„… wenn die Nacht das Denken überkommt": Eine Untersuchung zur Idee des gelingenden Lebens bei Kierkegaard und Camus 9783495998632, 9783495998625


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Einleitung
1 Problemstellung
2 Zum Forschungsstand
3 Zum Vorgehen
I Camus: Der Mythos des Sisyphos
1 Absurdität
1.1 Das Gefühl des Absurden
1.2 Das Denken des Absurden
1.3 Das Absurde in der Philosophie des Nachidealismus und der Moderne
2 Sprung
2.1 Ungerechtfertigter Übergang bei Jaspers und Schestow
2.2 Kierkegaards Sprung
2.3 Negation der Enttäuschung und Negation der Erwartung
3 Nichtung der Möglichkeit des Sprungs
3.1 Auflehnung und Zeugnis
3.2 Todesanalyse
3.3 Lebensregel
4 Skizzen
4.1 Don Juan
4.2 Der Schauspieler
4.3 Der Eroberer
5 Kunst I
5.1 Der schöpferische Mensch
5.2 Sprung im literarischen Werk Dostojewskijs
5.3 Das Kunstwerk
6 Der Mythos des Sisyphos
7 Kunst II: Absurdität und Sprung im literarischen Werk Kafkas
8 Zwischensynthese
II Kierkegaard
1 Absurdität und Sprung: Furcht und Zittern
1.1 Abraham glaubte
1.2 Problemata: Vorläufige Expektoration
1.2.1 Verstehen als Betroffensein
1.2.2 Annäherung an das Absurde und die Doppelbewegung
1.2.3 Erläuterung der Doppelbewegung
1.3 Problema I: Teleologische Suspension des Ethischen
1.3.1 Der Einzelne und das Allgemeine
1.3.2 Kontrafaktische Agamemnon-Interpretation
1.3.3 ›Etwas mehr‹ als das Gewöhnliche
1.4 Problema II: Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott?
1.4.1 Inkommensurabilität
1.4.2 Vergewisserung
1.5 Problema III: Ethische Rechtfertigung des Verschweigens
1.5.1 Verborgenheit im Ästhetischen und Ethisch-Allgemeinen
1.5.2 Das Dämonische
1.5.3 Faust-Interpretation
1.5.4 Abschließende Interpretation Abrahams
1.6 Zwischensynthese
2 Disharmonie und die Nichtung ihrer Möglichkeit: Die Krankheit zum Tode
2.1 Standpunkt: Vorwort und Einführung
2.2 Verzweiflung als Krankheit zum Tode (A)
2.2.1 Selbst und Verhältnis – Formen der Krankheit
2.2.2 Möglichkeit und Wirklichkeit
2.2.3 Verzweiflung ist die Krankheit zum Tode
2.3 Die Allgemeinheit dieser Krankheit (B)
2.3.1 Diagnose und vulgäre Betrachtung
2.3.2 Gesundheit als Überwindung von Krankheit
2.3.3 Das Primat der Krisis
2.4 Die Formen dieser Krankheit (C)
2.4.1 Synthesetheoretische Perspektive
2.4.1.1 Endlichkeit und Unendlichkeit
2.4.1.1.1 Verzweiflung der Unendlichkeit als Fehlen von Endlichkeit
2.4.1.1.2 Verzweiflung der Endlichkeit als Fehlen von Unendlichkeit
2.4.1.2 Möglichkeit und Notwendigkeit
2.4.1.2.1 Verzweiflung der Möglichkeit als Fehlen von Notwendigkeit
2.4.1.2.2 Verzweiflung der Notwendigkeit als Fehlen von Möglichkeit
2.4.2 Verzweiflung nach dem Grad des Bewusstseins
2.4.2.1 Unbewusste Verzweiflung
2.4.2.2 Bewusste Verzweiflung
2.4.2.2.1 Verzweifelt nicht man selbst sein wollen
2.4.2.2.1.1 Verzweiflung über das Irdische
2.4.2.2.1.2 Verzweiflung am Ewigen
2.4.2.2.2 Verzweifelt man selbst sein wollen
2.5 Zwischensynthese
3 Todesanalyse: An einem Grabe
3.1 Zur nicht vollmächtigen Rede
3.2 Rede über die Entscheidung des Todes
3.2.1 Entscheidend
3.2.2 Nicht bestimmbar
3.2.3 Unerklärlich
3.2.4 Kierkegaards Resümee
3.3 Zwischensynthese
4 Das Ästhetische I: Entweder-Oder, 1.Teil
4.1 Vorwort des fiktiven Herausgebers Victor Eremita
4.2 Diapsalmata
4.3 Zwischensynthese
5 Das Ästhetische II: Die Wiederholung
5.1 Briefe eines jungen Mannes
5.2 Brief von Constantin Constantius an den Leser
5.3 Zwischensynthese
6 Das christliche Selbstverständnis: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller
6.1 Die Rechenschaft
6.2 Stellung und Taktik des religiösen Schriftstellers in der Christenheit
6.3 Zwischensynthese
III Vergleich
1 Das misslingende Leben
1.1 Das Fehlen jedes tiefen Grundes zu leben
1.2 Die Erfahrung des Negativen
1.3 Alltäglichkeit als Verzweiflung
1.4 Relative Disharmonie und absolute Absurdität
2 Die aufklärende Funktion des Todes
3 Zur Idee gelingenden Lebens
3.1 Gelingen als Nein zum Misslingen
3.2 Übersetzen des Gesollten durch den Einzelnen
4 Methodischer Negativismus
5 Diskussion der Ergebnisse
5.1 Camus’ Kierkegaard
5.2 Inversionsthesen
Ausblick
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Weitere Literatur
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„… wenn die Nacht das Denken überkommt": Eine Untersuchung zur Idee des gelingenden Lebens bei Kierkegaard und Camus
 9783495998632, 9783495998625

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Alber Thesen Philosophie

ϑ Johannes Abel

»… wenn die Nacht das Denken überkommt« Eine Untersuchung zur Idee des gelingenden Lebens bei Kierkegaard und Camus

https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Alber Thesen Philosophie Band 87

https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Johannes Abel

»… wenn die Nacht das Denken überkommt« Eine Untersuchung zur Idee des gelingenden Lebens bei Kierkegaard und Camus

https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Freiburg, Univ., Diss., 2021 ISBN 978-3-495-99862-5 (Print) ISBN 978-3-495-99863-2 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Danksagung

Ich danke von Herzen Frau Prof. Dr. Lore Hühn und Herrn Prof. Dr. Philipp Schwab für die Betreuung der Arbeit und ihre Lehrver­ anstaltungen in Freiburg, die die Entstehung der Arbeit begleitet haben. Weiter danke ich allen anderen, die meine Arbeit unterstützt haben. Dem Evangelischen Studienwerk Villigst danke ich für das großzügige Promotionsstipendium.

5 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1 Problemstellung

11

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 Zum Forschungsstand

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

3 Zum Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

I Camus: Der Mythos des Sisyphos . . . . . . . . . . .

41

1 Absurdität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Gefühl des Absurden . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das Denken des Absurden . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Absurde in der Philosophie des Nachidealismus und der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . .

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41 41 47

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53

2 Sprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ungerechtfertigter Übergang bei Jaspers und Schestow 2.2 Kierkegaards Sprung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Negation der Enttäuschung und Negation der Erwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 64 67

3 Nichtung der Möglichkeit des Sprungs 3.1 Auflehnung und Zeugnis . . . . 3.2 Todesanalyse . . . . . . . . . . . 3.3 Lebensregel . . . . . . . . . . .

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77 77 85 90

4 Skizzen . . . . . . . 4.1 Don Juan . . . 4.2 Der Schauspieler 4.3 Der Eroberer . .

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96 97 106 112

5 Kunst I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der schöpferische Mensch . . . . . . . . . 5.2 Sprung im literarischen Werk Dostojewskijs 5.3 Das Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . .

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120 121 131 137

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74

7 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Inhaltsverzeichnis

6 Der Mythos des Sisyphos . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

7 Kunst II: Absurdität und Sprung im literarischen Werk Kafkas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

8 Zwischensynthese

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

II Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

1 Absurdität und Sprung: Furcht und Zittern . . . . . . . . 1.1 Abraham glaubte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Problemata: Vorläufige Expektoration . . . . . . . . 1.2.1 Verstehen als Betroffensein . . . . . . . . . . 1.2.2 Annäherung an das Absurde und die Doppelbewegung . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Erläuterung der Doppelbewegung . . . . . . . 1.3 Problema I: Teleologische Suspension des Ethischen 1.3.1 Der Einzelne und das Allgemeine . . . . . . . 1.3.2 Kontrafaktische Agamemnon-Interpretation . 1.3.3 ›Etwas mehr‹ als das Gewöhnliche . . . . . . . 1.4 Problema II: Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott? 1.4.1 Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Vergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Problema III: Ethische Rechtfertigung des Verschweigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Verborgenheit im Ästhetischen und EthischAllgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Das Dämonische . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Faust-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Abschließende Interpretation Abrahams . . . . 1.6 Zwischensynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175 175 181 182

215 219 226 230 237

2 Disharmonie und die Nichtung ihrer Möglichkeit: Die Krankheit zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Standpunkt: Vorwort und Einführung . . . . . . . 2.2 Verzweiflung als Krankheit zum Tode (A) . . . . . 2.2.1 Selbst und Verhältnis – Formen der Krankheit 2.2.2 Möglichkeit und Wirklichkeit . . . . . . . . 2.2.3 Verzweiflung ist die Krankheit zum Tode . . 2.3 Die Allgemeinheit dieser Krankheit (B) . . . . . . 2.3.1 Diagnose und vulgäre Betrachtung . . . . . 2.3.2 Gesundheit als Überwindung von Krankheit

240 241 245 245 252 256 261 262 267

8 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

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187 189 197 197 200 202 205 205 207 214

Inhaltsverzeichnis

2.3.3 Das Primat der Krisis . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Formen dieser Krankheit (C) . . . . . . . . . . 2.4.1 Synthesetheoretische Perspektive . . . . . . . 2.4.1.1 Endlichkeit und Unendlichkeit . . . . 2.4.1.1.1 Verzweiflung der Unendlichkeit als Fehlen von Endlichkeit . . . . . . . . . 2.4.1.1.2 Verzweiflung der Endlichkeit als Fehlen von Unendlichkeit 2.4.1.2 Möglichkeit und Notwendigkeit . . . 2.4.1.2.1 Verzweiflung der Möglichkeit als Fehlen von Notwendigkeit 2.4.1.2.2 Verzweiflung der Notwendigkeit als Fehlen von Möglichkeit . . . . . . . . . 2.4.2 Verzweiflung nach dem Grad des Bewusstseins 2.4.2.1 Unbewusste Verzweiflung . . . . . . 2.4.2.2 Bewusste Verzweiflung . . . . . . . . 2.4.2.2.1 Verzweifelt nicht man selbst sein wollen . . . . . . . . . 2.4.2.2.1.1 Verzweiflung über das Irdische 2.4.2.2.1.2 Verzweiflung am Ewigen . . . . . 2.4.2.2.2 Verzweifelt man selbst sein wollen . . . . . . . . . . . 2.5 Zwischensynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Todesanalyse: An einem Grabe . . . . . . 3.1 Zur nicht vollmächtigen Rede . . . . 3.2 Rede über die Entscheidung des Todes 3.2.1 Entscheidend . . . . . . . . . 3.2.2 Nicht bestimmbar . . . . . . . 3.2.3 Unerklärlich . . . . . . . . . . 3.2.4 Kierkegaards Resümee . . . . 3.3 Zwischensynthese . . . . . . . . . .

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269 275 277 277 278 282 286 286 290 297 298 308 310 311 328 337 347

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349 350 354 355 360 366 369 370

4 Das Ästhetische I: Entweder-Oder, 1.Teil . . . . . . . 4.1 Vorwort des fiktiven Herausgebers Victor Eremita 4.2 Diapsalmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zwischensynthese . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . .

371 371 374 394

9 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Inhaltsverzeichnis

5 Das Ästhetische II: Die Wiederholung . . . . . . . 5.1 Briefe eines jungen Mannes . . . . . . . . . . 5.2 Brief von Constantin Constantius an den Leser 5.3 Zwischensynthese . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Das christliche Selbstverständnis: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Rechenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Stellung und Taktik des religiösen Schriftstellers in der Christenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zwischensynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III Vergleich

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 Das misslingende Leben . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Fehlen jedes tiefen Grundes zu leben . . 1.2 Die Erfahrung des Negativen . . . . . . . . 1.3 Alltäglichkeit als Verzweiflung . . . . . . . . 1.4 Relative Disharmonie und absolute Absurdität

. . . . .

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403 404 414 421 425

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425 425 432 445 463

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483

3 Zur Idee gelingenden Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gelingen als Nein zum Misslingen . . . . . . . . . 3.2 Übersetzen des Gesollten durch den Einzelnen . . .

496 497 511

4 Methodischer Negativismus

. . . . . . . . . . . . . . .

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5 Diskussion der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Camus’ Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Inversionsthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

534 534 540

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

547

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

549

Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

549

Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Die aufklärende Funktion des Todes

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395 395 401 403

10 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Einleitung

1 Problemstellung Ziel dieser Arbeit ist es, zentrale strukturelle Parallelen der Konzep­ tionen gelingenden Lebens bei Søren Kierkegaard und Albert Camus herauszuarbeiten und zu zeigen, dass ihre Differenz in erster Linie paradigmatisch ist. Das Absurde bei Camus tritt dabei, so die These, strukturell an die Stelle des Anderen bei Kierkegaard, so dass das Verhältnis des Einzelnen zum Fehlen des Maßstabs selbst Maßstab gelingenden Lebens wird. Kierkegaard und Camus sind keine Zeitgenossen. Dies ist bereits eine philosophische These gegen Kierkegaards eigenes Verständnis von Gleichzeitigkeit (vgl. PB 123 ff.) und gegen einen prinzipiell ahis­ torischen Begriff von Philosophie. Kierkegaard schreibt in der Zeit des Übergangs vom Deutschen Idealismus oder der klassischen Deut­ schen Philosophie, häufig datiert mit dem Tod Hegels 1831 in Berlin, zur nachidealistischen Philosophie. Im Dänemark seiner Zeit beob­ achtete er Phänomene der sich formierenden modernen Gesellschaft, die Karl Marx etwa zeitgleich in London beobachtete, »[...] ohne dass die beiden voneinander wussten […].«1 Die beiden wirkmächtigen Hegelkritiker diagnostizieren fundamentale Strukturen der Nivellie­ rung und der Verkehrung2, jedoch in völlig unterschiedlichen Theo­ riekontexten: Marx im Horizont eines historischen Materialismus, Kierkegaard im Horizont des Christlichen. Der dänische Philosoph und Schriftsteller schreibt auf dem Weg in die Moderne als einer der wenigen auf der Höhe seiner Zeit.3 In der Philosophie meldet sich mit der Antrittsvorlesung Schellings als Nachfolger Hegels 1841/42 in Berlin4, zu der Kierkegaard aus Kopenhagen anreiste, zum letzten Mal

1 2 3 4

Adorno, KdÄ 315. Vgl. Marx, KPÖ 21. Vgl. dazu Heidegger, Nietzsches Wort 249. Vgl. W. Schulz (1975a) 23.

11 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Einleitung

ein Vertreter des Deutschen Idealismus zu Wort, der »letzte große«5 Versuch, die Philosophie auf dem »Boden des Christentums«6 zu for­ mulieren. Während Kierkegaard mit Schelling davon ausgeht, dass der Anspruch der Hegelschen Philosophie auf Vollendung der Geschichte der Metaphysik scheitert und es keinen Übergang vom Sein des Beginns der Wissenschaft der Logik7 zur Wirklichkeit gibt (vgl. BA 456 Fußnote 1), so bricht Kierkegaard doch nie mit der christ­ lich-theologischen Fundierung sowohl des Denkens Hegels8 als auch des Denkens Schellings. Mit dem Fokus auf die Wirklichkeit als Exis­ tenzvollzug des Einzelnen wird Kierkegaard zum Vordenker für Hauptströmungen der kontinentalen Philosophie des 20. Jahrhun­ derts. Parallel mit dem Ende der Systemphilosophie beanspruchen auch die aufsteigenden empirischen Naturwissenschaften das Feld gänzlich für sich, das bis dato noch von der spekulativen Naturphilo­ sophie bearbeitet wurde. Albert Camus schreibt dagegen etwa 100 Jahre später, im Zentrum des 20. Jahrhunderts. Sein philosophisches Hauptwerk Der Mythos des Sisyphos (1942) erscheint während der deutschen Besatzung Frankreichs, als die Schrecken des Zweiten Weltkriegs allgegenwärtig sind, 15 Jahre nach Heideggers Sein und Zeit und ein Jahr vor Sartres Das Sein und das Nichts. In den 1930er Jahren deutet Heidegger Nietzsches Diagnose des Nihilismus und des Zusammen­ bruchs der Metaphysik9 und des Christentums als die »bis zur Stunde unbegriffene«10, gegenüber der bisherigen philosophischen Tradition aber höhere Reflexionsstufe.11 Die modernen empirischen Naturwis­ senschaften erheben faktisch den Anspruch, erste Philosophie zu sein, während gleichzeitig ihr eigenes Vorhaben einer Fundierung in der

