Denken hören – Hören denken: Musik als eine Grunderfahrung des Lebens 9783495811115, 9783495488638


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Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
Musik zwischen Logos und Pathos
I.
II.
III.
»Ein Heer von Gestalten«
Hören als Fragen
Pierre Boulez – zu seinem Tode
Hör- und Denk-Tagebuch
Exkurs: Dirigieren als angewandtes Hören
Der Johannesprolog und das Hannya Shingyo – Versuch eines Vergleiches
Johannes I, 1–17 (Wort-für-Wort-Übersetzung des griechischen Textes)
Hannya Shingyo (Versuch einer deutschen Fassung)
Versuch eines Vergleiches
Fragen zum Johannesprolog
Zum »Hannya Shingyo«
Weitere Fragen zum Johannesprolog
Weitere Aspekte des Hannya Shingyo
Zusammenwirken beider Texte
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Denken hören – Hören denken: Musik als eine Grunderfahrung des Lebens
 9783495811115, 9783495488638

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Hans Zender

Denken hören – Hören denken

Musik als eine Grunderfahrung des Lebens VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495811115

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B

Hans Zender Denken hören – Hören denken

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

»Das künstlerische Denken, das auf dem Denken der Sinne beruht, stellt sich seine Zeichen – in der Musik also: seine Klänge – nicht vor, sondern lebt unmittelbar in ihnen, badet, watet, schwimmt in ihrer Materie und gestaltet aus ihr neue geistige Lebensformen. Ich nenne das Musikdenken das ›flüssige Denken‹« – so Hans Zender. Im Hintergrund seines vielschichtigen kompositorischen Werks stehen grundlegende philosophische Fragen: Wie ist das Verhältnis von Logos und Mythos? Was bedeutet Wahrheit in der Kunst? Wo liegen die Grenzen der Rationalität? In neueren Aufsätzen und in seinem Hör- und DenkTagebuch berührt Hans Zender diese und andere große Themen. Im Dialog mit Texten der religiösen und philosophischen Weltliteratur – vom I Ging bis zu Nietzsche, von der Bibel bis zum Herz-Sutra – zeigt er, daß es gerade die Paradoxa und Grenzgänge des Denkens sind, die ein Kunstwerk zum Elementarereignis machen.

Hans Zender, Jahrgang 1936, ist einer der renommiertesten deutschen Dirigenten und Komponisten. Er war von 1964 bis 1987 Chefdirigent und Generalmusikdirektor in Bonn, Kiel, Saarbrücken und Hamburg. Rege internationale Gastspieltätigkeit, u. a. in Bayreuth, Salzburg und den Berliner und Wiener Festwochen. Von 1988 bis 2000 war er Professor für Komposition an der Musikhochschule Frankfurt. Zu seinen Hauptwerken gehören die Opern »Stephen Climax«, »Chief Joseph«, »Don Quijote de la Mancha«, sowie »Logos-Fragmente«, »Shir Hashirim«, »Hölderlin lesen I–V«. Seine »komponierte Interpretation« von Schuberts Winterreise wurde zu einem weltweiten Erfolg. Zahlreiche Ehrungen und Preise, darunter der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt. Bücher zur Musik: »Die Sinne denken«, »Waches Hören«.

https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Hans Zender

Denken hören – Hören denken Musik als eine Grunderfahrung des Lebens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: G. F. Ris: Rot-schwarzes Bild 1990, Acryl 100 � 100 cm, Sammlung Herbert Wuppermann Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48863-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81111-5

https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Inhalt

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik zwischen Logos und Pathos

9

. . . . . . . . . . .

12

Gespräch mit Johannes Picht über die »Komponierte Interpretation« von Beethovens Diabelli-Variationen . . . . . .

37

»Ein Heer von Gestalten«

Hören als Fragen Zum Tode von Heinz-Klaus Metzger . . . . . . . . . . . .

52

Pierre Boulez – zu seinem Tode . . . . . . . . . . . . .

54

Hör- und Denk-Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Der Johannesprolog und das Hannya Shingyo Versuch eines Vergleiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

5 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Das Buch ist Constanze Eisenbart in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet.

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Zur Einführung

Will man die Kunst des Hörens lernen, so muß man den Kopf leeren, das Denken auf Empfang stellen und sich ganz auf das konzentrieren, was man hören will – ob es sich um eine Botschaft handelt, die aus unserm Innern kommt, oder etwas, das uns aus dem Bereich des Äußeren erreicht. Während der Zeit des Hörens müssen wir wie unter einer großen Glocke abgeschlossen sein; es darf keine Ablenkung an uns herankommen, insbesondere müssen wir dann, wenn wir versuchen, auf uns selber zu hören, darauf achten, daß unser eigenes Denken und Empfinden nicht überlagert wird von dem tausendstimmigen Chor der Erfahrungen, Erinnerungen und Konventionen, welche uns daran hindern, als ein »Ich« zu hören. Der Wille muß das Denken also dazu bringen, sich entspannt zu öffnen; nicht etwa dazu, sofort kritisch zu reflektieren. Die Zeit der kritischen Verarbeitung des Gehörten wird kommen, aber sie kann nur sinnvoll genutzt werden, wenn wir bis zum Grunde gehört haben. Insbesondere Kunstwerke können durch eine Haltung, die sich bloß informieren will, niemals verstanden werden – sie verlangen eine Auseinandersetzung, die den ganzen Menschen betrifft, nicht nur seinen Intellekt. Die Musik der Moderne mußte die schwere Aufgabe auf sich nehmen, in einer Zeit, die man mit Recht das »optische Zeitalter« genannt hat, ihre durch die Entwicklung unserer Kultur notwendig komplexeren Strukturen hervorzubringen und sie dem durch die Massenkommunikation in den Medien flüchtiger und oberflächlicher ge9 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Zur Einführung

wordenen heutigen Rezeptionsprozeß auszusetzen. Diese Strukturen zu entziffern, erfordert besondere Konzentration, bedeutet aber auch, eine durch nichts zu ersetzende Quelle zu gewinnen, in der sich die Spiegelung der abgrundtiefen Wandlung, die wir als Menschheit zur Zeit erfahren, in allen Details abbildet. Etwas philosophische Ruhe kann da wohl eine gute Unterstützung sein, um in den Künsten alle Fragen, welche die Menschheit in den Bereichen der Politik wie der Wissenschaft beschäftigen, in symbolischer Form wiederzufinden. Seit Beginn meiner künstlerischen Arbeit habe ich eine Art Denktagebuch geführt, um mir Notizen zu machen und allgemeine Erfahrungen und Einsichten aus allen Lebensgebieten mit meiner künstlerischen Arbeit zu vergleichen. Ich füllte ein Schreibheft pro Jahr; jedes der an die 60 Hefte ist vollgestopft mit spontan entstandenen Bemerkungen über die verschiedensten Gegenstände. Einen Teil des Ertrages des vergangenen Jahres findet man in dem »Hörund Denk-Tagebuch« dieses Bandes; man wird dort, wie in zunehmenden Maß in meinen übrigen Textveröffentlichungen der letzten 20 Jahre, eine intensive Auseinandersetzung mit Georg Picht finden, der nicht nur ein unvergleichlich großer Religionsphilosoph, sondern von Haus aus auch ein hochbegabter Musiker war. Ich zitiere nach der Gesamtausgabe des Klett-Cotta-Verlages, insbesondere aus »Der Begriff der Natur und seine Geschichte« und »Geschichte und Gegenwart«. Picht war wohl der erste deutsche Philosoph, welcher erkannte, daß die ökologische Problematik nicht nur die Umwelt als Natur betrifft, sondern – da Naturgeschichte und menschliche Geschichte nicht zu trennen sind – in gleichem Maße auch die Kunst und Kultur als geistige Umwelt des Menschen (eine Einsicht, zu welcher die professionellen Umweltpolitiker immer noch nicht 10 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Zur Einführung

vorgestoßen sind). Ferner beschäftigten mich der Philosoph und Sinologe François Jullien, die Übersetzung, die Raoul Schrott von Hesiods »Theogonie« samt gründlichem Kommentar vorgelegt hat; und wieder neu: Jean Gebsers »Ursprung und Gegenwart« und Michel Henrys Bücher in der Übersetzung von Rolf Kühn. Ikkyus geniale Gedichte begleiten mich seit 40 Jahren, auch auf meinem kompositorischen Weg; eine gute Auswahl seiner Dichtung mit einer Biographie gibt es bei Hollym International Corp New Jers. Auch der das Buch abschließende Vergleich des Johannesprologs mit dem »Hannya Shingyo« hängt aufs Engste mit meiner kompositorischen Arbeit zusammen: der Johannesprolog ist ein Fragment des abendfüllenden »Canto IX«: das »Hannya Shingyo« entstand nur wenig später als Auftragsarbeit für das Yomiuri Orchester Tokio. Der Essay »Musik zwischen Logos und Pathos« wurde im Auftrag der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung 2015 geschrieben; das Gespräch mit Johannes Picht über meine »komponierte Interpretation« von Beethovens Diabelli-Variationen entstand als Beitrag zum Booklet der CD-Aufnahme durch das Ensemble Modern. Die Nachrufe auf Pierre Boulez und Heinz-Klaus Metzger entstanden im Auftrag der Zeitschrift »Musiktexte«. Constanze Eisenbart danke ich herzlich für Hilfe bei den Korrekturen; ebenso meiner Frau für ihre nie nachlassende Geduld in der Verbesserung von sprachlichen und sachlichen Details und Kristoffer Hug für unschätzbaren Beistand am Computer.

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Musik zwischen Logos und Pathos

»Die Sinne springen auf in die Gedanken.« Meister Eckhart

I. In der chinesischen Sprach- und Schrifttradition hat das Schriftzeichen für »Musik« noch eine zweite Bedeutung. Es heißt dann: »Freude«. In der Tat gibt es wenig in unserem Leben, das eine solche Fülle an beglückenden Energien für uns bereithält, wie es die Musik tut – und das auf mehreren und ganz verschiedenen Ebenen. Zunächst ist da die aktuelle sinnliche Freude an Klang und Farbe. Die Musik als klangliches Phänomen überrascht uns durch ihr plötzliches Erscheinen und bewirkt bei uns durch diese Überraschung eine Distanz zu uns selber. Im Augenblick der künstlerischen Faszination steht für uns nicht mehr unser persönliches Ich-Bewußtsein im Mittelpunkt, sondern das Leben als Ganzes, in dem unser kleines Ich nur einen Seitenplatz innehat. Wir erleben im Hören den Klang als eines der Urphänomene unserer sinnlichen Wahrnehmung; und wir erleben durch das Hören die Einbettung des Klangs in die fließende Zeit: auf analoge Weise wie wir durch das Sehen der Augen den Raum erfahren und seine Gliederung durch Gegenstände und Formen. Zweifellos denken wir, wenn wir Musik hören. Wenn 12 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

ich diesen Satz ausspreche, liegt darin die Absicht, von vornherein einige Mißverständnisse auszuschließen. Allgemein herrscht die Vorstellung, Musik zu hören oder gar sie zu bewerten, sei eine Sache der Gefühle, und diese seien ganz und gar der individuellen Empfindung überlassen. Gefühle sind aber noch keine Formen der Mitteilung: dazu bedarf es Zeichen. Musik ist eine Sprache aus Klangzeichen. Erst wenn Klangzeichen unterschiedlicher qualitativer Beschaffenheit in einen Zusammenhang treten und sich zu einem neuen Ganzen verbinden, kann man von Musik sprechen. Klangzeichen, die sich im Lauf der zeitlichen Dauer eines Musikstückes zu einem sich immer neu knüpfenden Netz formen, nimmt der Hörer zu seiner Freude wahr, indem er ihre Muster in einem spielerischen, zunächst halb unbewußten, allmählich wachen und intelligenten Prozeß entschlüsselt. Wir bewegen uns beim Hören in der Zeit, setzen die Töne zu mehr oder weniger langen Strecken zusammen, die wir als Einheiten empfinden; wir empfinden auch die Verschiedenartigkeit solcher Einheiten, unser Hörbewußtsein wird durch diese Verschiedenheit geweckt und geprägt. Mit einem Wort: wenn ich sage: »Musik ist ein Denken mit den Sinnen«, so gebrauche ich das Wort »denken« nicht im Sinne von Kant, also als vorstellendes Denken von Subjekten; sondern ich rede von einer tieferen Schicht des intelligenten Wahrnehmens, welche die Intelligenz nicht abschneiden will vom ganzheitlichen, also auch affektiven Empfinden. Dieses »Denken« in der Ton-Sprache ist nicht identisch mit dem Denken in der Wortsprache. Letzteres haben wir als ein folgerichtiges, gegenständliches, mit unserem praktischen Leben eng verbundenes Denken erlernt; jedes ihrer Zeichen – die ebenfalls »Klangzeichen« sind – hat eine be13 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

stimmte festgelegte Bedeutung, und wir haben uns daran gewöhnt, die Sprache der Worte als das Instrument unseres rationalen, die Wirklichkeit vor-uns-stellenden, sie sichuns-vorstellenden Denkens zu betrachten. Dieser Charakter der Sprache ist ein Ergebnis einer langen Entwicklung, in der die Sprache von einem komplexen Ausdrucksmittel allmählich zu einem Instrument des objektivierenden, die Umwelt genau beschreibenden Denkens geworden ist. Jean-Jacques Rousseau spricht geradezu von einer Mathematisierung der Sprache, und zwar im Sinne einer allmählichen Degeneration der Sprache, die so ihre ursprünglichen Fähigkeiten des Poetischen, Rhetorischen, überhaupt ihrer emotionalen Ausdruckskraft verliert. Hier nun kommt Rousseau auf den Gedanken, daß es die Musik sei, die der Sprache in dieser Lage beistehen könne, ihre immer unsinnlicher und nüchtern-technisch werdende Erscheinungsform wieder ganzheitlich werden zu lassen; der Ton, meint er, sei ja das Zentrum der Ausdruckskraft der Musik, und dessen Erscheinungsform die Melodie. Die Griechen, welche Sprache und Musik in ihrer Kunstform der Musike techne zu einem nicht trennbaren Amalgam verschmolzen, hatten nach seiner Meinung die in Wortbedeutung und Satzkonstruktion erscheinende Gegenständlichkeit der Sprache mittels der irrationalen Ausdruckskraft der Musik im Gesang zur vollendeten Gestalt gebracht. Was Rousseau hier übersieht, ist, daß auch die Melodie nicht nur spontane Geste des Gefühls, sondern auch, wie die Sprache, Konstruktion ist: keine Melodie ohne das Tonsystem, in dem sie sich definiert; kein Tonsystem, schon mal gar kein griechisches, ohne die Intervallberechnungen, welche ihrerseits ohne die zugehörige Mathematik nicht denkbar gewesen wären. Schon auf dieser Entwicklungs14 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

stufe muß die Musik also, wie die Sprache, als eine selbständige Fügung aus konstruierter Form und irrationaler Affektivität angesehen werden – was Rousseau in seinen Gedanken über die Musik de facto auch nicht abstreitet; im Gegenteil findet er in der Entwicklung der Musik von der puren Einstimmigkeit bei den Griechen (die er richtig als Folge reiner Spektren beschreibt) bis hin zu seiner eigenen Zeit eine analoge rationalistische Entartung und »Verkrustung« wie die, welche die Sprache in ihre Krise geführt hat. Dazu gehören die Erfindung der quantifizierten Rhythmik, Mehrstimmigkeit und eine sich immer reicher entfaltende Polyphonie, schließlich eine autonome Harmonik, welcher Rousseau jedoch alle Ausdruckskraft abspricht, obwohl sie doch den musikalischen Sinn der Melodie aufs vielfältigste steigern und modifizieren kann. Was in seinem Denken trotzdem bemerkenswert und vielleicht erst aus heutiger Perspektive verständlich ist, scheint mir die strikte Weigerung, die Kunstgeschichte als Fortschrittsprozeß anzusehen. Seit der Notre-Dame-Schule, spätestens seit der Ars nova lösen sich die verschiedenen musikalischen Epochen in Europa in dem Bewußtsein ab, jetzt etwas Neues, Niedagewesenes an das vorherige Alte anzuschließen und damit einen Fortschritt – sei es in struktureller Komplexität, sei es in expressiver Intensität – zu realisieren. Wagners Leitspruch »Kinder, schafft Neues!« führt schließlich direkt zur revolutionären Grundeinstellung der modernen Avantgarde. Vor diesem Hintergrund scheint Rousseaus Vorstellung von einer in der Vergangenheit liegenden klassischen, stets als Leitbild zu betrachtenden Vollkommenheit der Künste reaktionär und unfruchtbar. Wir werden aber im Lauf unserer Überlegungen den revolutionären Begriff der Moderne bis zur Postmoderne und darüber hinaus verfolgen, und da wird sich heraus15 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

stellen, daß Rousseau mit seinen hinterwäldlerisch scheinenden Thesen etwas vorausgeahnt hat, das wir heute als den verdrängten Schatten des dominierenden Fortschrittsbewußtseins erkennen können: die Vergangenheit ist gar nicht vergangen. Nicht nur wäre ohne eine im Gedächtnis bewahrte Vergangenheit der Fortschrittsgedanke gar nicht denkbar; wir erleben heute eine Wiederkehr scheinbar vergangener Epochen sowohl in den schrecklichen Rückfällen in endgültig überwunden geglaubte Barbarei wie auch in den sich neu ins Bewußtsein einschreibenden vergessenen kulturellen Hoffnungszeichen früherer Zeiten. Dazu gehört fundamental die enge Verbindung von Sprache und Musik in den frühen Schöpfungen nahezu aller Hochkulturen, wie sie Rousseau in seiner Hervorhebung der griechischen Musike techne betont; nicht aber seine rein subjektivistisch gedachte Interpretation der Musik als einer Sprache der Affekte. (Nietzsche wird diese Interpretation bald in der »Geburt der Tragödie« als eben durch den Subjektivismus längst zur »Vorstellung« gewordene Begriffskonstruktion enttarnen.) Das künstlerische Denken, das auf dem Denken der Sinne beruht, stellt sich seine Zeichen – in der Musik also: seine Klänge – nicht vor, sondern es lebt unmittelbar in ihnen, badet, watet, schwimmt in ihrer Materie und gestaltet aus ihr neue geistige Lebensformen. Ich nenne das Musikdenken das »flüssige Denken«, da hier die Klangzeichen von jeder festen externen Bedeutung freigehalten werden; sie bedeuten nur sich selber – im Gegensatz zu dem »gefrorenen Denken« der Wortsprache, das durch die an ihm haftenden Vorstellungen, das heißt von Bedeutungen bildhafter oder begrifflicher Art fixiert ist. Im Gegensatz zur Wortsprache findet sich die Musik nicht eingebunden in die Tätigkeit der Benennung und Entzifferung der Gegenstände, in die sogenannte Realität unserer alltäglichen 16 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

Auseinandersetzungen, Kämpfe und Unternehmungen. Ihr Tun ist spielerischer Art; oberflächlich betrachtet scheint es die Welt nur zu spiegeln, nicht zu gestalten. Die Musik bewegt sich nicht nur in unserem Kopf; jeder musikalische Mensch spürt, wie sie auch in den Körper eindringt und ihn in Schwingung versetzt. Hören wir Musik in Gemeinschaft mit anderen Menschen, so spüren wir eine unwillkürliche Verbundenheit mit ihnen; Geist und Körper, Bewußtes und Unbewußtes klingen harmonisch zusammen: deswegen bedeutet Musik zu Recht auch »Freude«. Sie berührt in uns das, was wir Gefühle nennen, und verbindet so die Entzifferung der musikalischen Muster frei mit unserem Lebensvollzug. Wir befinden uns jetzt bereits auf einer zweiten Ebene der Wahrnehmung von Musik: auf ihr versuchen wir die Musik zu »verstehen«, indem wir mit unserer Reflexion in die Welt ihrer Formen eindringen. Diese beruhen auf einem proportionalen Denken von Tonschwingungen und rhythmischen Folgen, deren Bau sehr einfach oder auch von abenteuerlicher Kompliziertheit sein kann. Durch ihre Beschreibung in Worten entsteht dann eine weitere hochkomplexe Denkstruktur, noch komplexer als es etwa das mathematische Denken ist, mit dem das musikalische oft verglichen wird. Denn obwohl die musikalische Form ohne Rest in Zahlenproportionen beschreibbar ist und sich als Zahlenkonstruktion bis ins Detail der Analyse darbietet, ist damit noch nichts von dem berührt, was die rätselhafte Intensität ihrer Wirkung auf unsere Psyche angeht. Das musikalische Denken scheint in einzigartiger Weise die rationale mit der irrationalen Seite unseres Geistes zu verbinden. Durch den der Menschheit aufgegebenen Weg einer allmählichen Bewußtwerdung aller Vorgänge des Lebens 17 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

ergibt sich für die Musik im Lauf ihrer geschichtlichen Entfaltung allmählich eine Zweiteilung ihrer Erscheinungsform: Eine immer mehr ihrer selbst bewußt werdende, dann sich kritisch selber steuernde Musik, für die wir heute das Wort »Kunst« benutzen, setzt sich von einer anderen ab, die – hier durchaus im Sinne Rousseaus – instinktive Unmittelbarkeit zu bewahren sucht und die wir als unterhaltend, volkstümlich und unbelastet vom Gewicht der geschichtlich überlieferten Kunstformen empfinden. In unserer heutigen kulturellen Situation hat die Verbreitung und Pflege solch unterhaltender Musik eine nie dagewesene Übermacht über die sogenannte Kunstmusik erlangt; es wäre aber vollkommen verfehlt, darin die natürliche Dominanz einer Musik der unverstellten Freude erblicken zu wollen, welche aller Belastung durch die Problematik des gesellschaftlich geprägten Bewußtseins entgehen könnte. Vielmehr kann man am Zustand der heutigen Popund Unterhaltungsmusik sehr leicht die Verstrickungen ablesen, welche der Kunst, nicht anders als allen anderen Sparten von Kultur, Politik, Recht usw., zu schaffen machen. Schon der Mythos warnt vor den Wirkungen einer Musik, welche das Bewußtsein in den vorgegaukelten Glückszustand einer passiv genießenden Natur zurücksaugt. Odysseus verstopft sich die Ohren und läßt sich an den Mastbaum fesseln, um ihr nicht zu erliegen. Ikarus stürzt ab, weil er nicht die kluge Kunstfertigkeit seines Vaters Daidalos erlernt hat, welcher den Rausch des Fliegens, auch des geistigen Flugs der Fantasie, durch strenge Bewußtseinskontrolle der Entwicklung des Menschen dienstbar macht. Es gibt kein »Zurück zur Natur!« ohne Regression des Bewußtseins. Versetzen wir uns einen Moment in einen glücklichen Naturzustand der Musik, wie ihn uns Rousseau entwerfen 18 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

würde, wie wir ihn aber auch ähnlich in den wunderbaren Schriften der alten Chinesen beschrieben finden. Voraussetzung für die vollkommene Freude der schöpferischen Arbeit ist da die vollkommene Selbstlosigkeit der Hingabe: jegliche Art von Absicht, Streben nach Geld oder persönlichem Vorteil, ja sogar jede Anpassung an schon gegebene kulturelle Gewohnheiten würde diese Freude mindern oder zerstören. Im äußersten Kontrast dazu erleben wir in der heutigen Pop-Musikindustrie eine mit riesigen Summen hantierende hochorganisierte Kommerzialisierung, welche alle, die hier mitspielen wollen, zu marktgerechtem Konformismus verpflichtet. Alles ist von Anfang an auf optimale Verkäuflichkeit angelegt, genau wie es auch in anderen Branchen der Wirtschaft üblich ist. Damit verglichen mutet das heute ebenfalls sich clever und geschäftsmäßig gebende Konzert- und Opern-Management recht bescheiden an, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß auch hier fast überall in immer steigendem Maße die kommerzielle Absicherung und nicht die künstlerische Lebendigkeit den Ausschlag gibt. Allein gelassen und fast völlig isoliert finden sich diejenigen Musiker am Rande der Existenzmöglichkeit wieder, welche sich, etwa als Mitglieder eines der wenigen Ensembles für neue Musik, verstehen als Produzenten oder ausschließliche Vermittler der unmittelbar frisch entstehenden und noch nicht durchgesetzten Musik: jener Musik, die noch heute allein aus innerer Notwendigkeit und Freude am Schöpferischen, ohne Blick auf Geld oder eine sogenannte Karriere, entsteht. Es geht hier nicht um Moral, sondern um die wichtigste Voraussetzung der Kreativität. Die künstlerische Energie muß beim einzelnen Künstler der allein ausschlaggebende Gesichtspunkt seiner Handlungen sein, sonst kann sich seine geistige Energie nicht zu dem ihm erreichbaren Maximum ballen. Für einen Staat, 19 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

der öffentliche Kunstförderung als seine Aufgabe betrachtet und diese Aufgabe wirklich ernst nehmen würde, bliebe die finanzielle Unterstützung nichtkommerzieller, aber auf höchstem künstlerischem Niveau arbeitenden Gruppen der erste und wichtigste Auftrag, denn hier entfaltet die neue Musik das innerste Gesetz der abendländischen Kultur: die unlösbare Verbindung von Erinnerung und Neuformung unserer Geschichte. Die Musik hat uns etwas zu sagen, was nicht anders als eben durch Musik zu sagen ist. Dies beim Namen zu nennen, ist aber außerordentlich schwierig. Sehr schnell passiert es in unserer arbeitsteiligen, zur Einseitigkeit neigenden Gesellschaft, daß die Vertiefung auf der einen Seite in die strukturellen, auf der andern in die psychologischen und tiefenpsychologischen Aspekte der Musik eine gewisse Fremdheit zwischen den Fachdisziplinen der Wissenschaftler und der musikalischen Praktiker erzeugt. Oder um es etwas derber auszudrücken: der Praktiker – das weiß ich von meinen eigenen Anfängen sehr gut – schließt sich schnell in seiner persönlichen, in sich konsistenten Sphäre ab und pfeift auf die in seinen Augen höchst überflüssige, weil bloß wiederspiegelnde fiktive Welt der sprachlich-wissenschaftlichen Reflexion; der Wissenschaftler dagegen schaut oft genug und sehr zu Unrecht auf das Tun der Praktiker wie auf eine naive, eher geistlose Aktivität herab. Das Problem vertieft sich, wenn man von der Musik einen unmittelbaren gesellschaftlichen Nutzen oder gar ein politisches Bekenntnis erwartet. Dies kann die Sprache der Worte und Begriffe leisten, nicht aber die Musik. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki hat deswegen die Musik als eine Hure bezeichnet, welche sich bedenkenlos in den Dienst jeder beliebigen Ideologie stellen lasse. Auf die Idee, daß sie uns eben nur nichtverbale Botschaften mitzuteilen habe, ist er 20 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

leider nicht gekommen, was im Zeitalter der Tiefenpsychologie und der Hirnforschung doch erstaunlich ist. Diese nichtverbalen Botschaften der Musik aufzufangen, ernst zu nehmen und zu vermitteln ist dann allerdings per se ein politischer Akt, welcher den Menschen als lebendiges Wesen in all seinen Fähigkeiten – und nicht nur als »animal rationale« – gelten läßt. Wenn möglich in noch radikalerer Weise als die übrigen Künste hat die Musik in unserer Gesellschaft die »Funktion der Funktionslosigkeit«, wie es Adorno unübertrefflich ausgedrückt hat. In ihrer offensichtlichen gesellschaftlichen Nutzlosigkeit verkörpert sie eben die Verweigerung des Gebrauchs in der durchorganisierten Gesellschaft und bewahrt so die Kraft des individuellen ethischen Widerstandes gegen totalitäre und gegen ausschließlich quantitativ gehandhabte demokratische Prinzipien. Deswegen ist sie nicht »politisch«, darf es nicht sein, um ihre geistige unabhängige Kraft nicht zu schmälern. Wäre sie nur die verstärkende Stimme der gesellschaftlich fortschrittlichen Gesellschaftsenergien, so würde sie nichts als eine Ästhetisierung der Politik bedeuten, die das subversive utopische Potential der Kunst, das sie einfordert, wieder verspielen würde. »Kunst ist Kritik als Praxis von Unfreiheit, damit hebt ihre Wahrheit an.« (Adorno) Konkret läßt sich sagen, daß der Stellenwert der Musik in den Bildungsprogrammen von heute in grotesker Weise niedrig ist, sodaß weder die mit keiner anderen Weltkultur vergleichbare Bedeutung der traditionellen europäischen Musik noch die ihrem Grundimpuls der schöpferischen Erneuerung entspringende moderne Kunst verantwortlich der Zukunft vermittelt werden. Ihre unglaubliche individuelle Vielfalt droht in einem immer stärker entdifferenzierenden medialen Sumpf unterzugehen. War die Musik in Antike 21 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

und Mittelalter den Wissenschaften gleichgeordnet und stand im Barock zusammen mit der Theologie im Zentrum der Erziehung, so findet sie sich samt der antiken und christlichen Tradition vom Siegeszug der Naturwissenschaften immer mehr auf einen marginalen Platz verdrängt. Noch mehr gilt dies von der Massengesellschaft, in der sie lediglich als Unterhaltungsware geschätzt wird.

II. Hier liegt auch der Grund für die in unserer kulturellen Region bedrohlich zunehmende Ahnungslosigkeit der politischen Kaste betreffs Kunst und Kultur. Wie die breite Öffentlichkeit der »Musik-Konsumenten« fassen Politiker heute Musik meist als eine etwas ausgefallene Nische unserer Kultur auf, in der Arbeitsprozesse zur Herstellung von Produkten zweifelhafter Wichtigkeit stattfinden. Was Musik eigentlich ist, wird immer weniger verstanden. Dies ist zum Teil auch eine Schuld der Musiker, die sich oft einer Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Kunst verweigern und diese weder erklären noch verteidigen können. Sie leben noch im Bewußtsein jener glücklichen Zeiten unserer Klassiker, in denen die Musik, wie alle Kunst, als direkt dem absoluten Geist entfließend, bzw. zu ihm hinführend, verstanden wurde. Das – und nicht etwa primär die Unabhängigkeit von der Sprache – ist ja der eigentliche Sinn der Bezeichnung »absolute Musik«, welche die Avantgarde des 20. Jahrhunderts in naiver Selbsttäuschung von der Romantik übernahm. Sie ist nicht denkbar ohne Hegels Lehre vom absoluten Geist. Diese ist aber, wie alle Metaphysik nach Hegel, durch die geschichtliche Entwicklung zergangen. Die heutige tech22 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

nische und materialistische Gesellschaft hat vergessen, daß die Künste, die Religionen und alle Humanwissenschaften der unentbehrliche Humusboden für jegliches Gedeihen des Wesens Mensch sind, sowie die Grundlage seiner Kreativität. Sie zeigt uns in aller Deutlichkeit, daß Kultur nicht von alleine entsteht. Kultur ist nur als unter Mühen geplante und mit Opfern immer neu hervorgebrachte Eigenleistung zu haben. Das zu erkennen, ist für die Künstler lebenswichtig geworden. Die wissenschaftlich-technische Zivilisation, in der wir leben, ist eine Gesellschaft, welche auf der Erstellung von Produkten, und dem Handel damit, beruht. Diese Produkte sind zu beschreiben als Kopien von Modellen, die durch Maschinen hergestellt werden. Die Arbeit des Künstlers dagegen ist Produktion im Sinn von Neuproduktion von Unikaten: der Künstler arbeitet wie die Natur, welche niemals Kopien liefert, sondern nicht-identische Neuschöpfungen. Er befindet sich also heute schon durch sein normales Tun in einem nicht überbrückbaren Widerspruch zu unserer Zivilisation. Er lebt in ihr wie ein Fremder bzw. wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Ich habe hunderte Male bei Diskussionen erlebt, wie es Politikern, Medienvertretern, Mitgliedern von Gremien, welche über die Existenz kultureller Institutionen entscheiden, unmöglich war, dieses Problem in seiner Tiefe zu erfassen. Unser Bewußtsein ist heute bis ins Mark geprägt durch das Paradigma des technologischen Denkens; es fällt uns schwer zu erkennen, daß ein Kunstwerk von Haus aus nicht ein käufliches Objekt, daß künstlerische Arbeit nicht ein beliebig quantifizierbarer und entsprechend honorierbarer Prozeß ist, sondern daß ein Kunstwerk wie eine Pflanze wächst und nur unter bestimmten Bedingungen gedeiht. Die Existenz von Kunst in unserer Gesellschaft ist in der gleichen Weise ge23 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

fährdet wie die Existenz von dem, was wir als »Natur« bezeichnen. Niemand, noch nicht einmal Adorno, hat das so präzise beschrieben und begründet wie Georg Picht, dessen Buch »Kunst und Mythos« Pflichtlektüre aller sein sollte, die für Kunst und künstlerische Institutionen verantwortlich sind. Die ökologische Bewegung hat uns zwar gelehrt, den unser Leben bedrohenden Konflikt zwischen den Ansprüchen unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der sich nach den Gesetzen des Marktes und des Geldes richtenden Eigendynamik der Industrie zu erkennen und nach Kräften zu steuern; daß die gesamte Sphäre von Kunst und Kultur als natürliches Entwicklungsfeld unseres Fühlens und Denkens und damit als Grundlage der Menschlichkeit aber in der gleichen Weise gefährdet ist wie das, was wir »Natur« nennen, scheint seltsamerweise gerade den Vertretern einer fortschrittlichen Ökologie nicht verständlich zu sein. Zu sehr wird Kultur immer noch als Domäne einer sogenannten elitären bürgerlichen Hochkultur mißverstanden. Die Konservativen hingegen, längst infiziert von den Maximen des Marktes, glauben Kultur durch ihre Anpassung an die Gesetze dieses Marktes retten zu können – sie wollen den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Im Musikleben honoriert werden vor allem die hochgezüchteten und deswegen meist entsprechend einseitigen Spezialisten und Stars, während doch das Heilmittel unserer Probleme nur in einer größtmöglichen Vielseitigkeit des Einzelnen liegen kann: in der Verbindung von künstlerischer Praxis und schöpferischer Intelligenz. Die Griechen nannten diese Verbindung Poiesis, und nicht etwa Theoria: das heißt Fortsetzung des schöpferischen Tuns der Natur, und nicht Entwerfen von Modellen zur mechanischen Nachahmung. Die innere Haltung, für schöpferische Erneuerung zu 24 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Musik zwischen Logos und Pathos

