kann dazu beitragen, die Lesekompetenz und die damit einhergehende Fähigkeit, mehrperspektivisch zu denken, zu stärken.958 Sie können „Trainingsfeld“ für das Einüben von Mehrperspektivität sein.959 Der Faktor „Zeit“ spielt eine Rolle. Es ist ratsam, dass sich LehrerInnen im Unterricht Zeit zur Anleitung und Begleitung nehmen, damit sie ihre SchülerInnen dabei unterstützen, ihre Lesekompetenz zu erweitern. Eine 955

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Die Stufentheorie zur Glaubensentwicklung nach Fowler (Fowler 2000), das strukturgenetische Stufenmodell über die religiöse Entwicklung nach Oser/Gmünder (Oser und Gmünder 1996) liefern entwicklungspsychologische Einblicke. Auch wenn, oder gerade weil, Stufentheorien zum Standardrepertoire von ReligionslehrerInnen gehören, ist eine kritische Reflexion vonnöten: Klar abzugrenzende, altersspezifische Stufen werden den Ansprüchen der heterogenen Lerngruppen nicht gerecht. Jede Lerngruppe ist heterogen und mehrere Dimensionen von Heterogenität (z. B. Begabung, Dis/Ability, Gender, kulturelle oder soziale Herkunft, Mehrsprachigkeit) haben Einfluss auf den Lernprozess. Religion ist ein domänenspezifisches Phänomen und verläuft nicht zwingend parallel zu anderen (kognitiven) Entwicklungen, sondern ist abhängig von (religiöser) Sozialisation und der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft (Büttner 2015). Zudem ist die Wahrnehmung der Stufen als Streben nach „Perfektionierung“ anthropologisch-theologisch fragwürdig und scheint außerdem theologische Beiträge von Kindern im Grundschulalter weniger wertzuschätzen als das Theologisieren auf einer „höheren“ Stufe, beispielsweise von Jugendlichen oder auch Erwachsenen. Kindertheologie ist kein „Weniger“, sondern ein „Anders“ (Schweitzer 2016, S. 159–165). Die Flexibilisierung als ein Nebeneinander der Stufen anstelle einer Hierarchisierung erscheint eine wertvolle Perspektive (Büttner 2015). Die Stufen bieten Orientierungsangebote für eine weiterführende, vertiefende Diagnose der Lerngruppe. Englert 2020, S. 75. Unser 2019, S. 317. Unser 2019, S. 326–327 Bauer 2018, S. 119. Bauer plädiert dafür, dass Literatur, Kunst und Musik Trainingsfelder für Ambiguitätstoleranz sein können.

220

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Verlagerung der Lektüre von Bibel und Koran aus dem Religionsunterricht kann deshalb problematisch sein. Kontinuierlich aufbauende Unterrichtseinheiten sind ertragreich.960 Die Deutsche Bischofskonferenz schlägt in der Arbeitshilfe „Christen und Muslime in Deutschland“ (2003) für den Lerngegenstand „Islam“ im katholischen Religionsunterricht einen fortwährenden Lernprozess vor und sieht Lernpotenziale in der Grundschule, Sekundarstufe I und II sowie in der berufsbildenden Schule.961 Und auch Schweitzer sowie Tautz heben hervor, dass Themen der interreligiösen Bildung zyklisch über alle Schulstufen verteilt, wiederkehren sollen.962 Hier ergeben sich Räume, um eine produktive Bibel- und Koranlektüre fortwährend in den Unterricht zu integrieren. Nach Maiwald sind „Vereindeutigungs- und Objektivierungsdruck“ sowie Funktionalisierung, Gründe für eine sinkende Lust am Lesen.963 Das Lesen von Bibel und Koran, das Mehrperspektivität und Diskursivität in den Mittelpunkt rückt und neben kognitiven auch affektive sowie ästhetische Zugänge eröffnet, steuert solchen Tendenzen entgegen. Auch wenn Offenheit und Mehrperspektivität die Lesemotivation steigern, verspüren einige SchülerInnen „eine verstärkte Sehnsucht nach Verlässlichkeit“ und können die Komplexität und Offenheit religiöser Diskurse „als drohende Bodenlosigkeit“ wahrnehmen.964 ReligionslehrerInnen gehen auf diese Sehnsüchte und Befürchtungen ein, indem sie einen Referenzrahmen anbieten und ihren SchülerInnen den „Mehrwert einer verzweigten Interpretationsgemeinschaft gegenüber theologischen Alleingängen“965 vor Augen führen. In einer Zeit, in der Digitalisierung riesige Gedächtnisspeicher ermöglicht, ist das Navigieren und Vernetzen, die Relevanzfrage, von besonderer Bedeutung.966 Der biblische Kanon gilt ChristInnen als Referenzrahmen.967 Er hebt hervor, welche Texte für ChristInnen normative Geltung haben. Mit Hilfe des biblischen Referenzrahmens eröffnet sich ein christlicher Zugang zum Koran. Die biblischen Jona-Texte bieten elementare Wahrheiten an und lassen sich im kanonischen Kontext auslegen. Der Vergleich der Deutungen Jonas, die der Koran für die islamische Interpretationsgemeinschaft und die Bibel für eine christliche Interpretationsgemeinschaft liefert, stößt eine Schärfung der Perspektive an.

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Maiwald 1999, S. 388. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2003, Artikel 3.3.5. Schweitzer 2014, S. 187; Tautz 2018. Maiwald 1999, S. 48–49. Englert 2020, S. 150. Englert 2020, S. 182. Assmann 2020, S. 30–33; Schuh 2020, S. 108. Heimbach-Steins et al. 2012, S. 140–142.

4.2.5.1 Mehrperspektivität und (Multi-)Religiosität der Lerngruppe

221

4.2.5.1 Mehrperspektivität und (Multi-)Religiosität der Lerngruppe Jede Lerngruppe ist heterogen, das gilt auch für den konfessionell gebundenen katholischen Religionsunterricht.968 Selbst wenn alle anwesenden SchülerInnen katholisch getauft sind, gibt es eine Vielfalt an biblischen Lektüreperspektiven, weil neben dem Aspekt „Religion“ auch andere Heterogenitätsdimensionen Einfluss auf den Lernprozess haben (z. B. religiöse Sozialisation, Dis/Ability, Gender, Mehrsprachigkeit, kulturelle oder soziale Herkunft). Katholische SchülerInnen setzen unterschiedliche Schwerpunkte bei der Aneignung der biblischen Texte und nehmen die Bibel unterschiedlich wahr:969 Einige SchülerInnen stufen die Bibel als „relevant“ für ihr eigenes Leben ein, andere haben keinen persönlichen Bezug zu den biblischen Erzählungen; manche lesen in ihrer Freizeit in der Bibel, hören im Gottesdienst biblische Lesungen, wiederum andere beschäftigen sich nur im Religionsunterricht mit der Bibel; einige katholische SchülerInnen kennen viele biblische Erzählungen, andere allerdings nur wenige oder gar keine biblische Figuren; katholische SchülerInnen können etliche bis hin zu (fast) keine intertextuellen Vernetzungen zwischen biblischen Erzählungen ziehen. Diese Vielfalt an Leseperspektiven fordert katholische ReligionslehrerInnen heraus, „Strukturierungsangebote innerhalb der religiösen Tradition anzubieten.“970 Die alttestamentliche Jona-Erzählung und die Herausarbeitung der elementaren Strukturen bieten einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die Lerngruppe. Die intertextuelle Vorgehensweise wertschätzt sowohl die Heterogenität der Lerngruppe als auch der biblischen Texte.971 Neben der Wahrnehmung, dass die vielfältigen Lektüreperspektiven eine Herausforderung sind, geht zugleich „eine neue Wertschätzung des Lesers bzw. der einzelnen Person als gegenwärtige[…] und bedeutsame[…] Auslegungsinstanz“972 einher. Friese hebt hervor: „Je vielschichtiger das Spektrum der Lernenden, desto größer sind die Synergieeffekte und desto ertragreicher ist das Resultat theologischer Arbeit.“973 Die Lehrperson muss nicht nur den einen Zugang zum biblischen Text instruktiv anbieten. Stattdessen handelt sie mit den SchülerInnen zusammen Deutungen und intertextuelle Verbindungslinien aus. Katholische ReligionslehrerInnen sind auch ExegetInnen, die durch eine klare Formulierung der eigenen Lektüreperspektive Orientierungsangebote anbieten können. Dabei ist es wichtig, dass ReligionslehrerInnen ihre eigene Position vertreten und gleichzeitig SchülerInnen dazu einladen, „im Diskurs mit der Lehrkraft und dem, was sie von 968

