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German Pages [184] Year 2020
Hans Zender
Mehrstimmiges Denken
Versuche zu Musik und Sprache
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495821169
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B
Hans Zender Mehrstimmiges Denken
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Hans Zender
Mehrstimmiges Denken Versuche zu Musik und Sprache unter Mitarbeit von Kristoffer Hug
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Hans Zender Polyphonic Thinking Essays on Music and Language Music, literature and religion provide ways of accessing perennial philosophical questions and they enable diverse experiences of self and world. Increasingly our everyday life is shaped largely by technology and the sciences and their abstractions and functionality as well as their means of exerting systematic control. Hans Zender, however, tries to capture the more profound dimensions of our life and experiences. This endeavour requires a polyphonic thinking, which arises from the interplay of musical, literary and religious moments. Works by John Cage, Karlheinz Stockhausen and Bernd Alois Zimmermann, Hugo Ball, James Joyce and Friedrich Hölderlin as well as Christian and Zen-Buddhist images are pivotal for Zender’s thought.
The Author: Hans Zender, born in 1936, is one of Germany’s most renowned conductors and composers. From 1964 to 1987 he was principal conductor and music director in Bonn, Kiel, Saarbrücken and Hamburg. From 1988 to 2000 he was professor of composition at the Academy of Music in Frankfurt. Some of his most wellknown works include operas like »Stephen Climax« and »Don Quijote de la Mancha« as well as »Logos-Fragmente«, »Shir Hashirim«, »Hölderlin lesen I–V«. His »Composed Interpretation« of »Schubert’s Winter Journey« became a worldwide success. Numerous honours and awards, among them the Goethe Prize of the City of Frankfurt. Recent publications with Alber: »To hear thinking and to think hearing: Music as the fundamental experience of life« (2016) and »Seeing Understanding SEEING. Meditations on Zen Calligraphies« (with Michael von Brück, 2019).
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Hans Zender Mehrstimmiges Denken Versuche zu Musik und Sprache Musik, Literatur und Religion bieten Zugänge zur Beschäftigung mit den großen philosophischen Fragen, und sie ermöglichen vielfältige Erfahrungen von Selbst und Welt. Während unser Alltag von Technik und Wissenschaft geprägt wird, und damit von Systemsteuerungen, von Abstraktion und Funktionalität, geht es Hans Zender darum, tiefere Dimensionen unseres Lebens und Erlebens in den Blick zu nehmen. Dazu bedarf es eines mehrstimmigen Denkens, das aus einem Zusammenspiel von musikalischen, literarischen und religiösen Momenten entsteht. Werke von John Cage, Karlheinz Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann, Hugo Ball, James Joyce und Friedrich Hölderlin, christliche und zenbuddhistische Vorstellungen sind für Hans Zender wegweisend.
Der Autor: Hans Zender, Jahrgang 1936, ist einer der renommiertesten deutschen Dirigenten und Komponisten. Er war von 1964 bis 1987 Chefdirigent und Generalmusikdirektor in Bonn, Kiel, Saarbrücken und Hamburg. Von 1988 bis 2000 war er Professor für Komposition an der Musikhochschule Frankfurt. Zu seinen bekanntesten Werken gehören »Stephen Climax«, »Chief Joseph«, »Don Quijote de la Mancha«, »Logos-Fragmente«, »Shir Hashirim«, »Hölderlin lesen I–V«. Seine »Komponierte Interpretation« von Schuberts Winterreise wurde zu einem weltweiten Erfolg. Zahlreiche Ehrungen und Preise, darunter der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt. Zuletzt bei Alber: Denken hören – Hören denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens (2016) und zusammen mit Michael von Brück Sehen Verstehen SEHEN. Meditationen zu Zen-Kalligraphien (2019).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Bernd Völkle, Seerose, 1978, Öl auf Leinwand Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49099-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82116-9
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Kapitel I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Muji no kyo – Gesang der leeren Schrift . . . . . . . .
18
Sprache und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Musik und Nicht-Bedeutung . . . . . . . . . . . . . .
33
Die Entdeckung der Obertonreihe . . . . . . . . . . .
36
Kapitel III
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52
Die Mehrschichtigkeit der Sprache . . . . . . . . . . .
52
Exkurs: Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Kapitel IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
Bedeutung in Sprache und Musik . . . . . . . . . . . .
70
Kapitel V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stufen der Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Exkurs: »Wie glauben?« . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
81
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Inhalt
Kapitel VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 25 Jahre komponierte Interpretation . . . . . . . . . . 95 Der Schauspieler (der Interpret) – eine Skizze . . . . . 102 »Kugelgestalt« der Zeit
. . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Kapitel VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Wandlungen der Sprachbedeutung . . . . . . . . . . . 106 Exkurs: Das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Versuche I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Kapitel VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Versuche II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Exkurs: »Ich« und »Wir« in der europäischen Musikgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Stephen Climax: ein unlösbares Rätsel . . . . . . . . . 146
Kapitel IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Versuche III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
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Danksagung
Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die Hilfe einiger Menschen, denen ich hier meinen aufrichtigsten Dank aussprechen möchte. Meine Frau, Gertrud Achenbach-Zender, hat nicht nur Korrekturen im üblichen Sinn gelesen; ihre Kritik mündete immer auch in eine Verbesserung von Grammatik und Stil. Da ich durch die Entwicklung des grünen Stars allmählich nicht mehr fähig war zum Schreiben und Lesen, musste das Zentrum des Buches ausschließlich durch Diktierarbeit produziert werden. Diese heikle und schwierige Arbeit übernahm Kristoffer Hug. Im Lauf der Arbeit ergab sich eine erstaunliche Steigerung von purer Schreibarbeit hin zu einer geistigen Mitgestaltung, für die ich besonders dankbar bin. Meinem Freund Ingolf Dalferth danke ich für einige sehr anregende kritische Bemerkungen im Lauf der Entstehung des Textes; ähnliches verdanke ich auch Herrn Prof. Dr. Markus Enders. Sehr dankbar bin ich auch für die Ermöglichung einer Teilnahme an einem Seminar der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Für dieses Seminar hatte Markus Enders den Philosophen und hoch verdienten Übersetzer der Werke Michel Henrys, Rolf Kühn, zur Mitarbeit eingeladen. Man konnte auf diese Weise nicht nur einen wunderbaren Überblick über die französische Philosophie der letzten 50 Jahre erhalten, sondern auch zwei sehr profilierte,
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Danksagung
unterschiedliche Arten der Interpretation eben dieser Literatur erleben. Der am Anfang des ersten Kapitels abgedruckte japanische Text »Muji no kyo« ist ein anonymer Gesang aus dem japanischen Mittelalter. Er schlägt eine Brücke zu meiner kompositorischen Arbeit, denn ich habe ihn bereits 1975 zu einem gleichnamigen Werk für Gesang und Orchester verwendet, das im gleichen Jahr in Donaueschingen uraufgeführt wurde. Meersburg am Bodensee 2018/2019
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Einleitung
Fassungslos steht der heutige Kulturmensch vor den riesigen, unlösbar erscheinenden Problemen dieser Welt. Vor ihrer Verstrickung in zum Teil selbstgemachte, zum Teil dem Zufall entstammende Widersprüche. Wie groß, so muss er sich fragen, ist seine Chance, einen irgendwie wirksamen Beitrag zum Weltgeschehen leisten zu können im Sinne einer uneigennützigen Menschlichkeit? Der Künstler – kaum hat er durchschaut, wie schnell jedes durch Inhalte gesetzte »Engagement« umschlägt in eine Ästhetisierung vielleicht hochbrisanter politischer Inhalte, in erneute Parteiungen und Geschäftemachereien –, wie kann er nicht nur seiner eigenen Eitelkeit entgehen, sondern auch seinen Blick auf die geschichtlichen Entwicklungen so schärfen, dass er vielleicht sehr alte Fehleinschätzungen zu entdecken lernt? Kunst oder gar Religion wirklich ernst zu nehmen und als Aufgabe zu betrachten, die mit einem ständigen Lernprozess verbunden ist: das ist schon lange nicht mehr das Ziel heutiger Bildung. Die alten Autoritäten, Kirche und Bürgertum, haben ihre Wirkkraft in großem Maße verspielt. Die Kunst wird als eine mehr oder weniger schicke Art von Unterhaltung angesehen, während die Achtung vor den Religionen durch jahrhundertealte Vorurteile, aber auch durch schlimme Erinnerungen an Geschehenes gelitten hat. Die Aufklärung, so unentbehrlich und lebenswichtig sie für den Fortschritt der Menschheit war und ist, hat doch für unsere Gesellschaft eine fatale »Nebenwirkung« mit 11 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Einleitung
sich gebracht: Die Exaktheit und scheinbar unwiderlegliche Erkenntnis der Wissenschaft führt in eine Sackgasse, wenn man sie unverändert anwendet auf die unserer eigenen schöpferischen Kraft entsprungenen Aktivitäten. Hier handelt es sich um noch lebendige, »heiße« psychische Prozesse, deren Ergebnisse noch im Werden sind. Der Mensch muss das eigene kreative Wirken immer als ein »Work-inprogress« betrachten, und sich selber als Teil dieses Prozesses. Auch der Naturwissenschaftler muss zur Komplettierung seiner Erkenntnis die Beobachtung des Beobachters, also sich selber hinzunehmen. Die bequeme Teilung in ein beobachtendes Subjekt und einen beobachteten Gegenstand muss in eine letztlich schier unendliche Komplexität verwandelt werden, welche ständig bedenkt und einkalkuliert, dass dieser Beobachter ein sich entwickelndes, sich veränderndes, beschränktes und sterbliches Wesen ist – abhängig von allen Imponderabilien des kreatürlichen Daseins. Die heute übliche Gedankenlosigkeit wird einen Diskurs, welcher religiöse Vorstellungen als eine mögliche Dimension des Denkens voll akzeptiert, unweigerlich mit dem Ausdruck veraltet, überholt, oder zumindest »konservativ« bezeichnen, obwohl doch nichts weniger als letzteres damit gemeint ist. Denn will man »sauber« denken, so müsste man die richtige Bedeutung von konservativ vor allem im Bewahren des einst Radikalen früherer Epochen erblicken. Das Sich-Klammern an bewährte Formulierungen oder gar das Vertrauen auf die Macht etablierter Gesinnung, nur um des Beharrens willen dagegen, zeigt die unfruchtbare Seite des Konservativen. Wird der Künstler den Mut haben, diesen meist aufgebauschten Vorurteilen die Stirn zu bieten? Die Entfaltung unserer kreativen schöpferischen Energie ist vielleicht noch nie so wichtig für die Entwicklung der Menschheit gewesen wie heute; droht uns doch das stumpfe 12 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Einleitung
und uninspirierte Dasein eines Massenmenschen in einer entzauberten Welt. Die Veranlagung des Menschen zum Künstlerischen, und noch mehr die zum Religiösen, wird in unserer Gesellschaft so gering geschätzt, dass viele aufwachsen, ohne diese Kräfte wirklich kennenzulernen – geschweige denn, dass sie lernen, sie zu üben. Sie bleiben meist unbenutzt und werden so der Zukunft entzogen. Auch Ethik und soziale Verantwortung verlieren ihre natürliche Grundlage. So machen wir uns immer unfähiger, auf die Herausforderung der Globalisierung in wahrhaft humaner Weise zu reagieren, d. h. in rücksichtsvoller Ehrfurcht. Dieses Buch beschäftigt sich mit künstlerischen und spirituell-religiösen Sprachtraditionen. Beide Traditionen sind durch ihre geschichtliche Entwicklung äußerst unklar und vieldeutig geworden, liegen aber psychisch gesehen eng beieinander. Trotzdem fragen wir hier nach der Beziehung zwischen diesen beiden Strömungen des menschlichen Geistes und stellen zunächst fest, dass die Religion eine besondere Bedeutung durch ihre Vermittlung ethischer Grundsätze hat. Die Kunst dagegen kann solche Grundsätze aus sich heraus noch nicht einmal benennen, geschweige denn vermitteln; ihr Wesen wird durch die ganz andersartige Kraft des Ästhetischen bestimmt. Verwandtschaft hingegen zwischen Kunst und Religion zeigt sich in der aus dem eigenen Innern quellenden schöpferischen Energie. In unserer Zeit ermöglichen die technischen Medien die Teilnahme an den Ausdrucksformen anderer Völker; wir kommen in Kontakt mit den verschiedensten Formen religiöser Praxis. Allerdings ist die Versuchung groß, hier an der Oberfläche zu bleiben und zu vergessen, dass Kultur immer eine Verbindung von Geschichte, Kultus und Mythos der verschiedenen Völker war und ist. Sie darf ihre 13 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Einleitung
Differenzierung nicht in einem kurzfristigen Integrationsrausch verlieren – sonst wird Wahllosigkeit, ja letztlich Unverstehbarkeit das Ergebnis ihrer Bemühungen sein; denn eine geistige Tradition, die ihre Mittel nicht offen als geschichtlich bedingte zeigt, beraubt sich selber der Durchsetzungskraft ihrer Originalität. Pluralismus heißt: mit logisch nicht vermittelten Unterschieden konstruktiv umgehen. Mögen die Verantwortlichen entscheiden, wie die entsprechenden Probleme in Wirtschaft und Politik der modernen Weltgesellschaft möglichst gerecht zu lösen sind: Die Künste, und auf ihre Weise auch die Religionen, werden in der kommenden Zeit an den eigenen Grundlagen im konstruktiven Sinn sehr viel arbeiten müssen, um eine Verständigungsbasis für die entstandene Pluralität der Systeme zu schaffen, welche die Verschiedenheiten nicht auslöscht, sondern neu fruchtbar macht. »Die Welt ist ein Text mit mehrfachen Bedeutungen, und man gelangt von einer Bedeutung zur andern durch eine Arbeit. Eine Arbeit, an der immer auch der Körper beteiligt ist, wie wenn man das Alphabet einer fremden Sprache erlernt …« 1 Das bedeutet für die Menschen unserer Zeit, dass die Künstler sich neu um ein Verständnis der Sphäre des Unbedingten, Nicht-hinterfragbaren bemühen müssen. Ebenso müssen die »Religiösen« verstehen, dass für einen Künstler seine Arbeit eine Art von Offenbarungscharakter annehmen kann. Es handelt sich hier nämlich um verschiedene Dimensionen von Sprache. Wir sind in einer Situation, in der die Sprache eines besonders feinen Ohres bedarf. In dem Klang und dem Eigenrhythmus einer einzelnen Sprache finden 1
Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, S. 179
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Einleitung
wir oft einen Kommentar, der sich nicht übersetzen lässt; er schwebt sozusagen auf den Wolken der Worte. In den hier vorliegenden Überlegungen eines heutigen Europäers soll ein besonderes Augenmerk auf den Vergleich zwischen Christentum und Buddhismus gerichtet werden. Eine wichtige Grundlage ist das japanische Begriffspaar ku und shiki, das man in etwa mit den uns aus der Welt des Neuplatonismus vertrauten Begriffen »das Eine und das Viele« (»Einheit und Vielheit«) wiedergeben kann. Aus dem Chinesischen kommen die inzwischen in fast allen Kulturen bekannten Begriffe yin und yang. Sie bedeuten nicht nur »weiblich und männlich«, sondern bezeichnen jeglichen polaren Gegensatz: tief/hoch, leise/laut, jung/alt, heiß/kalt etc … Ganz zentral ist das japanische Wort mushotoku, das so viel wie den Kern der buddhistischen Ethik meint: die selbstlose, liebevolle Zuwendung, welche für ihre Anstrengung keinerlei Dank erwartet. Vollkommen unübersetzbar bleibt das Nicht-Wort MU, dessen Bedeutung der Leser immer wieder neu erfühlen muss. Hier scheint die Denkweise der asiatischen Traditionen, insbesondere des Buddhismus, neue Wege öffnen zu können. Seit circa hundert Jahren hat sich eine Art von Avantgarde in Europa und Amerika gebildet, welche die meditativen Praktiken des Zenbuddhismus durch eigene Übung erforscht und deren Kompatibilität mit den christlichen Traditionen prüft. Dadurch wurde eine sehr viel größere Detailkenntnis der asiatischen Überlieferungen erreicht und eine unbezweifelbare Vertiefung auch der christlichen Kontemplation erfahren. Der Zen, diese radikalste Strömung des Buddhismus, erscheint vielen westlichen Menschen als Anknüpfungspunkt und glückliche Ergänzung für das durch viele Krisen erschütterte philosophische und religiöse Denken des Wes15 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Einleitung
tens. Unter Wahrung der Eigenständigkeit sowohl der christlich-jüdischen Erbschaft des Abendlandes – wie auch ohne Fehldeutungen und Missverständnisse des östlichen Denkens – sollte in aller Ruhe ein Modell von komplementären Verstehensweisen für eine Annäherung beider Denkrichtungen entwickelt werden. An diesem Prozess müssen sich wohl die verschiedensten Individuen und Schulen auch kontrovers beteiligen, ehe im wörtlichen Sinn eine dauerhaft tragende Verständigung möglich wird. Welche Funktion wird die europäische Kunst in diesem Zusammenhang haben können? Wie die Spiritualität zeigt die moderne Kunst dem Beobachter heute ein Äußeres, das sich aus mannigfachen, verschiedenartigen Einflüssen zusammensetzt. Es ist nicht mehr möglich, sowohl Kunst wie religiöse Traditionen jeweils als Einheit zu begreifen; man wird heterogene Schichtungen und auf den ersten Blick nicht-homogene Bestandteile finden. Hier kommt alles darauf an, nicht mit Absicht nach neuen Ordnungssystemen zu suchen, sondern eine innere Bereitschaft zu der Verarbeitung des Verschiedenartigen zu entwickeln. Kunst und Spiritualität sind heute in der Gefahr, von den rationalen Kräften der wissenschaftlich-technischen Zivilisation erdrückt zu werden. Die vorliegenden Gedanken können vielleicht einen Einblick geben in die Möglichkeiten eines neuen im Entstehen begriffenen mehrschichtigen Denkens. Durch die Entwicklung der letzten Jahrhunderte stellen sich sowohl die üblichen Denkwege der Kunst wie auch der Religionen neu dar; das heißt, sie können nicht mehr ein geschlossenes geschichtliches Bild beschreiben, wie zuletzt noch in der Klassik und Romantik; sie werden vielmehr nach Wegen suchen, die fragmentarische und uneinheitliche Kultur der Gegenwart in ihren verschiedenen Strömungen darzustel16 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Einleitung
len. Vieles erscheint in der heutigen Moderne eher als stichwortartig benannt, ohne wirklich im Sinne des alten Bildungsgutes verarbeitet zu sein; hier müsste die heutige Kulturarbeit vieles nachliefern. So wichtig eine immer genauere Kenntnis des Materiellen der Welt ist: Die Ganzheit des Menschen besteht auch aus einer immer reicher sich entwickelnden inneren Wirklichkeit. Diese zu erschließen verlangt eher ein hörendes, tastendes als ein von der Vernunft gesteuertes Denken – eine Sensibilität, die man sonst nur in der Kunst entwickelt. Deswegen werden gegen Ende dieses Buches einige Gedanken über meine Oper Stephen Climax wiedergegeben, die sich während ihrer Entstehung bildeten und manches vorwegnehmen, was in aller Klarheit erst jetzt gesagt wird.
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Kapitel I
Muji no kyo – Gesang der leeren Schrift Blühende Blüten Frischer Tau Singende Vögel Klare Stimme Wolken still ziehend Wasser tief blau Direkt zeigen der Nicht-Schrift großes Wort.
Reiner Berg Buntglänzender Wald Tiefes Tal Glitzernder Wasserfall Sanft wehender Wind Leuchtender Mond Alles der leeren Schrift wahres Wort!
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Sprache und Bedeutung
Sprache und Bedeutung Weder Begriff noch Gefühl, weder Bild noch Information: sondern Ruf, der auf Antwort wartet. Köder – oder Code, der den Adressaten zum Ankerwerfen bereden will. Wer ruft? Das Eine (ku) – ruft – wen? – die Vielen (shiki). Angelus Domini: Er ruft die Welt hervor; auf; zur Ordnung; zum Vollenden – wessen? Des Menschen. Worte sind Klänge. Wollte man sie präzise aufzeichnen, müsste man eine Schrift benutzen, welche ihre Tonhöhen und Rhythmen aufzeichnet. Sie würden sich durch nichts von aufgezeichneter Musik unterscheiden. Alle Klänge werden uns durch die Tätigkeit unseres Gehörsinns zugetragen; alle werden durch die Intelligenz unserer Merkfähigkeit gespeichert bzw. verknüpft. Diese Wortklänge würden noch heute keine weitere Bedeutung mit sich tragen, hätte nicht irgendwann in der menschlichen Evolution eine Art Fusion des Gehörsinns mit dem Sehen stattgefunden. Ausgewählte Klangzeichen wurden von diesem Zeitpunkt an mit Vorstellungen von konkreter Wirklichkeit verbunden. Worte bilden Sprachen; d. h. sie verknüpfen sich auf eine immer kunstvollere Weise zu Sätzen. Durch Sätze werden Abläufe von Vorgängen in der Wirklichkeit abgebildet. Jede Sprache hat ihre eigenen akustischen Zeichen – d. h., die Sprachen klingen sehr verschieden. Diese Verschiedenheit sagt auf eine direkte, aus dem Unbewussten entstehende Weise etwas sehr schwer Benennbares zu dem Sinn der verwendeten Worte. Worte in verschiedenen Sprachen: sie wollen zwar das Gleiche bedeuten, doch die Farben ihrer veränderten Vokale und Konsonanten fügen einen Kommentar hinzu. 19 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel I
Vergessen wir die Bedeutung der Worte gänzlich, so dass nur ihre Farbe und ihr Rhythmus übrig bleiben, so sind wir bei der Musik: einem Klanggebilde aus Elementen bestimmter Dauer, Tonhöhe und Klangfarbe. Diese musikalischen Klangformen sprechen uns unmittelbar an, und wir versuchen unwillkürlich mit unserem Körper und unserem Geist Antwort zu geben. In der Denktradition fast aller Kulturen, am stärksten in unserer westlichen Überlieferung, wurde das griechische Wort Logos als Übersetzung für »Sinn« verwendet: Sinn sowohl in der Sprache wie auch in der konkreten Wirklichkeit. Dabei wurde immer mehr dieser Sinn als »Vernunft« vorgestellt; vernünftig durchaus auch als geplante und gewollte Zukunft. Immer wieder wurde hier kritisch vermerkt, dass diese Interpretation von Sinn einseitig und dass der Logos in einem umfassenden Sinn mehr als Vernunft sei, nämlich auch eine aus dem Unbewussten quellende schöpferische Energie. Diese – und nicht die Vernunft – ist vielleicht der entscheidendste Antrieb und der tiefste Sinn unseres Lebens. Dieses Buch geht ganz entschieden von dieser Behauptung aus und möchte unter Logos den alle Kräfte unseres menschlichen Körpers und Geistes umfassenden Sinn verstehen, welcher uns nicht nur Wege, sondern auch Kräfte zum richtigen Leben vermittelt; nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das, was insbesondere die großen asiatischen Kulturen »Herz« nennen und was insbesondere auch die Kräfte des Unbewussten meint. Es ist klar, dass in einem solchen Weltbild die Künste eine entscheidende Funktion haben und kein Kunstwerk ohne diese Art von »ganzheitlichem« Logos denkbar ist. Könnten wir uns darauf einigen, dass »Logos« das Gleichgewicht von Vernunft und Intuition ist, so wäre wohl viel gewonnen. Vielleicht würde dieses Gleichgewicht auch 20 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Sprache und Bedeutung
das Gleichgewicht von optischer und akustischer Wahrnehmung anmahnen – denn wie häufig zu beobachten, gehört die Konzentration auf die durch die Augen zugängliche Welt zu dem Merkmal des in der heutigen Kultur führenden Menschentyps, dem Extravertierten. Der introvertierte Mensch, der heute im Schatten des extravertierten lebt, wurde von den großen schöpferisch wirkenden Kulturen immer als schwermütiger und melancholischer Mensch beschrieben. Der Logos ist Zeichen unserer Existenz, für das Leben, für die Welt; nicht lediglich rationale Beschreibung von Sachverhalten, sondern Synthese aller »Sprachen«: Alle Zeichen zusammen bilden den Logos. Logos ist Frage und Antwort zugleich. Der Logos erscheint als durch die Gesetzmäßigkeit der Zahlen fassbare Zeitordnung, zusammengesetzt aus Worten, Klängen, Farblinien, bunten Flächen, Architekturen in der Zeit … Die Sprache als Analyse der Wirklichkeit kann den vollen Sinn von Logos nicht erreichen; dieser Mangel wird durch ihre symbolisierende Kraft ausgeglichen. Sprache ist Ruf, Kommunikation, Sinngebung, Handlung; sie lebt durch ihre sich direkt den Sinnen mitteilenden Formen, durch Bild, Schrift, Singen und Sprechen – und bestimmt so die Wirklichkeit des Menschen. Logos zeigt das Wesen des Menschen und hilft ihm, durch unaufhörliche Übung sich die Wirklichkeit bewusst zu machen. Betrachten wir die Musik als eine Art unterste Stufe der Sprache, können wir sie dann als »negative Sprache« bezeichnen? Ist sie nicht vielmehr eine auf den Kopf gestellte Sprache? Im Unterschied zur Musik scheint die Sprache durch ihre Fähigkeit zur Verneinung diese Negativität wie ein tötendes Gift bereits in sich zu tragen – während die 21 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel I
Musik zu allen Dingen der Wirklichkeit immer ja zu sagen scheint. Heidegger hat einmal gesagt: »Die böse und darum schärfste Gefahr ist das Denken selber, insofern es gegen sich selbst zu denken hat, dies aber selten vermag.« Die Zeichen der Musik erreichen uns zunächst durch unseren Körper. Diese Zeichen haben materielle Eigenschaften, welche wir beschreiben und entschlüsseln können. Ihre Tonhöhen und Zeitdauern sind messbar, und wir stellen fest, dass ihre unterschiedlichen Klangfarben, die Art wie sie unserem Empfindungsvermögen begegnen – schroff, zart und anschmiegsam, donnernd oder hüpfend – mit der individuellen intervallischen Struktur ihrer Proportionen zu tun haben. Die Musik, wenn sie zu sich selbst kommt, bildet also aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften ihre Gesetzmäßigkeiten aus. Das heißt: wenn sie ihre Bedeutung im Gegensatz zur Bedeutung von Worten beschreiben will, muss sie sich als Gebilde aus Zahlen identifizieren. Diese Folgerung erzeugt beim Musikfreund meist Entsetzen; ist er doch gewohnt, die Wirkung der Musik als immer differenzierter erlebte Gefühle zu beschreiben. Es ist aber wirklich so, dass jeder musikalische Vorgang in Zahlen übersetzbar ist, während die Übersetzung einer Wortsprache in eine andere niemals exakt, sondern immer subjektiv – und das heißt: mehrdeutig – bleibt. Ebenso ist es auch mit jedem Versuch, die Musik in sprachliche Struktur zu »übersetzen«. Die Musik hört zwar nicht auf, Sprache zu sein – d. h.: sie scheint den Hörer unmittelbar anzusprechen, ja zu einer Antwort herauszufordern, aber eine Antwort in Begriffen und Bildern der Sprache wird immer mehrdeutig bleiben. Das Wunder, das die Musik darstellt, ist aber erst dann vollständig beschrieben, wenn wir entdecken, dass alle 22 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Sprache und Bedeutung
Klänge und Rhythmen ganz verschiedene Wirkungen auf unseren Körper haben. Die Wirkung der Musik wird meistens als Gefühlsempfindung beschrieben; wie wir bereits feststellten, ist aber die Empfindungsqualität der Musik abhängig von den musikalischen Strukturen; d. h. von der Gesetzmäßigkeit der Natur und nicht von der Auslegung der subjektiven Fantasie. Die Wahl eines Intervalls zum Beispiel oder die Wahl einer rhythmischen Figur als Material eines musikalischen Zusammenhanges zeigt die Wirklichkeitsbezogenheit des zeitlich-musikalischen Sinns. Zweifellos haben die verschiedenen Intervalle, ob ich sie als einstimmige Linien betrachte oder sie als gleichzeitig erscheinende Akkordtöne höre, ganz unterschiedliche Qualitäten. Nicht nur unsere beobachtende Ratio, sondern auch unser Nervensystem entdeckt in ihnen die unterschiedlichsten Eigenschaften. Die Zeichen der Sprache transportieren Bedeutungen, während aber gerade die quasi-mathematischen der Musik überraschenderweise das affektive Empfinden der Hörer erregen! Zweifellos will die Musik uns etwas mitteilen, und ebenso zweifellos verstehen wir ihre Mitteilung, und zwar unmittelbar (zumindest dann, wenn wir mit ihr vertraut geworden sind). Das Verstehen der Proportionen und sonstiger Ordnungsaspekte des Klangs folgt also einer ganz anderen Form der Rationalität als das, was durch den »Sinn der Worte« mitgeteilt wird! Das deutet auf eine Dimension unseres Bewusstseins, die tiefer liegt, d. h. dem Unbewussten näher liegt als unser heutiges Alltagsbewusstsein. Der Vorgang der musikalischen Wahrnehmung, das Verstehen von Musik, ist also wahrscheinlich älter und in der Evolution früher als die Verständigung durch Worte. Der Sinn der Worte erzählt von den Freuden und Lei23 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel I
den unseres Ich. Wovon redet die Musik? Wohl von sich selbst. Aber diese Antwort stellt sofort neue Fragen. Dieses »Selbst« ist weder identisch mit den Zahlenproportionen noch mit den wach gerufenen Affekten des Körpers. Es deutet auf eine nicht mehr analysierbare Eigenschaft: auf die Ganzheit des Phänomens. Die Musik wäre also eine Chiffre für die Selbstoffenbarung des Lebens! Will die Musik uns in einer sich bildenden Geheimsprache Geheimes mitteilen, das die Worte der Sprache gar nicht ausdrücken können, weil es jenseits der Sphäre unseres Ich liegt? Hier nähern wir uns einer Dimension, die offenbar noch einmal höher liegt als die unserer ordnenden Rationalität. Die buddhistische Meditation erzeugt im Meditierenden nicht etwa noch höhere Grade von Komplexität, sondern immer einfacher werdende Strukturen, bis hin zu einer als »Leere« beschriebenen totalen Reduktion. Das Neue Testament spricht vom »Zungenreden« der erleuchteten Jünger, um die Reaktion nach der Herabkunft des Geistes zu beschreiben. In solchen Momenten mag wohl der Logos der Sprache als vieldeutige Rede, als »Wortmusik«, geboren worden sein. Von »Wortmusik« müsste man auch sprechen, wenn der Autor einer Sprachgestalt nicht die durch Worte aufgerufene Vorstellung von Gegenständen nennen will, sondern mit den Klängen der Sprache so frei hantiert, als wären die Worte musikalische Strukturen. Hier können rein negative Sprachformen entstehen. Wenn man bedenkt, dass die in der philosophischen Reflexion immer latent oder offen sich zeigende Möglichkeit ihrer Verneinung existiert; wenn man bedenkt, dass die für ein radikales, besonders aber für ein religiöses Denken unentbehrliche Erlebniswelt der Paradoxien die Sprachen geradezu auf den Kopf stellen kann, dann zeigt sich die Vorstellungswelt der Wortsprache als von Anfang an von der 24 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Sprache und Bedeutung
Möglichkeit bedroht, fiktiv zu sein. Der Philosoph Michel Henry hat in aller Deutlichkeit formuliert: »In der Geschichtswissenschaft wiederholt die Ohnmacht des geschriebenen Dokuments, die Wirklichkeit des Ereignisses zu setzen, dessen Zeuge es sein will, die Ohnmacht des Ereignisses selbst, sich im Sein zu setzen.« 1 Die Zeichen der Sprache können sowohl positiv wie negativ gelesen werden. Aber Vorsicht! Hier vergessen wir, dass wir das, was wir vorher als »Sinn« bezeichnet haben und später zur Steigerung und Betonung der Einmaligkeit einer bestimmten Form des Logos als »negative Sprache«, in Wirklichkeit als eine Art von »Übersprache« verstanden haben, als eine Sprache, die so viel Weisheit transportiert, dass sie in unserer menschlichen Verständnisart keinen Platz mehr findet. Sie ist so umfassend, dass ihr gegenüber unsere normale Sprache als negativ erscheint. Deswegen können wir auch nicht ernsthaft behaupten, die Musik sei »Sinn-los«. Sie ist anders als die Wortsprache, ein Träger von Sinn. Sie muss zwei Arten von Sinn auf einmal bezeichnen: den Sinn, den wir den logischen nennen – z. B. den einer mathematischen Gleichung –, und den, der nichts mehr mit dem »rechnenden Denken« zu tun hat, sondern zum Ethischen hinführt. Die Musik ist immer identisch mit dem, was sie sagt, sie kann nicht lügen. Sie hat nur die Option, die Wirklichkeit als »Sein« darzustellen, im Sinne von Henry. Was ist das für ein »Sein«? Es muss das »Sein« der Zeit sein, was wir meinen, substanzlos und eigenschaftslos, aber geteilt in das yang des »logisch Wahren« und in das yin des »negativ Überzeitlichen«. Eine Alternative zur Musik ist die Poesie. Sie gibt die Beziehung der Sprache zum Gegenstand nicht auf; sie ist 1
Michel Henry, »Ich bin die Wahrheit«, S. 18
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Kapitel I
»reine« Sprache, die sich jeder Klassifizierung und Absicht sperrt, sich dem Rhythmus verschwistert und nur ihrem inneren Antrieb folgt: sie allein bewahrt den Charakter des »Rufes«, vermeidet aber, zu Information, Mitteilung, Befehl etc. zu werden. Sie spricht ohne Zweck und Absicht. Zeigt das nicht schon die tiefe Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik? Über die Jahrhunderte hinweg bildet sie, wie die Musik und alle anderen Künste, bis hin zur Theologie, durch ihre entstehenden Verkettungen und Verwandtschaften geschichtliche Zusammenhänge. Die Poesie treibt durch ihr Rufen die Dichter voran: diese Rufe – kommen sie aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft? Es ist der gleiche Ruf, der aus Vergangenheit und Zukunft zu uns tönt; bevor sich nicht Zukunft und Vergangenheit in diesem Ruf zu einem Ring geschlossen haben, werden wir unseren individuellen Platz in der Gegenwart der Geschichte nicht finden können; Vergangenheit und Zukunft definieren sich gegenseitig. Schon in den archaischen Formen von Kultus und Theater handelt es sich um ein gemeinsames, formal geordnetes Zusammenwirken aller Dimensionen des Logos. Diese verschiedenen Formen werden immer mehr als Einzelkünste getrennt voneinander verstanden. In der Oper überlebt vielleicht noch die Erinnerung an ein Gefühl der Ganzheit des Logos, wie es in mythischen Zeiten herrschte. Lied, Melodram oder andere Mischformen von Musik und Sprache, lassen immer wieder die ursprüngliche Nähe von Sprache und Musik deutlich werden – gleichgültig, ob es sich um eine primär musikalische oder primär von der Sprache getragene Form handelt. Schon der griechische Begriff »musike techne« drückt die Zusammengehörigkeit von Musik und Sprache, die in der europäischen Musik-
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Sprache und Bedeutung
geschichte zentral geworden ist, auf eine weniger differenzierte Weise aus. Erlebt man ein komponiertes Lied oder eine Oper, so wird man meist eine Schwächung der Wortstruktur und eine eindeutige Dominanz der Musik feststellen. Wird die Musik dagegen für Werbezwecke oder politische Propaganda benutzt, so wird oft die Sprache dominieren. Wir fragen noch einmal nach dem »Ruf« als innerstem Kern des Logos. Wie sollen wir ihn verstehen? Wenn die Küken im Ei kurz vor ihrer Geburt spüren – so ähnlich drückt es ein Koan im Zen-Buddhismus aus –, dass sie demnächst ihre Hülle verlassen müssen, beginnen sie, die Schale des Eies aufzupicken. Sie geben damit nicht nur dem Mutterhuhn durch ihre Klopfzeichen ein Signal, sie stellen sich selbst auf ihre Geburt ein, ja veranlassen diese. So ist der Ruf des Wortes, zusammengesetzt aus den Schichten vieler Zeichen, nicht nur an die Welt, sondern ebenso an uns selber adressiert. Unsere Worte wollen zu allen Menschen wie zu uns selber sprechen. Wie könnte dieses Sprechen, selber Teil des Lebens in dieser Welt, anders als von Liebe und Ehrfurcht getragen sein? Nun dürfen wir nicht übersehen, dass zumindest seit den Zeiten der Aufklärung das Denken der heutigen westlichen Welt, und in der Folge auch das von der politischen und technischen Entwicklung getragene Denken der übrigen Völker, immer weniger von der beschriebenen komplexen, umfassenden Gestalt des Logos bestimmt ist, in dessen Mittelpunkt bei uns das religiöse Denken in christlich-jüdischer Tradition stand. An deren Stelle ist das Denken der Wissenschaft getreten, das gänzlich auf Rationalität und exakte Beweisführung gegründet ist. Dieses allerdings ist de facto längst zu einem Hantieren mit dem Machtinstrument Geld geworden; alles ist käuflich und hat seinen Marktwert. Dieser allein ent27 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel I
scheidet über die wahren Machtverhältnisse einer Gesellschaft. Hätte die Aufklärung also heute vor allem die Aufgabe, die Blindheit für den geistigen Wert gegenüber dem materiellen zu bekämpfen, indem sie den Kapitalismus als die Wurzel allen Übels deutlich analysiert? Das Denken der Wissenschaft hat seine eigene Wahrheit. Sie ist unabhängig von den Machtverhältnissen. Sie ist positivistisch, indem sie eine mathematisch exakte Lösung aller Probleme verlangt. Hier zeigt sich der eklatante Widerspruch, der das gesamte Lebensgefühl des heutigen Menschen bestimmt: auf der einen Seite die Erinnerung an den absoluten Wert der geistigen Güter, wie er in der alten Gesellschaft unumstritten galt; auf der anderen Seite der heute alles bestimmende materielle Wert des Kapitals. Die Wahrheit der Wissenschaft entspringt der Rationalität, aber sie ist nicht die volle Wahrheit der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist unendlich vielschichtig. Die Wahrheiten, die wir mit unserem Verstand erfassen können, sind eindeutig – und das heißt: eindimensional. Also können wir das, was wir die unendlich vielschichtige Wirklichkeit genannt haben, gar nicht rational erfassen? Dies könnte nur wieder möglich werden, wenn wir unsere Denkweise von der begrenzten Wahrheitsvorstellung der wissenschaftlichen Definitionen auf die totale Offenheit des Intuitiven umstellen – so wie der fragende Dichter sich zum Sprachrohr einer unbegrenzten schöpferischen Fantasie machen muss. Kriterium dafür ist nicht die Exaktheit eines zu beweisenden Satzes, sondern die Lebendigkeit jenes »Rufes«, der die Sprache von ihrer Geburt an trägt. Auf diese Weise erfassen wir zwar auch nur einen Teilausschnitt der Welt, aber dieser ist (im Gegensatz zur Wahrheit der Wissenschaft) nicht eindimensional, sondern lässt die »Qualität
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des Unendlichen« ein. Diese enthält keine Wahrheit im wissenschaftlichen Sinn; sie berührt die Wirklichkeit. Von dieser Art sind die Wahrheiten der Religionen, des Mythos, der Kunst, der Sprache; ebenso die individuellen Gesetzmäßigkeiten aller Künste. »Makotoba«, wie es die Japaner nennen: die großen Worte der Propheten und Dichter. Diese Sprache ist lebendig, organisch, sie ist individuell: sie ruft im vernehmenden Menschen ein individuelles Bild der Wirklichkeit hervor. Die in den Hörenden entstehenden unendlich vielen individuellen Bilder der Welt stimmen natürlich nicht überein – keines ist dem anderen gleich. Es ist nicht das eine wahre Bild, wie es die Wissenschaft durch ihre präzisierenden Methoden herstellt. Aber alle diese individuellen Bilder sind lebendig, sie vibrieren vor innerem Leben und Feuer. Es gibt keinen Grund, diese beiden »Sprachen« – Sprache der Wissenschaft, Sprache der komplexen Wirklichkeit – gegeneinander auszuspielen. Sie sind völlig unvergleichbar und voneinander unabhängig. Sie gehören verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit an. Wir verstehen die Welt nicht, wenn wir nur die Sprache der Wissenschaft benutzen. Denn Verstehen heißt »berühren« und »sich-berühren-lassen«. Dafür brauchen wir die Zeichensprachen des Schöpferischen, die immer von den Sinnen ausgehen; im Gegensatz zu der wissenschaftlichen Sprache der Abstraktion. Niemand darf aber auf die Idee kommen, die Gültigkeit der vernünftigen Wissenschaft und ihrer in unerbittlicher Strenge geschaffenen Denkwege ignorieren zu wollen. Ohne den durch sie erworbenen Fortschritt wird die künftige Menschheit nicht existieren können. Wir müssen lernen, die beiden Logoi als unterschiedliche Dimensionen derselben Wirklichkeit zusammenzudenken und so die ursprüngliche Einheit des Logos wiederherzustellen. 29 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel I
Messen wir die Religionen und ebenso auch die Künste mit der Vernunft und Logik unserer wissenschaftlichen Denkweise, so bleibt von ihnen nicht allzu viel übrig. Sie scheinen allenfalls der Stabilisierung und Koordinierung gesellschaftlicher Konventionen bzw. der Etablierung eines allgemeinen Moralkodex zu dienen. So sind wir von der Tradition der europäischen Kultur her gewohnt, Religion vor allem als Grundlage unseres Menschenbildes, unserer Menschenrechte und der erwarteten sozialen Fürsorge anzusehen. Fühlen wir uns der Tradition, der Ethik und Lehre des Christentums verbunden, so können wir schon aus den Mythen der alten Religionen die bild- und begriffslose Wahrheit erahnen, welche in der christlichen Tradition Pneuma (Geist) genannt wird. Wollten wir die vielen Schichten von Sprache, die wir zur Entschlüsselung unseres eigenen Bewusstseins nötig haben, projizieren auf den Horizont der Geschichte, in dem unser Denken sich entwickelt hat, so müssten wir im gleichen Sinne, wie wir von den Dimensionen der Sprache sprechen, auch von den Dimensionen unserer geschichtlichen Wirklichkeit reden. Um zum Beispiel die »Übersetzung« des Wortes »Mythos« vorzunehmen, genügt es nicht, die historischen Quellen, die Sprache und Denkweise der jeweiligen Kultur zu verstehen. Georg Picht hat in seinem Buch »Kunst und Mythos« gezeigt, inwiefern und in welchem Maß das mit dem Wort »Mythos« Gemeinte im Lauf der späteren Jahrhunderte übergegangen ist in das, was wir heute unter dem Wort »Kunst« zusammenfassen; unser Kunstbegriff jedoch wäre schon einer nachmythischen Zeit zuzuordnen. Jean Gebser hat von den Anfängen unseres Denkens gesprochen, indem er eine archaische, magische Anfangszeit mit ihren charakteristischen Verhaltensweisen von den Zeiten unterschied, 30 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Sprache und Bedeutung
in denen der Mythos herrschte. Dem folgte dann die Vorbereitung unserer wissenschaftlichen Kultur in einer ganz dem Rationalen zugewendeten Zeit des Mentalen. Was uns bevorsteht ist eine Berührung bzw. Durchdringung aller Bewusstseinsformen im von Gebser so genannten »Diaphanen«. Jeder Blick auf die Welt hat etwas Eigenes und Unvergessliches freigelegt. Allerdings vermitteln die alten Vorstellungen nicht nur segensreiche Tradition, sondern können auch durch falsche Interpretation ein ganzes Zeitalter in den Abgrund führen, wie etwa im Dritten Reich. Die Interpretationen müssen also immer von der aktuellen Verantwortung gesteuert sein. Im Wort LOGOS, der alles umfassenden Gestalt des rufenden Wortes, finden wir die wichtigste Botschaft des christlichen Denkens eingeschlossen: Das WORT ist Mensch und das WORT ist GOTT. Die Christen sollen in der Welt als »Söhne des Vaters« leben, die Werke des Vaters erkennen und fortsetzen. Sprechen wir auf diese Art vom religiösen Erbe des Christentums, so muss uns klar sein, dass wir nicht die vorher beschriebene Sprache der Wissenschaft gebrauchen, sondern die Sprache der »Propheten und Dichter«. Wir sollten sie hier, noch genauer, als die Sprache des Geistes, des Pneuma neu benennen, zur besseren Unterscheidung von allen Sprachschichten, die wir bisher benannt haben. Die pneumatische Sprache ist am weitesten entfernt von der direkt benennenden Sprache der Naturwissenschaft; sie hat weder »vorstellenden« Charakter, wie die Sprache des Alltags, noch »darstellenden«, wie die Sprache der Dichter; sie ist die »Tätigkeit« der Sprache schlechthin: eine Ebene, welche durch das Wort direkt wirkt – im gleichen Sinn wie es heißt, dass die Welt durch das göttliche Wort geschaffen ist. Als Geistrede ist sie »Lebenskraft«. Die Wahrheit dieser Sprache entspricht weder dem dialekti31 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel I
schen Denken der Philosophie noch der zur Begeisterung inspirierenden Schaffenskraft der Dichter und Künstler. Man könnte fragen: entspringt in dieser Dimension nicht vielmehr das, was die Religionen »Offenbarung« nennen?