kämpfen, anstatt ein Museum perfekt zu verwalten: wie ist sie für den reproduktiven Künstler anders zu erreichen als durch aktive Teilnahme an dem, was in der neuen Musik mit oder ohne unsere Zustimmung vor sich geht; durch persönliches Engagement im Prozeß ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung? Nur so ist unsere Musikkultur zu retten – nicht durch eine noch so umfassende Pflege der Tradition allein. Auch wenn das einem sich am äußeren Augenschein Orientierenden absurd erscheinen mag: wir können das Lebensrecht von Kunst in unserer Gesellschaft nur durch die Kunst unserer Zeit verteidigen, sei diese auch noch so unpopulär und problematisch; andernfalls wird unsere Musikkultur ihrem Ende zueilen. Um die extremen Mittel zu rechtfertigen, welche die neue Musik bisweilen gebraucht, genügt es nicht, auf ihre Protesthaltung gegenüber der technischen Zivilisation hinzuweisen, wie es die Frankfurter Schule ausführlich getan hat. Als mindestens ebenso schwer zu lösende Problematik erweist sich die neue Situation, in die uns die Moderne durch ihre für die Geschichte erstmalig gleichzeitige und gleichberechtigte Anwesenheit aller Weltkulturen, Religionen, Rechts- und Wirtschaftssysteme gestellt hat. Georg Picht benutzt zur Kennzeichnung dieser neuen kulturellen Lage den von André Malraux geprägten Ausdruck »Musée imaginaire«. Im modernen Museum hängt die gotische Madonna neben der Landschaft von Cézanne; neben dem Cézanne steht das Urinal von Duchamp. Die so behauptete Gleichartigkeit der Kunstwerke vor einer universalen ästhetischen Konstante begründet eine ganz neue Problematik. Ich zitiere Picht: »Diese Universalität hat einen ästhetischen Tatbestand geschaffen, der heute auf jede Art von künstlerischer Produktion in unkalkulierbarer Weise zurückwirkt: die Omnipräsenz der Kunstformen und Stile al25 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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ler Zeiten und aller Kulturen. Noch nie in der Geschichte waren für das künstlerische Bewußtsein alle ästhetischen Möglichkeiten, die je entdeckt worden sind, gleichzeitig gegenwärtig. Heute sind sie uns durch Museen, Ausstellungen, Reproduktionen, Schallplatten und Massenmedien sowie durch ein in heterogene Stile und Welten subtil eindringendes Kunstverständnis unausweichlich nahegebracht.« Picht hat hier, längst bevor die Postmoderne in der Kunstwelt zu einem Modebegriff wurde, die ihr zugrunde liegende neue Gegebenheit jeder heutigen künstlerischen Arbeit exakt beschrieben. Bei Bernd Alois Zimmermann heißt diese neue Situation »Kugelgestalt der Zeit«: indem wir alle kulturellen Positionen der geschichtlichen Zeiten neu ins Bewußtsein heben, erfahren wir uns als geschichtliche Wesen, und unsere Kultur als ein in der Geschichte gewachsenes Kontinuum. Was wir auch tun, wir müssen diese Geschichte interpretieren, uns von ihr absetzen, sie fortsetzen oder sie bewußt umwälzen; nur ignorieren und tabuisieren können wir sie auf Dauer nicht. Wir sind hier an einem Punkt der geschichtlichen Entwicklung, an dem der Fortschritt selber uns zu einer expliziten Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit, das heißt mit seiner Geschichte, zwingt: und wer würde hier nicht an Rousseau denken, der mitten im vorwärts stürmenden Denken seiner Zeit schon deutlich die verdeckte Rückseite dieser dominanten Tendenz erkannte! Besser als das inzwischen schon wieder problematisch gewordene Wort »Postmoderne« würde für die Gesamtsituation der Kunst, wie sie Picht beschreibt, der jüngere Begriff »Metamoderne« passen. Ich zitiere aus dem 2015 erschienenen Büchlein von Robin van den Akker und Timotheus Vermeulen »Anmerkungen zur Metamoderne«: »Auf ontologischer Ebene oscilliert die Metamoderne zwischen 26 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Moderne und Postmoderne. Sie pendelt zwischen modernem Enthusiasmus und postmoderner Ironie, zwischen Hoffnung und Melancholie. … Indem sie hin und her und vor und zurück schwingt, verhandelt die Metamoderne zwischen Moderne und Postmoderne.« Diese Oszillation wird beschrieben als ein Pendel, das zwischen vielen Polen schwingt und das nicht zu einem Zustand der Balance führt. Eine Dynamik, welche sowohl als modern wie auch als postmodern auftritt, welche weder das eine noch das andere, oder beides zugleich ist, wird entworfen: »Die Metamoderne besteht in der Spannung, nein, der Zwickmühle zwischen dem modernen Wunsch nach Sinn und dem postmodernen Zweifel am Sinn überhaupt.« Betrachten wir die geistige Situation eines heutigen Komponisten, so sehen wir ihn allein seiner persönlichen Freiheit und Verantwortung ausgesetzt; keine kollektive Verbindlichkeit, keine vom Meister auf den Schüler vererbte stilistische Haltung kann ihm helfen, sich zu orientieren. Folgt er dem Weg der Stilentwicklung, wie er nach Wagner sich abgezeichnet hat, so wird er ohne Zweifel in den Strudel einer extrem individualistischen Entwicklung geraten. Denn das erste, was die geschichtliche Entwicklung der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt hat, war die Unmöglichkeit, als Fortsetzung des Stilkreises der Romantik eine verbindliche neue Musiksprache in Form eines einheitlichen Zeitstils zu entwickeln. Die Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg, die ich als junger Student von ihrem Beginn an miterlebt habe, hatte noch die Wunschvorstellung, in der Weiterführung der Schönbergschule zu einer überpersönlichen, allgemein akzeptierbaren Kompositionsmethodik zu finden. Sie suchte und fand ihr Heil in dem Strukturalismus der seriellen Technik: in deren präziser, durch Zahlenproportionen realisierten Ordnung des Mate27 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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rials von Klängen und Zeitdauern, die jede individualistische Willkür ausschließen wollte. In Wirklichkeit entwikkelte sich – nach einigen sehr fruchtbaren Jahren des Serialismus mit Boulez und Stockhausen als führenden Köpfen – ein bis heute anhaltendes Tohuwabohu der unterschiedlichsten Personalstile; man müßte eigentlich sagen »Privatstile«. Kein Wunder angesichts der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg, in der plötzlich alle Weltkulturen und Traditionen miteinander kommunizierten, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen entwickelten und sich vermischten. Olivier Messiaen war der Erste, der bewußt die Konsequenz zog: er definierte die Einheit der Form durch eine Vielzahl von Stilen, darunter auch außereuropäisch inspirierte; so reagierte er als Musiker auf das Ende des Eurozentrismus, dessen letzte Phase – den Serialismus – er noch mitgeprägt hatte. Ähnlich früh entwickelte Bernd Alois Zimmermann seine Idee des musikalischen Pluralismus, in geistiger Frontstellung zur seriellen Schule, die ihm wie übrigens auch Messiaen fremd bis ablehnend gegenüberstand. Und welche Fülle von neuen Stilen finden wir in der Folgezeit – keiner dem andern kompatibel, im Gegenteil solche Kompatibilität bewußt vermeidend: Cage, Feldman, Earle Brown, Rihm, Scelsi, Xenakis, Berio, Donatoni, Nono, Ligeti, Kurtag, Lachenmann, Ferneyhough – ich könnte noch lange fortfahren mit diesem Aufruf unterschiedlichster Ästhetiken und Kompositionstechniken, die sich nur in einem einzigen Punkt einig sind: daß sie nicht weiter den orthodox-seriellen Weg beschreiten wollen. Diese Orthodoxie – was war und ist sie anderes als ein Abbild jener wissenschaftlich-technischen Prädominanz, die nach dem Krieg unwiderruflich von uns allen Besitz ergriff? Und was war der Aufstand der individualistischen Ketzer anderes als der Versuch, mit der Freiheit von rational 28 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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definierter Einheitlichkeit das genuin künstlerische Potential der Intuition wieder freizulegen? Dazu gehörte auch die potentielle Wiedergewinnung der vom Serialismus tabuisierten Klänge, rhetorischen Gesten, formalen Ordnungssysteme bis hin zu Collage und Zitat. Bernd Alois Zimmermann war es, der just auf dem Höhepunkt der seriellen Phase die Welt und besonders die Zunft der Komponisten schockierte, indem er durch seine provozierende Technik der Collage zeigte, daß diese nicht einfach Zitat historischen Materials ist, sondern produktiver Umgang mit früheren Schichten unseres Bewußtseins werden kann. Hört man in »Photoptosis« mitten in der chromatischen Textur nacheinander das »Veni creator spiritus«, einen Satz eines Brandenburgischen Konzertes, den 2. Satz von Beethovens 9. Sinfonie und Tschaikowskys »Nußknacker-Suite« auftauchen, so handelt es sich nicht um eine erholsame Durchwanderung verschiedener historischer Landschaften, sondern um die furchterregende, manchmal im buchstäblichen Sinn haarsträubende Beschwörung verschiedener, in uns durch die Erfahrung in früheren Zeiten gewachsener psychischer Sensibilitäten, welche, durch die Aura der Zitate aufgerufen, in uns geradezu eine Schlacht extrem heterogener Kräfte entfesseln. Ich erwähnte schon Zimmermanns Diktum von der kugelförmigen Zeit, in der die musikalischen Potenzen aller historischer Zeiten und Orte koexistieren. Mit solchen Gewichten jonglierend umzugehen, ist eine neue Gestalt der Kunst, die nach dem von Hegel angekündigten »Ende der Kunst« die Möglichkeit eröffnet, durch die Integration der eigenen Vergangenheit in die sich formende Musik der Zukunft sich selber als »Spätform« der Kunstgeschichte erkennen zu geben. 29 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Damit sind geschlossene Form und logische Einheitlichkeit im Gebrauch ihrer Mittel, die das Kennzeichen der klassischen europäischen Musikformen waren, zur Disposition gestellt. Ob an ihre Stelle numerische Konstruktion, Zufallstechniken oder individuelle Expressivität treten, ist für jeden Komponisten offen. Der Komponist der heutigen Moderne steht nicht nur quer zur Praxis der technischen Zivilisation, sondern auch zu ihrer Ideologie, welche für die Zukunft »unfehlbare Sicherheit durch mehr Rationalität« verheißt. Er zeigt die offene Wunde, die der Kultur geschlagen wurde. Er provoziert ebenso einen nostalgischen Ästhetizismus wie auch einen naiv-positivistischen Fortschrittsglauben. Kunst kann nicht lügen. Wenn wir nicht verstehen, daß ihre Wahrheit nicht im Belieben des komponierenden, malenden, dichtenden Subjektes liegt, sondern daß ein Kunstwerk nur Kraft hat, wenn es auf unwillkürliche Weise seine Epoche ausdrückt, dann können wir überhaupt Kunst nicht verstehen.

III. An dieser Stelle verzichte ich darauf, mein neues 72-Tonsystem und meine daraus entwickelte Harmonik und plurale Ästhetik vorzustellen. Schließlich möchte ich nicht durch graue Theorie jene Freude am Schöpferischen vertreiben, die wir doch alle suchen. Freude ist ein Affekt. Was ist ein Affekt? Ich habe das Hören von Musik im Gegensatz zur festgefügten begriffsgestützten Wortsprache als ein »flüssiges Denken« bezeichnet. Ich nehme mir die Freiheit, hier das Wort Affekt einen flüssigen Begriff zu nennen. Es ist völlig unmöglich, seinen 30 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Sinn begrifflich zu fixieren; das Wort Affekt weist aber auf eine nicht mehr reduzierbare Tatsache unseres Lebens hin: nämlich, daß wir unser Dasein empfinden. Auch wenn wir Musik hören, sind wir affektiv betroffen. Aber wer empfindet hier was? Empfinden wir uns, unser Dasein, oder die Musik? Und wenn wir empfinden: handelt es sich um die bewußte Empfindung eines Subjektes, oder handelt es sich um eine innere Bewegung der vor- oder unbewußten Schichten, des Körpers, der Natur in uns? Das Wort Affekt ist die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes Pathos. Dieses betont noch mehr das Erleiden, das Betroffen- oder Überwältigtwerden von einer Erfahrung; nicht das Bewußtsein schafft diese Erfahrung, sondern eine Macht außerhalb des Ich. Ein Affekt bleibt immer eine individuelle Reaktion des einzelnen Wesens auf seine Lebenssituation in der Welt; aus diesem Grund kann er nie als reiner Begriff gedacht werden. Noch etwas anderes kann uns die Affektivität lehren. Die Affekte lassen sich nie ganz voneinander trennen; sie sind ambivalent. Sie verbinden das Innen des Affizierten mit dem Außen des Wahrgenommenen, sodaß man wohl von einer allgemeinen, durch ein Symbol bezeichenbaren Affektivität sprechen kann, nicht aber von einem einzelnen Affekt als einer eindeutig verlaufenden Struktur. Jean Paul hat vom Komischen als dem »umgekehrten Erhabenen« gesprochen: die Frage ist, ob man das auch bei der rein musikalischen Affektivität der Musik darf. Man müßte ganz sicher sein, daß aus der Sprache entlehntes diskursives Denken bei der Entstehung des Eindrucks musikalischer Komik nicht mit im Spiel ist – daß z. B. bei Zitaten nicht schon durch kontextuelle Einflüsse eine Verdinglichung der Affekte geschieht (wie es etwa bei Opernzitaten der Fall ist: Richard

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Wagner hat seine Leitmotivtechnik ganz bewußt aus solchen Wort-Ton-Konstellationen aufgebaut). Höre ich unvorbereitet einen heftigen Knall, so wird meine erste Reaktion eine Mischung von Überraschung und Erschrecken sein: Wieso der Knall? Werde ich bedroht? Im nächsten Moment kann der Affekt zur Freude über ein sich im zeitlichen Verlauf bildendes rhythmisches Muster aus knallenden Schlägen werden; dieses kann über eine andere Funktion in einem artifiziell aufgebauten Zusammenhang interpretiert werden als erschreckend, komisch, brutal, etc. Diese »verstehende« Deutung kann über verschiedenartige gegensätzliche Empfindungen gleiten, von der Erschütterung bis hin zur Groteske usw.; sie kann auch umschlagen in die Wahrnehmung von realen Donnerschlägen eines Gewitters oder den Lärm eines geplatzten Autoreifens. Alle möglichen Deutungen bleiben aber im Bann der ersten überraschten Empfindung von »lautem Knall«. Die Abwehr von Deutungsfixierungen von Affekten, die das eigene Wesen der Musik verdunkeln, hat bei den Musikern der frühen Avantgarde zu einer gewissen Vereisung der Affekte geführt und eine zeitbedingte Vorherrschaft des »kühlen« konstruktivistischen Denkens, bis hin zu einem positivistisch gehandhabten Formalismus, begünstigt. Rückblickend scheint mir, daß diese Entwicklung nötig gewesen ist, um das vollständige Wesen der Affektivität neu in den Blick zu bekommen. Im Unterschied zu einer schon fast bis zum Privaten verkommenen banalisierten Vorstellung von »Gefühl« am Ende des 19. Jahrhunderts läßt uns heute eine entsubjektivierte Neufindung des Affektiven eine Nahtstelle entdecken. Der Künstler ordnet sein Material nicht in der Absicht, einen bestimmten Affekt in seiner subjektiven Weise für ein anderes Subjekt (den Hörer) darzustellen; sondern er entdeckt in seinem Material 32 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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die affektive Eigenkraft eben dieses Materials – die er nicht verdrängt oder zerstört, sondern bewahrt und ausbaut. Er entdeckt so den Punkt, an dem im fließenden, noch wortlosen Sprechen der Musik ein Übergang stattfindet: wo das menschliche Bewußtsein sich von noch kreatürlich-kollektiver Passivität langsam hinbewegt zu einer individuell die Welt mitgestaltenden Aktivität. Ist das nicht der Übergang vom flüssigen zum gefrorenen Denken, vom Affekt zum Logos? Liegt es nicht nahe, im nichtverbalen Denken der Musik den Logos auf einer vorsprachlichen Stufe am Werk zu sehen? In einem ethnologischen Museum entdeckte ich Zeichnungen einer sogenannten Affekttonleiter (meiner Erinnerung nach indischen Ursprungs): entlang eines Kreises waren die Namen von 10 bis 12 Affekten angeordnet: Freude, Trauer, Haß, Liebe, Neid, Tapferkeit, Angst, Gleichgültigkeit, Komik, Ekel … In der Mitte des Kreises stand, offenbar als Symbol für das Ganze (analog zu »Freude« bei den Chinesen), das Wort »Ruhe«. Die Anordnung der Affekte in eine Vielzahl verschiedener Empfindungscharaktere und einen im Zentrum stehenden Hauptaffekt: sollte damit gezeigt werden, daß Einzelaffekte aus einer übergeordneten Einheit abgeleitet sind? Oder sollte vermittelt werden, daß im Unterschied zu der Vielheit der Affekte das Symbol ihrer sie zusammenfassenden Einheit einer höheren Ordnung angehört? – Wir können noch weitere Vermutungen ableiten. Seitdem die Menschheit die Musenkunst betreibt, wundert sie sich darüber, daß auch die Gestaltung von Kummer und Schmerz, Leiden und Tod im Bereich der Künste nicht weiteren Kummer und Schmerz, keine »negativen« Affekte hervorruft, sondern ungetrübte Freude an ihrer Darstellung. Wir sagen dann: das ist eben die Wirkung der Kunst, des Ästhetischen, der »schönen Form«. 33 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Wir sind aber in der modernen Kunst inzwischen in einen Bereich eingetreten, der keineswegs in seiner Gesamtheit unter dem Begriff »schön« subsumiert werden kann. Unser Begriff von Schönheit stammt aus der klassischen griechischen Kultur; wir müssen feststellen, daß wir seit über einem Jahrhundert aus dieser Tradition ausgestiegen sind. Die Tatsache aber, daß wir auch moderne Kunstwerke als begeisternde und stärkende seelische Kraftquellen erfahren können, weist darauf hin, daß hinter den individuellen Schönheitsvorstellungen etwas ganz anderes steckt. Man kann dieses Etwas vielleicht als ungeteilte, noch nicht individuierte pure Lebenskraft bezeichnen; wir haben sie schon im Visier gehabt, als wir ganz im Anfang unserer Überlegungen die Freude der noch unreflektierten Begegnung mit der Musik zu beschreiben versuchten. Das sich selbst empfindende Leben scheint hier in seinem direkten schöpferischen Tun am Werk zu sein. Seine Quelle ist einerseits im Subjekt zu finden, andererseits auch in dessen direkten Reaktionen auf äußeres Geschehen. Die Affekte sind das erste Geschenk des Lebens an die Lebenden; aus ihnen entstehen durch unsere Arbeit Bewußtsein, Kunst, Sprache, Denken. So erscheinen die Affekte als archetypische Symbole für numinose Kräfte, nicht präzise ortbar und deswegen auch vom begrifflichen Denken nicht erfaßbar. Hiermit ist letzten Endes gesagt, daß der Logos, der von der abendländisch-griechischen Tradition zumindest seit Aristoteles allein der Sprache, als der Kraft der Logik und Rationalität, zugesprochen und den affektiven Energien entgegengesetzt wurde, in Wirklichkeit hervorgeht aus dem affektiven, direkt der Natur entströmenden »flüssigen« Denken, das auch die Kunst kennzeichnet: ja dieses unmittelbar schöpferische Denken ist die Grundlage für den stolzen Bau aller Rationalität und Wissenschaft, den die 34 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Menschheit errichtet hat. Wir könnten von einer Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik reden, wobei dieser Geist als sein Vokabular die noch begriffslosen Klänge, Zeichen und rhythmischen Gesten aus dem pathischen Erleben der Affekte gewinnen würde. Die Wort- und Begriffssprache – und auch hier führen uns unsere Gedanken plötzlich zu Rousseau zurück – stellt sich dann als erkaltete Abstraktion der noch lebenswarmen Körpersprache der Affekte dar. Hier würden wir uns aus der Einseitigkeit des aristotelischen Logos befreien und uns einer viel umfassenderen Vorstellung von Logos annähern, wie sie etwa dem Logos des Heraklit oder noch mehr dem des Johannesprologs mit seiner Einbeziehung des Lebens in das Erkennen entspricht. Musik scheint dabei die Stimme unseres Lebens zu sein – und doch! Sie führt uns weiter zum Wort als dem Träger der Erkenntnis. Das Zusammenwirken von Musik und Wortkunst stellt also in dieser Sichtweise den vollständigen Logos in seiner sinnlichen Erscheinung dar. Den großen Dichtern aber oder Mystikern wie Meister Eckhart gelingt es bisweilen, auch mit den Mitteln der reinen Wortsprache, den Gegensatz von Affekt und Begriff zu überbrücken und uns die Einheit von flüssigem und gefrorenem Denken erleben zu lassen. Marcel Proust beschreibt in der »Recherche« seine Gedanken nach dem Besuch eines Konzertes auf folgende Weise: »Und ich fragte mich, ob nicht die Musik das einzige Beispiel dessen sei, was – hätte es keine Erfindung der Sprache, Bildung von Wörtern, Analyse der Ideen gegeben – die mystische Gemeinschaft der Seelen hätte werden können. Sie ist wie eine Möglichkeit, der nicht weiter stattgegeben wurde; die Menschheit hat andere Wege eingeschlagen: die der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Aber diese Rückkehr zum Nichtanalysierbaren war so berauschend, daß mir 35 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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beim Verlassen dieses Paradieses die Berührungen mit mehr oder weniger klugen Menschen banal erschienen.« Musik und Sprache erscheinen uns heute als zwei verschiedene Systeme von Kommunikation. Bei näherer Betrachtung haben wir gesehen, daß ihre polare Gegensätzlichkeit auf eine ursprüngliche Einheit hinweist, die uns als Abbild unserer seelischen Ganzheit verlorengegangen ist. Sie wiederzufinden ist nicht möglich durch Rückkehr zu archaischen Urzuständen, sondern durch Neuintegration der gegensätzlichen Systeme. Vielleicht müssen wir eine Art »zweistimmiges Denken« erfinden, durch das wir lernen könnten, mit den Differenzen dieser Systeme produktiv umzugehen. Die Musik, das Musische, die kontemplative Kraft der Kunst – sie müssen in unserer in Rationalismus und Technologie so erfolgreichen, aber auch so festgefahrenen Zivilisation als geistige Kräfte wiederentdeckt werden, um den Weg zu einer umfassenderen Menschlichkeit zu zeigen. Dann dürften wir für die Musik nicht nur das chinesische Schriftzeichen für »Freude« gebrauchen, sondern das Zeichen, das ihr das älteste Buch der Chinesen, das »I Ging«, zugeteilt hat: Yü, »die Begeisterung«.

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»Ein Heer von Gestalten« Gespräch mit Johannes Picht über die »Komponierte Interpretation« von Beethovens Diabelli-Variationen Johannes Picht: Was hat Dich veranlaßt, dieses Stück zu schreiben? Hans Zender: Ohne das Drängen von Roland Diry und dem Ensemble Modern hätte ich das Stück nie ins Auge gefaßt. Doch dann wollte ich diesem einmaligen Ensemble wieder einmal ein Stück liefern, an dem es nicht nur seine technischen, sondern auch seine geistigen Fähigkeiten neu beweisen kann. JP: Das Stück steht in der Reihe Deiner »komponierten Interpretationen«: Haydn, Schubert, Schumann, auch Debussy. Aber etwas ist bei den ›33 Veränderungen über 33 Veränderungen‹ anders. Wir haben hier als Vorlage ein Stück, das selber schon in besonderer Weise »Musik über Musik« ist. HZ: Beethoven hat in diesem Spätwerk die Idee, Stil als eine Variable zu betrachten, erstmals in unerhörter Weise realisiert. Damit hat er den wichtigsten Aspekt der Moderne bereits vorweggenommen. Das Subjekt des Komponisten bezieht bewußt stilistische Positionen anderer historischer Zeiten ein. Beethoven geht zurück zum frühesten Barock. Auf der anderen Seite finden sich Stellen, die weit ins 19. und sogar ins 20. Jahrhundert weisen. Wenn ich mich kompositorisch darauf beziehe, kann das nur heißen, das Wort »Veränderungen« in diesem Sinn zu verstehen: »Verände37 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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rung« verändert die Konstanten eines Stils, bei Beethoven wie in meiner Arbeit. Meine Arbeit versucht die Einbeziehung der Geschichte zu leisten, die zwischen uns und Beethoven liegt. JP: Am Beginn steht bei Beethoven ein kritischer Impuls gegenüber der eigenen stilistischen Gegenwart und der überkommenen Form des Variationenzyklus. HZ: Zweifellos. Es beginnt mit einer »Selbstkritik« Beethovens, um noch einmal über sich hinauszuwachsen. Er schaut auf die große klassische Entfaltung seiner mittleren Zeit zurück und errichtet darauf noch einmal einen neuen Kontinent, der nicht mehr aus den Koordinaten seines klassischen Stils zu greifen ist. JP: Beethoven verändert nicht nur den Walzer von Diabelli, sondern die ganze Form des Variationenzyklus. Er sprengt sie auf und läßt, wie Adorno das genannt hat, Trümmer stehen. HZ: Ja, es ist ein dekonstruktivistisches Denken in den Anfängen. Aber das ist nur der eine Aspekt. Beethoven setzt die Trümmer ja wieder zu neuen Formen zusammen. Ein einzelner linearer historischer Aspekt reicht nicht aus, um seine Variationen zu verstehen. JP: Eine Konsequenz davon ist, daß schon Beethovens Werk keine geschlossene Form mehr ist. Man weiß ja, welche Schwierigkeiten Beethoven hatte, gerade dieses Stück zu Ende zu bringen. Er hat es, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, jahrelang unfertig liegen lassen, weil er – wie

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wir vermuten können – zunächst nicht wußte, wie er es formen sollte. HZ: Das ist der Punkt. Wenn man bedenkt, welche Bedeutung die offene Form für die Neue Musik gewonnen hat, ist es natürlich sehr interessant, das schon bei Beethoven zu finden. JP: Die Dekonstruktion der klassischen Form des Variationenzyklus könnte man als Zerstörung im Dienste des Fortschritts interpretieren, aber das ist es eigentlich nicht. Eher wird aus der linearen Zeit, in der aus dem Vorigen fortschreitend das Nächste folgt, so etwas wie eine aufgerissene, räumliche Zeit, in der die Geschichte als Raum zur Verfügung steht. HZ: Das setzt eine Synopse der historischen Epochen voraus, die dem Denken der klassischen Musik zunächst fremd war. Vielleicht war Beethoven der erste Musiker, der sich bewußt als geschichtliches Wesen erfahren und reflektiert hat. Jedenfalls wächst die Vorstellung von Bewußtheit bei ihm über einen kritischen Punkt hinaus, nämlich zu einem Bewußtsein der eigenen Bedingtheit. Dabei wird die Wendung nach den eigenen Wurzeln nicht als nostalgischer oder wissenschaftlich erkennender Rückblick vollzogen, sondern um mit der scheinbar abgelegten Vergangenheit schöpferisch neu zu arbeiten. JP: Das geschichtlich Geschehene wird verändert und dadurch in einem emphatischen Sinne in die Präsenz gebracht. Zum Beispiel wird in der Fughetta-Variation (Nr. 24) das Vorbild der ›Clavierübungen‹ von Bach nicht nur als Erinnerung repräsentiert, sondern als Wirklichkeit 39 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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vergegenwärtigt. Etwas Ähnliches geschieht mit Beethoven in Deiner Komposition. HZ: Sie ist der Versuch, Beethoven von unserer Zeit her zu sehen. Das utopische Ziel, etwas Vergangenes unmittelbar präsent zu machen, kann nur erreicht werden durch die direkte Mitwirkung der eigenen schöpferischen Kraft und des eigenen Lebensgefühls. Das ist die Idee meiner komponierten Interpretationen. In diesem Stück wird die Idee der klassischen Variation überstiegen. Das Original wird zwar immer wieder als historische Präsenz beschworen, aber in einem anderen als im klassischen Sinn der Identität mit dem Original. Ich versuche, die performativen Eigenheiten dieses Stückes, die es an manchen Stellen wie ein musikalisches Theaterstück erscheinen lassen, zu Impulsen für neue musikalische Formen werden zu lassen. Die Stile werden selber als Variationsmöglichkeiten benutzt. JP: Beethoven selbst hat Diabellis Thema ja auch nicht einfach variiert, sondern sich fast davon abgestoßen. Er hat es nie ganz verlassen, aber er entfernt sich oft sehr weit. HZ: Die Verformung, die sich schon bei Beethoven ergibt, könnte parodistisch-komisch oder tragisch-existentialistisch oder analytisch gedeutet werden. Es ist mehr als eine Charaktervariation, es ist eine Aufspaltung des Grundgedankens. Man könnte, wie es Brendel tut, das Stück als ein komisches Werk bezeichnen, man kann es aber auch als sehr problematisches, das Tragische streifendes, Tendenzen von Rückblick und Verklärung mit progressivsten Strebungen kreuzendes, paradoxes Stück begreifen. Mit dieser Mehrdeutigkeit mußte ich mich als heutiger Komponist auseinandersetzen. Sie gehört zu den wesentlichen Neue40 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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rungen der Neuen Musik, aber sie findet sich schon beim späten Beethoven. JP: Schon mit der ersten Variation geschieht etwas Eigenartiges: Sie tritt auf wie ein Pascha gegenüber dem biederen Thema, aber schon nach wenigen Takten wird sie vieldeutig und harmonisch kompliziert. Das hat Dich gleich zu Anfang veranlaßt, Brechungen zu komponieren. Der Hörer kann sich nicht einrichten in einer einheitlichen Syntax, einem einheitlichen Tempo, einer einheitlichen Harmonik. Er wird herausgeworfen. Tatsächlich verwendest Du hier eine sehr elaborierte Mosaiktechnik. HZ: Diese Variation hat den Ausschlag gegeben, daß ich mich überhaupt mit diesem Stück eingelassen habe. Mir drängte sich sofort die Idee auf, den Pascha-Charakter mit anderen Lesarten zu konfrontieren: Das muß man parodieren; es muß zum Marsch, dann zur Hetzjagd, dann vielleicht zum Walzer werden. Die Sache sollte noch einen Hauch dieser auftrumpfenden Tonalität enthalten, aber in einer komplexen polyrhythmischen und polytonalen Weise gebrochen dem Hörer entgegentreten, ein Heer von Gestalten, das gerade noch überschaubar sein muß. Ich mußte also eine Schar verschiedener Tempi suchen, die sich ablösen und überlagern, und dasselbe sollte auch bei den Tonhöhen geschehen. Nun gehört die Tonalität so zum Wesen dieser ersten Variation, daß man sie nicht eliminieren kann. Als Lösung ergab sich eine polytonale Konstruktion, die in bestimmen Abständen Transpositionen benutzt. Auf diese Weise wird die Tonalität gleichzeitig zitiert und gebrochen, sie schlägt um in eine andere Tonalität. Damit hebt sie sich selbst auf, wenigstens im Sinne der affirmativen Aussage. Der Wechsel der Tonarten wird durch eine 41 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Zwölftonreihe gesteuert, die ich aus dem neunten bis zwölften Takt des Themas von Diabelli extrahiert habe. Dies kommt dann auch in vielen späteren Variationen zur Anwendung. JP: Es ist also ein abstraktes Prinzip im Hintergrund, das der Hörer zwar nicht identifizieren, aber spüren kann. Auch das ist bei Beethoven schon angelegt. Er gewinnt aus dem Thema abstrakte Sachverhalte, die zu Prinzipien der Variation werden. In der 20. Variation verwendet Beethoven selbst das Prinzip, das Du beschrieben hast, nämlich Tonarten nach Art von Tonfolgen zu montieren. HZ: Ja, das hatte ich selber nicht entdeckt. JP: Das Prinzip der Brechung setzt sich bei der Klangfarbe fort, dem Timbre, den unterschiedlichen Oberflächen, die der Klang ergibt. Schon in der ersten Variation ist das ein fast taktiles Erleben. Innerhalb einer Linie, innerhalb kleinster Motive wird gewechselt von einem Instrument zum anderen, so daß man sich als Hörer auch in einer einheitlichen Klanglichkeit nicht einrichten kann, sondern einem Kaleidoskop ausgesetzt ist. HZ: Dramaturgisch wird der Hörer durch diese erste Variation gleich zu Anfang aufs Höchste gefordert und aus dem Schlaf geweckt, dem er als bloßer Konsument erliegen könnte. JP: Du bist aber freundlich genug, ihm auch immer wieder Variationen zu präsentieren, die Du fast unangetastet läßt. Zum Beispiel ist die dritte Variation einfach ein Streichquartett-Satz des Beethovenschen Textes; andere Variatio42 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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nen, etwa die achte oder die 20. und die Fughetta, dann die letzte langsame Variation vor der Fuge und die Fuge selber bleiben, was Syntax und Harmonik angeht, weitgehend unangetastet. Aber mit den Timbres wird gespielt. Darf man sagen »gespielt«, oder ist das konstruiert? HZ: Es ist konstruiert. Aber das Konstruieren dient dem Spiel. In der Fuge ist z. B. die Mixtur einer kleinen Terz nach oben und nach unten hinzugesetzt, sodaß es wie eine Glokkenspektren-Harmonik klingt. Auf diese Weise ist auch die Brücke geschlagen zu den schon im Vorspiel den Hörer irritierenden Glockenschlägen. Ist das eine Variation? Es ist eine Veränderung im Klang, die das Beethovensche Original erleiden muß. JP: Auch die Diabelli-Variationen von Beethoven führen ja durch eine Klanglandschaft mit ständig wechselnden Valenzen. HZ: Wir haben seit der Beethoven-Zeit eine Palette von klanglichen Verschiedenheiten entwickelt, aus der man sich bedienen kann, wenn man die Zeitreise von Beethoven bis heute stilistisch nachzeichnen will. Nur habe ich es eben nicht linear machen wollen, sondern bei mir springt es. Immer wieder tauchen die Klänge des Original-Beethoven auf, um dann wieder völlig verlassen zu werden. JP: Erst durch diese Nicht-Linearität entfaltet sich die Zeit als Raum. HZ: Das meine ich. Wir sind durch die heutige geschichtliche Situation gezwungen, zu lernen, daß die Individualität eines Komponisten nicht identisch ist mit einem Stil. Die 43 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

»Ein Heer von Gestalten«

eigentliche Herausforderung der Moderne ist, Pluralität zu gestalten. JP: Was Du individuellen Stil nennst, hat etwas von einer Identität, zu der wir nicht mehr fähig sind. HZ: Genau das. Wir sehen, daß die Identität eine Fiktion unseres Ich ist. Das schlägt sich in der Einstellung zur Kunst und zu der Ich-Maske, die der Personalstil bisher war, nieder. JP: Sehen wir, was die Diabelli-Variationen zu diesem Thema zu sagen haben. Das Verhältnis von Identität und Differenz hat man, bis zu Beethoven selbst, in der Klassik affirmativ, d. h. als Bestätigung der Identität, gestaltet. Aber in Beethovens Diabelli-Variationen kommt zum Vorschein, daß sich das so nicht mehr gestalten läßt. Hier wird die Durchführung der Motive des Themas zum Variationsprinzip. Das hat viel mehr mit Veränderung zu tun als mit Variation. Wir sprachen ja davon, daß Zeit als eine Art Raum entsteht, wenn verschiedene Stile nebeneinander existieren. Dieser Raum – wenn wir ihn benennen wollen – erstreckt sich bei Beethoven von Monteverdi bis Webern, und jetzt bis Zender. HZ: Ja. Meine eigene, in den letzten 25 Jahren elaborierte, auf den Kombinationstönen beruhende Art von harmonischem Denken erscheint manchmal wie eine Maske, um die Ecke. JP: Sind das einfach nur einzelne Steine eines Kaleidoskops, oder entsteht so etwas wie ein Narrativ der Stile?