W. Schulz (1975a) 21. Theunissen (1996) 23. 7 Vgl. Hegel, WL 82. 8 Vgl. Hühn (2009) 213. 9 Vgl. W. Schulz (1975b) 323. 10 Heidegger, Beiträge 138. 11 Galle unterstützt diese Interpretation der Existenzphilosophie als die vom Tod Gottes ausgehende »Aufgipfelung« (Galle (2009) 7) der Moderne, welche heute marginalisiert und zurückgewiesen werde. Janke schreibt: »Keine der gegenwärtigen Philosophien hat es mit dem weltgeschichtlichen Ereignis des Nihilismus ernsthafter aufgenommen als die Existenzphilosophie« (Janke (1982) 6). Theunissen nennt die Existenzphilosophie die »theoretisch faßbarste Gestalt der Moderne« (Theunissen (1993) 42). 5

6

12 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

1 Problemstellung

Empirie scheitert12 und ihre Gewissheiten bis tief in die Axiome der Mathematik und Logik hinein erschüttert werden13, ohne dass sie selbst oder die ihnen nahestehende Wissenschaftstheorie das Ausmaß dieser Einsichten philosophisch reflektieren können.14 Der eigene Bruch mit vordergründigen Erkenntniszielen kann nur deshalb weitestgehend unbemerkt bleiben oder erfolgreich ignoriert werden, weil in Wahrheit das ganze Unterfangen immer schon nicht auf Wissen, sondern auf Erklärungszusammenhänge zur Beherrschung und Nutzung des Gegenständlichen ausgerichtet war.15 Dem moder­ nen Begriff des autopoietischen Systems16 fehlt ein Anker, ein fester Punkt, Horizont oder Grund. Im ursprünglich philosophischen Sinn weiß der moderne Mensch nichts mehr, und faktisch weiß er noch nicht einmal das. Er hat sich selbst von der Sonne losgekettet17, seit Platon die Metapher für die Idee der Ideen18, und bewegt sich nun im wahrsten Sinne des Wortes ›heillos‹ überfordert in einem Raum, der nicht mehr als Kosmos oder Schöpfung begriffen wird.19 Der Preis der Moderne ist metaphysisch zu zahlen.20 Es gibt keine Antwort mehr auf die Frage nach dem ›Warum‹. Vor diesem Hintergrund formuliert Camus die Frage nach dem Sinn des Lebens radikal als Frage nach der Folgerichtigkeit des Selbstmords des Menschen, der sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, jedoch ohne Antwort, in der Welt vorfindet. Bei all ihrer Unterschiedlichkeit verbindet Kierkegaard und Camus hier eine gemeinsame Frage, die Frage nach der Idee eines gelingenden Lebens angesichts der, mit Schelling gesprochen, »tiefen unzerstörlichen Melancholie alles Lebens.«21 Sie bildet den Ansatz­ punkt für den Vergleich beider Denker. Dabei ist der Begriff des gelingenden Lebens an dieser Stelle heute potenziell irreführend. Gemeint ist nicht das möglicherweise aus der Innenperspektive posi­ tiv erlebte Leben gemäß einem relativen Maßstab, sondern das Leben 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Carnap (1932) 215 ff., Schlick (1934) 79 ff. Vgl. Gödel (1931) 173 ff. Vgl. Kuhn (1997) 188 ff. Vgl. Heidegger, Beiträge 148 f. Vgl. Luhmann (1987) 30 ff. Vgl. Nietzsche, FW 481 f. Vgl. Heidegger, Platons Lehre 215. Vgl. Löwith (1979) 550. Vgl. Hüsch (2014a) 18. Schelling, Freiheitsschrift 71, vgl. dazu Hühn (2004) 151.

13 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

Einleitung

gemäß einem normativen Anspruch. Der Begriff des gelingenden Lebens wird als Gegenbegriff zu jeder handlungstheoretischen opti­ mistischen nicht-metaphysischen Sollensethik verwendet, die, im Anschluss an Kierkegaards Kritik der ersten Ethik (vgl. BA 466), an der Wirklichkeit scheitert.22 Die Frage Kierkegaards und Camus’ setzt bei der fundamentalen Negativität des Lebens an23 und fragt in einer Zeit, in der es fraglich geworden ist, ob es diese Idee überhaupt gibt und ob der Mensch sie für erstrebenswert hält.24 Auf den ersten Blick scheint auch ein klarer Ausgangspunkt für den Vergleich gegeben: In seiner Rezeption des Dänen verortet Camus bei Kierkegaard die Entdeckung des Absurden und den Beginn des absurden Denkens. In beiden Konzeptionen ist der Begriff des Absurden zentral und beide skizzieren ein unter den Bedingungen der Moderne gelingendes Leben als Affirmation des Absurden. Auch der Gegensatz der Konzeptionen scheint offensichtlich. Camus knüpft an Kierkegaards Entdeckung des Absurden an, grenzt jedoch seine eigene Konzeption gelingenden Lebens von diesem scharf ab. Kierke­ gaard mache den Sprung, könne den Übergang vom Absurden zum christlichen Glauben nicht rechtfertigen. Bei genauerem Hinsehen wird sich jedoch zeigen, dass das Verhältnis beider Denker viel komplexer ist. Der Begriff des Absurden scheint der gemeinsame Punkt zu sein, meint jedoch in beiden Konzeptionen offenbar etwas vollkommen Verschiedenes. Absurd ist in Camus’ philosophischem Hauptwerk das Verhältnis zwischen menschlichem Geist und der Welt, in Kierkegaards Furcht und Zittern aber das Verhältnis zwischen Geist und Glaube. Ersterer fragt nach der Möglichkeit des Gelingens in einem Universum ohne Gott, Letzterer fragt nach der Möglichkeit des Glaubens. Es stellt sich also die Frage, ob beide Autoren nicht von vollkommen unterschiedlichen Problemverständnissen ausgehen, und damit, inwiefern beide Konzeptionen des gelingenden Lebens überhaupt vergleichbar sind.25 Camus’ explizite Auseinandersetzung mit Kierkegaard und der gemeinsamen Frage nach dem gelingenden Vgl. Theunissen (1991d) 29. Darin unterscheidet sich ihre Frage nach dem gelingenden Leben von der Platons (vgl. Rasmussen (2017) 210, vgl. dazu auch A. Pieper (2000) 50). 24 Vgl. Theunissen (1993) 42 ff., 65 ff. 25 Dazu Richter (1959) 116: »So verschieden die einzelnen Richtungen der Existenz­ philosophie in ihren Konsequenzen sind, so scheinen sie sich doch im Terminus des Absurden zu treffen und hierin ihren Vergleichspunkt zu haben. Und doch sind sie bei näherer Betrachtung gerade hier voneinander geschieden.« 22