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Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 2.1; Eberle et al. 2014, S. 1; Gärtner 2016b, S. 107–111; Hußmann und Welzel 2018, S. 8; Kammeyer 2012, S. 192. Fricke 2012, S. 218. Reese 2007, S. 92. Ballhorn und Gärtner 2017, S. 23. Reese 2007, S. 92. Müller-Friese 2014, S. 44.

222

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

der Bibel zu sehen bekommen, eigene Positionen zu nennen oder zu erproben.“974 Lehrpersonen müssen ihren SchülerInnen dabei Raum für Identifikation, Betroffensein, aber auch Distanzierung und Ablehnung geben. Dabei ist eine Reflexion schulischer Machtgefüge wichtig: „Asymmetrien zwischen Lehrenden und Lernenden, soziales Gefälle innerhalb der Schülerschaft, das Benotungssystem u. v. m. prägen das Lernen entscheidend.“975 Die religiöse und weltanschauliche Vielfalt im Klassenzimmer hat Einfluss auf Machtdiskurse.976 Es macht nicht nur einen Unterschied, ob muslimische SchülerInnen anwesend sind, sondern auch wie viele muslimische SchülerInnen am katholischen Religionsunterricht teilnehmen, ob es sich um eine Minderheit oder Mehrheit handelt. Die Herausstellung einiger weniger SchülerInnen als „muslimisch“ kann in Ohnmachts- oder Ausgrenzungsgefühle münden. Wenn muslimische SchülerInnen als „ExpertInnen“ ihrer Religion sprechen sollen, kann das zu Überforderung, Beziehungsabbrüchen sowie einseitigen und fehlerhaften Darstellungen führen.977 Das Lernen mit Texten aus Bibel und Koran wirkt dieser Tendenz entgegen. Es hebt hervor, dass es reichhaltige Deutungsansätze und nicht nur die eine christliche Perspektive im Gegensatz zu der einen islamischen Lektüre gibt. Wenn nur sehr wenige muslimische Kinder anwesend sind, können katholische ReligionslehrerInnen die Vielfalt an islamischen Lektüreperspektiven betonen, indem sie andere islamische „Stimmen“ erklingen lassen. Hier ist beispielsweise eine Kooperation mit muslimischen KollegInnen, einer muslimischen Lerngruppe oder die Einspielung islamischer Exegese denkbar. Wenn muslimische SchülerInnen im katholischen Religionsunterricht anwesend sind, erscheint es sinnvoll, ein vorbereitendes Gespräch mit muslimischen Eltern und Kindern über den Koran als Unterrichtsgegenstand zu führen. Es kann vorkommen, dass muslimische Kinder im (katholischen) Religionsunterricht gehemmt sind, den Koran in Form eines Buches zu erschließen, weil sie es meiden, den Koran (ohne vorherige rituelle Waschung) anzufassen.978Ein sorgsamer Umgang mit dem Koran im katholischen Religionsunterricht ist wichtig und Ausdruck von Wertschätzung aller anwesenden und abwesenden MuslimInnen: Es empfiehlt sich, den Koran nicht auf dem Boden oder zwischen anderen Büchern zu präsentieren,979 denn viele muslimische Haushalte verwahren den Koran an oberster Stelle im Raum. Eine christliche Wertschätzung soll allerdings nicht in übermäßiger Verehrung, Bibliolatrie oder glorifizierender Nostalgie ausufern: Weder Nachahmung muslimischer Gläubiger (z. B. rituelle Waschung oder ein

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Steinkühler 2019. Gärtner 2015a. Gärtner 2015b, S. 216. Baumann 2005, S. 397; Langenhorst 2008, S. 294; Meyer 2012, S. 55–59; Sajak et al. 2014, S. 214. Solgun-Kaps 2014, S. 114. Leimgruber und Wimmer 2005, S. 22.

4.2.5.2 Positionierung anstelle von Beliebigkeit

223

Kuss des Korans) noch der Wunsch, dass ChristInnen die Bibel auch endlich (wieder) in gleicher Form würdigen, wie MuslimInnen den Koran,980 erscheinen angemessen. Eine Nachfrage, ob muslimische SchülerInnen ein eigenes Koranexemplar mitbringen möchten, oder das Drucken der Koran-Perikopen auf einem Arbeitsblatt, nehmen Hemmschwellen bei muslimischen SchülerInnen ernst und können eine Entlastung für katholische LehrerInnen darstellen.981 Die Erschließung mit Hilfe von Arbeitsblättern ist sinnvoll, weil es die Botschaft des Korans in den Vordergrund rückt und nicht den Koran als Buch. Neben christlichen und muslimischen sind (mit hoher Wahrscheinlichkeit) konfessionslose SchülerInnen im katholischen Religionsunterricht anwesend.982 Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, sich „nicht nur an gläubige oder glaubenswillige, sondern ebenso an suchende und zweifelnde sowie an sich ungläubig verstehende Schülerinnen und Schüler [zu wenden].“983 Auch für konfessionslose SchülerInnen sind Bibel und Koran ein wichtiger Lerngegenstand, da sie „einen unverzichtbaren Beitrag zur Allgemeinbildung“984 leisten. Sie sind seit Jahrhunderten im kulturellen Gedächtnis der Menschheit verankert.985 Der katholische Religionsunterricht eröffnet sowohl für katholische als auch für konfessionslose SchülerInnen unterschiedliche Sinnperspektiven, um religiöse und weltanschauliche Perspektiven zu reflektieren und um SchülerInnen dadurch „vor – religiösen und nicht-religiösen – Fundamentalismen [zu] bewahren.“986 So sind Bibel und Koran für alle SchülerInnen als kulturelles Erbe sowie zur Reflexion der eigenen Lektüreperspektive und Weltanschauung bedeutsam.