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HZ: Dadurch, daß einzelne Variationen zu Gruppen zusammengefaßt werden, entsteht eine dramaturgische Gliederung in Akte und Szenen. Ich habe mich außerdem dafür entschieden, eine Gliederung in drei mal elf Variationen darüberzulegen, mit einer Coda, die durch die Fuge und die letzte Variation gebildet wird. Diese Gliederung wird markiert durch Glockenzeichen, die jeweils an diesen Eckpunkten erscheinen, wie auch durch Schlagzeuggeräusche, die fast etwas Geisterhaftes haben. Sie zwingen den Hörer, hinter dem Fluß der Musik die Stille des Anfangs zu ahnen, der noch aus Nicht-Klang besteht. So wird die Stille als Bestandteil jeder Musik, aber speziell dieses Riesenwerkes von Beethoven, evoziert als die Stille, in die letzten Endes jede Musik hineingesetzt wird. JP: Diese Gliederung wird der sich entwickelnden Form entgegengesetzt als ein Prinzip der reinen Zahl, drei mal elf, ungeachtet dessen, was gerade passiert. Das ist ein Moment des Schreckens. Es beginnt schon im Thema mit Glockenschlägen gegen den Takt. HZ: Es beginnt schon mit den schleichenden Geräuschen ganz zu Anfang: Ist das Musik? Es ist zunächst ein akustisches Zeichen. Es ist eigentlich der Versuch, die pure Präsenz darzustellen. JP: Du sagst, eine Narration im Sinne einer linearen Geschichte wird man nicht finden. Aber man findet doch Fragmente von Abläufen, die etwas Szenisches andeuten. HZ: Beethoven hat diesen Aspekt schon angelegt durch sein Zitat aus dem ›Don Giovanni‹. Ich habe das beantwortet, indem ich über das Leporello-Lied ›Notte e giorno faticar‹ 45 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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aus dem ersten Akt, das Beethoven zitiert, die Musik zum Auftritt des Komturs im letzten Akt gelegt habe. Dazu mußte das Verhältnis des Komtur-Tempos zum LeporelloTempo vier zu fünf betragen, indem über die zehn Leporello-Takte im zweiten Teil der Variation die acht Takte des Komturs, um ein Fünftel langsamer, gelegt werden. Das ging dann mit den Transpositionen der Tonarten, die ich vorhin beschrieben habe, wunderbar auf, rhythmisch und im Tonartwechsel. Dadurch entsteht so etwas wie eine Collage der Collage. Man kann das komisch finden. Man kann es aber auch als eine Art von Krisis betrachten, und darauf folgt dann ja auch eine Art Zusammenbruch der Musik in der nächsten Variation: sie schreit und tobt. Man kann das so lesen, daß durch den extremen Zusammenstoß von konstruktivem Denken und Affekt eine Art Schock entsteht, der mit Schrei und Dissonanzen innermusikalisch ausgetragen wird. Dann beginnt die nächste Variation ganz bescheiden. JP: Und das ist nicht zufällig die Fughetta. Mit diesen stilistisch und klanglich unterschiedlichen Teilen folgen auch unterschiedliche affektive Zustände aufeinander, und das ergibt per se eine Art szenischer Matrix. Aber es ist mehr als nur Affekt – in diesen Stilen sind ja immer auch unterschiedliche Formen von Zeitlichkeit realisiert. Damit kommen unterschiedliche Seinsweisen des Ich oder des Subjekts zum Ausdruck, wie sie sich geschichtlich entwickelt haben. HZ: Damit sind wir inmitten dieses Stückes und meiner pluralen Ästhetik! Genau das empfinde ich als den Kern der heutigen künstlerischen Arbeit überhaupt. Auch zu zeigen, daß alles, was wir denken, affektive Wurzeln hat, wodurch die Geschichte mit unserem lebendigen Leben verbunden ist. 46 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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JP: Die Musik hat die Potenz, etwas bereitzustellen, das überhaupt erst möglich macht, daß wir solche Erlebnisse haben. HZ: Das ist es! JP: Beethoven hat die Fughetta ja erst 1823 schreiben können, 1819 noch nicht. Dazwischen liegt die Arbeit an der ›Missa Solemnis‹ und den drei Sonaten op. 109 bis op. 111. Das Experimentieren mit den geschichtlichen Räumen geschieht insbesondere in op. 110. HZ: Vor der Leporello-Variation ist ja die 20. Variation, von der Du in einer Deiner Publikationen geschrieben hast, daß danach nichts mehr so ist wie vorher. Das war für mich einer der Prüfsteine, ob ich mir dieses Stück zutraue oder nicht: Was mache ich mit dieser Variation? Sie ist Wort für Wort transkribiert, wenn auch in einem sehr langsamen Tempo und als auskomponiertes Echo. Die Musik hört sich selber zu. Das heißt, das Stück erscheint gleichzeitig in drei verschiedenen Tempi, die minimal differieren, sodaß sich immer so etwas wie ein Schatten zu den Hauptklängen des Stückes zeigt. Es gibt ein Nachecho und ein Vorecho, aber beides fast an der Grenze des Unhörbaren. Erst nach diesem Erlebnis wird der Hörer den Effekten des Theatralischen, die in dem Mozart-Zitat kulminieren, ausgesetzt. Vorher aber hat die Musik eine Versicherung ihrer selbst gegeben, die nach diesem Zusammenbruch den Schluß noch ermöglicht. JP: Damit beschreibst Du einen dramatischen Verlauf. HZ: Ja. Ich wundere mich selbst darüber. 47 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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JP: Du hältst Dich in der Reihenfolge der Veränderungen streng an Beethoven. Du übernimmst seinen dramatischen Entwurf und interpretierst ihn auf Deine Weise. Die 20. Variation ist von Beethoven in einer äußersten Ökonomie gestaltet. Sie hat fast keine Rhythmik und keine Motorik – stiller kann man kaum werden, wenn man überhaupt noch musiziert. Dieser Stillstand der Zeit, das ist nicht undramatisch, sondern sozusagen extra-dramatisch. HZ: Ja, oder negativ. Introvertiert. JP: Und dann kommt Don Giovanni, besser: es kommt sein komischer Konterpart, dem Du den Komtur gegenüberstellst. Du konfrontierst damit auch den Anfang mit der Katastrophe am Ende. HZ: Wenn man schon interpretiert, müßte man sagen, das sind Leben und Tod, die sich begegnen. Das naive Spiel, Freude des Lebendigen bei Leporello, und die Antwort des Todes durch den Komtur, der ja ein Gespenst ist. JP: Während Leporello noch in der Ordnung lebt, über die er murrt, wird er konfrontiert mit dem Zusammenbruch dieser Ordnung. HZ: Genau. Dadurch kommt die Doppelgesichtigkeit der Diabelli-Variationen zustande. JP: Für Alfred Brendel, dem Du das Stück auch gewidmet hast, sind die Diabelli-Variationen ein Kompendium musikalischer Komik. Er bezieht den Titel seines Essays, ›Das umgekehrte Erhabene‹, von Jean Paul, den Du ja auch sehr schätzt und liebst. 48 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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HZ: Man könnte auch sagen, daß die Diabelli-Variationen der Weg des Komischen zum Erhabenen sind; daß im ersten Teil die Komik sich austobt, während im zweiten Teil der langsame Weg von der 20. Variation wieder aufwärts zum Erhabenen geführt wird, durch eine Krise hindurch, die sich gerade in der 22. und 23. Variation abspielt. Das ist aber eine Deutung, die ich gleich wieder zurücknehmen würde. JP: Das Komische ist ja ein Aspekt des Destruktiven. Etwas wird zerstört, erweist sich als Fiktion, es hält nicht mehr, es verliert seine Architektur, es wird unterbrochen … – da gibt es verschiedene Spielarten. Das, was das Subjekt im klassischen Sinne immer ausmachte, also: mit sich selbst identisch Sein, Kohärenz, Kontinuität, Widerspruchslosigkeit, das hält nicht stand, und dort ist der Platz der Komik oder des Witzes. Brendel weiß das, aber wenn man ihn liest oder seine Aufnahme hört, hat man den Eindruck, er entscheidet sich, daran nicht zu rühren. Er will »den Acheron nicht bewegen«. HZ: Ich finde eine unendliche Schönheit in seinen Interpretationen. Aber eine komponierte Interpretation kann sich eben auch ganz anders entscheiden. JP: Ich denke, daß Du durchaus »den Acheron bewegst«. Aber das Komische scheust Du auch nicht. Das macht ja Spaß. In der Leporello-Variation hört man bei Dir auch die Schritte des Komtur vor der Tür. Das ist als Zitat erkenntlich, die Musik wird einen Moment semantisch. Eine schreckliche Szene, aber man kann zugleich seinen Spaß daran haben, wie toll das gemacht ist. Und auch der Zusammenbruch danach, der Schrei, hat ja etwas Schrilles, wie ein Hexensabbat. Es geht sozusagen wüst zu. Das kann man auf 49 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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eine burleske Weise komisch finden. Es gibt auch Momente der Persiflage, wenn Du zum Beispiel in der achten Variation ein Akkordeon spielen läßt. Da schwingt eine bestimmte Wiener Seligkeit mit. Jetzt hast Du aber gesagt, das Erhabene sei das umgekehrte Komische. Ist das, was am Ende, in der letzten Variation, passiert, wirklich etwas Erhabenes? Das ist ja ein ganz überraschender Moment, wenn plötzlich das Klavier aus dem Off erklingt. HZ: Ja, aber nachdem die Streicher schon das rhythmische Gerüst in nicht-klingenden Tonhöhen gespielt haben, in einer extrem entmaterialisierten Form, wo nur noch ein Licht-Schatten des Klangs in Gestalt von Luftbewegungen wahrgenommen wird. Nicht-Klang zu bewegen – eine größere Reduktion wäre überhaupt nicht mehr zu spielen. JP: Es ist die Evokation von etwas Abwesendem. Aber dann kommt wieder Szene ins Spiel, weil Du das Klavier hinter einer Tür spielen läßt. Da kommt dann Beethoven selbst, daran hast Du nichts verändert. HZ: Das Original wird wiedergeboren, wenn man so will. Allerdings wird es eben immer wieder unterbrochen von diesem extrem verfremdeten Klang des Ensembles. Was der Bearbeiter tut, ist nur noch, den Nicht-Klang zu produzieren gegenüber dem Klang. JP: Zugleich ist es, als würde die zeitliche Distanz, die uns von Beethoven trennt, obwohl er so präsent ist, in Szene gesetzt durch die Distanz des Klanges, der eben aus der Ferne kommt. Du hast bis dahin schon einen großen Apparat angewandt und eine Vielzahl von Weisen des Aufbrechens,

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aber dann tritt der nackte, unveränderte Beethoven hervor. Es ist ein Bruch in der Komposition. HZ: Vielleicht ist dieser Bruch das beste Mittel, um das utopische Ziel von Interpretation überhaupt darzustellen: Vergangenes als Zukünftiges in die Gegenwart zu holen? Johannes Picht studierte Musik, Philosophie und Medizin und ist heute als Psychoanalytiker in freier Praxis tätig. Die »Krise des Subjekts« in Beethovens Spätwerk hat er in mehreren Publikationen thematisiert.

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Hören als Fragen Zum Tode von Heinz-Klaus Metzger

Mit der Erfindung der absoluten Musik ist nicht nur das Komponieren und Interpretieren, sondern auch das Hören in ein neues, das heißt ein bewußteres Stadium getreten. Wenn ich eine Berufsbezeichnung für Heinz-Klaus Metzger finden müßte, würde ich für »Berufshörer« plädieren. Ich habe nie jemand so hingegeben, konzentriert und ausschließlich hörend erlebt wie ihn. Er glaubte musikalisch nur das, was zu hören ist; weder rein formale noch inhaltliche Kriterien konnten ihn beeindrucken. Damit nahm er als Hörer den Platz ein zwischen dem Interpreten auf der einen Seite, der immer den aktuellen Prozeß der sich neu ballenden musikalischen Zeit gestalten muß, und dem Komponisten auf der andern, welcher sich beim zeitlupenhaften Schreiben immer wieder in den dramatischen Vorgang der realen Zeit seines Werkes versetzen muß. Metzger nahm sich Zeit, begnügte sich für ein Urteil nicht mit einem einmaligen Hören, befragte das Stück, statt es wie ein Insekt aufzuspießen und zu zergliedern. Er war ein genialer Hörer, arbeitete sozusagen mit am Werk, entwickelte das Hören zu einer schöpferischen Tätigkeit und blieb doch nahe am Werk und dessen geschichtlichem Ort. Ich bin weit davon entfernt, allem, was er geschrieben hat, zuzustimmen, aber seine Urteile sind immer subjektiv »wahr«, getragen durch die individuelle Erfahrung seines Hörens. Metzger ist mir eigentlich erst in den letzten zehn Jahren näher gekommen – vielleicht weil ich einen gewissen 52 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Hören als Fragen

Wandlungsprozeß bei ihm spürte (oder er bei mir). Während der letzten Monate seines Lebens rief er mich in zunehmender Häufigkeit an, manchmal mehrmals die Woche. Es gab sehr lange und vielfältige Gespräche, die er trotz physischer Probleme in vollkommener Luzidität führte. Immer wieder ging es um das Ethos der Neuen Musik, und die Verwurzelung Metzgers im Deutschen Idealismus erschien als fundamental, mehr noch als bei Adorno. Ich entsinne mich noch an ein Gespräch, in dem er sich über einen Wissenschaftler aufregte, der die Frage gestellt hatte, ob denn in der Neuen Musik auch der Charakter des »Erhabenen« im Sinne Kants zu finden sei. »Die gesamte Neue Musik, schon von den ersten Takten der Webernschen Geigenstücke an, gehört dem Charakter des Erhabenen zu«, rief er aus und empfand doch, wie ich, im gleichen Moment eine kaum erträgliche Diskrepanz dieser Wahrheit zum aktuellen Stand des Musiklebens. Die von ihm und Rainer Riehn gegründeten »MusikKonzepte« werden noch lange Vorbildcharakter haben. Über seine wissenschaftliche Leistung hinaus aber sollte er uns unvergeßlich sein durch seine Grundhaltung des fragenden Hörens, das nicht nur einer Wissenschaft von der Kunst zugrunde liegen muß, wenn sie nicht eitel sein will, sondern auch aller musikalischen Praxis und allem Komponieren.

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Pierre Boulez – zu seinem Tode

Kaum einer der großen Musiker der letzten hundert Jahre strahlte eine vergleichbar beeindruckende »Geistigkeit« aus: dauernde Konzentration und Disziplin, absolute Perfektion im Gebrauch der kompositorischen wie der dirigentischen Mittel, nicht die leiseste Spur von Eitelkeit oder auch nur Unsachlichkeit, sei es im Persönlichen oder auf dem Podium: so verkörperte er einen neuen Musikertyp, weit ab von dem lächerlichen Glamour der »stabtragenden Frackprimadonnen«, wie Thomas Mann die mit äußerlichen Effekten zu wirken suchenden Dirigenten nannte. Und auch Boulez’ eigene Musik hat etwas von einer, formal aufs äußerste auf den Punkt gebrachten, asketischen Übung: die Konstruktion wird rigoros durchgeführt und bleibt immer durchsichtig; ja sie wird zum ästhetischen Kern eines noch einmal mitten im 20. Jahrhundert realisierten »Personalstils«. Boulez gehörte zu den wenigen Musikern, die ihre Gedanken auch sprachlich ausdrücken konnten, sei es in theoretischen Schriften, sei es in essayistischen Formen. Seine Gedanken stehen auf dem soliden Boden mathematischen Denkens, wie überhaupt seine ganze Persönlichkeit die helle Klarheit des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters künstlerisch spiegelte, in großer Distanz zur romantisch-individualistischen Tradition des alten Europa. Er war wohl bis zum Ende seines Wirkens der Überzeugung, daß es eine aus den geschichtlichen Vorgegebenheiten folgerichtig abgeleitete Musiksprache der Moderne gäbe – oder wenig54 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Pierre Boulez – zu seinem Tode

stens zu geben habe. Das mußte zu einem gewissen Dogmatismus – auf höchstem Niveau, wohlgemerkt – führen, der ihn gegenüber anderen ästhetischen Wegen verschlossen bleiben ließ. Er erklärte mir einmal nach einem von mir in London dirigierten Konzert mit der »Turangalîla-Sinfonie« auf dem Programm, von den zehn Sätzen dieses Stückes könne er nur drei gelten lassen, die andern seien ihm immer völlig unerträglich. Als ich einwandte, daß man einen großen Komponisten wie Messiaen als Gesamterscheinung doch wohl individuell verstehen müsse, meinte er: »Eben dazu bin ich nicht bereit.« Ähnlich war es bei Bernd Alois Zimmermann, dessen Collagentechnik er glattweg als schizophren bezeichnete … Eines der segensreichsten Taten dieses überreichen Musikerlebens war sicher die Gründung des Ensemble intercontemporain und seine institutionelle Verankerung im Paris der siebziger Jahre. Hier packt den deutschen Musiker die neidvollste Bewunderung der Grande Nation, wenn er erlebt, daß das gleichzeitig, aber ohne finanzielle Absicherung in Frankfurt sich gründende Ensemble Modern bis heute keine mit festen Verträgen vergleichbare offizielle Unterstützung von Seiten des Bundes, des Landes oder der Stadt erfährt und gerade jetzt schutzlos den aktuellen Krisen ausgesetzt ist. Es genügt eben nicht, große Männer und Gruppen von einmaliger Kreativität hervorzubringen: eine Kultur muß diese auch pflegen und so am Leben erhalten. Die deutsche Kulturpolitik sollte von diesem großen Mann, der einen Großteil seines Lebens in Deutschland verbrachte, endlich lernen, daß und wie man heute in der Bundesrepublik die der Wiener Schule und der Darmstädter Schule entstammende Tradition in ihrem geistigen Anspruch bewahrt, statt vor der allenthalben sich ausbreitenden traurigen Mischung aus Pop und Provinz zu kapitulieren. 55 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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»Gäb es nichts Unerklärliches mehr, so möcht’ ich nicht mehr leben. Ahnung ist später als ihr Gegenstand; ein ewiger Durst ist ein Widerspruch, aber auch ein ewiges Trinken ist einer. Es muß ein drittes geben, so wie die Musik ist zwischen Gegenwart und Zukunft.« Jean Paul »Der heilige, der geistige Ton wird von Gestalten geschaffen, aber er schafft wieder Gestalten.« – »Eine geistige Kraft bildet den Körper, dann bildet der Körper sie, dann aber bewegt sie am mächtigsten auf der Erde die Körper.« Jean Paul

Was höre ich, wenn ich zurück-höre in meine ersten Kinderjahre? Was haben meine Schläfenlappen aufgezeichnet, um mich daran zu erinnern? – »Rosamunde« aus dem Kurpark; den »Jägerchor« aus dem Radio von Papas Arbeitszimmer; Sirenen und die krachenden pfeifenden Bomben im Luftschutzkeller; den Klang der Schola, in der ich den gregorianischen Gesang lernte; die Orgel in der Dreifaltigkeitskirche in Wiesbaden, auf der ich übte (»Wer nur den lieben Gott …«, und 40 Jahre später spielte jemand, als ich diesen Ort wieder aufsuchte, das gleiche Choralvorspiel, unisono mit meinen Schläfenlappen); die Trompeten der »Hohen Messe« in der Ringkirche; die Holzbläser bei Furtwängler in den Haydn-Variationen, seinen Bruckner, seinen Mozart; Giesekings schlanken Ton, lebendig wie eine junge Katze – 56 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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und dann zum ersten Mal »Sacre«, Webern, Messiaen in Darmstadt – Zeit der ersten Wunder! Und meine ersten Stücke, die Flötensonate mit Schmidt im HR aufgenommen: Wollust. Die Bildform der Hakuin-Kalligraphie (Kanzeon) habe ich zunächst nicht verstanden. Ein Ganzes aus zwei verschieden großen Teilen. Bis mir aufging: genau das ist die Essenz von Form! Das Nicht-Identische – Yin und Yang – der reine Widerspruch, Gott und Welt, Nichts und Sein. Das ist die Wirklichkeit: »das, was alle Töne der Welt zusammensieht« (wie es Hakuin ausgedrückt hat). Eros: er ist ortlos (Plato), unbehaust (Goethe). Die Distanz, auch zum eigenen oikos, macht den Menschen frei. Als Freier ist der Mensch unbehaust, plural in seinen oikoi. Die Entfremdung gehört zu seinem Wesen. Die marxistische Interpretation von Entfremdung kommt mir flach vor, kann zur Sentimentalität führen. Der Mensch ist ein transzendentes Wesen, insofern er in der Zeit ist – d. h. indem er weiß, daß er sterben muß; indem er nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht. Er muß die Einheit der Zeit erst entdecken; er muß in seiner Gegenwart als in seiner geschichtlichen Verantwortung bewußt leben. Er ist nicht irgendwo, sondern an dem Punkt der Weltgeschichte, an den er hingestellt wurde; er muß der Zeit dienen, indem er den aktuellen Zeitpunkt (shiki) mit der unbegrenzten Zeit der Zeitlosigkeit (ku) verbindet. Er muß vor allem hören lernen: auf Mnemosyne – die Stimmen der Natur, der großen Musiker, der großen Philosophen und Dichter: nicht nur auf Interpretationen aus dem Geist unserer Zeit, sondern auf den originalen Klang 57 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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ihrer Sätze. Picht liebte es, einen Satz von Platon oder Kant so oft zu wiederholen, bis er zur Melodie, zu einem Ohrwurm wird: nicht was seinen physischen Klang angeht, sondern seinen »Sinn-Klang«, wenn man verstehen will, was ich meine. Diese »Sinn-Melodie« ist es, die sich dann verketten kann mit dem, was man als spontanes Echo an Eigenem hervorbringt. Was habe ich gehört bei Webern schon in den ganz frühen Jahren? – Daß unser Weltbild einen Spalt bekommen hat. Die sichere eindeutige Klarheit der ersten Formhülle, so harmonisch in ihrer einfachen Zahlenreihe und den Zweierpotenzen, Natur mit Rationalität anschaubar verbunden in der Obertonreihe, geformt zu der unwiderleglich scheinenden Verfassung des Musikstaats, der Tonalität, wahrhaftig vom gleichen Schlag wie die »prima philosophia« – aber es ist gar nicht wahr, die Welt ist ganz anders. Ich höre bei Webern: die Tonalität hat einen Spalt bekommen; ich höre aber gleichzeitig: das entsetzliche Wehgeschrei über den Verlust des Sinnes, hier wie da, ist völlig grundlos, entspringt lediglich der Denkfaulheit und Dummheit unserer Zeitgenossen – denn der Webernsche Spalt eröffnet den Zugang zu neuen Sinn-Welten, ist nicht Alternative für, sondern zusätzlicher Sinn: es sind neue Klang-Planeten entdeckt worden, die wir erforschen dürfen. Die Philosophen, die Theologen – sollen sie sich sputen, uns einzuholen: Webern gibt den Musikern die klingende Evidenz von der Explosion neuen Sinns, die sich ereignet hat. Die A-Tonalität erscheint (wie der A-Theismus!) als Befreiung von der hybriden »These«, daß der Mensch die Wirklichkeit in einer sprachlich definierten Gesetzmäßigkeit verstehen und aussprechen kann. Das musikalische Universum ist um eine Unendlichkeit größer geworden; Webern mit seiner großen Septim-Oktave ist nur der Anfang eines rie58 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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sigen pluralen Feldes neuer Wege, das musikalische Material – und so auch das Hören – zu verstehen. Ich hörte bei Messiaen: Langfristig in einem einzigen System zu denken, kann nur für eine kürzere Form richtig sein; will man große Formen komponieren, so können viele Stilwelten zusammengesetzt werden, und es gilt, verschiedene Ordnungen geschickt zu verbinden. Die Vögel in Messiaens Katalog singen in vielen Schlüsseln, die nicht auf ein System zu reduzieren sind. – Das alles hörte ich aus den Kranichsteiner Polyphonien heraus, spielend und ungläubig staunend. Wir sind das Innen der Welt. Die Welt ist unser Außen. Das Innen denkt und hört. Das Denken denkt das Hören, das Hören hört auf das Denken. Das Hören ist ein inneres Denken. Das Außen denkt und sieht. Das Sehen ist ein äußeres Denken; es denkt das Sehen. Aber was bin ich im Begriff zu tun? Ich bin Musiker und bin dazu da, die Leute zum Hören zu bringen. Statt dessen greife ich nach der Wortsprache, obwohl ich doch weiß, daß man die Wirklichkeit direkt nur mit der Musik (und den andern Künsten) berühren kann. Die Begriffssprache hat den direkten Kontakt mit den Sinnen geopfert, um zu verstehen. Der Drang, alles, was uns begegnet, mit Hilfe der logischen Wortsprache zu verstehen, ist ein Grundzug unserer Epoche, ist unsere »Mentalität«. Diese können wir nicht abstreifen, wir können sie nur aus größerer Distanz betrachten und so die Gefahr einer Einseitigkeit vermeiden. Die Künste wie die Sinneswahrnehmung selber haben eine eigene Art des vernünftigen Handelns entwickelt, die nicht identisch mit dem Verstehen der Logik ist. Betrachten wir die Künste allein mit dem zweckgerichteten Denken – sei es Moral, Wissenschaft oder geschäftliches Interesse –, so 59 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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können wir weder ihre Sprache noch deren Bedeutung verstehen. Wir können das sehr deutlich an der Ratlosigkeit beobachten, mit der die politische Führung heute überall auf der Welt Fragen der Erziehung und der Kultur abwikkelt, wie auch an der Beflissenheit vieler Künstler, sich den Sinnbestimmungen eben dieser oberflächlichen Zweckgerichtetheit plakativ anzupassen. Ein Heilmittel kann hier nur sein, den Widerspruch zwischen der natürlichen Vernunft der Sinne und dem technisch denkenden Verstand unserer Gesellschaft bis zur in ihr verborgenen Paradoxie offenzulegen. Die Sprache kann nur Teilaspekte zeigen, welche sich natürlicherweise widersprechen. Die einzige Möglichkeit, durch die Sprache die Wirklichkeit zu erreichen, wäre also, die totale Widersprüchlichkeit von Wirklichkeit und Sprache immer wieder bewußt zu machen: sei es, indem man durch die Sprache zeigt, daß alle ihre Aussagen letztlich radikal widersprüchlich sind und ausschließlich Paradoxien ergeben (siehe die Sprachkritik Fritz Mauthners); sei es, daß man durch die Erfahrung der komplexen Wirklichkeit selber die Unmöglichkeit erlebt, sie mit Hilfe endlicher Definitionen zu verstehen. Die Essenz des Zen dient dieser Erfahrung. Die Tiefenpsychologie hat uns die Augen dafür geöffnet, durch welche Tricks im Zusammenspiel von logischer Begriffssprache und unbewußtem Fühlen unser »logisches« Bewußtsein aufgebaut ist. Zen lehrt uns, jede Aktivität des benennenden, erkennenden, planenden, rezipierenden, gestaltenden Denkens für eine bestimmte Zeitspanne auszusetzen. Im ruhigen gleichmäßigen Atmen wird unsere innere Betriebsamkeit auf einen Punkt reduziert; das heißt, unser Wille wird von sei60 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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ner unausgesetzten Tätigkeit als Wille zur Bewältigung und Steigerung des Lebens entbunden und in den »Leerlauf« geschaltet. Dort erleben wir die Nichtaktivität als den Grund unseres Daseins: das »Denken des Nichtdenkens«, wie man im Zen sagt. Wir sehen auch unmittelbar ein, daß die Tätigkeit der Sinne ein Denken auf der direkten, unreflektierten Stufe der unbewußten Natur ist – wie es Pichts Satz »Die Sinne denken« ausdrückt – und daß die Tätigkeit des bewußten Denkens auch zunächst nichts anderes ist »Wille zum Leben« (oder, mit Nietzsche, »Wille zur Macht«). Dieser Wille zur Macht steht von Natur aus im Dienste des Ego. Gelingt es uns, durch die Übung des »Leerlaufs des Willens« diesen natürlichen Automatismus auszuschalten, so können wir – nach und nach – an die Stelle des blinden Ego die Führung durch eine selbstlos-vernünftig handelnde Geistigkeit setzen (japanisch: »mushotoko«; christlich: »Liebe«). Die Künste – das, was im Mythos die Musen darstellen – haben die Chance, in einer rituellen Spielform die Erfahrung der Freiheit vom blinden Naturzwang utopisch vorwegzunehmen; als »Spiel« sind sie »schöner Schein«; als Ritus sind sie den Geist schaffendes und schärfendes Training der Menschlichkeit. Hören und Denken – es gibt zwei bestimmte Tätigkeitsformen, in denen beides eins werden muß, aber auf verschiedene Weise. Im Komponieren wird das Hören gedacht – nicht physisch praktiziert: es ist ein Hören in der Möglichkeitsform, ein Versuchs- und Probehören mit dem Ziel, ein möglichst konsistentes Stück »klingende Zeit« zusammenzusetzen (die berühmte Beschreibung Mozarts zeigt, welchen Grad von geistiger Wirklichkeit diese »Möglichkeits61 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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form« annehmen kann). Im Dirigieren wird durch den Willensakt eines »Vorweg-Denkens« die individuelle Realität eines aktuellen Hörvorgangs bestimmt. Dieser letzte Sonderfall sollte in einer eigenen Studie betrachtet werden.