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1 Problemstellung

Leben des Einzelnen ist, mit Ausnahme einiger kurzer Einträge in seinen Tagebüchern, auf sein philosophisches Hauptwerk Der Mythos des Sisyphos beschränkt.26 Es soll gezeigt werden, dass Kierkegaard und Camus beide das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben sozusagen hinter der Diagnose einer Krankheit des Geistes aufdecken. Bei Kierkegaard finden sich werksübergreifend Motive der Bodenlosigkeit und des Fehlens festen Bodens. Dieser Grund wird unter den Bedingungen der Moderne weder durch die theoretische Philosophie noch durch die Wissen­ schaften bereitet. Konsequenz ist bei Kierkegaard und Camus die Erfahrung des Negativen, hier teilen beide Autoren ein gemeinsames Begriffs- und Metaphernfeld, oder aber das Leben in der trügerischen Sicherheit des Alltags als gefährlichster Form der Krankheit. Den Übergang von diesen Formen misslingenden Lebens zu dem, was man als Leben im Verhältnis zu einem normativen Anspruch ein gelingen­ des Leben nennen kann, bietet bei beiden Autoren die Gegenwart des Todes im Leben. Das Denken der Möglichkeit des eigenen Todes erschüttert das Dasein, entlarvt alle Scheinsicherheiten als Illusionen, entwirrt als universale Struktur die Verwirrungen der Perspektivität und führt den Einzelnen zu sich selbst. Vom Tod lernt der Mensch zu leben. Gelingendes Leben meint bei beiden Autoren strukturell Nicht-Fliehen, ohne dass es begrifflich positiv greifbar wird. Durch ein Nein in jedem Augenblick zur Möglichkeit der Verzweiflung bei Kierkegaard und zur Möglichkeit des Sprungs bei Camus, hält sich der Einzelne in einem Verhältnis zum Anderen bzw. zum Absurden. Die These, dass an dieser Stelle das Absurde bei Camus struktu­ rell die Stelle des Anderen bei Kierkegaard einnimmt, wird durch die jeweilige Argumentation gegen den Selbstmord gestützt. Die Konzeptionen gelingenden Lebens sind strukturell parallel. Ebenso ist in beiden Konzeptionen das konkret normativ Gesollte nicht allgemein explizierbar. Die Gründe liegen zum einen in dem Begriff 26 Vgl. Stan (2011) 75. Der Mythos des Sisyphos ist das einzige publizierte philosophi­ sche Buch Camus’ (vgl. Janke (1982) 79). Thema ist, so Sagi, das Individuum, das die conditio humana verstehen und seine konkrete Existenz verwirklichen will. In der Sammlung philosophischer Beiträge mit dem Titel Der Mensch in der Revolte gehe es dagegen um Selbstverwirklichung in der Auflehnung gegen Ungerechtigkeit und Leid durch Solidarität mit Anderen. Die Werke hätten andere Themen, das erste vertrete eine negative, das zweite eine positive Position (vgl. Sagi (2002) 107). Im Mensch in der Revolte geht es um die öffentliche Sphäre, im Mythos des Sisyphos in erster Linie um das Private (vgl. Weyemberg (2000) 171).

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Einleitung

von Wirklichkeit als Existenzvollzug des Einzelnen, zum anderen in der Verkehrung der Sprache durch den umgreifenden Kontext des Verkehrten und Verstellten. Die Konsequenz ist, dass jeder Einzelne seine Aufgabe selbst finden, das normativ Gesollte für sich selbst übersetzen muss. Sowohl bei Kierkegaard als auch bei Camus ist dies mehr ein Entdecken als ein Wählen, der Einzelne schafft sich nicht selbst. Methodisch ist sowohl bei Kierkegaard als auch bei Camus die Studie gelingenden Lebens in erster Linie Beschreibung und Reflexion ihres Scheiterns und kann in diesem Sinne negativistisch genannt werden. In der Sache unterscheiden sich die Positionen im Detail, so dass es nicht gelingt, die Position Camus’ mit einer Figur bei Kier­ kegaard oder im Werk Kierkegaards auszumachen. Der Ästhetiker A in Entweder-Oder hat zum Beispiel eine Auffassung von Musik, die der Position des Mythos des Sisyphos diametral entgegensteht. Den dämonisch Verzweifelten aus der Krankheit zum Tode zeichnet eine Rastlosigkeit aus, welche Kierkegaard treffend mit dem Mythos des Tantalos beschreibt und gegen die Camus’ Interpretation des Mythos des Sisyphos mit dem Gewicht der Interpretation auf der Pause und dem Weg bergab geradezu ein Gegenmythos darstellt. Die entscheidende Differenz der Positionen ist jedoch eine paradig­ matische: Diagnose und Therapie der Krankheit des Geistes sind bei Kierkegaard mit einem Vorzeichen vor der Klammer versehen, und diese, sein Gesamtwerk umgreifende Klammer, ist das Christli­ che.27 Kierkegaard diagnostiziert eine relative Disharmonie innerhalb eines immer noch zentrierten Weltbildes, geht von Prämissen aus, die am Ende doch christlich ist. Die Erfahrung des Negativen ist Missverhältnis des Selbstverhältnisses in einem Verhältnis zu einem Anderen, in welchem dies immer schon gedacht ist. Demgegenüber steht bei Camus, zumindest dem Anspruch nach, die Diagnose abso­ luter Absurdität. Camus entwirft eine skeptische Metaphysik mit der rein negativen ersten Wahrheit des Absurden als das Verhältnis von Mensch und Welt. In diesem paradigmatischen Sinne teilen Kierkegaard und Camus weder Ausgangspunkt noch Konsequenz. Dem Menschenbild des Gesetzt-Seins steht das Menschenbild des absurden Menschen gegenüber.

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Vgl. Hühn (2009) 225.

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2 Zum Forschungsstand

2 Zum Forschungsstand Das folgende Kapitel skizziert den Stand der Forschung, zunächst den der vergleichenden Forschung, darauf den Forschungsstand zum gelingenden Leben in den jeweiligen Einzelforschungen zu Kierke­ gaard und Camus. Es gibt bisher keine Monographie, die das Verhältnis beider Denker gründlich untersucht, und auch keinen Sammelband, der den Forschungsstand der vergleichenden Forschung abbildet. Es gibt eine Reihe von Einzelbeträgen, die aber in der Regel unvermittelt sind und nicht die konkrete Fragerichtung dieser Arbeit verfolgen. Die Beiträge bilden praktisch das ganze Spektrum möglicher Deutungen des Ver­ hältnisses beider Positionen ab. Es ist Konsens, dass die sogenannte Inversionsthese die Hauptströmung der Forschung abbildet. Diese interpretiert das Werk Kierkegaards als Stadien und vertritt die These, dass Camus diese Konzeption umkehre. Camus’ Mythos des Sisy­ phos ist sozusagen Kierkegaard ›upside-down‹. Tendenziell vertreten ältere Beiträge die These der Idee gelingendes Lebens bei Camus als Inversion des Ästhetischen Stadiums28 bei Kierkegaard, neuere Beiträge zunehmend als Inversion des Dämonischen29, wobei aber das Verhältnis von Ästhetischem und Dämonischem selbst in diesen Beiträgen problematisiert und teilweise aufgehoben wird. Randposi­ tionen verorten die Position Camus’ an anderen Orten innerhalb des Werks Kierkegaards, etwa in der Nähe des Ethischen Stadiums30 oder des pseudonymen Autors Johannes de Silentio.31 Es liegen Beiträge aus der Forschung vor, die Camus’ These eines gemeinsamen Ausgangspunkts mit Kierkegaard teilen32 oder diesen zumindest in einzelnen Begriffen oder Figuren bei Kierkegaard verorten, etwa dem jungen Mann aus der Wiederholung33 oder Begriffen wie Angst34 oder Verzweiflung und Krankheit.35 Randpositionen teilen Camus’ These eines Sprungs als Fehlschluss bei Kierkegaard,36 die Mehrzahl 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Richter (1959), U. Thurnher (2004), Golomb (1995). Vgl. Berthold (2013b), Hackel (2011), Stan (2011), Janke (1982). Vgl. A. Pieper (2000). Vgl. Berthold (2013a). Vgl. A. Pieper (2011), A. Pieper (2014), Bowker (2011). Vgl. Sagi (2002). Vgl. Whistler (2018). Vgl. Reichenbach (1976), Wendel (2011). Vgl. Hüsch (2014b).

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Einleitung

der Forschungspositionen sieht Camus’ Deutung des Glaubens bei Kierkegaard hingegen kritisch.37 Zahlreiche Beiträge gehen davon aus, dass die Position Kierkegaards der Sache nach Camus voraus oder überlegen sei, und es letzterem an Einsicht mangele, dies nachzuvoll­ ziehen, sei es hinsichtlich der dialektischen Figuren38, des Begriffes des wahrhaft Absurden39 oder des Gottesbegriffs der Philosophischen Brosamen.40 Die Gegenposition, Camus sei Kierkegaard voraus, hat in der vergleichenden Forschung merklich weniger Fürsprecher.41 Die Differenz der Konzeptionen wird auch als verschiedene Interpretation eines Gefühls42 oder als Wiederaufnahme eines Grundanliegens in verwandelter Gestalt43 gedeutet. Das Verhältnis der Begriffe des Absurden im Werk beider Denker wird ausgelegt als Kritik44, als voll­ kommen verschieden45, säkulare Übersetzung46, Uminterpretation47 oder Erweiterung.48 Kierkegaards existentieller Individualismus wird als auf Camus problemlos übertragbar49 oder aber als von diesem fundamental verschieden gesehen.50 Aus dieser äußerst diffusen Forschungslandschaft hervorzuhe­ ben sind, neben der Fokussierung der Suche nach Parallelen auf der Ebene der Begriffe und Figuren, Hinweise auf die Differenz der Konzeption bezüglich ihrer (theologischen) Voraussetzungen51 und auf die bereits zu Beginn angemerkte zeitliche Differenz von 100 Jahren.52 Vereinzelte Beiträge deuten strukturelle Parallelen hinsichtlich des Christlichen und der »letzten Gottlosigkeit«53, der