4.2.5.2 Positionierung anstelle von Beliebigkeit Eine Vielfalt an Lektüreperspektiven muss nicht in Beliebigkeit ausufern. Meyers Analyse zeigt, dass Unterrichtsmaterialien über religiöse Zeugnisse des Is-

980 981

982

983 984 985

986

Platow 2011, S. 183. Rochdi 2014. Rochdi empfiehlt das Lernen mit didaktisch aufbereiteten Übersetzungen auf Arbeitsblättern für den islamischen Religionsunterricht (Rochdi 2014, S. 101 u. 112; Vgl. auch Solgun-Kaps 2014, S. 114). Wie Sajak hervorhebt, erweist sich die „Gruppe“ hinsichtlich ihrer Weltanschauungen als heterogen, weil es nicht die konfessionslosen Menschen gibt. Sajak führt die vier Kategorien des Soziologen Pickel (überzeugte Atheisten, dezidiert Areligiöse, religiös Individualisierte und Indifferente) an (Pickel 2017, S. 51). Zusammengefasst ergibt sich daraus mit 36% der Bevölkerung die größte weltanschauliche Gruppe in Deutschland (Sajak 2018, S. 13–14). Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 1. Leimgruber und Wimmer 2005, S. 39. Leimgruber und Wimmer 2005, S. 39. Vgl. auch Englert, der die Bibel als „unverlierbare[s] Erbe der Menschheit“ bezeichnet und sie als wichtig für die Bildung aller Menschen einstuft (Englert 2020, S. 110). Gärtner 2015b, S. 42.

224

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

lams im konfessionellen Religionsunterricht oberflächlich sind, weil sie Parallelen von Islam und Christentum überbetonen und alle anderen Aspekte ausklammern. Dabei geht es vor allem um die Anhäufung von historischem Sachwissen.987 Zirker geht davon aus, dass die Sehnsucht nach Harmonie und verständnisvoller Nähe im interreligiösen Dialog, Grund für eine oberflächliche gar vereinnahmende Betrachtung des Islams sowie für die Funktionalisierung und Relativierung des christlichen Glaubens ist.988 Ein häufig genanntes Ziel für die Beschäftigung mit religiösen Zeugnissen anderer Religionen ist „Toleranz“. Doch Toleranz ist eine Leitidee, die LehrerInnen nicht einfach didaktisch inszenieren können.989 Die deutschen Bischöfe heben in „Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen“ (2005) hervor, dass eine „konzentrierte, intellektuell anspruchsvolle Arbeit an konkreten inhaltlichen Angeboten und Herausforderungen sowie die sachbezogene und argumentative Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungen“990 vonnöten ist, damit Toleranz nicht in „allgemeiner religiöser Gleichgültigkeit“991 mündet. Die Jona-Texte aus Bibel und Koran fordern anspruchsvolles und sachbezogenes Lernen heraus und laufen Tendenzen einer oberflächlichen Behandlung entgegen. Sie stellen den Ausgangs- und Bezugspunkt der SchülerInnengespräche dar und ermöglichen eine tiefgründige Auseinandersetzung, auch für SchülerInnen mit wenig Vorwissen, indem die Texte Gesprächsstoff liefern.992 SchülerInnen handeln gemeinsam mit ReligionslehrerInnen Grenzen der Textinterpretation aus.993 Lerngruppen können nicht alle Themen willkürlich an die Texte herantragen, stattdessen entwickeln sich die Themen aus den Texten heraus. Eine gemeinsame Systematisierung christlicher, islamischer oder säkularer Deutungen bei gleichzeitiger Reflexion und Ausschluss fehlleitender Deutungen ist notwendig. ReligionslehrerInnen agieren als MitauslegerInnen, LernbegleiterInnen und DiskurspartnerInnen. Sie moderieren, organisieren und systematisieren Lernprozesse: „Vor dem Anspruch Gottes sind Lehrer und Schüler – trotz der größeren Sachkompetenz des Lehrers – gleichermaßen Befragte und Lernende.“994 Christliche SchülerInnen erlernen einen christlichen Zugang zum Koran. Dabei stehen die intratextuellen biblischen Vernetzungen sowie die intertextuellen Verbindungslinien zum Koran im Vordergrund. Sie nehmen eine christli-

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988 989 990 991 992 993 994

Meyer 2012, S. 42–43. Meyer betrachtet dafür drei Schulbücher für den evangelischen Religionsunterricht. Zirker 2012, S. 24. Dressler 2005, S. 97. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 3.3. Nipkow 2005, S. 374. Kammeyer 2012, S. 198–199, 203 u. 207–208. Gärtner 2015b, S. 38. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1998, Artikel 2.8.6.

4.2.6 Blickfeld: Texte und SchülerInnen

225

che Lektüreperspektive ein, die in sich vielgestaltig ist, und lernen zugleich, biblische Theologie kontextuell zu betreiben. Pregill beanstandet den „Inselcharakter“995 der biblischen Theologie in den letzten Jahren und auch Bauschke fordert, dass „christliche Theologie kontextuell bleiben und nicht provinziell werden“996 soll. Eine Auseinandersetzung mit den intertextuellen Verknüpfungen von Bibel und Koran sowie die Wertschätzung der SchülerInnenassoziationen sind mögliche Beiträge dazu, christliche Bibelwissenschaften und Theologie aus der eigenen Abgeschlossenheit und aus „Inseldiskursen“ herauszuholen. Es eröffnen sich Diskursräume zwischen Bibel und Koran, zwischen Christentum und Islam. Der katholische Religionsunterricht bietet dabei Perspektiven, die eigene Position in diesen Diskursräumen zu reflektieren. Es zeugt von Wertschätzung, wenn christliche LeserInnen in Begegnung mit dem Koran die eigene Perspektive benennen und einnehmen. SchülerInnen reden nicht nur über Religion, sie lernen auch mit und in Religion (learning about, from and in religion),997 weil literarische Texte punktuelle Partizipation und die Begegnung mit der Innenseite gelebter Religion ermöglichen.998 Katholische SchülerInnen können anhand der koranischen Jona-Texte punktuell am islamischen Gottesglauben teilhaben (learning in religion), indem sie Texte des Korans lesen und theologische Perspektiven reflektieren (learning about religion). Zudem lernen sie mehr über Jonas Gottesbeziehung (learning from religion), indem der Koran eine zweite, vertiefende JonaLektüre für ChristInnen anstößt.

4.2.6 Blickfeld: Texte und SchülerInnen Der Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“ fordert neben einer Reflexion heterogener Perspektiven und Lernausgangslagen von SchülerInnen, auch eine wertschätzende Betrachtung von Bibel und Koran heraus. Sie sind nicht nur „Medien“ im Religionsunterricht. Deshalb verbietet sich eine Funktionalisierung von Bibel und Koran, beispielsweise als „Aufhänger“ oder Vorbereitung auf interreligiöse Begegnungen.999 Kontextualisierung kann einer Funktionalisierung entgegenwirken. Der Kontext einer intertextuellen Lektüre kann Relevanz und Lesemotivation stiften.1000 Es ist anzumerken, dass jegliche Auseinandersetzung mit Literatur „in irgendeiner Weise Funktionalisierung betreibt.“1001 Exegese, liturgische Verkündigung und schulische Betrachtung sind nie interesselos, deshalb sind Diskurse über die Funktionalisierung von Bibel und 995 996 997 998 999 1000 1001

Pregill 2007, S. 656. Im englischen Original verwendet Pregill den Ausdruck „insularity“. Bauschke 2000, S. 426. Roebben 2009, S. 148. Gellner und Langenhorst 2013, S. 354. Vgl. auch Mitchell 2005, S. 576. Gärtner 2010, S. 158; Gellner und Langenhorst 2013, S. 356. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.5. Gellner und Langenhorst 2013, S. 356.