Exkurs: Dirigieren als angewandtes Hören Dirigieren hat in zweierlei Hinsicht mit dem Hören zu tun. Einmal, insofern der Dirigent der berufene Wächter über die Genauigkeit der Intonation sowie über die dynamische Balance des Orchesters ist; und zweitens, insofern er den zeitlichen Ablauf des Stückes und den Charakter seiner klanglichen Erscheinung Takt für Takt nach seiner Vorstellung gestaltet. Die Arbeit an Intonation und Balance wird im allgemeinen mit Hilfe verbaler Verständigung vor sich gehen; Impulse für Attacke, Tempogestalt, Dynamik sind fundamental Sache der Gestik, der Körpersprache des Dirigenten; zum Finden der richtigen Klangfarbe ist eine Mischung von Worten und Gestik am wirkungsvollsten. In der Gestaltung der Probenarbeit wartet auf den Dirigenten eine besonders schwierige Aufgabe. Selbstverständlich ist, daß der Dirigent Körper und Geist immer in voller Konzentration auf den Fluß und den Ausdruckscharakter der erklingenden Musik zu richten hat; er muß aber während der Proben das Kunststück fertigbringen, gleichzeitig »rückwärts« zu denken: er muß sich dauernd darüber Rechenschaft geben, welche Stellen des gerade gespielten Stücks Mängel aufgewiesen haben, wieviel Zeit für ihre Korrekturen aufgewendet werden muß, ob man einzelne Gruppen des Orchesters oder den ganzen Apparat dafür braucht und in welcher zeitlichen Reihenfolge die Korrekturen am besten ausgeführt werden müssen, um möglichst 62 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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niemand warten zu lassen oder ihn zu sehr zu ermüden. Das alles muß er sich merken, obwohl er doch ganz bei der Gestaltungszeit der Probe selber sein muß. Das Orchester darf von diesen inneren Überlegungen nichts merken, sonst würde die Konzentration leiden. Ohne diese fast »schizophrene« Haltung zur musikalischen Zeit wird man nie eine effektive Nutzung der Probenzeit erreichen; manche Dirigenten lernen das nur schwer und wundern sich, warum sie oft mit der Arbeitszeit nicht auskommen. Die gesamte dirigentische Arbeit kann nur im Dienst einer bewußten, vollkommen individuellen Interpretation stehen; diese zu finden ist die vorbereitende Aufgabe des Dirigenten. Ein vom Dirigenten genau eingerichtetes Orchestermaterial ist sicher die beste Voraussetzung für die Probenarbeit, deren Ziel nur sein kann, die Art und Weise, wie der Dirigent das Stück hört, dem Orchester zu vermitteln. Verbindet sich dieses innere Hören beim Dirigenten mit der aus dem Körper kommenden aktuell-angespannten, blitzartig aktiven Willenskraft, wird das Hören also von einer Vorstellung zu einer Wirkkraft, so bildet sich zwischen Dirigent und Orchester ein geschlossener psychischer Kreis, der aus sich selbst heraus eine kontinuierliche Wirkung hervorbringt. Auf Grund dieser Wirkung erst kann es gelingen, aus den hundert verschiedenen Vorstellungen der Orchesterspieler von dem gleichen Stück eine einzige, individuell charakterisierte entstehen zu lassen. Entscheidend ist, daß es dem Dirigenten gelingt, diesen »Stromkreis« möglichst sofort zu schließen und kein Nachlassen der Konzentration zuzulassen. Sowie das Orchester der Führung entschlüpft und in die Routine gewohnter Spielweisen verfällt, zerbricht die Spannung einer authentischen Interpretation, und die Aufführung wird bestenfalls zu 63 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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einer den Buchstaben der Partitur korrekt darstellenden Veranstaltung. Die wichtigste Entscheidung, die der Dirigent treffen muß, ist die Wahl der Tempi. Das Tempogefühl ist abhängig vom Wetter – nicht umsonst bedeutet »Tempo« im Italienischen auch »Wetter«! –, von der Raumakustik wie vom Temperament des Dirigenten. Dazu muß ein Tempo in Kenntnis der Konventionen der Entstehungszeit des betreffenden Stückes und durch analytische Einsicht in seine strukturelle Beschaffenheit gewählt werden. Es dauert manchmal Jahre, sogar Jahrzehnte, bis man individuell sicher ist, das »richtige« Tempo für einen Satz gefunden zu haben. Diese innere Sicherheit öffnet die Augen für die Frage von »richtig« und »falsch« solcher Entscheidungen: denn trotz der Überzeugung, jetzt das einzig richtige Tempo gefunden zu haben, »weiß« der Dirigent genau, daß hundert Kollegen durch den gleichen ernsthaften Suchprozeß zu ganz anderen Lösungen kommen. Die innere Sicherheit ist eine subjektive Wahrheit, sie bezeugt, daß der Dirigent als individueller, einmaliger Mensch einen subjektiv »wahren« Zugang zu dem betreffenden Stück gefunden hat. Das Selbst des Komponisten und das Selbst des Interpreten haben sich vereinigt. (Natürlich findet dieser innere Prozeß nicht nur beim Dirigenten, sondern bei allen solistisch arbeitenden Musikern statt.) Zu der Frage nach dem richtigen Tempo gehört nun allerdings eine zweite, noch schwierigere: ist ein Tempo eine unveränderliche Größe, oder ist es als eine organisch atmende, sich ständig ausdehnende oder zusammenziehende Variable anzusehen? Hier haben wir die größte Mannigfaltigkeit widersprüchlicher Antworten, von der Antwort Brahms’ auf die Frage, wieso er heute ein ganz anderes Tempo genommen habe als bei dem gleichen Stück 64 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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in der gestrigen Aufführung: »Halten Sie mich für so phantasielos, jeden Tag ein Stück im gleichen Tempo zu spielen?« bis zu den Bannflüchen Strawinskys auf die Willkürherrschaft der selbstherrlichen Maestri. Ich bin heute überzeugt, daß sich diese Frage nicht ein für alle Mal entscheiden läßt. Es ist völlig unmöglich, längere Zeit in einem absolut gleichbleibenden Tempo zu spielen; verlangt man das als Komponist, so verdrängt man die unmittelbare Verbundenheit jedes Menschen mit seinem Unbewußten. Versuchen wir eine Antwort: Wir definieren das Tempo als eine mit mehr oder weniger großen Abweichungen umspielte, durch Maxima und Minima modifizierte feste Größe; wobei die Abweichungen oft durch mündliche Traditionen, in der Moderne durch besondere Zeichen bestimmt werden können. Nun gibt es die Diskussion um die unvermeidliche Veränderung, welche jede wirklich individuelle Darstellung an der Partitur vornimmt – ob absichtlich oder unbewußt. Dem Buchstaben folgen, oder diesen als eine immer unvollständige und zu ergänzende Aktionsanweisung nehmen: was ist das Richtige? Die Unterschiede in den entstehenden Interpretationen können gewaltig sein. Je sicherer der magische Stromkreis Orchester/Dirigent geschlossen ist, je mehr sich beide wie ein einziges Wesen bewegen, umso mehr verbindet sich die in der Partitur gespeicherte Individualität des Komponisten mit der des Dirigenten. Es ist wie bei einer großen Liebe: die Individuen vermischen sich, und es entsteht etwas Drittes. Es gibt Komponisten, die das nicht ertragen; Strawinskys Protest gegen die Willkürherrschaft gewisser berühmter Dirigenten seiner Zeit hat Jahrzehnte der Interpretationsgeschichte ausgelöst, in denen unter den Stichworten »neue Sachlichkeit« und »Werktreue« zum Teil bewunderungswürdig präzise, buchstabengerechte 65 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Aufführungen, zum Teil eine Unzahl langweiliger und völlig nichtssagender, manchmal fast identischer Interpretationen entstanden sind. Im Extremfall wurde die Interpretation zur Kopie, anstatt eine lebendige Nachschöpfung zu sein, manchmal sogar zu der Kopie einer schon vorhandenen Interpretation. In jedem Fall muß der Dirigent sich entscheiden, welchen Weg er gehen will. Ich werde nie vergessen, wie Sandor Vegh, in dessen Freiburger Violinklasse ich als Student gerne die Brahms- und Beethovensonaten begleitete, nach entsprechenden Diskussionen mir einmal zurief: »Du mußt dich entscheiden, ob du Toscanini oder Furtwängler werden willst – beides zugleich geht nicht!!« Und wer glaubt, daß diese Polarität etwa nur für die subjektivistische Musik des 19. Jahrhunderts wichtig sei, braucht nur einen Blick auf die geradezu steinerne Einstellung Karlheinz Stockhausens zu seinen Metronomangaben – sie waren für ihn sakrosankt – zu werfen und damit etwa die sich gänzlich der Intuition ausliefernde Haltung Giacinto Scelsis zu jeder Form von Notation zu vergleichen. Ich persönlich habe dieses Problem erst lösen können, als mir klar wurde, daß es gar nicht lösbar ist, da ihm der doppeldeutige Charakter der schriftlichen Notation von Musik selber zu Grunde liegt. Zweifellos erfand man die Notenschrift, um dem Gedächtnis aufzuhelfen und zur Bewahrung der genauen Gestalt von Musik beizutragen. Da aber die lebendig fließende Musik unendlich viel komplexer ist als jede noch so genaue Notation, setzt man mit dem schriftlichen Text ein höchst fragwürdiges Gebilde in die Welt, das keineswegs imstande ist, das musikalische Kunstwerk in allen seinen Aspekten zweifelsfrei zu beschreiben; statt dessen entsteht das Gegenteil von Eindeutigkeit, nämlich ein – sich durch den wachsenden zeitlichen Abstand immer noch vergrößernder 66 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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– Paratext zu der ersten Notation, bestehend aus den verschiedensten Lesarten und den unterschiedlichsten Aufführungstraditionen, der nun wieder die späteren Entzifferer vor das gleiche Dilemma stellt: ob sie bei ihrer Arbeit sich mehr auf ihre Intuition oder mehr auf die – notwendig unvollständige – wissenschaftliche Rationalität des Herausgebers verlassen sollen. Über diesen Punkt wird man nicht hinauskommen, es bleibt also nur, aus der Not eine Tugend, aus dem Widerspruch ein »sowohl – als auch« zu machen: nicht in dem Sinne, gleichzeitig Toscanini und Furtwängler sein zu wollen, sondern durch die Entwicklung einer wagemutigen Freude an den vielfältigen Möglichkeiten der Lesarten, die uns die Interpretation von Texten immer gewährt. Nicht eine eigensinnige Bestimmung von richtig und falsch, sondern unsere Phantasie allein kann uns hier leiten. Zurück zum zentralen Hauptpunkt des Dirigierens: der Körpersprache. Hier ist das intellektuell sehr schwer zu durchdringende »Geheimnis« des dirigentischen Metiers verborgen; hier liegt auch der Ausgangspunkt für dessen gröbste Fehldeutungen. Daß sich diese gerade in den vergangenen 50 Jahren bei einem wachsenden öffentlichen Interesse verbreitet haben, ist nicht nur die Schuld der Massenmedien (besonders des Fernsehens, das dazu beitragen mußte, die optischen Signale des Dirigenten als ästhetischen Selbstzweck zu isolieren), sondern vor allem einer Generation von Dirigenten, die sich nicht scheuten, die Lüge einer solchen Ästhetisierung des Dirigieraktes noch zu befördern. Das harte Wort »Lüge« erscheint dann gerechtfertigt, wenn man durchschaut, daß die qualitative Hochschätzung möglichst eleganter Bewegungen der »stabtragenden Frackprimadonna« (Thomas Mann) nur das Sahnehäubchen einer viel umfassenderen Ästhetisierung ist: 67 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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die nach wie vor das öffentliche Kulturleben tragende Überzeugung, daß Kunst auch im 20. resp. 21. Jahrhundert »schön« zu sein habe – wobei das Wort »schön« durchaus im Sinne des bürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts verstanden wurde (und wird). Wir haben aber in der europäischen Geistesgeschichte seit dieser Zeit der Salons eine Kaskade ganz verschiedenartiger neuer Ästhetiken erlebt, welche zum größeren Teil, vor allem was die Musik betrifft, durch die offiziellen Kulturinstitutionen höchst ungenügend vermittelt worden sind. Wir können heute nicht von Ästhetik im Singular sprechen, wir haben eine pluralistische Ästhetik – sogar das »Antiästhetische« gehört zu ihr; und es ist die Aufgabe der »Fracktragenden«, dem Publikum auch diesen letzten Abschnitt unserer Geschichte – der bis in die Gegenwart reicht – glaubhaft zu vermitteln. Und das nicht im Ghetto von Spezialfestivals, sondern im Zentrum des Musiklebens. Ein Dirigent muß heute vor allem die verschiedenen Stimmen unserer Zeit hören lernen: durch das Hören verstehen, um sie dann verstehend wieder hörbar machen zu können. Ein neues Hören wird eine neue Gestik erfordern; im Grunde erfordert jeder Stil, ja jeder Komponist vom Dirigenten eine andere Zeichengebung. Diese muß ganz im Dienst der Vermittlung des betreffenden Werkes stehen. Ich gebe zu, daß ich einem Dirigenten schon mißtraue, wenn er Mozart mit genau der gleichen Schlagtechnik dirigiert wie Schostakowitsch oder Brahms. Ein großes Kunstwerk ist Zeugnis einer bestimmten Zeit, durch die Sinne eines bestimmten Individuums gesehen (bzw. gehört). Wenn das Individuum »Interpret« sich nun mit diesem Werk vereinigen will, muß es diese beiden Quellen sozusagen körperlich erleben: dies wird bei genügender Intensität der Auseinandersetzung spontan (d. h. nicht willentlich, 68 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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nicht bewußt!) eine besondere Handhabung der schlagtechnischen Mittel hervorbringen. Diese sollte jetzt nicht, wie meist üblich, von der konventionellen Verständigungsgestik wieder verschluckt, sondern bewußt entwickelt werden: wiederum nicht um den Akt des Dirigierens als solchen zur Schau zu stellen, sondern um auf unmißverständliche Weise dem Orchester jede Nuance, jeden vom Normalmaß abweichenden Spannungsgrad unmittelbar sinnlich mitzuteilen und ein ebenso direktes Verstehen zu ermöglichen. Ich hatte das Glück, Furtwängler in seinen letzten Jahren mehrfach zu hören, auch viele Proben zu besuchen (die mir bis heute erstaunlich präsent geblieben sind). Bei ihm war von Eleganz oder Ähnlichem nicht das Geringste zu bemerken, aber auch keine Brillanz des Taktstocks, keine neiderregende Präzision des Schlages, wie ich sie bei Karajan, Monteux, Celibidache, Keilberth bewunderte. Statt dessen hatte man das Gefühl, daß er intensiv zuhörte und fast unbewußt eingriff, wenn etwas seiner inneren Vorstellung widersprach. Man erlebte das Stück in statu nascendi, es entstand vor den Ohren der Zuhörer, in einer rituellen Handlung, die den höchsten Grad an Spannung erzeugte, in der Probe wie im Konzert. Er dirigierte mit wenig körperlichem Aufwand, aber man hatte den Eindruck, daß der ganze Körper beteiligt war und daß die Willensimpulse weniger von Händen und Kopf als von einem im Körper tiefer sitzenden Willenszentrum aus gesteuert wurden (später lernte ich, daß die Japaner dieses Zentrum »Hara« nennen). Das Paradox beim Dirigieren scheint zu sein, daß der Vorgang des Bündelns der psychischen Energie des Orchesters primär von diesem verborgenen Ort des mit dem Hören des Dirigenten verbundenen Willenszentrums erzeugt wird, und gerade nicht von den wohlüberlegten und noch so perfekt ausgeführten Zeichen der Hände. Nicht das 69 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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sichtbare Signal, sondern das Hören selbst scheint zu steuern, wenn es gelingt, Musik wirklich lebendig werden zu lassen. Manchmal kann man das plötzlich spüren; ich entsinne mich, daß ich als junger Anfänger in einer der ersten von mir dirigierten Opernvorstellungen während der Wahnsinnsarie der Lucia di Lammermoor plötzlich völlig unerwartet eine Absenz jeder aktiven Anspannung und einen Umschlag in eine vollkommene Ruhe verspürte: die Musik steuerte sich selbst, die heiklen Stellen mit Flöte und Sopran setzten sich von alleine zusammen, ich bewegte kaum mehr die Hände, hörte fast auf zu schlagen. Man konnte für einige Minuten eine ganz dichte Konzentration fühlen: jeder »hörte«; Spieler, Musik und Publikum waren eins. Solche Momente sind ein seltenes Geschenk, aber sie erlauben einen Blick auf die psychischen Phänomene, die diesem seltsamen Metier »Dirigieren« zu Grunde liegen. Noch erstaunlicher sind Erlebnisse, die wohl schon etliche Dirigenten gemacht haben. Bei extremer Konzentration und musikalischer Spannung kann es passieren, daß der Dirigent für kurze Momente die sich nahende Zukunft voraushört. Ich habe z. B. mehrfach mit deutlicher Sicherheit um etwa 2 bis 3 Sekunden im Voraus gespürt, daß ein Sänger während einer Aufführung zu früh oder zu spät einsetzen wird. Ich verzichte hier auf Deutungen, bin aber sicher, daß ein Hirnforscher dazu etwas sagen könnte. Nicht nötig zu betonen, daß solche Erfahrungen uns nicht von der strengsten rationalen Kontrolle aller Details unseres Metiers entbinden, wozu vor allem auch eine genaue Reflexion der schlagtechnischen Mittel gehört. Man wird sich wundern, welcher klangliche Unterschied etwa durch einen systematischen Wechsel der Schlagebene entsteht: ob man den Schlag nahe am Körper oder in möglichst 70 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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großer Distanz setzt. Schon die Entscheidung, ob man mit oder ohne Taktstock arbeiten will, sollte gut überlegt werden. Sicher ist, daß man damit eine Vorentscheidung bezüglich der Klangfarbe trifft: ein runder, blühender Klang, besonders der Streicher, läßt sich bei entsprechender Armbewegung viel besser mit Hilfe des Taktstocks erreichen als nur mit den Armen; aber auch kraftvolle Nuancen, Akzente lassen sich mit dem Taktstock viel deutlicher darstellen. Chor oder ein Bläsersatz, seltsamerweise aber auch Schlagzeug und Klaviere lassen sich dagegen viel besser nur mit Händen und Armen führen – verlangen allerdings ganz unterschiedliche Attacken des Schlages. Während Stimmen ganz weich und fließend geführt werden wollen, verlangen die Bläser einen winzigen Anfangsakzent des Schlages; bei Schlagzeug, Harfen und Klavieren ist ein schneller energischer Herunterschlag – unabhängig von der Dynamik – »lebenswichtig«. Dieser kleine und »schnelle« Herunterschlag ist zum Markenzeichen bei Aufführungen neuer Musik geworden. Er garantiert Präzision des Zusammenspiels, erzeugt aber einen harten, gleichförmigen Klang ohne Tiefenstruktur und Wärme; wendet man ihn auf das Tutti an, so wird der Klang immer lauter und undifferenzierter. Da Präzision im Rhythmus durch den Einfluß der Tonaufnahmetechnik auch für die traditionelle Musik meist als die Hauptsache betrachtet wird, dringt dieser »Handkantenschlag« immer mehr auch in die Interpretation klassischer Musik ein, was man gerade in der Oper an den generell viel zu laut spielenden Orchestern feststellen kann. Für alle Schlagarten gilt ein Grundgesetz: der Dirigent muß den Zeitablauf des erklingenden Stückes um ein weniges früher als das Orchester denken; er muß also, wenn man so will, immer um ein Weniges »vorausschlagen«. Wartet 71 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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er auch nur eine Millisekunde nach seinem Schlag auf die Reaktion des Orchesters, so ist er verloren: er wird niemals ein Tempo klar darstellen können. Je nach dem Grad der erreichten musikalischen Spannung und der Qualität des Orchesters kann diese Millisekunde sich dehnen. Als ich zum ersten Mal in den sechziger Jahren die Berliner Philharmoniker dirigierte, stand unter anderem das 5. Klavierkonzert von Beethoven auf dem Programm, dessen Adagio bekanntlich mit leisen, schwebenden Streicherakkorden, begleitet von den Pizzicati der Bässe, beginnt. Direkt vor dem Auftritt flüsterte mir Dr. Stresemann, der unvergeßbare Intendant der Philharmoniker, zu: »Fallen Se nur nich vom Podium, wenn die im 2. Satz erst mal nich einsetzen – einfach weiterschlagen!« Eine entscheidende Hilfe, für die ich ihm heute noch dankbar bin. Das alles ist Handwerk, das zu lernen ist und das individuell verfeinert werden muß: jeder hat eine andere Körpergröße und Figur und muß seinen eigenen Schlag im Verhältnis dazu erst finden. Er muß selber herausfinden, wie das Orchester auf seine verschiedenen Bewegungen klanglich reagiert; wie es klingt, wenn er größer oder kleiner schlägt, mit dem Arm oder mit dem Handgelenk arbeitet, härter oder weicher, ruckartiger oder kontinuierlich die Figuren zeichnet. Er wird eine ganze versunkene Schicht der menschlichen Kommunikation entdecken: die Gestik als »Sprache vor der Sprache« – konkret, unmißverständlich, viel schneller als die Wortsprache. Es wird Jahre dauern, bis er seine dirigentische Schrift entwickelt hat, und er sollte mehrere verschiedene »Schrifttypen« erlernen, um sich mühelos den verschiedenen Musikstilen anpassen zu können. In diesen Lehrjahren sollte er primär nach »sicheren« Lösungen suchen, Eindeutigkeit und Klarheit der Zeichen erwerben. Ist der Dirigent »erwachsen« geworden, wird er 72 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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aber vielleicht dies alles vernachlässigen und vergessen; er wird den Schlag ganz frei, ja vielleicht auch als Möglichkeit benutzen, das Orchester zu überraschen, sogar zu verunsichern, um so extreme Wirkungen zu erzielen. Sein Schlag wird sich von alleine immer weiterentwickeln und ausprägen, wie eine Handschrift sich ausprägt. Unbedingt zu empfehlen ist das Auswendigdirigieren – wenigstens was die Hauptwerke der klassisch-romantischen und impressionistischen Tradition betrifft. Es erlaubt eine besondere Freiheit in den Körperbewegungen und erlaubt eine größere Freiheit in der Disposition der musikalischen Zeit, die nicht mehr an die Dauer einer Partiturseite gebunden ist. Dem Anfänger droht beim Auswendigdirigieren allerdings eine Art Bewußtseinskrankheit: Er muß sich hüten, seine Gedanken auch nur im mindesten vom aktuell erklingenden musikalischen Text abschweifen zu lassen, sonst kann es passieren, daß er mitten im Gedankengang – »Bin ich jetzt in der Reprise oder in der Durchführung?« – den Kontakt mit der Musik verliert. Die Neue Musik verlangt darüber hinaus manchmal eine ganz neue Zeichengebung. Soweit es sich um durch Zahlen gekennzeichnete Einsätze oder um anzuzeigende Zeitabläufe handelt, muß der Dirigent sich auf verbale Vermittlung in den Proben beschränken. Spannend wird es aber, wenn die Partitur improvisierende Verhaltensweisen verlangt und der Dirigent solche improvisierten Augenblicksentscheidungen zu steuern hat. Vor allem Earle Brown hat hier ganz neue Aufgaben gestellt. Viele seiner Stücke bestehen aus unbezeichneten Fragmenten von Tonreihen für in Gruppen aufgeteiltes Instrumentalensemble (bis hin zum großen Orchester). Der Dirigent setzt nun, live durch Handzeichen, nicht nur die Gruppen nach seiner eigenen Vorstellung in Aktion, indem er über ihren Beginn, 73 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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ihre Einsatzreihenfolge, mögliche Wiederholungen einzelner Abschnitte und deren zeitliche Überlagerung frei entscheidet, sondern er bestimmt auch durch seine nach freier Entscheidung gehandhabte Körpersprache über die Dynamik der Fragmente (einschließlich der Crescendi und Diminuendi, Sforzati oder plötzlicher Stopps bis hin zur Generalpause), über Einsätze einzelner Spieler, über das Tempo der Fragmente mit den möglichen Extremen eines loop (sei es im prestissimo oder in Fermaten einzelner Akkorde aufgelöst); er kann mit bestimmten Bewegungen nicht nur dichte Zufallstexturen auslösen, sondern auch Melodien in Unisonoakkorden in von ihm geführten individuellen Rhythmen entstehen lassen. Ich kenne keine bessere Schule, um die Möglichkeiten dirigentischen Ausdrucks zu studieren und zu üben. Hier ist Dirigieren zu einer komplexen Version von Neumenschrift, zu einer Art »action composing« geworden. Die Neumenschrift entstand im Mittelalter als Vorläufer der modernen Notenschrift aus der Aufzeichnung der Dirigierbewegungen des Leiters des gregorianischen Choralgesangs (der damals ja noch mündlich überliefert wurde). So schließt sich ein Kreis: die hochkomplexe Notenschrift unserer Zeit trifft wieder auf ihren geschichtlichen Anfang. * * * Im Kult der Musen besteht – wie es Raoul Schrott in seiner wunderbaren Ausgabe der »Theogonie« ausführlich belegt – ein inniges Verhältnis zwischen den Musen und ihren menschlichen Sprachrohren, den Dichtern. Deren Sprechen ist zunächst ein Hören; die Worte, die sie von den Musen ins Ohr geflüstert bekommen, sind zunächst ein »Hall«, ein Geräusch, das aus der Erde aufsteigt: »So ziehen sie zum Olymp, sich ihrer schönen Stimme erfreuend in un74 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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sterblichem Gesang – die dunkle Erde erschallt ringsum und unter dem berückenden Tanz ihrer Füße erhebt sich der Hall, wenn sie zu ihrem Vater eilen.« Im chinesischen »I Ging«, dem »Buch der Wandlungen«, heißt es im Kommentar zum Zeichen YÜ, »die Begeisterung«: »Der Donner kommt aus der Erde hervorgetönt: Das Bild der Begeisterung. So machten die alten Könige Musik, um die Verdienste zu ehren, und brachten sie herrlich dem höchsten Gotte dar, indem sie ihre Ahnen dazu einluden.« Die Wirklichkeit des Hörens beschreiben – man könnte auch sagen, eine Phänomenologie des Klangs entwerfen, aber das würde außer Acht lassen, daß das Wort »Phänomenologie« aus der optischen Sphäre kommt. Sehen und Hören sind beides elementare Erfahrungen der Wirklichkeit, aber sie funktionieren auf ganz verschiedene Weise. Während das Sehen sich mit dem »Außen« des Körpers beschäftigt und eine räumliche Distanz zum betrachteten Etwas voraussetzt, ist das Hören eine Art Einverleibung der als Außen erlebten Klänge in das »Innere« unseres Körpers – es sei denn wir hören auf von uns selber hervorgebrachte Klänge. Das Hören spielt sich im Medium der Zeit ab, hat also einen direkten Bezug zu der Weise, in der wir als zeitliche Wesen in der Welt existieren; das Sehen schafft unsere Wahrnehmung des Raumes: dessen, was wir zunächst als das »um uns herum« notieren. Seitdem wir nun die Sprache entwickelt haben, und damit bestimmte Vorstellungen, welche mit von uns erfundenen »Klangstrukturen«, den Wörtern, verbunden werden, zur Verfügung haben, fühlen wir uns an das Sehen als der sozusagen offiziellen Grundlage unserer bewußten Wahrnehmung gebunden: wir benutzen nämlich die in der Erinnerung gespeicherten und von ihr abgezogenen Bilder 75 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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als Material für die Vorstellungen der in uns durch die Sprachklänge abgerufenen Assoziationen. Hören ist aber keine Vorstellung, sondern eine Wirklichkeitserfahrung, die sich (komplementär zum Sehen) mit Vorliebe mit den unsichtbaren bzw. vom Sehen nicht als gegenständlich erfaßten Strukturen der Wirklichkeit beschäftigt. Sprache ist von Anfang an eine Mischung aus affektiv-naturhafter rhetorischer Gestik und der von unserem Verstand vorgenommenen Konstruktion ihrer Bedeutung. Sprache findet im Medium der Zeit statt; das heißt, ihre Grundlage ist die unauflösliche Eingebundenheit in die sich von der Vergangenheit ständig in die Zukunft stürzende Erlebniszeit; diese steht keinen Moment still und kennt kein als »Sein« oder als »Gegenstand« faßbares Stadium. Das Hören in seinem Grundzustand hat genau diese Struktur, während das Sehen auf den Erscheinungen fußt, die unser Gesichtssinn wahrnimmt. Diese als räumliche individuelle Gestalten erscheinenden Formen werden von uns als dauerhaft verstanden: in Wahrheit sind sie ebenso flüchtige und sich ständig verändernde Konstellationen wie das vom Hören Ertastete. Das Sehen liefert uns also, solange wir ihm direkt »glauben«, Erscheinungen im Sinn von »scheinhaften« Informationen. Es geht nun darum, die primäre Wirklichkeitserfahrung der Sinne von der im Lauf der menschlichen Geschichte darüber gelagerten Wirklichkeitsinterpretation der Sprache zu unterscheiden. Die Sprache schafft Vorstellungen; sie interpretiert die Welt: durch die Auswahl ihrer Bilder; erst recht durch den im Lauf der Zeit sich ergebenden positiven oder negativen Nimbus, der sich um bestimmte Wortfelder herum bildet. In diesen tradierten Sprachformen wird man eine Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewußtseins finden können, mit reichen Ablagerungen aus 76 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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ihren verschiedenen Stadien. Allen Wortsprachen ist aber wohl gemeinsam, daß sie ihre Bilder und Begriffe fast immer aus der sichtbaren, äußeren, räumlichen Welt unserer körperlichen Existenz nehmen. Jean Paul hat darauf aufmerksam gemacht; er vermutet, daß wir ein ganz anderes Weltbild hätten, wenn wir unsere Metaphern nicht fast ausschließlich aus der optischen Sphäre, sondern mehr aus der akustischen genommen hätten. Selbst die Termini der Musik, ihr Fachjargon wie ihre freien Beschreibungsformen, operieren ja mit räumlichen Metaphern: hoch – tief, lang – kurz, vorwärts – rückwärts, nebeneinander – überlagert, Höhepunkt – Tiefpunkt, schwer – leicht usw. Selbst das Gegensatzpaar »dunkel – hell« assoziieren wir primär mit Lichteinfall, erst sekundär mit Klang – etwa als dunkles Donnergrollen und heller Vogelgesang. Die Sprache interpretiert die Welt also als – durch die Augen erkennbare – äußere Wirklichkeit. So ist es ja auch ganz natürlich für das zunächst noch kaum bewußte Wesen Mensch, das versucht, sich in seiner Welt zu orientieren. Daß es auch den Augen verborgene, nämlich zeitliche Wirkkräfte gibt, lernt es dann vielleicht zunächst durch sorgfältige Beobachtungen: wie zum Beispiel das Fortschreiten der Zeit durch die Bewegung der Sterne oder durch die Beobachtungen der organischen Abläufe in unserem Körper; vor allem aber durch das Hören auf die Stimmen der Erde, der Elemente wie der Geschöpfe, die sie bevölkern. Gaia, die Erdmutter: sie gebiert dem Uranos, dem Sternenhimmel, viele Kinder, welche Uranos zu vernichten sucht. Durch List rettet sie ihren Sohn Kronos und ermutigt ihn zum Aufstand gegen seinen Vater. Kronos, der Zeitgott, ist jetzt zusammen mit seiner Mutter Gaia Herrscher über das Weltall. Listig, grausam, wird er von seinem Sohn Zeus be77 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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siegt, welcher mit Pluto und Poseidon, seinen Brüdern, jetzt das Regiment als gerecht ordnender Himmelsgott führt. Aus der »Theogonie« kann man lernen, daß auch der Urvater Uranos einst von Gaia geboren wurde. Die Welt gebiert sich selbst. Hören wird nie eine Ganzheit (als simultan erscheinende Form) wahrnehmen können, da sein Medium die ständig wechselnde Zeitwahrnehmung ist. Sehen jedoch fixiert für uns weitgehend »Objekte«, hält die fließende Zeit an, fokussiert Fragmente, als wären sie Ganzheiten, und leitet sein Wissen davon ab. Es gibt allerdings hörendes Sehen: ein verweilendes Sehen, das im Verweilen wieder die im Bild eingefrorene Bewegung entdeckt, so wie ein sehendes Hören, das das Gehörte fixiert und – in der Musik – zu identischen Zeitformen kommt: zu hörbaren Objekten, wie Themen, Motiven, sequenzierten Intervallen. Ein Fugenthema wird in der Sprache des barocken Kontrapunktes »Subjekt« genannt, ein Kontrapunkt »Comes« (Gefährte). Um diese vergegenständlichten Zeitgestalten zu etablieren, müssen sie wiederholt bzw. fortgesetzt werden. Man kann in der europäischen Musiktradition eine steigende Vorliebe für solche Gestalten finden, bis hin zum Leitmotiv Wagners. In der Neuen Musik ist dagegen das Bedürfnis nach einer radikal sich erneuernden Form zum Gesetz geworden; man meidet Wiederholungen, Symmetrien, Bildung von regelmäßigen Abschnitten etc. Diese formale Strategie fokussiert den offenen Charakter der fließenden Zeit des reinen Hörens, im Gegensatz zum Errichten von musikalischen »Architekturen«. Man könnte sagen, daß sich in den extremen Bezirken der modernen Malerei wie z. B. im amerikanischen Expressionismus und der »hard-edgeKunst analoge Tendenzen zeigen: bildende Kunst will den 78 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Raum als reines Phänomen zum Erlebnis bringen und nicht Abbilder von Figuren und Gegenständen. So kann sehendes Hören und hörendes Sehen sowohl bei bildender Kunst wie bei Musik möglich werden – aber in welch verschiedenem Sinn! Man kann sagen, daß die Avantgarde des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal das Wesen des Hörens in der Musik sowie das Wesen des Sehens in der bildenden Kunst radikal zur Form gebracht hat. Schönberg und Newman! Sie lehren uns zum zweiten Mal Hören und Sehen, wenn auch so, daß uns erst einmal Hören und Sehen vergehen will. Höhlengleichnis. Der Gefangene, der sich frei fühlte, obwohl er gefesselt war, fühlt sich unfrei, wenn er von den Fesseln gelöst wird. Durch das Umwenden wird ihm ein Zustand bewußt, in dem er früher war, ohne es zu ahnen – das ist ein wunderbar genaues Bild für den epochalen Wechsel der Paradigmata von Zeit und Raum in den Künsten der Moderne. Mythos: bildliche Darstellung einer Wahrheit, die sich in diskursiver Sprache nicht darstellen läßt (Picht). Dann dürfte man doch sagen: die ungegenständliche Denkweise ist das Denken des Innen, des Mystischen, das seine Gestalt verbirgt; alles was in diskursiver Sprache gesagt wird, ist Mythos, welcher der scheinhaften Wirklichkeit der Bilder und des Räumlichen Worte und Begriffe gibt. Läßt sich die Wahrheit also überhaupt nicht darstellen? – Ihre Nichtdarstellbarkeit läßt sich darstellen – das zeigen die Sprachen der Künste. Der Zustand, in den der Philosoph durch die Reinigung von den Affekten gerät, heißt bei Platon galene: Meeresstille. Interessant ist, daß ein genau entsprechendes Wort in den Reden Buddhas als Bezeichnung für ein bestimmtes

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Stadium der Meditation verwendet wird (Übersetzung Karl Eugen Neumann: »die innere Meeresstille«). Das Einhauchen des heiligen Pneuma durch die Musen ist der Ursprung des Begriffes der Inspiration. Durch sie wird der Dichter befähigt, die göttliche Wahrheit auszusprechen. Die Musen machen ihn aber darauf aufmerksam, daß ihre Einflüsterungen doppeldeutig sind: »Wir wissen viel Falsches zu sagen, das Wirklichem gleicht. Wir können aber auch, wenn wir wollen, das Wahre berichten.« Wahrheit der Musen: Leben in der Präsenz des Geistigen. Hesiod: die Götter hauchen ihm die Stimme ein, damit der Klang der Stimme nicht zu trennen ist von dem Inhalt des Gesagten. Die innere Sicherheit des schöpferischen Menschen, etwas existentiell Wichtiges zu tun, obwohl doch sein von der heutigen Gesellschaft geprägter Verstand ihm sagt, daß alles nur unverbindliches Spiel sei: sie zeigt doch, daß unser heutiger Kulturbegriff viel zu vage ist, um das Fundament unserer eigenen Erfahrungen beschreiben zu können. Wir belügen uns über den Geist: er ist auch unser vitales Zentrum. Platon: »die Dichter lügen«; die Imagination hat die Funktion, die Wahrheit des Logos zu zeigen und vom Schein der shiki-Welt zur Aufhebung dieses Scheins zu führen: das heißt, zu ku, dem Einen. Die Musen eröffnen also den Weg zur Erkenntnis der inneren Wahrheit, und zwar wiederum nicht zur Scheinwahrheit der Form, sondern zur in Sprache nicht faßbaren Wahrheit des Geistigen. Diese Wahrheit ist in den Religionen verborgen; ihre Offenbarung ist begriffslos mystisch. »Der Nous ist mit der Einheit der Zeit und des Seins nicht identisch, sondern er ist das Vermögen, diese Einheit 80 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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zu schauen. Die Erscheinung der Einheit der Zeit ist die Erscheinung der Wahrheit des Seins« (Picht). Ich versuche – in einer sehr heiklen Transaktion!! – eine »Übersetzung« dieser Quintessenz einer bestimmten Phase des griechischen Denkens ins Buddhistische: Einheit der Zeit = Sein = Ku = Denken des Nichtdenkens = Leere; Nous = Erscheinung = Wesen = Shiki = Denken als Erkennen. Traduttore – traditore: In Frankreich wollte man den Titel meines Buches »Die Sinne denken« mit »Penser les senses« übersetzen. Es muß natürlich heißen: »Ce sont les senses qui pensent«. Dieser Satz wird langsam zu meinem KOAN; in der Tat eignet er sich dazu, das alte (wie das neue!) dualistische Weltbild in die Luft zu sprengen. Dabei will er doch nur der alten Erfahrung Ausdruck geben, daß Sinnlichkeit der Sinne und Intelligenz des Verstandes im Logos eines sind: weil der Logos das Leben ist. Ich »übersetze« das jetzt in die »Form« der Zwölftontechnik Schönbergs: Quaternion: Originalgestalt: Die Sinne denken.

Umkehrung: Das Denken geht durch die Sinne.

Krebs der Originalgestalt: Das Nichtdenken bewirkt die Ablösung der denkenden Sinne vom Ego.

Krebs der Umkehrung: die Ablösung der denkenden Sinne vom Ego bewirkt das Leben im Geist.