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Kapitel II
Musik und Nicht-Bedeutung Musik will sich mitteilen: sie ist ihrem Wesen nach Kommunikation. Um sie zu einer Sprache werden zu lassen, muss man aus noch unbehauenem Material Bausteine formen und diese nach einem Plan zu einem tragenden Ganzen zusammensetzen. Für alle Sprachen, auch für die der Musik, heißt das: einen Vorrat von Zeichen schaffen, mit denen man verschiedene Zusammenhänge stiften und diese dann verändern kann; Beziehungen zwischen den einzelnen Zeichen müssen aufgebaut werden, aber veränderbar bleiben. Auch Affekte können durch die Zeichen ausgedrückt werden, nicht nur logische Sachverhalte. Sind die Worte das Material des Dichters, Farben und Formen das Material des Malers, so besteht das Material des Musikers aus Tonzeichen: kleine Einheiten aus charakteristischen Anordnungen von Tonhöhen, Tonfarben und Zeitdauern. Der Baustoff, aus dem diese Klangzeichen gewonnen werden, ist entweder die Welt der Geräusche – ob das nun Geräusche der elementaren Natur wie Wind und Donner sind oder Geräusche aus unserer Alltagswelt; oder es sind von uns künstlich erzeugte gleichmäßig schwingende Tonhöhen. Wir hören solche Tonhöhen in meisterhafter Formung von unseren Freunden den Vögeln; und wir stellen fest, dass wir aus vielen natürlichen Materialien bei entsprechender Behandlung gleichmäßig schwingende Töne gewinnen können. Es bleibt uns die Aufgabe, dieses »Natur33 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel II
material« nach klanglicher Verwandtschaft zu ordnen: nach Klangfarben, Höhenlagen, Lautstärken oder Dauern. Linear angeordnet entsteht so etwas wie eine Tonleiter, in der alle Klangzeichen gleichmäßig verteilt sind. In fast allen europäischen Traditionen wird das Intervall der Oktave als Spiegelung des Ausgangstons in einer veränderten Höhenlage entdeckt, d. h. als die grundlegende Proportion 1 : 2. Sie unbedingt »rein« zu produzieren, ist vielleicht der Beginn musikalischer Kultur. Männer und Frauen, deren Stimmen normalerweise um eine Oktave (d. h. das Verhältnis 1 : 2) auseinanderliegen, können hier dem Ohr den Weg weisen. Die Größe aller anderen Intervalle ist je nach System verschieden bestimmbar. In der bildenden Kunst gibt es etwas der Tonleiter Adäquates. Wir sprechen vom Farbkreis und meinen ebenfalls einen nach Verwandtschaften geordneten Zyklus aller möglichen Farben. In der Sprachkunst gibt es die Wortwurzeln und ihre Verwandtschaftsbildungen im Gezweig der Wortklänge. Daraus können wir dann Wortgruppen und Wortgeflechte, schließlich ganze Sätze oder noch größere Zusammenhänge bilden. Werfen wir jetzt einen Blick auf das zweite Grundelement der Musik neben den Tonhöhen. Die Phänomene des musikalischen Klangs erscheinen in der Zeit: sie sind Ereignisse von messbarer Länge. Die gleichen mathematischen Proportionen, die wir in einer möglichen Ordnung der Tonhöhen gefunden haben, lassen sich auch durch den Vergleich der zeitlichen Länge der Klangzeichen finden. Der Musikfreund wird wohl kaum allzu viel darüber nachdenken, aber es bleibt schon eine verwunderliche Tatsache, dass etwa unserem so beliebten Walzertakt die Proportion 1 : 2 zugrunde liegt, d. h. dasselbe Zahlenverhältnis wie der Oktave in den Tonhöhen. Und so bleibt es in allen denkbaren 34 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Musik und Nicht-Bedeutung
proportionalen Verhältnissen. Und was wir über die Komplexität der Intervalle sagten, indem wir nämlich auf ihren unterschiedlichen Grad hinwiesen, der sich auch in unterschiedlichen Stufen der Verstehbarkeit darstellt, so gilt das für jede denkbare musikalische Struktur. Wir dürfen wohl annehmen, dass das Gefühl von Sinnhaftigkeit, das sich immer in uns bildet, wenn wir musikalische Werke hören, seinen Ursprung in dieser Urbeziehung zwischen Zeit- und Klang-Struktur hat. Durch die Wahrnehmung neuer Differenzierungen von Klang und Rhythmus wird unser musikalisch empfängliches Nervensystem immer wieder neu gereizt. Die unterschiedliche Art der Reize benennen wir als Affekte. In manchen alten Kulturen finden sich sogenannte »Affekttonleitern«, Affekte, deren Anordnung zu einem Kreis geschlossen ist. Wie kommt eine Tonleiter zustande? Eine Tonleiter ist die lineare Folge aller verwendeten Tonhöhen eines bestimmten Tonsystems, wobei die Anzahl der Töne pro Oktave und die Größe der bei der Reihung entstehenden Intervalle auf einer Vereinbarung beruht: im abendländischen Bereich sind es meist sechs oder sieben Töne pro Leiter, in China hat man sich sehr früh für fünf Töne entschieden (wohl entsprechend der fundamentalen Bedeutung, welche die Zahl Fünf in dieser Kultur hatte). Heute sind wir auf der ganzen Welt gewohnt, in einer Tonleiter aus zwölf gleich großen Stufen zu denken. Kehren wir zum alten Griechenland zurück, so findet sich dort eine Gliederung der Tonleiter durch ein Tetrachord-System, welches den Tonraum durch die Berechnung viertöniger linearer Zellen untergliedert. Diese Zellen beruhen aber nicht wie bei unserem Tonsystem auf gleich großen, sondern auf verschieden großen Tonabständen. Der Abstand der Intervalle schließt Halb35 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel II
und Ganztöne sowie noch kleinere Intervalle ein. Auf Pythagoras geht die Entdeckung zurück, dass die Proportionen der ganzen Zahlen nicht nur als arithmetische und geometrische Verhältnisse optisch zu deuten sind, sondern auch akustisch identifizierbar durch die qualitative Wahrnehmung der verschiedenen Intervalle. Die diesen Intervallen zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit wurde durch die Entdeckung der Obertonreihe ergänzt.
Die Entdeckung der Obertonreihe Was ist die Obertonreihe? »Im Allgemeinen besteht ein als Ton wahrnehmbarer Schwingungsvorgang nicht aus einfachen (Obertonfreien) Sinusschwingungen; z. B. schwingt eine Saite nicht nur als Ganzes, sondern … in ihren … Teilen (1/2, 1/3, 1/4, … der Saitenlänge.) Diese Teilschwingungen … können als Teiltöne gehört werden. Der 1. Teilton ist der Grundton; der 2. Teilton bildet die Oktave zum Grundton und ist der 1. Oberton. Die den ganzzahligen Obertönen der Obertonreihe entsprechenden Teilschwingungen werden auch als Harmonische … bezeichnet.« (Riemann) (Heute ist es üblich geworden, die Obertöne nach dem Beispiel der ganzen Zahlen anzuordnen. Zum 1. Teilton wird dann die Prim, während der zweite Teilton die Oktave ist usw.) Die Reihe dieser Teiltonschwingungen musste im Lauf der europäischen Musikgeschichte in ihrer Intonation kompatibel mit den jeweiligen Tonleitern gemacht werden; das Endprodukt dieser Bemühungen war zunächst die temperierte chromatische Tonleiter, die noch unser heutiges Musikleben voll beherrscht. Schon Arnold Schönberg bezeichnete sie als Kompromiss. Er schreibt in seiner Harmo36 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
nielehre im Jahr 1911: »Die Obertonreihe … enthält noch viele Probleme, die eine Auseinandersetzung nötig machen werden. Und wenn wir diesen Problemen augenblicklich noch entrinnen, so verdanken wir das fast ausschließlich einem Kompromiß zwischen den natürlichen Intervallen und unserer Unfähigkeit sie zu verwenden. Jenem Kompromiß, das sich temperiertes System nennt, das einen auf eine unbestimmte Frist geschlossenen Waffenstillstand darstellt.« 1 Die Natur umkleidet in der Obertonreihe den vom Menschen destillierten reinen Ton mit einem kostbaren Mantel aus den verschiedensten Bestandteilen von Klang, dessen Farbe von der mehr oder weniger starken Präsenz der verschiedenen Teiltöne im Gesamtklang bestimmt wird. Dass unser Nervensystem die unterschiedlichen mathematischen Verhältnisse mit unterschiedlichen affektiven Bewertungen ausstattet, gehört zu den großen Wundern unseres Körpers; es ist wie ein sich eröffnender Blick auf eine unendlich große Wiese, auf der eine unendliche Anzahl von möglichen Klängen sich entfalten kann; jeder einzelne Klang gebildet durch seine eigene Zahlenstruktur. In der Musik finden wir innerhalb der letzten tausend Jahre, insbesondere in Europa, eine ständige Bemühung um musikalische Zusammenhänge von möglichst großer Dichte und Gegensätzlichkeit. Es gehört zum Wesen der bisherigen Musikgeschichte, eine Reihe von besonders hervorragenden Beispielen solcher Problemlösungen als modellhafte Meisterwerke aufzubewahren, sich aber auf der anderen Seite beständig um Entwicklung neuer Formen zu be1
Arnold Schönberg, Harmonielehre (Jubiläumsausgabe UE), S. 22
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mühen. In der asiatischen Welt ist das Interesse am Bleibenden weitaus größer als an Neuerungen. Hier gilt vor allen Dingen die Wichtigkeit des, man möchte sagen, »Wort-fürWort-Bewahrens« aller künstlerischen Formen, welche das Gesicht einer Kultur entscheidend geprägt haben. Eine schöpferische Fortsetzung durch Veränderungen dieser »klassischen Strukturen« schätzt man nicht; ebenso wenig wird die Weiterentwicklung einzelner künstlerischer Aspekte gewürdigt. Auf diese Weise entsteht ein viel langsameres Entwicklungstempo für alle Aspekte der asiatischen Kulturen. Im Westen findet man dagegen einen Hang zu immer noch schnellerer Folge von Veränderungen und Neubestimmungen der künstlerischen Einzelaspekte. Es entstehen Systeme, um die Folgerichtigkeit der Tonanordnungen zu garantieren. Mit ihrer Bewusstwerdung werden aus ästhetischen Wirkungen ästhetische Schulen und stilistische Charakterisierungen; je höher der Bewusstseinsgrad, umso mehr wird auch die Tätigkeit des Musikers zu einer »professionellen« Arbeit, welche besondere Begabung und Ausbildung voraussetzt. All das gilt auch für die anderen »Sprachen« des Logos. Systematik wird irgendwann zu der von der Praxis abgespaltenen Theorie und damit zu einem Sondergebilde, das unabhängig von den entstehenden musikalischen Werken gesehen werden kann. In den Mittelpunkt der vom Musiker verwendeten Klangmaterialien rücken im Lauf der Geschichte immer mehr die durch Gesang oder Instrumentalspiel erzeugten Klänge. Aus dem Vorrat der musikalischen Zeichen sondern sich drei »Super-Zeichen« aus: Rhythmik, lineare Melodik und Harmonik. Ob in der Musik die Linie oder die rhythmischen Muster früher bewusst wurden, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass die Harmonik das Ergebnis des letz38 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
ten großen Entwicklungsschubes der Musik war. Von einer Harmonik im eigentlichen Sinn zu sprechen, konnte ja erst möglich sein, wenn Musikstücke entstanden waren, die durch ihre rhythmischen und melodischen Charakteristika sich als selbständige Formen auswiesen. Die Harmonik brachte nun die bis dahin linearen Formen im Lauf der Jahrhunderte zu einer einzigartigen Entfaltung. Die Intuition der großen Meister der Notre-DameSchule hat in ihren ersten Entwicklungsphasen, wohl unbewusst, nach den einfachsten Zusammenklängen, wie sie sich in den verschiedenen Ordnungen der sechs Kirchentonarten präsentieren, gegriffen. Es entstanden zunächst lapidar-einfache Kunstformen durch Parallelführung zweier Stimmen, und zwar in Quinten oder Quarten: d. h. durch die Hinzufügung des 2. bis 5. Obertons. Es ist verblüffend, festzustellen, dass die Entwicklung der Harmonik seit der Notre-Dame-Schule einer allmählichen Entdeckung der als Primzahlen erscheinenden neuen Tonhöhen im Verlauf der Obertonreihe folgt. Betrachtet man die ersten Organum-Kompositionen, wie sie als einfache Parallelführungen in Quinten oder Quarten der zugrunde liegenden einstimmigen gregorianischen Choralmelodien entstehen, so haben wir hier eine ausschließliche Verwendung des 2., 3. und 4. Obertons; einen Schritt weiter, und es entstehen die ersten großen Kunstwerke der abendländischen Musik durch die inzwischen entwickelte freie Bewegung der Einzelstimmen. Aber was ist mit den Terzen? Hat man nicht bis ins 14. Jahrhundert hinein das Gefühl, dass das Feld der Terzen, das heißt des 5. und 6. Obertons nur sehr vorsichtig berührt wird? Im Lauf der weiteren Musikentwicklung wird das Spiel der Intervalle deutlich in Richtung 5. und 6. Oberton gelenkt und es entsteht durch 39 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel II
die häufige Verwendung des Terz-Intervalls ein ganz neuer, heller und sinnlicher Gesamtklang, welcher sich endlich auch auf den 7., 8., 9., 10. Oberton einlässt (wir sind inzwischen in der Renaissance angelangt, etwa um 1500) und schließlich mittels des 11. Obertons – von den Theoretikern »Diabolus in musica« genannt – die Tür zu der am Horizont erscheinenden Technik der Modulation öffnet. Man könnte auf die Idee kommen, dass die Geschichte der Harmonik nichts anderes ist als die allmähliche Eroberung der verschiedenen Stockwerke der Obertonreihe. Dem eben gezeigten Beginn von der Notre-Dame-Schule bis zur Renaissance folgend, finden wir jetzt im Barock die Hinwendung zu allen Stufen der chromatischen Tonleiter, und damit die Integration des 7. bis 15. – ja, wenn man großzügig ist, auch des 17. Obertons. Dann geht es über Klassik und Romantik zum Impressionismus, welcher ebenfalls den 7. bis 17. Oberton favorisiert, dabei aber den 3. bis 6. Oberton vernachlässigt. Die Entwicklung einer Einbeziehung aller zwölf Töne als chromatische Tonleiter war nur möglich aufgrund der Erfindung des temperierten Systems. Denn wir haben bisher unerwähnt gelassen, dass die alten siebenstufigen Tonleitern in ihrer genauen Konstruktion immer von einer gleichbleibenden »Temperatur« ausgingen, d. h. von einer einzigen Tonart, welche die genaue Höhenbestimmung aller zugehörigen Intervalle im Sinne von ganzzahligen Proportionen für die Dauer des Stückes festlegt. In dem Moment, in dem man Ausflüge in andere Tonleitersysteme vornahm – wie vor allem vom Beginn der Renaissance an –, konnte man die Intervalle eines Stückes nicht mehr alle durch die ganzzahligen Proportionen bestimmen; man musste Ersatztonhöhen erfinden, welche meist nicht mehr 40 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
ganzzahlig sein konnten, d. h. welche keiner geraden Proportion der Originaltonart mehr entsprachen. Man musste bestimmte Einzeltöne im Sinne eines Kompromisses als mehrdeutig auslegen, als eine Art Zwischenwert zwischen verschiedenen ganzzahligen Intervallen. Man hatte sich in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts nach zum Teil halsbrecherischen mathematischen Spekulationen für die Tonbestimmung endlich darauf geeinigt, im Kontext der musikalischen Praxis von einer Tonleiter aus zwölf gleich großen Halbtönen pro Oktave auszugehen, um die Berechnungen der genauen Größe der gebräuchlichen Intervalle überschaubar zu halten. In diesem Moment war zumindest durch die Mathematik bereits das atonale Zwölftonsystem geboren. Man hatte ein neues Intervall erfunden, den temperierten Halbton, welcher nicht mehr durch eine ganzzahlige Proportion, sondern durch einen Wert der Wurzelrechnung beschreibbar war! Was man hier eintauschte war allerdings eine Tonleiter, welche außer der Oktave, die als genaue Proportion 1 : 2 definiert war, nur über mehr oder weniger unreine Intervalle verfügte. Die Abweichung zum Beispiel einer durch die Temperierung gewonnenen großen Terz von der reinen »Naturterz« 5 : 4 beträgt 14 cent; die Abweichung des 7. Obertons von der temperierten großen Septe beträgt schon etwa 31 cent, während der Tritonus 11 : 12 49 cent, d. h. fast genau den Wert eines Vierteltons erreicht. Ein wahrer Diabolus, der die Mehrdeutigkeit in Person zu sein scheint! Nach allem, was man auch in der heutigen Quellenlage an genaueren Zeugnissen über die Entwicklung der chinesischen Musik erfährt, war den chinesischen Musikern etwa zur gleichen Zeit die Möglichkeit einer gleichschwebenden Temperatur klar geworden. Die Chinesen beschlossen aber 41 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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nicht diese temperierte Tonleiter von gleich großen Halbtönen, sondern die ihnen von ihrer alten Kultur überlieferte eigene Berechnung einer Zwölftonreihe zu benutzen! Es erfüllt uns mit größter Bewunderung und ist eine nur den wenigsten westlichen Musikern bekannte Tatsache, dass die alten Chinesen offenbar schon im zweiten Jahrtausend vor Christus über eine aus reinen Intervallen gebaute zwölfstufige Tonleiter verfügten. Diese war allerdings nicht äquidistant: d. h. ihre Halbtöne waren nicht gleich groß, wie sie dann im Abendland wurden; sie waren noch als Annäherungswerte von geradzahligen Intervallen berechnet. Die klassische chinesische Tonleiter wird in ihren Proportionen – welche auch für die Konstruktion der bekannten großen chinesischen Glockenspiele benutzt wurde – wie folgt beschrieben: 42 – 45 – 48 – 51 – 54 – 57 – 60 – 64 – 68 – 72 – 76 – 80 bzw. 81. Wie man sieht, sind die Proportionszahlen, um ganzzahlig zu bleiben, zunächst von der Differenz 3 abgeleitet, sodann von 4. Um die wirklich erstaunliche Leistung dieser Tonleiterberechnung ganz zu verstehen, möchte ich auf meinen Aufsatz »Betrachtung der Zwölftonleiter des alten China« in meinem Buch »Die Sinne denken« verweisen. Mit der chinesischen Tonleiter haben wir außerdem eines der interessantesten Kapitel über das Thema »Beziehungen zwischen Mathematik und Musik« aufgeschlagen, das in einem immer noch nicht geschriebenen Buch über die »Konstruktion von Tonleitern in den verschiedenen Kulturen« einen Ehrenplatz haben müsste, und zwar als Alternative zum europäischen temperierten Zwölftonsystem. Durch die Erfindung der Temperierung in Europa fühlten sich die chinesischen Musiker offenbar zu einer Auseinandersetzung herausgefordert. Sie berechneten ebenfalls ein äquidistantes System aus Halbtönen. Aber charakteristischerweise verwarfen sie dieses, was den praktischen Ge42 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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brauch anging. Sie orientierten sich wieder an ihren alten, d. h. ganzzahligen reinen Intervallen und verzichteten auf die Äquidistanz, so dass ihre Tonleitern aus ungleich großen statt aus gleich großen Halbtönen bestehen. Um diese Entscheidung von europäischer Seite richtig zu verstehen, muss man sich klar machen, dass es ja in der chinesischen Musik keine Mehrstimmigkeit, und damit auch keinerlei Harmonik in unserem Sinne gibt; ihr Tonleitersystem wurde und wird rein linear gebraucht. Die Europäer dagegen plagten sich weiter mit den sofort einsetzenden Korrekturen an den temperierten Intervallen. Man weiß, dass Bach immer wieder kleine Veränderungen der Stimmung während des Vortrags gerade des wohltemperierten Klavieres vornahm; bei Leopold Mozart findet man in seiner Violinschule praktische Anweisungen, die einiges über die Intonation von b- bzw. Kreuztonarten verraten; und es gibt wohl heute kein Streichquartett oder bedeutendes Symphonieorchester, das an der Intonation der Terzen nicht dauernd arbeiten muss. Auch kann man viele neue Gruppen von Sängern und Instrumentalisten dabei beobachten, wie sie mit äußerster Konzentration und großem Erfolg an einer reinen Intonation der Partituren des 13. bis 18. Jahrhunderts arbeiten. Die Europäer haben also endgültig begonnen, die winzigen »mikrotonalen« Unterschiede als solche zu hören. Damit ist für den Komponisten ein neues riesiges Feld der differenzierenden Komposition eröffnet. Die Differenzen der Intervalle, um die es sich dann dreht, liegen weit unter den bisher im 19. Jahrhundert durch Wagner erreichten »chromatischen« Werten, d. h. unter dem Bereich des 17. Obertons und erstrecken sich bis in die Regionen des 80. bis 90. Obertons. Bei dem Eintritt in die atonale Musik muss man zu43 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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nächst feststellen, dass in Schönbergs »Zwölftonsystem« eindeutig der Weg der Temperierung weiter verfolgt wird. Hier wird an der Temperierung »nicht gezweifelt« – ungeachtet dessen, dass Schönberg selber in seiner Harmonielehre einen der klügsten Sätze über die Zukunft des harmonischen Denkens gesagt hat, dass nämlich irgendwann die Komponisten die von der Temperierung verdrängten reinen Intervalle wieder erinnern und auch technisch zugänglich machen werden. Aber im Stadium des Beginns einer Panchromatik, dem die feste Basis der Tonalität entzogen ist, gab es wohl keinen anderen Weg, als die harmonische Zukunft auf eine absolut gleichmäßig schwebende Temperatur zu gründen. Oder macht die strikte Verfolgung des angedeuteten Weges durch die Stockwerke der Obertonreihe auch eine andere Deutung möglich? Ist es für unsere Ohren nicht plausibler, nach der Eroberung des 14. bis 32. Obertons festzustellen, dass wir es nunmehr geschafft haben, auch dieses Stockwerk der Obertonreihe in unser qualitativ wertendes Hören zu integrieren? Wir entdecken jetzt, dass die Teilung in Konsonanzen und Dissonanzen sich am Ende der Entwicklung der Harmonie in eine pure Anordnungsregel verwandelt hat, die keine Wertung der Qualität der Klänge vornehmen will. Durch die Möglichkeit, die Grundtonart, welche bisher die Einheit des Stückes garantiert, zu verlassen und innerhalb eines Stückes verschiedene harmonische Zentren zu berühren, entsteht eine »Polyvalenz« der Intervalle, man möchte fast sagen eine Art »polygame« Struktur. Der Weg wird frei für die Erfindung der Chromatik, d. h. für die Möglichkeit einer Umdeutung eines jeden Intervalls. Dieses kann seinen zunächst angestammten Platz in der tonalen Zuordnung vorübergehend vertauschen mit einem Platz in 44 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
einer anderen tonalen Zuordnung. Geschichtlich betrachtet beschleunigt sich der Vorgang der Modulation dann weiter zum Panchromatizismus Wagners und Regers und damit hin zur freien Verfügung über die nächst höheren Obertöne, bis hin zum 17. Oberton (und noch weiter …). Blicken wir zurück, so können wir die Harmonik im Abendland in nuce überschauen, wenn wir die Struktur der Obertonreihe vom 2. bis zum 81. Oberton ins Auge fassen. Wir finden in der kompositorischen Technik der aufeinanderfolgenden Epochen ein allmähliches Vertrautwerden der Skala der Obertöne. Was heißt das? Die Obertöne werden nach und nach durch die häufige Wiederholung bewusst – wobei es noch ein weiter Weg bis dahin ist, sie auch richtig benennen zu können. Den Ohren erscheinen die verschiedenen Obertöne als Färbungen der betreffenden Klänge. Aber das zeigt nur, dass unsere wachsende Intelligenz langsam fähig wird, bei diesen schon sehr kleinen Intervallen zu unterscheiden zwischen temperierten und »reinen« Klängen. So wird ein neues Feld für die Komposition erschlossen: wir müssen die »falschen« temperierten Intervalle durch geeignete Gegenmaßnahmen in solche verwandeln, welche die reinen Intervalle wenigstens suggerieren! Eine kontinuierliche Anwendung des chinesischen Tonsystems ist für einen in der Tradition Europas komponierenden Autor durchaus möglich. Mit den heutigen elektronischen Taschengeräten ist jede gewünschte Frequenz einstellbar und als Stimmton zu benutzen. Wie soll das in der Praxis des Musizierens funktionieren? Gottlob hilft uns unser Instinkt dabei: die reinen Intervalle setzen sich in der Konkurrenz zu den temperierten Intervallen von alleine durch. Der Komponist muss den Ohren allerdings eine gewisse Hilfestellung geben, und 45 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel II
dazu kann ihm eine andere Naturgesetzlichkeit der Obertöne verhelfen. Ein nicht sehr bekanntes, weil akustisch sehr leises Phänomen zeigt: ein als Zusammenklang auftretendes Intervall erzeugt als Begleitung seines Erklingens einen leisen mitschwingenden Ton, dessen Schwingungszahl aus der Differenz der Schwingungen der beiden Intervalltöne entsteht. Dieser sogenannte Differenzton produziert immer »starke« Intervalle, d. h. Intervalle, die eine niedrige Zahl unter den Obertönen haben. Diese interpretieren das Zeugerintervall als Teiltöne einer imaginären Obertonreihe. Es zeigt dem Ohr, wie es fraglich erscheinende, sehr kleine Intervalle zu deuten hat. Es ist kaum glaublich, dass diese schon zur Beschreibung hoch komplizierte Prozedur von unserer Intelligenz ohne Bewusstsein und Absicht intuitiv gelöst werden kann: allerdings nur, wenn die Sinne zur äußersten Konzentration angespornt sind. Wir haben hier ein Phänomen vor uns, bei dem man nicht sicher ist, wie man es benennen soll. Es gehört sowohl der äußeren Welt an und kann durch wissenschaftliche Hilfsmittel objektiv dargestellt werden, wie es auch von der verstehenden menschlichen Intelligenz im Verlauf unserer sinnlichen Wahrnehmung subjektiv mitproduziert wird. Der Mensch hat Maschinen erfunden, welche die zarten Differenzklänge und auch sonstige Resonanzphänomene elektronisch verstärken und mühelos hörbar machen: der sogenannte Ringmodulator verstärkt den Differenzton, und dazu noch den von Natur aus fast nicht hörbaren Summationston. Der Summationston baut sich aus der Summe der beiden Töne des Zeugerintervalls auf. (Wenn zum Beispiel das Zeugerintervall eine reine kleine Terz (5 : 6) ist – sagen wir cis zu e –, wird die Frequenz des Summationstons 5 + 6 = 11 betragen – das heißt ein fis – und der Differenzton die Summe 6 – 5 = 1. Das ergibt eine Tonhöhe zwischen 46 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
d und es. Ist die kleine Terz etwas anders intoniert, könnte der Differenzton ansteigen bis zu einem a, dem nächsten »starken« Intervall. Der Summationston würde steigen zu einem hoch intonierten dis.) Es sei hier wiederholt: es ist tatsächlich möglich zu lernen, sich in einem solchen Mikrobereich mit dem Ohr zu orientieren. Der Ringmodulator oder sonstige Hilfsmittel können hier auch zur bloßen Kontrolle benutzt werden. Setzt man, sei es den Ringmodulator, sei es eine seinen Effekt imitierende Kompositionstechnik für jedes Detail des betreffenden Stückes ein, so ist es ohne weiteres möglich, ein Stück ohne die »falschen« Werte des temperierten Systems zum Klingen zu bringen – oder auch abwechselnd mit reinen und temperierten Intervallen zu arbeiten, um aus ihrer Differenz neue sinnliche Reize zu gewinnen. Hier ist ein riesiges Feld gezeigt, das im Augenblick noch unter der »Verschmutzung« der Temperierung leidet, wie unsere Sinne unter den Umwelteinflüssen unserer heutigen Welt; es muss dringend durch geeignete Gegenmaßnahmen gereinigt werden. Bleiben wir im Bereich unserer fachlich begrenzten Überlegungen, so müssen wir es weiterhin so ausdrücken, dass die reinen Intervalle um viele Grade »schöner« klingen als die temperierten; wir haben uns zwar an die mindere Qualität der temperierten Intervalle gewöhnt; beim Vergleich jedoch schneiden sie immer schlechter ab als die leuchtende vitalisierende Kraft der Naturintervalle. Es muss zugegeben werden, dass der sinnliche Reiz der Harmonik, die Qualität des Klangs im Allgemeinen, innerhalb der vergangenen Jahrzehnte von vielen Komponisten vernachlässigt worden ist. Viele heute entstehende Partituren beachten bewusst nicht mehr die Zusammenklänge ihrer übereinander ge47 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel II
schichteten Linien, ja sie suchen gerade in diesem nun entstehenden Chaos der Linien einen neuen Reiz. Hier muss der Komponist wissen, was er will. Sucht er gerade einen hellen und klaren Gesamtklang, wird er einen anderen kompositorischen Weg beschreiten. Dies darf natürlich nicht zu einer regressiven Verteufelung der sogenannten Dissonanzen führen. Die beiden Begriffe Konsonanz und Dissonanz sind längst unbrauchbar geworden, da sie davon abhängig sind, wie die gerade lebendige Epoche mit den verschiedenen Intervallen umgeht. Es ist zu beobachten, dass regelmäßig die von einem System als Dissonanzen bezeichneten Intervalle in der geschichtlich folgenden Zeit als besonders reizvolle neue Klänge entdeckt und integriert werden. So galt im Mittelalter die große Terz noch als Dissonanz und wurde dann in der Harmonik der Renaissancezeit zur Konsonanz. Die Sekunden und Septen wurden im Zeitalter der Polyphonie, aber auch in der zunehmend komplexeren Harmonik des 19. Jahrhunderts, bis hin zum Impressionismus als Dissonanzen angesehen, welche im »strengen Satz« noch »aufgelöst« werden mussten. Kleine Septe und große Sekunde bezeichnen in der Entwicklung der Harmonik den Übergang zu einem völlig freien Umgang mit allen zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter. Das musste zu einem Punkt führen, an dem der gebräuchliche Dissonanzbegriff vollkommen ausgeschaltet wurde. Ja, es ist sogar so wie bei den mittelalterlichen Terzen: die Schönbergschule hat eine klangliche Ästhetik etabliert, welche alle Sekund- und Septimbildungen nicht nur akzeptierte, sondern zum Stilmerkmal der Neuen Musik machte. Man kann sagen, dass an die Stelle der alten Konsonanzen die alten Dissonanzen getreten sind: die am »reinsten« klingende Neue Musik ist sicher diejenige von Anton Webern, oder vielleicht auch noch die von Luigi Nono. Sie beruht auf 48 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
der fast ständigen Präsenz von großen Septimen und Tritoni; oder um es mit der Sprache der Obertonreihe auszudrücken: von Klängen im Bereich des 15. bis 22. Obertons. Seit Nono wurde dieser Bereich noch ausgedehnt durch den Gebrauch von Vierteltönen, also bis in den Bereich des 32. Obertons. Will man das von mir empfohlene 144-Tonsystem aus äquidistanten 1/12 Tönen benutzen oder systematisch Kompositionstechniken zur »Entgiftung« der temperierten Intervalle gebrauchen, wie ich es weiter oben beschrieben habe, so gerät man in den Bereich des 64. bis 144. Obertons. Damit ist die Intervallbildung bis zu einem kritischen Punkt vorgedrungen, d. h. in jenen Bereich, aus dem auch die berühmte Differenz 80 : 81 stammt. Erinnern wir uns an den Quintenzirkel als Grundlage des europäischen Tonsystems: setze ich vier reine Quinten auf Terzproportion 5 : 4 und vergleiche sie mit den 12 reinen Quinten des Quintenzirkels, so komme ich zur Differenz 80 : 81 und damit zum »Urkompromiss«, durch welchen sich die temperierten Intervalle von den reinen unterscheiden. Fassen wir zusammen: auf diese Weise betrachtet erscheint die Entdeckung der genauen Größe in cent, wie sie zwischen den reinen Intervallen und den durch die Temperierung entstandenen »unreinen« Intervalle uns klar geworden ist, auf seltsame Weise kompatibel mit der Abfolge derjenigen Intervalle, welche die Klanglichkeit der jeweils einander folgenden musikgeschichtlichen Epochen bestimmt. Die Entdeckung der individuellen Qualität der Intervalle geschieht in etwa in der gleichen Zeitfolge, in der diese Intervalle auch konstruktiv als Grundlage einer epochal sich bildenden neuen Systematik erscheinen: Der 2. bis 5. Oberton entspricht der frühesten Mehrstimmigkeit (Notre-Dame-Schule). Die Entwicklung von der Ars Nova zur Renaissance wird bestimmt durch die 49 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel II
Klanglichkeit des 6., 7. bis 15. Obertons. Beim Eintritt ins Barockzeitalter stehen alle Intervalle bis zum 15. Oberton, und darüber hinaus, zur Modulation zur Verfügung, allerdings beschränkt durch die alles durchdringende tonale Ordnung. Die der Ganztonharmonik entspringende Musik des Impressionismus erobert sich die Freiheit einer bestimmten systematischen Auslese, während die alle zwölf Töne verwendende chromatische Tonleiter in der gleichen Zeit endlich in voller Ausnutzung ihrer systematischen Möglichkeiten alle zwölf Töne durch die Panchromatik in möglichst ausgeglichener Weise nutzt. Das Zwölftonsystem garantiert so die volle Präsenz des 11. bis 17. Obertons, was damit auch die stilistische Charakteristik dieser Schule entstehen lässt. Doch wie Schönberg schon in der Harmonielehre schrieb, so ist den Musikern nunmehr aufgegeben, in der sich fortsetzenden Erweiterung des Tonsystems nicht nur das bisher unbeackerte Feld einer Mikrotonalität zu pflügen und nach Intervallen zu forschen, welche kleiner als der Halbton sind. Es ist im Zuge einer die Ganzheit des europäischen Denkens im Blick behaltenden Anstrengung notwendig, auch jene Intervalle, welche auf ganz natürliche Weise in den Hintergrund treten – die ersten zehn – in eine wie immer ganz organische Verbindung mit den neuen Mikrointervallen zu bringen, welche für die Wahrnehmung des Hörers ja immer das größere Gewicht haben; je kleiner die verwendeten Intervalle werden, umso weniger wird ihre Charakteristik noch als individuell verarbeitet. Es mag abenteuerlich wirken, ein anscheinend nur ästhetisches Phänomen mit einem die Gesundheit der Natur und des Menschen betreffenden Vorgang zu vergleichen. Aber es betrifft die gleiche Natur, es ist erlebt vom gleichen Men50 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Entdeckung der Obertonreihe
schen. Beide Bereiche, der des Ästhetischen und der des Technologischen, müssen etwas miteinander zu tun haben, auch wenn wir im Moment kaum verstehen können, was. Der Musiker wird provozierend behaupten, dass der Wichtigkeitsgrad etwa der reinen Terzen nicht nur für unsere Ohren, sondern für unsere Gesamtentwicklung hoch ist, und wird sich dabei auf die alten chinesischen Philosophen beziehen. Der Niedergang der Musik war für sie der Vorbote eines Niedergangs der ganzen Kultur, ja des ganzen Staates. Und der Grund dafür? Wahrscheinlich liegt er darin, dass wir den Kontakt zur Natur zu wenig gepflegt und deswegen verloren haben; und vielleicht auch darin, dass wir die unglaubliche Genauigkeit, mit der die Natur mit ihren Entdeckungen umgeht, nicht genügend zum Vorbild nehmen. Was wissen wir denn schon über die Wirkung der Kunst auf die menschliche Ganzheit? Legen wir den naturwissenschaftlichen Begriff von Wissen zugrunde, so müssen wir sagen: fast nichts.