226

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Koran „kein Einwand, sondern ein Warnschild“,1002 um eine kritische Prüfung der Textverwendung anzustoßen. Die Perikopisierung der Jona-Texte ist eine Form von unangemessener Funktionalisierung. Die Langzeitstudie von Englert et al. zeigt, dass häufig nur einzelne Verse atomisiert im Religionsunterricht vorkommen, insbesondere in der Grundschule.1003 Nach Lenhard und Obst ist die Verwendung von vereinzelten, „unzusammenhängende[n] Textinseln“ Grund dafür, dass SchülerInnen die Bibel als irrelevant einstufen.1004 Es ist wichtig, die Jona-Texte in ihrem Kontext zu lesen und nicht nur einzelne Verse isoliert zu betrachten. Die Botschaft der alttestamentlichen Jona-Erzählung erschließt sich im Kontext einer Ganzschriftlektüre. Für die neutestamentlichen Jona-Perikopen sind das Matthäusund Lukasevangelium ein erster und wichtiger Lesekontext. Das heißt nicht, dass SchülerInnen immer alle biblischen Bücher als Ganzschriften lesen müssen,1005 doch SchülerInnen und LehrerInnen können gemeinsam die Kontexte der Perikopen durch intra- und intertextuelle Verbindungslinien erschließen. Die intertextuelle Lektüre läuft der Tendenz entgegen, unzusammenhängende Textinseln isoliert zu betrachten. Die Jona-Texte eröffnen als Schlüssel und Ankerpunkte einen Zugang zum gesamten biblischen Kanon. Eine daran anknüpfende Betrachtung der Jona-Rezeptionen im Koran gibt Einblicke in sechs unterschiedliche Suren. Die Betrachtung der jeweiligen Sure trägt zu einer intratextuellen Verortung der Jona-Perikopen bei und die biblischen Jona-Intertexte zu einer christlichen Reflexion. Beide Kontextualisierungen sind ertragreich im katholischen Religionsunterricht. Eine christliche Koranlektüre, die die Bibel als Ausgangspunkt nimmt, legt den Schwerpunkt auf Gemeinsamkeiten. Die (theologischen) Themen, die nicht in der Bibel, aber im Koran stehen, treten in den Hintergrund. Deshalb ist zu betonen, dass die Jona-Texte ein erster, christlicher Zugang zum Koran sind. Daran können weitere, herausfordernde Wege in den Koran anknüpfen. Eine christliche Koranlektüre verfolgt gewissermaßen einen ‚christlichen Selbstzweck‘, denn die Vertiefung, Re-Lektüre und Neuwahrnehmung biblischer Erzählungen sind christliche Lernziele. Doch dieser ‚Selbstzweck‘ zeugt von tiefgehender Wertschätzung des Korans, dessen Lektüre nicht ‚nur‘ dem Dialog dient, sondern für ChristInnen als Samen des göttlichen Wortes einen theologischen Eigenwert hat: Die Koranlektüre macht auch für ChristInnen Gottes Wirken in der Welt sichtbar. Bibel und Koran nehmen dabei eine besondere Rolle als Glaubenszeugnisse ein. Sie sind bereits ohne jegliche Aufbereitung „per se als didaktisch zu bezeichnen“,1006 da sie elementare Erfahrungen sowie Lehr- und Lernwege mit Gott abbilden. Sie sind heilige Orte, die SchülerInnen im Religionsunterricht besuchen 1002 1003 1004 1005 1006

Gellner und Langenhorst 2013, S. 356. Englert et al. 2014, S. 117–118. Lenhard und Obst 2018, S. 471. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1998, Artikel 2.4.1. Platow 2011, S. 184.

4.2.6 Blickfeld: Texte und SchülerInnen

227

können.1007 LeserInnen und HörerInnen können mit und durch Jona von Gott lernen. Der Umgang mit den Texten aus Bibel und Koran muss die Bedeutung als göttliche Offenbarung für die jeweilige Glaubensgemeinschaft ernst nehmen, deshalb sind spielerische Inszenierungen und Nachahmungen von liturgischen oder sakralen Ritualen im Religionsunterricht unangemessen.1008 Hingegen können Diskurse über die persönliche Bedeutung von Jona in Bibel und Koran zu einer angemessenen Wahrnehmung von Koran und Bibel als Glaubenszeugnisse beitragen. Der Zugang über die Jona-Figur bietet sich an, weil sich SchülerInnen durch Identifikation, aber auch Distanzierung und Abgrenzung besser in die Welt von Bibel und Koran hineinversetzen können. Durch die Jona-Figur gewinnen die Erzählungen in Bibel und Koran an Personalität und ästhetischer Erfahrbarkeit.1009 Gellner und Langenhorst heben hervor, dass SchülerInnen im Religionsunterricht bislang andere Religionen entweder „mittels didaktisch aufbereiteten Sekundärmaterialien“,1010 z. B. mit Sachtexten und Bildern, oder durch interreligiöse Begegnung kennenlernen. Ersteres ist der Normalfall und kann erfolgreiche Lernprozesse anstoßen. Doch ein Zugang über Bibel und Koran erweist sich hingegen als direkter und unmittelbarer, da es sich um Primärquellen handelt.1011 Sekundärmaterialien legen häufig den Schwerpunkt auf (lexikalischen) Wissenserwerb und spiegeln bereits (implizite) Deutungen wider: Wenn beispielsweise eine katholische Schulbuchautorin einen Sachtext über den Koran verfasst, handelt es sich um eine perspektivische, christliche Deutung. Auch wenn sich die katholische Autorin um höchste Objektivität bemüht, ist Perspektivität von Lern- und Lehrmaterial unumgänglich. Perspektivität ist nicht ausschließlich negativ zu bewerten, denn sie bietet geeignete Reflexionsanlässe der eigenen Perspektive. Doch Sachtexte stoßen selten Reflexionen von Perspektivität an, weil sie unter dem „Deckmantel“ der Objektivität Perspektivität verschleiern. Begegnungen gelten als „Königsweg“ (Leimgruber) des interreligiösen Lernens. Doch interreligiöse Begegnungen sind in der Vorbereitung sowie Durchführung hoch komplex: Zahlenmäßiges Ungleichgewicht, unterschiedliche theologische Vorbildungen sowie verschiedene Erwartungshaltungen erzeugen dialogische Schieflagen.1012 Zudem können SchülerInnen Dialogsituationen als Drucksituationen wahrnehmen, wenn sie die Erwartungshaltung einnehmen, dass das Resultat der Begegnung „positiv“ sein muss. Doch „Begegnungen können auch irritieren und verstören, indem sie Gräben vertiefen, Vorerfahrungen 1007 1008 1009

1010 1011 1012

Mitchell 2005, S. 575–576. Gellner und Langenhorst 2013, S. 353. Gellner und Langenhorst heben das Potenzial von „Personalität“ und „Identifikation“ von zentralen Erzählfiguren in literarischen Texten hervor (Gellner und Langenhorst 2013, S. 362–363). Das gilt auch für die Texte aus Bibel und Koran. Gellner und Langenhorst 2013, S. 350. Gellner und Langenhorst 2013, S. 350. Gellner und Langenhorst 2013, S. 17 u. 351.