Unser Sprachverständnis ist im Lauf der letzten Jahrhunderte sehr einseitig geworden. Sprache scheint uns fast nur 81 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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noch zur Ordnung der äußeren Welt und zur Informationsübermittlung zu dienen; daß sie aber auch Ausdruck unseres Inneren, daß sie sowohl Material für die großen Dichter wie auch in allen Religionen Träger göttlicher Offenbarungen in Orakel, Mythos und heiligen Schriften ist, haben wir verlernt zu verstehen. Und ebenso haben wir angesichts des gewaltigen positiven Wissens, das wir dank der Sprache gewonnen und gespeichert haben, das Verständnis für die Sprache der Musik verloren: für ihre Sprache der Sprachlosigkeit, die uns Auskunft über unsere innere Welt, über unser Selbst gibt. Die Musik, die in unserer Gesellschaft nur noch zu Unterhaltung und Genuß zu dienen scheint, stand noch zu Bachs Zeiten im Mittelpunkt der Bildung. Für die Romantiker Geheimnis, für Adorno Rätselschrift, kann sie für uns – nach Überwindung ihrer Banalisierung – die Erinnerung an ihre geschichtliche Genese mit der Utopie ihrer zukünftigen Lebendigkeit verbinden. Denkverbote haben immer etwas Lächerliches. Ich habe trotz Saussures Ex-cathedra-Entscheidung, Nachdenken über den Ursprung der Sprache sei unwissenschaftlich, mir immer Gedanken über die Definition dessen gemacht, was wir Sprache nennen: einfach deswegen, weil mir ihre verschiedenen Dimensionen in den verbreiteten Schulen selten klar dargestellt erschienen. Wenn der Logos als Lebenszentrum in der vorlogischen Naturhaftigkeit entspringt, müssen wir eine magisch-vorsprachliche Ebene von Zeichenbildung annehmen, in der keine Polarität von dem besteht, was man später als logische Wort- bzw. Begriffssprache auf der einen und künstlerische »Sprache« auf der anderen Seite bezeichnen wird. Versucht man dann noch eine »negative« dritte, mystische Ebene der Sprache zum Ausdruck zu bringen, um das überbegriffliche »Denken des Nichtden82 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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kens« bewußt zu machen, würde man zu einer neuen komplexen Zeichentheorie kommen, in der die Logik zwar im Zentrum steht, aber nicht in den übrigen Regionen des Ganzen herrschen würde. Wir sind ganz begierig darauf, uns vom Weltall versichern zu lassen, daß alles feststeht und letzten Endes ewig gleich bleibt – d. h. nach etwaiger Bewegung wieder in die Ausgangslage zurückkehrt. Das ist typisch für die Fixierung unserer Vorstellung auf die räumliche Sphäre, die ja kurzfristig als sich gleich, und unbeweglich, erscheint. »Raum ist diejenige Anordnung, in der uns die Dinge gegeben sind, wenn wir sie uns als gleichzeitig vorstellen wollen« (Husserl). So ist der Raum durch die Gegenwart konstituiert: Parmenides verstand die Einheit der Welt als Einheit der Zeit in der ewigen Gegenwart. Wir haben aber inzwischen gelernt, daß das Weltall expandiert. Nichts steht fest, am wenigsten offenbar Raum und Zeit. Die Musik kann uns eine ganz andere Zeit zeigen, welche gar keine reine Gegenwart kennt, sondern ständig von der Vergangenheit in die Zukunft fließt, welche sich nicht als Kontinuum, sondern als permanente Veränderung – oder wenn man will, als unendlich fragmentierte Zeit darstellt, wie es das Denken Heraklits entworfen hat. Hier stehen sich zwei Interpretationen der Welt gegenüber, die eine sich an dem ewigen Wechsel aller Dinge orientierend, die andere überall das Eine suchend. »Die Welt ist uns noch einmal unendlich geworden, insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt« (Nietzsche). Erst wenn wir mitten im Chaos der sich ständig neu formenden Ereignisse die regelmäßige Wiederkehr der Um83 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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stände täglich voller Überraschung wahrnehmen, nähern wir uns der Wirklichkeit unseres Lebens. Dazu kann uns die Musik den Weg zeigen. Im chinesischen »Buch der Wandlungen« hat das Zeichen FU die Bedeutung der organischen Wiederkehr der verschiedenen Lebensprozesse. FU dient dazu, Erinnerung zu schaffen, um durch diese sowohl Dauer wie Wechsel bewußt zu machen. Man hat das dunkle Gefühl, daß unsere Gesellschaft dabei ist, das größte Geschenk, das uns die Musik gibt, zu verspielen: mit ihrer Hilfe den unaufhörlichen Überredungsversuch zur Verdinglichung, den das diskursive Denken, ja die Sprache selbst durch ihre permanente Anwesenheit heute auf uns ausübt, abzuwehren oder wenigstens abzuschwächen. Statt die tiefsten Blicke in unser inneres Getriebe, und damit in das Innere der Welt, weiter zu vertiefen in Regionen, welche die Sprache kaum berühren kann, geschieht in den offiziellen Rahmenbedingungen unserer Restkultur – die selbst diesen Namen kaum mehr verdient – alles, um die Aufmerksamkeit unseres Geistes im Augenblick des Hörvorgangs von eben dem reinen Hören – vom »In-uns-hinein-Hören« – abzulenken, durch das allein die Musik zu uns »sprechen« kann. Statt dessen wird die Musik selber durch ein endloses »Metapherngestöber« (Celan) interpretiert und so in die groben Signale der Dingsprache zurückverwandelt. Von den subtilsten bis zu den allerprimitivsten Sprachbildern wird den Klängen eine Bedeutung unterschoben, die sie doch gerade überschreiten und durch diese Überschreitung Bild und Sprache zur Aussage des Nichtaussagbaren bringen will. Am schamlosesten finden wir das in der Filmindustrie gehandhabt, wo Musik schon kaum mehr erfunden, sondern nur, in Klischees verwandelt, zur ödesten Illustrierung von Gegenständen und Handlun84 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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gen abgerufen wird. Durch ihre immer weiter fortschreitende Ausklammerung aus einer eigengesetzlichen Rezeption kann sich Musik in unserer Gesellschaft immer weniger gegen diesen Mißbrauch wehren. Sie wird als irrationale »Sprache der Gefühle« oder als motorische Vitalität mißverstanden. Das Unverständnis für die »Vernunft der Affekte«, wie man sie in den Künsten studieren kann, entspricht übrigens auch einer fortschreitenden Intellektualisierung der Rezeption gerade der modernen Musik: immer wieder wird die Gutwilligkeit des Hörers, Neues zu verarbeiten, auf das falsche Gleis des formalen Handwerks der Komponisten gelenkt, als ob dieses die Musik sei, da es doch nur Mittel zum Zweck ist. Wir müssen das Hören neu entdecken, das Hören aber nicht einschränken auf das verstehende Hören im Sinn von bloßer formaler Analyse, sondern im Sinne des Sich-Öffnens für das Unbekannte, noch vor uns Liegende. Um den Logos als Leben im vollen Sinn zu erfassen, genügt es nicht, ihn als Einheit von Affekt und Erkennen zu verstehen. Raoul Schrott verweist auf den Ursprung des klingenden Wortes in Naturorakel und liturgischen Feiern, und noch darüber hinaus auf elementare Klangphänomene. »Denn mit aeido wird auch das U-hu einer Eule benannt, der dumpfe Hall eines Steins, an den man schlägt, und das Rauschen des Windes in einem Baum« … »Verdeutlicht wird dies durch das Verb geryo, mit dem die Musen … ihre Wahrheit verkünden. Es sticht aus dem Wortfeld des Sagens, Erzählens und Redens, von dem es im Text umgeben ist, heraus, indem es ein ›Ertönen lassen‹ ausdrückt. Es ist auf gerys – Ruf, Klang, Schrei, Seufzen – und auf gerygone – Schall, Echo – zu beziehen und meint damit eine Art bauchredendes Sagen, eine Lautkontur, die man noch vor 85 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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jedem Verstehen vernimmt, ein Ertönen und ErklingenLassen«. Der Mythos weist also hier auf eine vor der Polarisierung von Musik und Wortsprache liegende natürliche Einheit hin, ein »Bauchreden« der Natur im Menschen. (An diesem Punkt könnte man sich den Ursprung der Künste, ja vielleicht sogar der Religionen vorstellen.)

Auch für den Beruf des Regisseurs steht das Hören im Zentrum seiner Arbeit. Zwar ist der Raum – als Bühnenraum – sein Turnierplatz, und die Augen bilden die Grundlage seines Denkens. Aber die Sprache bzw. die komponierte Sprache ist der Ausgangspunkt. Seine Arbeit ist also eine Übersetzung des Klingenden ins Optische, zu der auch der Entwurf des Bühnenbildes und der Kostüme gehört; er bewegt die Figuren und bestimmt das Tempo im Einklang mit der Weise, wie er den Text des Dichters resp. Komponisten hört. Sein »Material« ist die klingende Einheit, die der Komponist als Partitur vorgelegt hat – eine unlösliche Verbindung der autonomen Form der Musik mit dem dichterischen Wort, eingefügt in eine große Konstruktion der musikalischen Zeit. Diese Zeitarchitektur des Komponisten muß der Regisseur inszenieren. Dabei muß er die ganz verschiedene Art und Weise verstehen, wie die Musiker im 17., 18., 19. oder 20. Jahrhundert die Zeit als Ganzheit einer Form dachten: additiv und mosaikartig, die Gegensätze sich aneinander abarbeitend, symphonische Riesenformen bauend. Selbstverständlich existiert die Möglichkeit, ein Theater aus archaischen Bausteinen, aus Gesten, Schreien und unartikulierten Lauten zusammenzusetzen – die Entwürfe Artauds haben ja schon ihre Wirkungsgeschichte gehabt. Will man aber ein Drama der klassischen Tradition oder eine Oper inszenieren, so übernimmt man die Verpflich86 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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tung, die betreffende Form auf die Bühne zu bringen. Will man eine ganz andere Art von Theater machen, so muß man etwaige Worte und Töne als Eigenschöpfung beisteuern und als solche ankündigen. Man muß den eigenen Kopf hinhalten und sich nicht hinter den Namen großer Autoren verstecken. Andernfalls würde man eine grobe Respektlosigkeit gegenüber einem Autor begehen, dessen Text zum frei gehandhabten Spielmaterial eines Theatermachers herabgewürdigt wird. Handelt es sich um einen lebenden Autor, gar um eine Uraufführung, welche niemandem bekannt ist, so würde eine Inszenierung gegen die vom Autor gewünschte Theaterform unter Umständen auf eine künstlerische Schädigung hinauslaufen, gegen die sich der so gut wie rechtlose Autor kaum wehren kann. Natürlich muß es Platz für Mischformen verschiedener Inszenierungstraditionen, ja verschiedener Stücke geben. Aber wollte der Regisseur zum Beispiel eine Form kreieren, welche ein bekanntes gegebenes Stück mit einem zweiten – vielleicht von ihm selbst stammenden – Stück verbindet, entweder als Collage oder in Gestalt von verfremdenden Variationen, Parodien oder Stilmischungen, so müßte diese Form sowohl als Doppelautorschaft angekündigt wie auch als eine Art von Autoren-Dialog völlig transparent konzipiert werden. Ich habe einige solche Stücke geschrieben, die ich als »komponierte Interpretationen« bezeichnet habe. Werden solche sehr heiklen Mischformen konzipiert, muß ein Höchstmaß von Respekt, ja Liebe zu dem als Ausgangspunkt dienenden Stück zu spüren sein. Sonst wird das neue Stück nicht gelingen. Ich habe einmal erlebt, daß ein Regisseur zur ersten Stellprobe der »Traviata« den gesamten Apparat der Ausführenden antreten ließ und erklärte, er sehe seine Aufgabe als Regisseur dieses Werkes darin, allen Mitwirkenden und dem Publikum un87 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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widerleglich zu beweisen, daß diese Oper ein verlogenes, kitschiges, in jeder Hinsicht nicht aufführenswertes Stück sei. Ein anderes Mal hatte ich den »Fidelio« mit einem Regisseur aufzuführen, welcher sich in den Kopf gesetzt hatte, die – zugegebenermaßen schwachen – Dialoge und Arientexte des Werkes neu zu schreiben. Wir erlebten trotz grundsätzlicher Bereitschaft der Sänger während der Proben einen seltsamen, aber völlig unfruchtbaren Prozeß der »Entfremdung«: obwohl keine Note geändert war, klang das Stück durch den neuen Text jetzt wie ein Torso, dem etwas Unersetzliches entnommen worden war. Es stellte sich heraus, daß die klangliche Einheit, zu der Beethoven Musik und Sprache der gesungenen Teile gebracht hatte, nicht akzidentiell, nicht äußerlich war, sondern – unabhängig von der Qualität und dem Inhalt des Textes – eine solche Verbindung der Vokale und Konsonanten der Textworte mit dem Klang und Ausdruck der Musik geschaffen hatte, daß das Ganze des Werkes mit dem neuen Text unerträglich »falsch« klang und wir den Versuch einer Neufassung aufgaben. So frei der Regisseur in allen Dingen, die das Sehen betrifft, sich fühlen darf, so sehr muß er sich einer strengen Bindung an das, was in der Oper hörbar ist, bewußt sein: er muß, weil er sonst dilettantisch mit seinem Material umgehen würde: er würde vergessen, daß die Oper nicht ein Schauspiel mit Musikbegleitung ist, sondern eine eigene Form, welche die »von der Mode streng geteilten« Sprachen der Musik und der Worte wieder zusammenführt (gerade hier wird der utopische Grundcharakter der Kunstform Oper deutlich). Er würde auch vergessen, daß für die Sinne des Opernbesuchers das dominierende Element die Musik ist und bleibt – die Musik, welche ja nicht nur die Farbe 88 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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und die Expressivität jedes Einzelmomentes bestimmt, sondern vor allem die zeitliche Architektur des Ganzen. Eine Ouvertüre, ein Zwischenspiel sind rein musikalische Formen, während deren Dauer der Zuhörer sich ganz auf das Hören als Grundlage der Opernform konzentrieren soll. Ignoriert der Regisseur das und bebildert solche Teile, so begibt er sich auf das Niveau von Walt Disney; er führt nicht nur seine eigene Arbeit, sondern auch die Form »Oper« ad absurdum. Diese Form will und kann nicht den Text in einer optimalen Deklamation und Verständlichkeit präsentieren – daran ändern auch die (nebenbei gesagt, jeder künstlerischen Formidee Hohn sprechenden) auf das Bild geklatschten Textbänder nicht das Geringste –, sondern die Kunstform »Oper« will durch die Musik aus dem Text gerade seine jede Bedeutung übersteigende innere Sinnhaftigkeit entbinden. Nicht etwa aus dem Libretto und der in seiner Bilderwelt chiffrierten Geschichte, sondern aus der Sinneinheit Wort/Ton, die der Komponist gefügt hat, besteht das Material, das der Regisseur auf die Bühne bringen soll. Wenn dann zum Beispiel, wie es mir in einer Inszenierung der »Soldaten« passierte, in einem vom Komponisten als Ruhepunkt nach einer Folge sehr dramatischer Szenen gesetzten wispernd-leisen Orchesterzwischenspiel zwei Gruppen von Statisten über die Bühne gejagt werden, während das Orchester im äußersten Pianissimo spielt, zeigt das nur, daß der Regisseur die Partitur nicht verstanden oder gar nicht gelesen hat (wobei Regisseure, die Partituren überhaupt lesen können, sowieso sehr selten geworden sind). Wenn allerdings, wie auch schon geschehen, in der grandiosen Schlußszene der »Soldaten« die Filme und sogar die Tonbandmontagen gestrichen werden, obwohl sie Teil des seriellen Sinngefüges der Partitur sind, kann man nichts 89 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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mehr sagen. Hier fehlt die rudimentärste musikalische Bildung, und man wittert ein Analphabetentum, das wohl gar nicht imstande ist, die musikalische Form »Oper« »richtig herum« zu lesen: nicht die Musik stellt den Text dar (das kann sie gar nicht, noch nicht einmal im Tonfilm, wo sie ständig so tun muß, als könnte sie es), sondern der Text ist ein Subtext, um die Geheimschrift der Musik eines Meisterwerkes musikalisch zu entziffern. Dabei ist die Arbeit des Regisseurs essentiell für das Zustandekommen des Einzigartigen, was die Oper ausmacht: ich möchte es das Säkularisiert-Liturgische nennen, den alle Sinne ansprechenden und einbeziehenden Ritus, der Denken und Sinnlichkeit, Worte und Bild und Musik, Hören und Sehen zu einer körperhaften Einheit verbindet. Ich bin all den Regisseuren, bei welchen ich während einer Zusammenarbeit spüren konnte, daß sie nicht nur denken, sondern auch hören konnten, tief dankbar, wie Achim Freyer für unseren Kölner »Cardillac«, Hans Neugebauer für unseren »Ring« in Kiel, 1971/72: Der erste Pop-Ring (und es war kein Takt »gegen« die Musik inszeniert!); wie Alfred Kirchner, der die Uraufführung meines »Stephen Climax« ohne jedes Vorgespräch traumhaft »richtig« machte in Frankfurt 1986; Harro Dicks für Fortners »Bluthochzeit«, jede Bewegung der Figuren im Sinne der Musik »choreographiert«, eine Regiepartitur so genau wie eine musikalische realisiert; wie Klaus Michael Gruber für den »Don Giovanni«. In all diesen Partnerschaften konnte ich nicht nur unvergeßliche Erfahrungen sammeln, sondern auch viel lernen, vor allem lernen, was der Hörer/Zuschauer aus der Häufung der künstlerischen Mittel, die die Form der Oper provoziert, eigentlich letztlich mitbekommt. Immer wieder erfuhr ich, daß nicht Gedanken und Konzepte oder gar ideologieträchtige Intentionen künstlerisch zählen, son90 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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dern nur das, was durch die Sinne den Weg zum Hörer/Zuschauer findet. In der Neuzeit ist es wohl vor allem Nietzsche, welcher durch die zentrale Stelle, an die er die Kunst rückt, eine neue Bewertung der sinnlichen Wahrnehmung notwendig erscheinen läßt. Den Geist da neu zu finden, zwischen der Skylla einer nicht mehr reflektierten bloßen Sinnlichkeit und der Charybdis eines ideologisch-politisch orientierten Intellektualismus: das wird die Aufgabe einer wahrhaft »fortschrittlichen« kommenden Opernregie sein.

Was zieht uns an einem guten Krimi so an (abgesehen von den selbstverständlichen Voraussetzungen eines perfekten Handwerks und eines guten Geschmacks)? Ist es ein gewisser Masochismus? Vielleicht die Sehnsucht nach dem in der Hochliteratur abhanden gekommenen epischen Element? Wenn man in Betracht zieht, daß bei den großen Krimi-Autoren immer wieder eine gleichbleibende Detektivfigur eine Serie zusammenhält, scheint das dafür zu sprechen. – Nun ist der Detektiv manchmal ein richtiger Antiheld, also sicher nicht die Person des Ich in der Traumwelt der Krimihandlung. Dieses Ich ist vielleicht mehr in dem Mörder zu suchen, es versteckt sich wohl eher in den schäbigen, heruntergekommenen Existenzen, den Lügnern und Schuften des Romans; oder gar in den Opfern. Vielleicht gestaltet sich, unabhängig vom Willen der Autoren, im Krimi ein ungeheures kollektives Schuld- und UnrechtsBewußtsein, vielleicht wird hier ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem endlosen Unrecht der gesellschaftlichen Zustände abgearbeitet, das so groß ist, daß wir es in die Vorstellungswelt des Krimi abdrängen wollen.

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»Der Glaube kommt vom Hören.« Hören: auf das Innen, auf das Nicht-Sichtbare; Vertrauen auf die Intuition, auf den Geist. Der Vertrauende ist also immer aktiv am Zustandekommen des Glaubens beteiligt. Zunächst auf die unmittelbare Gegenwart bezogen (Wahrnehmung), dann im Verlauf des intelligenten Hörvorganges, auf die Zukunft zielend: indem er auf den Gang des Geschehenden hört, entwirft er schöpferisch Lesarten, zieht die Linien des gerade Gehörten in die Zukunft weiter, realisiert spielerisch Möglichkeitsformen des künftigen Geschehens, endlich Modelle für reales Geschehen: Handlungspartituren. Schließlich kommt der Moment, da man diese Modelle in der Wirklichkeit des Lebens realisiert und unter Mitwirkung des Willens die eigene Aktivität steuert. Hier muß das im Innen Gehörte ins Außen treten, und das innere Hören in hörbare Mitteilung übergehen. Die Ausführung der Modelle ist dann nicht maschinell-perfekt, sondern unendlich different; doch haben alle, welche die Modelle realisieren, gemeinsam, daß sie vom Willen und vom Modell ausgehen und so für eine gewisse Zeit das spontane Handeln durch ein geplantes ersetzen. Für die Mentalität unserer Epoche ist es charakteristisch, daß wir den Willen und seine Funktion so betonen; in den früheren Jahrhunderten mag der »Glaube«, als Vertrauen auf das Gelingen eines Vorgestellten, viel mehr vom Vertrauen auf die Intuition und vom Unbewußten getragen sein. Das Entwerfen der Modelle ist aber Werk der schöpferischen Aktivität des Menschen. Es verlangt in der Realisierung zunächst eine Erprobung im Ritus des Spiels; dann muß das reale Leben selber als verantwortete Wirklichkeit die Zukunft gestalten. Dieses verantwortete willensgesteuerte Leben ist das Ziel des Logos im Menschen: es zu planen und wollend zu realisieren, ist das Werk von »Treu und Glauben«. 92 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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»Sehen« gegenüber dem Hören hat mit dem Geschehenen, also mit dem in der Vergangenheit Gewordenen zu tun. Ich sehe etwas Gewordenes und glaube, es als Ding zu erkennen und dann von seiner Existenz zu wissen. Im Sehen scheint sich schon eine Tendenz zur Verdinglichung unserer Sinneswahrnehmungen zu verbergen. Das Sehen schlägt keine Brücken in die Zukunft, sondern neigt zum Sich-Etablieren, ja zur Ausübung von Macht. »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben«: denn das Wissen ist nicht schöpferisch-produktiv, es verführt zur Passivität, zu einer »Hörigkeit«. »Glauben« heißt also nicht, die vollendete Realität einer Sache für gegeben zu halten, sondern die Möglichkeit, diese Sache als volle Wirklichkeit zu schaffen oder zu begreifen. Noch einmal reduziert: an die Sinnhaftigkeit zu glauben, diese Möglichkeit zu erstreben. Am kürzesten gesagt: an die Zukunft zu glauben. An die Zukunft von was? An die Zukunft des Lebens. Die Zukunft: das ist der Aspekt der kommenden Zeit; ich kann nicht behaupten, daß es Vernunft vor der Zeit gibt (also etwa schon in ihrem Anfang oder »vor ihrem Beginn«) – das wäre Metaphysik. Vernunft bilden wir in uns, wenn wir verantwortlich mit der Zeit umgehen. Es gibt keine Garantie für ein Gelingen. Garantiert für die Zukunft ist uns nur die Apokalypse. Das erste, was der Dichter (Hesiod) von den Musen vernimmt, ist nicht schöner Gesang (aeido) sondern eine drohend klingende Klarstellung über das Verhältnis des sterblichen Menschen zu den Himmlischen: »Ihr Hinterwäldler! Schändliches Hirtenpack – Nichts als Bäuche: / Wir wissen viele Lügen zu verbreiten glaubhaft wahr / Wir können aber auch wenn wir wollen Wahres erklingen lassen!« Wie 93 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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soll der Dichter das Flüstern der Musen hören? Wie soll der Hörer das Singen der Dichter verstehen? Glauben wir es direkt, so mögen wir den Trugbildern der Musen und Dichter naiv auf den Leim gehen. Glauben wir aber, daß wir ihre Lieder zur Vernunft bringen müßten, so sind wir erst recht aufs Glatteis geführt, und die Musen werden schweigen. Wir können nichts tun, als den Musen zuzuhören, und müssen versuchen, in der Mitte ihrer Fabeln, fern unserer eigenen Vernunft und Logik, die Art von Wahrheit zu entdecken, welche sie uns als unabhängig von dem, was wir für Wahrheit oder Lüge halten, mitteilen wollen. Mancher Dichter wird erschrecken, wenn er plötzlich erkennt, was er – gegen seinen Willen – »in Wahrheit« gesagt hat. Das, was uns die Musen sagen wollen, ist nicht in menschlicher Sprache mit ihrer Logik und ihren plumpen Bildern ausdrückbar. Wenn sich die Musen unserer Wortsprache bedienen, tun sie es auf eine widerspruchsvolle, ja widersinnige Weise – oder sie benutzen sie gar nicht und zwingen uns, Sprachen ohne Worte zu erfinden und sie, die Musen, zum Gespräch einzuladen. Mir erscheint Jean Gebser – ungeachtet seiner relativen Unprominenz als Philosoph – als ein äußerst scharfsinniger Analytiker unserer kulturellen Grundsituation. Er hat, wie Messiaen und Zimmermann in der Musik, wie Joyce und Pound in der Literatur, den wichtigsten Aspekt der heutigen Moderne erkannt. Dieser besteht nicht mehr nur in der Kühnheit und Originalität des »Fortschritts«. Die Richtung des Fortschritts wird sowieso diktiert von der immer fortschreitenden Geschichte unserer äußeren Entwicklung in Technik, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Der wichtigste Aspekt der Moderne dürfte vielmehr in einer neuen Bewußtwerdung der geschichtlichen Epochen unseres eigenen 94 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Kulturkreises bestehen; damit tritt die Moderne in eine neue Dimension der Wahrnehmung ein, die über den geschichtlichen Epochen schwebt. Diese Wahrnehmung muß die Fähigkeit einschließen, von dem, was die eigene Epoche als selbstverständliche Gesetze des richtigen Denkens und Handelns betrachtet, zu »modulieren« in die Gesetzmäßigkeit anderer Zeitepochen und Kulturen, um zu lernen, diese Epochen in ihrer Eigenständigkeit zu verstehen, statt sie nur mit der Elle der eigenen Denkgewohnheiten zu messen. Die Annahme, daß die jüngeren Epochen der Wahrheit näher seien als die älteren, ist durch nichts beweisbar. Wir brauchen eine Zusammenschau vieler Kulturen, um vielleicht gerade aus ihren Differenzen Sinn zu gewinnen. Für die Künste scheint mir dies besonders wichtig. Die Idee des Fortschritts ist Grundbestandteil der europäischen Kunst – das gilt keineswegs für die andern Hochkulturen, die ihre Kunstformen »kanonisieren« und (denken wir nur an das No-Spiel in Japan!) ohne jede Veränderung in die Zukunft tragen. In Europa dagegen sehen wir von Anfang an die Vorstellung am Werk, daß Formen und Ideen in der Kunst von Generation zu Generation zwar weitergegeben, aber auch zum Teil verändert werden, sodaß die geschichtliche Überlieferung den Charakter eines kontinuierlichen Wandels erhält. Auf der Schwelle zur Moderne wurden jedoch die Wandlungen derart radikal (wie zum Beispiel der Verlust der Tonalität in der Musik), daß die Kontinuität als Basis der Kunstwerke am Verschwinden ist. Das ist typisch für unsere Epoche, die Gebser die »mentale« nennt. Sie kennt eigentlich nur noch die Kontinuität des Individuellen, welche de facto eine totale Diskontinuität erzeugt. Ein Umschlag dieses »absoluten Fortschritts« in sein Gegenteil, in sentimentale Nostalgie und restaurative Tendenzen war die unmittelbare Folge, aus der sich dann lang95 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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sam die Einsicht herausentwickelte, daß eine Kunst, welche eine komplett individuelle Sprache sucht, in der Gefahr ist, die Musik von höchster Komplexität ins Irrationale, d. h. »Unverständliche aus Prinzip« kippen zu lassen – was zu sehr kurzfristig wirksamen Effekten (wie man sie in der Postmoderne erleben konnte) führen kann. In diesem Moment mußte sich die Einsicht bilden, daß ein Bezug zu früheren Formen der Geschichte vom fortschreitenden Künstler selber gesetzt werden könnte, welcher auf diese Weise sein Werk wieder »erden« kann, und zwar an einem frei gewählten Punkt der Geschichte. Dann spielt die Geschichte selber mit, und neue Bezüge der Materialien können entstehen. Gebser spricht von »Diaphanität« und meint eine Betrachtung aller menschheitlichen Entwicklungsschritte im Licht einer überzeitlichen »Wahrheit«, die sich nur in der Zusammenschau vieler noch so gegensätzlicher Kulturen erschließen kann. Da nun jede Epoche, auch die eigene, immer gespeist ist von den – bewußten oder unbewußten – Erinnerungen an die jüngst vergangenen, folgt daraus, daß von dieser Diaphanie auch das volle Verstehen der Kultur der eigenen Zeit abhängt. So ist es unmöglich, etwa den Wahrheitsbegriff des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters zu verstehen, ohne zu wissen, was »Wahrheit« etwa in der griechischen Philosophie oder in der Theologie bedeutet. Um zu durchschauen, was eine chromatische Tonleiter, die wir dauernd benutzen, eigentlich ist, müssen wir mindestens bis zur chinesischen Kultur des 2. vorchristlichen Jahrtausends zurückgehen; und wir müssen das Tonsystem der Chinesen, das auf ganzzahligen Proportionen beruht, nicht nur mit unserem rechnenden Verstand begreifen, sondern es vor allem mit der Sensibilität unserer Ohren erleben. 96 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Gebser kann uns nicht nur genaueres Verstehen der länger zurückliegenden Kultur- und Kunstepochen lehren, sondern uns auch den Blick öffnen für die unkontrollierten Archaismen in unserem politischen Verhalten, wie etwa die in den vergangenen Jahrzehnten sich häufenden Rückfälle in nationalistische Einstellungen. Eine »diaphane« Haltung bedeutet nicht nur, sich für frühere Epochen verstehend zu öffnen, sondern auch den Blick zu schärfen für die in ihnen versteckten Gefahren. Um etwa den Begriff »Mythos« heute zu verstehen, muß man erst einmal durch ein sich zu identifizieren suchendes Denken in das Weltgefühl der mythischen Zeiten eindringen; um dann – nach einem Studium der langen historischen Verwandlungsprozesse des Mythos in Religion, Philosophie und Kunst – unterscheiden zu lernen, in welchen Fällen es sich um produktive Neubildungen und in welchen um vielleicht verheerend reaktionäre und gefährliche Verhärtungen des gleichen Erbes handelt. Vergleichen wir das psychologische Verhalten in den drei großen Menschheitsepochen, der »magischen«, der »mythischen« und der rational-wissenschaftlichen »mentalen« Epoche, so finden wir 1) in der magischen Epoche: totale Identifikation des Individuums mit seinem Tun und Wollen, das magisch in eins gesetzt wird mit der Aktion des Geistes / des Gottes / des Totemtieres etc. – das bedeutet vollständige Unbewußtheit des Ich; 2) in der mythischen Epoche: Zweiheit von Individuum und Welt, bzw. Gott und Welt: eine de facto-Polarität von als frei vorgestellter Handlung des Individuums unter den Augen bzw. mit der Hilfe vorgestellter göttlicher Mächte – d. h. ein Ichbewußtsein in Abhängigkeit von Natur, Göttern, Gott, mit der Möglichkeit von Irrtum und Verfehlung, deren Vergebung etc.; 3) »aufgeklärtes« Bewußtsein der mentalen Epoche, Durchschauen des Projektionscharakters aller Vorstellungen, kla97 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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res Bewußtsein des Individuums, das seine Gedanken frei bildet und für seine Handlungen verantwortlich ist. Schaue ich nun wie durch einen Schleiervorhang in eine ferne Zeit zurück, so werde ich der Voraussetzungen gewahr, auf welchen die verschiedenen Kulturen beruhen. Vieles (ja ich denke: alles) spricht dafür, daß in der uns heute vor Augen stehenden unbegrenzten Vielfalt der Kulturen – die ja de facto auch eine Simultaneität der verschiedensten Bewußtseinsformen bedeutet – eine solche »diaphane« Sichtweise nicht nur die Voraussetzung einer friedlichen Koexistenz der Weltkulturen ist, sondern auch den Schritt zur nächsten Kulturepoche bedeutet: ihre »Fortschrittlichkeit« wird weniger in epochalen Neuerungen als vielmehr im integrierenden Durchblick auf das Ganze der geschichtlichen Evolution bestehen müssen. Die größten Künstler der Moderne haben das längst gespürt; in der Neuen Musik hat es am klarsten Bernd Alois Zimmermann in seinen Konzepten einer »Kugelgestalt der Zeit« und der notwendig »pluralistischen« Form künftiger Musik ausgesprochen. Es ist klar, daß diese Gedanken Gebsers – denen Pichts in so vielen Punkten eng verwandt – zu einem Umdenken aller Aspekte der Kultur auffordern: nicht nur Wirtschaft und Politik, ebenso Wissenschaft und das gesamte Feld der Religion müßten sich von ihren Dogmen und von den die Menschen zu gefährlicher Einseitigkeit treibenden Vorurteilen verabschieden, die sie aus scheinbar abgelegten Stadien ihrer Geschichte mitschleppen. Der im Bewußtsein der eigenen Zeit lebende Mensch befindet sich in der Offenheit der Welt, fühlt sich zur Produktivität und Neuformung gedrängt. »Allmählich entdeckt man …, daß es im Untergrund … ganz einfache Strukturen gibt, die man sich klar machen kann, wenn man die Geduld dazu aufbringt. Mit jeder solchen Struktur 98 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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eröffnet sich dann ein großer Durchblick durch eine ganze Flucht geschichtlicher Erscheinungen der verschiedensten Zeiten« (Picht, Geschichte und Gegenwart). Fragen wir konkret, wie sich etwa eine Integration von mythischem Denken in unser mentales Bewußtsein vorstellen ließe, ohne in irgendwelche Obskurantismen zu verfallen. Mythos und rationales Denken zu verbinden, scheint absurd und paradox. Es würde die Einheit der überall vorhandenen tiefsten Träume der Menschheit mit einem konkreten historisch realen Geschehen verlangen, das diese Utopien für die Zukunft der Geschichte aufrichtet: es würde genau der christlichen Tradition vom leidenden Menschengott entsprechen, welche die wahre Situation des Menschen in der Welt zeigt und bezeugt, daß nur durch die äußerste Radikalität der Logos – das heißt: Vernunft, Verantwortung und volle Lebendigkeit – für uns zu gewinnen ist. »Credo quia absurdum«: In einer absurd wahnsinnigen Welt für Menschlichkeit und Vernunft zu arbeiten, erfordert einen jede Vernunft übersteigenden Glauben an die Zukunft. Wo ist der Unterschied eines solchen »säkularen« Glaubens zum christlichen Mythos? Die Gestalt des Messias als das Ereignis der Wahrheit: dieses ereignet sich immer da, wo einer ganz wahrhaftig, d. h. »nichtidentisch« (im Sinne von Adorno) ist. »Ein Dröhnen, es ist die Wahrheit, / selbst unter die Menschen getreten, / mitten im Metapherngestöber« (Celan). Aber halt: was geschieht, wenn man auf diese Weise das Wort »Mythos« mit der christlichen Überlieferung in eins setzt? Wird ihr essentieller Wahrheitsanspruch zerstört? Wird nicht vielmehr der Mythos in seiner ganzen schon von den Musen bezeugten »wahren« Doppeldeutigkeit benutzt? »Wir wissen viele Lügen zu verbreiten glaub99 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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haft wahr / wir können aber auch Wahres erklingen lassen«: jede Geschichtserzählung ist »Mythos«, denn sie ist auf den (unbeweisbaren) Behauptungscharakter der menschlichen Wortsprache gebaut, der »glaubhafte Lügen«, aber auch »Wahres« transportieren kann; innere Sicherheit über das, was »wahrhaftig wahr« ist, kann nur durch ein die Vernunft der logischen Sprache übersteigendes Denken, das in Wirklichkeit ein hörendes Denken ist, ausgedrückt werden. Das bedeutet die Emanzipation vom Buchstabengesetz sowie vom kultisch-magischen Bann. Wenn wir dieses hörende Denken nicht aus uns selbst entwickeln können, haben wir keine Chance, uns wie Münchhausen aus dem ungeheuren Sumpf unserer unverstandenen Vergangenheit zu ziehen. Hier wird deutlich, aus welchem Grund der Dienst an den Musen für die Menschen nicht nur einem angenehmeren und schöneren Dasein dient, sondern im Zentrum des Prozesses der Menschwerdung steht. »Berückend erklingt es aus ihrem Munde / singend überbringen sie die Anordnungen, die Gesetze und guten Sitten / und mit lieblichen Liedern rühmen sie die Unsterblichen.« Kultur ist die Einheit von Gesetz, Ethos, Kunst und religiöser Ehrfurchtshaltung; fehlen eines oder mehrere dieser Bestandteile, so kann sich die Kultur nicht voll entfalten. Zeit und Metazeit in der Musik: das »Hören« der Differenz von der im Bewußtsein aufgehenden Zeit als reines Verstreichen zu der für alles offenen Wahrnehmungszeit des aktuellen Ereignisses. »Metazeit«: Wahrnehmung von selbstentworfener – oder von andern gebauter – Zeitstruktur. Metazeit ist Darstellung, also Interpretation der Zeit (natürlich gibt es dann auch eine Darstellung der Darstellung, also Interpretatio100 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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nen zweiter oder x.ter Ordnung). Also: ein – beliebiges – Stück Musik interpretiert die Zeit (ein »Stück« shiki, d. h., ein Stück Leben interpretiert ku). Das Betrachten (Hören) dieses Stückes Zeit ist dann eine neue »Stufe« von Zeitinterpretation. (Hier berührt sich übrigens die Zeiterfahrung der Musik mit der des Zen). Zum »Hannya Shingyo«: Der Ausgangspunkt für das Erleben von Zeit ist das Nichtdenken, d. h. das Anhalten der Gedanken. Der Wille ist auf die Unterdrückung von erinnerten Bildern, logischen Schlüssen, Gefühlen, Verarbeitung sinnlicher Eindrücke gerichtet bzw. auf das Festhalten der erreichten inneren Stille. Eine andere, eher vage Erfahrung bedeutet es, eine halbbewußte Aufmerksamkeit auf die inneren vorübergleitenden Ereignisse zu richten. Dieser innere Vorgang zwischen Hören und Denken erschien mir immer als eine interessante Erfahrung beim Hören von Cages Werken: man erfährt die Entropie, die Formlosigkeit als Extrem einer nicht gerichteten Zeit. Das ist »mehr« als Langeweile: es ist das Absurde, das im Verborgenen wirkt. Der Philosoph und Sinologe Jullien will uns zeigen, daß der europäische Seinsbegriff nicht fähig ist, die Grundentscheidung des chinesischen Denkens nachzuvollziehen. Etwa das Sitzen und der Wechsel zu einer andern Haltung könne in Europa nur als zwei verschiedene Seinszustände gedacht werden; für das chinesische Denken ist dagegen die Dauer »Dauer«, der Wechsel »Wechsel«: der Wechsel ist Übergang zu einem neuen Dauerzustand, gleichzeitig aber auch Fortführung des alten Sitzzustandes. »Wandlung, aber Dauer«; aber auch: »Wandlung, aus der sich die Dauer ergibt«. Dauer/Wandlung : ku/shiki : Vater/Sohn. »Wenn man mit einem Boot fährt und einen Augenblick die Ruder hebt, ist das die Kunst des Übergangs. Man rudert nicht mehr, die 101 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Bewegung des Ruderns ist unterbrochen, aber das Boot wird getragen und fährt weiter« (zitiert nach Jullien). Die europäische Tradition definierte den Logos; jetzt dürfen wir Logos als Tao sehen lernen: als undefinierbar, ständig im Übergang, Inbegriff des Lebens selber, sich entwickelnd, alle Gesetzmäßigkeiten selber hervorbringend und sie weiter modifizierend, schöpferisch sich in der Welt gestaltend. Dieser Logosbegriff (der kein echter »Begriff« ist, weil er sich nicht definieren läßt) ist kompatibel mit der Erfahrung des Künstlers bei seiner Arbeit. Die Theologen waren empört über die angebliche »Psychologisierung« der Dogmen bei C. G. Jungs Reflexionen über die Trinität. Könnte man nicht sagen, daß der Begriff der Trinität die Vorstellung des Monotheismus von der Fixierung auf das Eine (ku) zur Welt der Vielheit (shiki) hin öffnet? »Trinität« scheint einen unendlichen Spielraum in der Vorstellung vom Ganzen zu eröffnen, der jeder begrifflichen Fixierung Hohn spricht. Man müßte, nach Nietzsches Kritik, vielleicht die Nichtkongruenz der Aspekte von Vater/Sohn/Geist, ja ihre logische Widersprüchlichkeit, d. h. Nichtidentität betonen. Schon Nicolaus Cusanus betrachtete die Trinität als ein vom Menschen entworfenes Gedankenbild und nicht als dogmatisch fixierbare Lehre. Es mußte der Schritt getan werden von der Passivität des religiösen Bewußtseins, welche die Hilfe der himmlischen Mächte anrief und sich auf sie verließ, hin zu der vollen Aktivität dieses Bewußtseins. Diese Aktivität hat nicht nur die Aufgabe, durch ethisches Handeln zu wirken, sondern sie muß auch lernen, ihre Glaubensvorstellungen bis zu einem gewissen Grade als eigene Schöpfungen zu verstehen (und nicht als Wunschprojektionen im Freud'schen Sinn). Mir scheint dies die eigentliche Grundlage des christlichen Den102 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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kens zu sein, die erst heute, gerade auch durch Nietzsches und Freuds Kritik, voll sichtbar wird. Zimmermann bezeichnet die »Zeitdehnung« als eines der »eigentümlichsten Phänomene«, die die pluralistische Kompositionstechnik ergeben habe. Die Gegenwart als »Präsenz« der Zeit rücke damit in den Mittelpunkt der Musik: Zeit nicht nur als dramatisches Ereignis, sondern als Kreisen um das Phänomen der Dauer. Die Präsenz der Gegenwart ist eigentlich die Zeit, in der unser Innen zum Bewußtsein kommt: je mehr sie präsent ist, umso ruhiger geht der Atem, desto weiter kann man hören und denken. Das ist die Zeitdehnung, welche »alle Töne der Welt sieht« (Hakuin). Das Wort »Pluralismus« wirkt leicht etwas geschäftig und vom Kern abziehend; das Gegenteil ist gemeint: In der gedehnten Zeit des Gegenwärtigen werden auch die anderen Zeitempfindungen, nicht nur die eigene individuelle, bewußt, ohne das Ich zu überschwemmen. In der Musik müßte es auf eine Zeit hinauslaufen, die an der Grenze zwischen Dauer und Vergessen liegt. Was ist der Unterschied zwischen ku und shiki? Shiki hat einen Anfang (unendlich viele Anfänge); ku fließt immer. (Hui Neng: »Alles ist ursprünglich nichts«, ku). Man könnte auch sagen: shiki bewegt sich (deswegen hat es auch immer einen Anfang); ku ist still. Bewegung heißt also wohl: freie (unvorhersehbare) Bewegung. Zwei Aspekte des Ganzen: die Vorstellung des Einen im unbewegten Bild des Unendlichen; das Zulassen des bewegten Vielgestaltigen im Wechsel, unter Ausschaltung jeder Art von Kontrolle und Determination (»Anhaften«). Also Dauer des Einen im Wechsel mit chaotischem Fluß der Vielheit. 103 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Beides löst sich ab, steht unverbunden nebeneinander (Parataxe); Metazeit: Projektion einer individuellen Zeitgestalt auf ein Subjekt; Folge: Entwicklung, Form, Dialektik. Diese denkt Gegensätze, d. h. einander ausschließende Gestalten usw. Mauthners adjektivische Sprache. In seiner Spätphase verwirft Mauthner als Sprachkritiker die verbale Sprache, welche in die Sprache der wissenschaftlichen Beschreibung münde, wie auch die substantivische, welche für ihn die Sprache des versunkenen Mythos ist; es bleibt nur noch die »adjektivische Sprache«. Das wäre dann doch wohl eine »Sprache der Affekte«? Ihr liegt vielleicht eine Art Geschmackssinn zu Grunde: dieser übersetzt sich in einer bestimmten Reaktion auf die sich zeigenden Qualitäten in Klänge des Mißfallens oder der Zustimmung. Diese werden als Sprachzeichen oder als musikalische Zeichen aufgefaßt: so bewahrt sich die Erinnerung an die ursprüngliche Einheit von Musik und Sprache in der expressiven Gestalt ihrer Mitteilung (»Bauchreden bei Hesiod!«). Mir fallen die Klänge bei Debussy in ihrer fast körperlich erscheinenden Präsenz ein. Kunst ist Spiel, ja, aber was ist der »Grund« des Spiels? Vergnügen, Kommunikation, freie Formgestaltung, Distanz zu sich selbst im Rollenspiel? Es muß etwas sein, das all diese Aspekte zusammenfaßt, auch das enthält, was man (Schiller!) als erzieherischen »Zweck« der Kunst angesehen hat. Der Ritus! Kunst ist Ritus: »Der Ritus ist des Dichters Ziel« (James Joyce, Ulysses); er ist vom schöpferischen Menschen gestaltete Erinnerung, die von den Teilnehmern am rituellen Spiel empfangen, individuell erlebt, vergegenwärtigt und so lebendig gehalten wird: das heißt auch mit individu104 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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ellen Erweiterungen, Deutungen und Zusätzen versehen wird. Eine interessante Beschreibung dieses Vorgangs findet sich im 1. Korintherbrief des Paulus (Kap. 12); es ist die Beschreibung des Archetypus der Kultur, welche Neuschöpfung, aber auch permanente Erinnerung an das einstmals Neue ist, das zum Alten wird. Wie bei den Musen des Hesiod wird unterschieden zwischen den (»produktiven«) Zungenrednern, Propheten, Weisheitslehrern … und ihren (»reproduktiven«) Interpreten und analysierenden Auslegern. Die Erinnerung kann nur funktionieren durch dieses Wechselspiel, das zur Identifikation einlädt; intellektuelle Beschreibungen von Sachverhalten allein ergeben zwangsläufig Mißverständnisse und Irrtümer. Es ist ganz falsch, nach genauen Definitionen des Erinnerten zu fragen; die großen Menschheitsepochen haben eine verschiedene Vorstellung von »Wahrheit«. Es ist völliger Unsinn zu fragen: »Haben die Griechen an ihre Mythen geglaubt?« bzw. »Hat es Sinn, daß wir an unsere Mythen – sprich: Religionen – glauben, sie könnten ja ebenfalls Erfindung und Fiktion sein?« Diese Antworten entspringen einer zur »Information« verkümmerten Vorstellung von Wahrheit, die sich an die Stelle der Ehrfurcht vor der unüberschaubaren Komplexität des Ganzen setzt. »Hat es Sinn, daß wir an Mozart glauben?« Wir glauben an Mozart, wenn wir die Freude an seinen unfassbar großartigen Entwürfen geschmeckt haben und sie nicht mehr entbehren wollen: darum unterwerfen wir uns dem Ritus, seine Musik zu hören und neu zu gestalten. So entsteht aus dem freien Spiel eines Individuums Kultur, welche uns formt. Stellt man sich die Frage, wo der Ursprungsort des entstehenden Werkes beim Komponieren liegt, so erhält man viele verschiedene Antworten. Wo soll er liegen außer in 105 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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den ersten Augenblicken, in denen sich eine Art »Appetit« nach einer bestimmten Klanglichkeit, einem bestimmten Spannungszustand des Gewebes, nach einer bestimmten rhythmischen Explosion regt? Geht man diesen noch am Rande des Unbewußten vegetierenden Keimen nach, so kann es sein, daß man in einen Prozeß des weiterführenden Denkens gerät, innerhalb dessen man bald nicht mehr unterscheiden kann, inwieweit man von der Dynamik des Anfangsimpulses, also einem inneren Hören, getragen wird oder ein kalkulierend die Gewichte balancierendes Denken die Führung übernommen hat; immer wird man Bewußtseinsphasen durchlaufen, in denen man mit zunehmender Bewußtheit an der Weiterführung und Verdichtung der ersten Keime arbeitet, also ein auf den Ursprung achtendes »hörendes Denken« übt, gegenüber anderen Phasen, in denen man an der inneren Konsistenz des entstehenden Stükkes Musik feilt; an der Form, wie sie sich über ein bestimmtes Quantum von Zeit erstreckt und die verschiedenen sich regenden und wachsenden Keime in eine optimale Ordnung bringen sollte. Eine neue kompliziertere Situation kann sich ergeben, wenn Material einer den ersten Keimen fremden Provenienz in den vormaligen Zusammenhang aufgenommen wird und neue, komplexere Formen der Integration gefunden werden müssen: das wäre dann ein »denkendes Hören«. Diese beiden zwar gegensätzlichen, aber sich komplementär ergänzenden Arbeitsphasen werden sich immer wieder ablösen und allmählich alle Aspekte des Stücks umfassen. So ähnlich würde ich auf unsere Frage antworten; aber es gibt ganz andere Selbsterfahrungen. Ich habe einmal in einem stillen Moment Stockhausen gefragt: Wo liegt bei Ihnen der Punkt des Ursprungs, wenn Sie ein neues Stück entwerfen? Was fällt Ihnen zuerst ein? Er dachte lange und ernsthaft nach, und sagte dann: die Form. – Feldman zeigte 106 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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mir als Antwort ein leeres Blatt Notenpapier, das er mit gleichgroßen Taktstrichen gerastert hatte: dann begann er die gleichgroßen Taktabschnitte mit extrem unterschiedlichen metrischen Angaben zu bezeichnen: der Beginn seines Komponierens. Daß Messiaen den Einstieg mit der Aktivierung seiner synästhetischen Farberfahrungen fand, hat er selber oft beschrieben. Da diese mit seiner so charakteristischen modalen Harmonik verbunden waren, ist bei ihm ganz eindeutig die Harmonik der Ursprung der Inspiration, nicht zu vergessen die Vögel, deren Gesänge dann mittels dieser Harmonik ins Menschliche »übersetzt« werden. Zimmermann sagte mir einmal, daß am Beginn einer neuen Komposition für ihn ein deutliches Bewußtsein ihres Endes stehe, sodaß er ein Stück quasi gleichzeitig von vorne nach hinten wie von hinten nach vorne konzipiere. So wird es wohl so viel Antworten auf unsere Frage geben, wie es Komponisten gibt. Immer jedoch wird das Komponieren die wohl extremste Form einer ganz aus dem Innen entspringenden Denktätigkeit bleiben, die das Unhörbare durch einen Denkakt zur Hörbarkeit befördert – einen Denkakt, in dem Worte und Begriffe nicht vorkommen. Ich frage mich manchmal, wie ein heute ohne die Grundlagen der europäischen Bildung aufwachsender junger Mensch die wenigen wirklich wesentlichen Werke der Moderne überhaupt intellektuell zu verarbeiten im Stande sein kann. Ulysses ohne genaue Kenntnis der griechischen Mythologie, ohne die Bibel und die Kirchenväter? Man wird noch nicht einmal jeden zweiten der ungeheuren joyceschen Witze verstehen, man wird noch nicht einmal das Niveau wahrnehmen können, auf dem dieses grandiose liturgisch-demiurgische Kabarett stattfindet. Aber wie sollen