Vgl. Stewart (2009), Sagi (2002). Vgl. Theunissen / Greve (1979). 39 Vgl. Janke (1982). 40 Vgl. A. Pieper (1984). 41 Vgl. Richter (1959). 42 Vgl. Viertbauer (2017). 43 Vgl. H. Schulz (2011). 44 Vgl. H. Schulz (2011). 45 Vgl. Richter (1959). 46 Vgl. Poole (1998). 47 Vgl. Janke (1982). 48 Vgl. Stewart (2009). 49 Vgl. Kann / Victor (2017). 50 Vgl. Reichenbach (1976), Söderquist (2015). 51 Vgl. Kodalle (1996), Reichenbach (1976), Söderquist (2015). 52 Vgl. Richter (1959). 53 Richter (1959). Für Janke ist diese Differenz nur aus der Sicht Camus’ von Bedeutung (vgl. Janke 1982). 37

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Figur Doppelbewegung54 und der Todesanalyse55 an, ohne jedoch die Theoriestrukturen gelingenden Lebens als Ganzes in den Blick zu nehmen. Dazu werden Aspekte der jeweiligen Interpretation der Primärtexte dieser drei Ansätze problematisiert werden. Ein gründlicher Vergleich der Konzeptionen gelingenden Lebens beider Denker steht also noch aus und wurde bereits vor langer Zeit von der vergleichenden Forschung als Forschungsdesiderat benannt.56 Die Arbeit betritt damit in vielerlei Hinsicht akademisches Neuland. Auch wenn sich die Analyse, wie noch erläutert werden wird, auf zentrale Aspekte fokussieren muss, so bieten ihre Thesen und die erst­ malige Vermittlung zahlreicher Beiträge einen klaren Ausgangspunkt für zukünftige Forschung. Zum Forschungsstand der jeweiligen Einzelforschungen ist zu berücksichtigen, dass die Werke beider Denker millionenfach57 aufge­ legt, in alle größeren Sprachen übersetzt und interdisziplinär rezipiert wurden, so dass selbst der Stand der jeweiligen philosophischen Forschung zur Frage nach dem gelingenden Leben im Rahmen einer vergleichenden Arbeit nur exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizziert werden kann. In der gegenwärtigen Univer­ sitätsphilosophie finden sie jedoch nur am Rande Beachtung. »Insgesamt ist das Spektrum der Kierkegaard-Forschung außer­ ordentlich breit [...].«58 Die Rezeption des Denkens Kierkegaards ist derart breit gefächert, dass es mittlerweile Metaarbeiten zur Rezep­ tionsgeschichte gibt, und selbst diese müssen sich auf ausgewählte Sprachräume beschränken.59 Versucht man die Forschungsbeiträge zur Idee des gelingenden Lebens bei Kierkegaard zu klassifizieren, so kann man sagen, dass sie sich in ihrem Verständnis sowohl des Ziels als auch der Methode des Dänen unterscheiden. Die Hauptströmung der Forschung identifiziert das Ziel Kierke­ gaards als eine theologisch-christliche Selbsterkenntnis des Einzelnen und folgt damit in den Grundzügen der Selbstdeutung des späten Kierkegaard oder zumindest einer immer noch christlich-religiösen Vgl. Pieper (1974). Vgl. Kann / Victor (2017). 56 Vgl. Reichenbach (1976). 57 Adorno wendet genau diesen Erfolg theoretisch gegen Kierkegaard und fragt, wie es so weit kommen konnte (vgl. Adorno, KdÄ 296 f.). 58 A. Pieper (2000 147). 59 Vgl. H. Schulz (2011), H. Schulz (2014), Stewart (2009), Poole (1998), Theunis­ sen / Greve (1979). 54 55

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Einleitung

Auslegung dieser.60 Neuere Beiträge wenden sich teilweise explizit gegen die christliche Deutung und schlagen offenere Interpretationen vor, welche wiederum ein breites Spektrum abbilden, indem sie den Anschluss an die (antike) philosophische Tradition suchen61, für Kierkegaard als Vordenker der Konzeption Derridas62 oder gar als Vordenker einer transzendentalpragmatischen Diskursethik63 argu­ mentieren. Hinsichtlich der Methode unterscheiden sich Beiträge in ihrer Interpretation sowohl der indirekten Mitteilung und damit verbunden der Funktion der Pseudonymität als auch der Dialektik, sofern man letztere als Methode begreift. Säkulare Interpretationen setzen insbe­ sondere bei der indirekten Mitteilung als der Methode Kierkegaards an, zeigen ihre Komplexität gegenüber klassischen Deutungen auf und argumentieren mit ihr für die jeweilige Deutung der Gesamt­ konzeption.64 Dagegen betont die traditionelle, christlich geprägte Hauptströmung der Forschung die Nähe der indirekten Mitteilung zu theologischen, trinitätsspekulativen Figuren, analog zum nur indirekt mitteilbaren Gehalt dieser Mitteilung.65 Abgeschwächt ist ihre Deutung als Kohärenzargument für das Theistische.66 An die Arbeit von Michael Theunissen anknüpfend interpretiert eine Strö­ mung der Forschung das Werk Kierkegaards als thematisch und methodisch negativistisch.67 In diesem Kontext wird die Doppelbe­ wegung als werksübergreifende zentrale Figur ausgemacht68 und auch in der Todesanalyse identifiziert. Zur Bedeutung des Todes

Vgl. Pattison (1997), Söderquist (2015), Löwith (1979), Stan (2011), Hackel (2011), Sagi (2000), A. Pieper (2000), Deuser (1980), Theunissen (1996), Theunis­ sen (1979), Berthold (2013b), Theunissen / Greve (1979), H. Schulz (2014), Adorno, KdÄ, Greve (1990), Theunissen (1982), Hannay (1994), Hühn (2009), Grøn (1994). 61 Vgl. Wesche (2003), vgl. dazu auch Figal (1984). 62 Vgl. Schwab (2012). 63 Vgl. Rapic (2007). 64 Vgl. Schwab (2008), Schwab (2012), Rapic (2007), Wesche (2003). 65 Vgl. Löwith (1979), Hackel (2011), R. Thurnher (2003), Deuser (1985), Theunis­ sen (1996), Theunissen / Greve (1979), H. Schulz (2014), Greve (1990), Theunissen (1982), Hühn (2009). 66 Vgl. Viertbauer (2014). 67 Vgl. Theunissen (1996), Theunissen (1991d), Theunissen (1991a), Theunissen (1993). Grundzüge dieser Deutung teilen Janke (1982), Bonsiepen (2007), A. Pieper (2000), Birkenstock (1997), Wesche (2003), Wesche (2015), Hühn (2009). Zu Negativismus und Nihilismus bei Kierkegaard vgl. Rasmussen (2017). 68 Vgl. Theunissen (1991d), Janke (1982). 60