228

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

negativ bestätigen, Vorurteile erst entstehen lassen oder bestärken.“1013 Texte aus Bibel und Koran ermöglichen ebenfalls Begegnung, wobei der Erwartungsdruck niedriger scheint und der Raum für Distanzierungen größer ist. Ein sensibler und zielorientierter Umgang mit den Texten aus Bibel und Koran eröffnet vielfältige, ertragreiche Lernbegegnungen. SchülerInnen treten in Diskurse mit den Texten, aber auch mit anderen SchülerInnen sowie der Lehrperson ein. Sie fordern zur stetigen Auseinandersetzung heraus und eröffnen Zugänge zu Gott. Sowohl die Heterogenität der SchülerInnen als auch der Texte wird ernst und wahrgenommen.

4.2.7 Exemplarische Konkretisierung: „Jona und der Fisch“ in Bibel und Koran intertextuell gelesen Die intertextuelle Lektüre von Bibel und Koran dient nicht nur als methodische Grundlage zur exegetischen Erschließung der Jona-Erzählung und ihrer Rezeptionen, sondern auch als didaktischer Zugriff auf den Lerngegenstand „Jona in Bibel und Koran“. Es gibt vielfältige intertextuelle Anknüpfungspunkte (vgl. Abschnitt 2.1.2–4.1.3) und die folgende Konkretisierung „Jona und der Fisch“ stellt nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, sich mit der Jona-Erzählung und ihren Rezeptionen in Koran und Bibel zu beschäftigen. Der Fisch bietet sich als ein Motiv an, das in der Jona-Erzählung und ihren Rezeptionen wiederkehrt. Er ist ein bekanntes und faszinierendes Erzählelement, wenn nicht sogar das hervorstechendste aller wiederkehrenden Motive der Jona-Erzählung. Die unterschiedlichen Rezeptionen bieten dabei verschiedene Deutungen des Fisches an. Die Konkretisierung knüpft an die Erarbeitung der elementaren Strukturen in Abschnitt 2–3 an und ergänzt die drei Ebenen Lerngruppe (Wer?), Relevanz sowie Ziele (Warum?) und Lernwege (Wie?). Neben der Betrachtung allgemeiner Lernvoraussetzungen, ist eine spezifische Diagnose der individuellen Lerngruppe notwendig, die an dieser Stelle nur exemplarisch stattfindet. Bei der exemplarischen Lerngruppe handelt es sich um einen konfessionell gebundenen katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Hier ist eine zweifache Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand „Islam“ vorgesehen. In der Erprobungsstufe sollen SchülerInnen Grundlagen des islamischen Glaubens erlernen und die biblische Abrahamserzählung erschließen, um die „Bedeutung Abrahams als ‚Stammvater des Glaubens‘ für Juden, Christen und Muslime erläutern“ zu können.1014 Die zweite Thematisierung in der Mittelstufe dient zur Vertiefung und zum Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden des christlichen und islamischen Glaubens.1015 Die Förderung biblischer 1013 1014 1015

Gellner und Langenhorst 2013, S. 352. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2010, S. 27. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2010, S. 34–35.

4.2.7 Exemplarische Konkretisierung: „Jona und der Fisch“

229

Kompetenzen ist ein Schwerpunkt seit dem Grundschulalter.1016 Neben der Bedeutung der Bibel für ChristInnen, sind Grundschulkinder dazu eingeladen, die Psalmen, Erzählungen über Gottes Schöpfung, Abraham, den Exodus sowie prophetische Schriften betrachten.1017 Die Propheten dienen als Beispiel „eines Lebens mit Gott“1018 und im Zentrum steht ihr Umkehrruf und menschliches Vertrauen auf Gott. Im Kernlehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen ist „Jona“ als exemplarische Konkretisierung für einen prophetischen Umkehrruf und Vertrauen auf Gott vorgesehen.1019 Dennoch können ReligionslehrerInnen biblisches Vorwissen über Jona nicht anstandslos voraussetzen. Empirische Erhebungen zeigen, dass vielen Kindern trotz der standardisierten Vorgaben die biblischen Erzählungen unbekannt sind.1020 Doch „unbekannt“ bedeutet nicht zugleich „uninteressant“, sondern kann im Gegenteil einen Lernanreiz darstellen.1021 SchülerInnen können trotz ihres unterschiedlichen fachlichen Vorwissens mit Hilfe von individualisierten und binnendifferenzierten Lehr-Lern-Arrangements einen gemeinsamen Lerngegenstand erschließen. Gerade das Lernen mit Texten aus Bibel und Koran als Angebot und Eröffnung von Deutungsräumen ermöglicht einen Zugang für alle SchülerInnen.1022 Sie können voneinander und miteinander lernen. Auch in konfessionell gebundenen Settings nehmen SchülerInnen vielfältige Leseperspektiven ein,1023 wobei die Bibel allen katholischen SchülerInnen als Ausgangspunkt der intertextuellen Beschäftigung gilt. 1016 1017 1018 1019 1020 1021

1022

1023

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 30–31. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 30–31. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2006, S. 31. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008, S. 176. Zimmermann 2019, S. 197–202. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2017, Abschnitt 3.1; Gärtner 2019, S. 152; Hennecke 2012, S. 315; Zimmermann 2019, S. 202. Kammeyer stellt in ihrer qualitativen Studie (n = 10) heraus, dass die befragten ReligionslehrerInnen offene Aufgabenstellungen als herausfordernd einstufen. Nach der Einschätzung der ReligionslehrerInnen empfinden SchülerInnen Formulierungen eigener Fragen sowie freier Assoziationen als schwierig. Viele SchülerInnen sind zurückhaltend, weil sie entweder zu wenig Vorkenntnisse mitbringen oder sich für ihr religiöses Wissen vor ihren MitschülerInnen schämen. Texte hingegen erleichtern den Gesprächseinstieg, weil sie Inhalte und Sprachangebote („Futter“/Gesprächsstoff) liefern (Kammeyer 2012, S. 198–199, 203 u. 207–208). Ein textbasierter Zugang stellt eine Herausforderung dar und kann für einige SchülerInnen zu einer kognitiven Überforderung führen (Mehr dazu in Abschnitt 4.2.5). Deshalb ist die Formulierung differenzierter Learning-Outcomes sowie die Binnendifferenzierung mit der Ermöglichung unterschiedlicher, auch nicht nur textbasierter Zugänge, wichtig. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.5, vor allem in Abschnitt 4.2.5.1. Die Differenzierung der Learning-Outcomes fällt in multireligiösen anders aus als in konfessionell gebundenen Lernsettings. Muslimische SchülerInnen lernen etwas Anderes, wenn sie sich die Jona-Texte in Bibel und Koran anschauen als katholische SchülerInnen. Das kann in der Differenzierung der Learning-Outcomes Berücksichtigung finden. Sowohl in multireligiösen als auch