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Die Mehrschichtigkeit der Sprache Unser Vater: Der »Himmel«: Dein Name: HEILIG. Dein Reich: das zu uns Kommende. Dein Wille: das, was geschieht im Himmel/auf der Erde. Du gibst uns heute unser tägliches Brot. Du vergibst uns Schuld, so wie auch wir Schuld vergeben. Du führst uns nicht in Versuchung. Du löst uns los von dem Üblen. AMEN »Vater« ist der umfassende Name des Gottes. Alle anderen Namen benennen einzelne Eigenschaften (wie z. B. »gut«, »allwissend«, »unendlich« etc). »… ut dum visibiliter deum cognoscimus, per hunc in invisibilium amorem rapiamur.« (Durch die Übung der Sinne wird die Liebe zum Geist geweckt.) Unsere geistige Entwicklung wird bestimmt vom System der Sprache. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Sprache nicht identisch ist mit dem, was sie benennt: der Wirklichkeit. Ist sie nicht vielmehr eine selbst geschaffene Vorstellung von dieser Wirklichkeit und kann ihr niemals ganz entsprechen? Wenn wir das System der Sprache auf diese Weise durchleuchten, verhindern wir, dass wir dem »Sprachaberglauben«, wie Fritz 52 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Mehrschichtigkeit der Sprache
Mauthner ihn genannt hat, verfallen (eben ihrer Verwechslung mit der sich ereignenden Wirklichkeit). Versuchen wir die Genese unseres Bewusstseins zu beschreiben, so könnten wir folgende Geschichte erzählen: Im Anfang unseres Daseins sind wir ohne Sprache; wir fühlen uns eins mit unserer Umgebung, wir unterscheiden nicht Innen und Außen. Alles ist eins, alles ist miteinander verwandt: Vater / Mutter – das ist dasselbe. Wir schauen allem zu; gleichzeitig spüren wir, dass wir unter bestimmten Bedingungen Einfluss auf das Geschehen nehmen können. So muss das Grundgefühl in den Menschen der »magischen« Epochen gewesen sein; sie spürten Kräfte in und um sich und versuchten, sich durch wechselnde Praktiken zu orientieren. Die Welt war für sie ein mit ihnen verbundenes vielfältiges Ganzes ohne Namen. In einer viel späteren Zeit, als die Menschen gelernt hatten, Gesetzmäßigkeiten der Natur zu entdecken und die Dinge zu benennen, wurde die Welt für sie eine gegliederte Einheit. Es gab kleine und große Unterschiede, und es gab ein Höchstes und ein Niedrigstes. Der Himmel war das Höchste, die Erde das Niedrigste. Man begann, die einzelnen Kräfte der Natur »Götter« zu nennen, schließlich nannte man den Himmel »Himmelsgott«: »Höchster Gott«. Gegenüber diesem Hohen, das alles umfasste, waren die Menschen das Schwache, Kleine, Niedrige. Aber sie lernten »Ich« zu sagen, »Wir« zu sagen; wir begannen, mit dem Himmel zu sprechen wie mit einem hohen Verwandten. Indem wir mit ihm sprachen, nahmen wir ihn und seinen Namen in unsere innere Vorstellung auf. So hatten wir ein Unten und Oben in uns: das »Unten« stand für die Dinge der Erde und unseres Körpers, das »Oben« für alles, was 53 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
wir uns dachten als das Hohe, Große über uns. Das Untere diente der Erhaltung unseres Lebens im Alltag; das Obere rief uns zu unserer Zukunft. Wir gaben dem Oberen die führende Funktion; wir begründeten eine Rangordnung in uns, die uns instand setzte, uns selber durch unseren eigenen Willen zu bewegen. Unsere Lebenskraft drängt uns, in unserer Welt Neues, Eigenes hervorzubringen, unsere Welt zu verändern, uns selber zu steigern und zu verbessern. Alles dies geschah mit der Entwicklung der Sprache; ohne die Sprache hätten wir unsere Vorstellungen nicht denken und entwickeln können. So schufen die Menschen der mythischen Zeitalter ihre Staaten, Religionen, Künste und Denksysteme. Lernten sie durch den betrachtenden Glauben an die oberen Mächte nicht außerdem sich selber zu übersteigen? Sie nannten die oberen Kräfte »heilig« und legten in dieses Wort alles, was sie sich als das Höchste, Größte, Mächtigste vorstellen konnten. Dorthin – wollen wir; in der Zukunft muss dieses Reich der Vollkommenheit liegen, und wir, die Menschen, sind gerufen, es zu besiedeln. Es darf nicht vergessen werden, dass bei dieser Betrachtung schon die Blickrichtung des wissenschaftlichen Zeitalters (Jean Gebser nennt es das »mentale«) vorbereitet wird. Wie ist aber das Höchste, das »Heilige« beschaffen? Wie verhält es sich zur Erde, zu unserer Lebenswelt, zu unseren Gedanken? Gott erschien als ein Gegenüber zur Welt; dann auch als Zentrum der materiellen Welt. Im Mittelpunkt der so gedachten Welt stand immer das Heilige (»axis mundi«, Mircea Eliade). Als wir uns in unserer Entwicklung dem Denken der modernen Wissenschaft und Rationalität näherten, stellte sich heraus, dass die Erkenntnisse der oberen Weltsphäre nicht mehr zu denen der unteren passen wollten. Das Er54 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Mehrschichtigkeit der Sprache
kennen der Menschen spaltete sich: die Denker der »oberen Welt« beschrieben diese als von anderer und höherer Natur als die der »unteren«. In der Entwicklung des »mentalen« Bewusstseins bestanden die Erkunder der »unteren Welt« immer mehr auf der alleinigen Geltung der von ihnen erforschten natürlichen Gesetzmäßigkeiten, die sich dank ihrer Arbeit als offen vor aller Augen liegend darstellen. Die Wege der philosophischen Erkenntnisse dagegen, der dichterischen und religiösen Strömungen wurden von den neuen wissenschaftlichen Denkwegen immer mehr für unnütze Fantasien gehalten. Schließlich entstand eine Denkweise, in der die Gedanken der oberen Welt gänzlich von denen der unteren beherrscht, ja »verschluckt« wurden. So verschwand in unserer Vorstellung die Hälfte dessen, was wir bis dahin »die Welt« genannt hatten – oder anders gesagt: die Welt hatte kein Oben und Unten mehr, sie war gleichförmig geworden. Die Menschen konnten eine Zeitlang glauben, sie hätten sich frei gemacht von den Fantasien einer oberen Welt und könnten nun die Wahrheit über die ganze Welt erkennen. Aber was heißt eigentlich »Wahrheit«? Die Menschen mussten begreifen, dass diese »Wahrheit« ja aus ihren eigenen »Fantasien« über die obere Welt zu ihnen geflossen war. Wie? War ihr »Erkennen« der unteren Welt etwa auch eine Fantasie? Ihr Denken suggerierte ihnen die Sicherheit der Wahrheit: das Denken, so begannen sie jetzt zu begreifen, war aber selber etwas vom Menschen Erfundenes. Dachte das Denken über sich selbst nach, so musste es zu dem Resultat kommen, dass es sich selbst gesetzt hatte: es hatte die Namen der Dinge erfunden und die Wege zu ihrem Verstehen gebahnt. Es beruhte in Wirklichkeit auf der gleichen bewusstlosen und strukturlosen Lebenserfahrung, in der die Menschen der ersten Zeiten gelebt hatten. 55 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
Aber heute sind die Menschen vor allem fasziniert von einer ganz anderen Frage: der nach ihrem eigenen Bewusstsein. Sie hantieren mit den Gesetzmäßigkeiten und Strukturen der Welt – als was sollte man diese jetzt verstehen? Wie sollte man wissen, ob man richtig handelte, ob man den richtigen Weg ging? Alle frühere »intuitive« Sicherheit war verschwunden. Die Menschen verstehen kaum mehr das, was sie in früheren Zeiten hervorgebracht haben. Aber die Welt blieb – sie war riesenhaft, herrlich, voller Kräfte und Wunder. Das Lebendige blieb, wir selber blieben: nichts sonst? Dieser unfassbare Ursprung, nicht zu ergründender Grund der Welt, musste er also das sein, was früher »Gott« genannt und mit dem Wort »das Heilige« bezeichnet worden war? Wir suchen diesen Grund mit aller Kraft – als die Wahrheit unserer Existenz. Die Wahrheit des »Nichts« ist offenbar von unvergleichlich anderer Art als die Wahrheit, die wir denken können. Wir können unser Bewusstsein von dem, was wir auf den bisherigen Wegen der Menschheit gelernt haben, nicht mehr ablegen. Früher hatten wir unbewusst alles selber gefunden, was uns zur Höherentwicklung geführt hat, und unsere innere Sicherheit als eine Offenbarung verstanden. Jetzt durchschauen wir das. Was hat uns geholfen? Nichts hat uns geholfen: Das NICHTS. Wenn »Nichts« das schlechthin Unverfügbare ist, so ist das Heilige das Nichts. Trotz seiner Unverfügbarkeit ist es aber voller Einfluss auf unser Leben: es »ruft« uns zu unserem schöpferischen Tun, zu unserer Selbstübersteigung. Gott, die höchste unserer Vorstellungen, finden wir nun als Wirklichkeit in unserem Innern. »Wirklichkeit« heißt: die gefundene Einheit von Denken und Handeln; der Geist, der »wirkt«; der beginnt, sich selber in Bewegung setzen zu können. Jetzt können wir wieder »unser Vater« sagen: »der Himmel« und »heilig«. 56 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Mehrschichtigkeit der Sprache
Wenn wir frei und bewusst weiter in die Zukunft gehen, bringen wir das Reich des Kommenden hervor. Wer diesen inneren Kompass entdeckt, kann die verlorene unbewusste Sicherheit des Schöpferischen wiederfinden. Er versteht jetzt, dass in der Stimme der großen Propheten und Genies von jeher diese offenbar machende Stimme gesprochen hat und dass sie im Menschen Jesus in unvergleichlicher Klarheit hörbar geworden ist: die Menschheit hat zu sich selbst gesprochen, sich ihr »Gesetz« gegeben. Auf ganz individuelle Weise können wir diesem »Gesetz der Freiheit« folgen, wenn wir uns seinem Grundgebot soweit wie möglich anzunähern versuchen: selbstlos zu leben (mushotoku). Wir müssen einsehen, dass unser Ich zunächst von der »unteren Welt«, von unserem Körper und seinen Bedürfnissen, von unserem ehrgeizigen, herrschsüchtigen oder machtgierigen natürlichen Willen gesteuert wird. Er würde uns zu dem Dasein eines – äußerst gefährlichen, weil äußerst intelligenten – Raubtieres führen. Die innere Stimme unserer Entwicklung hat uns aber längst unwiderruflich auf einen anderen Weg gesetzt. Wir sollen dieses egoistische Ich »übersteigen«, um aus ihm ein selbstloses Selbst werden zu lassen. Dieses Selbst hört beständig auf die Stimme in unserem Innern, die wir »das Nichts« und »das Heilige« genannt haben; sie ist nicht identisch mit der Stimme unseres individuellen Ego. Als Mensch zu existieren heißt, ständig unser Ego-Ich zu übersteigen, mit ihm im Kampf zu liegen. An Gott zu glauben heißt, an uns und an unser Ziel zu glauben. Wir können von diesem einmal erreichten Bewusstsein nicht mehr zurückkehren in einen unbewussten Zustand; wir können auch nicht, ohne uns innere und äußere Schäden zuzufügen, in eine Denkweise zurückfallen, die von einem mythischen Himmelsgott oder einem intellektuell definierten Begriffsgott beherrscht war. Wir 57 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
müssen weiter vorwärts zu einer immer größeren Bewusstheit gehen, die den Weg des Menschen – des »Sohnes« – als identisch mit dem Willen des »Vaters« erkennt. Der Weg der »Selbstlosigkeit«, der den natürlichen Egoismus für eine absolute »Sachlichkeit«, eine liebevolle Gerechtigkeit eingetauscht hat, ist die Fortsetzung des langen Weges, den die Evolution der Natur seit unvordenklichen Zeiten gegangen ist; es gibt keinen Unterschied zwischen Naturgeschichte und menschlicher Geschichte. Trotzdem empfindet jeder Mensch einen inneren Zwiespalt zwischen den Kräften seiner unteren Natur, welche beharren, genießen und beherrschen wollen, und seinen schöpferischen Kräften, die zu jeder Mühe bereit sind. Um diese zu unterstützen, bedarf es der lebendigen Vorstellung des Kreuzes: des Kreuzes als Gesetz unserer sich in Schmerzen entwickelnden Welt. Unsere Überlegungen haben sich entzündet am Text des »Vater unser«. »Gott« hat unendlich viele Namen. Im Anfang des »Vater unser« sind die wichtigsten genannt: Vater, Himmel, Heilig, Kommender, Wille; sagen wir »Nichts«, so sprechen wir alle Namen Gottes auf einmal aus. Beten könnte man auffassen als eine Selbstvergewisserung, eine Erinnerung daran, dass das Kommende geschieht; eine Erinnerung daran, dass Gott in uns wohnt und durch unser eigenes Handeln wirkt – dass wir also, wenn wir bewusst falsch handeln, diesen »Gott in uns« missbrauchen. Liegt es nicht nahe für uns zu fragen: Führen wir ihn in Versuchung – oder er uns? Und was die Versuchung selber angeht, so wissen wir, dass wir vom »Üblen« befreit werden, wenn wir ihr nicht verfallen; aber selbst wenn wir ihr verfallen, können wir befreit werden – allerdings auf schmerzlichen Umwegen. 58 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Mehrschichtigkeit der Sprache
»Versuchung« wäre: dem »Unteren« auf Kosten des »Oberen« zu viel nachzugeben. Es ist für uns wohl kaum möglich, dauerhaft ein perfektes Gleichgewicht zu halten; und durch die Verschiedenheit der menschlichen Individualität stellt sich dieses Problem für jeden von uns anders dar. Wir müssen es schon selber lösen – »Nichts« kann uns helfen. Vergessen wir das Ich und seine Probleme und leeren unser Bewusstsein von allen Gedanken, so werden wir in dem verbleibenden leeren Nichts dem Heiligen begegnen, das uns heilen kann. Man setzte in der kirchlichen Denkweise meist die göttliche, absolute Vernunft mit dem gleich, was im Prolog des Johannesevangeliums Logos, »Wort« genannt wird. Von diesem Logos heißt es: »In ihm war das Leben«. Im Unterschied zur göttlichen Vernunft ist die menschliche Vernunft vielmehr etwas, was das Leben auf der Ebene des menschlichen Bewusstseins aus sich hervorbringt. Das Leben ist in seinem unbewussten Anfang gerade dadurch gekennzeichnet, dass es auf völlig unbegreifliche Weise zwar am blinden Wechsel des immer gestaltlos dahinströmenden Weltgeschehens teilnimmt, aber trotzdem unbeirrbar dauerhafte individuelle Formen hervorbringt. Diese bilden durch die Zeiten hin eine sich immer vollkommener darstellende Kette. Mit unserer Vernunft ist dieses Wunder nicht zu verstehen – genauso wenig wie die Existenz der Welt oder das Dasein eines Gottes. Mit Recht hat also die kirchliche Tradition darauf bestanden, dass der »Logos« im gleichen Sinn »Gott« ist wie der, den Jesus den »Vater« nennt. Und die dritte »Person« der Trinität ist jenes vollkommen von der Vernunft gelöste, unbewusste Verstehen des Unverstehbaren, das sich in allen Formen der Verehrung und Anbetung artikuliert. Es bringt unser individuell gespürtes Dasein mit dem 59 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
Ganzen der Welt in Austausch. Ein Mensch, dem die vollkommene Unbegreiflichkeit Gottes klar geworden ist, der gelernt hat, diese Unbegreiflichkeit Gottes auszuhalten (Karl Rahner), wird kaum mehr durch Glaubenszweifel geplagt werden können. Befragen wir das Johannesevangelium, so finden wir schon im ersten Kapitel folgende Bemerkung: »Niemand hat Gott je gesehen.« (Joh 1,18) Was ist damit anderes gesagt, als dass die Anwendung der menschlichen Sprache mit ihren Bildern und Begriffen auf die von uns als »transzendent« oder sonst wie tabuisierte »Überwelt« vollkommen illusorisch ist? Weder sind unsere Sinne und unser Verstand fähig etwas zu erkennen, was die menschliche Lebenszeit übersteigt, noch ist die Vorstellungs- und Abstraktionsarbeit der Sprache imstande, unserer Imagination Modelle zu liefern, durch die wir das, was wir leichtfertig »Gott« nennen, auch zu erkennen vermögen. Die Sprache scheint außer Stande, in der überzeitlichen Sphäre zu erkennen. Wir müssen uns also mit Chiffrierungen begnügen. Das Wort »Gott« müssen wir verstehen als selbstgemachtes Symbol. Es entstammt einer geschichtlichen Zeit, die man als mythische bezeichnet. Im Johannesevangelium heißt es an einer anderen Stelle: »Philippus, wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.« (Joh 14,9) Damit ist wohl nicht nur gesagt, dass Jesus Gott ist, sondern wohl auch, dass die Vorstellung »Gott« eine Vorstellung des Menschen selber ist. Schaut der Mensch sich selber ins Antlitz, kann er diesen Gott als tiefsten Kern des Menschlichen sehen. Alle Aussagen, die wir über Gott machen, sind zugleich auch Aussagen über das Innerste des Menschen. Sie
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Die Mehrschichtigkeit der Sprache
entspringen dem Ruf unserer eigenen Tiefe nach dem Grund des Lebens. »Gott ist Geist.« (Joh 4,24) heißt es an einer dritten Stelle. Geist: ohne Eigenschaften, ohne Gottheit, ungegenständlich, unsichtbar, unbegreiflich, ohne Substanz, ohne Namen, ohne Gestalt, vollkommene Leere, Quelle der Welt, des Schöpferischen und des Empfangenden. Die christliche Theologie spricht gerne von »Geheimnis«. Ein Geheimnis ist zwar etwas Verborgenes; es kann aber, ohne aufzuhören Geheimnis zu sein, aufgedeckt werden. Eine negative Theologie würde vielleicht statt des Wortes »Geheimnis« das Wort »Paradox« gebrauchen. Ein Paradox ist beschreibbar als unaufhebbarer Widerspruch zweier Sätze, zwischen denen das Denken gefangen ist. Dieser Widerspruch ist durch nichts und niemanden aufhebbar und daher überhaupt nicht im rationalen Sinn verstehbar, geschweige denn entschlüsselbar. Um solche paradoxalen Sätze handelt es sich bei den Auskünften, die Jesus über Gott gibt. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Worte der Propheten, die Koans der buddhistischen Meister, die alten Mythen; sie sind verwandt mit den »ohne Absicht« gesprochenen »großen Worten« der Dichter. Wirken sie nicht wie eine Abwehr der manchmal zu beredten theologischen Ausführungen unsere Vorstellung von Gott betreffend? Sind sie nicht geradezu deren Korrektur? Im erweiterten Sinn könnte vielleicht der Einfluss des buddhistischen Denkens sich als Reduktion unserer redundanten religiösen Sprache auswirken. Auch das Komische dürfte hier seinen Platz haben, indem es – wie oft in der Welt der Koans – die vollständige Unzulänglichkeit der menschlichen Verstandeskräfte zum Erfassen der Wirklichkeit aufzeigt. Da wir die »negative« Sprache des Paradoxen nicht im 61 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
Sinne der wissenschaftlichen Sprache verwenden können, sollten wir sie so auch nicht verstehen wollen. Dieses Wollen ist viel zu grob. Wir müssen uns vielmehr der Eigenbewegung des absoluten Widerspruchs ausliefern, um so etwas wie das Undenkbare denken zu können. Nur wenn wir auf jede Eigenaktivität unseres Denkens verzichten, und auf die Bewegung des Verborgenen selber warten lernen, erhalten wir eine Chance – vielleicht. Die Chance ist, auf das lebendige Paradox, auf die unhörbar redende Stimme zu hören. Diese Stimme wird uns keine Aufklärung im wissenschaftlichen Sinne bringen, aber vielleicht spüren wir eine Art von Wärme oder Licht: einen Kontakt, der sich herstellt, Hoffnung auf ein tieferes Verstehen. Der Keim zu einer eigenen schöpferischen Aktivität ist gelegt. Wir möchten direkt antworten. Bedarf es hier nicht einer Differenzierung unserer bisherigen Definitionen von Sprache? Erst wenn wir eine gewisse Stufe überspringen und uns, wie es ein Parkinsonkranker tun muss, aus der Erstarrung des »Freezing« lösen, erscheinen uns die Bilder, Mythen und auch die Kunstwerke der Alten ganz von alleine als Vorstufe einer deutlicheren Sprache – einer Sprache, die nicht aus vernünftigen Worten bestehen kann, sondern aus einer von der Vernunft unabhängigen Sprachform. Eine solche Sprachform wäre zum Beispiel die Musik; aber vielleicht bildet die Musik nur die erste Stufe einer Sprache, nach der Surrealismus und Dada gesucht haben. Die oberste Stufe dieser Art Sprachen wäre dann das »Zungenreden«, oder gar die Sprachlosigkeit der Ekstase, die unmittelbar aus der Meditation über das Paradoxe entspringen kann. Verfolgt man die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Buddhismus, wie sie in den letzten 50 Jahren auf internationaler Ebene stattgefunden hat, wird man oft Ab62 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Mehrschichtigkeit der Sprache
handlungen begegnen, welche den Begriff der Leere (Sunyata) als Quintessenz einer buddhistischen Transzendenzvorstellung betrachten und ihn vielleicht der christlichen Vorstellung von einem persönlichen Gott gegenüberstellen. Finden wir hier nicht schon so etwas wie einen Ansatz zur negativen Theologie? Das Wörtchen »MU«, selber Kern eines grundlegenden Koans, bedeutet Nichts oder besser »Nicht«. Es dient dazu, unser vorstellendes Denken komplett lahmzulegen. »Damit wir uns dem von alleine geschehenden intuitiven Denken öffnen können«, würde man wohl aus heutiger Sicht antworten; dabei aber vergessen, dass auch das gezielte »damit«, also die gezielte Absicht, von MU bekämpft und ausgeschlossen worden ist. Betrachtet man Surrealismus und Dada als Beispiele einer ins Existentielle deutenden Haltung des modernen europäischen Geistes, so kann einem nicht entgehen, dass unter der kabarettistisch zubereiteten Oberfläche der tiefste menschliche Ernst sich verbirgt. Hier finden die Kämpfe um »Leben und Tod« statt, wie sie von allen Religionen beschrieben werden, wenn es um die großen Orientierungen des Lebens geht. Man darf nicht vergessen, dass auch in der Dada-Bewegung eine radikale Kritik dessen stattfindet, was Hugo Ball als die durch die Kriegspropaganda völlig zugrunde gerichtete Sprache der damaligen Zeit bezeichnet. Die Komik des Dada ist nur die Verpackung für den äußersten Ernst von MU. MU könnte der Punkt der Konzentration dieser das eigene Ich in Frage stellenden Bewegung sein: der Aktivität des Sich-Versetzens in Nicht-Aktivität. Dasselbe geschieht ja im Hören und Sehen der künstlerischen Rezeption, nur dass es sich hier schon um differenzierte Wahrnehmungen handelt. Die Wahrnehmung teilt sich, je höher die Bewusstseinsstufe in ihrer differenzierenden Tätigkeit 63 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
fortgeschritten ist, in visuell orientierte oder auditiv differenzierte, in alle möglichen denkbaren Einzelaspekte der Wahrnehmung, und neigt dazu, allmählich das Ganze aus dem Blick zu verlieren. Um dieses wieder zu finden, muss das Bewusstsein zum Erlebnis des einen Ganzen zurückkehren, indem es die partiellen Wahrnehmungsstränge durch willentliche Reduktion zur Passivität zurückführt. MU ist geistig, d. h. radikal ungegenständlich. Der »Glaube« ist das auch, insofern sein »Gegenstand« unmöglich als Gegenstand gedacht werden kann. »Zeus will und will nicht mit Namen genannt werden.« (Heraklit) Gott will von seinen Kreaturen nicht genannt werden: er bleibt der Unbekannte. Von seinen Kindern aber will er Vater genannt werden. Mit einem Vater kann man sprechen. Die Offenbarung des unbekannten Namens »Vater«: diese Offenbarung kann nur dann erlebt werden, wenn der Zustand des Bewusstseins MU ist. Aus diesem vollkommen entspannten, schweigenden Nichts kann sowohl die väterliche, schöpferisch-ekstatische Aktivität (yang) entspringen wie auch die nachformende, liebevoll pflegende, weiter entwickelnde Arbeit (yin) des Mütterlichen. Der Geist in der Trinität macht aus yin und yang eine Einheit. Betrachten wir den künstlerischen Schaffensprozess als Analogie zur Weltschöpfung innerhalb der endlichen Zeit, so müssten wir sagen: Das Väterliche (yang) würde dem entsprechen, was in der Kunst als Eigenschöpfung des Künstlers angesehen wird; dem mütterlich pflegenden Impuls (yin) entspräche das, was wir gewohnt sind Interpretation zu nennen: D. h., die Gedanken, die die väterliche 64 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Die Mehrschichtigkeit der Sprache
Schöpferkraft im empfangenden Menschen aufstören und zur Eigenbewegung anregen, gehören zum Geburtsvorgang des entstehenden Kunstwerks! Die Betrachtung nun wiederum dieses Kunstwerks durch einen Rezipienten (dieser Rezipient könnte mit unserem eigenen Ich identisch sein) ergibt dann eine ungeahnte Komplexität, bei der hervorbringendes »Subjekt« und resultierendes »Objekt« in eine sich ständig neu befeuernde Bewegung und Verbindung gebracht werden. Bisher – bis ins 20. Jahrhundert hinein – wurde das produzierende Individuum als alleiniger »Schöpfer« des Kunstwerks angesehen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde mehr und mehr bewusst, dass die Interpreten ebenfalls eine sehr große Bedeutung für das Zustandekommen eines Kunstwerks haben. Denn der Ort des künstlerischen Werkes ist nirgendwo anders als in unserem Bewusstsein. Wir beginnen zu begreifen, dass ein Kunstwerk von Anfang seiner Existenz an immer auch durch seine Interpretation und Rezeption bestimmt wird; darin eingeschlossen ist ja auch die Möglichkeit der Neuentdeckung bzw. des Neuverstehens eines Werkes der Vergangenheit. Hier können wir eine Parallele ziehen zu dem fortschreitenden Emanzipationsprozess des Weiblichen in unserer bis dato patriarchalisch, d. h. yang-bestimmten Gesellschaft; wir entdecken hier beiläufig, dass dieser gesellschaftliche Prozess gar nicht der Ratio des gesellschaftlichen Denkens entspringt, sondern mit der Entwicklung des Selbstverständnisses des Menschen zu tun hat. Ja, der Gedanke lädt uns zu einer weiteren Fortsetzung ein: Müssen wir nicht heute die Mitwirkung der Natur und des Menschen am Werdeprozess der Welt auch im christlichen Denken deutlicher machen, wie es Karl Rahner und seine Schule schon entworfen haben? Könnte daraus nicht geradezu ein Auftrag abgeleitet werden, in der jetzigen Weltsituation nicht 65 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
von einer Religion, sondern von »den Religionen« zu sprechen? Darin eingeschlossen wäre das Bemühen um das Verstehen der gleichzeitigen Präsenz aller Weltreligionen inmitten der Entwicklung der säkularen Welt.
Exkurs: Sakramente Das Herzzentrum des christlichen Kultus sind die Sakramente. Die Sakramente sind für das moderne, von der wissenschaftlichen Methodik bestimmte Denken schwer zu verstehen; in ihrem Wesen leuchten Farben auf, die die Moderne tabuisiert hat. Es handelt sich hier weder um pure Symbole noch um Reste magischen Bewusstseins. Eher könnte man von einer performativen Zeichenhandlung sprechen, welche die Wirklichkeit verändert. Die klassische Theologie spricht hier von Opus operatum als eine von Gott her gültige und wirksame sakramentale Handlung, und sie spricht von Opus operantis als dem bewusst glaubenden Anteil des liturgisch mitfeiernden Menschen am Sakrament. Opus operatum entspricht ku, während Opus operantis, also der Beitrag der menschlichen Freiheit und Bewusstheit, shiki entspricht. Die Sakramente sind ein Aufleuchten der Koinzidenz von menschlicher Arbeit und natürlicher Evolution. Damit gehören sie der gleichen Sphäre an wie die Welt des Zungenredens – ganz allgemein gesagt: des unmittelbar wirkenden schöpferischen Gedankens. »Die Muse, die die Gnade ist.« (Paul Claudel) Bund von Schöpfer und Schöpfung. Hier liegt die Metapher, die Paulus für die Ehe gebraucht: diese ist also ku (vom Vater gestifteter Bund, Zeichen seiner Liebe zu den Menschen). Die Ehe wird Metapher für die Menschenliebe Gottes. Als shiki ist sie auch ein Bild der Liebe des Sohnes zum Vater. Sie ist die vom 66 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Exkurs: Sakramente
Menschen, vom »Sohn« ausgehende Liebe. Sie beruht auf der Freiheit des Menschen. Was die Dimension des im Sakrament wirkenden »Wortes« betrifft, so muss dieses in der obersten Stufe der Dimensionalität angesetzt werden: direkt wirkendes Wort – performative Sprache – wie das weltschaffende Wort des Vaters. Die Wirksamkeit Gottes teilt sich unmittelbar mit. Insofern sind alle Sakramente ein Sakrament. Ihr Zusammenwirken setzt das volle Bewusstsein der eigenen Freiheit voraus. So kann zum Beispiel die gewährte sakramentale Vergebung für den modern denkenden Menschen erst dann im vollen Sinn wirksam werden, wenn die Schuld auch individuell verarbeitet wird; die Taufe kann erst voll wirksam sein, wenn der Getaufte die Differenz zwischen natürlichem Dasein und Geist versteht. Man könnte über die natürlichen Lebensvorgänge (Stoffwechsel, Fortpflanzung, Krankheit und Tod) allmählich in die psychische Tiefendimension eindringen, in welcher diese sakramentalen Symbole entspringen. So könnten wir die Taufe auch neu verstehen als Beginn eines Vergeistigungsprozesses des Lebens; das Bußsakrament als einen seelischen Prozess, der uns nicht nur individuelle Schuld, sondern auch die kollektive Verschuldung gegenüber allen anderen Lebewesen abzutragen hilft. Die Firmung und das Weihesakrament eröffnen einen Durchblick in die von Geburt an vorhandene geistige Natur des Menschen. Das Ehesakrament könnte das der individuellen Liebesbeziehung verhaftete Bewusstsein als eine die ganze Schöpfung durchziehende, alles umfassende sexuelle Grundstruktur erlebbar machen. Die Ehe vollzieht sich erst dann im Sakrament, wenn sie unabhängig von sexueller Magie, von formaler Gesetzlichkeit und von Fruchtbarkeit sich als Vollendung der natürlich-erotischen Liebe darstellt. Lieben heißt nicht: 67 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel III
sich identifizieren. Vielleicht liegt hier der Unterschied von Liebe und Ehe – denn die Ehe verlangt, wie die Liebe zum eigenen Kind, die Identifikation und gehört so einer anderen Ordnung an als die erotische Liebe, weil sie biblisch gesprochen Bild der Identifikation Gottes mit seinem Geschöpf ist. »Die Liebe zwischen Mann und Weib wird erst dadurch, daß sie Liebe Gottes zu sich selbst ist, zu einem Problem von schauerlicher Tiefe.« 1 Von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet muss man allerdings auch sagen: die erotische Liebe hat neben der ehelichen Liebe ihre eigene, aber von der Ehe verschiedenartige Berechtigung und Würde; sie entspringt unmittelbar aus der menschlichen Freiheit. Von jüngeren Generationen wird sie heute meist vor dem Eheversprechen erlebt und erfahren. Vielleicht müsste aber mehr als bisher die Dauerhaftigkeit der ehelichen Bindung als ein großes Gut und eine kaum sonst zu machende Tiefe menschlicher Erfahrung neu verstanden werden; nicht als zwanghafte Verpflichtung, sondern als Chance, das eigene Leben als individuelle Einheit zu begreifen. Beide Partner sollten sich jedoch ein gewisses Maß an Toleranz bewusst einräumen, um individuellen Entwicklungen des Partners Raum zu geben. Die Bereitschaft zum Sterben wird im Sakrament der Krankenölung zum Gehorsam gegenüber dem Leben. Im Abendmahl, das im Zentrum der Sakramente steht, werden Essen und Trinken zum direkten Erleben der Identität aller Lebewesen im Körperlich-Organischen; das Sakrament transformiert diese in das große »Wir« des »mystischen Leibes«. Die Mündigkeit des Menschen besteht gerade darin, dass der Mensch sich selber nichts mehr vormacht, was die Zuverlässigkeit seiner eigenen Kräfte angeht, und erst 1
Christian Morgenstern, Weltbild: Episode. Tagebuch eines Mystikers
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Exkurs: Sakramente
so dem »Partner Gott« gegenübertritt. Man kann auch sagen: dass Gott so dem Menschen als Helfender begegnet. Der Buddhismus kennt keinen Gott und keine Sakramente. Man kann aber in seiner strikten Verneinung von dogmatischer Begrifflichkeit auch eine gerade für die christliche Tradition sehr wertvolle Reduktion erblicken. Auf der anderen Seite aber könnte die christliche Begriffsbildung das buddhistische Denken vor einer ins Anonyme abirrenden Verflüchtigung bewahren. Nicht umsonst gibt es im Buddhismus die Bewegung »Reines Land«, in der ein Gefühl für göttliche Hilfe, ja für Gnade entwickelt wurde. Ohne die Übung der Meditation ist der Weg des Buddhismus nicht denkbar. Dies ist ein Weg, der im christlichen Bereich viel zu wenig geübt wurde und wird. Der Zenbuddhismus zeigt hier eine Möglichkeit, die Gedanken der großen europäischen Mystiker als noch kaum genutzte Quelle zu betrachten. Auf diese Weise kann jede der beiden Seiten, sowohl Christentum wie Buddhismus, als komplementär aufgefasst werden, wodurch eventuelle Einseitigkeiten korrigiert werden können – ein bewegliches »Scharnier«, das zwischen negativem und positivem Bild bzw. Begriff für einen ständigen lebendigen Wechsel sorgt.
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Kapitel IV
Bedeutung in Sprache und Musik Die genialen Tonleiterberechnungen der frühesten Zeiten – waren sie bewusst oder aus unbewusstem Instinkt gefunden? Man darf nicht übersehen, dass diese auch ihren Platz im Mythos der betreffenden Kulturen hatten. Die oben erwähnte Proportionsreihe wurde für alle anderen Gebiete der chinesischen Kultur von grundlegender Bedeutung, wie z. B. für Kalenderwesen, Architektur (Städtebau), Astronomie und anderes. Jeder der zwölf Halbtöne war einem bestimmten Monat, einer bestimmten Stunde des Tages und einer Himmelsrichtung zugeordnet. (Nachzulesen in Marcel Granets Buch »Das Chinesische Denken«.) Man wird erinnert an die Zuordnung der einzelnen Kapitel von Joyce’ Ulysses zu den Stunden des Tages. In der christlichen Kultur wurde der Dreiklang (d. h. der 1. bis 6. Oberton) als Symbol der Trinität aufgefasst. In der Barockzeit finden wir eine ganze Reihe von musikalischen Figuren, welche im Kontext der Musik ihrer Zeit so gut wie sprachlichen Charakter angenommen hatten; ich nenne nur die Verwendung der absteigenden chromatischen Tonleiter als Symbol für den Kreuzestod Christi und die aufsteigende diatonische als musikalisches Symbol der Auferstehung. Man könnte fragen: Existiert vielleicht eine archetypische Verbindung zwischen affektiven Charakteren der Musik und Bildern der Wortsprache? Richard Wagner hat mit seiner Leitmotivtechnik ge70 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Bedeutung in Sprache und Musik
nau diese Fragen als Komponist gestellt. Was geschieht mit solchen archetypischen Deutungen, wenn eine generelle Umdeutung der gesamten innermusikalischen Sinnbezüge vor sich geht? Hier werden ja die bis dahin direkt durch die Sinne erfassten Intervalle zu abstrakten, ja symbolischen Zahlenverhältnissen. Möglich wären zwei verschiedene Dimensionen von Sinn; einer das Außen unserer Welt betreffend, der andere das Innen. Noch weiter bedacht: ist die Ebene des Außen der Zeit als Chronos, also der Uhrzeit zugeordnet, so gehört die Innenzeit dem unendlich vielfältigen Erleben der individuellen Zeitqualitäten zu (also nicht der messbaren, als Quantum betrachteten Zeit). Dieser Weg musste mit innerer Folgerichtigkeit nach der sich entfaltenden Panchromatik Wagners beschritten werden. Das Gefälle von Konsonanz und Dissonanz, das ja auch ein Gefälle der mit der klassischen Kadenzierung verbundenen Spannung und Entspannung der betreffenden Musik ist, hat eine Sinndeutung im Sinne der alten musikalischen Figuren unmöglich gemacht. Die Frage ist jetzt: Bedeutet das eine grundsätzliche Ausschaltung von Sinn überhaupt – oder eine Öffnung zu neu bestimmten und komplexeren Sinnkonstruktionen? Ich persönlich bin der Meinung, dass eine Weiterentwicklung in zweifacher Hinsicht möglich ist: einmal durch die größere Bewusstheit des mikrotonalen Hörens, zum zweiten durch die Verwendung von mikrotonaler Modulation, etwa durch Einbeziehung der Kombinationstöne in die harmonischen Fortschreitungen. Diese eröffnet dem Komponisten ein weites Feld von Mehrdeutigkeit bzw. sehr schnellem Wechsel in der harmonischen Entwicklung und ermöglicht ihm ein Höchstmaß individueller Gestaltung.
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Kapitel IV
Musik kann uns vielleicht als eine Sprache aus vorsprachlicher Zeit erscheinen; sie beschwört die Einheit allen Lebens und steht doch auch für den Beginn einer Epoche, die von der menschlichen Ratio entscheidend mitgeprägt ist. Sollen wir diese Sprache eine Sprache der Noumena nennen? Denn Phänomena sind Erscheinungen, die als solche erkannt und benannt werden können. Noumena dagegen können nicht erkannt werden: flüssiges (formloses) Denken. Sind die Affekte als Urphänomene Noumena? Sind sie die erste Schicht unseres Geistes? Sie werden empfangen, nicht selber gemacht: Offenbarung, sowohl der Natur (der »Götter« im Sinne Hölderlins) wie des Geistes (des »Sohnes« im Sinne der christlichen Theologie). Gibt es etwas, das das immer fortschreitende Wesen des Lebens vollkommen darstellt? Das Wesen, Ethos, Daimon? Es ist die Musik selber. Sie bewegt sich, ohne zu wissen, was sie tut, immer in die Zukunft; sie baut aus den frischaufgerichteten Trümmern der eben vergehenden Zeit von Sekunde zu Sekunde ihre klingenden Lichtpaläste, geformt aus dem vergänglichsten Material: aus Tönen, die schon verklingen, bevor ihre Nachfolger sie ablösen. Und nicht als ein starres Bild des Lebens erscheint sie unseren Sinnen, sondern getragen vom Atem des Lebens selber bewegt sie sich im Rhythmus unseres Blutes, ruft uns als Stimme des Logos, die sie ist, weiter zum Fortschritt des Geistes. Wo kann der Ort des Geistes anders sein als in der Zukunft? Die Zukunft ist das Jenseits der Musiker, ebenso imaginär wie konkret, eine stete Herausforderung zum Aufbruch. Ohne die Zukunft gäbe es keine Musik; zumindest der Hörer von Musik der europäischen Tradition muss am Ende eines Stückes sich noch an dessen Beginn erinnern können, um die Form als Ganze zu verstehen. Musik hat ihren Ort bzw. ihre Orte, an denen sie ge72 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Bedeutung in Sprache und Musik
liebt und aufgeführt wird; wo sich Freunde zu dem Kult der Musen versammeln. »Die Ehe ist ein weltlich Ding«, sagte Luther; ebenso ist die Kultur für das moderne Bewusstsein eine ganz und gar weltliche Angelegenheit geworden. In allen alten Kulturen sind aber Kultur und Kult verschwistert. Kultur beruht auf den Festen des Kultus; in Europa auf dem Sabbat und auf den Götterfesten. Auch wenn für die breite Masse die Erinnerung an diese Tatsache verblasst ist, ist doch ein mit der Gebser’schen Philosophie Vertrauter dagegen gefeit, bei einem Wechsel von Sakralkultur zu säkularer Kultur von »nicht umkehrbarem Fortschritt« zu sprechen. Er wird versuchen, das ganze geschichtliche Phänomen durch eine Zusammenschau der Epochen im Blick zu haben, auch wenn diese voller ideologischer Widersprüche stecken; er sucht die Zusammenschau und den Durchblick, und das ist der Fortschritt unserer Epoche gegenüber den früheren, die sich gegeneinander abschotteten. Das Christentum bringt die Freiheit vom Gesetz – also auch von den Festen. Jesus hat als Fest das »Abendmahl« eingesetzt – »tut dies zu meinem Gedächtnis«. Das heißt: Christliche Kultur ist nicht primär Spiel, festliches Fest, sondern Gedächtnis des Leidens, das erforderlich war und ist, um Feste zu feiern: sie ist die Gründung einer Friedenskultur, die nicht ohne Schmerzen und Opfer zu erlangen ist. Die Erinnerung daran steht im Kult der Messe im Zentrum. Ohne diese Memoria droht Kultur zu einem besinnungslosen Rausch der Vergnügungen zu werden. Kunst und Kultur müssen an die reale Bedingung von Kultur und an deren Bedrohung denken. Unentbehrlich für den ethischen Kern der Kultur ist die Realisierung ihrer Autonomie, die sich dem puren Konsum widersetzt.