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wir unsere Kultur erneuern, wenn wir sie immer weniger kennen lernen? Es wäre falsch, in der Kultur nur die spielerische Seite zu sehen. Die Musen überbringen singend auch die Gesetze und die guten Sitten. Durch Kultur wird vermittelt, was bei Kant »das Erhabene« heißt, ja sie beruht auf dem Erhabenen: »In göttlicher Lautmalerei feiert ihr Gesang zuerst das erhabene Geschlecht der Götter … von Zeus zu singen, dem Vater der Götter und Menschen …«. Interpretiert man Ritus nur als eine Art Spiel, so unterschlägt man die zu ihm gehörende Ehrfurchtshaltung, die sich von der rein spielerischen sehr wohl unterscheidet. Unsere Gesellschaft hat vergessen, daß es zwei Grundformen von Kultur gibt: Ritus ist der Yang-Aspekt von Kultur; er entspringt der Intention des ehrfürchtigen Ernstes, in dem der Mensch die Welt mit all ihren Wesen anzusehen lernt. Der Yin-Aspekt ist das heitere Spiel, das durch die Schönheit der formalen Proportionen die Menschen erfreut und tröstet. Während das Spiel eine Definition, also eine Begrenzung des Spielraums voraussetzt, begegnet uns im Erhabenen immer wieder auch das Schrecken erregende Unbegrenzte, Formlose; auch dieses ist also ein Aspekt der Kunst wie des Mythos. Noch einmal zu Musik und Sprache: Mir kommt es immer wahrscheinlicher vor, daß das Singen von Anfang an zunächst ausschließlich eine geistliche Übung war, wie das AUM der indischen Traditionen. Singen selber ist Ausdruck des Geistes, des Sich-Einschwingens in den Geist. Daß man dann noch Worte, später vielleicht Sprüche oder Hymnen 108 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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hinzufügte, geschah wohl als akzidentielle Verlebendigung, zwecks größerer Farbigkeit des Klangs. Das löst das Problem von Augustinus, welches er in den »Confessiones« beschrieben hat: er erlebt einen inneren Zwiespalt zwischen der Konzentration auf die von ihm heiß geliebte Musik und der Konzentration auf die Botschaft des von ihr getragenen Wortes. Augustinus hätte den Geist in dem Gesang selber finden können, im »geistlichen« Akt des Singens, statt im isolierten Text allein. Statt dessen wird äußerlich das Singen vom Ganzen des gesungenen Wortes getrennt. Hier zeigt sich in nuce die künftige Entwicklung des Verhältnisses von Wort und Ton in der europäischen Musik. Während in der Frühzeit der Gregorianik Wort und Ton eine unauflösliche Einheit bildeten, traten sich beide bald selbständig gegenüber bis hin zu einer emanzipierten Loslösung an der Schwelle zur Moderne.

Ich finde in der chinesischen und japanischen Kalligraphie ein vergleichbares Problem verborgen. Wie etwa den verschiedenen Liturgien die Bibelworte, liegen den kalligraphischen Werken Sätze oder auch nur Worte aus dem Repertoire der buddhistischen Überlieferung zu Grunde. Die gleichen Schriftzeichen werden geschrieben und immer wieder geschrieben, tausende Mal, Jahrhundert für Jahrhundert: so wie die Texte der Liturgien gesungen werden. Der Sinn dieser Tätigkeit ist nicht Übertragung des Inhaltes des Satzes, sondern die Tätigkeit des Schreibens selber: die Konzentration bei der immer neuen Ausführung der erlernten Zeichen. Gleichzeitig ereignet sich die Entwicklung der geschriebenen Schrift zum individuellsten Selbstausdruck des Schreibenden. Augustinus hätte wohl auch hier die Frage gestellt, ob die zur künstlerischen Autonomie vor109 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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gestoßene Schriftkunst den Sinn der Worte überdeckt oder gar unkenntlich macht. Die Frage wäre genauso falsch gewesen wie die nach der Ablenkung von den Bibelworten durch die Musik des Choralgesangs: im Akt des künstlerischen, d. h. rituellen Tuns selber liegt die »geistliche« Übung. Aber woran liegt es, daß ein solcher »meditativer« Umgang mit der Sprache in der östlichen Kultur von der bildenden Kunst getragen, im Westen durch die Musik bestimmt erscheint? Liegt das vielleicht an der jeweiligen Sprachstruktur, die im Westen mehr durch das Ohr (bis hin zum Onomatopoetischen) und im Osten mehr durch das Auge (Piktogramme!) bestimmt erscheint? Ich begegne zufällig (im Radio) einem mir unbekannten Stück des frühen Mozart, der Motette »Misericordias Domini«, KV. 222: ein Stück aus einem Guß, aber zwei Epochen nahtlos verbindend. Bisher hatte ich Beethoven für den ersten Meister der Moderne gehalten, und er ist es auch, wenn man den revolutionär-gewaltsamen Aspekt der Moderne im Auge hat. Aber Mozart zeigt, daß diesem Aspekt etwas zu Grunde liegt, das wie eine reif gewordene Frucht ganz von alleine vom Baum fällt: so wie sich der erste Forte-Einsatz des Orchesters aus den weichen Chorklängen des Anfangs löst. Die neue Zeitgestalt des mündig gewordenen Individualismus, ganz natürlich mit Gegensätzen hantierend, die noch einen Atemzug früher völlig unvereinbar gewesen wären. Und wenn das wachsam ungläubige Ohr die demütige Moll-Version von Beethovens Hymnus »An die Freude«, in Mozarts Werk vorweggenommen, entdeckt, erscheint Mozart plötzlich als die Verkörperung einer primären Gestalt des erneuerten Europa, gewaltlos und

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ohne Pathos, von alten Fesseln befreit, und doch das gute Alte behaltend. Jullien lenkt in seinem Denken die Aufmerksamkeit sehr deutlich auf den Taoismus und das I Ging. Mir scheint es sehr bemerkenswert, daß damit ein Ansatz von C. G. Jung wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Das I Ging handelt, europäisch gesprochen, von Seiendem (shiki); der Geist ist ku (»Nichts«). Jullien: »Deswegen ist keine ›Sache‹ dazu verurteilt, immerwährend in ihr Gegenteil umzuschlagen.« Die Wandlung von Zeichen zu Zeichen im I Ging ist das Werk des »Geistes«. Dieser ist aber nicht selber Dauer resp. Wandlung; er schafft vielmehr die Veränderung. Die Sache mit dem Ich. Sprachlich betrachtet, erscheint mir folgende Wortwahl am geeignetsten, um die verschiedenen Bedeutungen, in denen das Wort »Ich« gebraucht wird, zu unterscheiden: Physisches Ich: EGO. Psychisches Ich: WIR (die »Menschheit«; transzendentales Bewußtsein). Bewußt gewordenes und sich selbst als eigene Setzung durchschauendes Ich: ICH. Spirituelles Ich: SELBST. Im Tageslauf muß man einen harmonischen Wechsel zwischen den Aktivitäten dieser vier Ichs anstreben. »Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika, auslassen« (Jean Paul).

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Jullien: »Die östlichen Philosophien, insbesondere der Taoismus, kennen das ›Ereignis‹ nicht in seiner genuinen Unmittelbarkeit – nicht den Keulenschlag der griechischen Tragödie, nicht die Überraschung als Erfahrung des Unvorhergesehenen, nicht die Einmaligkeit des Original-Genies; sie suchen vielmehr das Ereignis zu verstehen als eine durch eine verborgen vor sich gehende Entwicklung zur Reife kommende langsame Wandlung.« Das provoziert den Gedanken, daß »in Europa die Kultur des Dramatischen und des Revolutionären zu Hause ist, während der Osten alles auf die Integration und die möglichst lange wirkende Stabilität der kulturellen Symbole setzt«. Sollte die »Botschaft« Julliens letzten Endes weniger eine Verteidigung der östlichen Denkweisen als vielmehr ein Hilferuf der an ihrer hypertrophierten Neuerungssucht erkrankten westlichen Lebensform sein? In jedem Fall gehen die großen kulturellen Wandlungen unabhängig von aufgeregten Moden und meist im Verborgenen vor sich, oft auch zunächst im Unbewußten. Das zu erkennen ist sicher die Aufgabe der Psychoanalyse. Es scheint mir aber müßig, darüber zu spekulieren, ob das »Ereignis« als Ergebnis oder als inneres Agens der Entwicklung zu sehen ist; es ist beides zugleich. »Jeder kann einer sein, weil er einer ist. Nur der Dichter muß viele sein, um einer zu sein« (Pessoa). Das Verstehen geht nicht durch die Sinne, ist nicht »sinneswahrnehmbar« (Georg Kühlewind). Wohl ist die Sinneswahrnehmung mit einer Art Intelligenz ausgestattet, welche sich aber, wenn man sie als solche wahrnimmt, von der Selbstwahrnehmung der bewußten Einsicht (ratio) deutlich unterscheidet. Der Verstehende macht gewöhnlich aus seinen Empfindungen ein Objekt, das er dann wiederum zu 112 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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verstehen sucht. Dieses Objekt ist eigentlich sein Ich. Hier liegt also offenbar ein Mißverständnis vor. Empfindungen sind Erfahrungen; sie brauchen ein Subjekt, um stattzufinden. Wenn wir das Gefühl haben, etwas wirklich verstanden zu haben, ist das kein bewußter, rationaler Vorgang, sondern wieder eine Erfahrung; niemals können wir diese vollständig in Begriffe fassen. Wir können sie aber erinnern und die Erinnerung umschreiben. Das eigentliche Verstehen aber ist Ereignis: »Teilnahme am Logos, am Urwort« (Kühlewind). Der Logos ist geistig, d. h. nur intuitiv erfaßbar. Wir haben ihn beständig vor Augen, können ihn aber nicht berühren oder gar lenken und beeinflussen. »Bewußtsein ist ein unbewußter Akt« (Carl Friedrich von Weizsäcker). Ich frage mich, seit wann das Wort »unbewußt« in der Literatur auftaucht. Soweit ich sehen kann, ist Jean Paul der erste, der es verwendet; ich finde es dann bei Schelling, und, gleichsam in Leuchtschrift, im Schlußgesang des Wagnerschen Tristan. Mauthner hält es Ende des Jahrhunderts noch für ein »Modewort«. Da hat der Meister sich wohl getäuscht! Heute erscheint mir die Erfindung des Wortes »unbewußt« so zentral für unser philosophisches Denken wie seinerzeit die Erfindung der Null für die Mathematik.

Nietzsche spricht von der großen Bedeutung der Troubadourkultur für die Entwicklung Europas. Ich denke, man darf darüber nicht ihr Fundament, die Marienverehrung, vergessen: Mir erscheint der Kern der Marientheologie in der Kompensation der Vorstellung eines unerbittlich strengen Schöpfergottes zu liegen, welcher seine Geschöpfe in die Welt schleudert und am Ende richtet. Unser Bild von 113 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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der Natur in der einseitigen Charakterisierung als »Kampf ums Dasein« wird durch die Figur der Madonna zur Vollständigkeit einer stets aufs Wohl und das Überleben der Geschöpfe bedachten Fürsorge ergänzt – so wie es Hölderlin in seinem späten Fragment »An die Madonna« beschrieben hat. So haben wir gelernt, die Natur und unser physisches Dasein zu »lieben«, statt beides, wie noch in der Antike, als Fluch und endlose Verstrickung anzusehen. Das ist mehr als Mythos: es ist – bzw. war – Beginn einer Vervollständigung des europäischen Gottesbildes: des herrschenden Vaters (yang) durch die helfende Mutter (yin). Und zwar in einer psychologisch funktionierenden Form, nicht als lediglich rationales Begreifen-wollen, wie in einer bestimmten Strömung der feministischen Theologie. (In der Gnosis hatte Gott eine Frau: Sige, das Schweigen.) »Gott-als-Mutter« ist Unsinn, weil der »Vater« als arche (Anfang) immer yang – männlich – ist, und die Welt (das Geschaffene, die Zeit, der Sohn) immer yin. Die Natur, die Erde, shiki sind im Mythos weiblich, yin, weil sie – als »Zwei« – der »Eins« entspringen: ku, der Einheit. Natur, Erde, shiki sind (symbolisch) »Zwei«: Vielheit, welche Vielheit hervorbringt. Denken: aktives Bewußtsein, formenbildend, bezeichnend, ichhaft. Nichtdenken: passives Bewußtsein, in Leere ruhend, ichlos (das bedeutet in diesem Zusammenhang: »das Ich ruhen lassen«). Denken also: Bewußtsein, sich füllend im Zustand der Passivität, sich leerend im Zustand der aktiven schöpferischen Entäußerung. So könnte man auch das »Hören« des Komponisten, Dichters etc., der ein neues Werk aus dem Nichts oder, besser gesagt: aus dem Chaos der Erinnerungsfetzen und Neubildungen zusammensetzt,

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beschreiben: ein »denkendes Hören«, das sich selber mitentwirft. Schlafendes Bewußtsein: Vor-Ich, »Wir«, kollektiv – fühlend, träumend. Platon sagt, daß die Mathematiker träumen. Im Denken geht die bauende entwickelnde Kraft der Natur an das aktive Ich über; nicht aber das Erkennen: Hier handelt es sich also um ein »hörendes Denken«. Der Mensch nimmt am Logos teil, indem er schafft – nicht indem er erkennt. Der Logos ist »Sein« und bewirkt »Werden«. Deswegen hat auch der Wille den Vorrang vor dem Verstand. Traum: Ich befinde mich auf einer mittelgroßen Bühne und bin im Begriff, als Tänzer freie, aber ins Ganze passende Körperbewegungen auszuführen. Es sind andere Tänzer auf der Bühne, aber es herrscht nicht die typische Atmosphäre eines Balletts (jetzt würde ich sagen: es handelte sich um so etwas wie Eurythmie – aber im Traum fiel dieser Ausdruck nicht). Ich bin aber auch der Dirigent der Unternehmung; unter mir befindet sich ein großer, leerer Orchestergraben. Ich mühe mich ohne Streß und mit Freude, vernünftige Bewegungen auszuführen, aber es fehlt mir jede Anleitung bzw. Choreographie. Ich versuche, von einigen jungen Männern Rat zu holen. Insbesondere taucht für mich die Frage auf, wie ich denn die Dirigiertätigkeit im Graben mit dem Tänzerplatz auf der Bühne verbinden könne. Ich entwerfe Möglichkeiten dazu; z. B. müßte es doch möglich sein, aus der Dirigierbewegung tänzerische Bewegungen abzuleiten und umgekehrt Tanzbewegungen ins Dirigieren einfließen zu lassen. Da aber feststeht, daß das Orchester von mir geführt werden muß, bleibt das größte Problem, wie ich denn gleichzeitig auf der Bühne und unten im Orchestergraben sein kann – daß es geht, steht fest, nur 115 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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wie?? Ich bin mir nicht sicher, ob mein Tun nicht lächerlich sein könnte; aber keiner der Tänzer und Bühnenarbeiter lächelt oder lacht. Wegen meiner bisher zu oberflächlichen Kenntnis Freuds stelle ich erst jetzt fest, daß die psychische Architektur von Gebser – Archaik, Magie, Mythos, mentales Denken – von Freud vorgedacht ist (Totem und Tabu). Was ich bei Gebser bisher als von Vico übernommen verstand, kommt also wahrscheinlich von Freud; nur fehlt bei diesem der geniale Gebsersche Gedanke der »Diaphanie«: des Durchscheinens und der Neuintegration früherer kultureller Paradigmata in unserem mentalen Bewußtsein. Wir können das erfahren (z.B. bei Zimmermanns Pluralismus) in der Opferung der individuellen Einheit des Ich (des »Autors«); in der Entdekkung der habituellen Vielfalt der Welt. Das ist auch der Kern des Surrealismus und der DADA-Bewegung. Die gesellschaftlich notwendige »Opferung« des bürgerlichen Ich ist die äußere Gestalt des Schocks, den das Bewußtsein erleidet, wenn es den notwendigen Sprung von der Stufe dieses Ich zur psychischen Ganzheit machen muß. Diese Ganzheit ist für shiki nicht erreichbar; deswegen konstruieren wir Einheiten für unser Verstehen und Schaffen, die vorläufig sind und den Blick auf die ganz andere (nämlich »absolute«) Einheit von ku versperren. Diese ist nur um den Preis des »Todes« des Ich zu erreichen; wir müssen nicht nur Rationalität, Logik und alle Metaphysik aufgeben, sondern uns dem Nichts an Ordnungsstrukturen ausliefern: dem Zufall. Dieser Moment kann für manche Menschen einen Schock, für andere ein psychisches Erlebnis der höchsten Stufe bedeuten. Bei sehr oberflächlichen oder bei psychisch labilen Menschen kann es sich in Orgien von Gelächter und 116 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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einem anhaltenden Nonsens-Kult Luft machen (siehe die Berichte über die DADA-Bewegung 1916 im »Cabaret Voltaire« in Zürich).

Ich lebe: d. h., das Leben will, daß ich lebe. Ich kann mich zurücklehnen und das Leben leben lassen. Ich koordiniere meinen Willen mit dem Leben: es geht vor, schaut zurück. Was nun? Immer vorwärts. Wille darf nicht zum Verstand werden. Er hat die Führung, darf sich nicht zurücklehnen: der Versteher soll entspannt sein, vielleicht versteht er zum ersten Mal etwas. Was? Das Wort »Erlösung« sollte vielleicht besser aus dem christlichen Sprachgebrauch ausgeschieden werden; es gehört für unser Sprachgefühl einer Märchenwelt an, man denkt an den Froschkönig. »Zu sich selbst kommen«, »frei werden«, »die Angst überwinden«, »in der Wahrheit leben« wären vielleicht andere mögliche Formeln. Günther Eich: »Jedes Gedicht ist zu lang.« – Jede Musik ist zu laut. Daß die in Deutschland typische Geistesverfassung eine konservative ist, und daß sie sehr eng mit der tiefen historischen Wirkung Luthers zu tun hat, sieht Carl Friedrich von Weizsäcker sehr scharf. Luther hat nicht nur Papst und Konzilien als falsche Autoritäten entlarvt, in der Folge geht aus dieser Entscheidung auch die Entmythisierung der Schrift und letztlich der Verzicht auf die gesamte scholastische und später aufgeklärte Vernunft (»Hure Vernunft«) hervor. Die Einsicht Freuds ist vorbereitet: daß das Ich nur 117 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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eine Oberfläche des Geistes ist, und daß die Triebe regieren; aber eben noch mehr als das: daß nämlich erst durch das Sich-Bekennen des Ich zu den Handlungen der Triebe die Bewußtwerdung des Menschen und damit ein ethisches Handeln ermöglicht wird. Daß der Mensch nur durch diese »Rechtfertigung« seine eigene Evolution in die Hand bekommen kann, wird uns, nach Freud, vielleicht erst heute klar. »Es wird ein Kriterium (erg. »für die künftige Theologie«) sein, ob sie uns begreifen lehrt, wovon in dieser (erg. »der lutherschen«) Theologie die Rede war.« (Carl Friedrich von Weizsäcker, »Der Garten des Menschlichen«). Der Weg. Ich gehe spazieren, vorwärts, wie es sich gehört. Ich schaue auf den Boden: unaufhörlich kommt er mir entgegen. Von wo kommt er? Von seinem Endpunkt, aber ich weiß gar nicht, wo dieser liegt, denn es liegt ganz bei mir, wohin ich gehe. Ich schaue zurück: Wo war sein Beginn? Und welche Wege lagen vor ihm? Es scheint, daß der Weg sich gar nicht bewegt: ich gehe ihn vorwärts, aber er kommt mir entgegen. Sein endliches Ende wird der Tod sein; sein Anfang? Meine Geburt … Aber vielleicht liegt davor / dahinter noch ein anderer Weg. Auch dieser bewegt sich nicht! Wo ist die Zeit? 118 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Sie verbirgt sich in der Veränderung meines Bewußtseins; ich bewege mich, und das ist die Zeit. Ich denke, daß ich den Weg in seinem Verlauf bestimme. Aber wenn ich konzentriert bin, geht mich der Weg: er scheint zu führen. Doch das ist das Gleiche, denn er bewegt sich ja nicht. Aber eines habe ich gelernt: der Anfang ist nicht identisch mit dem Ende – die Veränderung geschieht. So führt mich der Weg vom Anfang (dem »Vater«) zum Ende (dem »Sohn«). Ich werde zum Sohn, so weit ich ihm folge. Wenn Michel Henry recht hat, und in Wahrheit kein Gegensatz zwischen Sinnlichem und Sinnhaftem besteht, so ist alles eine Frage des Bewußtseins. Die Schlange im Paradies ist die Verwechslung von der zum Objekt verdichteten Wahrnehmung mit dem zum Subjekt (»Eigentümer«) aufgeblähten Wahrnehmenden. Sinnliche Wahrnehmung gibt kein Eigentumsrecht: auch nicht als »Verallgemeinerung«, »Begrifflichkeit«, »geistiges Eigentum«, »Autorschaft«.