230

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Die Relevanzfrage ist ein wichtiger Faktor für die religionsdidaktische Reflexion eines Lerngegenstands. Es gibt unterschiedliche Relevanzstifter (Individuum, Gesellschaft, Beruf und Disziplin), die extrinsische und intrinsische Impulse für SchülerInnen darstellen.1024 Die intertextuelle Lektüre von „Jona und dem Fisch“ ist einerseits auf der fachlichen Ebene angesiedelt, generiert darüber hinaus eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe, indem sie SchülerInnen dazu befähigt, an Diskursen über Bibel und Koran fachlich kompetent zu partizipieren. Sowohl in multireligiösen als auch in konfessionell gebundenen Settings ist der Lerngegenstand „Jona und der Fisch in Koran und Bibel“ von persönlicher und gesellschaftlicher Relevanz, weil katholische SchülerInnen im Klassenverband, auf dem Schulhof und in der Freizeit muslimischen FreundInnen und Bekannten begegnen. Darüber hinaus tragen mediale und gesellschaftliche Diskurse über religiöse Vielfalt oder ‚den‘ Islam in Deutschland zur (alltäglichen) Auseinandersetzung bei. Interreligiöse Bildung über und mit dem Islam (anhand des Korans) ist von hoher gesellschaftlicher Relevanz in Deutschland. SchülerInnen und LehrerInnen stufen es als eines der beliebtesten Themen im (katholischen) Religionsunterricht ein.1025 Die Studie von Calmbach et al. zeigt, dass sich FreundInnen und Bekannte unterschiedlicher Religionen in ihrer Freizeit selten über religiöse Themen austauschen.1026 Der Religionsunterricht eröffnet einen Diskursraum und schafft Anreize, interreligiöse Dialoge auch mit FreundInnen fortzuführen. Der Lerngegenstand ist von Relevanz in Diskursen über „religiöse Pluralität und der damit verbundenen eigenen Positionierung und Orientierungssuche.“1027 „Jona und der Fisch“ dient dabei als konkretes Beispiel für die Schriftverbundenheit von Bibel und Koran. Auf der fachlichen Ebene können die Reflexion von „Gericht und Gnade“, „Eschatologie“ und „Christologie“ Relevanzstifter darstellen, denn SchülerInnen der Sekundarstufe I haben Interesse an diesen theologischen Themen.1028 Die intertextuelle Lektüre von Jonas Fischaufenthalt provoziert eine Aushandlung dieser komplexen, herausfordernden und relevanten theologischen Aspekte.

1024 1025 1026

1027 1028

in konfessionell gebundenen Lernsettings ist eine Differenzierung der Learning-Outcomes empfehlenswert, weil neben der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt noch andere Heterogenitätsdimensionen (z. B. Begabung, Dis/Ability, Gender, kulturelle oder soziale Herkunft, Mehrsprachigkeit) Einfluss auf den Lernprozess haben. Jede Lerngruppe ist heterogen (Gärtner 2016b, S. 107–111; Hußmann und Welzel 2018, S. 8; Kammeyer 2012, S. 192; Eberle et al. 2014, S. 1). Gärtner 2018, S. 221–222. Leimgruber 2001, S. 75; Riegel 2018, S. 199; Schambeck 2013, S. 48. Calmbach et al. 2016, S. 361. Schambeck stellt das allgemein für das Thema „Weltreligionen“ fest (Schambeck 2013, S. 48). Gärtner 2018, S. 219. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.2.

4.2.7 Exemplarische Konkretisierung: „Jona und der Fisch“

231

Die Jona-Passagen führen vor Augen, dass es nicht das biblische Jona-Bild im Gegensatz bzw. im Vergleich zu dem koranischen Jona-Bild gibt.1029 Auch innerbiblisch findet ein Umdeutungsprozess statt: SchülerInnen können die christologische Deutung des Fisches im Neuen Testament gar als stärkere Diskontinuität zur alttestamentlichen Jona-Erzählung empfinden als die koranischen JonaRezeptionen. Texte können sich unterscheiden und dennoch einer religiösen Tradition entstammen, wie die neutestamentlichen Rezeptionen der alttestamentlichen Jona-Erzählung vor Augen führen. Die Jona-Texte unterscheiden sich und sind (dennoch) Teil des christlichen Kanons. Es scheint weniger sinnvoll die Frage nach ‚den‘ inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Bibel und Koran zu stellen, als die Frage der intertextuellen Vernetzung in den Mittelpunkt zu rücken, sodass inhaltliches Arbeiten mit Bibel und Koran in einer hermeneutischen Reflexion auf der Metaebene mündet. Ein inhaltlicher Vergleich der Fischepisode in Bibel und Koran erweist sich als unzureichend, weil dabei die Gefahr der Perikopisierung sowie Funktionalisierung von Bibel und Koran besteht.1030 Das kann zur Überfokussierung eines bestimmten Themas bzw. einer einzelnen Szene führen, zum Beispiel von Jona 2 und Sure 37. Dadurch rücken bedeutsame (theologische) Aspekte der Jona-Erzählung von Gottes Barmherzigkeit und Gericht, Glauben an und Ringen mit Gott, (menschliche) Umkehr sowie Jonas Prophetenamt in den Hintergrund. Die Erschließung von inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden ist zwar Bestandteil des fachlichen Lerngegenstands, jedoch kann die Zielperspektive darüber hinaus gehen. Eine wichtige Kompetenz für SchülerInnen ist es, die Bibel als eine intertextuell verwobene Einheit wahrzunehmen, die schon in sich dialogisch und mehrdeutig ist. Die intertextuelle Exegese ist der methodische Ausgangspunkt für die Entwicklung einer christlichen Lektüreperspektive. Die Bibel mit all ihren Verbindungs- und Spannungslinien steht im Zentrum, mit dem Ziel, Begegnungen zwischen Text- und LeserInnenwelt zu stiften.1031 Der intertextuelle Ansatz bringt unterschiedliche Textwelten (Jona, Matthäus- und Lukasevangelium; Suren 68, 37, 21, 10, 6, 4) und die Welt der LeserInnen zusammen. Im katholischen Religionsunterricht beschäftigen sich die SchülerInnen zuerst mit der biblischen Intertextualität. Der intertextuelle Ansatz unterstützt SchülerInnen dabei, sich auf die biblischen Textwelten und Fragen einzulassen, die ungewohnt sind und nicht ihrer naturwissenschaftlich geprägten Alltagslogik entspringen.1032 SchülerInnen hadern mit Jonas Aufenthalt im Fisch als naturwissenschaftliche Unmöglichkeit.1033 Vor allem in der späten Kindheit bzw. im frühen Jugendalter bewegt SchülerInnen die Unterscheidung zwischen „fiktiv“ 1029

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Das stößt eine Reflexion und Dekonstruktion binärer Oppositionen und der damit verbundenen Vorurteile über die ‚fremde‘ Religion an. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.4. Mehr dazu in Abschnitt 4.2.5.2. Ballhorn und Gärtner 2017, S. 22; Schambeck 2018, S. 466. Ballhorn und Gärtner 2017, S. 20. Kalloch 2001, S. 301.