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Kapitel IV
Kunst als Nachschöpfung der Schöpfung: Schöpfung einer Bilderwelt, welche die komplexe, logisch nicht fassbare Wirklichkeit der Welt durch das dichterische Wort erscheinen lässt. Worte erklingen im Medium der Zeit für die Ohren, und sie werden lebendig in der Imagination der Augen. Der Dichter ruft so die ganze Sinnenwelt auf. Hier entsteht für uns eine neue Möglichkeit der Zusammenschau von Mythos, Kunst und Mystik, die sich nicht auf der Grundlage einer metaphysischen Begrifflichkeit bewegt. Es ist das Verdienst von Georg Picht, darauf hingewiesen zu haben, dass Kunst eine veränderte Weiterführung des Mythos ist. Die Kunst hat die beherrschende Sprache des Mythos in einem Differenzierungsprozess zur Vielheit der Künste umgewandelt: Literatur, bildende Kunst, Architektur, Musik, etc. Davon ist die Musik in besonderem Maß gemeinschaftsfördernd. Sie verlangt auch für die Rezeption eine charakteristische Art der Disziplin, ohne die das, was so leicht »Kunstgenuss« genannt wird, gar nicht zu Stande kommen würde. Der Genuss wird zum größten Feind der Kunst, wenn man nicht auf der Hut ist; man ist mit oberflächlichem, möglichst anstrengungslosem Verstehen von Kunst zu früh zufrieden. Richtig wäre es, die Kunst als eine dem alltäglichen Denken entzogene Übungssphäre zu verstehen, welche den Menschen das unentbehrliche Ausund Einüben von imaginativen und produktiven »Spielen« vermittelt. Hier darf wiederum das Wort »Spiel« nicht missverstanden werden; es würde in seiner Bedeutung ausgedehnt werden müssen zu einer Konzentration, welche in die Nähe von kultischem oder meditativem Tun kommt. Kunst wird nicht passiv aufgenommen, sondern bedeutet immer geistige Aktivität. Diese übten die Chinesen zur Zeit ihrer Hochkultur besonders gerne im »Gespräch« mit dem 74 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Bedeutung in Sprache und Musik
uralten Weisheitsbuch »I Ging« (»Yijing«). Dieses enthält Ratschläge und Bemerkungen für alle denkbaren Situationen des Lebens, geordnet nach den Jahreszeiten, den Lebensaltern und den verschiedenen menschlichen Charakteren. Ganz allgemein fordert das I Ging, die sich ergebende Vermehrung oder Minderung, wo diese auftreten, ungerührt und mit äußerster Ruhe aufzunehmen. Gehorsam den Umständen des Lebens folgen heißt im I Ging, sowohl »Mehrung« wie »Minderung« (Erfolg und Misserfolg) mit gleicher Bereitschaft hinzunehmen. Das I Ging betrachtet den Wechsel zwischen Mehrung und Minderung als ein Urgesetz des Daseins in der Welt und findet seine Spuren in allen Einzelleben wie auch in kollektiven Entwicklungsschüben. Das Schriftzeichen für Musik bedeutet im Chinesischen auch »Freude«; aber nicht im Sinne von Mehrung. Es möchte eine Freude über eine gelungene Balance von Mehrung und Minderung ausdrücken, und nicht nur einen Zuwachs. Jedes Kunstwerk ist ein Balanceakt, denn jede Arbeit an seiner Form ist zu gleichen Teilen Zusammenfügung wie auch erneute Destruktion von Material. Leben als Wirklichkeit ist also das Auf und Ab von Mehrung und Minderung (lateinisch: actualitas). Bei einem neu angestrebten Ziel wäre der Durchbruch des Bewusstseins zu einem tieferen Verstehen des Problems der richtige Weg zum Gelingen. Insofern zeigt sich hier der positive Charakter der Mehrung; damit verbunden ist aber immer eine Loslösung von bereits vollzogenen Symbiosen, die jetzt geopfert werden müssen. Zur Mehrung gehört also immer auch die Minderung: Man opfert zum Beispiel die selbstverständliche Sicherheit einer ererbten Kultur für die Öffnung zu einer noch im Werden begriffenen größeren 75 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel IV
künftigen Werteordnung. (Zurzeit zu beobachten etwa beim Übergang der europäischen Nationalstaaten in das Gefüge des neuen Europa). Der Verlust des Urvertrauens in das Lebendige kann bei den heutigen Menschen eine Gier nach ständiger »Mehrung« erzeugen; daher rührt auch der Hang zum Extrem in fast allen Lebensbereichen, – Geld, Macht, Sex, Eigentum etc. Deswegen wird Askese zur neuen gesellschaftlichen Notwendigkeit – nicht aus Verachtung der Wirklichkeit, sondern zur Vorbeugung gegen das Zuviel. Kunst und Mythos sind Früchte des Eros, der von den Menschen Besitz ergreift. Im Mythos ist der menschliche Geist noch nicht ichbewusst; bei den Mythen handelt es sich, wie es wahrscheinlich C. G. Jung formuliert hätte, um autonome Gestaltungen des Unbewussten. Betrachten wir neben dem Eros seinen gefährlichen Bruder, den Kriegsgott. Homer beschreibt unübertrefflich den Rauschzustand, der die Krieger ergreift, wenn sie, vom Gott besessen, in eine Mordlust verfallen, die alle anderen Regungen in den Hintergrund treten lässt. Würde man hier fragen: hatten die Menschen der Antike so etwas wie Mitleid noch nicht »erfunden«?, so wäre die Antwort schwierig. Die Diskrepanz jedoch zur bürokratischen Kühle heutiger Kriegsführung bei gleichzeitigem Verschwinden jeder Kriegsbegeisterung ist offensichtlich. Aber lässt sich darin wachsendes Mitgefühl erkennen? Existieren die mythischen Gewalten noch, von denen die Menschen früher erfasst wurden, oder haben wir uns ihnen, und zwar wahrscheinlich in erster Linie aus Schwäche und nicht aus Mitgefühl, entzogen? Hier sieht man eine gefährliche Doppeldeutigkeit des Wortes »Mythos«, wenn man es heute kommentarlos verwendet: im Gegensatz zu dem, was uns 76 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Bedeutung in Sprache und Musik
als »Geistrede« in der Sphäre des Christlichen begegnet, kultiviert der Mythos ein kollektives, noch nicht individuell gewordenes Bewusstsein. Krieg und Aggression können erst überwunden werden, wenn sich ein freier Entschluss zur absoluten Friedfertigkeit gegen jegliche Aggressivität und Kriegshandlung weltweit durchgesetzt hat, und dieser Prozess setzt bei jedem einzelnen Menschen an. Diese Umwandlung kann nicht dem mythischen Bewusstsein allein entspringen, aber auch das Vernunftdenken der Neuzeit scheint sie nicht realisieren zu können. Entgegen dem schönen Satz von Levinas, dass jeder Mensch Messias sein solle, muss der Messias als Träger der Geistrede ein einzelner Mensch bleiben, um sein Werk vollbringen zu können. Die Musik hat mit ihren Mitteln nicht die Möglichkeit, direkt ethische Botschaften zu vermitteln. Dafür bedarf sie der Hilfe ihrer Schwester, der Wortsprache. Und doch liegt in ihrer Formkraft, in der zu ihrer Realisation notwendigen freundschaftlichen Disziplin so viel im Unbewussten verschlossene Gestaltungskraft, dass dafür das Wort »ethisch« angebracht wäre. Aristoteles hat es auf eine ebenso klare wie entschiedene Weise so ausgedrückt: »Musik ist dem Ethischen ähnlich und zugeordnet.« Die Kunst als direkte Handlung des Künstlers müsste allerdings anders beschrieben werden. Sie ist die so schwer zu findende nahtlose Übereinstimmung des gestaltenden künstlerischen Willens mit dem, was der Künstler aus seiner Intuition empfängt. Dieses Schaffen der künstlerischen Gestalt muss unbedingt ohne Rücksicht auf etwaigen Vorteil oder Nachteil des Künstlers vonstattengehen, sonst wird das Geschenk des Intuitiven vergessen. Der Künstler muss in tiefster Konzentration hören und versuchen, im Gebrauch seiner Mittel so weit wie möglich seiner Intuition zu folgen. Diese Formu77 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel IV
lierung mag an Aussprüche von spätromantischer Herkunft erinnern, aber »Intuition« wird hier nicht wie im 19. Jahrhundert als individuelle Leistung des Subjektes verstanden, sondern entstammt der überindividuellen Ebene des Selbst. Gerade deswegen muss diese Ebene immer ohne dogmatischen Zwang, ohne ideologisches Dröhnen zur klingenden Erscheinung gebracht werden. Dieses Hören ist in seiner alles andere eliminierenden Konzentration ganz dicht an der Übung der Meditation. Im Buddhismus wird beispielsweise die Kalligraphie als eine solche Konzentrationsübung gewertet, und zwar nicht etwa das Betrachten, sondern der Herstellungsprozess von kalligraphischen Werken selber. Die reflexive Tätigkeit wird dabei wie beim Malakt ausgeschaltet. Eine Kalligraphie soll ja in einem Zug, ja in einem Atemzug entstehen: eben dies soll der Betrachter analog mitempfinden lernen. Es ist klar, dass es hier nicht um raffinierten Genuss von schönen Formen geht, sondern um die Übung einer tiefen Übereinstimmung zwischen der geistigen Vision des Kalligraphen und seinem Können. Zwar benutzt die Tradition der Zen-Maler fast immer bekannte überlieferte Sentenzen des Zen als Texte der Kalligraphie, aber es geht nicht um die Interpretation der Worte, sondern um die Vermittlung jener Konzentration, die für die Schaffung des Werkes nötig war. Es wäre also genauso falsch, hier von l’art pour l’art zu sprechen wie von einer Sentenz. In der europäischen Kultur scheint die Musik seit dem Zeitalter des gregorianischen Chorals und der sich daran anschließenden Entwicklung der europäischen Kunstmusik eine ähnliche Funktion erfüllt zu haben. Während Altertum und Mittelalter finden wir zuerst im einstimmigen gregorianischen Choral und dann in der sich anschließend entwickelnden Mehrstimmigkeit jahrhundertelang die glei78 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Bedeutung in Sprache und Musik
chen Texte als Grundlage für immer neue musikalische Formen, bis die Musik sich langsam von dieser Tradition loslöst und auch andere Textinhalte wählt. In einem weiteren Emanzipationsprozess befreit sich die Musik mehr und mehr von Textvorlagen schlechthin; man spricht von »absoluter« Musik, vergisst aber dabei, dass auch die Musik der Klassik und Romantik noch lange in der Abhängigkeit von poetischen Formen und Vorstellungen verweilt. Die Moderne will die radikale Emanzipation von der Wortsprache fortsetzen, macht dabei aber die Erfahrung, dass sie, wenn sie etwa auf das aktuelle politische Geschehen reagieren will, die Wortsprache mit ihrer Bedeutungsfunktion in ihre Werke einbeziehen muss. Dabei ergibt sich oft eine pure Ästhetisierung des politischen Inhalts und keineswegs eine gesteigerte Wirkung der verwendeten Texte. Man könnte auf die Idee kommen, dass die durch das mentale Denken immer differenzierter gewordene moderne Kunst langsam, aber sicher wieder zu einer zusammenwirkenden Erscheinung tendiert. Musik und Malerei, Dichtung und Musik, Architektur und andere Künste experimentieren mit immer neuer Vermischung ihrer gegensätzlichen Disziplinen, und das Theater beteiligt sich mit seinen Mitteln immer häufiger an ähnlichen Experimenten. Durch diese formale Verunklarung wird aber nichts gewonnen. Im Gegenteil werden oft die Disziplinen der Einzelkünste ad absurdum geführt. Vielleicht zeigt sich hier noch ein Teil der Suchbewegung nach neuen Formen des Zusammenwirkens der früheren Einzelkünste. Nach Ansicht einer Reihe von Kulturphilosophen – Jean Gebser an ihrer Spitze – wird unser noch scheinbar intaktes »mentales Zeitalter« nach und nach abgelöst von einer neuen Betrachtungsweise: dem »diaphanen« Zeitalter. Wir schauen nicht nur in die Richtung der zukünftigen Ent79 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel IV
wicklung, sondern haben auch gleichzeitig unsere kulturelle, langsam gewachsene Entwicklung vor Augen. Wie nah steht doch dieser Gedanke dem Bild von der Kugelgestalt der Zeit, das der Komponist Bernd Alois Zimmermann so gerne für die Musik der Zukunft gebraucht! Indem Zukunft und Rückblick auf die Vergangenheit zu ein und demselben schöpferischen Impuls werden, hat der Künstler das Mittel gefunden, die Zeit in ihren Modifikationen zu gestalten.
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Kapitel V
Stufen der Vertiefung Ein Symbol wie die Trinität darf in seiner Signifikanz wohl nicht auf den theologischen Bereich eingeschränkt werden; »Trinität« dürfte eine archetypische Bedeutung für das gesamte abendländische Denken haben. Wenn wir die drei »Personen« der Trinität als sich ergänzende Kräfte verstehen, können wir ein etwas anderes Bild entwerfen. Den Anfang benennen wir mit dem Namen des zeugenden Vaters; von der Welt können wir sprechen als von einer empfangenden und gebärenden Mutter, wie es die mythischen Kulturen gerne tun. Der dritte Aspekt, der des Geistes, wäre die unendlich weit in die Zukunft fließende Lebensenergie. Das »Ganze«, was die Zusammenschau uns zeigt, erscheint uns als gegliederter Organismus: als das Leben selbst, wie es wächst und sich ausdehnt. Der Ruf des Anfangs verkündigt an Maria; Sie empfängt vom Geist, dem Heiligen. Sieh, ich bin Dienerin des Anfangs: mir soll geschehen wie der Ruf will. So wurde der Ruf zum lebendigen Fleisch und wohnte in uns. (Angelusgebet) Wir bedienen uns hier der Sprache der christlichen Dogmatik, als ob es sich um einen Mythos handeln würde. Es soll damit durchaus nicht der Unterschied zwischen Mythos 81 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel V
und christlichem Glauben verwischt werden; es handelt sich lediglich um den Versuch, in der Sprache des Mythos etwas auszudrücken, das die rationale Sprache der Philosophie uns nicht verständlich machen kann. Die Welt empfängt vom Anfang schon immer den Ruf, zum Leben zu kommen: dieses Leben nennt die christliche Überlieferung den »Sohn«, geboren »aus der Jungfrau«, aus der Erde; geboren aus der Welt und ihrer Evolution, wie wir heute sagen. Was die christliche Tradition dem Mythos noch hinzufügt ist, dass die »Mutter« vom heiligen Geist empfängt: das Leben der Welt erhält also vom Anfang die gleiche Heiligkeit, wie sie der Vater besitzt. Durch dieses »antimythische« Paradox werden wir daran erinnert, dass wir uns entschlossen haben, das Wort »Gott« mit »Nichts«, und das Wort »Heilig« mit »vollkommen unbegreiflich für die Vernunft« zu übersetzen. Die christliche Tradition hat schon immer zwischen »geschaffen« und »gezeugt« unterschieden. Die Welt, soweit sie Materie ist, ist vom Anfang geschaffen: auf unbegreifliche Weise aus dem Nichts entsprungen. Sie ist nicht identisch mit dem Ursprünglichen, sondern als ein selbständiges Wesen davon unterschieden: sie ist der Zeit unterworfen, der Vergänglichkeit und der unaufhörlichen Veränderung. In dem, was wir die Evolution zu nennen gelernt haben, finden wir aber über die bloße Veränderung hinaus eine deutliche Zielgerichtetheit, welche die Materie dazu bringt, sich zu immer komplexeren Formen zu organisieren. Die Welt »Sohn« zu nennen, ist ganz natürlich: Sohn der Zeit, in stetigem Wachstum begriffen, durch Krisen und Krankheiten den eigenen Weg gehend. Aber das »antimythische Paradoxon« besagt, dass die Welt nicht nur auf diese natürlich-materielle Weise, sondern auch auf eine zweite unvergleichlich höhere zu sich kommt: sie wird als »Sohn« vom heiligen Geist empfangen: 82 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Stufen der Vertiefung
sie ist gezeugt, ist »bewohnt« vom Anfang, der »über« der Zeit, »vor« der Zeit, »außerhalb« der Zeit ist. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn werden zwei verschiedene Söhne des Vaters genannt: der eine, der immer beim Vater bleibt, und der andere, welcher auszieht, in Freiheit seinen eigenen Weg geht und nach unendlichen Irrwegen und Krisen wieder beim Vater ankommt, der ihn mit einem Festmahl empfängt. Die Ungeheuerlichkeit des Ausgesagten wird vielleicht noch mehr ins Bewusstsein gerückt, wenn wir eine andere nicht-mythische religiöse Sprache gebrauchen. Im buddhistischen Denken spricht man von »shiki« und »ku«. Diese beiden Begriffe werden aber nicht nur in ihrer absoluten Gegensätzlichkeit gesehen, sondern gleichzeitig als identisch: »ku ist shiki und shiki ist ku.« Mit dieser Gleichsetzung von absoluten Gegensätzen wird die Sprache zur sich selbst aufhebenden, »gebrochenen« Rede. Die Sprache verliert ihren Verstand. Sie könnte allenfalls in dem von den frühen Gemeinden bezeugten, wie oben bereits erwähnten, »Zungenreden«, d. h. in einer parasprachlichen Weise über solche Art von Erkenntnis sprechen. Vielleicht verstehen wir durch diese Ausdrucksweise einen Moment lang besser, in welcher radikalen Weise das Zusammenwirken von »Gott und Welt«, von »Vater und Sohn« ein völlig undurchdringliches Paradox für den menschlichen Verstand bleibt. Nehmen wir den Sohn, Jesus, als lebendiges Zentrum der Menschheit, so überlagert sich in ihm die historische menschliche Person mit den mythischen Bildern von Messias, Gottkönig, weisem erleuchtetem Lehrer der Welt und dem »Opferlamm« der biblischen Tradition – letzteres schon in die magisch-archaische, vormythische Sphäre zurückreichend, wie die Berichte der Wunder, welche ebenso wenig unterdrückt werden dürfen wie die »mythischen« 83 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel V
Elemente der Evangelien. Die geschichtlichen Perioden der menschlichen Geistesentwicklung haben sich in unserem eigenen mehrdimensionalen Bewusstsein abgelagert. Dass wir uns heute in einer durch die Rationalität der modernen Wissenschaft geprägten Sprache ausdrücken, vernichtet nicht die Erfahrungen älterer Zeiten, die in anderen Denksystemen sich formulierten. So ist evident, dass der »Sohn« in der umfassenden Realität des christlichen Lebens in sich alle Schichten der menschlichen Geistesentwicklung als lebendige Potenzen enthält. Und wenn der »Sohn« die Chiffre, nein: die Essenz der Welt ist, so entspricht die Sphäre seiner natürlichen Körperlichkeit der Körperlichkeit seiner Mutter, durch die er mit allen Menschen verwandt ist. So ist es konsequent, über der historischen Figur der Mutter Jesu die mythischen Schichten einer »Gottesgebärerin« und die magische Figur einer »Mutter Erde«, einer mütterlichen Natur, mitzusehen – zu projizieren, aus der Wirklichkeit des Fleisches herauszulesen. Gerade bei den Traditionen der Marienverehrung befinden wir uns in einer paradoxen Situation: Um dem heutigen Menschen überhaupt klar zu machen, worum es geht, und ihn von der sogenannten volkstümlichen, meist unsäglich kitschigen Sprache der Marienverehrung zu distanzieren, müssen wir die heute übliche Sprache unserer Wirklichkeitsbeschreibungen gebrauchen. Wir dürfen uns aber nicht einbilden, dass wir damit etwa den Sinn bisher falsch bzw. »naiv« verstandener Gedankengänge entschlüsseln. Unsere wissenschaftliche Rationalität erkennt zweifellos die Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten der materiellen Welt unvergleichlich schärfer und sieht Zusammenhänge, die den früheren Menschen gänzlich unbekannt waren; dafür hat dieses unser Weltbild in anderer Hinsicht blinde Flecken – ja, ganze Kontinente scheinen im mentalen Denken un84 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Stufen der Vertiefung
sichtbar geworden zu sein. Wir müssten also im Bewusstsein, dass keine Sprache fähig sein kann, die Paradoxien des Geistigen widerspruchslos auszusprechen, lernen, gerade an den Rändern der bisherigen Sprachen, an ihren scheinbaren Unvereinbarkeiten zugunsten einer unbegrenzten Vielfalt der religiösen Erfahrung auf ihre logische Kohärenz zu verzichten. »Erbsünde« etwa will ein im Prozess der Menschwerdung unvermeidliches Übel benennen: Durch die Entwicklung der Sprache und der durch sie möglich gewordenen Ordnungs- und Machtsysteme erhält das Wesen »Mensch« eine isolierte Sonderstellung in der Natur. Wir stellen fest, dass der Mensch, der keineswegs schon so friedlich ist, wie er sein sollte, diese Sonderstellung dazu benutzt, seinesgleichen zu unterdrücken und die Harmonie der Natur zu zerstören. Denn die Sprache hat nicht nur die Fähigkeit, den Augenblick erinnernd festzuhalten und die Kommunikation unter den Menschen auf einen höheren Punkt des Bewusstseins zu heben; sie kann auch eine zweite, andere Welt aus Lüge und Schein etablieren, die sich vor die wirklichen Geschehnisse und Dinge setzt und dem Menschen den Blick verstellt. Da die Natur allen ihren Geschöpfen nicht nur den Drang zum Überleben und zur Fortpflanzung mitgegeben hat, sondern auch den Willen zur Steigerung der eigenen Fähigkeiten, wird die eigene Kreativität (welche die Kreativität der Natur selber ist) den Menschen immer wieder vor unvorhersehbare neue Situationen stellen: nicht nur, weil er die Welt immer schärfer sieht, sondern weil er die Welt ständig verändert. Da nun die Motivation für seine kreativen Handlungen zunächst dem individuellen Vorteils- und Macht-Streben entspringt, muss die Entwicklung des Menschen schnell zu immer perfekteren, furchtbareren Formen der Aggression und end85 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel V
lich zur voraussehbaren Selbstvernichtung führen. Dieses Dilemma entspringt der Natur – ist sozusagen der Pferdefuß der Evolution; biblisch gesprochen: die Schlange im Paradies. Die Theologen haben das mit dem Begriff der Erbsünde in Verbindung gebracht und damit ausgedrückt, dass menschliche Schuld immer erst auf dem Hintergrund individuellen Bewusstseins möglich wird. Platt naturalistisch ausgedrückt, hat sich die Evolution durch die Erfindung der Fähigkeit zur sprachlichen Symbolisierung in eine nie dagewesene und offenbar nicht behebbare Krise gebracht. Um diese aufzulösen, müsste es der Evolution gelingen, das Gesetz, auf dem seit Beginn die Entstehung der Lebewesen beruht: den auf den struggle of life gegründeten natürlichen Egoismus aufzuheben bzw. umzufunktionieren. Die Evolution müsste lernen, ihr eigenes Grundgesetz ins Gegenteil umzukehren und ein Lebewesen zu schaffen, das seine Handlungen nicht mehr auf Egoismus und Machtstreben, sondern auf das gründet, was den Vorteil des Ganzen bedeuten würde. Im Zenbuddhismus nennt man ein solches Verhalten »mushotoku«, »ohne an Vorteil oder Nachteil zu denken«; das entspricht genau dem, was wir früher »selbstlos« genannt haben. Diese Haltung, die identisch mit dem christlichen Liebesgebot ist, zu erlernen, bedeutet für uns Menschen also die einzige Chance, als biologische Art in dieser Welt zu überleben – in einer Welt, die heute bis an die Zähne bewaffnet und voller schreiender Ungerechtigkeiten ist. Wir haben uns angewöhnt, von der Zerstörung der Natur zu reden – als ob nicht die Zerstörung gewachsener Strukturen seit je im Haushalt der Natur einen festen Platz gehabt hätte! In Wirklichkeit ist unsere Lage so, dass wir dafür sorgen müssen, nicht selber unseren eigenen »ökologischen Ort« in der Natur zu zerstören, unsere Nische in der Natur, die die Evo86 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Stufen der Vertiefung
lution uns zugewiesen hat. Nicht »die Natur«, sondern unser Platz in der Natur ist durch uns bedroht. Der mögliche Ausweg aus der Sackgasse der Evolution ist die biblische Friedfertigkeit: hören wir auf, an das Gespenst der Sprache zu glauben, das wir wie eine Scheinwelt vor die Wirklichkeit gestellt haben, so verschwindet unser hab- und macht-gieriges Ich samt unserer ego-besessenen Aggressivität. Die bisherige Vorstellung, dass eine »höhere Macht« zur Rettung der Menschheit in die Geschichte eingreift, muss der Erkenntnis weichen, dass wir selber es sind, die uns unser Schicksal bereiten. Das vielgerühmte griechische Erbe, die Überzeugung, dass wir die Welt durch unsere Vernunft verstehen und im Ganzen überblicken können, hindert uns an der Synthese unserer naturwissenschaftlich geprägten Realitätsvorstellung mit der lebendigen Welt unserer Intuition. An dieser Synthese hängt aber die immer noch mögliche Kohärenz unseres Bewusstseins. Können wir doch tagtäglich erleben, wie zum Beispiel unsere Träume ein eigenständiges und offenbar von unserem logischen Denken unabhängiges Dasein führen; wie die Organe unseres Körpers einer weder von unserem Willen noch von unserem Verstehen gesteuerten Gesetzmäßigkeit gehorchen; und in welchem Maße die geschlechtliche Liebe unser Leben beeinflussen und verändern kann. Warum wollen wir nicht einsehen, dass das Denken, das von den Mythen und Religionen entwickelt worden ist – ebenso wie das Denken in den verschiedenen Künsten –, eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, die zu erkennen die analytischen Methoden der Naturwissenschaften gar nicht geeignet sind? Wir können zwar durch sie einiges erfassen – nämlich das, was ihre Fragestellung erforschen will –, aber nicht den Kern, welcher sich in der Genese der Künste längst vor der Entwicklung unserer wissen87 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel V
schaftlichen Ratio gesetzt hat und in unserem Seelenleben weiterexistiert. Durch Analysen vertieft man zwar sein Wissen auch von Kunstwerken oder organischen Prozessen, aber dieses Wissen wird als »eindimensionales« niemals die Komplexität der Wirklichkeit erreichen. So können Glaube und Wissen niemals kongruent sein. Ebenso können die religiösen wie die künstlerischen Gedanken verschiedener Epochen niemals deckungsgleich sein, da das Wissen der betreffenden Zeit in seiner Formulierung einen undurchdringlichen Knoten mit der jeweiligen Erfahrung gebildet hat. Wenn wir solche in der Kulturgeschichte abgelagerten Prägungen verstehen wollen, müssen wir uns in die Mentalität der betreffenden Zeit hineinfühlen, aber nicht in der Haltung einer Überlegenheit oder mit der Absicht, das Alte durch die Denkweise von heute »verständlicher« zu machen. Wir müssen begreifen, dass unser logisch zentriertes Denken ein Ausfluss unseres egoistisch orientierten Ich ist, mittels dessen nicht nur Wissen angehäuft wird, sondern die Strategien unseres Willens zu Macht und Dominanz sich realisieren. Da das Leben unendlich vielfältiger ist als der kleine Ausschnitt davon, den uns unser objektivierender Verstand sehen lässt, ist es notwendig für unsere Zukunft, dass wir aus diesem Gefängnis ausbrechen. Wohin? Aus dem Definierenden und dem Definierten ins Unbegrenzte des Schöpferischen, das sich seine eigenen Regeln setzt. Das menschliche Ich ist es, das die Zukunft gestaltet, aber nicht im Sinne von Stärkung des Ego, sondern um den Auftrag der Geschichte zu erfüllen. So gesehen schickt sich die Menschheit an, ihren Weg neu zu betreten. »Kühne Utopie!«, wird man angesichts der offenkundigen Unreife der Menschheit und der sich türmenden Weltprobleme sagen. »Vertrauen auf das Leben«, das seit 88 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Exkurs: »Wie glauben?«
dem Anfang alle Krisen überwunden hat, sagt der Geist als der uns verheißene Helfer. Aber – so viel haben wir wenigstens schon gelernt: er kann uns nicht helfen, wenn wir uns nicht auch selber helfen.
Exkurs: »Wie glauben?« Die Fragestellung des Theologen Friedrich Wilhelm Graf »Wie glauben?« statt »Was glauben?« versuchen wir noch einmal von: »Wie glauben?« auf »Wie glauben?« zu verschärfen. Die Antwort müsste in der Richtung liegen, dass die schöpferisch-poetischen und nicht die kritisch-intellektuellen Kräfte des Menschen den Glauben immer neu hervorbringen. Durch die Reformation und ihre Entwicklung hin zur Liberaltheologie haben wir gelernt, in freier Hermeneutik mit jedem geschichtlichen Text umzugehen; das entstandene Problem ist ohne Zweifel, dass wir nun nach der Legitimation dessen fragen müssen, was denn überhaupt noch geglaubt werden soll. Das heißt, man müsste letzten Endes nach der Legitimation jedes sprachlichen Ausdrucks fragen. John Cage hat von der »Entmilitarisierung« der Sprache gesprochen, das heißt von einer Frontstellung gegen die Tendenz jeder sprachlichen Formulierung, die Richtungen und Absichten unseres Denkens zu bestimmen. Wenn wir sprechen wollen, so müssen wir in einer Sprache sprechen, welche den am Gespräch Teilnehmenden alle Freiheiten, nicht nur der Antwort, sondern auch des Verstehens lässt. Das heißt, es wäre nicht von Anfang an festgelegt, worüber genau man spricht bzw. was die Begriffe exakt bedeuten wollen. Ein Gedankenaustausch oder eine Diskussion wären erst dann möglich. Es gibt aber eine Lösung für dieses Problem: Man einigt sich auf eine 89 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel V
Art frei gewählte Diskursregeln als Grundlage für das Gespräch. Muss es aber nicht trotzdem eine feste Grundintention für das Gespräch selber geben? Ich lege hier einmal eine mögliche Vereinbarung vor: Das Gespräch soll der friedlichen Verständigung zwischen freien Individuen dienen; die Intention ist aber nicht nur friedlicher, sondern auch freundschaftlicher Art. Jedes Gespräch dieser Art muss die Zielrichtung gegenseitiger Hilfestellung und offener Kommunikation haben, d. h., es darf niemals um Taktik, um Durchsetzung von Einzelinteressen oder Einzelüberzeugungen gehen, sondern um die Entwicklungsformen des Denkens und Handelns, die von allen freiwillig getragen werden. Eine weitere Grundlage müsste dann wohl die Akzeptanz der Menschenrechte sein, vertieft durch das, was die christliche Tradition die Liebe zu allen Mitmenschen ohne Wenn und Aber nennt. Dazu gehört natürlich vor allem das Verbot jeglicher Art von Gewalt. Es springt ins Auge, dass es schon bei Berücksichtigung dieser Voraussetzungen unmöglich ist, dem Gespräch eine widerspruchsfreie Logik zugrunde zu legen. Auch logische Widersprüche müssten geduldet werden. Der so entstehende Pluralismus muss wohl als künftige Grundlage aller kulturellen Definitionen akzeptiert werden. Dafür, dass dieser Pluralismus nicht zu einer totalen Wertfreiheit bzw. Unverbindlichkeit führt, bedarf es aber so etwas wie einer alle Widersprüche überwölbenden Kraft. Das kann nur das Leben selber sein: der Lebenswille alles Lebendigen, die liebende Hingabe an den Prozess des Lebens, das was Albert Schweitzer »die Ehrfurcht vor dem Leben« nennt und das bei Michel Henry »absolutes Leben« heißt. Wenn wir die verschiedenen Religionen als prägendste 90 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Exkurs: »Wie glauben?«
historische Grundlagen der menschlichen Entwicklung ansehen, so müssen wir mit der gefährlichen, seit Lessing fast unwidersprochen weitergegebenen Überzeugung brechen, dass alle Religionen in gleichem Sinn gut bzw. nützlich seien. Wir müssen vielmehr auch die einzelnen historischen Religionen befragen, inwieweit sie der Ehrfurcht vor dem Leben dienen. Jede Frontbildung, jede Fanatisierung oder gar Gewaltanwendung, welche eine unreflektierte Gläubigkeit befördern will, ist zu verwerfen und zu verhindern. Auf die Frage nach dem Guten gibt es unendlich viele Einzelantworten. Es geht hier um nichts Geringeres, als die Natur selber in ihrem tiefsten Kern zu befragen: wir fragen nach einer Kraft, welche die Eigenschaft hat, den Gegensatz zwischen dem Willen zum Leben und der mit diesem zunächst unlösbar verbundenen Energie der Zerstörung und Aggression aufzuheben. Diese Kraft müsste selber lebendig sein, d. h. nicht nur Idee oder Ideal, sondern wirkende Energie im lebendigen Wesen. »Mors et vita duello / conflixere mirando: dux vitae mortuus, regnat vivus« (Tod und Leben tragen im Duell einen wundersamen Streit aus: die Kraft des Lebens, verblichen, herrscht als lebendige), heißt es in der Ostersequenz. Die Alten beriefen sich bei solchen Grundfragen auf ihre Orakel, auf Weise und Propheten, Heilige und Buddhas und schließlich auf Christus als auf das personifizierte Zentrum der Lebenskraft. Christus wird als »der Sohn« zum Bilde des Menschen, der Schöpfung schlechthin; gleichzeitig aber wird er als zweite Person des trinitarischen Gottesbildes verehrt. Er verkörpert also gerade den Schnittpunkt zwischen Schöpfung und Schöpfer. Eine Entscheidung für ihn ist kein Rückfall in alte mythische Denkbilder, sondern die Entscheidung für ein präzise definiertes Menschenbild. Die Entscheidung, an ein solches Menschenbild zu 91 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel V
»glauben«, kann für den modernen Menschen wohl nicht mehr allein eine Vernunftentscheidung im bisherigen Sinn sein: etwa für einen idealen Lebensweg; wir können nicht die Geschichte unseres Denkens und etwa die Einsicht Freuds verdrängen, dass es sich bei solchen Entscheidungen um verdeckte Projektionen unserer Wünsche handelt. Infolgedessen kann eine Entscheidung für das, was das Neue Testament das »Reich Gottes« nennt, nur als freier Willensakt des mündigen Menschen Bestand haben. Glauben wäre also in erster Linie ein Willensakt, dessen Wirkung zunächst eine Konzentration von psychischer Energie ist. Allerdings muss gesagt werden, dass Glaube immer in Verbindung mit Hoffnung und Liebe zu denken ist – denn sonst wäre der gesamte Bereich von Begeisterung, Liebe und Überschwang vergessen, ohne den doch eine Glaubensüberzeugung sich gar nicht bilden würde. Glaube ist nicht Theorie, sondern Praxis. Durch eine kollektive und kontinuierliche Übung baut sich allmählich eine in die Zukunft wirkende psychische Energie auf, welche das für das Überleben notwendige Potenzial an Menschlichkeit bereitstellt. Denn nur so wäre es möglich, den Urkonflikt zwischen aufbauenden und zerstörenden Energien des Lebens zu steuern. Natürlich würden alle diese Überlegungen vom modernen Bewusstsein zunächst unter dem Stichwort »mythisches Denken« abgelegt (wenn nicht unter »Schizophrenie« oder »Geisteskrankheit«). Aber die Frage scheint zu sein, ob es nicht notwendig ist, »Mythos« als Sprache neu zu verstehen: nämlich als freie Schöpfung unserer kreativen Kraft – und gleichzeitig als ausgleichende Gegenkraft gegenüber der alles dominierenden Verwendung von Sprache als pure Information. Mythos, zu einer »Geistrede« geworden, wäre eine Möglichkeit für uns, die Vielschichtigkeit des Logos 92 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Exkurs: »Wie glauben?«
und die Polyvalenz der Sprachen zu retten; Geschehnisse auf andere Weise zu erzählen als durch die Brille der wissenschaftlichen Rationalität gesehen. Wäre also die Öffnung zu dieser Form des Denkens hin ein Willensakt? Sie ist dem Gebrauch von künstlerischen Sprachzeichen als Bildersprache vergleichbar. Die Kunst ist selber eine Form des Mythos, wie es Georg Picht gezeigt hat. 1 Nicht durch die Entmythologisierung der Offenbarungstexte, sondern durch die mit neuer Intensität erlebte Kraft der Sprache kann heute vielleicht ein neuer Zugang auch zu den biblischen Texten gefunden werden. Durch die Kraft eines Willensentschlusses bilden Glaube, Hoffnung und Liebe psychische Energien aus, welche die Phänomene des Glaubens unter den Menschen zum Leben erwecken. Diese Energien müssen mit allen schöpferischen Kräften genährt werden und zu einem neuen körperhaften Ganzen heranwachsen: die alte Idee des mystischen Leibes! Der Glaube würde sich dann nicht mehr nur auf eine unbeweisbare Transzendenz oder sonstige Philosopheme stützen, sondern auf die zu erhoffende Wirksamkeit unserer eigenen Lebensenergie. Das Ergebnis wäre nicht mehr Wunsch und Vorstellung, sondern in Freiheit und Bewusstsein gesetzte geistige Energie, welche uns die das Sein gewährende Kraft des Logos schenkt. Das Bild des mystischen Leibes enthält das Paradox Eins – Alles: Christus ist sowohl der Archetypus des individuell Einzigen – das, worin der Mensch wirklich »Bild des Vaters« (ku) ist, wie auch der Archetypus der Vielheit (shiki): dessen, was wir »Welt« nennen. Im bewussten Ich des Menschen wird die Ambivalenz von Einzelnem und
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Georg Picht, Kunst und Mythos, Klett Cotta 1986
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Allem ausgetragen. Hier erscheint der Sohn als der Mittler in einem mehrfachen Sinn: Brücke von zeitlicher zu überzeitlicher Existenz.