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Zeit: eine Kette von Ichen. »Jeder verbessere und revolutioniere nur vor allen Dingen statt der Zeit sein Ich; dann gibt sich alles, weil die Zeit aus Ichs besteht« (Jean Paul). Neueste Nachrichten aus der Hirnforschung: Es gibt nicht nur mehrere Ansätze im Hirn für das Ich, sondern auch für das Gedächtnis, nämlich fünf bis sechs verschiedene Gedächtnisspeicher … Was ist Intuition? Die Verknüpfung dessen, was unter dem Grund liegt, mit dem, was über dem Verstehen liegt. Hannah Arendt: Die Schuld ist etwas, was der Schuldige auf seine Schultern nehmen muß. Nur Gott kann ihn davon befreien, kein Mensch durch Verzeihen etc. – Die Geste der Verzeihung behauptet eine Überlegenheit des Verzeihenden über den Schuldigen (er könnte sich ja auch gegen das Verzeihen entscheiden …). Das Echo-Stück aus dem Weihnachtsoratorium (Vierter Teil, Nr. 39). Psychoanalyse bei Bach: Die Form dieses Stückes ist die Gestalt gewordene Sehnsucht nach dem Zukünftigen. Diese produziert die vorweggenommene Anwesenheit (»Er ist schon da«) – produziert das Anwesen des Geistes – produziert das Innewohnen des Geistes – produziert Geist als Anwesenheit – produziert das Echo der Anwesenheit als mögliche Erinnerung – produziert die Sehnsucht. Der Weg zu einer Wiedergewinnung der Religion würde über die Wiedergewinnung des Mythos führen. Man müsste die qualitative Überlegenheit des christlichen Mythos über die alten Mythen zeigen: die »Aufgeklärtheit« im psy120 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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chologischen Sinn, wie sie schon im Evangelium enthalten ist. Dann gäbe es auch keinen unüberbrückbaren Abgrund zur Erfahrung des Christentums in seiner geschichtlichen Wahrheit. Diese läßt sich in einem Wort beschreiben: Ecce homo, so ist der Mensch, so geht es ihm in der Welt, wenn er vom Tier zum Menschen werden will. Auch der heutige Mensch braucht einen Mythos, aber dieser muß mit dem christlich-humanen Bild übereinstimmen, denn dieses ist längst der Maßstab all unserer Utopien geworden. Was tun? Der Mythos ist doch vorhanden, er wird verdrängt: von einer über sich selbst nicht aufgeklärten Aufklärung. Es kommt darauf an, ihn wirklich neu zu entdecken, möglichst weit weg von der Begrifflichkeit der alten Tradition. Von einer Wiedergewinnung des Christentums selber könnte man im Fall einer Rückgewinnung des christlichen Mythos allerdings nicht sprechen; diese ist ganz individuell zu denken und besteht wohl in einer freien Individuation des »christlich infizierten« Menschen. Es ist der »mystische«, d. h. nicht durch die Gegenständlichkeit und die Logik der Begriffssprache begrenzte Weg: er ist der religiös aufgeklärte Weg, im Gegensatz zu dem Bilderweg des Mythos. Die Kirche wird von einer Lehranstalt zu einer Vermittlerin des Mythos, aber auch zur Brücke zum individuell-mystischen Weg. Sie könnte den Eigenwert der Kunst als schöpferische Ausgestaltung der Welt in ihr Denken integrieren, als Entwurf der Humanität, zu der auch das Ungegenständliche gehört: Musik. Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte darüber, was nicht dem freien Markt überlassen werden darf: Soziales, Bildung und Wissenschaft, Kunst, Medien!

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Es gibt keinen Unterschied zwischen sinnlicher Erfahrung, Affekt und Denken: wo auch immer der Fokus der Aufmerksamkeit gerade liegt, versammelt sich die Erkenntniskraft des Menschen in ihrer Totalität. Logos (vom Menschen aus betrachtet): Die Potenz des Menschen, die Welt wahrzunehmen, zu verstehen – und schließlich zu »regieren«. Die Interpretation des Mythos durch Winckelmann wurde im ersten Moment ihres Erscheinens nicht wirklich verstanden. Später wurden in einem längeren Prozeß die lebensfeindlichen Seiten der Industriegesellschaft deutlich und man verstand, was Winckelmann eigentlich sagen wollte: Schändung der Natur ist von der Schändung der Götterbilder nicht zu trennen. Mythisches Denken erscheint dann nicht mehr als nostalgischer Rückgriff auf längst vergangene Epochen, sondern als Weg in eine Zukunft, in der Natur und Gesellschaft versöhnt sind. Daidallein: Etwas kunstvoll verfertigen. Daidalma: Kunstwerk. Nicht als Reminiszenz, sondern als Elementarereignis. Daidalos legte das Labyrinth als Tanzplatz der Ariadne an, die den Theseus aus dem Labyrinth befreite. Vater / Sohn: der Vater hütete sich vor der Verführung des Fliegens als Rausch, dem Ikarus erlag. Christus und der Teufel: er soll sich vom Dach des Tempels stürzen. Labyrinth: Sonnenlauf. Kunst ohne die artifizielle List des Daidalos ist also nicht unschuldig (d. h. unverdorben durch die Reflexion), sondern gefährlich: sie droht den Menschen in die bewußtlose Natur zurückzusaugen. Wir können im mentalen Zeitalter nicht so tun, als würden wir noch in den alten Epochen 122 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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der Spontaneität leben; wir müssen das reflexive Element sowohl in die Kunst wie auch in die Sphäre des Spirituellen einbeziehen, ohne uns dadurch lähmen zu lassen. Musik muß durch den bewußt gewordenen Logos vermenschlicht werden: deswegen ist bei den Musen nicht der Sirenenklang der puren Musik, sondern der im Gesang erst vollerblühende Logos der Sprache das Ziel der Musik. Aber als noch unartikulierte erste Lebensäußerung der Sprache zeigt die Musik von Anfang an die ganze Fülle der Wirklichkeit. Der Mensch antwortet in der Musik individuell dem Klang der Welt – das Tier nur kollektiv. Deswegen muß sie sich auch listig-artifiziell weiterentwickeln und nicht naiv-unbewußt bleiben. Kunst ist Leben, das in der Zukunft verankert ist: sie will neue Formen in die Zukunft tragen. Sich nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem fühlenden Ich in diese Zukunft zu versetzen, ist Magie; jede Art von Performance ist im Kern magisch: Heraustreten aus sich selber, Kopplung von Wille und Konzentration, Interpretation als Ich-Identifikation (nicht als »Selbstidentifikation«, denn dann würde die artistische Ebene nicht verstanden!). Kunst ist bewußte Setzung durch das Ich; Weitergabe einer geformten Magie (Ritus). Im heute üblichen kurzsichtig gewordenen Rationalismus wird die Magie per se verachtet bzw. als fauler Zauber mißinterpretiert. Sie gehört aber nicht nur wesentlich zum Phänomen des Schöpferischen: sie ist dessen Ursprung. Sie ist die neuschaffende Kraft der Natur auf der Ebene des individuellen und bewußten Hervorbringens. Sie nimmt nicht nur das instinktiv und intuitiv Schöpferische in ihren Dienst, sondern auch die formschaffenden rationalen Kräfte: beide ohne darüber zu spekulieren; denn wollte man die 123 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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künstlerischen Entscheidungen bloß dem formenden Intellekt überlassen, so würde man das Kunstwerk kastrieren. Der Produzent von faulem Zauber dagegen will als bereits bewußt gewordener Einzelner die Magie – wie Klingsor – für sich reklamieren und sich als Schaffenden ausstellen. Dabei bedient er sich eines historisch entwickelten Machtpotentials, ohne sich dafür zu rechtfertigen. Eine magische Handlung aus der geschichtlichen Zeit des kollektiven Unbewußten mußte sich nicht rechtfertigen – sie konnte es gar nicht, da das Magische direkt handelte. Wird das Magische als eben diese Handlungsweise in eine sich ihrer selbst bewußte spätere Entwicklungszeit übertragen, muß sie sich über ihr Procedere klar sein und diese Klarheit in ihrem Tun – das ja eine Folge magischer Handlungen ist und bleibt – formal durch eine die Unvereinbarkeiten in Balance bringende neue Ordnung ermöglichen. Dann kann sie den nun in einem ganz neuen Sinn »magischen« Zusammenklang von vergangenen Zeiten mit unserer Gegenwart herstellen (siehe die Idee der »Kugelgestalt der Zeit« bei Zimmermann). Die tiefste Intention des ursprünglichen Magischen ist, wie wir gezeigt haben, die Versetzung des Bewußtseins in die Zukunft. Die Handlungsweise, die sich der alten Materialien einfach bedient, indem sie sie in unsere Gegenwart versetzt statt in eine offene Zukunft, müsste als »defiziente Magie« bezeichnet werden. Vor nunmehr 60 Jahren hat Karlheinz Stockhausen in seinem Aufsatz »Wie die Zeit vergeht« ein großes Problem angeschnitten, ohne es gänzlich zu lösen. In der seriellen Schule ging es darum, die Proportionen der Tonhöhenintervalle neu zu deuten als Proportionen von Zeitdauern. Damit wurde die Empfindung von klingenden Tonhöhen theo124 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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retisch gleichgesetzt mit der Empfindung von rhythmischen Werten. Zeit wurde vorgestellt als ein Stück Materie, das man zerschneiden und dessen Teile man aufeinander beziehen kann. Die expressiven Eigenschaften eines solchen Zeitquantums wurden außer acht gelassen. Betrachtet man den platonischen Zeitbegriff, wie ihn Georg Picht analysiert, so erscheint die Zeit als eine paradoxale Zusammensetzung der von Parmenides beschriebenen Zeit als »ewiger Gegenwart« und der Zeit des Heraklit, die sich uns als ein ständig wechselndes Aufflammen und Erlöschen, als ein Schwingen zwischen Vergangenheit und Zukunft zeigt. Dank dieser Zeitanalyse habe ich heute das Gefühl, den »Fehler«, oder besser die fundamentale Einseitigkeit der seriellen Theorie durchschauen zu können: Quantifizierung von Zeit ist nur möglich, wenn ich ausschließlich von der parmenidischen statischen Zeitauffassung ausgehe. Die Zeit hat aber für uns als zweite Seite die lebendige, ständig wechselnde und vergehende heraklitische Seite, und diese widersetzt sich radikal jeder Quantifizierung. Sie ist zu vergleichen mit der jeden Augenblick stattfindenden Durchblutung eines Organismus, während die parmenidische Zeitauffassung durch die Aktivierung von Reflexion und Erinnerung längere Zeitabschnitte erfaßt. Wollte man Pichts Analyse des platonischen Zeitbegriffs für die Musik im allgemeinen übernehmen, so müßte man sagen: die Gegenwartszeit des Parmenides entspricht den Tonhöhen – also gleichbleibenden Schwingungsfrequenzen – die gegenstrebige Zeit des Heraklit als proportionierte Zeitdauern den rhythmischen Phänomenen. Wollte man ferner Klangfarbe und Lautstärkengrade als Sekundärphänomene beschreiben, müßte man die Klangfarbe als formierte oder deformierte Spektren der Tonhöhen, und die 125 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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dynamischen Ordnungen als Werte zwischen Null und Maximum auf einer Lautstärkenskala erfassen. Wollte man noch eine ganz allgemeine Beobachtung hinzufügen, so müßte man die heraklitische Zeit als affektive Zeit der Musik erkennen, während die parmenidische Zeitempfindung dem Affektfreien zustrebt. »Was ist die Welt«? Picht: »ein vieldimensionales Gebilde und ein Kommunikationszusammenhang.« Nietzsche: »ein sich selbst gebärendes Kunstwerk«. Der Schauspieler auf der Bühne kann in seiner Rolle das Leben als ein Ganzes – manchmal sogar als gelungenes Ganzes – erleben: das passiert keinem Menschen jemals im »wahren« Leben: denn hier erlebt er immer nur Fragmente. Aber was ist dann »wahr«? Eben das Fragment, ein nie vollendetes Stückwerk, ständig in Veränderung begriffen. Nach Plan »richtig« leben können wir nur als Schauspieler. »Starre Regeln machen Esel / Widerspruch erst macht den Menschen« (Ikkyu). Aber Vorsicht! Widerspruch kann es nur geben, wo Regeln sind, und auch eingehalten werden. Noch nicht einmal Tiere leben ohne Regeln: jede Lebensweise braucht Riten und Lebensrhythmen. Der Akzent liegt auf »starr«; Regeln bestehen nicht bloß aus dem Zwang zum Immergleichen, sondern ebenso aus der immer gegebenen Möglichkeit zu ihrem Bruch. Starrheit ist unfruchtbar; Leben kommt aus dem Unvorhersehbaren, Freien. Die Genialität Ikkyus – dessen Popularität in Japan noch heute so groß ist, daß ihm sogar Mangas gewidmet werden – ist in den westlichen Ländern noch immer nicht erkannt worden. Er verkörpert eine individuelle Durchdringung strengster 126 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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buddhistischer Schulung mit bis zum Exzeß reichender freier Lebensgestaltung; ekstatische Mystik mit Sinn für grotesken Humor; tiefes Erleben von erotischer Liebe mit strenger poetischer Disziplin in einem großen dichterischen Werk. Er ist eine so komplexe Figur, daß wir ihn offenbar nur ungläubig anstarren können, ohne zu begreifen. Geboren Ende des 14. Jahrhunderts, hat er eine souveräne Freiheit des bewußten Lebens realisiert, die bei uns wohl erst in der Moderne vorstellbar geworden ist: ein Sich-bewegen in psychischen Gegensätzen, das normalerweise in eine anarchische Kopflosigkeit führen würde. Zur Verzweiflung gebracht durch die in seinen Augen unerträgliche Schlaffheit seiner ihm anvertrauten Mönche, floh er immer wieder das mönchische Leben, um dann wieder zurückzukehren. Seine etwa 2000 erhaltenen Gedichte zeigen einen geradezu »existentialistischen« Charakter bei kaum überbietbarer Knappheit der Form: Stille Zeit: Nichtklang. Bewegte Zeit: Schall. Ist es die Stimme der Glocke – ist es die Kraft des Windes? Erschreckt fährt er auf, der alte Mönch, aus seinem Mittagsschlaf: »Da! Was ist das? Jetzt – zur Mittagszeit: die Mitternachtsglocke!?« Die 4 mal 7 chinesischen Schriftzeichen dieses Gedichtes von Ikkyu enthalten vier gleichzeitig sich zeigende Gedichte – oder sollte man sagen: vier sich ineinander verbergende Gedichte? Das erste erzählt auf lustig parodierende Weise von einem alten Mönch, der die Glockenschläge zur Mittagsstunde mit denen um Mitternacht verwechselt; das zweite ist eine Studie über die Wahrnehmung, das gern dis127 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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kutierte Problem enthaltend, ob diese von der Natur (»Kraft des Windes«) oder von unserer eigenen geistigen Aktivität (»Stimme der Glocke«) gelenkt wird. Im dritten finden wir tiefsinnige Bemerkungen über die Musik: sie ist »bewegte Zeit«, die Frequenz der Schwingungen bestimmt die Tonhöhen, die distinkten Schläge der Windglocke werden als rhythmische Werte empfunden; und das vierte Gedicht spricht wie ein Orakel von den spirituellen Aspekten: »stille Zeit« ist ku (Einheit), »bewegte Zeit« ist shiki (Vielheit). Die beiden Zeiten – shiki als die Mittagswende am Höhepunkt des Lebens und ku, die Mitternacht, als sein Ende, das gleichzeitig Anfang neuen Lebens ist, verschmelzen im Geist des alten Mönchs zur Zeitlosigkeit der Ekstase. Das Kunstwerk zeigt so im selben Moment das Erlebnis von Komik, forschender Ratio, künstlerisch-religiöser Kontemplation und Erhabenheit. Diese Art »Gedankenpolyphonie« wird man in den meisten Gedichten Ikkyus finden. Sie erlaubt einen Blick auf die »Ganzheit« des Menschen, als sei er ein mehrstökkiges Gebäude – vielleicht ähnlich wie die geschichtliche Auffaltung Gebsers es suggeriert, welche die zeitlich-geschichtliche Evolution in der Simultaneität der psychischen »Schichten« wiederfindet. Ich spüre bei Ikkyu eine ganz starke Verwandtschaft zur aktuellen Situation der »Metamoderne«, wie man den Zustand der Kunst »nach der Postmoderne« zu taufen versucht hat. Das Ich des Autors ist in viele Facetten zersplittert – aber sagen wir besser: unsere Augen sind so scharf geworden, daß wir diese schon immer vorhandenen Facetten erkennen können. Daraus entspringt unser Bedürfnis nach Pluralismus, nach einer Welt, die nicht mehr nur nach logisch-rational verstandener Einheitlichkeit geordnet ist. So habe ich in meinen Stücken nach Ikkyu die verschiede128 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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nen Aspekte seiner Gedichte durch verschiedene stilistische Welten zu charakterisieren gesucht, oder durch die Aufspaltung der Gesangspartie in mehrere Personen. Die »Einheit« eines so konzipierten Stückes wird nicht mehr in den alten Formen möglich sein, sondern ein Zentrum suchen, das »über« unserem vom Subjektbegriff bestimmten Ich liegt. »Hörst du mich? Siehst du mich? Ah – da – unendliche Welt! Hören – Sehen – oh – endlos, grenzenlos! Ah, wie schön, ein Ton in der klaren Luft! Achtung – jetzt paß auf: Meister Fuke, alter Gauner, macht einen Trick! Da hängt es, geschaukelt vom Wind, dort am Geländer.« Ku ist zu shiki geworden. Der Blick schaut die unendliche Welt. Gleichzeitig ist ku als der eine Ton präsent, shiki ist wieder zu ku geworden. Durch den »magischen Trick« des Meisters Fuke sind ku und shiki, der Geist und die materielle Welt, eins geworden, wie es Hakuins Kalligraphie sagt: »Das (Eine), das alle Töne der Welt zusammensieht!« – Meister Fuke war der von Ikkyu verehrte Gründer einer Gruppe von Wandermönchen, welche an Stelle der verbalen Predigten ihr immerwährendes Spiel der Shakuhachi setzten. So ist auch in diesem Gedicht die Musik wieder anwesend wie auch der Humor (der Heilige Fuke wird alter Gauner und Trickser genannt), die Wahrnehmung der Sinne (Sehen – Hören) und das Wunder des »einen« Tons, der unter der Gestalt des tönenden Windglöckchens zum endlosen Geläute des Lebens wird.

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Der Johannesprolog und das Hannya Shingyo Versuch eines Vergleiches

Johannes I, 1–17 (Wort-für-Wort-Übersetzung des griechischen Textes) Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei dem Gott und Gott war der Logos. Dieser war im Anfang bei dem Gott. Alles von ihm ist geworden, und ohne ihn ist geworden nicht eins das geworden. In ihm Leben war, und das Leben war das Licht der Menschen: und das Licht in der Dunkelheit leuchtet, und die Dunkelheit es nicht gefaßt hat. Es entstand ein Mensch, ausgesendet von Gott, der Name von ihm: Johannes. Dieser kam zum Bezeugen, damit er bezeugte über das Licht, damit alle Vertrauen faßten zu diesem. Nicht war er selber das Licht, sondern: er bezeugte über das Licht. Es war das Licht das Wahrhaftige, das erleuchtet jeden Menschen, der neu eintritt in den Kosmos. In dem Kosmos war es, und der Kosmos durch dieses ist entstanden, und der Kosmos dieses nicht erkannte. 130 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

Der Johannesprolog und das Hannya Shingyo

In das Eigene kam es, und die Eignen dieses nicht aufnahmen. Die aber aufnahmen dieses, denen gab es Fähigkeit, Kinder Gottes zu werden, denen die vertrauten auf den Namen dieses, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind. Und der Logos Fleisch geworden ist und hat Wohnung genommen in uns, und wir haben geschaut den Glanz dieses, Glanz wie der Erstgeborene vom Vater, voll von Anmut und Wahrheit. Johannes bezeugt über dieses und ruft laut, sprechend: dieser war’s, von dem ich sagte: der nach mir Gekommene ist vor mir entstanden, weil er vor mir war. Denn aus der Vollkommenheit dieses wir alle haben genommen, Schönheit über Schönheit.

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Der Johannesprolog und das Hannya Shingyo

Hannya Shingyo (Versuch einer deutschen Fassung) Essenz der Schriften über das höchste Wissen, das es ermöglicht, alles zu übersteigen. Der wahre Mensch der inneren Freiheit übt sich in der Konzentration des Denkens. Er erkennt, daß der Körper im Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Wollen und Handeln nichts ist als stille Leere; so hilft er allen leidenden Wesen. Die Vielheit der Erscheinungen ist nicht verschieden von der leeren Stille des Einen. Die Stille des Einen ist nicht verschieden von der Vielfalt der Welt. Die chaotische Vielfalt der äußeren Welt ist die verborgene Stille des Einen. Die Stille des Einen ist die unendliche Vielfalt der Erscheinungen: Empfinden – Wahrnehmen – Denken – Wollen – Handeln. Jedes Dasein ist in Wirklichkeit Stille des Einen. Es gibt weder Geburt noch Tod, weder Reines noch Unreines, weder Wachsen noch Abnehmen. So gibt es in der leeren Stille keine Erscheinung, keine Wahrnehmung, keine Begriffe, kein Handeln, kein Bewußtsein. Versunken in die Stille, existieren weder Augen noch Ohren, noch Nase, noch Mund, weder Körper noch Denken. Es gibt keine Farben, keine Klänge, keine Gerüche, nichts zu tasten, nichts zu begreifen. Es gibt weder den Bereich der Wahrnehmung noch seine sechs Gegenstände 132 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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und nicht die Welt der sechs Bewußtseinsarten. Es gibt weder Wissen noch Nichtwissen, weder Illusion noch deren Auslöschung, weder Alter noch Tod, noch die Aufhebung beider. Es gibt keine Ursache für die Entstehung des Leidens, keine Auslöschung des Leidens; weder Erkenntnis noch Vorteil oder Nachteil. Dank dieses Wissens, das alles übersteigt, hat der wahre Mensch einen unbeirrbaren angstfreien Geist. Er kennt weder Hindernisse noch Furcht, weder Verstörung noch Illusion und kann das höchste Ziel des Lebens erreichen. Die Buddhas aller Drei Welten erlangen durch Hannya paramita das Verständnis des höchsten Wissens: Satori. Hannya paramita ist die große universale Weisheit, glänzend, unübertrefflich, unvergleichlich. Sie schneidet alles Leiden ab; in dieser Wahrheit gibt es keinen Irrtum. Und das sagt die Schrift des höchsten Wissens: »Laßt uns darüber hinaus gehen, alle gemeinsam, darüber hinaus und noch jenseits des Darüber-hinaus. Laßt uns das Ufer des Satori betreten«. Essenz der Schriften über das höchste Wissen.

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Versuch eines Vergleiches Wir leben in einer kulturellen Situation, in der alle Grundbegriffe und Zeichen, welche die einzelnen Kulturen bisher getragen haben, hinterfragt und neu formuliert werden. Man hat dabei manchmal das Gefühl, daß bei dem Knirschen der Fundamente, das allenthalben zu hören ist, nicht nur das hochspezialisierte Wissen der Fachleute vonnöten ist, um neue Wege zum Verstehen zu finden. Vielleicht können Ideen aus ganz verschiedenen geistigen Lagern Impulse geben, auch wenn sie sich auf Bahnen bewegen, die außerhalb der definierten Straßen verlaufen. Nehmen wir beispielsweise den Bereich der Kunst, so können wir feststellen, daß hier spätestens seit dem Ende des 2. Weltkriegs auf Grund der weltpolitischen Lage eine Situation eingetreten ist, die mit keiner bisherigen geschichtlichen Konstellation zu vergleichen ist. Alle Weltkulturen finden sich – ob sie wollen oder nicht – als miteinander in einer intensiven gegenseitigen Auseinandersetzung begriffen wieder. Allein durch die Wirksamkeit der Massenmedien durchdringen sich kontinuierlich die Kräfte der ganzen Erde, vergleichen sich miteinander, mischen sich oder heben sich voneinander ab. Es resultiert daraus eine ständige Präsenz nicht nur der aktuellen Strömungen, sondern auch deren Vorformen und geschichtlichen Ablagerungen, welche sofort in den entstehenden Diskurs einbezogen werden. Man kann das Phänomen »Kultur« nur noch als Vielheit wahrnehmen; wer von einer »Leitkultur« oder übergeordneten Kultur sprechen wollte, würde der Wirklichkeit nicht gerecht – abgesehen davon, daß er sich einem Fortschritt entgegenstellen würde, der nach verstehender Integration strebt. Die spezifischen Probleme dieser neuen Situation sind 134 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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leicht zu diagnostizieren. Die Zeichen einer jeden Kultur haben ihre Verbindlichkeit und ihre Verständlichkeit durch den jahrhundertelangen Gebrauch in einer bestimmten menschlichen Gruppe gewonnen: mische ich sie mit denen einer anderen Gruppe, so entsteht zunächst eine weder verbindliche noch präzise verstehbare neue Struktur, welche sich nicht mehr als Fortsetzung des bisher gewohnten kulturellen Gefüges präsentieren kann. Sehr leicht verführt diese Situation zu einem lediglich spielerischen Umgang mit den zum Teil ja unvertrauten Zeichen, der sich zudem den kurzfristig entstehenden Verblüffungseffekten gerne ausliefert. Dieses Spiel kann eine Zeitlang sehr reizvoll sein, und dient vielleicht dazu, die Distanz zu der jeweils fremden Zeichenwelt zu verringern. Bedenkt man aber, daß ja nicht nur eine fremde Zeichenwelt integriert werden muß, sondern potentiell sehr viele, so erscheint als mögliches Endstadium solcher Entwicklung entweder ein nicht mehr entzifferbares Tohuwabohu aus den Zeichen aller Kulturen oder die ganz neu gestellte Frage nach dem Sinn von Zeichen überhaupt. Hieraus wiederum entspringt die nächste Frage: ob und wie nicht besser eine entweder durch radikale Reduktion »gereinigte« oder eine durch einen ganz neuen Ansatz universal sich gebende Zeichenwelt sich bilden solle. Man wird dann vom Ende der Kunst reden und neue Namen für die neu entstehenden Formen suchen. John Cage antwortete auf die Frage, ob es sich denn dann noch um Musik handele, lapidar: »Wenn Sie es nicht Musik nennen wollen, nennen sie es anders.« Wie ist es möglich, multikulturelle Formen zu entwikkeln, ohne die Eigenbedeutung, die »Seele« der sich mischenden Traditionen zu zerstören? Vielleicht gibt es eine Chance, wenn man eine Mitte zwischen den eben skizzierten Extremen sucht. Man müßte sich dann von Fall zu Fall 135 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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auf die Auseinandersetzung mit einer kleinen, überschaubaren Menge kultureller »Zeichen« verschiedener Herkunft beschränken und versuchen, einen von Sympathie und Neugier getragenen Prozeß der gegenseitigen Annäherung in Bewegung zu setzen, der nach Analogien wie auch nach Gegensätzen zwischen den gewählten kulturellen Welten sucht. Darunter müßten auch Kontakte zwischen Zeichen ganz verschiedener historischer Zeiten fallen. Das Ziel müßte sein, in den fremden Zeichen unausgebildete Möglichkeiten der eigenen zu entdecken: das Fremde als das noch Ungelebte des Eigenen zu erkennen. Was jeder Tourist halbbewußt empfindet, müßte als vertiefter geistiger Akt bewußt vollzogen werden, um aus dem unendlichen Vorrat menschlicher Kreativität verwandte Strukturen herauszufiltern und miteinander in Beziehung zu setzen. Halten wir einen Moment inne und betrachten wir unsere Fragestellung kritisch. Wir sind von dem Begriff der Kunst ausgegangen. Für unsere Gesellschaft ist Kunst ein ästhetisches Phänomen; als solches wird sie als unverbindlich betrachtet, und im allgemeinen wird ihr ein lediglich ausschmückender oder unterhaltender Wert zugestanden. Nun brauchen wir nur wenige Jahrhunderte zurückzugehen, und wir werden in unserer europäischen Kultur die Kunst in das große Gebäude der Religion eingebaut finden. Eine solche Zuordnung finden wir in allen Weltkulturen wieder. Das heißt: die großen Kunstwerke der Menschheit sind in ihrer Entstehungszeit keineswegs als unverbindliches Spiel, sondern als zentraler Dienst an den das Heilige symbolisierenden jeweiligen Mythen verstanden worden; aber auch noch in der »aufgeklärten« europäischen Neuzeit wird bis heute kein ernsthafter Künstler sein Werk als unverbindliches Spiel betrachten; es wird von ihm im Gegenteil noch nachdrücklicher als ein »höchster Wert« betrach136 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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tet, da es sein zur Essenz konzentriertes Selbstbild zum Ausdruck bringt. Unversehens sind wir auf einen ganz anderen Gegensatz gestoßen als den zwischen verschiedenen, heute äußerlich sich begegnenden Kulturen: auf den Gegensatz unseres heutigen, von der Bewußtwerdung und Darstellung des Individuellen ausgehenden Kulturbegriffs und dem der alten »mythischen« Hochkulturen, für die das »Ganze«, im mythischen Bild erscheinend, im Zentrum der Kulturen stand. Wie sollen wir aber regional verschiedene Kulturen vergleichen können, wenn wir keine übergreifende Vorstellung von Kultur haben? Wie sollen Kulturauffassungen, die sich per definitionem ausschließen, wie Einheit und Vielheit, individuelle Freiheit und kollektive Übereinstimmung, »integriert« werden? Diese Frage ist eine, ja die Lebensfrage unserer heutigen Kultur, ganz unabhängig von der aktuellen Problematik des Verhältnisses zu fremden Kulturen. Der Gottesbegriff war bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Zeichen für die Identität unserer Kultur – bis der Boden, auf dem die gedankliche Konstruktion dieses Zeichens errichtet war, von einer jahrhundertelang wirkenden Erosion zerfressen, seine Tragfähigkeit eingebüßt hatte. Die Triebkraft für diese Erosion war nichts anderes als das zum vollen Bewußtsein seiner selbst gereifte individuelle »Ich« – nicht das Ich des »Cogito ergo sum«, sondern das »komplette« Ich mit seinem Unbewußten, seinen Trieben und seiner Irrationalität. Ein Ich zudem, das auch seine bisherige Gottgleichheit, nämlich seine Einheit, verloren hatte, und sich umso mehr als endloses Chaos darstellte, je mehr es sich in sich selbst vertiefte. Das war das Wesen, das sich »von der Sonne losgekettet« hatte, wie es Nietzsche formulierte. Es hatte seine Verankerung im »Ganzen« verloren und war frei von der mit ihr verknüpften Bewegungshemmung. Dafür hatte 137 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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es die Orientierungslosigkeit endlosen Umherirrens eingetauscht. Wir empfinden eine ganz neuartige Ratlosigkeit, ja Panik angesichts der von uns deutlicher als früher wahrgenommenen erdrückenden Weltprobleme, seien sie von uns selbst im Lauf unserer Geschichte hervorgerufen, seien sie der Kontingenz des Naturlaufs entsprungen. Vor allem ist ihr Grund wohl das Mißtrauen, das wir selbst gegenüber unserer eigenen Vernunft hegen. Begriff, Vernunft, Sprache, Logik – das allein verbindet noch die alte Welt der metaphysischen Theologie mit dem modernen positivistischen Weltbild; beide Weltbilder stehen sich aber inhaltlich – d. h. in der vernunftgemäß sprachlichen Form – völlig unvereinbar gegenüber. Und spätestens hier kann es uns klar werden, daß das Zentrum unserer Probleme, aber auch die Möglichkeit ihrer Lösung in der Sprache liegt, und zwar in der Erkenntnis dessen, was der Philosoph Fritz Mauthner den »Wortaberglauben« nannte. Es ist der Glaube an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, mittels der Sprache die Gesetze der Welt und den Sinn des Daseins verstehen und ausdrücken zu können: dabei handelt es sich beim Glauben an die Wahrheit der Naturwissenschaft genau wie beim Glauben an die Wahrheit der Metaphysik um den gleichen Dogmatismus, der seine Einseitigkeit nicht erkennen kann. Wir müssen eine Sprache entdecken, welche sich jenseits jener Vernunftdefinition bewegt – besser gesagt, wir müssen sie wiederentdecken. Es ist die Sprache der Mystik, der Poesie und Kunst, in allen Kulturen zu finden, aber von dem Zeitalter der Wissenschaft und Technik immer mehr zu einem Schattendasein verurteilt. Vielleicht müssen wir die Grundtexte der einzelnen Kulturen neu lesen, um eine solche »Nichtsprache« schon mitten in der vernünftigen Sprache zu finden. 138 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Hier sollen zwei Texte miteinander verglichen werden, die – obwohl als literarische Formen analysierbar – durch ihre jahrtausendealte Rezeption in zwei verschiedenen Kulturkreisen die Bedeutung von religiösen Gründungstexten gewonnen haben. Wir finden bei den Religionen heute genau wie bei den Künsten den Vergleich der sich begegnenden Traditionen und die gleichen daraus resultierenden Probleme; auch hier spricht man vom Ende der Religionen und vergißt, daß es nicht um Namen oder äußere Formen geht, sondern um gewaltige Kräfte menschlicher Kreativität, Gesittung und Weisheit, die unter der Bezeichnung »Religion« gebunden sind. Erinnern wir uns also an John Cage und sagen: »Wenn Sie es nicht Religion nennen wollen, nennen Sie es anders.« Oft hört man die Meinung, daß gewisse »fundamentale« Verständigungsformeln von dieser Diskussion ausgenommen werden müßten, wie vor allem der Gottesbegriff. Hier müsse es sogar eine Allianz aller monotheistischen Religionen geben, um wenigstens einen Grundkonsens zu retten. Nun scheint aber gerade die überlieferte Vorstellung eines allmächtigen, personalen, von der Welt unabhängigen »einen Gottes« für eine große Zahl der heutigen Menschen keineswegs evident zu sein. Man konnte vor einigen Jahren im deutschen Fernsehen ein Interview mit einer Gruppe von Teufelsanbetern sehen. Gefragt, was sie denn zu ihren schwarzen Messen und ähnlichem treibe, sagte einer, es sei ihnen gleichgültig, ob sie Gott oder den Teufel anbeteten; sie wollten sich mit dem Zentrum der höchsten Macht in Verbindung setzen. Zwar ist das ein extremes Beispiel – aber in bezug darauf läßt sich schon die Frage stellen, durch welche Grundgedanken denn eine Religion heute eine allgemeine Verbindlichkeit gewinnen könnte und ob diese noch in der Vorstellung einer jenseitigen, alles regierenden 139 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Macht besteht. Ist insbesondere der christliche Theos, oder umfassender ausgedrückt, der »Gott Abrahams, Gott Isaacs und Gott Jacobs, nicht der Philosophen und Gelehrten« (Pascal) überhaupt als ein »Macht-Gott« zu verstehen, da er doch im Fleisch gewordenen Logos gerade als »Machtloser« sich offenbart? Wird in einer lediglich »monotheistischen« Vorstellung überhaupt etwas genuin Christliches überliefert? Betrachtet man dagegen die von vielen Theologen immer noch als »atheistisch« angesehene Welt des Buddhismus: kann man dann ihre, im Westen stets zunehmende, Anziehungskraft vielleicht gerade auf das Fehlen jeder Machtvorstellung und einer von ihr abgeleiteten Ideologie (oder auch nur »Gegenständlichkeit«) zurückführen? Hier soll anhand eines Vergleiches zweier Grundtexte von Christentum und Buddhismus die Verwandtschaft beider Traditionen im Sinne einer »Geistreligion« aufgezeigt werden. Beide Texte, der Prolog des Johannesevangeliums wie das »Herz-Sutra«, Hannya Shingyo, werden nicht aus der Sicht einer bestimmten religiösen Tradition heraus gelesen, sondern es wird der Versuch unternommen, aus heutiger Denkperspektive auf sie zu reagieren – ohne Antworten auf die sich stellenden Fragen geben zu wollen.