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für das gelingende Leben bei Kierkegaard liegen zahlreiche Beiträge vor.69 Verknüpft mit dem Begriff der Doppelbewegung ist die Inter­ pretation der Dialektik bei Kierkegaard. Hier zeigt sich eine diffuse Forschungslandschaft. Das Werk oder Teile des Werks werden als dialektisch aufgefasst70, die Hegelsche Dialektik werde durch Kierke­ gaard temporal weiterentwickelt71 oder aber grundsätzlich verfehlt.72 Der Dissens scheint unter anderem darauf zurückführbar, dass in der Deutung des Begriffs der Dialektik kein Konsens besteht. Rand­ positionen bestreiten grundsätzlich, dass Kierkegaard so etwas wie eine philosophische Methode habe.73 Neueste Forschungsbeiträge fokussieren sich vermehrt auf Teilaspekte in Furcht und Zittern74, auf das Spannungsfeld von religiöser und säkularer Interpretation75, sowie den Verzweiflungsbegriff der Krankheit zum Tode.76 Hervorzuheben sind vielleicht drei Metaphern aus der Forschung für Kierkegaards Idee gelingenden Lebens: Der »U-turn«77, also das Herumreißen des Steuers, für die Figur der Conversio, die Poker­ hand78 für die Rückbindung des Möglichkeitsbegriffs einer prinzipiell offenen Zukunft an Notwendigkeiten des eigenen konkreten Lebens, und die Aufgabe, selbst Kompass zu werden und sich selbst am christlichen Kraftzentrum auszurichten79 gegenüber dem kantischen »Kompass in der Hand«80, den in die Hand gedrückt zu bekommen genau nicht genüge. Während das Werk Kierkegaards primär in der Skandinavistik und der Theologie rezipiert wird, ist die breite Rezeption Camus’ in erster Linie Teil der französischen Philologie, der Literatur-, Theater- und Kulturwissenschaften. Auch in der philosophischen Vgl. Pattison (2015), Reutlinger (2014), Mooney (2011), Marino (2011), W. Schulz (1975b), Rasmussen (2017), Birkenstock (1997), Theunissen (1991b), Connell (2011), Mjaaland (2011). 70 Vgl. Rasmussen (2017), Wesche (2003), Hoffmann (2011). 71 Vgl. Theunissen (1991d). 72 Vgl. Adorno, KdÄ. 73 Vgl. Sagi (2000). 74 Vgl. Conway (2014), Ackermann (2018), Fox-Muraton (2018), Jech (2019), Kemp (2013), Park (2019). 75 Vgl. Tarassenko (2015), Kemp (2013). 76 Vgl. Stewart (2019), Danko (2016), Lundsgaard-Leth (2018). 77 Hannay (1994) 9. 78 Vgl. Pattison (1997). 79 Vgl. Pieper (2000). 80 Kant, GMS 31. 69

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Einleitung

Camus-Forschung sind die Beiträge zur Idee gelingenden Lebens kaum überschaubar und können hier nur exemplarisch zitiert werden, während die Position in der gegenwärtigen akademischen Philosophie wiederum kaum Beachtung findet. Der hier verfolgte Ansatz interpre­ tiert das philosophische Hauptwerk Camus’. Ob und inwiefern das philosophische Werk getrennt vom Literarischen interpretierbar ist wird in der Forschung kritisch diskutiert. Analog zu Kierkegaard wird auch bei Camus die Theorie einer Stadienlehre vertreten, die Camus jedoch nicht abschloss.81 Die philosophische Forschung versucht, das Absurde bei Camus begrifflich zu fassen. Es wird gedeutet als das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit82, von menschlicher Rationalität und irrationaler Realität83, von Natur und Kultur84, von Existenz und Geist85, Mensch und Welt86, als Aussage über die Welt87, oder als Feststellung einer Kluft ohne Trennung88 zwischen unseren Erwartungen von der Welt und der Welt.89 Die Hauptströmung der Forschung deutet dabei Camus’ Diagnose des Absurden als im philosophisch-argumentati­ ven Sinne kohärent,90 wobei offen ist, was genau dies bedeutet. Gegenpositionen sehen hier bei Camus einen Induktionsschluss91, ein Dogma92, einen Zirkelschluss93, keine Logik oder Dialektik94, ausschließlich die Benennung eines Gefühls95 oder ein absurdes Verhältnis von Autor und Leser und in diesem Sinne eine postmo­ derne Konzeption.96

Zur These der Zusammengehörigkeit je eines philosophischen, literarischen und dramatischen Werks zu einem Stadium vgl. Reif (1999). 82 Vgl. Janke (1982). 83 Vgl. Heffernan (2013). 84 Vgl. dazu Bowker (2011). 85 Vgl. Cruickshank (1960). 86 Vgl. Olivier (2007). 87 Vgl. Stewart (2009). 88 Vgl. Comte-Sponville (1998). 89 Vgl. Foley (2008). 90 Vgl. A. Pieper (2011), Janke (1982), Hengelbrock (1984), Sagi (2002), Galle (2009), Thurnherr (2004). 91 Vgl. Müller-Lauter (1975). 92 Vgl. Golomb (1995). 93 Vgl. Cruickshank (1960). 94 Vgl. Bondy (1975). 95 Vgl. Kann (2013), Bianchi (2018). 96 Vgl. Berthold (2013b). 81

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2 Zum Forschungsstand

Camus’ Konzeption gelingenden Lebens als Folgerung oder Kon­ sequenz aus der Entdeckung des Absurden, in der Forschung häufig mit dem Begriff der Auflehnung konnotiert, wird auf der einen Seite ebenfalls als im weiteren Sinne kohärent97, auf der anderen Seite jedoch noch einmal selbst als logisch absurd oder als Sprung98 gedeu­ tet. Weitere Interpretationen sehen den Stellenwert der Konzeption gelingenden Lebens als Plädoyer99, als affektiv und emotional100 und nicht mehr weiter begründbar.101 Beiträge, die tendenziell die argumentative Leistung der Konzeption eher gering einschätzen, debattieren um einen Wert, den diese voraussetze. Zur Debatte stehen hier der Wert des Lebens102, der Wert der Natur103, der menschlichen Natur104 oder der Liebe.105 Die Konzeption wird philosophisch106, atheistisch und häufig humanistisch107, aber auch als amoralisch,108 im weiteren Sinne als religiös109 oder künstlerisch110 gedeutet. Zur Bedeutung und Analyse des Todes bei Camus liegen verschiedene Beiträge vor.111 Kritisiert wird Camus, der die conditio humana zu the­ matisieren beansprucht, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus postkolonialer Sicht.112 Neueste Veröffentlichungen fragen weiter nach Kohärenz des Absurden und seiner Überwindbarkeit113, nach dem Verhältnis von gelingendem und sinnvollem Leben.114 Neben einer breiten akademi­ schen Forschungsfront, die Camus nicht als Philosophen betrachtet 97 Vgl. Hengelbrock (1984), Galle (2009), Sagi (2002), Thurnherr (2004), Sharpe (2015). 98 Vgl. A. Pieper (2011), A. Pieper (1974), Hackel (2011), Schaub (1968), Berthold (2013b), Hüsch (2014b), Pascal (1998), Cruickshank (1960), Hochberg (1965). 99 Vgl. H.-J. Pieper (1984). 100 Vgl. A. Pieper (2011). 101 Vgl. Rath (1984). 102 Vgl. Whistler (2018), H.-J. Pieper (2013), A. Pieper (1984), Bianchi (2018). 103 Vgl. Kann (2013). 104 Vgl. A. Pieper (1984). 105 Vgl. Reif (1999). 106 Vgl. Sasso (1998). 107 Vgl. Whistler (2018), Corbic (2003), Yilmaz (2017). 108 Vgl. Reichenbach (1976). 109 Vgl. Srigley (2012). 110 Vgl. Richter (1959). 111 Vgl. Whistler (2018), Schaub (1968), Golomb (1995), Champigny (1979). 112 Vgl. Said (1993). 113 Vgl. Baltzer-Jaray (2013), Veit (2018), Pölzer (2014). 114 Vgl. Blankschaen (2013), Hoinsky (2018), Purdue (2014), Sharman (2018).

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Einleitung

und folglich ignoriert, gibt es auch Beiträge, die dem Denken Camus’ zwar große Aktualität bescheinigen, dieses jedoch im Sinne einer Art Lebensphilosophie deuten und nicht im eigentlichen Sinne philoso­ phisch ernst nehmen.115 Hervorzuheben sind Forschungsbeiträge, die die Arbeit Camus’ philosophisch als auf der Höhe seiner Zeit ernst nehmen und das Absurde als »tiefere Schicht«116, als letztlich »fun­ damental«117 interpretieren. Sie machen damit eine »Pointe«118 der Suche Camus’ nach einer fundierenden metaphysischen Wahrheit aus, die diese Arbeit teilt, und die sie anhand einer ausführlichen Textanalyse am Text belegen möchte.

3 Zum Vorgehen An die Problemstellung und den Forschungsstand anschließend erläutert das nun folgende Kapitel das Vorgehen der Arbeit in vier Schritten: Der erste Schritt umfasst die Begründung der Textauswahl, der zweite die der weiteren thematischen Eingrenzungen der Arbeit. Der dritte Schritt betrifft methodische Überlegungen zum Vorgehen, der vierte Schritt gibt schließlich einen einleitenden Überblick über die Gliederung, den Gedankengang und die zentralen Thesen der Kapitel. Absurdität und Sprung sind also die zentralen Begriffe des Vergleichs. Camus schreibt Kierkegaard die Entdeckung des Absurden zu und wirft ihm den Sprung vor. Wie bereits erläutert beschränkt die Arbeit die Textgrundlage auf der Seite Camus’ auf dessen philoso­ phisches Hauptwerk Der Mythos des Sisyphos. Mit der Hinwendung zu einem neuen Problemfeld in der Nachbetrachtung der Gräueltaten des zweiten Weltkriegs ist Camus’ explizite Auseinandersetzung mit Kierkegaard und dessen Fragestellung beendet. Es ist nicht klar, welche Texte Kierkegaards Camus wirklich kannte.119 Explizite Bezüge zeigen, dass Camus zumindest »einige Kenntnisse«120 der Schriften Furcht und Zittern, der Krankheit zum Tode, der Philosophischen Brosamen und der Rede »Die Reinheit des 115 116 117 118 119 120

Vgl. Guérin (2013), vgl. dazu Hüsch (2014b). Esslin (2001) 401. Hengelbrock (1984) 50. Thurnherr (2004) 267. Vgl. Söderquist (2015) 83, Thurnherr (2004) 263. Stan (2011) 74.