232

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

und „historisch“.1034 Eine Überfokussierung auf den historischen Wahrheitsgehalt kann theologische Sinnfragen und Erschließungen der Jona-Erzählung blockieren. Eine Vernetzung der Jona-Erzählung mit neutestamentlichen Rezeptionen eröffnet hingegen einen Zugang zur Jona-Erzählung und zur gesamten Bibel als Glaubens- und Lebensbuch mit zahlreichen Gotteserfahrungen. Jona ist eine biblische Erinnerungsfigur, die für die Glaubensgemeinschaft eine normative und formative Wirklichkeit darstellt. Die intertextuelle Lektüre des alttestamentlichen Jona-Buches mit all seinen neutestamentlichen Rezeptionen zeigt, dass das Motiv „Umkehr“ im Mittelpunkt einer christlichen Lektüre steht.1035 Die wechselseitige alt- und neutestamentliche Jona-Lektüre ist ein speziell christlicher Zugang. Die wechselseitige Lektüre von Mt 12,40 und Jona 2 regt dazu an, dass christliche LeserInnen Jonas Aufenthalt im Fisch (Jona 2) hinsichtlich des soteriologischen Auferstehungsereignisses Jesu Christi erneut und neu lesen. Eine daran anknüpfende christliche Koranlektüre fördert die symbolischnarrative Deutung von „Jona und dem Fisch“. Der islamische Religionspädagoge Khorchide fordert eine sinnstiftende Lektüre, in der die Beziehung von Gott zu den Menschen und nicht historische Faktensuche im Vordergrund steht.1036 In drei von sechs Jona-Texten im Koran ist die Rede vom Fisch. Das eröffnet einen intertextuell-vielschichtigen Blick. Die Vielfalt verdeutlicht einerseits, dass es nicht die eine koranische Deutung des Jona-Fisches gibt und darüber hinaus, dass der Fisch nicht im Zentrum der koranischen Jona-Rezeption steht. Genau wie in den neutestamentlichen Jona-Rezeptionen kommt der „Fisch“ nicht in allen Perikopen vor. Die drei Jona-Rezeptionen im Koran, in denen der Fisch erwähnt ist, heben seinen symbolischen Charakter hervor: Es handelt sich um Typisierung, nicht um Historisierung. Der „Fisch“ ist ein Erkennungsmerkmal Jonas im Koran. Der Koran bietet keine zeitgeschichtlich-historische Charakterisierung Jonas an, stattdessen verortet er ihn mit Hilfe des „Fisches“ in der biblischen Heilsgeschichte. In Sure 68 und 21 ist das die einzige Funktion des Fisches und nur in Sure 37 ist der Fisch zusätzlich ein narratives Element. Diese Jona-Fischepisode schließt sechs aneinandergereihte Prophetenerzählungen über acht biblische Figuren (Noah, Abraham und Isaak, Mose und Aaron, Elija, Lot, Jona) in Sure 37 ab. Das hebt den exemplarischen Charakter der Jona-Episode hervor. Die intertextuelle Lektüre führt vor Augen, dass es sich bei „Jona im Fisch“ nicht um ein wundersames, einmaliges, märchenhaftes Ereignis handelt, sondern um den

1034 1035

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Schweitzer 2014, S. 187. Das heißt nicht, dass das Jona-Buch eine christliche Lektüreperspektive benötigt, um Sinn- und Glaubensfragen für alle LeserInnen und HörerInnen anzuregen. Jüdische LeserInnen und HörerInnen lesen das Jona-Buch im Kontext der Hebräischen Bibel. Intertextuelle Verknüpfungen zur Tora (v. a. Ex 34) und zu prophetischen Schriften (v. a. das Zwölfprophetenbuch) eröffnen ebenfalls einen kanonisch-literarischen und theologischen Zugang. Khorchide 2016, S. 49.

4.2.7 Exemplarische Konkretisierung: „Jona und der Fisch“

233

fortwährenden Dialog Gottes mit den Menschen. Die koranischen Jona-Rezeptionen stoßen eine Re-Lektüre der biblischen Jona-Perikopen an und heben hervor, dass Jonas Aufenthalt im Fisch eine von vielen menschlichen Gotteserfahrungen in der Heilsgeschichte ist. Neben der Frage, ob Jonas Aufenthalt im Fisch wahr ist, kann die Beschäftigung mit mehreren Jona-Texten die Frage bei SchülerInnen anstoßen, welche dieser Erzählungen die „Wahre“ ist. Die Betrachtung der Jona-Erzählung und ihrer Rezeptionen zeigt, dass schon Jona mit Gottes „Wahrheit“ bzw. „Treue“ (hebr. ’ämæt) hadert.1037 Die Bibel betont, dass Gottes „Wahrheit“ ein Beziehungsbegriff, Ausdruck des Vertrauens, ist und kein ontologischer oder erkenntnistheoretischer Begriff.1038 Die Bibel lehnt Wahrheitsbeweise konsequent ab. Das unterstreicht Jesu Verweigerung in den neutestamentlichen Jona-Perikopen, ein Zeichen zu geben.1039 Auch die Jona-Perikopen im Koran stellen die Einzigartigkeit von Jonas Volk im Kontext der Straflegenden heraus: Nur Jonas Volk gelingt es zu glauben (Sure 10). Der Glaube an Gott, ohne Zeichen und Beweise, ist eine menschliche Herausforderung. Die intertextuelle Lektüre der Jona-Perikopen in Bibel und Koran regt eine Auseinandersetzung sowohl mit der naturwissenschaftlichen als auch der religiösen „Wahrheitsfrage“ an und fordert dazu heraus, anstelle der Wahrheitsfrage eine Frage nach der eigenen Positionierung, Perspektivität und Gottesbeziehung zu stellen: „Durch Rückbindung an die Verständigungs- und Lerngemeinschaft der Klasse erfahren Schüler/-innen, dass es viele Möglichkeiten gibt, einen Text zu verstehen, und dass daher die eigene Interpretation keine absolute Geltung beanspruchen kann.“1040 Lernen in, mit und durch Gemeinschaft entspricht dem christlichen Bildungsbegriff.1041 SchülerInnen inspirieren sich gegenseitig mit unterschiedlichen Deutungen und Verknüpfungsangeboten. Sie handeln ebenfalls Grenzen der Textinterpretation aus.1042 Lehrpersonen sind in der Verantwortung, eine Balance zwischen Phasen der Diskursöffnung und -schließung zu wahren, damit Vielfalt nicht in Beliebigkeit mündet.1043 Eine gemeinsame Systematisierung christlicher, islamischer oder säkularer Deutungen bei gleichzeitiger Reflexion und Ausschluss fehlleitender (z. B. anti-semitischer, -christlicher oder -islamischer sowie fachlich unpassender) Deutungen ist notwendig. Das intertextuelle Lernen ist ein geeigneter Lernweg, um den Lerngegenstand „Jona und der Fisch in Bibel und Koran“ mit einer achten Klasse zu erschließen. Dabei ist der „Fisch“, wie in vielen Kinderbibeln und SchülerInnenvorstellungen von Bedeutung. Obwohl der „große Fisch“ nur kurz und ohne die 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043

Mehr dazu in Abschnitt 2.1.1.2.2. Frankemölle 2016, S. 454; Sieg 2005, S. 388. Frankemölle 2016, S. 454. Kropač 2016, S. 64. Pemsel-Maier 2014, S. 62. Gärtner 2015b, S. 38. Reis 2016, S. 52. Vgl. auch Zimmermann 2015.