Fragen zum Johannesprolog Ob nun das Johannesevangelium in einer frühen oder einer späteren Phase des Urchristentums entstanden ist, ob es einen oder mehrere Autoren hat, ob sein Logosbegriff mehr aus jüdischen oder mehr aus griechischen Traditionen stammt – in diesem Prolog tritt uns die Gründungsschrift einer neuen Religion gegenüber, die an ihre Jünger individuelle moralische Anforderungen von nie dagewesener Ra140 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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dikalität stellt. Nietzsche hat ja bekanntlich im »Antichrist« das historische Christentum in gänzlich neuartiger Weise charakterisiert: als »ein neuer, ein durchaus ursprünglicher Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung«. Der Johannesprolog setzt sich in seiner Diktion wohl bewußt in Parallele zum Beginn der alttestamentarischen Genesis. Zeigt sich in der Genesis ein allmächtiger Herrscher, der seinen Widersacher, den Satan, unterworfen hält, so spricht der Johannesprolog schon im ersten Satz vom Logos, der später als der »Sohn« sich offenbart, welcher die Welt von eben diesem, als »Fürsten dieser Welt« bezeichneten Satan befreien wird. »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen«, heißt es in Lk 10,18. An die Stelle eines als richtender Gott immer mit dem Bösen sich auseinandersetzenden »Mono-Theos« tritt also bei Johannes ein Theos, der durch seinen Sohn – den die spätere Interpretation dann als ihm »wesensgleich« bezeichnen wird – dem Leben, der Natur, dem seiner selbst bewußt werdenden Menschen »verwandtschaftlich« verbunden ist – als Vater, und nicht bloß wie etwa ein Ingenieur, der eine Maschine konstruiert hat. Zum Christentum gehört die Akzeptanz der unerträglichen Paradoxie, daß die Welt als ein freies, sich selbst steuerndes Lebewesen »neben« dem Theos existiert. Scheinen nicht schon die ersten Verse des Prologs auf ein »Nebeneinander«, um nicht zu sagen ein »Gegenüber« von dem hinzuweisen, was mit den beiden Chiffren »Logos« und »Theos« benannt wird? Der Logos ist »pros ton Theon«: Wir haben aus der kirchlichen Tradition gelernt, daß dieses »pros ton Theon« als »nahe bei dem Gott« oder als »auf Gott hin« zu übersetzen ist. Bei Origenes drückt es die Ebenbildlichkeit des Sohnes zum Vater aus. Man kann aber auch die so resultierende Tautologie von Theos und Logos sprachlich nicht überzeugend finden und sich dafür ent141 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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scheiden, das »pros« als »gegenüber« zu übersetzen. Dann würden Teil eins und zwei von Vers 1 eine Polarität entwerfen, die an das »Yang« und »Yin« der chinesischen Tradition erinnert: eine Urpolarität von Himmel und Erde, Mann und Frau, gerade und schief usw.: alle Gegensätze der Welt würden durch sie ausgedrückt. Zwischen dem »Sohn Logos« und dem »Vater Theos« wäre eine – unendliche – Differenz behauptet. Nun steht aber im dritten Teil von Vers 1 »und der Theos war der Logos«. Hier wird das Verhältnis von Logos und Theos als Identität beschrieben, ein größtmöglicher Unterschied zu dem, was wir aus Teil 1 und 2 herausgelesen haben. Sollten wir also schleunigst zur Lesart der Tradition zurückkehren und die störende Tautologie als unzureichendes Mittel für die Darstellung einer »Gleichheit durch Ebenbildlichkeit« auf sich beruhen lassen? Oder wird nicht vielmehr durch den dritten Teil erst das ganze Ausmaß der Kühnheit von Vers 1 deutlich: das unbegreifliche und nur als Paradox aussagbare Rätsel, daß Logos, der Sohn, verschieden von Theos, dem Vater, ist – und gleichzeitig mit ihm eins? Und wenn es erlaubt ist, das doppelte »kai« von Satz zwei und drei als »sowohl als auch« zu übertragen, hätten wir den Sinn: »Es ist der Logos sowohl ein Gegenüber des Theos als auch der Theos mit dem Logos identisch«. Wir fragen weiter: nach Hinweisen, die uns im Verlauf des Textes zur Bedeutung der »Chiffren« Logos und Theos gegeben werden. Im 18. Vers steht lapidar: »Den Theos hat noch niemals jemand gesehen«. Gott ist für uns völlig unerkennbar, weder durch Bilder noch durch Begriffe benennbar; er ist »ein pures Nichts« (Meister Eckhart); »der einziggeborene (monogenes) Gott, an der Brust des Vaters, er gibt uns Kunde«. Daß der Logos Gott ist, aber »geboren«; daß der Theos Vater ist: das ist die erste Kunde, die wir vom Sohn Logos erhalten. Durch ihn, den Logos, ist das All ge142 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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schaffen; in ihm, dem Logos, ist das Leben, welches für die Menschen »das Licht« ist. Das Licht kann aber in der herrschenden Dunkelheit offenbar sein Werk der Erleuchtung nicht bis zum Ende vollbringen, denn die noch unaufgeklärte Dunkelheit (des Bewußtseins?) erlaubt es nicht. Zwischen der Welt, zu der der Mensch gehört, und dem Logos gibt es also ebenso tiefste Verwandtschaft wie auch einen radikalen Unterschied: Der Logos ist Leben und Licht; die Welt empfängt von ihm Licht und Leben. Trotzdem heißt es in Vers 14: »Und der Logos ist Fleisch geworden und hat bei uns gewohnt« – das deutet auf die gleiche Paradoxie hin, welche wir zwischen Theos und Logos fanden: Welt (Mensch) und Logos sind identisch und gleichzeitig verschieden: eine in sich zurücklaufende Bewegung. Oder will damit etwas ausgedrückt werden, das in der Sprache der Metaphysik etwa heißen müßte: der Logos ist »Sein«, das Sein der Welt; nicht aber der Theos, der ein »pures Nichts« (Meister Eckhart) wäre? Wir erfahren zunächst überhaupt nicht, welchen genauen Sinn das Wort »Logos« im Zusammenhang dieses Textes hat. Wir können aber sagen, wenn wir den Sprachgebrauch dieses Wortes betrachten: es hat etwas mit dem Menschen zu tun; es berührt unsere Tätigkeiten des Sprechens, Wortbildens, Denkens, Verstehens. Im Kontext des Prologes weist es darauf hin, daß die Aktivität des Logos auch von uns unabhängig ist und offenbar schon vor uns existiert. Logos ist Rede, Ruf, Wirkkraft, Beschreibung, Bild, Zeichen, Symbol, Schriftdokument, Gespräch. Finden diese Aktivitäten in uns statt? Sind sie bewußt? Vernünftig? Sich selbst verstehend? Im Text des Prologes erscheint das Wort »Logos« vor dem Wort »Theos«. Aber vor dem Beginn des ersten Verses (»Im Anfang …«) scheint imaginär, verschwiegen, das 143 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Nichtwort »Theos« zu stehen. Dieser Theos als »erster Anfang« kann von uns auf Grund unserer zeitlichen Natur nicht gehört und verstanden werden; wir erfassen zunächst nur das Beginnen unseres Lebens bzw. des Logos in uns. Schon hier zeigt sich, daß Logos und Leben zusammengehören. Zum Theos können wir offenbar nur nachträglich durch den Logos kommen – wenn überhaupt. »Logos« heißt hier also: eigenes Leben, zu dem eigenes Denken gehört. Aber nicht jene Art Denken ist hier gemeint, die zu unserm Vorteil oder zur Steigerung unseres Wissens und unserer Macht dient. Vielmehr handelt es sich offenbar um eine Denkbewegung hin zum Unbekannten, Unsichtbaren, noch in der Zukunft Liegenden. Es handelt sich hier nicht um ein objektiviertes Begriffsdenken, sondern im Gegenteil um die ganz und gar subjektive Sprache der Erfahrung. Der Einzelne wird selber zum Logos, welcher den Theos denkt: d. h., das Ego des Einzelnen verschwindet in diesem besonderen Denken: aber nicht indem es ausgelöscht, sondern indem es in den Logos aufgenommen wird. Es scheint, daß durch dieses Denken eine neue Sprache, oder ein neuer Umgang mit der Sprache, gefordert wird: einer, der die formulierten Worte sofort wieder durchstreicht, indem er ihre Unfähigkeit zur Wiedergabe der Wirklichkeit durchschaut; ein Sprachgebrauch, der das Paradoxe und die eigene Verneinung gleich mitdenkt. Es scheint, daß der Text den Leser vom ersten Vers an auf eine solche Sprache einschwören will, um ihn auf eine Leseweise hin zu öffnen, welche auf der Nichtidentität, der totalen Widersprüchlichkeit und Paradoxie beruht: »Credo quia absurdum!«

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Zum »Hannya Shingyo« Wir unterbrechen hier die Betrachtung des christlichen Textes, um einen ersten Blick auf einen großen Text einer ganz anderen Kultur zu werfen. Wohl etwa um die gleiche Zeit, als der Johannesprolog geschrieben wurde, muß das Hannya Shingyo entstanden sein, ein Text, der als das sogenannte »Herz-Sutra« bis heute für die buddhistische Welt als einer der wichtigsten, wenn nicht als der zentrale der Sutrentexte verehrt wird: nicht nur im Zen (da besonders), auch in allen anderen buddhistischen Formationen hat er höchste Autorität. Das Merkwürdige ist, daß auch dieser Text den Hörer von Anfang an mit dem größten Nachdruck dazu verpflichtet, mit der vernunftgemäßen Logik unserer Alltagssprache zugunsten der gleichen systematischen Widersprüchlichkeit zu brechen, die wir im Johannesprolog fanden. »Der wahre Mensch der inneren Freiheit«, so kann man den Anfang dieses Textes übersetzen, »übt sich in der tiefen Konzentration des Denkens.« Der Text konfrontiert dann zwei Worte, die gegensätzliche, einander ausschließende Bedeutung haben: »ku« und »shiki«. Ku wird oft mit »Leere« übersetzt – leer von jeder bildhaften oder begrifflich faßbaren Bedeutung. Ku bedeutet aber auch Himmel, Unendlichkeit, Ewigkeit. »Ku bedeutet Dasein ohne Numen, ohne absolute Substanz, jenseits der Formen; absolutes Sein«, so drückt es der Zenmeister Taisen DeshimaruRoshi aus. Shiki dagegen ist die sinnlich wahrnehmbare Form, das Leben in Zeit und Raum: »… die formale und relative Existenz, welche für die Materie charakteristisch ist. Es gibt zwei Arten von Existenz: subjektive (das Ego) und objektive (die uns umgebende Welt). Shiki … bezeichnet als Begriff die Gesamtheit der phänomenalen Welt, Geist 145 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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und Materie in einem« (Deshimaru). Shiki ist also die Vielheit der wirklichen Welt, ku ist das Eine, nicht beschreibbar, es sei denn in negativer Sprache. Als Abendländer können wir das, wenn wir unbedingt wollen, als eine Art Atheismus verstehen; richtiger wäre es wohl, mit Hilfe der Tradition der negativen Theologie, von Dionysios über Meister Eckhart und die Mystiker bis zur Gegenwart, ku als absolut bildlosen und begriffslosen Nicht-Namen des Theos zu verstehen. Aber diese Entscheidung spielt gar keine Rolle, da wir uns in einem Sprachfeld befinden, in dem die logische Identität suspendiert ist. Die entscheidende Aussage des Hannya Shingyo ist nämlich: ku ist shiki, und shiki ist ku. »Die Stille des EINEN ist nicht verschieden von der VIELFALT der Welt.« Die äußersten Gegensätze werden einander gleichgesetzt. Alle Formen des Erscheinens in dieser Welt werden aufgezählt und in die Stille des Einen versenkt: »Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Wollen, Handeln: alles Dasein ist in Wirklichkeit Stille des Einen.« Hier muß man bedenken, daß der Text keine Philosophie sein will, sondern zur Meditation dient; er will den Geist in die »Stille« versetzen und ihn von der Verhaftung an alle vitalen Prozesse lösen: »Es gibt weder Geburt noch Tod, weder Reines noch Unreines, weder Wachsen noch Abnehmen. So gibt es in der leeren Stille keine Erscheinung, keine Wahrnehmung, keine Begriffe, kein Handeln, kein Bewußtsein. Versunken in die Stille, existieren weder Augen und Ohren noch Nase, noch Mund, weder Körper noch Denken. Es gibt keine Farben, keine Klänge, keine Gerüche, nichts zu tasten, nichts zu begreifen. Es gibt weder Wissen noch Nichtwissen, weder Illusion noch deren Auslöschung, weder Alter noch Tod, noch die Aufhebung beider …«. Und am Ende dieses selbstsuggestiven Katalogs erscheint das wichtigste, zentrale 146 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Wort: mushotoku. Es bedeutet die Nichtexistenz von persönlichem Streben nach Erfolg, Verdienst, Erkenntnis, kurz: den Verzicht auf alle selbstsüchtigen Wünsche des Ego. Alle Bewußtseinsaktivitäten sollen »leer« von diesem Ego sein, und die vollkommene Einung mit ku, der Stille des Einen, anstreben. Dann wird der Meditierende – der »wahre Mensch« – einen »unbeirrbaren angstfreien Geist« gewinnen. »Er kennt weder Verstörung noch Illusion und kann das höchste Ziel des Lebens erreichen«. Dieses höchste Ziel ist Satori, die Erleuchtung, und am Ende bricht das Hannya Shingyo in puren Jubel aus: »Laßt uns darüber hinaus gehen, alle gemeinsam, darüber hinaus und noch jenseits des Darüber-hinaus«. Satori ist zwar das höchste Wissen, aber – und das ist entscheidend wichtig – es ist kein Wissen, das sich in Sprache übersetzen läßt. Es ist deswegen von der gleichen Art wie die für Paradoxe und logische Widersprüche offene »neue« Sprache – oder »mystische Redeweise« –, wie wir sie am Ende der Reflexionen über den Johannesprolog skizziert haben.

Weitere Fragen zum Johannesprolog Der »wahre Mensch«: das wollen wir für jetzt übersetzen mit dem »Sohn«: der Logos der biblischen Sprache, gleichzeitig der »innere Mensch«, der in jedem Menschen verborgen ist. »Alles ist durch den Logos geworden, und ohne ihn ist geworden nicht Eins, das geworden.« Der Logos ist hier also die Kraft dessen, was wir heute »Evolution« nennen; die Kraft, durch die das Gewordene geworden ist und das Werdende wird. Der Logos ist das Leben, das Leben des Lebens. Könnte man dann nicht sagen: er ist die dem neu Ent147 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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stehenden zugewandte, schöpferisch-aktive Seite des Theos, der selber dann die in sich ruhende, von Aktivität leere »andere« Seite ist? Da Theos und Logos, ku und shiki, »gleich« sind, sprechen wir ja in Wahrheit von ein und demselben. Der schöpferisch-aktiven Seite des Theos entspringt der Sohn, die »Schöpfung«. Der Sohn ist die leidende, passive Seite: die in Wehen liegende Welt. Der »Sohn« leidet und kämpft mit der Welt. Drängt sich hier nicht ein Vergleich mit Meister Eckhart auf, der zwischen Gott und Gottheit unterscheidet? »Gott wirkt, die Gottheit wirkt nicht, sie hat nichts zu wirken, in ihr ist kein Werk. Gott und Gottheit unterscheiden sich wie Wirken und Nichtwirken« (so die freie Übertragung Gustav Landauers). Der »Sohn« ist das schöpferische Zentrum der Welt, durch den sie geschaffen ist und das sie trägt. »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.« Der Logos gibt allem Lebendigen das Leben; dem Menschen aber gibt er noch mehr: durch das Licht können wir die Welt verstehen lernen; dieses Verstehen ist also nicht nur Betrachtung des durch den Logos Gewordenen, sondern selber Wirken des Logos. »Das Licht leuchtet im Finstern, und das Finstere hat es nicht gefaßt«. Das durch unseren Verstand möglich gewordene Mitwirken mit dem Logos stößt in der Entwicklung des Menschen auf ein Hindernis – in moderner Sprache: auf eine unvermeidliche Krise der Evolution, welche dazu führt, daß uns das Licht unseres Bewußtseins immer mehr in Finsternis und Ratlosigkeit führt. Der Logos gibt uns die Lebenskraft und mit ihr auch die Kraft zum Denken und Verstehen. Aber die damit verbundene Mühe und Arbeit müssen wir selber leisten; ebenso wie die vormenschliche Natur aus eigener Kraft ihr ursprüngliches Chaos in einem langen Trial-and-Error-Prozeß bewältigt. Nicht der Gott Logos gibt ihr die »Naturgesetze«, sondern sie selbst bildet 148 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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allmählich die vielen Ordnungssysteme und Kreisläufe aus, um sich zu einer Gestalt von sinnvoller Schönheit zu entwickeln. Dieses »gemeinsame« Wirken von Logos und Welt kann nicht rational getrennt, auseinanderdividiert werden. Die Welt, der Mensch sind frei; der Logos führt ihnen nicht die Hand; aber ohne den Logos gäbe es weder Welt noch Mensch. So entwickelt auch der Mensch in seiner Geschichte aus sich selbst nicht nur die praktischen, sondern auch die ethischen Gesetze seines Handelns. Das menschliche Ego aber, das von dem der Tiere abstammt, benutzt die dem Menschen neu gegebene erkennende Kraft des Logos nicht nur zur Entwicklung weiser Sinnhaftigkeit, sondern auch und immer mehr zur Steigerung seiner individuellen Macht; es handelt immer mehr mit »egoistischer« Absicht – zum eigenen Vorteil auf Kosten des Allgemeinen. So wird unser Bewußtsein verdunkelt und kann den Weg mit dem Logos nicht weitergehen – wie es die Paradiesgeschichte erzählt. Wir sind heillos verstrickt in die Eigenliebe und nicht mehr fähig, im Sinne des Logos richtig zu denken und zu handeln. Wir laufen auf unseren sicheren Untergang zu; modern gesagt, wir zerstören unsere ökologische Nische, die wir von Natur aus zum Leben brauchen. In Vers 6 bis 8 kann die Figur des »Johannes« vielleicht als ein Prototyp jener Menschen gesehen werden, welche sich im Lauf der Geschichte überall auf der Welt bemüht haben, auf die Fatalität dieser Entwicklung hinzuweisen. Das Gegenmittel ist immer die »Umkehr« zu einer nichtegozentrierten Lebensweise. In moderner Sprache müßte man formulieren, daß die Eigendynamik der Evolution den Menschen und mit ihm seine Umwelt in eine offenbar unlösbare Krise gebracht hat. Alle Naturwesen wurden zwar mit einem Potential zur Selbsterhaltung ausgestattet, aber 149 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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außerdem mit einer darüber hinaus wirkenden überschüssigen Energie, welche dafür sorgt, daß die Evolution nicht nur stabile Lebensformen, sondern auch neue und immer komplexere hervorbringt. Zum Leben gehört also die Eigenschaft, sich selbst zu übersteigen und zu steigern. Durch die Erfindung des Selbstbewußtseins haben die Menschen ein Dilemma erzeugt: auf der einen Seite wurde in den kulturellen Formen eine neue und fantastisch reiche Spielart des Lebens hervorgerufen. Auf der anderen Seite aber wurden im Lauf der Geschichte immer perfektere und furchtbarere Formen der Zerstörung von Leben erfunden und eingesetzt – eine Art Rückkoppelung des Potentials zur Selbststeigerung mit dem Potential zur Selbsterhaltung: die sich selbst erhaltende und dauernd sich steigernde Macht des Ego schlechthin. Der Mensch findet ganz offenbar aus diesem inneren Widerspruch nicht mehr heraus. Nur der Logos selbst, die ursprüngliche Kraft des Lebens, könnte diesen Knoten durchschlagen, indem er das Leben noch einmal zum Anfang zurückführen würde. Aber wie könnten wir selbst an diesen Punkt kommen? »Kann man denn in den Schoß seiner Mutter zurückkehren?« (Joh 3, 4) »Er war das wahrhaftige (to alethinon) Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.« Das dem Menschen bis jetzt bewußt gewordene Licht – das des Lebens und das des Verstandes – ist nicht das »wahrhaftige« Licht; es ist das vom Logos ausgehende Licht, aber nicht der Logos selber. Um das sich real stellende Problem von Tod und Leben unserer Spezies zu lösen, muß der Mensch in direkten Kontakt mit dem Logos treten, bzw. der Logos muß »unter uns zelten« (Joh Vers 14). Übersteigt der Mensch jetzt seine Natur und wird zum Logos? Oder wird der Logos Mensch? Ist das im Sprachraum der suspendierten logischen Identität nicht »ein und dasselbe?« Die alten 150 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Hebräer sprachen vom Messias; und Levinas meint, daß jeder Mensch Messias sein müsse. »Er kam in sein Eigenes, aber die Eigenen nahmen ihn nicht auf.« Das Bewußtsein der meisten Menschen ist noch nicht imstande, zu verstehen, daß gerade das dem unbeschränkten Lebenswillen des Ego scheinbar Zuwiderlaufende das Leben in umfassendem Sinn retten kann: die freiwillige Selbstbeschränkung der Macht. »Wer sein Leben liebt, wird es verlieren; wer es haßt, wird es retten« (Joh 12, 25). »Den Menschen aber, die ihn doch aufnahmen, gab er die Macht, Söhne Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben; die nicht aus dem Blut, noch aus dem Wollen des Fleisches, noch aus dem Verlangen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.« Hier wird »Macht« neu definiert: als machtlose Macht des Geistes. Beschränkt muß werden: Blut – Wille zu Macht, Herrschaft, Ruhm; Fleisch – Wille zum Genuß; Verlangen des Mannes – Wille zur geschlechtlichen Lust. (Vielleicht entspricht dem: »Denken – Wahrnehmen – Affekt«?) Statt dessen das Verlangen, durch die »Umkehr« dieser Lebensgüter zum Geist als der Ich-Losigkeit zu finden. Der Prolog nennt das »Kinder Gottes werden«, das Hannya Shingyo »mushotoku«: ohne besondere Absicht handeln. »Und der Logos ist Fleisch geworden und hat sein Zelt unter uns aufgeschlagen. Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit wie eines erstgeborenen Sohnes, voll Glanz der Schönheit und der Wahrheit.« Die Entwicklung des Menschen zu diesem Ziel hat begonnen: durch unsere Freiheit gesetzt, und gleichzeitig von der »Evolution« (was immer das ist) gewollt. Die »Herrlichkeit« der Gottessöhne ist wie eine »Erstgeburt«. – Wir sollen an den »Namen« des Logos glauben. Was heißt »Name«? Doch sicher nicht der Wortschall Logos, auch nicht eine seiner vielen möglichen 151 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Sprachbedeutungen. Es kann sich nur um etwas handeln, das allein im Feld der aufgehobenen Identität zu verstehen ist. Wenn ich jemanden oder etwas beim Namen nenne, so rufe ich sein – mir vielleicht verborgenes – Wesen auf. Logos muß der Nicht-Name des Namenlosen sein. Indem wir an ihn »glauben«, halten wir nicht eine Vorstellung für wahr, sondern wir schaffen den Namen mit. »Glauben« ist eine schöpferische Aktivität, nicht ein gehorsames Nachsprechen einer allgemeinen Formel. Hier zeigt sich neu, wie der Logos dem Theos gleich ist: auch dieser ist ja namenlos; wir »identifizieren« ihn als den Namenlosen. Zeigt sich hier nicht, daß als Übersetzung für Theos und Logos die Begriffe ku und shiki die genau passenden sind? Vater und Sohn der trinitarischen Tradition, entsprechen sie nicht der ruhenden und der schöpferischen Seite der Wirklichkeit im buddhistischen Denken? Aber wenn wir schon einen Vergleich mit dem trinitarischen Denken durchführen: wo finden wir den Dritten, den Geist, das Pneuma? Es ist klar, daß die drei Zahlen der Trinität keine Zahlen der aufsteigenden Zahlenreihe sind; sie bezeichnen keine Verschiedenheiten. Ebenso ist, wenn ku und shiki einander gleichgesetzt werden, die Einheit dieser Zwei identisch mit der Einheit von ku bzw. shiki, denn sie ist eine »Eins« gewordene »Zwei«, nicht eine einfache Einheit (wie ku bzw. shiki). Der Geist ist also die logisch unfaßbare Einheit von Vater und Sohn; denkt man den zeugenden Vater als 1 und den Sohn, als Gezeugten, als 2, so ist es der Geist als 3, als dritte »Person« der Trinität, welcher die Einheit von Vater und Sohn zum Ausdruck bringt. Bei ku und shiki wird diese Gleichheit nicht benannt, und so wird die negative Sprache konsequent beibehalten. Man spricht im Buddhismus aber gerne provozierend vom »Nichtgeist«, um die

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mit der normalen Sprache nicht faßbare »Einheit der Zwei« zu bezeichnen.

Weitere Aspekte des Hannya Shingyo Wir entdecken einen zweiten, noch viel tieferen Aspekt der Übereinstimmung, wenn wir einen Kommentar des Zenmeisters Tosan aus dem 9. Jahrhundert studieren, welcher das Mysterium der Gegensätze ku/shiki, die doch eins sind, in den sogenannten »5 Ständen« beschreibt. Es handelt sich nicht um das, was wir eine »dialektische Vermittlung« nennen würden, sondern eher um eine Annäherung in Etappen an dieses absolute Paradox. Ich kann hier nur den von vornherein vergeblichen Versuch einer einigermaßen verständlichen diskursiven Umschreibung dieses Gedankenganges machen, der sicher zu den tiefsten und komplexesten der Geistesgeschichte gehört – um wiederum meinem eigentlichen Ziel näherzukommen: der Aufzeigung der inneren Verwandtschaft zu den Gedanken des Johannesprologs. Die beiden absoluten Gegensätze ku und shiki heißen hier shu und hen: das Aufrechte und das Schiefe. Die 5 Stände heißen: 1) sho chu hen – im Aufrechten das Schiefe; 2) hen chu sho – im Schiefen das Aufrechte; 3) sho chu rai – aus dem Aufrechten herauskommen; 4) ken chu shi – zum Zusammenwirken kommen; 5) ken chu to – ins Zusammenwirken heimkommen. Es handelt sich also, wenn man etwa dem Vokabular C. G. Jungs folgen will, um das, was die Jungsche Psychologie, in Anlehnung an den großen Gedanken des Nikolaus Cusanus als die »Vereinigung der Gegensätze« (coincidentia oppositorum) bezeichnet. Es wird gezeigt, wie von Anfang an (des seelischen 153 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Prozesses, um es weiter aus westlicher Perspektive zu betrachten) der eine extreme Pol schon mit dem andern in Beziehung ist. Im ersten und zweiten Stand wird gezeigt, daß (ich zitiere jetzt aus einem der jüngsten berühmten Kommentare zu Tosans »5 Ständen« von Hoseki Shinichi Hisamatsu) »im Aufrechten das Schiefe« die Vorbereitung zum Übergang in den Stand »Im Schiefen das Aufrechte« enthalten ist. »Wenn man beim Stand ›Im Schiefen das Aufrechte‹ im Schiefen stehenbleibt, so ist es nicht der echte Stand des Schiefen. Es gibt nämlich im Schiefen das Aufrechte.« So wie das Schiefe voll des Aufrechten ist, so ist das Aufrechte voll des Schiefen. »Damit wird erklärt, daß der bloße Stand des Aufrechten nicht das Aufrechte ist, und der bloße Stand des Schiefen nicht das Schiefe.« Wir müssen versuchen zu realisieren, daß es sich hier nicht um philosophische Abstraktionen im westlichen Sinne oder gar um reine Gedankenspiele handelt, sondern vielmehr an diesen seltsamen Begriffsmarken ein Maximum seelischer Gewichte hängt. Es geht hier um das, was für die buddhistische Religion das höchste Ziel der seelisch-geistigen Entwicklung ist. Die ersten zwei Stände sind, anders betrachtet, nicht zwei, sondern eins. »Dieses Einssein von beiden ist nun das Selbst. Gewöhnlich wird dieses Einssein unter dem Namen des wahren Seins oder des Buddha als unserem Selbst fern vorgestellt; es ist aber eben unser Selbst als solches« (Hisamatsu). Der dritte Stand »Aus dem Aufrechten herauskommen« zeigt den Punkt, an dem die beiden ersten Stände »umschlagen bzw. umgeschlagen werden. Aufrechtes und Schiefes sind so nicht zwei Getrennte, sondern das eine enthält in sich das andere. Dies heißt das Zusammenwirken von Aufrechtem und Schiefem. Das wahre Ich ist in der Tat diese Zusammenarbeit.« Hier kommt aber etwas anderes ins Spiel. Dieser Zu154 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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sammenschluß von Aufrechtem und Schiefem wird jetzt aufgefaßt als ein Zustand des Sich-selbst-Genügens – einer in sich kreisenden kontemplativen Abgeschlossenheit. Er soll aber zur Tat werden, die dem anderen Selbst – also den Mitmenschen, ja »allen lebenden Wesen« – Genüge tut! »Der Stand, von dem man wirklich zu solcher Tat ausgeht, ist der vierte: »Zum Zusammenwirken kommen.« Dieser Stand wird als sowohl über dem Weltlichen wie über dem Heiligen stehend angesehen. Hier geschieht als Werk des Bodhisattva die »Errettung der leidenden Wesen«. Als Grund für die Möglichkeit dieser Errettung wiederum wird die Existenz von Schiefem im Aufrechten und von Aufrechtem im Schiefen erkannt. Eine Sutra-Zeile faßt diesen absurden Gedankengang zusammen: »Der Bodhisattva übt das Wider-Wegige«. Im abschließenden fünften Stand »In das Zusammenwirken heimkommen« ist dann »alles geleistet worden, und sowohl Wesen wie Wirken ruhen. Unser Selbst ist in der Tat ein solches, das unsagbar ist, das also der vier Grundaussagen ledig wird als gestaltloses Selbst in wahrer Freiheit.«

Zusammenwirken beider Texte Kehren wir wieder zum Johannesprolog und seinen beiden Grundpfeilern Logos und Theos zurück. Interpretieren wir diese beiden Pfeiler mit den »5 Ständen« des Tosan, so können wir vielleicht folgendes erkennen: 1) der Theos ist in Wirklichkeit kein in sich einsam ruhender Gott, sondern er trägt die Welt schon in sich, als Vater des Sohnes Logos, durch den die Welt entsteht (»per quem omnia facta sunt«). 2) Der Logos hat der Welt nicht nur das Leben und die Freiheit zum Leben geschenkt, sondern ihr als zeitlich-end155 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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licher Form (shiki) sein außerzeitliches Wesen (ku) als Licht mitgeteilt; so trägt er die Welt und die Menschen mit und »errettet« die Menschen, welche ihm folgen, indem er in ihnen das verborgene Leben des Vaters entbindet. So ist die Welt in Wirklichkeit nicht nur die Welt (sowie das wahre Schiefe nicht nur das Schiefe ist), sondern trägt in sich die Kraft des Theos; und der Theos ist in Wirklichkeit nicht nur der Theos (so wie das wahre Aufrechte nicht nur das Aufrechte ist), sondern trägt mit dem Sohn Logos auch die Welt in sich. 3) Durch die ersten beiden »Personen« der Trinität, wenn man in der theologischen Sprache reden will, ist also ein Prozeß beschrieben, der sich in allen Einzelwesen der Welt vollzieht und dessen Vollendung in der Einswerdung der, durch die beiden ersten Personen bezeichneten, absoluten Gegensätze besteht: im Geist. Auch »Geist« gehört zu den Nicht-Worten, wie es Logos und Theos sind: keine verstehbaren Begriffe, sondern Verständigungsmarken in jener sich selbst, im Sinne einer dem Verstand gemäßen Denkweise, verneinenden Sprache, in der alle religiöse Mitteilung stattfindet. Sie ist keine irrationale oder gar Nonsenssprache, sondern bedarf der verstandesgemäßen Sprache, um sich von eben dieser »abzustoßen«. Um in ihr zu »sprechen«, bedarf es von seiten des Sprechenden einer gesteigerten konzentrativen Energie. Im Buddhismus wird diese vor allem durch die Übung des Zazen trainiert; in der christlichen Tradition ist sie in der Gabe des »Geistes« benannt: »Niemand kann sagen: Herr Jesus, außer im Geiste.« (Paulus, 1. Kor 12, 3b) In der Geschichte der christlichen Mystik kam diese Art des komplexen Denkens (gegenüber der sich fast immer dem Verstandesdenken angleichenden Sprache der Theologie) zu einer höchst individuellen Entfaltung. Wollte man vorsichtig die Differenz zwischen der Verstandesspra156 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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che und der mystischen beschreiben, so müßte man sagen, daß das Ich in eine andere Funktion tritt: nötig für das mystische Denken ist nicht jene alles und sich selbst objektivierende Denkweise des »Cogito ergo sum«, sondern eine Aktivierung des schöpferisch-entwerfenden, subjektiv und affektiv höchst bewußten Denkvorganges, in dem das Denken nicht ein Verstehen der gewordenen Welt produziert, sondern eine Fortsetzung des schöpferischen Werdeprozesses der Welt wird. Wir kennen dieses Denken in abgeschwächter Form im Prozeß der Hervorbringung und des Verstehens von Kunst. So tritt der Logos im Menschen nicht nur in seiner das Lebendige formenden und stabilisierenden Kraft in Erscheinung, sondern auch in seiner das Dasein steigernden und seine Stabilität zugunsten größerer Komplexität wieder opfernden Energie, wie es auch Nietzsche in seiner Lebensphilosophie beschrieben hat. Auch das Hannya Shingyo, das unsere vergleichenden Überlegungen angestoßen hat, ruft es in seinen grandiosen Schlußzeilen aus: »Laßt uns darüber hinaus gehen, alle gemeinsam, darüber hinaus und noch jenseits des Darüber-hinaus«. Anthropologisch gesehen bedeutet »Geist« in beiden Religionen die Behauptung bzw. Errichtung einer seelischen Hierarchie: die Ebene des Geistes kann nur erreicht werden, wenn das welthaft-verstandesgemäße Denken beherrscht und gleichzeitig in vollem Bewußtsein überschritten und in seiner begrenzten Funktion durchschaut wird. Paradoxerweise werden alle religiösen Phänomene erst so verstehbar – je mehr dagegen versucht wird, sie mit dem normal-logischen Denken zu begreifen, umso unverständlicher, ja sinnloser werden sie. Wieder ist es wie in der Kunst: wenn der Betrachter oder Hörer sich nicht auf die energetische Welt des Kunstwerks mit seiner eigenen schöpferischen Energie einläßt, wird er nichts »verstehen«. 157 https://doi.org/10.5771/9783495811115 .

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Werfen wir noch einen Blick auf den Schluß des ersten Johannes-Kapitels, so können wir diese »hierarchische« Gliederung in den Worten der Johannes-Figur ausgedrückt finden. Sieht Johannes sich selbst auf der Stufe des zeitlichen Verstehens, und begreift er in der ankommenden Messiasfigur eben jene Ebene des die Zeit überschreitenden Logos, der »nach mir kommt und vor mir ist«? Nur durch den Logos, also durch das die Gegensätze überschreitende Denken des »Geistes«, ist es möglich, »Kunde« zu erhalten von dem gänzlich verborgenen Theos, den »nie jemand gesehen hat«. Die auf diesen Seiten ausgebreiteten Gedanken verstehen sich als ein tastender und vorsichtiger Versuch, zwei verschiedene geistige Traditionen zu einem tieferen gegenseitigen Verstehen zu bringen, einem tieferen Verstehen der jeweils anderen und vielleicht sogar der eigenen Überlieferung. Natürlich beschränkt sich dieser Versuch auf ein formales Verstehen: mehr kann die Sprache des Verstandes nicht leisten. Erst auf dem Weg der individuellen Verwirklichung kann das Verstehen lebendig werden.

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