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3 Zum Vorgehen

Herzens« hatte. Dazu zitiert er in einem kurzen Tagebucheintrag aus Entweder-Oder und spielt womöglich auch auf die Erbaulichen Reden in verschiedenem Geiste an.121 Die Forschung kritisiert von Beginn an Camus’ Umgang mit den Werken anderer Denker.122 Zitate sind häu­ fig aus ihrem Kontext herausgenommen, häufig auch aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Das der Arbeit titel-gebende Zitat »›Das Gebet‹, sagt Alain, ›stellt sich ein, wenn die Nacht das Denken über­ kommt‹« (MS 85) heißt im Original »Beten hieße fühlen, dass der Schlaf herbeikommt, und die Nacht auf allen Gedanken.«123 Es teilt auf der einen Seite mit Kierkegaard das Motiv der Nacht (vgl. EO 44 ff.), ist aber auf der anderen Seite auch exemplarisch für Camus’ Rezeption philosophischer Texte. Vor diesem Hintergrund fokussiert sich die Textanalyse dieser Arbeit aus dem umfangreichen Gesamtwerk Kierkegaards zunächst auf die beiden für die Kierkegaard-Interpretation Camus’ zentralen Schriften Furcht und Zittern und Die Krankheit zum Tode. Gestützt wird diese Textauswahl von Seiten der Kierkegaard-Forschung ein­ mal durch den Verweis auf die zentrale Bedeutung des ersten Teils der Krankheit zum Tode für das Gesamtwerk Kierkegaards124, zum anderen durch die Engführung der Konzeptionen gelingenden Lebens in diesen beiden Werken.125 Unter Berücksichtigung der Hauptströ­ mung der vergleichenden Forschung wird die Textgrundlage um Aus­ züge aus Entweder-Oder oder der Wiederholung zum Ästhetischen bei Kierkegaard ergänzt, wobei die Arbeit hier der Auffassung folgt, dass die ›Diapsalmata‹ aus Entweder-Oder diesbezüglich der zentrale Text ist.126 Dazu wird auch Kierkegaards Rede An einem Grabe, 121 Vgl. Stan (2011) 73 ff. Stan arbeitet auch heraus, welche Werke Kierkegaards Camus gelesen haben könnte, da sie in französischer Übersetzung vorlagen. 122 Vgl. A. Pieper (1984) 200. 123 Vgl. MS Endnote 66 des Herausgebers. 124 Theunissen vertritt die Thesen, dass das in der Krankheit zum Tode Gesagte für alle übrigen Schriften Kierkegaards verbindlich gilt (vgl. Theunissen (1991a) 21, vgl. dazu auch Theunissen (1991d) 353), und dass der erste Teil des Werks der philosophisch relevante ist (vgl. Theunissen (1993) 16 Fußnote 6). Auch Wesche nennt diese Schrift das Hauptwerk Kierkegaards (vgl. Wesche (2003) 30). 125 Zur Engführung beider Werke hinsichtlich Kierkegaards Konzeption gelingenden Lebens vgl. Theunissen / Greve (1979) 48, vgl. aus der neueren Forschung auch Park (2019) 21. Furcht und Zittern zeigt eine Lösung auf, die das abstraktere Spätwerk theoretisch fasst (vgl. Greve (1990) 261). 126 Zur These, dass der zentrale Text aus Entweder-Oder I die ›Diapsalmata‹ und nicht die ›Wechselwirtschaft‹ sind vgl. Greve (1988) 60.

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Einleitung

deren, zusammen mit der Krankheit zum Tode, zentrale Stellung im Werk Kierkegaards und dessen Auseinandersetzung mit Formen des Nihilismus in der neusten Forschung herausgehoben wird127, aus­ führlich berücksichtigt. Zuletzt soll auch die kurze Schrift Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, an der sich die Hauptströmung der Kierkegaard-Forschung orientiert128, ausführlich berücksichtigt wer­ den.129 Die übrigen Schriften Kierkegaards werden im Vergleichskapi­ tel hinzugezogen, wenn dies der Sache nach dienlich ist, insbesondere die Philosophischen Brosamen und der Begriff Angst im Kontext von Absurdität, indirekter Mitteilung, Sprung und Zeitlichkeit. Aber auch auf verschiedene Reden und die Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift wird stellenweise eingegangen. Mit dieser Textauswahl geht, zweitens, eine Eingrenzung des Themas der Arbeit einher. Nicht zu leisten ist im Rahmen dieser vergleichenden Arbeit, die von der zentralen Stellung der Krankheit zum Tode sowohl für Kierkegaards Idee des gelingenden Lebens als auch für den Vergleich mit Camus ausgeht, eine eingehende Analyse des fast 1000 Seiten umfassenden Frühwerks Entweder-Oder. Die neuere Forschung zeigt die enorme Komplexität des Werks auf.130 Damit verbunden kann die Arbeit auch eine Auseinandersetzung mit neueren Interpretationen von Kierkegaards Methode der indirekten Mitteilung,131 die ihre jeweilige Deutung der indirekten Mitteilung allesamt an der Struktur von Entweder-Oder exemplifizieren, nur begrenzt leisten und orientiert sich hier an der Hauptströmung der Forschung, für welche sie allerdings überzeugende Textbezüge und Argumente vorbringt. Gleiches gilt damit für die Deutung des Ein­ satzes der Pseudonyme. Da Camus selbst von Kierkegaards umfang­ reicher Don-Giovanni-Interpretation in Entweder-Oder nachweislich

127 Vgl. Rasmussen (2017) 208. Dazu führt Theunissen über die Figur der Doppel­ bewegung die Konzeptionen gelingenden Lebens der Schriften Furcht und Zittern, Die Krankheit zum Tode und An einem Grabe eng (vgl. Theunissen (1991d) 346 ff.). 128 Vgl. A. Pieper (2000) 32. 129 Die Arbeit folgt hier Theunissen / Greve und wählt diese kürzere und an der Sache orientierte Schrift gegenüber der ausführlicheren Schrift Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, die dieselbe These vertritt (vgl. Theunissen / Greve (1979) 52). Dazu kommt, dass Kierkegaard selbst nur diese kürzere Schrift veröffent­ licht und den Gesichtspunkt zurückgehalten hat (vgl. Rapic (2007) 32 Fußnote 58). 130 Vgl. Rapic (2007). 131 Vgl. Schwab (2012), Rapic (2007), Wesche (2003).