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Kapitel VI
25 Jahre komponierte Interpretation Seit Erfindung der Notation ist die Überlieferung von Musik geteilt in den vom Komponisten fixierten Text und die vom Interpreten aktualisierte klingende Realität. Ich habe ein halbes Leben damit verbracht, möglichst textgetreue Interpretationen anzustreben – insbesondere von Schuberts Werken, die ich tief liebe –, um doch heute mir eingestehen zu müssen: es gibt keine originalgetreue Interpretation. So wichtig es ist, die Texte genauestens zu lesen, so unmöglich ist es, sie lediglich rekonstruierend zum Leben zu erwecken. Abgesehen davon, dass sich sehr viele Dinge wie Instrumente, Säle, Bedeutung von Zeichen etc. verändert haben, muss man verstehen, dass jede Notenschrift in erster Linie eine Aufforderung zur Aktion ist und nicht eine eindeutige Beschreibung von Klängen. Es bedarf des schöpferischen Einsatzes des Interpretierenden, seines Temperamentes, seiner Intelligenz, seiner durch die Ästhetik der eigenen Zeit entwickelten Sensibilität, um eine wirklich lebendige und erregende Aufführung zustande zu bringen (ich rede nicht von äußerlicher Perfektion). Dann geht etwas vom Wesen des Interpreten in das aufgeführte Werk über: Er wird Mitautor. Verfälschung? Ich sage: schöpferische Veränderung. Die Musikwerke haben, wie auch die Theaterstücke, die Chance, sich durch große Interpretation zu verjüngen. Diese sagen dann nicht nur etwas über den Interpreten aus, 95 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VI
sondern sie bringen auch neue Aspekte des Werkes zu Bewusstsein. Ein Werk wie die Winterreise ist eine Ikone unserer Musiktradition, eines der großen Meisterwerke Europas. Wird man ihm ganz gerecht, wenn man es nur in der heute üblichen Form – zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal – darstellt? Viele halten es für wichtig, sich darüber hinaus dem Klang des historischen Originals wieder anzunähern. Das »heilige Original« – es wird heute viel gepflegt, auf Hammerklavieren, Schubert-Flügeln, Kurzhalsgeigen und Holzflöten. Und das ist auch gut so, obwohl wir nicht der Illusion verfallen dürfen, dass Aufführungen mit historischen Instrumenten uns so ohne weiteres den Geist der Entstehungszeit zurückbringen könnten. Zu sehr haben sich unsere Hörgewohnheiten und unsere Ohren verändert, zu sehr ist unser Bewusstsein geprägt von Musik, die nach Schubert geschrieben wurde. Oft wird vielmehr eine »historisch-getreue« Aufführung als »Verfremdung« dessen, was wir gewohnt sind, gehört; auf jeden Fall als »Brechung« des bisher einfachen Bildes, das wir von dem betreffenden Komponisten hatten. Hier liegt die Wichtigkeit der Erfahrung mit historischen Rekonstruktionen: Man sieht das Bild eines geliebten Meisters plötzlich doppelt und dreifach, sozusagen von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven. Und hier ist auch der Ansatz für einen völlig unorthodoxen Umgang mit alten Texten, für das, was die Franzosen »lecture« nennen und was man mit »individuell-interpretierender Lesart« übersetzen könnte. Meine »lecture« der Winterreise sucht nicht nach einer neuen expressiven Deutung, sondern macht systematisch von den Freiheiten Gebrauch, welche alle Interpreten sich normalerweise auf intuitive Weise zubilligen: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Ton96 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
25 Jahre komponierte Interpretation
arten, Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen. Dazu kommen die Möglichkeiten des »Lesens« von Musik: innerhalb des Textes zu springen, Zeilen mehrfach zu wiederholen, die Kontinuität zu unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle zu vergleichen … Alle diese Möglichkeiten werden in meiner Version kompositorischer Disziplin unterworfen und bilden so autonome formale Abläufe, die dem Schubert’schen Original übergelegt werden. Die Verwandlung des Klavierklangs in die Vielfarbigkeit des Orchesters ist dabei nur einer unter vielen Aspekten: keineswegs handelt es sich hier um eine eindimensionale »Einfärbung«, sondern um Permutationen von Klangfarben, deren Ordnung von den formalen Gesetzen der Schubert’schen Musik unabhängig ist. Die an wenigen Stellen auftretenden »Kontrafakturen« (also die Hinzufügung frei erfundener Klänge zur Schubert’schen Musik, als Vorspiele, Nachspiele, Zwischenspiele oder simultane »Zuspiele«) sind nur ein Extrem dieser Verfahrensweisen. Immerhin darf man sich erinnern, dass manche der großen Pianisten der Jahrhundertwende Überleitungen von einem Stück ihres Programmes zum nächsten zu improvisieren liebten … Eine andere extreme Möglichkeit, von der in meiner Bearbeitung Gebrauch gemacht wird, ist die Verschiebung der Klänge im Raum. Hier spätestens wird deutlich, dass alle beschriebenen formalen Kunstgriffe ja auch eine poetisch-symbolische Seite haben. Die Musiker selbst werden auf Wanderschaft geschickt, die Klänge »reisen« durch den Raum, ja sogar bis ins Außerhalb des Raumes. So werfen auch manche der früher beschriebenen Eingriffe ins Original ein Schlaglicht auf die poetische Idee des einzelnen Liedes. Schubert arbeitet ja in seinen Liedkompositionen mit klanglichen »Chiffren«, um die magische Einheit von Text und Musik zu erreichen, wel97 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VI
che insbesondere seine späten Zyklen auszeichnet. Er erfindet zum »Kernwort« jedes Gedichtes eine keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet. Die geschilderten strukturellen Veränderungen meiner Bearbeitung entspringen immer diesen Keimen und entwickeln sie sozusagen über den Schubert’schen Text hinaus: die Schritte in Nr. 1 und Nr. 8, das Wehen des Windes (Nr. 2, 19, 22), das Klirren des Eises (Nr. 3, 7), das verzweifelte Suchen nach Vergangenem (Nr. 4, 6), Halluzination und Irrlichter (Nr. 9, 11, 19), der Flug der Krähe, das Zittern der fallenden Blätter, das Knurren der Hunde, die Geräusche eines ankommenden Postwagens … Auch stilistisch betrachtet enthalten ja die Spätwerke Schuberts Keime, welche erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung bei Bruckner, Wolf und Mahler aufgehen; an manchen Stellen der Winterreise ist man versucht zu sagen, dass der Expressionismus des 20. Jahrhunderts schon avisiert wird. Auch diese Zukunftsperspektiven Schuberts will meine Bearbeitung aufzeigen – ebenso allerdings die Verwurzelung Schuberts in der Folklore. So werden schon im ersten Lied mehrere ästhetische Perspektiven überblendet: die Archaik von Akkordeon und Gitarre, die biedermeierliche Salonkultur des Streichquartetts, die extravertierte Dramatik der spätromantischen Sinfonik, die brutale Zeichenhaftigkeit moderner Klangformen … Für jedes Lied musste im Übrigen eine eigene Lösung gefunden werden, sodass sich die Gesamtheit des Zyklus wohl eher wie eine abenteuerliche Wanderung denn als ein wohldefinierter Spaziergang ausnehmen wird. Ein letzter Gedanke sei hier skizziert. Wird bei Schubert die »Winterreise« im zweiten Teil zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod, der Abschied von der Geliebten zu einem Abschied vom Leben überhaupt, so 98 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
25 Jahre komponierte Interpretation
zwang dies zu einer besonderen Strategie in der Gestaltung des Schlusses. Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch eindeutige Beziehung zum historischen Original wird in meiner Bearbeitung immer labiler, die »heile Welt« der Tradition verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne. In Nr. 18 – »Stürmischer Morgen« – flattern die Strukturen Schuberts, analog zum Text, nur noch als (Wolken-) Fetzen »umher in mattem Streit«, die freundliche Melodie von Nr. 19 – »Täuschung« – wird zu einer täuschenden Ausgeburt eines wie eine idée fixe auftauchenden Einzeltones; in Nr. 22 – »Mut« – pfeift der Wintersturm dem Leser (= Hörer) derartig um die Ohren, dass er ihn immer wieder zur Ausgangsposition zurückwirft. Der seltsame Gesang von den drei »Nebensonnen« wird als endgültiger Verlust der Realität gedeutet: der Notentext erscheint gleichzeitig in drei konkurrierenden Tempi, wobei es unmöglich ist, eines davon als Koordinatensystem für die beiden anderen zu nutzen … Beim »Leiermann« endlich verschwindet außer der zeitlich-metrischen Orientierung auch noch die harmonisch-räumliche Stabilität, indem durch immer neu hinzugefügte Unterquinten (abgeleitet aus dem 4. Takt des Schubert-Liedes) die Gestalten ihre Standfestigkeit verlieren und am Schluss gleichsam »in die Erde sinken«. Es wird berichtet, dass Schubert während der Komposition dieser Lieder nur selten und sehr verstört bei seinen Freunden erschien. Die ersten Aufführungen müssen eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst haben. Wird es möglich sein, die ästhetische Routine unserer KlassikerRezeption, welche solche Erlebnisse fast unmöglich gemacht hat, zu durchbrechen, um eben diese Urimpulse, diese existentielle Wucht des Originals neu zu erleben?
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Kapitel VI
»Ich spiele Schubert«, sagt der Interpret. Wörtlich genommen heißt das: er spielt die Rolle Schuberts – wo? In einem großen Theaterstück, dessen Beginn wir zu verstehen suchen und dessen Ende noch nicht erreicht ist. Der Interpret wird die Rolle des Schubert nur dann erfüllen, wenn er sein Ich für die Zeit der Darstellung so weit wie möglich identifiziert mit dem, was in ihm selber im Lauf der Zeit als Inbild jenes wunderbaren Mannes entstanden ist. Er wird alles, was er als Musiker gelernt hat, zusammennehmen und sich trotzdem dem Stück – Winterreise – so öffnen müssen, dass seine eigene Fantasie dieses Stück nicht nur neu erlebt, sondern verändert erlebt: verändert nicht in dem Sinne einer willkürlichen, einer »wilden Idee«, sondern indem er sich der eigenen Intuition für einen Moment oder einige Momente so ausliefert, als müsste er den schmerzhaften Geburtsprozess dieser Komposition in Gänze erleben. Der Meister, mit dem er in Kontakt steht, wird ihn dann vielleicht so beleben, dass diese Identifikation seine eigenen schöpferischen Kräfte im gleichen Atemzug mitaktiviert. Warum erleben wir heute die Winterreise mit solcher Intensität und ganz neu? Haben wir begriffen, dass sie in der Fortsetzung der großen europäischen Tradition zum ersten Mal die Einsamkeit in der Moderne artikuliert, diesen furchtbaren Schrei: »Weh dem, der allein ist!«, die Qualen unserer Existenz, aber auch die überschießende Lust unseres Daseins? Eine Aufführung der Winterreise scheint uns dicht in den Bann des Einzelmenschen Schubert zu ziehen. Wächst diese Anziehung bis ins Unerträgliche, beginnt eine sich selber vergessende Leidenschaft für diese magischen Klänge das eigene Ich zu lähmen: so scheint es, dass die Stimme des 100 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
25 Jahre komponierte Interpretation
Lebens selber zum hörbaren Ereignis wird. Sie ist nicht mehr nur Stimme des Individuums Schubert, sondern Ausdruck für eine tiefere Bewusstheit unseres gemeinsamen menschlichen Daseins. Erleben wir Schuberts Winterreise nicht schon längst als eine weltliche Passion? Als eine Liturgie des Säkularen? Der wissende Interpret wird verstehen, was ich meine; er wird alle diese Dinge nicht als Aufforderung zu einer lächerlichen Kopie privater »Gefühle« missverstehen. Handelt es sich doch um den Versuch, die Essenz einer erschöpfenden Arbeit an der Darstellung, die nie aufhört und nach immer neuen Mitteln sucht, zu begreifen. Im Zuge dieser Arbeit wird der Interpret vielleicht auch einen Gedanken berühren, der ihm befiehlt, die gängigen Bahnen der Interpretation – den Buchstaben des Textes – zu überschreiten. Jetzt muss er äußerste Vorsicht walten lassen. Wie schnell wird er an diesem Punkt ins Straucheln kommen, wie oft wird er in der Gefahr sein, durch die Plumpheit seiner eigenen Gedanken die klaren Linien des Originals zu verschmieren oder durch bloß kurzlebige Effekte die Balance des Ganzen aufs Spiel zu setzen. Die Gefahr liegt nicht in dem Schock, den vielleicht die Verwendung von Stilmitteln auslöst, welche der Schubert’schen Welt ganz fernliegen. Sie liegt im Gegenteil eher darin, die eigene Stimme des »komponierenden Interpreten« zu dominant werden zu lassen: ist sie doch nur eine Antwort auf eine Frage, welche das Original gerade gestellt zu haben scheint. Es handelt sich für den Interpreten ja nicht um ein eigenes Stück, dessen Stil er klar befestigen müsste; seine Einwürfe sind und bleiben eine vollkommen spontane Reaktion. Übrigens kann der interessierte Hörer in zwei anderen meiner Stücke weitere Möglichkeiten dieser Arbeitsweise 101 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VI
finden: in der »Schumann-Phantasie« (nach der Klavierphantasie C-Dur) und in den »33 Veränderungen über 33 Veränderungen« nach Beethovens Diabelli-Variationen. Jedesmal geht es darum, nicht nur Variationen im ornamentalen oder strukturellen Sinn vorzunehmen oder den Charakter der Musik zu verändern, wie bei der klassischen Variationstechnik. Der zeitliche Abstand, der uns von Meisterwerken der vergangenen Epochen trennt, will sich deutlich machen durch die plötzliche oder allmähliche Durchdringung mit der Ausdrucksweise unserer eigenen Zeit. Die Zeiten klingen zusammen, nicht im Sinne einer Harmonie, sondern oft genug als Widerspruch. Doch dann muss der Bearbeiter zurücktreten an die Stelle, wo sich der treue Interpret normalerweise zu befinden hat: an die Stelle des Übersetzers, des Übermittlers, des Stellvertreters. Das veränderte Stück selber darf keinen Schaden leiden, es darf nicht verfälscht oder gegen seine natürliche Richtung gekehrt werden. Das alles scheint paradox. Aber in dieser Paradoxie geschieht die Weitergabe geistigen Lebens, welche immer als Dialog verschiedener Zeiten vonstattengehen muss: als ein Gespräch zwischen vergangener und gerade vergehender Zeit, zwischen alter und junger Mentalität, zwischen altem und erneuertem Lebensgefühl.
Der Schauspieler (der Interpret) – eine Skizze Er versucht, eins zu werden mit dem Andern (mit der Rolle, mit den Masken im Spiel: »Ich spiele Mozart«.) Nicht: ich bin Mozart; ich spiele – aber dieses Spielen ist so komplett wie möglich: d. h., es geschieht unter Einsatz der eigenen Individualität. Mein Ich wird eins mit dem Ich der Rolle: es 102 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
»Kugelgestalt« der Zeit
wird das Ich des Anderen; kein Klon, kein Abziehbild, sondern eine Summation seiner (meiner) Eigenheiten. Theologisch gesprochen: es verhält sich wie der Sohn zum Vater in der Trinität. Jedes Geschöpf ist ein Kind des Vaters und der Welt. Die Schöpfung des Originals: der Schritt zum Eins-Werden mit der Individualität des Anderen. Aber diese ist seine Maske; die Maske, mit der er sein Ich darstellt. Jetzt kommt die wichtigste Aufgabe: mit sich selber eins zu werden; d. h. eine Form zu finden, die das eigene Selbst darstellt (nicht eine meiner vielen Ich-Masken, sondern die Maske meines »wahren« Ichs). Aber gibt es die? Es müsste die Maske sein, die meinem Selbst zugehört. Diese aber ist transzendent und trägt eben keine Maske. Dieses Selbst ist nicht mehr symbolisierbar: es ist meine Schöpfung, Schöpfung meiner Selbst. Aber wer gibt mir die Evidenz, dass ich dieses Selbst auch wirklich gefunden habe? Ich brauche den Logos als Helfer. Ich brauche mein Selbst, indem ich mein Ich (die Masken meiner Iche) überschreite, opfere, verleugne; indem ich die Imitatio des Sohnes wie eine »Kunst« übe. Dieses mein Ich kann ich nur finden, indem ich es gänzlich aufgebe, sodass es zum Selbst werden kann. Hören wir jetzt, wie die Musik spricht? Wie die Sprache musiziert, wie sie es ausspricht, wie sie zum Gesang wird?
»Kugelgestalt« der Zeit Viele Menschen beklagen heute den Verlust einer kulturellen Einheit innerhalb der westlichen Zivilisation. Schauen wir auf die Protagonisten einer schöpferischen Moderne, will es dagegen scheinen, als ob deren einzige durchgängige 103 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VI
Eigenschaft ihr Bestehen auf ihre völlige Uneinheitlichkeit sei – und das nicht nur in Stil, Tradition und Sprache, sondern im Bestehen auf einer möglichst tief verankerten Individualität des Autors. Die Vielheit, ja die Widersprüchlichkeit wird geradezu ins Bewusstsein gehoben. Man könnte überspitzt formulieren, dass es die Verschiedenartigkeit ist, der »Pluralismus«, welcher den Künsten heute gemeinsam ist. Durch das Stilmittel der Collage erreicht große Kunst heute manchmal eine gleichzeitige Präsenz von ganz gegensätzlichen Schichten unseres erinnernden Bewusstseins. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurde solches wohl in der bildenden Kunst fast aller Stilrichtungen deutlich, wobei die Frage nach Gegenständlichkeit oder Ungegenständlichkeit zunächst allzu viel Interesse absorbierte. Heute spielt wohl diese Frage kaum mehr eine Rolle, und die Abstraktion ist wohl eher ein Zeichen einer gewissen Pseudomoderne geworden. Entscheidend dürfte wohl in allen Künsten der Kampf sowohl mit der Logik wie auch gegen sie sein. Nicht nur in der Collage-Technik, sondern auch in der gesamten auf sie folgenden Postmoderne sind die Antworten, die der Autor hier findet, entscheidend. Die Grundlagen der künstlerischen Auseinandersetzung selber wurden berührt: war die Form etwas als endgültige Entscheidung zu Erreichendes, oder konnte sie auch variabel gedacht werden? Bei Dichtern wie Ezra Pound, James Joyce und T. S. Eliot wurde derartiges schon früh zum erklärten Ziel neuer Formen der Moderne. In der Musik spielten sich vergleichbare Entwicklungen erst mit erheblicher Verzögerung, nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Hier sind es vor allem Bernd Alois Zimmermann 1 , John Cage und KarlVgl. Hans Zender: Bernd Alois Zimmermann, die Alternative. In: Waches Hören, Hanser Verlag 2014 1
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»Kugelgestalt« der Zeit
heinz Stockhausen gewesen, welche von allen Eindeutigkeiten der musikalischen Zeitkonstruktion Abstand genommen haben. Das gilt dann auch für die eigenartige Vorstellung von der musikalischen Zeit, wie sie besonders Cage entwickelt hat. Hier ist aber auch Jean Gebser zu nennen, welcher immer betont hat, dass genaue Kenntnis der historischen Vergangenheit von steigender Wichtigkeit für die Zukunft sei. »Die Vergangenheit ist nicht vergangen«; sie wirkt mit ihrem Wurzelwerk auf ihre Weise weiter. Auf seine Weise hat das Bernd Alois Zimmermann als der vielleicht für die Zukunft prägendste Komponist des 20. Jahrhunderts ausgesprochen, indem er von der »Kugelgestalt der Zeit« sprach. Damit hat er sich endgültig auch von einer immer ausschließlich in die Zukunft strebenden Grundrichtung der Zeit verabschiedet; denn dieses Bild zeigt nicht nur die Unauslöschlichkeit der einmal gemachten geschichtlichen Erfahrung, sondern die Möglichkeit der Bildung neuer Gestalten aus den alten Lebenskeimen. In der Tat findet man bei Zimmermann Passagen, in denen seine aus zwei Jahrtausenden stammenden Musikzitate zu einer Frische führen, welche das Zitierte wie neu geboren erscheinen lässt. Diese Gedanken gelten insbesondere auch für die Lehre und Praxis aller Religionen, ganz besonders des Christentums, das seine gesamte Liturgie zu einer »Feier des Gedächtnisses« ihres Stifters erklärt.
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Kapitel VII
Wandlungen der Sprachbedeutung Ist der »Vater« für uns der Anfang, der »Sohn« die Welt und damit unser Dasein, so ist der »Geist« das Leben. Zwischen den immerwährenden Anfang und das Ende der »Welt ohne Ende« gespannt, bewegen sich die Wellen des Atems aller lebenden Wesen in stetem Fluss zwischen den Polen von Geburt und Tod: vom Anfang aus der Einheit mit dem Vater in die chaotische Welt hinausgeschleudert, durchläuft jedes Individuum seinen Weg durch die Zeit bis zum Tod – zur Rückkehr in den ersten Zustand. Und so wie der Atem in den ersten Augenblicken des noch unbewussten Lebens uns einschwingt in die neue Umgebung, so hilft er uns als allmählich bewusst werdender Geist zum friedvollen Übergang in das unserem Bewusstsein so unerträgliche Ende unseres Daseins. Wenn Teilhard de Chardin meint, dass wir irren, wenn wir uns für fleischliche Lebewesen halten, denen am Ende der Geist geschenkt wird, da wir doch geistige Wesen seien, denen einst die Teilnahme an der Welt aus Fleisch und Blut geschenkt wurde, gibt er einer Erfahrung Ausdruck, die in jedem Menschen angelegt ist. Sie ist für uns als bewusst gewordene Wesen die zum Geist übergegangene Kraft des gleichen Urvertrauens, das wir als absoluter Wille zum Leben in unseren Vorläufern im Tierreich spüren können. Jesus haucht seine Jünger nach seiner Auferstehung an, um ihnen den Geist zu übermitteln: dieser besteht nicht 106 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Wandlungen der Sprachbedeutung
aus Dogmen und Lehrsätzen, sondern einzig aus der bedingungslosen Bereitschaft und Liebe zum Leben. Geist und Bewusstsein entwickeln sich von alleine, sie sind identisch mit dem physischen Leben. Nur ist durch unser hypertrophiertes Ich Schmutz in die Bahnen unserer Entwicklung geraten. Der Geist als »heiliger Geist« kann bei der Reinigung helfen – weswegen er von Jesus als der »Helfer« bezeichnet wird. Voraussetzung dafür ist, dass wir den »Geist« in uns unverfälscht erleben lernen. Wie ist das zu verstehen? Im Griechischen bedeutet Pneuma sowohl »Geist« wie auch »Wind«. Im Dialog mit Nikodemus macht Jesus von diesem Doppelsinn ausführlichen Gebrauch. Der Geist weht, wo er will, er ist die von jeder rechnenden Folgerichtigkeit unabhängige Freiheit. Der Geist dringt allmählich und ohne Gewaltsamkeit in den Menschen ein; er überredet ihn nicht, er spricht ohne Sprache, in »wortlosen Seufzern«. Erst wenn ein Mensch dieses »Wehen« spürt, nähert er sich dem Geistigen. Zwar fühlt er sich im Innersten als Einzelner angesprochen, aber gleichzeitig spürt er eine Verbindung zu einem Ganzen, dessen Teil er ist. Im Chinesischen hat »Wind« auch die Bedeutung von Sanftheit, sanftem Eindringen: Beeinflussung ohne jede Spur von Zwang oder Druck; hier gibt es kein Ich, das Stellung nimmt, sich entscheidet, ja oder nein sagt. Deswegen ist die Begriffssprache, die alles objektiviert, nicht nur unfähig zur Übertragung des Geistes, sondern schädlich, ja zerstörerisch. So grundlegend und unentbehrlich die »Sprache der Information« für die Organisation des menschlichen Daseins ist, für Staat, Recht, soziale Ordnung, Wissenschaft und jede Art von nützlicher Tätigkeit, so gefährlich und irreführend ist ihr Gebrauch bei der Vermittlung dessen, was wir Religion, Kunst, Spiritualität nennen – jeder dieser Namen schon unzureichend und falsch. 107 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
Es sei denn, der Sprechende hat gelernt, die Sprache in ihrer passenden »Dimensionalität« zu gebrauchen:
»Aufrecht stehend lehrt er nicht; Sitzend diskutiert er nicht; Aber leer geht man hin und erfüllt kommt man zurück.« (Zhuangzi) Geist in diesem Sinn ist fern von allem Formulierten, Verfassten, Organisierten; aber er ist das Einzige, was diesem allen Sinn und Inhalt gibt. Er ist auch nicht identisch mit dem Spontanen, oder gar mit Willkür und Laune. Seine Evidenz hat ihre Vorgeschichte in den Mühen und Qualen unserer individuellen Entwicklung. Erst wenn diese zur Reife gelangt ist, bringt sie von alleine ihre Frucht. Diese Frucht, was kann sie anderes sein als die Realisierung der Einheit von Geburt und Tod in unserem Dasein? Der Geist ist die Doppelgestalt von Ruhe und Bewegung, gegenstrebige Fügung von Leben und Tod. Das Ich ordnet sich ein in den Fluss der Entwicklungsgeschichte, der eigenen wie der der ganzen Menschheit: wird selber zum (noch so schäbigen) Bild des Gottmenschen. »Nicht ich lebe, Christus lebt in mir«, sagt Paulus. Der »Geist« ist seinem Wesen nach nichts als Liebe zum Leben. Es wird kein Objekt erkannt, sondern Gott als Liebe, wobei aber das Erkennen gleichzeitig ein Handeln ist. Schauen wir in uns hinein, so »spricht« der Vater zu uns im Wortlosen unserer direkten Erfahrung, und zwar nicht nur des Unbewussten, sondern aller Bewusstseinsgrade, soweit sie noch nicht durch das (reflektierte) Wort zur Ich-Erfahrung geworden sind. Das Ich spricht in uns sowohl als der Sohn, der als »ausziehender Sohn« sein Be108 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Wandlungen der Sprachbedeutung
wusstsein als schöpferische Tätigkeit in der Welt gebraucht, wie auch als der beim Vater zurückbleibende »ältere Sohn«, der in der naturhaften »Einstimmigkeit« mit dem ohne Reflexion Erfahrbaren verharrt. Die beiden Söhne sprechen miteinander. Dieser innere Monolog, den die Sprache in uns ständig neu anstößt, ist der Dialog zwischen dem Erfahrenen und dem Gedachten (d. h. dem durch das Denken Gedeuteten). (»Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir«, sagt Platon). In uns spricht so immer der Sohn mit dem Vater; die Geburt des Logos als Mensch unter den Menschen, wie sie der Johannesprolog beschreibt, markiert also den Moment, in dem der Mensch seines eigenen Ichs voll bewusst geworden ist. Das Gespräch, das nun der jüngere Sohn mit dem Vater führt, ist auf ein einziges Ziel gerichtet: das Ich des Sohnes in möglichst vollständige Übereinstimmung mit dem Vater zu bringen, wie das insbesondere in den Reden Jesu bei Johannes deutlich wird. Und das Ende dieses Gespräches wird durch Matthäus nachgezeichnet: »Eli, Eli, lamma sabachtani.« Vorher jedoch wurde der Geist angekündigt, der erst seine Wirkung entfalten kann, wenn das Ich des Sohnes stirbt. Das Ende des Gesprächs ist das Schweigen als Ende des Dialogs. Es ist ein radikales Schweigen: das Schweigen des MU im Zen, die erreichte Selbstlosigkeit des Selbst; das Schweigen des erloschenen Willens zum Leben. Es ist ein Ruhen des voll zu sich selbst gekommenen Bewusstseins, keineswegs identisch mit dem unbewussten Schweigen des Anfangs. Eben hier wird das Leben zum Geist. Das »Gespräch«, das ja auch als beständiges Ringen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten beschrieben werden kann, verwandelt sich in die Einheit des Lebensvollzugs, in die »Ruhe des Gemüts«, wie sie von allen Mystikern erlebt wurde. Der 109 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
Geist ist das Geschenk, das durch keinerlei eigene Anstrengung herbeigezwungen werden kann. Auch der Glaube als Gewissheit kann nicht erzwungen werden, aber er bleibt immer in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu seiner Grundbedingung: der Freiheit zu zweifeln. Die Freiheit des Geistes ist von ganz anderer Art. Da sie sich nicht auf Vorstellungen, auf Worte stützt, sondern auf ein ganzheitliches direktes Erleben, besteht gar keine Möglichkeit zum Zweifel. Der Geist hat keine polare Struktur, er ist nicht dualistisch, er hat überhaupt keine Gestalt. Er »weht«, ändert die Ballungen seiner Energie, wie er will, und wirkt als alles neu schaffender Impuls auf die Zukunft der Welt. Er bedarf strenggenommen nicht mehr der Sprache, der Namen. Er berührt den menschlichen Geist – das zum Geistbewusstsein gewordene Leben – an seinem äußersten Rand: dann, wenn der Mensch sich ganz seiner »Inspiration« hingibt. In solchen Momenten ist das Ich »mushotoku«, selbstlos geworden – gleichgültig in welche Richtung sich seine schöpferische Energie ergießt. Ist dieser »Geist« also ein Gefühl, ein Empfinden, gar eine affektive Tönung? Insofern der Geist schon vor seiner Bewusstwerdung im Wirken des Lebens am Werk ist, empfinden ihn die Körper, besonders die Sinne so intensiv, dass man von einem Denken der Sinne sprechen muss. Im Begriff der »Seele« wurde schon immer dieses vegetative Bewusstsein avisiert, das von der Aktivität des sprachlichen Logos unabhängig ist. Präzise unterscheidendes Denken gehört in das Gespräch zwischen Vater und Sohn, und hier werden alle Kämpfe ausgefochten, um das »rechte Handeln« und das »rechte Denken« zu entwickeln. Die gelöste Sicherheit, wie sie im Bereich des Geistes herrscht, kann während dieser notwendigen Entwicklungsprozesse ihren Frieden in der Welt des »shiki« nicht ausbreiten; alles bleibt 110 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Wandlungen der Sprachbedeutung
im Fluss eines ewigen Suchvorgangs, und jeder Mensch muss bis zum Ende ein Sucher bleiben. Lehren in Worten können ihn auf den Weg bringen, aber der Geist kommt nur durch eigene Anstrengung zur Unabhängigkeit. Wir können aber nicht ständig »im Geiste wandeln« – falls wir es überhaupt erreichen, uns jemals auch nur eine halbe Sekunde in seinem Umkreis aufzuhalten. Wie können wir aber trotzdem vom Geist sprechen – ohne Worte und Begriffe sprechen? Durch Zeichen, sagt schon immer die Überlieferung aller Religionen; im christlichen Bereich sind das die Sakramente als »Zeichen«. Zeichen sind nicht selber das, was sie bezeichnen; aber sie weisen ohne Worte – nämlich durch Gesten, Bilder, Töne, Riten und alle möglichen symbolischen Objekte – auf das dem begrifflichen Wort nicht Erreichbare hin. Was wir später in unserer Kultur »die Künste« zu nennen gelernt haben, sind solche Zeichensprachen, ausgebildet, um auf innere Erfahrungen des Geistigen hinzuweisen. Dabei ist naturgemäß nicht das aus der äußeren Realität stammende Material der Zeichensprachen, historischen Anspielungen, Bilder, Beobachtungen aus dem Alltag, wichtig. Es ist vielmehr die aus der Aktualität der eigenen Zeit geborene Lebendigkeit. Von dem geschichtlichen Erbe der Menschheit hält nur das stand, was von einzelnen Menschen aus ihrem Existenzgrund entwickelt wurde; dies sind immer Zeichen des Geistes, die uns zum eigenen Erleben hinführen wollen. Sie müssen im Prozess ihrer Überlieferung immer neu erlebt, neu verstanden, neu hervorgebracht werden, wenn sie nicht zur toten Routine werden sollen – wobei die besinnungslose Anpassung alter tiefer Erfahrungen an äußerliche Moden oder Gewohnheiten der jeweils eigenen Zeit der sicherste Weg zum Misslingen dieser schwierigen Aufgabe ist! Der Geist ist ohne Begriffe, die Zeichen aller Zeichen111 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
sprachen sprechen von Anfang an immer vom Ganzen. Deswegen ist die Welt der symbolischen Formen immer an die Sinne gebunden; sie kommt aus dem Bereich der Fantasie, die sich zu intuitiver Sicherheit verdichten kann, und strebt in die Richtung des über der Vernunft liegenden Bereichs des »Geistigen« – den sie nie ganz erreichen kann. Sie ist dem Bereich des Geistigen aber unendlich viel näher, als es die Logik ist. Könnte sich der Geist jetzt nicht von allen Namen verabschieden? Wäre die reifste Frucht des Christentums nicht sogar der Verzicht auf Theologie, Lehre, schriftliche Zeugnisse, auf den Gottesbegriff, die Figur Jesu, ja die Trinität selber? – Wer so denkt, würde vergessen, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist. Sein Gedächtnis bewahrt die Erinnerung an alle Stadien seiner Genese und alle Erfahrungsschichten seiner geistigen Entwicklung, ohne die die aktuellen Gedanken gar nicht möglich wären. Radikale Geisterfahrungen verweisen ihn gerade auf die treueste Bewahrung der Traditionen, in deren reichhaltige Verschiedenartigkeiten er sich aufgrund seiner neuerrungenen Freiheit so gut wie nie zuvor zu vertiefen gerufen sieht. Denn für die Zukunft der menschlichen Geschichte ist nicht nur die Toleranz unentbehrlich, es muss sich vielmehr geradezu eine Freude an den Verschiedenheiten von Symbolen und Lehren der einzelnen Kulturen entwickeln. Schon die alte Kirche hat mit ihrem Bild vom Logos spermatikos – dem Logos, der seine zeugende Kraft seit jeher in allen Zeiten und Orten ausstreut – den Grund für eine Komplexität gelegt, die noch keineswegs entfaltet ist. Wenn die ewige Geburt des Sohnes aus dem Vater (Meister Eckhart) die ewige Differenz des Gottes von der Welt ist, des Neuen vom Alten, der Vielheit von der Einheit: so ist der vom Vater und vom Sohn (von Gott und der 112 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Wandlungen der Sprachbedeutung
Welt) ausgehende Geist die Einheit von beidem, aber nicht als 1, sondern als 2 (als Einheit in der Zweiheit). Deswegen kann der Mensch erst nach dem Tod des Sohnes das Kommen des Geistes erfahren, d. h. erst »nach« Abschluss des Lebens zum Geiste kommen. All das ist nicht symbolische, sondern reale Wirklichkeit. Pneuma, der Atem, ist die Erscheinung der Einheit der Zweiheit, also des Lebens. Er ist die Gestalt der Einheit von ku und shiki, yin und yang, Gott und Welt: von Ruhe und Bewegung. Kann aus einer Gottesvorstellung der Vernunft, in der Gott als identisch mit der Natur gedacht wird (Deus sive natura), eine absolute, alle verpflichtende Ethik hergeleitet werden? Anknüpfend an den Gedanken Jean-Luc Nancys, dass jeder Monotheismus ein verdeckter Atheismus ist, könnte man sagen: Die einzige in sich stimmige Form des Monotheismus wäre eine, in der das vorstellende Ich zum »SELBST« geworden ist. Nur dann könnte man auch hoffen, so etwas wie eine absolute Moral festlegen zu können. Der Buddhismus kennt keinen Gott, ist aber im Sinne des oben Gesagten wohl auf der Seite eines christlichen Monotheismus: denn er zielt auf die genannte Einheit des Ich mit dem Selbst. Im Judentum und im Islam scheint dieses Selbst riesig und unnahbar; das Ich klein und nichtig. Hier könnte man das Christentum als den Entwicklungsweg des Ich hin zum Selbst beschreiben: Der »Sohn« vermittelt diese Angleichung und lehrt sie uns mit Namen nennen. Werfen wir einen Blick auf die Bilderwelt der kirchlichen Tradition, welche man durchaus als christlichen Mythos – wenn auch nur in einem besonderen Sinn – bezeichnen darf. Das Wort Mythos mag in diesem Zusammenhang befremden. Es soll hier nicht der Unterschied zwischen dem 113 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
Mythos der sogenannten heidnischen Kulturen und der christlichen Verkündigung in Frage gestellt, sondern lediglich betont werden, dass wir zum Verständnis von religiöser Sprache – und zwar im Bereich des Christentums noch mehr als im Bereich der übrigen Religionen – uns in einer Gedankensphäre bewegen, die nicht dem wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff unterliegt, sondern mit dem Wort des Dichters wie eben auch mit den mythischen Erzählungen der alten Religionen sowie des Alten Testamentes verwandt ist. Der »Geistrede« der christlichen Offenbarung gehört allerdings eine bis ins Unermessliche gesteigerte Geistesklarheit zu, die zu verstehen ein »paradoxes« Denken verlangt, das die normale menschliche Vernunft übersteigt – nicht etwa unterfordert. Es sollte überrational statt antirational genannt werden. Um dieser Art Denken gerecht zu werden, ist es nötig, die Fähigkeit der menschlichen Vernunft quasi zu überspannen, bis zum Zerreißen der üblichen logischen Grenzmarkierungen. Ein alter Zen-Spruch sagt: »Die Vernunft auf den Kopf zu stellen, bedeutet höchste Weisheit« – so denkt auch der Mystiker. Die christlichen Dogmen verlangen wohl letztlich immer wieder eine Interpretation durch den Gedanken »Credo quia absurdum.« (Tertullian) So können sie zur »Geistrede« werden, wie es dem christlichen Verständnis der pfingstlichen Erleuchtung entspricht. Maria empfängt vom Heiligen Geist, sie bringt den Gottmenschen als die Verbindung von Vater und Sohn, von yin und yang hervor. Durch den Geist geht die Welt – shiki – wieder in das Eine – ku – über, der (verlorene) Sohn kehrt zurück zum Vater. Bei dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy findet man den schönen Gedanken, dass der Mythos der Jungfrauengeburt Gott zum Vater aller neugeborenen Menschen erklärt. Das ist das Ende des Patri114 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Wandlungen der Sprachbedeutung
archats, denn so erhält das yin – die sich frei entwickelnde Welt – die Möglichkeit zu einer gleichberechtigten Partnerschaft. Der Mythos ist damit endgültig zur erleuchteten »Geistrede« geworden. Maria, die weibliche, gebärende Seite der Gottheit, Mutter des Sohnes (der Welt), androgyner Geist, der alles beseelt, zusammenhält, lebendig macht – wo ist der Unterschied von Mono-, Poly-, Pan-theismus, ja Atheismus? Was brauchen wir noch einen Gottesnamen, wenn alles wohlgeordnet ineinandergreift? Wir selbst haben die Welt geschaffen – und sind doch selber diese Welt, die leidet und sich wiedergebiert und aufersteht!? Oder ist es etwa so, dass wir Namen brauchen, um uns der Strukturen des Lebendigen bewusst zu werden? Ist für den heutigen Menschen ein bloß mythisches Bild zu schwach, um ihn auf Dauer zu bannen? Bedarf es nicht der konkreten Lebendigkeit eines Vorbildes, erhaben über jede Projektion? So etwas wie »christlicher Mythos« ist nur vorstellbar auf der Grundlage des urchristlichen Paradoxes der Inkarnation. Gott wird Mensch, Mensch wird Gott. Das Denken des Vaters gebiert das Denken des Sohnes; Vater und Sohn sind wesensgleich, wie die Dogmatik sagt. Deswegen darf der christliche Mythos sagen: Maria gebiert den göttlichen Menschen. Der von ihr geborene Sohn ist die Welt, »aus dem Vater geboren vor aller Zeit«, wie es das Credo formuliert hat. Warum steht in Joh 1 »Im Anfang war der Logos« und nicht »Im Anfang war Gott«? Wir brauchen Bewusstsein, um das Ganze als vielfältig gegliedertes Ganzes verstehen zu können. Das Wort »Gott«, das die unbewusste Ebene des intuitiven Verstehens bezeichnet, hebt sich ab von dem Wort »Logos«, das der bewusst gewordene Mensch braucht, um 115 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
sein neues schärferes Bewusstsein vom noch halb unbewussten Denken des Mythos zu unterscheiden.