234

4.2 Erträge für den katholischen Religionsunterricht

Nennung von Details in der alttestamentlichen Jona-Erzählung vorkommt, hat die christliche (Kinderbibel-)Rezeption dennoch den Fisch in den Mittelpunkt gerückt. Die Lektüre der Jona-Erzählung und ihrer Rezeption in Bibel und Koran stößt eine Reflexion dieser Überfokussierung sowie „kindlicher“ Erinnerungen, Vorstellungen und (bildlicher) Darstellungen an: Der Fisch ist „mehr als“ ein riesengroßer „Wal“1044 – er ist ein Ort der Gottesbegegnung. Der intertextuelle Ansatz ermöglicht individuelle Differenzierungsmaßnahmen, weil SchülerInnen jeweils eigene Erfahrungen und Vorkenntnisse einbringen können. Assoziationen zu „Jona und dem Fisch“ aus diversen Kinderbibeln oder Kinderkoranen, aus der Katechese oder Homilie in der Gemeinde, aus dem Grundschulunterricht, aus Film sowie Fernsehen oder Literatur bieten vielfältige Deutungsangebote. Im Dialog mit den Texten handelt die Lerngruppe reichhaltige Assoziationen und Deutungen aus. Wenn SchülerInnen individuelle Assoziationen im Unterrichtsgespräch einbringen, kann ein reichhaltiges Netz an intertextuellen Verknüpfungen im Klassenzimmer entstehen.1045 Es geht nicht darum, dass SchülerInnen Intertextualität rekonstruieren, stattdessen verwirklichen und konstruieren sie durch eigene Anknüpfungspunkte selbst Intertextualität im Lektüreprozess.1046 Durch das intertextuelle Lernen geschieht „Verwandlung: Es baut sich eine eigene Sicht der Wirklichkeit auf, wenn lesend und hörend die Welt aus der Vergangenheit und Zukunft Gottes entziffert wird.“1047 Lenhard und Obst gehen davon aus, dass vor allem das selektive biblische Lernen von „unzusammenhängende[n] Textinseln“ Grund für die Irrelevanz der Bibel für SchülerInnen der Sekundarstufe I und II ist.1048 Eine intertextuelle Arbeit steuert selektiver Bibelarbeit entgegen, die weder dem Anspruch der Bibel noch den Bedarfen der Lerngruppe gerecht wird. Die Bibel umfasst keine isolierten Inhalte, sondern eine kontinuierliche, große Erzählung über die Interaktion von Gott und den Menschen. „Erst in der Vernetzung mit anderen Texten kann der Einzeltext seine Aussagen entfalten.“1049 Der „Fisch“ entfaltet seinen reichhaltigen symbolischen Gehalt und bleibt kein einzigartiges Wunderereignis. Die Einübung von intertextuellen Zusammenhängen ist eine zentrale Lernanforderung für SchülerInnen, um eine eigene Glaubensperspektive zu entwickeln.1050 Die verknüpfende Lektüre schafft Kohärenz und eine aktive Textbegegnung,

1044

1045 1046 1047 1048 1049 1050

Die falsche Übersetzung „Wal“ ist in vielen Kinderbibeln zu finden, weil der Aufenthalt Jonas so noch spektakulärer wirkt. Außerdem versteckt sich hinter dieser Übersetzung eine Bemühung um Rationalisierung: Je größer der Fisch, desto höher sind Jonas Überlebenschancen. Büttner und Reis 2001, S. 45. Ternès 2016, S. 77. Steins 2007, S. 68. Lenhard und Obst 2018, S. 471 Ballhorn und Gärtner 2017, S. 21. Reese 2007, S. 90.

4.3 Perspektiven

235

denn die SchülerInnen haben einen „konstitutiven Anteil an der Produktion von Text-Bedeutungen“.1051 „Jona und der Fisch“ bietet sich als Lerngegenstand an, weil die Jona-Texte in allen drei Schriftteilen vorkommen, die Erzählung durchaus bekannt und beliebt ist, der Fisch Kinder fasziniert und eine tiefere theologische Erschließung ermöglicht. Dennoch ist „Jona und der Fisch“ ein möglicher fachlicher Lerngegenstand, um die Verknüpfung von Bibel und Koran aus christlicher Perspektive zu reflektieren. Christliche SchülerInnen können sich dem Koran auch anhand anderer Themen nähern, die biblische und lebensweltliche Verknüpfungen aufweisen. Verknüpfungspunkte sind essenziell für einen ersten Zugang zum Koran aus christlicher Perspektive. In der Sekundarstufe I stellt dieser Lerngegenstand eine Vertiefung der biblischen Kompetenz (Gegenstandsbereich „Bibel und Tradition“) und der interreligiösen Kompetenz (Gegenstandsbereich „Religionen und Weltanschauungen“) dar.1052 SchülerInnen können Vorurteile über die Bibel und den Koran reflektieren und die beiden Schriften in eine fruchtbare Beziehung zueinander setzen.

4.3

Perspektiven

Die Jona-Texte eröffnen als Schlüssel und Ankerpunkte einen christlichen Zugang sowohl zum gesamtbiblischen und gesamtkoranischen Kanon als auch zu gesellschaftlichen Diskursen über Christentum und Islam. Die intertextuelle Beschäftigung mit Bibel und Koran fordert dazu heraus, Theologie kontextuell zu betreiben. Jede Rezeption regt neues theologisches Nachdenken, Vertiefung und Reflexion an. Dadurch lädt eine intertextuelle Lektüre LeserInnen und HörerInnen dazu ein, immer tiefer in die Welt der Texte einzutauchen. Die Begegnung von LeserInnen mit den Texten aus Bibel und Koran fordert zur Positionierung und Perspektivierung heraus. Christliche SchülerInnen lernen, einen Standpunkt in einer religiös pluralen Gesellschaft einzunehmen und christologische Aussagen als Positionierung ohne Abwertung zu reflektieren. Dabei geht es nicht um Abgrenzungen durch künstlich konstruierte binäre Oppositionen von ‚fremd‘ und ‚eigen‘. Die Komplexität und Vielfalt der biblischen und koranischen Jona-Texte führt das beeindruckend vor Augen. Die Bibel ist Ausgangs- und Orientierungspunkt einer christlichen Koranlektüre. Texte des Korans werfen neue, unerwartete Blicke auf bekannte biblische Texte und stellen einen Anreiz dar, die Bibel erneut zu entdecken. Eine christliche Koranlektüre ist eine zusätzliche Lektüreperspektive, die nicht in Konkurrenz 1051 1052

Reese 2007, S. 91. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2010, S. 26 u. 33.

236

4.3 Perspektiven

zur christlichen Bibellektüre oder zur islamischen Koranlektüre steht. Differenzen gelten als Ausgangs- und nicht als Endpunkt einer Auseinandersetzung mit Koran und Bibel. Nicht das ‚Fremde‘ anderer Menschen steht im Vordergrund, sondern das eigene Anderssein in Konfrontation mit den Texten aus Bibel und Koran sowie mit Gott als dem „ganz Anderen“. Bei einem christlich-literaturwissenschaftlichen Zugang zum Koran handelt es sich gewissermaßen um einen christlichen ‚Selbstzweck‘, weil er mit der Vertiefung, Re-Lektüre und Neuwahrnehmung biblischer Erzählungen christliche Lernziele verfolgt. Dieser ‚Selbstzweck‘ zeugt von tiefgehender Wertschätzung des Korans, dessen Lektüre nicht ‚nur‘ dem Dialog dient, sondern für ChristInnen auch einen theologischen Eigenwert haben kann: Indem die Texte des Korans als Samen des göttlichen Wortes eine Reflexion der biblischen Texte anstoßen, lassen sie Gottes Stimme für ChristInnen neu erklingen.

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