Exkurs: Das Böse Das Böse: Der Antrieb dazu kommt aus dem Ego. Das Böse erscheint uns als die »Verführung« des guten Willens Gottes zum Schlechten. Wenn uns Schlechtes begegnet, müssen wir es als Willen Gottes akzeptieren. Ist das Schlechte von uns verursacht, so müssten wir es auch, wie alles andere, als den Willen Gottes annehmen; wir wissen: es ist dem Bösen entsprungen, aber wir sollen, wie Gott, Böses verzeihen. Man könnte in einer übertriebenen Ausdrucksweise sagen: wir »zwingen« Gott zum Akzeptieren des Bösen, wenn wir es bewusst vollbringen. Ist aber das (Natur-) Böse böse? Das wäre doch ein Objektivismus bzw. eine anthropomorphe Deutung der Triebwelt?! Denn bei der Pflanzenwelt wird man wohl nicht von Bösem sprechen wollen. Müsste man dann nicht die Schöpfung gnostisch, oder buddhistisch, im Ganzen für böse halten? Hängt hier nicht gerade das Paradox des Christentums an einer notwendigen Unterscheidung von tierisch (Un-) Bewusstem und menschlich Bewusstem? D. h., liegt das Böse nicht in der Handlung, sondern im Bewusstsein? Ist nicht die Verdinglichung des »sogenannten« Bösen das Böse? Anders ausgedrückt: Ist die von der Evolution noch nicht voll entwickelte Fähigkeit zur Erkenntnis der Schuld die Voraussetzung dieses Bösen? Kann man nach einer allgemeinen Bedeutung des Wortes »das Böse« fragen? Müsste nicht erst geklärt werden, was für wen böse ist – obwohl es möglicherweise gleichzeitig für einen ande-
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Wandlungen der Sprachbedeutung
ren »gut« erscheint? Ist es überhaupt möglich, eine eindeutige Antwort auf diese Fragen zu finden? Siehe Parsifal: »Ich wusste sie nicht« (die Schuld). Die Evolution der Welt wäre nicht möglich ohne das »sogenannte« Böse der Natur. Das Böse ist durch die Natur unvermeidlich; es gehört also zur Welt bzw. zum Menschen. »Etiam peccata.« Jeder, der heute das Wort »Natur« gebraucht, müsste aufgrund der Geschichte des Naturbegriffs klarmachen, in welchem Sinne er das tut. Er muss entscheiden, ob er dieses Wort als Chiffre für shiki oder für ku benutzt: als »unschuldige« Natur im Sinne von ursprünglichem Nicht-Ego oder als Natur im Sinne eines Willens zur Macht, der dem Menschen im Lauf des Lebens auch als hart und böse erscheinen kann. Hat nicht auch das Wort »schön« seinen Nimbus verloren? Es scheint subjektivistisch verseucht und trägt zu stark an seiner bürgerlichen Bürde: angenehm, hübsch, schmeichelnd, beglückend, verständlich, hell, leicht, klar … Für uns dagegen ist heute »schön« gleichbedeutend mit »wahr«: das, was um seiner selbst willen entsteht, mushotoku, pure Vitalität, unverstellt, dem Nichts zu Ehren – dem Ganzen zu Ehren. Nur das, was wir in Freiheit formen, gefällt Gott. Deswegen wird der Mensch nicht durch moralisch legitimierte Handlungen gut, sondern durch freie Handlungen. Er ist aber erst frei, wenn er das Tier in sich besiegt hat und sein Wille mit dem Gottes identisch geworden ist. Zum Ganzen gehört wesentlich auch das Dunkle, Schmerzhafte: das Kreuz. Hässlichkeit, Lüge, Bosheit. Man könnte allerdings auch das Gewissen als eine primär schöpferische Aktivität beschreiben, welche im Dienst des 117 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
Ich eine Optimierung aller Lebenskräfte betreibt. Die Entwicklung des Gewissens zu einer erziehenden und kritischen Aktivität ist ja erst möglich, wenn das Gewissen »erfunden« und etabliert ist – d. h. dann, wenn ein intensiver Lernprozess stattgefunden hat. »Nur das Unverzeihliche ruft nach Verzeihung.« (Derrida) Vergebung: eine Gabe. Verzeihung: Verzicht auf Rache. Schuld verlangt Entschuldung / Um-schuldung/ Schuldenschnitt. Das Unverzeihliche kann nur von Gott, durch Christus, vergeben werden; nur deswegen können wir auch als Individuen verzeihen. Kollektiv darf das Unverzeihliche (Holocaust, Inquisition, Völkermord …) nie verziehen werden, sondern muss als stetiger Aufruf zur Gerechtigkeit immer im Bewusstsein bleiben: Schuldbewusstsein.
Versuche I Die Wirklichkeit (dieses Wort ist ja die Verdeutschung des griechischen Wortes »energeia« durch Meister Eckhart). Wenn wir diese beschreiben wollten, könnten wir sagen: Das Leben gibt den Lebenden im Laufe einer langen Evolution die Kraft zum Leben, und damit auch zur Projektion, aus der schließlich der Geist entspringt. Diese Projektion wird immer bewusster, bis sie freie Setzung wird und damit den Menschen zum Herrn seiner Gedanken macht. Es ist klar, dass diese Setzung ein Tun in der Wirklichkeit ist, und nicht guter Vorsatz, guter Wille, Absicht etc. Jetzt ist der Mensch frei, das zu tun, was der Geist ihm sagt. Der Geist ist nicht mehr das Ego – nicht mehr nur eine Projektion, sondern seine eigene Schöpfung; er schafft sie in Mitarbeit mit dem Leben. So entstehen Dimensionen der Wirk118 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche I
lichkeit, die sich durch unterschiedliche Bewusstseinsgrade und unterschiedliche Grade der schöpferischen Freiheit unterscheiden. Man wird in den bisher entstandenen Dimensionen dieser Wirklichkeit wiederum Ansätze zu neuen Stufen der Sprache finden. Das religiöse Denken der Gegenwart ist seit mindestens hundert Jahren damit beschäftigt, die großen Mystiker – fast alle einer negativen Theologie zugeneigt – neu zu entdecken und zu interpretieren. Eine junge Generation, die gelernt hat, weniger auf Erfahrungen der vergangenen Zeit als vielmehr auf die Adaption von Neuem zu achten, sucht vor allen Dingen individuelle Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung. Sie müsste aus der heutigen Situation heraus aber auch verstehen lernen, dass uns gesamtkulturell eine Entwicklung zur Einseitigkeit bedroht. Verstand und Vernunft erreichen immer weniger einen gesunden Ausgleich; ein Überhang des Rationalen scheint uns nicht mehr genug Luft zum Atmen zu lassen. Jean Gebser, welcher der ersten Stufe der Kulturentwicklung das magische Bewusstsein zurechnet, der zweiten den Mythos, die Entstehung der Sprachen, Bilder und Riten, sieht in der dritten Stufe, der »mentalen«, das rationale und später wissenschaftliche Bewusstsein grundgelegt, von dem unsere Zeit beherrscht wird: alles in der Hoffnung, zur Stufe des »Diaphanen« vorzudringen. Diese wäre die Koexistenz der verschiedenen Kulturstufen, der Ansatz zu ihrem Zusammenwirken und nicht etwa ihrer gegenseitigen Zerstörung. Diese Dimension des Denkens haben wir früher halb scherzhaft als schizophren bezeichnet. In der Tat verlangt sie nicht nur viel Toleranz, sondern auch ein großes Maß im Ertragen von Widersprüchen der so gebändigten antagonistischen Kräfte. Was wir Naturgeist nennen, wäre eine »Übersetzung« 119 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
der vom wissenschaftlichen Denken als Evolution bezeichneten Tendenz zum Mythischen. Denn es scheint so zu sein, dass auch die Evolution ihre Methoden entwickelt im Sinne einer Differenzierung, Komplexifizierung und Gedächtnisbildung. Aber woher ihre nie müde werdende Kraft der Intelligenz, woher ihre schöpferische Fantasie, woher ihre offenbare Lernfähigkeit? Wir haben uns angewöhnt, von den verschiedenen Aktivitäten der Evolution zu sprechen, als ob diese ein selbständig existierendes Lebewesen wäre. Muss man dieses Wesen nun heute wieder »entmythologisieren«? Vertieft man sich in die neuen Bücher über Hirnforschung und betrachtet etwa die Gedankengänge des biologischen Konstruktivismus, so scheint es, dass hier Wege für die natürliche Intelligenz gebahnt werden. Auf ihnen könnten wohl Lernprozesse stattfinden, welche erlauben, bis in die engen Verzahnungen der Evolution hineinzuwirken. 1 Wenn wir unsere Sprechgewohnheiten mit Aufmerksamkeit betrachten, werden wir eine ganze Menge von Ausdrucksweisen entdecken, die zwischen dichterisch-mythischem und wissenschaftlich-exaktem Charakter pendeln. So können wir beobachten, dass auch die dichterische Fantasie im Verborgenen an den Formulierungen der forschenden Wissenschaft mitwirkt. Die Sprache verläuft nicht nur auf einer großen Hauptstraße, sondern auch auf ungezählten Nebenwegen; wir bewegen uns mit ihr immer auf schwankendem Boden. Das Zerbrechen der klassischen Ästhetik in der Moderne ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Epoche der ersten Inkulturation des Christentums, die jüdisch-griechische, ihr Ende erreicht hat. Eine neue Superstruktur ist 1
Siehe etwa Werner Vogt, »Welten ohne Grund«
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Versuche I
notwendig geworden, die aus der Erfahrung eines unbegrenzten Pluralismus aller Weltkulturen besteht. Wenn es etwas gibt, das wir in allen Denkrichtungen, in allen denkbaren Verzweigungen unserer Wissenschaft und Kunst lernen müssen, dann ist es die Fähigkeit, mit einer pluralistischen Grundstruktur produktiv umzugehen. Wir sind in unseren bisherigen kulturellen Fachrichtungen dazu erzogen, nach einer Lösung zu suchen, die sowohl eindeutig wie endgültig ist. Dabei vergessen wir, dass es Fragestellungen gibt, die keine endgültige Lösung haben. Ebenso kann es ästhetische Gebilde geben, welche keine endgültige Form finden wollen bzw. deren Form nicht endgültig bestimmt werden will, so dass sie sich gar nicht zu einem Vergleich untereinander eignen. Vermutlich finden wir dieselben Fragestellungen im Bereich der Wissenschaft. Hier gibt es weder richtig noch falsch, noch gibt es ein mehr oder weniger richtig. Ja, schließlich wird die Frage möglich, ob vielleicht unsere traditionelle Art des Fragens selber, welche immer nach der einen richtigen Antwort sucht, nur ein Sonderfall des Fragens ist. Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Das Merkwürdige ist, dass man heute dieses Suchen nach einer Grundstruktur des Denkens ebenso im Gebiet des mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschens wie auch in der Region des Ästhetischen findet. Die Kultur als Ganzes scheint in allen ihren Verzweigungen auf diesen Weg geradezu gedrängt zu werden. Die Jünger sprachen, als sie mit den feurigen Zungen des Geistes überschüttet wurden, nicht nur in vielen Sprachen gleichzeitig, sondern sie erfuhren einen sich öffnenden Horizont aller denkbaren Fragestellungen. Sie sahen plötzlich die Aufgabe vor sich, nicht nur die individuelle Sprache der Anderen, sondern auch deren individuelle Weltsicht 121 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
verstehen zu lernen. Sollte in diesem neuen Horizont der Grundunterschied ihres eigenen Fragens – nämlich die Unterscheidung zwischen festem Wissen und sich gerade schöpferisch bildendem Erkennen – mit einbegriffen sein? Der Weg von Erkennen und Verstehen, ja der Weg des Denkens überhaupt führt nicht mehr nur durch logisches Schließen oder intuitives Sich-Öffnen, sondern tritt in den erkennenden Menschen ein wie etwa vielstimmig erklingende Musik. Wir, die Menschen, sind geborene Avantgardisten: Es gibt keinen Weg für uns, als immer wieder neu die Zukunft aus den Trümmern der Vergangenheit zu bauen. Jede Zukunft ist neu, unerhört, nie dagewesen! Jeden Tag neu zu bauendes Reich des Gottes Alpha, der eins mit dem Gott Omega ist, ku mit shiki, in der Einheit des Geistes (Teilhard de Chardin). Meditation kann dazu beitragen, zur Ideologie erstarrte Formeln der Sprache wieder flüssig zu machen, zu einer Wirkkraft, zu einer Wirklichkeit. Unmögliches ist denkbar. Undenkbares ist möglich: Die Potenz der Zukunft. In der westlichen Tradition denken wir in der Alternative Sein / Werden; festes Gesetz / dynamischer Fluss. Das entspricht wohl genau ku / shiki und hat vielleicht seinen Grund in der Aufteilung unserer Wahrnehmung in Hören und Sehen – in Wahrnehmung des festen Raums und Wahrnehmung der fließenden Zeit. Im gleichen Sinne ist unsere vergängliche Lebenszeit (Chronos) die unbegrenzte Dauer des Ewigen (Aion). Nicht die Verwandlung des europäischen Sein-Denkens in eine Werde-Philosophie (Nietz122 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche I
sche) ist die Lösung, sondern die paradoxe Gleichsetzung von Sein und Werden: ein mehrstimmiges Denken. Ein antagonistisches Denken mit den beiden Extremen ku /shiki: ewiges Werden / ewiges Sein. Menschliches Denken: Reflexion der Welt im Spiegel der Worte. Wir dürfen nicht vergessen, dass dabei keine Kopien entstehen, sondern Spiegelbilder. Die fließende Realität der Welt wird vom sprachlichen Denken in die starre Abbildung durch Begriffe verwandelt. Durch eine neue weitere Spiegelung müssten wir eigentlich wieder zum Urbild zurückkommen!! – aber wie nur?? Was bilden wir uns ein? Besessen von unserer Vernunft glauben wir, von Gott, ja mit Gott reden zu können. Mit GOTT! Wir sind Lästerer und Verrückte, zernagt von Angst und Hybris. Aber Gott ist erbarmungsvoll, er wird schon weghören, wenn wir uns erdreisten, zu ihm zu rufen. Leere – Leere – nichts als Leere! Sind wir wirklich leer, so berühren wir mit einer Haarspitze das Paradies. Das Paradies, es existiert nicht – es ist »im Kommen«! Es steht uns bevor. Wie anders ist es als die Welt! Es klingt, aber ohne Ton. »Wer mich sieht, sieht auch den Vater.« (Joh. 14,9) In Platons Dialog »Theaitetos« lesen wir: »Denken ist ein Dialog des Ich mit sich selbst«. Mit den gebräuchlichen Vokabeln des Zen könnten wir den Satz so übertragen: MU spricht mit MU. Die Natur gebiert aus MU irgendwann (bzw. un123 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
aufhörlich) den Logos. Platons Dialog des Ich mit dem Ich wird in einen Dialog von Ich mit dem Selbst umgedeutet. Wir haben schon vorher bedacht, dass im Anfang des Johannesprologs der mythische Gottesbegriff von dem modernen, logische Folgerichtigkeit betonenden Denken abgehoben wird. Wollen wir unsere freie Deutung noch weiter treiben, so müssten wir sagen: MU zeigt sich als Vater, der Vater redet zum Sohn. Logos verhält sich zum Vater wie das Selbst zum Ich. Glaube ist Leben in MU. Eins-sein mit dem Eins-sein des Sohnes mit dem Vater. MU ist also ein psychischer Zustand – aktiv, schöpferisch, lebendig: coincidentia oppositorum. Zu MU gehört die Ausschaltung des diskursiven Denkens: deswegen kann MU nie in Theologie oder Dogmatik münden. MU ist Liebe, Liebe als Zuwendung: nicht die Delegation dieser Tätigkeit an den Verstand, an Bewusstsein und Wille. MU integriert die Funktion des Unbewussten und der Sinne (des Körperdenkens) ins Bewusstsein des Geistes: es zeigt den Logos in statu nascendi. Jesus sagt zu den Juden: »Ihr kennt weder mich noch meinen Vater.« (Joh 8,19) Einheit mit dem Vater bedeutet also Bewusstwerdung des Lebens, die in Jesus paradigmatisch für die ganze Menschheit stattfindet. Jeder Einzelmensch hinkt dieser Erfahrung auf seinem Weg nach. Die Sprache als Instrument wird im Laufe dieser unerhörten Mitteilung »gebrochen«; sie verliert ihren Verstand. Das heißt: sie verliert ihre sprachlich gesetzte Sicherheit und öffnet sich gehorsam dem Willen des Vaters, der in seiner Unbegreiflichkeit unserem Verstand auch als schrecklich, völlig unverständlich, voller Widersinn, ja absurd erscheinen kann. MU ist also nicht einfach »Nichts«, sondern die Leere, aus der der Wille (des Vaters) geboren wird. Dieser Wille ist 124 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche I
Liebe und gebiert die Schöpfung als lebendige Materie / lebendige Wesen / lebendigen Geist. Nicht-Denken würde bei Dionysius Areopagita so etwas wie Über-Denken heißen: eine Denkbewegung, welche nicht mehr um des Erkennens willen stattfindet, sondern in ihrem eigenen Glanz kreist. Im Buddhismus wäre das Denken des Nicht-Denkens die gesuchte Leerheit des Bewusstseins von allen Objekten und Absichten. Von »alten« europäischen Worten wäre vielleicht der Begriff der Ataraxia noch am ehesten geeignet, um die Paradoxie dieser Wendung auszudrücken. Meister Eckhart würde dafür wahrscheinlich das Wort »Gelassenheit« wählen. Der christliche Mythos ist auch Bild des menschlichen Geistes, der von Natur aus ein poetischer Geist ist. Er führt zu einer tieferen Einsicht in die Weltzusammenhänge als die Erkenntnisse der natürlichen Vernunft, auf der die modernen Wissenschaften aufbauen. Naturwissenschaftler glauben ja wohl nicht an ihre Erkenntnisse als absolute Wahrheiten, sondern als überzeugungskräftige Hypothesen, die eventuell von anderen Hypothesen abgelöst werden können. Arbeit an der Religion heute ist Arbeit an der Substitution der Metaphysik durch die erfahrbare Realität des Geistigen. Das erfordert einen radikalen Bruch mit den bisherigen Praktiken des theologischen Denkens. Der oft zur Schau getragene Atheismus gibt wahrscheinlich einem fundamental religiösen Bedürfnis Ausdruck, das im heutigen Kulturleben generell nicht richtig zur Sprache kommt. Atheismus nennt den Namen Gottes in der Verneinung des Namens. Bekennende Atheisten dagegen dürften sehr selten sein; oft sind sie verkappte Mystiker, wie zum Beispiel Fritz Mauthner. 125 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VII
»Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint.« (Matthias Claudius) Achte keine Religion zu sehr, denn sie ist nur das Kleid, in dem uns der unsichtbare Geist gegenübertritt. Die Liebe ist das Sein als Vollzug des Lebendigen. So sagt es die christliche Offenbarung. Der Logos als Liebe trennt nicht Vernunft und Verstand. Das Leben ist in seiner Ganzheit weder rational noch irrational beschreibbar. Gott schafft uns ohne Unterlass: wir müssen ihn dabei mit unserem Willen unterstützen. Er hilft uns dazu, ihm zu helfen. So sprechen wir in der Sprache des mythischen Denkens. Das Christliche ist die Bewusstwerdung dieses Vorgangs. Wollten wir diesen Vorgang aber in einer Sprache der Vernunft ausdrücken, so würden wir scheitern. Das Eine und das Ganze. Das Eine wird durch das Bewusstsein (den rationalen Willen) gesetzt, als Strategie gegenüber dem Chaos. Das Eine hebt sich vom Anderen ab. Das Ganze ist also »das Eine und das Andere im Einen« oder »das rational Geordnete (Eine) und das Chaos im Einen«. Tatsache ist, dass wir als Menschen nicht Einzelwesen sind, sondern eine zusammenhängende organische Masse bilden. Das Individuelle ist das Vorletzte in der stufenweisen Entfaltung unseres Selbst, vor der vollen Bewusstwerdung des »Wir«. Es besteht ein untergründiger Ausgleich unter den Individuen: das Eine scheint für das Andere zu büßen – oder unverdient belohnt zu werden. Der »Sohn« ist das einzige autonome Individuum, er hat auch die Funktion des »Richtens«: Richter, insofern er straft und belohnt; Richter, indem er das Verhältnis der Individuen untereinander gliedert und harmonisiert. Die von
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Versuche I
Paulus beschriebenen Ämter und Hierarchien in der Urgemeinde des Logos sind davon erste Ableitungen. Wir erhalten alles zurück, was wir auf eine Überwelt projiziert haben, aber nun gehört es wirklich uns und unserer Welt an. Aus der Fülle unseres Geistes, aus dem unendlichen Chaos des lebendigen Seins, das die Welt ist, schaffen wir – mythisch gesprochen – die Welt weiter.
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Kapitel VIII
Versuche II Ist die Musik die Sprache des Werdens, die Wortsprache das »Haus des Seins«, so ist die Zweistimmigkeit von Musik und Sprache die Kunst des Ganzen, besser gesagt: die Zusammenschau von ku und shiki. Wird dem Menschen durch sein immer weiter aufblühendes Bewusstsein der Weg zu einer solchen Zusammenschau eröffnet, so würde diese eine noch komplexere Wahrnehmung von Zeit ermöglichen. »Zeit der Sprache« – »Zeit der Musik«: beide verlaufen für die Wahrnehmung auf verschiedene Weise, also nicht synchron. Schon der Vortrag eines einfachen Liedes kann uns das lehren. Der Affekt: ein Zwischending zwischen festem Begriff und begriffslosem Fließen. Er liegt genau in der Mitte zwischen gestaltloser Gefühlsintensität und begrifflich beschreibbarem Zustand. Im Gegensatz zu den im Fließen gestreiften benennbaren Zuständen der Affekte sind Gefühle in ständiger Bewegung und begrifflich nicht zu gebrauchen (siehe Nietzsches »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«). Vielleicht meint Goethe mit seinem geheimnisvollen Wort »Urphänomen« so etwas wie dieses Zwischending. Der Literaturwissenschaftler und Hölderlin-Forscher Ulrich Gaier weist in seinem Buch »Hölderlin-Studien« auf die Lebendigkeit hin, die die Frage nach der Möglichkeit einer Definition von Affekten zu Beginn der Hölder128 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche II
lin-Zeit gehabt haben muss: »Ein Ergriffener stammelt und hat keine Sprache.« (Ulrich Gaier) »Eine ausgedrückte Empfindung ist ein Widerspruch … Empfindungen und Worte sind sich sogar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm …«. 1 Wir sind durch unsere europäische Erziehung, wohl vor allem durch die Schule, daran gewöhnt, die Zeit immer aktiv zu nutzen; sie erscheint uns als ein Quantum, das durch unsere Aktivität in einer bestimmten Weise verwertet werden muss. Die Zeit hat aber auch eine passiv-kontemplative Seite. Sie öffnet sich unserer Kreativität erst dann, wenn wir sie »entdigitalisiert«, quasi hörend empfangen, statt sie gleich gebrauchen zu wollen. »Hörend« soll hier bedeuten: auf alles zu achten, was der Zufall der Wahrnehmung bringt. Man muss auch dem Zufall eine Chance geben, nicht nur der Vernunft. Die Natur scheint es ähnlich zu machen. Die beste »Nutzung« von Zeit wäre gerade nicht ihre Reglementierung in irgendwelchen systematischen Prozessen (»Zeit ist Geld«), sondern der Versuch, ihrem Ruf zum Verweilen zu folgen. Chronos: die vergängliche, messbare Zeit (yin). Aion: die »ewige«, unmessbare Zeit (yang); die Zeit der Götter (der Metaphysik); sie wurde von der Theologie übernommen. Heute müssen wir, da wir ohne Metaphysik zu denken versuchen, beide Zeiten (Chronos und Aion) als Einheit denken; das heißt aber nicht, die exakt gemessene Zeit völlig zu verdrängen, wie es der Mythos zu tun scheint. Vielmehr müssen wir yin und yang als sich beiderseitig bedingende Einheit erfassen: als Sohn (yin) und Vater (yang). Yin und yang sind sowohl ungleich wie gleich: Christus ist 1
Johann Gottfried Herder, Werke in 10 Bänden, hrsg. von Günter Arnold
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Kapitel VIII
sowohl yin – als Mensch – wie yang – als Gott. Deswegen ist die Zeit Gebärerin der Schöpfung und muss auch als yinyang gedacht werden. Ohne Konstruktion kann man nichts sagen, und nichts verstehen – auch in der Musik nicht. Das heißt allgemein: ohne eine gewisse Disziplin der Sprache kann man den Logos als menschliche Rede nicht voll entwickeln. Die zweite Grundlage der menschlichen Sprache ist das Gedächtnis, und zwar als die Fähigkeit, der Entfaltung eines Gedankens bis zu seinem Ende zu folgen. Das bedeutet aber noch lange nicht »Militarisierung« der Sprache! (John Cage) Ohne Gedächtnis gäbe es nicht nur keine Sprache und keine Musik, sondern auch keine Geschichte, keine Dichtung. Wir brauchen Gedächtnis, Logik und rhetorisches Geschick, um etwas zu sagen. Mit Konstruktion und Gedächtnis entstehen auch Identität und Kommunikation. Daraus folgt, dass zu jeder verbalen Aktivität die kritische Reflexion auf das Gesagte gehört und dass unsere Rationalität auf dem Wort als Begriff beruht; hier droht aber das, was Mauthner »Wortaberglaube« nannte: die Fetischisierung von rationalen Formeln. Schönheit im »nicht-griechischen« Sinn: Kabod; das Autonom-Geistige. Die christliche Tradition nennt es »Herrlichkeit« (Gloria). Unsere Gesellschaft hat dieses Bild vergessen – vergessen zu produzieren. Denn Kabod existiert in der produktiven Tätigkeit unseres Geistes; es liegt nicht wie eine materielle Form von Energie seinshaft »bereit«, um abgeholt, zugeteilt, angezapft zu werden. Wir haben die Fähigkeit, diese Energie in uns zu produzieren. Innerhalb unserer kulturellen Aktivitäten eignet sich insbesondere die Musik zu einem Vergleich mit dieser Art von Produktivität. Die Musik ist geistige Aktivität und teilt dieselbe mit; sie ist Abbild der »gebärenden Zeit«. 130 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche II
Die Zeit als Leere wird am besten in der reinen Passivität der Meditation erlebt. Die Musik definiert sich ebenfalls als jene »entmilitarisierte« Sprache, welche nicht darauf aus ist, positive Setzungen zu machen. Sie gibt uns vielmehr unaufhörlich »Material« im Zustand der Ungestaltetheit, das durch unsere Fantasie weitergestaltet werden will. Musik ist das Fleisch, aus dem das WORT (Logos) geboren wird. Denn nicht der Gedanke ist Logos, sondern der Logos wird Fleisch: lebender Körper, der aufersteht; Wort, das fruchtet, nicht eines, das Recht hat oder Bescheid weiß. Wegweisung, Ruf, Entwurf … Musik ist der Klang und die Resonanz dieses Rufes. Kunst ist Integration des Andern in das Eine: des yin in das yang. Ihre Wahrheit ist nicht mit der Wahrheit im mathematischen Sinn zu vergleichen; sie ist lebendig, das heißt in ständiger Veränderung. Unter moralischen Kriterien betrachtet wäre das eine Labilität; diese scheinbare Labilität befördert hier aber die Fähigkeit zum Wachstum und der damit verbundenen Gestaltänderung. Kunst ist Modell der Wirklichkeit, nicht ihr Abbild. Das Leben ist dauernd in Wandlung begriffen, deswegen kann es nie vollkommen sein. »Vollkommen« bedeutet unveränderlich. Kunst erreicht nach langer transformatorischer Arbeit endlich das Stadium der Perfektion des Werkes. Für das Leben jedoch bedeutet das gleiche Stadium Stillstand und Tod. Kunst ist somit Erfahrung eines Übergangs vom Prozess des Werdens zur festen Gestalt eines »Seienden«. Der Typus des europäischen Künstlers erscheint uns heute, psychologisch gesehen, als 1.) Ich-fixiert, 2.) Werk-fixiert, 3.) Rationalitäts-fixiert (formalistisch), 4.) Fortschritts-fixiert (revolutionär), 5.) Erfolgs-fixiert. Wir nehmen das als 131 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
selbstverständlich hin, weil wir die Kunst als Selbstausdruck des modernen Individuums betrachten, der in einer objekthaften Form einem Publikum zur Bildung und Unterhaltung präsentiert wird. Ursprünglich ist das Kunstwerk aber Bestandteil eines Kultes und wir stellen fest, dass diese Grundlage nicht ganz aus dem Gedächtnis der Künstler verschwindet. Der Künstler scheint in den archaischen Gesellschaftsformen eher mit dem Priester und dem Medizinmann (Arzt) verwandt: er hat eine Sonderstellung innerhalb des Stamms, er ist beschäftigt mit der Kultivierung magischer Kräfte, er übt zwar keine Macht aus, aber er wird von der Sozietät geschützt. Vielleicht ist das Kunstwerk ursprünglich ein magischer Gegenstand, ein Fetisch oder Ähnliches. Etwas Derartiges als verkäuflich zu betrachten, wäre in den alten Gesellschaften ein schlimmer Tabubruch gewesen. Aktuell wird diese Frage etwa bei den Verhandlungen der Museen westlicher Staaten mit außereuropäischen Völkern über das Recht der Verwertung von Kunstwerken bzw. von kultischen Objekten dieser Herkunft im Rahmen europäischer Kulturinstitutionen. Fatal erscheint, dass in der Öffentlichkeit bisher nicht die Frage diskutiert wird, ob man solche Objekte überhaupt als Kunstwerke im modernen Sinn ansehen darf. Viele Objekte gelten in ihrer Kultur als magisch, heilig, tabu; sie dürften zwar ausgestellt, aber nicht als Handelsobjekt betrachtet werden. Es müsste wohl darüber entschieden werden, ob die Erhaltung solcher Objekte besser im europäischen Sinne, d. h. durch musealen Schutz, oder durch Rückgabe an ihre Herkunftsländer gewährleistet würde. »… der Anfang ist nicht das, mit dem man anfängt, sondern das, zu dem man kommt, und man kommt rückwärts dazu. Er meinte, Beten sei reden; er lernte, dass Beten 132 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche II
nicht nur schweigen, sondern Hören ist. Indem man redet – auch nur ein einziges Wort sagt – geht man des Augenblicks verlustig; nur im Schweigen ist der Augenblick.« »Draußen im Schweigen, da brütet er (der Dichter) über seinem Schmerz; er lässt alles … zum Widerhall seines Schmerzes werden, und dieser Widerhall … ist das Gedicht, denn der bloße Schrei ist kein Gedicht, aber der unendliche Widerhall des Schmerzes in sich selbst, das ist das Gedicht.« Diese Zeilen Kierkegaards aus »Furcht und Zittern« kann man als Beispiel dafür ansehen, wie nah das späte Christentum dem Zen schon gekommen war. Das Signum der alten Pythagoreer war das Schriftzeichen Y mit seinen nach verschiedenen Seiten weisenden Armen: Herkules am Scheideweg. Zunächst die »enge und die weite Pforte«, Tugend oder Laster. Dann die Entscheidung für ein »Leben im Geiste«: das ist die Vorstellung der Antike von einer endgültigen Vollendung des Individuums. Die krasse Alternative von Gerechtem und Sünder ist alttestamentarisch und vergisst, dass jede vom Menschen angestrebte Vollkommenheit doch nur ein einzelner Aspekt der göttlichen Vollkommenheit sein kann. Die neue Akzentuierung, die das Christentum setzt, gibt den Übergang zum spontanen Lebensvollzug wieder frei, und das bedeutet immer: sich als armer Sünder von Kompromiss zu Kompromiss durchzuschlagen – sich keinen Augenblick für »vollkommen« haltend. »Die Kunst ruht auf einer Art religiösem Sinn, einem tiefen, unerschütterlichen Ernst; deswegen sie sich auch so gern mit der Religion vereinigt.« (Goethe, »Maximen und Reflexionen«)
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Kapitel VIII
Dialektik ist ein Gedankengefecht mit Happy End. Paradox ist ein Gedankengefecht mit tödlichem Ausgang. »Denken ist ein sich selbst durchschauendes Spiel.« (Georg Picht) Die Mystiker (zum Beispiel Johannes vom Kreuz) betonen oft, dass die ästhetische Qualität der sichtbaren und hörbaren Zeichen, der liturgischen Gegenstände etc. durch den Betrachter nicht zu hoch gewertet werden dürfe. Gemeint ist hier wohl die Gefahr der klischeehaften Rezeption sowohl der religiösen wie auch der ästhetischen Qualitäten (die gedankenlose Handhabung und quasi automatische Hochschätzung ästhetischer Normen ist nicht nur schädlich für das ästhetische Verstehen selbst, sondern auch für ihre Funktion als Wegbereitung des Spirituellen). Das Individuelle muss vermittelt werden. Auf der anderen Seite scheint oft der Vermittlung einer humanen »Botschaft« ihre Ästhetisierung im Wege zu stehen; ja sie kann diese Botschaft geradezu desavouieren, wenn der Künstler seine Mittel nicht sehr genau kontrolliert. Grundsätzlich besteht diese Gefahr sowohl bei geistlicher Kunst wie auch bei sogenannter »politischer« Kunst. Der (von beidem) Angesprochene reagiert äußerst sensibel auf alle Anzeichen von billiger Propaganda. Er durchschaut die an unfreiwillige Komik grenzende Unangemessenheit, geistige Mittel gegen Unrecht und Gewalt einzusetzen; er durchschaut vielleicht sogar die Tatsache, dass der Künstler in der Gefahr ist, dem Widerstand selber Schaden zuzufügen. Politisches Bewusstsein muss in aktuelles politisches Handeln einmünden. Schöne Worte führen allenfalls zu einer Ästhetisierung der Politik, in der es doch um Recht und Unrecht geht. Es kann nicht genügend betont werden, dass die ge134 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche II
schichtliche Würde der Moderne darin besteht, dass sie sich dem Traditionsstrom der Ästhetik, aber auch der Moral der griechischen klassischen Tradition entzogen hat. Man möchte sagen, dass hier eine neue Stufe der europäischen Inkulturation begonnen hat. Diese neue Stufe ist viel geeigneter, die Gedanken auf das meditative Bewusstsein hinzuführen. Dasselbe gilt für die ästhetische Gratwanderung in der »politischen« Kunst. Es genügt nicht, Brüche mit der klassischen Ästhetik zu inszenieren. Tapferkeit und Humor: Tapferkeit ist geboren aus dem Verlachen der Gefahren der Welt. Mach dich lustig über die Welt. Vertrau auf den Geist! Das Obere lacht über das Untere, das es durchschauen kann. Ist Liturgie Darstellung von Geschichte bzw. Geschichten, oder ist sie unfassbare »Geistrede«? Ist sie »Theater« für eine Vielzahl von Menschen, oder ist sie Ort der Introversion und Individuation des Einzelnen? Ist sie so etwas wie politische Propaganda oder stellvertretende Aktion gegen das Unrecht? Sie muss das alles gleichzeitig sein; diese Aufgabe gibt sie in veränderter Form weiter an ihre Schwester, die Kunst im säkularen Sinn. Aufklärung heißt zunächst einmal, uns selber aufzuklären über unsere eigenen, erworbenen oder angeborenen Schliche, Vorurteile, Lügen, Verdrehungen, Fehleinschätzungen und Selbstglorifizierungen. Diese Aufklärungsarbeit leisten wir nicht nur für uns selber, sondern auch für die Gesellschaft. Auch die Religionen erinnern uns – soweit sie zu Vorurteilen nicht von sich aus beitragen – daran, dass wir als Menschen nicht nur Einzelwesen, sondern auch TuttiMenschheit sind: eine große Herde. 135 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
Mauthner: »wir sehen und hören, weil wir sehen und hören wollen«. Die christliche Ergänzung dieses Gedankens müsste heißen: wir glauben, weil und insoweit wir glauben wollen. Wir bedürfen des Glaubens genauso wie des Sehens und Hörens. Wir sind ja Wesen, die mit schöpferischen Kräften ausgestattet sind. Wir glauben, um die Wirklichkeit tiefer erfassen zu können. Jedes Kunstwerk verlangt diese Geisteshaltung, um verstanden zu werden. Nochmals Mauthner: »Gott und Erkennen als Wörter der Sehnsucht.« Eros ist arm und lebt von Geschenken, steht in Platons »Symposion«. Der »verlorene Sohn« im Gleichnis wäre das aus dem Dunkel erwachende Bewusstsein, das sich aus der Verstrickung ins Weltliche frei gemacht hat. Wenn Jesus sagt: »Ich und der Vater sind eins«, so bezeugt er, dass sein Ich zum Selbst und somit dem Vater gleich geworden ist: zu einer »Macht«, die völlig ohne die Macht des »Willens zur Macht« ist. Der Engel bei Rilke: Gefahr der Ichaufblähung bzw. der Überschätzung des »Erhabenen« als Kategorie. Stattdessen besser: Deutung der Engel als Träger des Geistigen, d. h. des Überbegrifflichen, also auch der Musik. Erinnerung an Messiaens Antwort auf meine Frage nach dem unerhörten Gegensatz seiner Tempoanordnungen zwischen äußerster Schnelligkeit und äußerster Langsamkeit: »peut-être j’écris plus pour les anges que pour les hommes«. Die Steigerung ins Unendliche des Tempos nach der schnellen wie nach der langsamen Seite hin, also die »Überdrehung« der Zeitwahrnehmung, führt zu einer Art Empfindung neu erreichter Statik: alle Möglichkeiten erscheinen als gegenwärtig. Des-
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wegen suggerieren Messiaens Konstruktionen manchmal die Gleichzeitigkeit von ku und shiki. Rudolf Steiner: Jahwe ist ein Engel; durch ihn lernte der Mensch das Ich. Vom Sohn lernt er das »Ich bin«. Aber die Vollendung ist erst im Geist: dann, wenn der Mensch nicht nur das Denken gelernt hat, sondern das, was über das Denken hinausführt: das verstehende Schweigen, »MU«. Das Herz kann nicht zählen – noch nicht einmal bis zwei. Von der Erhabenheit der Kunst, von diesem wahnsinnigen Glücksgefühl, dieser Ekstase des Körpers und der Seele, von dem Glanz dieser Erfüllung – was bleibt? Tonleiter rauf – Tonleiter runter, wie bei Telemann … »Ein Dröhnen: es ist die Wahrheit / selbst unter die Menschen getreten / mitten ins Metapherngestöber.« (Celan) »Es gibt nur ein Koan: DU.« (Ikkyu) Man könnte denken, auch der folgende Satz sei ein Koan: »Ich liebe Dich«. Aber dieser Satz kann nur als Tautologie gelten. Das »Lied der Lieder« als von der mosaischen Offenbarung (yang) verdeckte Rückseite (yin) der gleichen Offenbarung: Sulamith ist die Vielheit der Schöpfung, Metapher ist der Harem, Schlomo ist Gott als Eins. Sulamith lernt, mitten in der Vielheit zum Individuum und so nicht nur »Bild« Gottes, sondern Ebenbild, dann durch Christus’ Braut des Einen zu werden. Die Geschichte der Sulamith ist die Geschichte des Menschen, der aus seiner psychischen Vielheit langsam durch die Arbeit an seinem »Schicksal« zu einem Ich-Selbst wird. In gewissem Sinn gehört das »Shir Hashi137 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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rim« (Lied der Lieder) schon zum Neuen Testament, als eine Art Ankündigung der Inkarnation. Mythos: Wortkleid der unerkennbaren Wahrheit der Wirklichkeit, gewebt von vielen Kulturen in verschiedenen Mustern und Farben. Aufleuchtend in den ständig wechselnden Lichtspektren der Natur, geschmückt durch die Perlen der individuellen Echos unzähliger Menschen. MU: zurückgehen bis vor die Erfindung der Sprache. Da finden wir die »Paradieses-Sprache«, welche nicht benennt (trennt, scheidet), sondern mit-denkt, mit-singt. Sie ist eins mit der Wirklichkeit, sie stellt diese sich nicht nur vor. In dieser Sprache spricht Jesus mit dem Vater. Seine Einheit mit dem Vater (»Ich und der Vater sind eins«) müsste die Grundlage für das Verstehen der Worte des Evangeliums sein. Warum heißt Jesus »das Wort«? Weil er nichts als das eine Wort spricht, das der Sprache entkommt: MU. Das Heilige ist auf seine Weise immer anwesend; es ist pure Praxis. Es ist für unser Bewusstsein nur oft zugedeckt vom Müll unserer Zerstreuungen. Wir können die Radikalität der Zenübung auch als Trainingsweg für ein Lebendigmachen der eigenen religiösen Überlieferung ansehen. Mythos, vom Individuum aus betrachtet: Im Gegensatz zu der vergangenen großen Epoche der Konfessionen und Stile (letzten Endes: des Mythischen im Christentum) sollte heute jeder von uns zu seiner Selbstidentifikation eine Art »Privatsprache« zu entwickeln versuchen – das verlangt das fortgeschrittene Bewusstsein der eigenen Individualität … 138 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Auch eine Entscheidung darüber, ob und wie viel Zeichen früherer Epochen wir in unser eigenes Denken aufnehmen, ist individuell. Jeder Einzelne muss so den Umfang seiner geistigen Zugehörigkeit bestimmen und erkennbar markieren. Querstehend zum allgemein herrschenden Rationalismus setzt sich seit etwa 100 Jahren ganz allmählich ein kompensierender Prozess zunächst in der Kunst durch: eine Richtung, welche den numinosen Charakter der Affekte neu entdeckt. Schon bei David Hume konnte man eine wachsende Aufmerksamkeit auf das affektive Erleben, auch der religiösen Phänomene, feststellen. Er zeigt, dass nicht das Verstehen, sondern das Erfühlen unsere wichtigste Aufgabe ist. Auch im Zen spielen die frei werdenden emotionalen Kräfte eine zentrale Rolle, wohingegen die rationalen, zu kritischer Reflexion einladenden Strebungen als Störfaktoren erlebt werden. Oberstes Gebot ist die Loslösung des Ich von aller Fixierung der Begriffe und Bilder. Diese Tendenz kann sich in einer Überbewertung des Affektiven und in einer Emanzipation der Affekte, aber auch in einer radikalen Sprachkritik zeigen. Das kann man außerhalb der religiösen Sphäre besonders klar in den Spielarten des Surrealismus, Dada etc. beobachten. Im Buddhismus gibt es eine starke Tendenz zur Sprachkritik. Von vielen buddhistischen Autoren wird die Verstrickung in Sprachlogik gleichgesetzt mit den Verstrickungen in die Täuschungen der Sinnenwelt. Im Vergleich dazu hat sich die europäische Tradition während der christlichen Jahrhunderte meist darum bemüht, die Vernunftgemäßheit der Glaubenssätze nachzuweisen – ja sogar den Glauben als eine vernünftige Grundlage der sprachlichen Logik angesehen, wie in den Strömungen des philoso139 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
phischen Realismus. Betrachtet man allerdings die europäische Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts und in der Gegenwart, so findet man eine Reihe bedeutender Philosophen, die sich einer radikalen Sprachkritik geradezu verschrieben haben. Man braucht da nicht nur an Wittgenstein und seinen Kreis zu denken; noch mehr Zündstoff hat vielleicht Fritz Mauthner geliefert. Er spricht gerne vom »Sprachaberglauben« und stellt sich damit in die Erbfolge aller Nominalisten, welche die Unfähigkeit der Sprache, Wirklichkeit wirklich benennen zu können, betonen und darauf bestehen, dass wir in der Sprache nur Vorstellungen von Wirklichkeit beschreiben. Mauthner, dem am Ende seiner Entwicklung auch die Verwandtschaft des buddhistischen Denkens mit der europäischen Mystik (insbesondere mit Meister Eckhart) nicht entgangen ist, war einer von vielen suchenden Geistern, welche die Mystik für das moderne Bewusstsein neu entdeckten und interpretierten. Das Kunstwerk: ein Gebilde, das Mutter und Vater hat. Der Vater ist die im Unbewussten wirkende schöpferische Natur. Die Mutter symbolisiert das Individuum, das in Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis in der bewussten Arbeit an der Form das Kunstwerk hervorbringen muss. Dadurch hat das Kunstwerk zwei Eigenschaften: das unmittelbar durch die Sinne erfassbare Innere und das durch die Analyse der menschlichen Formarbeit erkennbare Äußere. Es versöhnt also den gefallenen Menschen mit sich selbst: er wird an sein ursprüngliches Eins-Sein mit der Natur vor dem Essen vom Baum der Erkenntnis erinnert. Er hat damit eine Ebene erlangt, auf der er durch seine Arbeit Erkenntnis gewinnen kann. Die Kunst ist nicht die Wiederherstellung des Paradieses, aber der Weg dorthin. 140 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Die Antike sprach, wie das Christentum, von einer Menschwerdung des Gottes. Die Menschengestalt des Göttlichen bedeutete im Mythos die Teilnahme des Menschen an der Schönheit des Gottes. Im Christentum wollen die gleichen Worte genau das Gegenteil sagen: Gott wird Mensch, indem er sich auf die erbärmliche Stufe der Kreatürlichkeit des Menschen herablässt. Eben dadurch bewirkt er die Erneuerung der Welt, auf die unsere Hoffnung zielt. Er lehrt den Menschen auf diese Weise, sein Menschsein zu akzeptieren und geduldig zu kämpfen. Das ergibt einen gegenteiligen Sinn von Schönheit, sowohl in der Kunst wie in der Spiritualität. »Memoria«: Gedenke immer der mühevollen Geschichte des Menschen, wenn du Schönheit gestalten willst! Denn die Schönheit im Sinne der griechischen Klassik gibt sich zeitlos und mühelos. Das Christentum malt zwar auch die Herrlichkeit aus, aber denkt dabei an transfiguratio. Die Arbeit des Künstlers an der Form darf nie als Selbstzweck verstanden werden (»l’art pour l’art«). Sie ist Mittel zu dem »Zweck«, dem Geist in der Fremde der Geistlosigkeit ein Haus zu bauen. »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt«, sagt Jesus. Der christliche Gott antwortet, hilft und entwirft Zukunft. Indem wir ihn erfahren, erfahren wir uns selbst – was ist nun was? Projiziert Gott uns? Für sich? Für uns? Opfert er sich uns für uns? Für sich? Sich für uns? – Aber Gott ist nicht nur entwerfender, sondern auch vollendender Logos: er führt unsere Entwürfe weiter, über uns hinaus. Denkendes Hören ist eine Denken und Hören gleichzeitig übende Tätigkeit: geübt wird die Gleichzeitigkeit von intuitiv-bewusster Wahrnehmung und ihrer Reflexion. 141 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Leibniz: »Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animae.« (»Die Musik ist eine verborgene arithmetische Übung der Seele, die nicht weiß, dass sie zählt.«) Der Buddhismus betrachtet die Praxis der Meditation als die wichtigste geistige Übung; daraus scheint oft eine gewisse Theoriefeindlichkeit zu entspringen. Koans zum Beispiel kann man nicht als Lehrbeispiele verstehen, die bestimmte Inhalte mitteilen wollen, sondern als Übungsmaterial für jeden Einzelnen, der sich seinen Weg zur Lösung des Koans selber bahnen muss. »Ich bin der Einzige im Himmel und auf Erden«, sagt Buddha bei seiner Geburt. In den verschiedenen Koan-Sammlungen wurde im Buddhismus ein reicher Schatz von Beispielen zusammengetragen. Der Meditierende vertieft sich so lange in die unlösbare Paradoxie eines solchen Koans, bis er zu einer inneren Evidenz gelangt, welche gerade in der scheinbaren Widersprüchlichkeit Sinn aufleuchten lässt. Nicht die Erkenntnis durch logisches Denken ist die Quelle der Einsicht; die Antwort entspringt vielmehr aus einer verborgenen intuitiven Kraft. Auf diese Weise kommt er in Kontakt mit der Quelle seiner eigenen schöpferischen Fähigkeit. Die Lösung wird nicht diskursiv, sondern durch die Praxis der Meditation gesucht. Komik und Religion scheinen dieselbe geistige Wurzel zu haben. Das Komische hat seine Funktion auch im Bereich des Religiösen, insofern es den Menschen lehrt, sich selber in seinem individuellen Schicksal nicht zu ernst zu nehmen und die Sprache als vorläufig und nur relativ gültig anzusehen. Ebenso ist von der Zeitlosigkeit (ku) aus betrachtet 142 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Versuche II
alles Zeitliche (shiki) scheinhaft. Dies findet man ja auch beim Buddhismus als dessen wichtigste Lehre. Aber hier geht die Verwandtschaft noch weiter: zumindest beim Zenbuddhismus gehört die Komik, ja Drastik zum Kern seines Wesens. Man darf an dieser Stelle fragen, ob man nicht auch in den Reden Jesu manche verborgene Komik entdecken könnte, wenn nicht das Pathos so vieler Prediger dies verhindern würde. Kunst, Religion und Komik: alle drei wollen die Wirklichkeit an bestimmten Punkten überschreiten. Don Quijote als christliches Drama. Don Quijote zieht aus, um »die Armen und Unterdrückten zu befreien«, »alles Unrecht aufzuheben«. Wir sind gewohnt, die Figur des Don heute als eine halb spielerische Version des Revolutionärs zu sehen. Es gibt allerdings auch die Möglichkeit, die Figur gegen den Strich zu lesen: dann wäre Don Quijote eine Figur der alten Welt des Rittertums mit ihren Zauberbüchern und strengen moralischen Grundsätzen, im Kampf gegen den zerfallenden Ethos der aufkommenden liberalen Gesellschaft. Höchst bemerkenswert die Stelle, wo Don Quijote zugibt, von Dulcinea und ihrem Aufenthaltsort kein sicheres Wissen zu besitzen. Als Sancho seinerseits dieses Nichtwissen für sich bestätigt, tadelt ihn Don Quijote: »Wenn ich so etwas sage, dann darfst du noch lange nicht dasselbe sagen.« So wird das Recht des Mythos gegenüber dem Mentalen verteidigt! »Die Liebe als Sphinx. Freundlich blickt die fremde Gestalt dich an, und ihr schönes Angesicht lächelt. Aber verstehst du sie nicht: so erhebt sie die Tatzen.« (Jean Paul) Voll ausgeschriebene Komik müsste es möglich machen, das Heilige gleichzeitig mit seiner Parodie zu präsen143 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
tieren. (Joyce, Ulysses) Das würde sogar die Möglichkeit eröffnen, Parodie zu parodieren. Ikkyu: »Starre Regeln machen Esel; Menschen können Regeln brechen. Sei kein Esel, brich die Regel: dafür üb’ ›die Regeln halten‹ !« Verrücktheit als eine Selbstbefreiung des Ich aus den Fesseln des nur Rationalen. Vielleicht sind die Zeichenschriften der Künste ursprünglich ein Ausdruck dieser Verrücktheit. Neue Klänge, neue Farben, Worte, Gesten, Tänze … Sie wirken im ersten Augenblick meist befremdlich oder komisch. Komische Wirkung entspringt immer aus dem Unerwarteten; das Unerwartete erscheint als das Übertriebene, das aus dem Linearen, Kontinuierlichen ausbricht. Mozart muss beim Komponieren bisweilen laut aufgelacht haben – besonders an den Stellen, an denen wir heute von Staunen und Bewunderung ergriffen werden. Und erst Haydn! Erasmus von Rotterdam: »Das größte Glück des Lebens ist es, immer einen Anteil an Verrücktheit mit sich haben.« Humor als Mittel gegen ideologische Verfestigung, Dogmatismus, Gewalt. Da jedes Individuum auf Unerwartetes anders reagiert, kann Humor auch ausgleichend und befreiend wirken. Im Lachen treiben wir ein Spiel mit dem Wechsel von Möglichkeiten des realen Handelns. Ja man hat das Gefühl, dass der Naturgeist selber ein Spiel mit uns treibt, wenn wir die realen Möglichkeiten lustvoll spielerisch in unserer Fantasie verändern. Wir können tun was wir wollen, wir werden nicht ohne Fehler leben können. Deswegen sagt Luther, fast im 144 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Exkurs:
Übermut: »pecca fortiter!«, »Sündige tapfer!« Wir können nicht immer geradeaus gehen, manchmal müssen wir springen, stolpern, rutschen, kriechen … rudern, schwimmen, – fliegen?
Exkurs: »Ich« und »Wir« in der europäischen Musikgeschichte 1.) Gregorianik: Einstimmigkeit als Bild der (christlichen) Gemeinschaft, welche mit einer Stimme spricht. Das Ich geht im Wir der erleuchteten Gemeinde auf. Gliederung durch die antiphonische Struktur (d. h. Aufteilung des Gesanges in Vorsänger und Chor): entspricht Ich / Wir. 2.) Entdeckung des Zusammenklangs in den Werken der Notre-Dame-Schule. Dort erscheinen verschiedene Farbgebungen durch Parallelführungen der Stimmen. 3.) In den frühesten Formen der Mehrstimmigkeit erscheint zum ersten Mal eine rhythmische und melodische Unabhängigkeit der Einzelstimme. (Ars Antiqua). 4.) In der Ars Nova entfaltet sich diese Polyphonie hin zu einer noch weiter ausgebauten Mehrtextigkeit und zu einer Drei- bis Vierstimmigkeit. Das bedeutet die vollständige Individualisierung des Ich in der Disziplinierung durch die Mehrstimmigkeit. 5.) In der Renaissance wird die individualisierte Vielstimmigkeit zu einem Ausdruck des Wir (Homophonie). 6.) Im Barock wird das Ich mit dem Wir dramatisch konfrontiert, es entwickelt theatralische und affektive Eigenschaften. Werden, wie im Kosmos der Bach’schen Musik, die Techniken aller Epochen einbezogen, so er-
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Kapitel VIII
scheint zum ersten Mal eine vielgegliederte Ganzheit und damit eine autonome musikalische Großform. 7.) Klassik: Ich als Individualisierung des Ganzen durch die Dominanz des Expressiven. Individuelle Charakteristik der einzelnen Teile des Werkes. Der alte Gegensatz von kultisch gebundener und säkularisierter Musik kommt wie in einem Echo in der Grundform der Wiener Klassik, der Symphonie, zum Ausdruck. Jede Symphonie und alle aus ihr sich speisenden Kleinformen verfügen mindestens über ein Scherzo und über einen die sakrale Atmosphäre fortsetzenden, langsamen Satz; die Ecksätze sind fast immer »weltlich«-individuelle lebhafte Ausformungen. 8.) In der Romantik immer stärkere subjektive Bewusstwerdung der Affekte. Das »Wir« ist hier die kollektive Bewusstwerdung, während das »Ich« in der Attitüde des individuellen Verstehens verharrt. 9.) Moderne: Auseinandertreten des Gefüges in wachsender Freiheit der Form, als Prozess der Polarisierung in die beiden Extreme: informell / vollkommen determinierte Form. Ausblick: Die Musik beginnt Gestalten ihrer eigenen Geschichte in die neu entstehenden Werke zu integrieren und so Zukunft und Vergangenheit zu einem Ring zu schließen.
Stephen Climax: ein unlösbares Rätsel »Die Tanzmaskerade wird weder als Nachspiel noch als Vorspiel aufgeführt, sondern mit dem Trauerstück Ariadne gleichzeitig.« Das verkündet der Haushofmeister in Hofmannsthals genialem Ariadne-Text und verhilft damit Richard Strauss zu der vielleicht besten Partitur seines 146 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Lebens. Dieser Moment ist so atemberaubend, weil er wie in einer Vision das Erleben vom Zukünftigen im Gegenwärtigen zeigt. Damit wird die klassische Zeitvorstellung des europäischen Theaters aufgehoben. Dieser Gedanke muss für Hofmannsthals Zeitgenossen von einer derartig schockierenden Neuheit gewesen sein, dass ihn kaum jemand der lebenden Komponisten oder Theaterdichter aufgegriffen bzw. fortgesetzt hat. Er scheint das alte Europa in die Luft zu sprengen. Gesprengt wird hier vor allen Dingen die »einwertige Logik«, die unser Weltbild bestimmt. Denn Zeit und Sinn (Logos) bauen sich gegenseitig auf. Liefern wir uns selber der eigenen Freiheit im Ändern und Umschaffen unserer Welt aus, so ist die Gefahr sehr groß, dass wir uns in den neu entstehenden Strukturen gefährlich verlaufen. Für den Künstler beginnt dieser Gedankenkreis eine immer stärkere Faszination zu entwickeln. Die Bühne bietet uns die Möglichkeit, in den überschaubaren (Zeit-) Räumen ihrer Spielfelder verschiedene Zeitabläufe übereinander zu schichten und auch die unterschiedlichsten Affekte zwischen Tragik und absurdem Humor zu beschwören. Bernd Alois Zimmermann war Zeit seines Lebens mit den Gedanken einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschäftigt. Bei der Uraufführung der »Soldaten« lernte ich ein gewaltiges Beispiel für die Lösung dieses Problems kennen und war bald entschlossen, ein abendfüllendes Werk mit diesem Thema zu schaffen. Um das Phänomen der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitabläufe sinnlich fassbar zu machen, zeigt Zimmermann kurz vor Schluss der »Soldaten« zwölf simultan laufende Filme verschiedener Ausschnitte des musikalischen Theaters. Diese Lösung ist insofern nicht ganz schlüssig, weil der einzelne Hörer die
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Kapitel VIII
dichte Signalfolge mit seiner Wahrnehmung nicht komplett verarbeiten kann. Um dieses Grundproblem besser zu lösen, überlegte ich zwei Stoffe aus zwei getrennten Kulturkreisen zu nehmen. Als ich dann die späten Aufsätze von Hugo Ball und insbesondere sein »Byzantinisches Christentum« näher kennen lernte, wurde mir klar, dass sein Säulenheiliger Simeon die Gegenfigur zu dem Joyce’schen Stephen werden musste. In der Zeit der Entstehung dieser Doppel-Oper waren viele Fachleute davon überzeugt, dass die traditionelle Form der Oper geschichtlich auf ihr Ende zuging. Das Zentrum der Erfahrung der Moderne ist die Bildlosigkeit. Bildlosigkeit, das ist viel mehr als Abstraktion – es ist die Radikalität eines Punktes Zero, der die gegenseitige Berührung und Durchdringung der Künste nicht mehr auf eine selbstverständliche Weise erlaubt, welche die Oper und das musikalische Theater konstituiert hatte. Spätestens Ende der 60er Jahre – nach dem Tod Adornos – war dieser zentrale Moment der Musikentwicklung unseres Jahrhunderts durchschritten. Die Frage war nun: wo und wie geht es weiter? Ein gradliniger Fortschritt – wie in der Avantgarde – schien nicht mehr möglich; die Opernform zerbröckelte, kam jetzt fast regelmäßig ins Schlepptau des Schauspiels oder der bildenden Kunst. Die Positionen der musikalischen Moderne wurden verspielt, der Irrationalismus begann zu blühen. Die meisten Komponisten übersahen, dass es auch andere Möglichkeiten gab. Stephen Climax versucht auf seine Weise, das durch die historische Entwicklung gegebene Problem zu lösen: die als nostalgisch missverstehbaren Bilder des alten Europa werden neu entdeckt, aber als Zeichen der Vergangenheit. Da die Vergangenheit immer die Gegenwart mitenthält (auch dann, wenn wir uns dessen gar nicht 148 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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bewusst sind), so muss es darum gehen, erstens die Wirksamkeit der alten Bilder in Kontakt mit der Musik aufzuzeigen, zweitens die Bilder als Material neu zu montieren und neu zu kombinieren. Das künstlerische Mittel für diesen Kompositionsvorgang muss aber dasselbe wie bei der Moderne sein: strukturelles Denken. Hier liegt auch die Möglichkeit einer Verzahnung der musikalischen wie der textlichen Struktur der Konstruktion; in der Musik erscheinen Beispiele aus der europäischen Tradition von der Gregorianik bis zur Salonmusik des 19. Jahrhunderts. Die versunkenen Welten werden nicht zitiert, sondern gleiten in einem Transformationsprozess ineinander. Aus den Reibungsflächen der verschiedenen Welten entstehen Zwischenformen, deren Sinn mehrdeutig und offen ist; aus den Zusammenstößen der Stile und logischen Systeme resultiert der Schock des Erschreckenden oder des Komischen; aus der Elektrizität des Widersprüchlichen, Anti-Logischen, Absurden wird eine neue Kraft geboren, welche die Entwicklung der Musik über den Punkt Zero hinaustreiben kann, weil sie eine neue Dimension gewonnen hat: die Interaktion von Geschichte und Gegenwart innerhalb der Grenzen des Kunstwerks. Von dem Regisseur Peter Mussbach, der »Stephen Climax« 1991 in Brüssel inszenierte, habe ich gelernt, dass die moderne Hirnforschung erwiesen hat, dass der Vorgang des Sich-Erinnerns nicht reproduktiver, sondern produktiver Natur ist. Gerade so ist der Umgang mit unserer kulturellen Tradition in Stephen Climax.
»Die Tiefen des Daseins sind unermeßlich!« (Ariadne auf Naxos, Strauss/Hofmannsthal) Die folgenden Gedanken, geschrieben 1985, sollen auch 149 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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als späte Erinnerung an den völlig einzigartigen und unvergessbaren Künstler und Kollegen Gerard Mortier verstanden werden. Ich lernte Mortier während der Proben in Hamburg kennen; es war die Zeit, in der ich voll in die Arbeit an Stephen Climax eingestiegen war. Ich hätte damals kaum zu hoffen gewagt, dass in einigen Jahren Mortier sich auch in seiner Eigenschaft als Intendant des Théatre Royal de la Monnaie auch für Stephen Climax einsetzen würde – und das noch verstärkt durch die kaum übertreffbare Mischung von Genauigkeit und expressiver Kraft, die sein Freund Sylvain Cambreling als Dirigent beisteuerte. Das war eine unvergessliche Zeit, gleich stark im Geben wie im Nehmen. 1.) Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist Stephen für mich aus der Literatur hinausgehüpft und eine Figur meines eigenen Inneren geworden. Natürlich hat er sich da in einer anderen Weise weiterentwickelt als im Busen von Mister Joyce. 2.) Ist die Joyce’sche Welt nun eine polare Gegensatzwelt zum Bewusstsein des Säulenheiligen – so etwa wie in den »Tentations de Saint Antoine« von Flaubert: Fantasien eines Asketen – oder ist Simeon eine Projektion aus Stephens Innerem, sein verborgener Übervater im Kontrast zu seinem labilen Vordergrundleben? Diese Frage wird in meinem Stück nie entschieden beziehungsweise gar nicht gestellt. 3.) Stephen und Simeon waren für mich ein objet trouvé; ihre Zusammenstellung war vorgegeben. Gibt es eine Erklärung für diese Kombination? Während des jahrelangen Prozesses der Komposition mühte ich mich immer wieder darum und fand für meine Geschichte abwechselnd tiefenpsychologische, literarische, musikästhetische, theologische, philosophische oder sonstige Begründungen – alle 150 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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jedoch überflüssig, denn die Evidenz dieses Gegensatzpaares stand für mich immer gleich unverrückbar fest, und etwas in mir lachte über alle Erklärungsversuche. 4.) Ein Blinder, der tappend die Bühne überquert – ein Zitat aus dem Umkreis des Symbolismus? Nein. Schon bei der ersten Lektüre des »Ulysses« wurde ich jedes Mal, wenn auf irgendeiner Seite sich der blinde Jüngling wieder durch Dublin tastet, an jenes unvergleichliche Bild des großen Zen-Meisters Hakuin erinnert: »Blinde, eine Brücke überquerend«. Ein Bild, das alles zeigt: jeden Übergang, jedes Schreiten vom Leben zum Tod, jedes Tasten der Natur wie des Geistes nach Neuem. Das ist ein Beispiel, wie die Joyce’schen Situationen und Bilder sich umdeuten, weiterdenken, ja zurückbiegen lassen, und auf diese Weise habe ich mich des Joyce’schen Textes überall bedient. 5.) Die Zimmermann’sche Idee der tönenden Kugel: die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, beziehungsweise die Beschwörung dieser Gleichzeitigkeit. Ich ergänze: Gleichzeitigkeit auch des Anfangs und des Endes psychischer Prozesse (seelischer Entwicklungen). 6.) Dem Musiker sind Gleichzeitigkeiten von gegensätzlichen Formen seit je vertraut: das Phänomen des Akkordes, jede Mehrstimmigkeit, der Kontrapunkt, Überschichtungen und gegenläufige Prozesse … Noch kaum geübt aber sind wir in der Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit verschiedener Affekte. Das war mein Einstieg als Musiker: ein Stück, das gleichzeitig komisch und sehr ernsthaft ist, tragisches Scheitern und Aufstieg zum Heiligen zeigt, sehr langsame meditative Abläufe in dauernder Durchdringung mit labilem, hektisch-nervös-spielerischem Tun und das sowohl in der Großdisposition wie im Detail. Unumgänglich, die Affekte »dingfest« zu machen: das heißt, in einem Schnitt durch die abendländische Seele zu zeigen, 151 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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wo und wie sich diese Affekte für uns gebildet haben. Die Affekte sind Früchte der menschlichen Geistesentwicklung und nicht denkbar ohne die geschichtlich gewachsenen künstlerischen Ausdrucksformen dafür. 7.) Als Student – und Strukturalist, der man damals war – lächelte ich über die vermeintliche Naivität, mit der etwa in der Berlioz-Straußschen Instrumentationslehre den einzelnen Instrumenten bestimmte Affekte zudiktiert wurden. Heute sehe ich dies mit neuen Augen: unmöglich, das »religiöse Gefühl« von der Orgel zu trennen, das heißt in diesem Fall: von einem bestimmten Stadium der abendländischen Affektentwicklung, das zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert liegt. Ein Horn bleibt mit Jagd und Wald verbunden, und eine Trommel wird für uns etwas Militärisches behalten, wenn wir ihre Einsätze auch noch so streng seriell ordnen … Seelische Schichten werden aktiviert, welche Sedimente unserer geschichtlichen Entwicklung sind. Mit diesen Verbindungen bewusst umzugehen, ist vom Komponieren wohl nicht mehr zu trennen. 8.) Auf einem Plakat sehe ich eine Rockband namens »Climax« angekündigt. Die griechischen Theologen der frühen Jahrhunderte wären sehr erstaunt gewesen, in welchem Zusammenhang man dieses Wort, das schlicht »Leiter« bedeutet, heute gebraucht. »Johannes Klimax« heißt soviel wie Johannes mit der Leiter. Der Heilige dieses Namens, um das Jahr 580 Abt des Klosters auf dem Berge Sinai, wurde so benannt nach einem in 30 Grade oder Stufen eingeteilten asketischen Werke, das er hinterließ. Der Verfasser scheint über sein Buch ursprünglich nur ›geistige Tafeln‹ (plakes pneumatikai) geschrieben zu haben. Schon die Mönche aber, die die ersten Abschriften fertigten, gaben
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dem Werke dann wohl den Titel ›Klimax‹, in der lateinischen Übersetzung ›scala paradisi‹, Himmelsleiter. 2 Warum erhält in meiner Oper nun Stephen in scheinbarer Ironie den Beinamen Climax, der ja eigentlich den Säulenheiligen besser zieren würde? Auch Stephen – der Künstler des 20. Jahrhunderts – hat einen langen, unendlich mühsamen Aufstieg vor sich; sein Weg wird sich sehr unterscheiden vom Weg der alten Mönche, welche manche der Pfade, auf denen Stephen sich bewegt, als gefährlich und abschüssig bezeichnet hätten; aber das Ziel – vielleicht kann man da etwas Gemeinsames ausmachen? 9.) Joyces’ »Ulysses« und Hugo Balls »Byzantinisches Christentum« sind fast gleichzeitig erschienen – 1922 bzw. 1923. Sie markieren die Spannweite unseres Jahrhunderts; unmöglich, die extremen Positionen durch Logik oder Alltagsvernunft auf einen Nenner zu bringen, auch wenn man spürt, dass man von beiden stark berührt wird, an ihnen teilhat. 10.) Ich stand vor der Notwendigkeit, eine Form zu schaffen, welche die Situation des Ausgesetztseins in der Wüste deutlich macht und gleichzeitig anhand der wichtigsten Musikstile der europäischen Tradition einige Stationen der Entwicklung bis zu diesem Punkt der Gegenwart durch traumbildähnliche Einblendungen nachvollzieht. Diese Einblendungen sollten aber, im Gegensatz etwa zum Medizinerkapitel im Ulysses, einen starken reaktionären Sog entwickeln: als Versuchungen zur Regression erlebbar werden. Die Regression würde bestehen in der nostalgischen Wiederbelebung einer Darstellung ausschließlich subjektiv-gefühlhaften Erlebens. Die Waffen dagegen bestehen in der Persiflage, der alle Zitate im 2. Akt unterworfen werden. 2
Aus: Hugo Ball, Byzantinisches Christentum
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11.) Die radikalste Aussage des 2. Aktes: die Affekte selber sind »Theater«. 12.) Wie konnte diese stilistische Mehrsprachigkeit zu einer formalen Einheit gebracht werden? Nur durch das Zaubermittel der »Reihe«, welche – eine wahre Climax des Musikers – alle Linien, Klänge, Rhythmen, Formteile in ein Verhältnis zueinander bringt und auch die Steuerung der Geistersprachbänder übernimmt, welche aus versunkenen Zeiten zu uns hinübertönen. 13.) Alle zitierten Stile, alle beschworenen Gefühle wollen die Frage stellen: wer ist es, der da empfindet? Das empfindende Ich als Erscheinung, nicht als Existenz; daher vertauschbar, eben scheinhaft; es ist so labil, dass es dauernd in der Gefahr schwebt, von den zentrifugalen Kräften der Affekte zersprengt zu werden. Alles käme darauf an, ein inneres Gleichgewicht zu entwickeln (aus dem labilen »Ich« ein stabiles »Selbst« werden zu lassen). Simeon: er zeigt den Weg, die Affekte zu beherrschen: nicht durch den Willen oder Verstand, sondern durch die »Wahrnehmung des Ganzen«. (Carl Friedrich von Weizsäcker) Diese Beherrschung kann nur durch zunehmende Distanzierung von den gewohnten Formen subjektiven Erlebens gefunden werden. Im so vom Ich befreiten Menschen leben die Affekte weiter, aber losgelöst von ihrer Funktion, dem Individuum Lust oder Angst zu spenden. Sie erhalten eine spielerische Qualität. 14.) »Der Kern der Tragik – ist die Ambivalenz des Ich, der Selbstwiderspruch des Herrschaftsanspruchs des einen Ich gegen die andern und, im Individuum, des verständigwollenden Ich gegen die Wahrnehmung durch die Affekte und gegen die Wahrnehmung des Ganzen, die man Vernunft nennen darf.« (Carl Friedrich von Weizsäcker)
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15.) Von Christian Kellerer stammt der geniale Gedanke, dass die radikale Erfahrung des Absurden – welche er im Bereich von Surrealismus und objet trouvé diagnostiziert – in die innere Meeresstille eines totalen Relativismus mündet; eine geistige Haltung, welche in früheren Zeiten Phänomene wie etwa den Zen hervorgebracht hat. Die Affinität unserer Zeit zum Zen ist so zu erklären; nichts jedoch im Bereich der europäischen Tradition ist so nahe am Zen wie die Lebensanschauung und Praxis der alten Wüstenväter. Hugo Ball, welcher vom Dadaismus zur Mystik kam, ist ein guter Zeuge dafür. 16.) Das Stück hält strikt an einer einzigen Reihe fest und schafft so das Gegengewicht gegen die vielen zentrifugalen Elemente, welche das Ganze schier zersprengen wollen. Wahrscheinlich wäre das Stück nicht möglich geworden, wenn ich viele oder gar keine Reihen benutzt hätte (wie in fast allen meiner früheren Stücke). Aber mein Stephen, nachdem er zwei Stunden lang die Agonie des Subjektivismus zelebriert hat, müsste sich nach den letzten Takten der Oper entschlossen vom Prinzip der Einheit abwenden, um sich endlich der unüberschaubaren, unendlichen Vielheit der Welt zu öffnen. 17.) Die Nabelschnur, an der alle Menschen hängen, die zurück bis zu Eva reicht, in eine Telefonleitung umzudeuten, durch die man den Ursprung »anrufen« kann (001 – Eden): das ist Joyce’sche Genialität, welche gleichzeitig einen surrealen Witz und eine theologische Aussage macht. 18.) Stephen: »non serviam«. Wem will Stephen nicht dienen? Als Vertreter der Aufklärung muss er sich von der Autorität der Kirche (und des Staates) lossagen; psychologisch gesehen, muss er sein autonomes Ich gegen eine bedrohlich aus dem Unterbewussten aufsteigende Bilderflut 155 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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verteidigen. Er vermengt beides und muss folgern, dass es der Würde des Ich widerspricht, gehorsam zu sein. Er kennt noch nicht das »Selbst« – jenes Selbst, »das zu werden ich unausweichlich bestimmt bin.« (Joyce) 19.) Man könnte denken, dass Stephen am Ende der Joyce-Oper flugs in den Anfang der Simeon-Oper entschreitet – in die Rolle des 3. Ratsuchenden (in einem dritten Durchlauf der Oper könnte er dann Simeon sein – vorausgesetzt, er mutiert inzwischen vom Bariton zum Tenor). 20.) Vielleicht ist ein homerisches Gelächter die beste Waffe gegen eine Zeit, die alles und jedes zum käuflichen, betastbaren, messbaren Objekt macht. Indem man Kultur fördert, um den Fremdenverkehr anzuheizen, prostituiert man sie; das ist die Bordellsituation des 2. Aktes: Bach und ein mittelalterliches Sanctus stehen herum wie ein zur Whiskybar umfunktionierter echter barocker Beichtstuhl im Wohnzimmer manch eines heutigen Kulturträgers, samt der gotischen Madonna auf der Anrichte. Was hören wir denn, wenn wir uns in gepflegter häuslicher Atmosphäre die Matthäuspassion in der neuesten preisgekrönten Aufnahme zu Gemüte führen? In Wirklichkeit führen wir ein Environment auf, das unter anderem Bach als Klangtapete verwendet. 21.) Möglichkeit des Umschlags der äußersten Negativität (dargestellt in Lästerung und Leugnung) in gereinigte neue Erfahrung des Ursprungs. Der Lästernde prüft das Gelästerte auf Herz und Nieren. »Wieviel Wahrheit an einer Sache sei, lässt sich … am besten dadurch ermitteln, dass man sie gründlich lächerlich macht und nachsieht, wie viel Spaß sie verträgt. Denn Wahrheit ist eine spottfeste Ange-
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legenheit, die aus jeder Ironisierung umso frischer hervorgeht.« 3 22.) Vier Elementargeister: Virag kommt aus dem Schoß der Erde, Elias aus den Lüften, der Kardinal aus dem Feuer der Hölle und Bella aus dem Wasser (sie sagt zu ihrem Auftritt: »ich schwöre euch, ich bin nassgeschwitzt!«) 23.) Joyce. Die fantastisch schöne Szene im »Porträt« mit dem Berufungserlebnis am Meer. Stephen trägt ja den Nachnamen Daedalus, er ist also im mythologischen Sinn identisch mit Ikarus, dem Sohn des Daedalus. Bisher habe ich weder im »Ulysses« noch im »Porträt« den Namen Ikarus gefunden. In jener erwähnten Szene aus dem »Porträt« zeigt Joyce den Aufstieg des Ikarus-Stephen, der die Naturkraft als eine Art Rausch erlebt. Die Szene im dritten Akt meiner Oper zeigt den Absturz des Ikarus: Stephen wird zu Boden geschlagen; in seiner Ohnmacht erlebt Stephen nun eine Art Fahrt in die Unterwelt, wo er neben vielen Stimmen auch die Stimme eines Mannes hört, der vielleicht sein Vater Daedalus ist. Hier habe ich mich vom Text des Joyce’schen Ulysses völlig unabhängig gemacht; mein Stephen erlebt hier eine Art Katharsis und wacht aus seiner Ohnmacht zweifellos als ein neuer Mensch auf. Die Größe der Joyce’schen Konzeption liegt darin, dass Ikarus-Stephen seinem Schicksal nicht entfliehen kann: er muss untergehen. Meinem Stephen dagegen rufen die Stimmen zu: »Fang noch mal an!« Er wird nach einer neuen Konzeption von Kunst und Leben suchen, die nicht mehr mit dem Mythos des Daedalus abzudecken ist. 24.) Noch einmal zur Frage der Simultaneität. Erscheinen zwei Affekte gleichzeitig in einer musikalischen Form, 3
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt 1983
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so heben sie sich in einem gewissen Sinn gegenseitig auf; ebenso wird kompositorische Logik dann aufgehoben, wenn zwei verschiedene logische Systeme durch die Simultaneität aufeinander prallen – also etwa wenn in einer CollagenKomposition zwei verschiedene Stile gleichzeitig zu hören sind. Wahrscheinlich kann man ein Stück wie »Stephen Climax« erst dann voll verstehen, wenn man dieses komponierte »Aufheben« von Form und Ausdruck (ihren totalen Relativismus) mitsieht. Form und Ausdruck erscheinen als »nichtig«, das heißt, sie sind jeder Zeit durchbrechbar, zerbrechbar. – Simultaneität mehrerer gegenläufiger Formen bzw. Affekte als eine Möglichkeit einer neuen komplexen Erfahrung. 25.) Der logische Verstand ist unfähig, die Welt als Gesamtheit zu erfassen – es sei denn, er erfasst sie als eine absurde Welt. Hier liegt die Wurzel der modernen Kunst. 26.) Was verbindet einen Wüstenmönch aus der christlichen Frühzeit, wie ihn Hugo Ball beschreibt, mit dem sich selbst suchenden modernen Künstler des Joyce’schen Werkes? Jeder von beiden will sich nicht in einer geistlichen bzw. kulturellen Saturiertheit verlieren, nicht einer Gesellschaft der Erwählten oder Etablierten angehören. Er ist der Unbestechliche, der Einzelkämpfer; der, der auf eigene Rechnung lebt.
Gedanken während der Entstehung (1979/ 84) 27.) Weltsäule bei den Germanen; Trajansäule etc. In vielen mythischen Religionen bedeutet sie die Weltachse, das Zentrum – gleichzeitig »Durchbruch« einer neuen Ebene ins Weltliche hinein. Die Schamanen besteigen sie; das Volk legt Opfergaben an ihrem Fuß nieder. 158 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Mentales, phallisches, patriarchalisches Zeichen; im Gegensatz zur magischen, bergenden Yoni der Mutterhöhle Bellas. Stephen flieht vor der Aufgabe, den Anstieg zur Säule wagen zu müssen, in Bellas Bordell. Aber am Ende wird er, durch die Erscheinung der Mutter, geradezu »die Wände hinaufgetrieben« und stößt an die nächste Dimension. Aufrechter Gang, Aufrichtung der Wirbelsäule: die letzte Konsequenz ist die Säule, die den Himmel mit der Erde verbindet. (Diese Funktion wird bei den Chinesen mit »li« ausgedrückt, was sowohl Musik und Tanz wie auch Plastik bedeutet.) 28.) Seami: »Alles No ist: oben und unten in Eines bringen.« Claudel (über No): »… wie wenn das Wort stehen bliebe, um dem Gedanken Zeit zu lassen, vorüberzugehen.« Funktion des Chores im No-Spiel: wechselnd zwischen Zuschauen, Träumen, Vorausahnen, Antworten. Wichtig für No: das Träumende, »Hypnotisierte« (Claudel) in seinem Bewegungstempo. Verwandtschaft mit der christlichen Liturgie im römischen Ritus, aber auch mit dem liturgischen Drama des Mittelalters; trotzdem ein charakteristischer Unterschied: in Europa dominiert die Wachheit, die Abstraktion, die Würde. 29.) Schamanen: Nach Mircea Eliade ist im Schamanen Priester, Arzt, Dichter, Sänger und Musiker, Wahrsager und Wissenschaftler vereinigt, also unsere Arbeitsteiligkeit noch nicht vorhanden. Der Schamane sucht das Heilige, kommt zu »abgesonderten Bezirken«, sowohl in seinem Inneren als auch in seiner gesellschaftlichen Stellung und in seiner äußeren Ortswahl (heilige Bezirke). Es wird deutlich, dass unsere zersplitterte Kultur, die ihre eigenen Teilbereiche nicht mehr versteht, sich nur dann rekreieren kann, wenn sie ihre Zusammenhänge neu entdeckt: wenn die 159 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Künstler neu lernen, was Religion, Medizin, Wissenschaft ist; die Priester, was Kunst etc. ist, und so weiter. Der Sinn kann nur ein Gesamtsinn – eine Beziehung – sein. So sucht Stephen bei Joyce nach seinem »Image«; er ist ein »Schamane«, weiß es aber nicht; er kann sich nicht identifizieren. Auf der Suche nach dem Heiligen in sich stößt er zunächst auf das Ich: dieses bringt ihn, in einem ersten Anlauf zur Individuation, dazu, das Heilige zu lästern. Er muss das tun, um sich von der korrupten und verdorbenen kulturellen Umwelt zu lösen (Ball: »Die Flucht aus der Zeit«; er spricht über die Klugheit der Urvölker, ihre Genies zu schützen und als Schamanen zu erziehen; dagegen in Europa werden sie schutzlos allen zerstörenden Eindrücken ausgesetzt). Stephen muss sich des Weiteren vom Vater- und Mutter-Imago lösen (Erscheinung Shakespeares und der Mutter Stephens). Um nach vorn zu gehen, muss die Nabelschnur zerrissen werden; um Neues zu finden, muss das Alte als »alt« (als historisch) identifiziert werden. Auch Simeon ist ein Schamane; er lebt in einer ihm förderlichen kulturellen Umwelt und kann so seinen Weg radikal und störungsfrei gehen. 30.) Mutter: Matrix – Vergangenheit – Natur – Unbewusstes – Sexualität – Häuslichkeit – Geborgenheit – Gemeinschaft – Kirche – Herkommen – Brauch – Gewohnheit – Kontinuität. Stephen verdrängt die Mutter, wird schließlich von ihr »verschlungen«, im Rausch und in der Destruktion. Simeon hat sich bewusst von der Mutter gelöst – »tötet« sie damit symbolisch und erwirbt sich völlige Unabhängigkeit. 31.) Kurze Skizze unseres musikalischen Bewusstseins. Die europäische Musikkultur ist in Aleatorik und Clustertechnik untergegangen und gestorben. Jetzt wird sie mit 160 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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neuem (historischem) Bewusstsein wieder geboren: in ihrer neuen Existenz ist sie sich aller ihrer früheren Existenzen (= Stilen) bewusst, kann sich in diesen bewegen, sie mischen, neu kombinieren, eine neue Supersprache entwickeln etc. 32.) Simeon, nach den Zeugnissen seiner Biografen. Er hatte einen Lieblingsjünger und einen zweiten Assistenten, der vor der Mandra stand: Innen- und Außenminister. Er hatte eine Holzbank, gegen die er laut krachend trat, wenn er mit dem Beten fertig war. Er soll heiter und gütig gewesen sein, bis auf die Zeit seiner schweren Krankheit. Nur Störungen konnte er nicht ertragen: so und so viele Stunden am Tag durfte niemand durch die Umfriedung. Drei Rückenwirbel verschliss er im Lauf seines Lebens durch seine Gebetsverbeugungen (er verbeugte sich, weit über tausendmal pro Tag, bis zur Erde: Freiübungen eines Meditativen!); schwerste Verformungen seines Unterleibes waren die Folge des ständigen Stehens; aber das war ihm sein Beruf wert: und er wurde – bis auf ein einziges Mal – nicht krank und stand in kraftvoller Heiterkeit bis zum Ende, mit 71 Jahren. Seine Krankheit – offenbar eine schwere Infektion – war wohl die härteste Zeit seines 37 Jahre währenden Säulenstehens. Neun Monate lang befand er sich am Rand des Todes; sein Körper ging teilweise in Fäulnis über. Aber er blieb oben, und Ärzte jagte er fort. Sein Lebenssinn war das Entwickeln geistiger Kraft, jeder körperliche oder seelische Schmerz war für ihn Training. Und er behielt Recht: er wurde gesund. Er wird beschrieben als klein, kraftvoll, gedrungen; in seiner Jugend soll er ein besonders schöner Mann gewesen sein. Immerhin darf man auch hier fragen: Was hätte er gemacht ohne seinen Innenminister, der ihm die Nahrung heraufreichte und den Kot entfernte, und seinen Außen161 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
minister, der ihm die Leute vom Hals hielt und seine Botschaften weitergab? Er hätte nicht fast 40 Jahre auf der Säule bleiben können, und er hätte keine »Wirkung« auf seine Zeit gehabt. Selbst Säulenheilige sind soziale Wesen. 33.) Die Erscheinungen im Bordell müssen den Hauptfiguren zugeordnet werden. Die Erscheinung Virags zu Leopold Bloom; die Erscheinung des Elias zu Stephen; die Erscheinung des Renaissancekardinals zu Lynch. Es müssen auch jeweils sehr ähnliche Stimmen für die Sängerbesetzung gewählt werden. Die Personen müssen bis zur Selbstvergessenheit fasziniert von den Erscheinungen sein. 34.) Der Bann als eines der Grundmotive von Stephen Climax. Im 1. Akt der (spielerische) Bann Stephens (»Brot und Wein«). Im 2. Akt die Gebanntheit der Figuren während der Erscheinungen; die Bannsprüche Blooms vor dem Auftritt Bellas im 2. Akt; der Bann Bella-Circes; die Zerschlagung des magischen Lichtes durch Stephen am Ende des 2. Aktes. Im 3. Akt die Gebanntheit des Volkes durch die Polizei; dann Bloom: 1.) Freimaurerbann (das magische Element der aufklärerischen Humanität); 2.) Erscheinung seines Sohnes Rudy: das ist dann keine Magie mehr, sondern eine Vision, die zur Welt des Simeon überleitet (»Agnus Dei«). 35.) Novalis: »Unsere Sprache war zu Anfang viel musikalischer und hat sich nur nachgerade so prosaisiert, so enttönt … Sie muss wieder Gesang werden.« (Fragment 1166) Mollys Schlusskapitel im Ulysses als »totale Prosa« – im gleichen Moment entstehen elementare Sprachformen wieder neu (z. B. Hugo Balls Lautgedichte). Der große Schock für das Musikpublikum des 20. Jahrhunderts: dass auch Musik zur »Prosa« wurde, Prosacharakter annahm. 36.) Ein Säulenheiliger machte Kalligraphie auf seiner Säule; andere lebten auf Bäumen; einer saß ein Jahr auf sei162 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Stephen Climax: ein unlösbares Rätsel
nen Fersen; alle waren unfähig zu gehen, wenn sie die Säule verließen. 37.) Die Musik der Simeon-Oper und die Musik der Joyce-Oper müssten so unabhängig voneinander komponiert sein, dass man sie eventuell auch nacheinander statt gleichzeitig aufführen könnte. Aber in welcher Reihenfolge? Zuerst Stephen, und dann Simeon? Oder umgekehrt, oder einzelne Szenen beider Stücke abwechselnd? Nein, es muss simultan bleiben. 38.) Formplan der Oper: 1. Akt Introitus. Hauptbewegungsart: Gehen (alle Figuren sind ständig in Bewegung). 2. Akt Confessio-Homilie. Hauptbewegungsart: Sitzen bzw. Knien: das Sofa im Bordell; das Knien während der Erscheinung des Elias, das Knien in der Konfessionsszene bei Simeon. Das Kauern der verzauberten Männer in den Käfigen. 3. Akt: Exitus. Hauptbewegungsart: Liegen bzw. Getragenwerden. Der ohnmächtige Stephen, die tote Mutter; der Abgang beider; der unbeweglich wachende Bloom. 39.) Labyrinth als Grundtyp der Gesamtform. Charakter des Labyrinthes nicht nur horizontal im Raum der Bühne, sondern auch Vertikal, durch die zeitliche Simultaneität der beiden Handlungen. Labyrinth im Quadrat: zwei Handlungen, die sich zu verschiedenen historischen Zeiten abspielen, beeinflussen sich doch durch ihre synchrone Erscheinung. Escher auf dem Theater!! Das Bild des Labyrinths als Symbol der Kunst: ein Kunstwerk ist so komplex, dass das Bewusstsein es nicht durchschauen kann; rationale und irrationale Elemente in unlösbarer Verschränkung. 40.) Zusammenhang Herzschlag – Schritt. Zusammenhang Herzschlag – Gedanke. 163 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
Beim Puls 200/Minute betragen die Dauern der Systole bzw. der Diastole also je ca. 400/Minute. (Bei der physischen Höchstbelastung ca. 230/Minute, würden sie also ca. 460/Minute betragen). (Die maximale Möglichkeit von Puls ist 400/Minute, jedoch kann dieser Wert nicht mehr richtig muskulär weiter geleitet werden.) Immerhin kommen wir, bei dem Wert 400 deutlich in die Nähe der mittelalterlichen »Nu«-Zahl 367/Minute! Der mögliche Höchstwert beim Schnelllauf scheint auch genau in dieser Gegend zu liegen. Die Funktion des Metrums hängt also mit dem Phänomen Systole – Diastole zusammen: Jeder Wert ist unterteilt zu denken. Das würde mein Denken über den Rhythmus bestätigen. Absolute Zeit-Quanten sind sinnlos: Ein rhythmischer Wert ist erst dann definiert, wenn er als unterteilter Wert erscheint. Was ist das anders als der Versfuß? Dies eröffnet neue Perspektiven für die Arbeit mit rhythmischen Reihen. 41.) Noch einmal zur Frage der Supersprache durch die Kombination mehrerer musikalischer Stile in einer formalen Einheit. Wenn ich zwei Sprachen kombiniere, bildet sich als Summe ein Drittes (eine spezielle Schwingung, aus Gegensätzen erzeugt!), und als Differenz muss sich eine gemeinsame Wurzel erkennen lassen. Mehrsprachigkeit im musikalischen Bereich ist nicht per se eine Lösung oder ein billiges Rezept, sondern eine schöpferische Aufgabe, die vom Individuum immer neu gelöst werden muss. Die Gesetze der Wahrnehmung müssen respektiert werden; nicht alles geht – wie es uns der Computer weismachen will! 42.) Aristoteles: »Die Natur ist eine Dämonin, keine Göttin.« Dem würden wahrscheinlich sowohl Joyce wie alle Säulenheiligen zustimmen.
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43.) Die Joyce-Handlung spielt am Abend zwischen neun und elf Uhr; Die Handlung der Simeon-Oper spielt am frühen Vormittag. Der alte chinesische Meister Chi Chi beschreibt, wie in der Fantasie von Meditierenden mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit bestimmte Tierhalluzinationen auftreten können. Er beschreibt die Visionen für alle Doppelstunden des Tages. Zwischen neun und elf Uhr morgens erscheinen Schlangen; und zwischen 21 und 23 Uhr erscheinen Schweine. 44.) Ich finde herrliche Stellen bei Artaud: »Wichtig ist die Schaffung … von Perspektiven von einer Sprache zur anderen. Das Geheimnis … ist die Dissonanz, die Staffelung der Klangfarben und die dialektische Entfesselung des Ausdrucks.« Das Theater ist für ihn »eine Art von allumfassender Schöpfung, in der der Mensch bloß noch seinen Platz zwischen dem Traum und den Ereignissen wiedereinzunehmen braucht.« 45.) Im traditionellen Operntheater vertritt die Musik die Sphäre des Magischen (Rituellen), das Bühnenbild die Sphäre des Mythischen (des Erscheinenden), die Sprache die Sphäre des Mentalen (des Begrifflich-Rationalen). Wenn Artaud vom Theater Rückkehr zur »Grausamkeit« der magisch-mythischen Sphäre verlangt, so muss er konsequenterweise gegen Wort, Handlung, Logik etc. sein; im Grunde fordert er eine Musikalisierung des Theaters. Eine Wiedergeburt der Opernregie müsste hier ansetzen: verstehen, dass der »Schrei«, den Artaud als Grundlage des Theaters fordert, eben die Musik ist. Um allerdings zu einem wirklich umfassenden modernen Theaterbegriff zu kommen, darf man das Wort und die Handlungselemente nicht grundsätzlich aussperren; man muss nur ihre Alleinherrschaft, ihren Vorrang verhindern. Wie kann man diese Vorherrschaft des Mentalen in der Oper brechen? Ein Weg 165 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel VIII
ist die Entwicklung einer Autonomie der Medien – ein Medium dient nicht mehr zur Kommentierung oder Verzierung eines anderen. Auf diese Weise können neue Theaterformen entstehen. Die erste Möglichkeit ist das Multimedia-Theater; allzu oft kann man hier allerdings die Erfahrung machen, dass die autonom gewordenen Medien sich gegenseitig stören, oder dass keinerlei Evidenz für ihre Koppelung zu finden ist; das Ergebnis ist manchmal etwas Revueartiges. Die zweite Möglichkeit wären »Splittertheater«, wie Happenings, instrumentales Theater, klingende Plastiken etc. Drittens: Montagen von Teilen verschiedener klassischer oder moderner Stücke zu einem neuen Ganzen, wie sie große Regisseure im Schauspiel und auch große Choreographen wie Béjart oder Neumeier oft gemacht haben; diese Möglichkeit ist für die Opernbühne meines Wissens noch nicht genutzt worden. Eine letzte und für mich wesentliche Möglichkeit würde darin liegen, alle in der klassischen Oper gekoppelten Medien zwar weiter gekoppelt zu lassen, diese Medien aber zu vervielfachen und dadurch ihre bis dato eindeutigen Bezüge zu vieldeutigen werden zu lassen: mehrere Handlungen, Musiken, Bilder, und die Interferenzen, die sich zwischen ihnen bilden – eben diese schaffen die neue, surreale Sprache, um die es geht. 46.) »Der Dialog … gehört nicht eigentlich zur Bühne, er gehört ins Buch.« (Artaud) Bei der Überlagerung zweier Dialoge allerdings ist das etwas anderes; diese ist genuin musikalisch. 47.) In den kultischen Festen des alten Korea spielten immer zwei Orchester: eines war hoch, ein anderes tief platziert; ein Yang- und ein Yin-Orchester, verschiedene Besetzung, verschiedene Ton- und Spielarten.
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Stephen Climax: ein unlösbares Rätsel
48.) Das Motiv des »Judengriechen« bzw. des »Griechenjuden« bei Joyce. Stephen ist, als europäischer Intellektueller, Judengrieche bzw. Griechenjude, denn Europa ist durch die Vereinigung der jüdischen mit der griechischen Tradition in der Kirche geschaffen worden – Bloom: Jude; Lynch: Grieche; das Vater- und Sohnprinzip projiziert. 49.) Stephen wollte einmal Priester werden (wie ja auch Joyce). Auf eine verwandelte Weise bleibt aber alles, von dem sich ein »Ketzer« unter Mühen emanzipiert hat, weiter für ihn wichtig und wirksam. So wimmelt es bei Joyce von Zitaten aus Liturgie, Theologie, Kirchengeschichte und katholischem Brauchtum. 50.) Sehr starker Eindruck durch ein Interview von Carl Friedrich von Weizsäcker. Er sieht sein Bewusstsein aus drei Quellen gespeist: – aus der griechischen Philosophie, das heißt aus dem Wahrheitsbegriff der Griechen (daraus entstand auch das wissenschaftliche Bewusstsein der Neuzeit; ich füge hinzu: auch der europäische Kunstbegriff). – durch das jüdisch-christliche Erbe als Ethik (daraus entstand die neuzeitliche Humanität und Mitverantwortung, das heißt auch der moderne Politikbegriff). – durch das indische Erleuchtungsbewusstsein, das heißt durch Meditation (also durch ein Denken, das im Gegensatz zu dem Gut-Böse- und Wahr-Falsch-Gefälle der beiden anderen Quellen auf Nichtunterscheidung beruht). Weizsäcker sagt, dass er keine logisch nahtlose Koordinierung dieser drei Quellen in sich herstellen kann; er glaubt nur an die Identität bzw. an die Nichtgegensätzlichkeit dieser drei Quellen – daran, dass keine Quelle die andere ausschließt. Er lebt mehrschichtig.
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Kapitel VIII
51.) Durch die ganze Oper zieht sich ein Netz von »Koinzidenzen«, »Epiphanien« (um den Titel eines Jugendwerkes von Joyce hier zu zitieren): von plötzlichen Durchblicken, die entstehen durch zeitlichen Zusammenprall von Ereignissen, welche kausal nichts miteinander zu tun haben. Dazu können auch Geräusche oder Bewegungen gehören – oder Erscheinungen, wie die des kleinen Rudy am Ende. Es sind gedehnte Augenblicke, in denen der Verstand einen Moment lang stillsteht vor Überraschung.
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Kapitel IX
Versuche III Nietzsche hat die Welt als ein sich selbst erzeugendes Kunstwerk bezeichnet. Hat man einmal bedacht, in welche Abgründe von Theologie wir dadurch geführt werden? Unser Denken droht hier in unklaren, quasi pantheistischen Positionen zu verschwimmen. Lou Salome, Freundin Nietzsches und Schülerin von Freud, scheint geradezu schlafwandlerisch eine Mitte zwischen den so weit auseinanderliegenden Grundpositionen von Freud und C. G. Jung gefunden zu haben; und das zu einer Zeit, als die beiden Protagonisten noch mitten in der Entwicklung ihrer eigenen Systeme begriffen waren und sich gehörig bekriegten. Ist es nicht erstaunlich, hier Gedanken bei Lou Salome zu finden, die für den heutigen Leser wie eine Korrektur von dezidiert weiblicher Seite an den machohaften Extremen der beiden männlichen Denker wirkt? Was Intelligenz und vielfältige Bildung angeht scheint sie jedenfalls den beiden Großmeistern keineswegs unterlegen; man sollte ihren Gedanken wohl entschieden mehr Aufmerksamkeit zuwenden als bisher geschehen. Geradezu genial in ihrer Vorwegnahme späterer philosophischer Positionen (wie etwa die von Ernst Bloch) hört sich folgender Satz von ihr an: »… Vorwegnehmen des Zukunftsvollen, dass es schon in der Gegenwart mitlebt: als ein innerer Zukunftsbesitz vor dessen äußerer Auseinanderbreitung. In solchem Sinn konnte auch der »primitive«, 169 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel IX
primär-religiöse Mensch seine Gottheiten erschaffen, als deren Abkömmling er sich zuversichtlich fühlte, wenn er an animalischer Kraft dem stärkern Tier zu unterliegen drohte.« 1 In diesem Denkansatz schlummert vielleicht auch die Möglichkeit, Freuds und Nietzsches Religionskritik zu überwinden: dieses Vorwegnehmen der Realität der Zukunft ist nicht Vision, Fantasie, Wunschdenken, sondern Wirklichkeit des Zukünftigen in seinem Keim. Zukunft als ankommendes Jetzt; nicht etwa in die Zukunft versetzte Möglichkeit des Jetzt (in der letzteren Form wäre Glaube noch etwas Defizientes). Dagegen Freuds Abwehr »reiner« Philosophie; die idée fixe, dass man das denkerische Bedürfnis bekämpfen müsse, wenn man eine einheitliche Ordnung seiner Vorstellungen erreichen will. Hier bricht der unbestechliche Wissenschaftler Freud eine Lanze für den berechtigten Einspruch der lebendigen Erfahrung. Das heißt nichts anderes, als sich nicht in der Theorie und ihrer abstrakten Ordnung zu verlieren, sondern rechtzeitig auf die von der Praxis gespeisten Erfahrungen zurückzugreifen. Von Freuds neuen Erkenntnissen war schon zu seinen Lebzeiten der Todestrieb immer wieder umstritten. Gibt es ihn wirklich? – Es mag die optimale Anpassung an das »Schicksal« oder an den »Willen Gottes« geben, die Krankheit und Tod als solche annimmt. Es mag auch die gänzliche Aufopferung als äußerste Sublimation geben. Aber ein Trieb strebt immer zum Leben. Es gibt sowohl den Selbsterhaltungstrieb wie auch einen Trieb zur völligen Verausgabung der eigenen Kräfte. Die Vernunft fordert, beide Triebe in Balance zu halten, 1
Zitiert nach: In der Schule bei Freud, Max Niehans Verlag, 1958, S. 29
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Versuche III
während das Lebensfeuer zur völligen Verausgabung drängt. Nikodemus (Joh. 3,5): »Wasser und Geist«. Lesen wir diese beiden Begriffe als Synonyme für »unbewusst und bewusst«. Dem Geistträger kommt das ihm bisher Unbewusste zu Bewusstsein. Taufe: Bewusstsein der Geistsendung. Das bis dato Unbewusste wird als bewusst wiedergeboren, indem der Getaufte sein Selbst als Wille und Geist wahrnimmt. Der christliche Theos will nicht gedacht werden ohne den Sohn – dieser ist die Welt. Deswegen kann die Welt bzw. der Mensch auch nicht unabhängig von dem Gott gedacht werden. Was das bedeutet, könnte uns vielleicht ein Stück weit die Philosophie des Neuplatonismus lehren; aber deutlicher sagt es das Denken des Zen: Das Eine ist das Viele und das Viele das Eine; ku ist shiki und shiki ist ku. Diese Art mit Paradoxen umzugehen ist charakteristisch für den Zen. Das Unbegreifliche kann nur als Paradox versprachlicht werden. Gibt es »Wahrheit« erst in einer Welt mit Sprache? Oder heißt Wahrheit einfach: offenlegen (nicht verstecken)? Offen / verborgen; bewusst / unbewusst? Die Wahrheit des Logos ist uns als endlichen Wesen nicht zugänglich; im Unbewussten tragen wir sie verschlüsselt in uns. Um den Kern des Unbewussten fassen zu können, müsste sich das Bewusstsein unendlich ausdehnen, so wie es die Zeit in einem unendlichen Prozess tut. »Bewusst« heißt: wissend, dass das »unbewusste Wissen« identisch ist mit dem Bewusstsein der absoluten Wahrheit.
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Kapitel IX
Bis zum Ende unseres Lebens sollten wir überzeugt sein, dass immer noch Zeit ist, um das Nächstschlimmere zu verhüten. Hört man genau auf die Stimme der Evangelien – besonders der Synoptiker –, so findet man jene Freiheit zum moralischen Handeln, welche ebenso weit von einer »pharisäischen« Gesetzlichkeit wie von der Hybris des »autonomen« Subjektes entfernt ist. Schon Augustin brachte mit seinem Satz »Etiam peccata« auf geradezu provozierende Weise das Neue der christlichen Haltung zum Ausdruck. Auch Fehlhandlungen, »Sünden«, können eine positive Funktion in der individuellen Entwicklung eines Menschen haben. Wie soll man das verstehen, ohne gleichzeitig einer unverantwortlichen Schrankenlosigkeit zu verfallen? – Vielleicht gibt es die Möglichkeit, die Verführung zum »sogenannten Bösen« nicht primär als angeborenen Hang zum Bösen zu betrachten, wie es in der Erbsündenlehre geschieht, sondern auch, und vielleicht in größerem Maße, als so etwas wie einen notwendigen Tribut an unsere tierische Abstammung. Die Notwendigkeiten der Ernährung und Fortpflanzung legen uns als Teil der sich entwickelnden Natur eine unvermeidliche Last von natürlichem Egoismus auf, der uns immer wieder zwingt, moralische Gesetze schon durch unser pures Dasein zu verletzen: Wir essen, während andere hungern; wir pflegen unsere Gesundheit und Kultur, während andere untergehen. Es gibt überhaupt keine moralischen Gesetze, bevor der Mensch sie erfindet, aufstellt und sich daran hält. Der Begriff »Sünde« scheint eher ein Warnschild, denn das, was wir gelernt haben, als Sünde zu bezeichnen, ist auch Selbstverletzung und Schädigung der Gesellschaft. Damit ist die Entscheidung über Gut und Böse an uns zurückgegeben: sie 172 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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unterliegt letztlich der Abwägung durch unser eigenes Gewissen. Ziehen wir Freud zu Rate, so finden wir eine Charakterisierung des Gewissens als eine ausschließlich kritische Instanz. Das Gewissen muss dem Ich Fehlleistungen vorwerfen, wenn es bestimmte Normen nicht erreicht bzw. überschritten hat. Für Christen eröffnet Zen die Möglichkeit, durch verschiedene Übungswege sich in die Situation des Blinden, des Lahmen, des Tauben zu versetzen, die dem »Sohn« im Evangelium begegnen. Sie zeigen die Situation des Menschen in dieser Welt: krank, heimatlos, ausgesetzt, aus dem Dunkel kommend und nur eine einzige Sicherheit vor Augen: den Tod. Zen eröffnet die Möglichkeit, die biblische Offenbarung als unmittelbar gegenwärtig zu erleben; als in der Gegenwart fortwährend geschehende Geschichte. Im Gegensatz zum Mythos und zur Theologie gibt es dafür im Zen keine Bilder oder Begriffe, wir selber sind der Blinde, Lahme und Taube des Evangeliums. Wir brauchen die Zenübung, um die Erzählung in individuell Erlebtes zu wandeln: nicht etwa um irgendwelche »Erleuchtungsinhalte« zu empfangen, sondern um immer wieder leer von jeglichen Inhalten zu werden. Das buddhistische MU (»nichts«, oder auch »nicht«) ist die Koinzidenz von Ich und Wir: denn was hier zu »nichts« werden soll, ist das Gefühl der Wichtigkeit des eigenen Ego. Um die Kraft des Religiösen für unsere Zeit neu zu entdecken, scheint es dringend notwendig, sich auf die andere, die vernunftkritische Seite des religiösen Denkens zu besinnen; deswegen ist es gewiss kein Zufall, dass sich zwischen Christentum und Buddhismus, insbesondere in der 173 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel IX
Form eines christlichen Zen, eine Allianz gebildet hat. Diese Allianz kann, wenn nicht alles täuscht, jene Erfahrung von Unheimlichkeit inmitten unserer Gegenwart, welche schon Nietzsche als Nihilismus bezeichnet hat, auffangen. Das Wort Nihilismus könnte einen Bedeutungswandel vom Inbegriff des Skeptizismus zu einer hoffnungs- und vertrauensvollen Hingabe an das Leben und zur Intuition des Lebendigen durchmachen. Nihilismus würde dann auch die Loslösung von allem falschen Vertrauen auf die Sicherung der Zukunft durch Technik und Wissenschaft bedeuten. »Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt.« Um die vor ihm liegenden riesigen Aufgaben zu lösen, muss sich der Mensch auf die Quellen seiner eigenen Produktivität verlassen. Natürlich wird er sinnvollerweise die Technik als Hilfsmittel gebrauchen, aber er muss alle Aufmerksamkeit darauf wenden, der immer untergründig wirksamen Tendenz der Technik zur Manipulation und letzten Endes zur Steuerung des Menschen nicht zu erliegen. Nur die Intuition wird das schaffen; sie wird auch zu einer Erneuerung der religiösen Kräfte führen, ohne die ein epochaler Bewusstseinswandel nicht gelingen kann. Vielleicht hängt die Skepsis gegenüber der Religion im heutigen Westen, die verbreitete Müdigkeit und Verkümmerung der religiösen Sphäre mit dem alten vergeblichen Versuch zusammen, die Religion unbedingt als vernunftgemäß ansehen zu wollen. »So saget doch, lieber Herr, was soll denn meine Vernunft anfangen, wenn sie so gänzlich ledig stehn muss ohne alle Betätigung? Ist das wirklich der nächste Weg, wenn ich mein Gemüt in solch ein halb Erkennen halb Unerkennen erhebe, das es doch garnicht geben kann? … soll ich also in völliger Finsternis stehn?« – »Ja gewiss! du kannst garnicht besser stehn, als wenn du dich ganz in Finsternis, in Unwis174 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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sen versetzest.« … »Was ist aber das, diese Finsternis, wie heißt es, welches ist sein Name?« – »Man könnte es nur nennen: eine Möglichkeit und Empfänglichkeit, die doch bereits der Wirklichkeit nicht ermangelt, die zum Inhalte nur hat: dass du vollendet werdest.« 2 In der Fokussierung der Selbstlosigkeit sind Christentum und Buddhismus identisch. Was das Denken in negativer Theologie angeht, könnten sie es werden. Jesus wie Shakyamuni deuten auf »den Menschen«: den Geistmenschen. Trinität ist das Ganze – nicht die Einheit. Das Ganze ist die sich reproduzierende »Familie« des Daseins: eine begrenzte Vielheit bzw. eine erweiterte Einheit. Der christliche Gott ist also nicht nur ku / shiki, bzw. Einheit / Vielheit, sondern noch etwas Drittes. Dieser Gott ist nicht nur Trinität, sondern er hat die Schöpfung und uns ins Leben gerufen: Er schaut uns zu, er will uns in seine Familie aufnehmen; Simone Weil sagt, dass er damit etwas herschenke und ein Weniger an Göttlichkeit behalte. Deswegen erscheint der Gottmensch beladen mit den Sünden der Welt. »Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.« Erfahren wir hier durch den »Sohn« die Identität von Gott und Mensch als die tiefste Wahrheit des Lebens? Die Wahrheit im Sinne von einer bestimmten Wahrheit kann es für den Einzelmenschen nicht geben. Alle Gottesbilder sind eben Bilder. Das einzig wahre Bild ist das Nicht-Bild: der Sohn, der Mensch. Nicht ein Bild, sondern Identität. »Ich und der Vater sind eins.« (Joh. Von der ewigen Geburt / Vier Predigten, Meister Eckharts Schriften und Predigten 2
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10,30) Die Ganzheit Gottes ist für uns die Erfahrung der Ganzheit des Lebens als Einheit des Lebens im Individuum. Nur durch die Zweiheit von Vater und Sohn wird für uns die Ganzheit des Gottes hergestellt; damit wird sie auch in unserer Reflexion gespiegelt. Zerbricht der Spiegel, werden unendlich viele Einzelheiten geboren anstelle der einen Einheit. Trotzdem bleibt der Sohn Sohn, der Vater Vater: ku und shiki (nicht als Spiegelgleichheit, sondern als die Differenz des Spiegelbildes zum Original). Jesus sagt zu Thomas: »Selig, die nicht sehen und doch glauben.« – Warum ist das so? Weil nur so die schöpferische Mitwirkung des Einzelnen beim Akt des Glaubens zustande kommt. Die Betonung dieser schöpferischen Mitwirkung darf uns allerdings nie dazu verführen, die durch die Hilfe des Geistes möglich gewordene bisherige geschichtliche Erfahrung zu vergessen. Glaube ist die aktuelle Energie, die wir aufbringen müssen, um das Heilige in uns lebendig zu halten. Das Heilige ist nicht, es lebt. Es entsteht im Prozess des Lebens. Wir müssen die Art des Heiligen »hervorbringen«, welche dem Wesen Mensch entspricht: das, was wir Geist nennen. Unsere Arbeit an der Menschwerdung ist dieses Bewusste, in Verantwortung Hervorgebrachte. Alle unsere Werke in den Religionen, Künsten, Wissenschaften, unsere Mythen und Liturgien sind Mittel zum Zweck, nicht selber schon heilig oder fehlerfrei. Das genau konnte die Tradition nicht sehen, sie brauchte die Metaphysik, welche den Glauben auf ihre Weise definierte. Der Glaube als Magie (opus operatum) hat einmal funktioniert: eine letzte Form des Fetischismus. Aber unser Bewusstsein erlaubt diesen Glauben heute nicht mehr ohne weiteres; wir müssen direkt zum Konkreten kommen.
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»Nicht wer zu mir ›Herr, Herr!‹ sagt, sondern wer den Willen meines Vaters tut …«: Kein anderer als Jesus ist der Begründer der Aufklärung. Aufklärung über das Religiöse ist Mündigkeit des Menschen – und damit »Sohnschaft« im christlichen Sinn. Man muss heute aber hinzufügen: Aufklärung bedeutet nicht Vergessen oder gar Verachtung des Archaischen. Sie bedeutet vielmehr die Notwendigkeit, die magischen und mythischen, sich mit dem Irrationalen verbündenden Kulturen genauer zu analysieren, tiefer zu verstehen und in ein komplexes modernes (»mentales«) Bewusstsein zu integrieren. Dieses verlangt dann den äußersten Grad an kritischer Reflexion auf das, was heute geschieht oder gedacht wird. »Vater Gott« ist als Metapher ein biologischer Terminus und verlangt als Ergänzung »Mutter Gott«. Der Ausdruck »Mutter Gott« erscheint uns aber unsinnig und führt uns in Konflikt mit unserer archetypischen Tradition. Denn Gott ist Geist, Mutter dagegen meint das Fleisch des biologischen Lebens. »Et lux in tenebris lucit.« (Joh.1, 4–5): »tenebrae« sind die Verdunkelungen der Individuation durch den noch herrschenden Egoismus; »lux« ist die Aufklärung dieser Verdunkelung durch mushotoku, die Selbstlosigkeit. Michel Henry: Das Absolute nicht als das im Außen gefasste Dasein, sondern einzig als »die Liebe, ewig im Innen in sich ruhend« – nicht als die Differenz, sondern als die Einheit. Dies scheint die einzige Möglichkeit, dem Pantheismus zu entkommen. Erscheint hier das Ich nur noch als Chiffre für das transzendentale Ich des mystischen Leibes, in dem alle Iche aufgehoben sind? C. G. Jung ermutigt uns dazu, das insbesondere durch Thomas a Kempis’ Buch »Nachfolge Christi« weit verbrei177 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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tete Ideal einer »Imitatio Christi« so zu verstehen, dass es mit der eigenen Individuation kompatibel wird und so von der Imitatio zur Productio, zum individuellen schöpferischen Tun sich entwickelt. Jede religiöse Gruppenbildung, jeder Konfessionalismus, scheint uns heute nicht nur ungeeignet für die Ausprägung unserer eigenen Individualität; wir haben auch die Schattenseiten zu deutlich vor Augen, die alle kollektiven Überzeugungen begleiten. Das gilt sogar auch für Schulbildungen in Kunst und Wissenschaft. Im Zeitalter des Pluralismus muss es als Norm gelten, alle Urteile mit der Bereitschaft des nebeneinander Gelten-Lassens anzusehen. (Man betrachte dagegen etwa die eklatanten Fehlurteile der Schönbergschule (Adorno) über den klassizistischen Strawinsky). So können wir in der modernen Kunst eine Skepsis gegenüber Stilbildung im Allgemeinen feststellen; dafür sind die Tendenzen zu einer Durchlässigkeit der Stile, ja zu einer Mischung und zu einer letzten Endes pluralistischen Struktur – sogar verschiedene Jahrhunderte umgreifend – gewachsen. Diese Tendenzen können sowohl in den als Zerrbilder oder Schreckbilder auftauchenden »surrealistischen« Formen wirksam werden wie auch als Parodie und Spiel mit den starren Grenzen von definierten Stilkreisen. Mathematik als reine Repräsentation der Wahrheit: Die Lüge ist ausgeschlossen; sie wäre ein Rechenfehler. Das Johannesevangelium spricht in seinem ersten Kapitel sowohl vom »wahren Licht« (der Vernunft), als Leben in der Realität von shiki, wie auch vom »wahrhaftigen Licht« (Alethinos), das die Wirklichkeit von ku beschreibt. Wir müssen aber darüber hinaus auch noch lernen, gleichzeitig bzw. abwechselnd in ku und shiki zu leben: nämlich im 178 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
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Logos des Alltags wie im Logos der religiösen Wirklichkeit. Diese quasi »schizophrene Situation« auszuhalten, zu erkennen, zu akzeptieren und zu leben, heißt: »bewusst leben«. Alle Antichristen im Sinne Nietzsches haben manchmal gegen ihre eigene Intention zum Ausdruck gebracht, dass der Glaube, soweit er sich nur auf die Vernunft der Sprache stützt, ungenügend ist, ja zu einer Form der Lästerung werden kann. Auch für Freud gilt das. Für ihn beginnt das erwachsene Denken mit der Entwicklung des Ichbewusstseins: durch seine Trennung vom Ganzen und der so bewirkten Teilung in Subjekt und Objekt. Das, was er »erwachsenes Denken« nennt, ist aber das falsche, einseitige Denken des heutigen Realitätsbegriffs, welcher die volle Wirklichkeit und Vieldimensionalität der menschlichen Natur verloren hat. Freud stellt die Welt sozusagen auf den Kopf. Die Fülle der Wahrheit können wir nur gewinnen, wenn wir zu der »Realität« der Logik und Naturwissenschaft, die wahrhaftige Wahrheit des Glaubens erwerben, so paradox sie immer erscheinen wird. Ohne das Paradox ist der Glaube in der Tat infantil. Im Zentrum des Christentums als Religion steht das Leiden, und zwar das freiwillig ertragene Leiden, als Bedingung des Lebens ohne Wenn und Aber. Die Einheit des Sohnes mit seinen Jüngern besteht gerade darin, dass das Leiden als persönlich ertragenes ein von allen angenommenes allgemeines Gesetz ist: ein Gesetz der Evolution, ja der Schöpfung im Ganzen. Die Phase der Geburt, die nicht ohne Schmerzen vor sich gehen kann. Die Welt leistet mit ihren produktiven Prozessen einen Beitrag zur Schöpfung. Dabei entstehen auch unvermeidliche Schwächen, Minderwertiges, Lügenhaftes, »Böses«. Der »Sohn« schleppt es mit sich als die Sünde der Welt. 179 https://doi.org/10.5771/9783495821169 .
Kapitel IX
Zweifellos entspricht es der größtmöglichen Ehrfurcht vor Gott, ihn weder sich vorzustellen noch Aussagen über ihn zu machen, noch ihn anzureden, noch ihn nur zu denken, noch zu glauben. Also kann es äußerlich (d. h. in der »Wahrheit der Welt«, Michel Henry) keinen Unterschied zwischen Atheismus und Theismus geben. Aber es gibt die Liebe: die Berührung durch etwas Höchstes, die Antwort, die sich in uns bildet. Sie ist nicht sinnlich, wird aber doch empfunden. Sie ist kein intellektuell interpretierbarer Sinn, aber doch evident. Sie ist geistig: ein Wehen. »Niemand hat Gott je gesehen.« Und doch wollen wir in seinem Anblick ruhen. Wir müssen uns ins Antlitz Jesu vertiefen, als in das Antlitz eines Menschen, der ganz in Gott versunken ist. Dann sehen wir den Abglanz des Blickes des Sohnes auf den Vater – und können zur Ruhe kommen. Aber nur in einem einzigen Augenblick kann der Mensch mit dem Sohn als seinem Urbild wirklich eins werden: im Augenblick seines Todes. Hebr 11,1–2: »Glaube ist Feststehen in dem, was man erhofft – überzeugt sein von dem, was man nicht sieht.« Was man erhofft, ist das, was man sich wünscht (Freud!) und in aktiver Weiterführung des Erhofften hervorbringt. Glaube ist identisch mit Gottvertrauen und Lebenskraft. Mythenbildung und Bilderverehrung gehören mit zum Glauben. Denn mit ihnen schafft sich der Mensch das Material, das er braucht, um vom angeschauten Mythos zur vollendeten Wahrheit zu kommen, die ein Tun ist. »Alle deine Werke sollen damit belohnt sein, dass dein Gott um sie weiß und dass du ihn darin im Sinn hast; das sei dir allzeit genug. Und je unbefangener und einfältiger du ihn
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Versuche III
im Blick hältst, umso eigentlicher büßen alle deine Werke alle Sünden ab.« 3 Insofern wir Gott in uns leben fühlen, beginnen wir ihn in seiner Doppelgestalt als Vater und Sohn zu erkennen. Der Logos fällt zusammen mit der Bewusstwerdung dieses »Gott-in-uns«. »Jeder Monotheismus ist eine naive Religion.« (Michel Henry) Diese kann nicht verstehen, dass Gott nur durch einen »Gott-in-uns« erkannt werden kann. Deswegen kann der Logos auch nicht von Anfang an bei den Menschen sein (Vgl. Joh 1,11–12). Erst wenn der Mensch an die Schwelle des zu sich selbst kommenden Bewusstseins gelangt, kann er den Logos als WEG und WAHRHEIT für sich erkennen: so stellt sich eine individuelle Entsprechung zur historischen Geburt Christi dar: Der Sohn wird als »Logos-in-uns« geboren. Die Menschheit bittet seit Urzeiten ihre Götter um Beistand. Der Mensch muss aber auch Gott »beistehen«. Die Geschichte der Welt ist so gelaufen, wie sie es ist: die Natur und ihr Ursprung haben zusammengewirkt, die Evolution hat gegen den Zufall gekämpft und unvorhersehbare Lösungen gefunden; die Einzelwesen sind entstanden und folgen den gleichen Handlungsmustern auf ihre Weise. Jetzt kann man nach zwei Seiten weiterdenken: entweder ohne Gott – dann sind wir es, die, soweit wir können, für die Welt sorgen müssen. Oder mit Gott, den wir als das Heilige verehren und seinen Willen geschehen lassen. Dann tragen wir gemeinsam mit dem Logos das Kreuz der Welt. Aus genügendem Abstand betrachtet, scheint das Leben nicht eine Ansammlung von einzelnen Schmerzen und
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Meister Eckhart, »Von der wahren Buße«
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Kapitel IX
Freuden zu sein; es hat vielmehr die Gestalt eines großen Geburtsprozesses. Was müssen wir lernen in der Zeit unseres Lebens? Uns sicher zu bewegen im Chaos der Welt, inmitten von Irrtum und Wahrheit (Zauberflöte 2. Akt: Durchschreiten von Feuer und Wasser!). Der Buddhismus steht unserm Ich-Begriff sehr kritisch gegenüber; er neigt dazu, diesen Begriff selber bereits als Täuschung auszulegen. Versuchen wir in einem Gedankenspiel das Wort »Ich bin der Herr, dein Gott« auszulegen als »mein Selbst ist mein Herr und Gott«. Das klingt vermessen, denn aufgrund unserer letzten Überlegungen könnten wir dann den Gedanken weitertreiben und sagen: »das Selbst ist eine Schöpfung des Menschen, und der Gottesbegriff ist unentbehrlich für dieses ›Konstrukt‹.« Dabei wird aber vergessen, dass überall die Liebe im Mittelpunkt stehen muss; für diese scheint unser intellektuelles Spiel keinen Platz mehr zu lassen. Wollen wir aber in unserem Selbstwerdungsprozess eines unserer vielen Iche festhalten, ja ein einziges favorisieren, landen wir immer wieder in shiki, der unverbindlichen Vielfalt. Wir bedürfen der Liebe des Sohnes. Der Sohn ist unser einziges stabiles Ich – und das heißt: unser Selbst. Er, der Freund, leitet uns durch die Landschaften der Masken unserer Individualität, denen wir verfallen, immer wieder. In seiner unsrer Ichlosigkeit liegt das Ziel.
Worte, fliegt weg! Löst euch ab von den Fesseln eurer Bedeutung! Vögel seid ihr, nicht tote Klötze zum Zählen,
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Versuche III
Seid auf der Reise in unbekannte Länder, niemand kennt euer Ziel! Worte, fliegt weiter! Rastet nicht an lieblichen Orten! Wolken seid ihr, windgetragen, kommend und gehend, Schafft sie neu, die Gestalt der Welt!
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