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praktisch keine Textkenntnis hatte132 und seine eigene Interpretation des Don-Juan-Mythos ein Fragment geblieben ist, zu dessen Ausar­ beitung Camus leider nie gekommen ist133, wird dieser Vergleichs­ punkt nur am Rande behandelt. Ebenso ausgeklammert wird die Figur der ›Wiederholung‹, deren Parallele zu Camus, insbesondere natürlich zum Bild des Sisyphos, sofort ins Auge sticht. Aufgrund der Komplexität der Thematik bei Kierkegaard wäre die Wiederholung bei Kierkegaard und Camus eine Monografie für sich. Zuletzt kann die vergleichende Arbeit auch eine ausführliche Untersuchung des Kierkegaard’schen Begriffs der Dialektik nicht leisten, die im Ausgang der drei zitierten Forschungslinien im Rückgang auf Hegel zu unter­ nehmen wäre. Ebenso ausgeklammert werden im Vergleich Kierke­ gaard-Interpretationen Dritter und Sekundärtexte im weiteren Sinne, die das Kierkegaardbild Camus’ möglicherweise beeinflusst haben.134 Methodisch, und damit drittens, ist diese Arbeit eine philosophi­ sche Arbeit, also negativ definiert keine theologische, philologische oder kulturwissenschaftliche Arbeit. Weder geht sie im postmodernen Sinne vom Tod des Autors und der Geburt des Lesers135 aus, noch bewegt sie sich gänzlich innerhalb eines immer schon vorausgesetzten theologischen Rahmens. Dagegen versucht die Arbeit, Strukturen, Figuren und Konzeptionen herauszuarbeiten, implizite Prämissen zu explizieren, zu kontextualisieren und zu problematisieren, um so den Leser argumentativ zu überzeugen. Sie arbeitet hermeneutisch, ohne diesen Begriff fassen zu können. Die Arbeit zeigt, was sie macht. Das Grunddilemma, dass die Bestimmung einer philosophi­ schen Untersuchung selbst Gegenstand einer philosophischen Unter­ suchung ist, bleibt dabei unlösbar und muss ausgehalten werden. Die Untersuchung beschränkt sich auf das veröffentlichte Werk beider Autoren. Die Einbeziehung unveröffentlichter Schriften, Tagebuch­ aufzeichnungen oder der Bestände der Archive in Kopenhagen und Aix-en-Provence wäre eine alternative, sicherlich ebenfalls fruchtbare Herangehensweise, impliziert jedoch tendenziell auch ein anderes Es gibt laut Stan keine Hinweise darauf, dass Camus auch nur im Entferntesten mit dem Text vertraut war (vgl. Stan (2011) 82). 133 Gemäß Zimmermann formuliert Kierkegaard eine exzellente Interpretation des Don Juan Mythos innerhalb seiner Stadienlehre (vgl. Zimmermann (2004) 62 f.), während es während es sich bei der Don-Juan-Interpretation Camus’ um ein »nie genauer ausgeführtes Projekt« (Zimmermann (2004) 76) handelt. 134 Vgl. dazu Janke (1982) 85. 135 Vgl. Barthes (1977) 148. 132

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Philosophie- und Wissenschaftsverständnis. Letzteres scheint insbe­ sondere dann in der Philosophie problematisch, wenn das veröffent­ lichte und das unveröffentlichte Werk von vornherein als ein Text aufgefasst136 und kleinste oder flüchtig verfasste Notizen von der Forschung gegen das veröffentlichte Werk vorgebracht werden. Die Arbeit wird mit philosophisch-wissenschaftlichem Anspruch verfasst, bleibt jedoch unverkennbar in den deutschen Hochschulkontext ein­ gebunden, was sich an ihrer Sprache, sicher aber auch an weiteren Facetten zeigt. Sie arbeitet primär mit Übersetzungen und zieht die französischen und dänischen Originaltexte, wo es hilfreich scheint, zu Rate, ohne jedoch eine vollständige eigene Übersetzung zu leisten oder den Ansprüchen an eine philologische Studie genügen zu wollen. Insofern sie in einem universitären Kontext entstanden ist, läuft sie immer Gefahr, hinter die beiden Autoren zurückzufallen, die beide selbst nie zur akademischen Welt gehörten. Eine Leitperspektive der Untersuchung ist »ein negatives Den­ ken« (MS 147), eine Formulierung, die Camus an genau einer Stelle des Werks benutzt. Die Philosophie des 20. und nun beginnenden 21. Jahrhunderts, die sich auf der Höhe ihrer Zeit bewegt, nimmt eine negative Wendung137: Ihre Denker entwerfen keine Ethik mehr138 oder sie tun dies in rein negativer Form.139 Die philosophische Anthropologie definiert den Menschen gerade über das, was ihm fehlt140, bis hin zu seiner völligen Wesenslosigkeit.141 Auch bedeu­ tende Denker der eher analytisch orientierten anglo-amerikanischen Philosophie stellen den Begriff des Schmerzes in das Zentrum ethi­ scher Überlegungen142 und konstruieren die realistische Utopie einer gerechten Gesellschaft von den am wenigsten begünstigten und schwächsten Mitgliedern her.143 Diese moderne Gestalt einer negativen Ethik findet sich bei Kier­ kegaard im Ausgang von dessen Diagnose des Scheiterns der soge­ nannten ersten Ethik (vgl. BA 466), und damit jeder naiv-optimisti­ Vgl. Steigleder (2002) xvi. Die philosophiehistorische Darstellung folgt hier Freiburger Vorlesungen von Lore Hühn. 138 Vgl. Theunissen (1991c) 30. Exemplarisch ist hier das Werk Heideggers. 139 Vgl. Adorno, MM 481. 140 Vgl. Gehlen, BM 46 f. 141 Vgl. Sartre, EH 149. 142 Vgl. Bentham, PM 11. 143 Vgl. Rawls, TG 32, 336. 136 137

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schen Sollensethik, an der Negativität der Wirklichkeit.144 Dagegen, so die These Theunissens, bietet die Krankheit zum Tode den Entwurf einer zweiten, negativen Ethik.145 Kierkegaard setzt daher thematisch an der Analyse von Negativphänomenen an und versucht methodisch, aus Analyse und Reflexion misslingenden Lebens die Idee gelingen­ den Lebens zu erschließen.146 Grund dieses Vorgehens ist eine völlige »Deformation unserer Ideale«147 in der modernen Gesellschaft. Wir können nicht mehr sagen, was ein gelingendes Leben ausmacht und warum es erstrebenswert ist. Die durchaus streitbare These ist hier, dass die von Kierkegaard, und, wie gezeigt werden soll, auch von Camus diagnostizierte Krankheit des Geistes der Sache nach Vorrang hat vor einem Vorbegriff von Gesundheit148 und Gelingen damit strukturell dialektisch Negation des Negativen ist,149 ohne dass es positiv greifbar ist. Nichtverzweifeltsein bei Kierkegaard ist Negation des Negativen, das Spiegelbild des Verzweifeltseins,150 ohne dass es auf einen positiven Begriff gebracht wird. Vor diesem Hintergrund ist die Krankheit zum Tode und genau nicht Entweder-Oder die für die Fragestellung der Arbeit zentrale Schrift151, was die oben skizzierte Eingrenzung des Textes und des Themas nochmals verdeutlichen soll. Es ist ein Anliegen der Arbeit zu zeigen, dass Camus’ Mythos des Sisyphos sich in diesem Sinne, wie die zuvor exemplarisch genannten Autoren, grundsätzlich auf der Höhe seiner Zeit bewegt und eine Position vertritt, die im 20. und auch noch im 21. Jahrhundert philo­ sophisch ernst zu nehmen ist. Die Konzeptionen eines gelingenden Lebens setzt bei der »condition humaine«152 an, und genau diese steht im Zentrum des Streits zwischen Camus und Kierkegaard. Der nun abschließende vierte Schritt gibt einen Überblick über die Gliederung der Arbeit, ihren Gedankengang und ihre zentralen Thesen und Erkenntnisse. Die Arbeit besteht aus drei Teilen: Der erste Teil widmet sich Camus’ Hauptwerk Der Mythos des Sisyphos, das den Ausgangspunkt dieses Projekts bildete und dessen Interpretation Vgl. Theunissen (1991d) 29. Vgl. Theunissen (1982) 126, Theunissen (1996) 21 f. 146 Vgl. dazu Theunissen / Greve (1979) 46, Theunissen (1991a) 17 ff., Theunissen (1993) 40 ff., Theunissen (1996) 17. 147 Theunissen (1996) 17. 148 Vgl. Theunissen (1991a) 30. 149 Vgl. Wesche (2015) 68. 150 Vgl. Theunissen (1993) 40 f. 151 Für die Gegenthese der Schlüsselstellung von Entweder-Oder vgl. Rapic (2007) 8. 152 Theunissen (1991d) 35. 144 145

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immer noch eines der leitenden Erkenntnisinteressen ist. Der zweite Teil umfasst einen Rückgang auf für die gewählten Vergleichspunkte mit Camus zentrale Werke Kierkegaards. Die Reihenfolge der Texte Kierkegaards folgt dabei nicht der Chronologie ihrer Entstehung, sondern orientiert sich an zentralen, von Camus aufgeworfenen Begriffen. Der dritte Teil schließlich bildet den Vergleich. Das damit gewählte Darstellungsmodell der Blockgliederung hat gegenüber dem Modell einer alternierenden Gliederung den Vorteil, sich textnah eng an den Gedankengängen beider Autoren bewegen zu können. Die Kehrseite ist eine Tendenz zur Wiederholung. Das Vergleichskapitel greift Gedanken aus den ersten beiden Teilen auf, setzt sie in ein Ver­ hältnis und denkt sie dabei weiter. Die beiden ersten textanalytischen Teile bewegen sich sehr nah am Text, bereiten den Vergleich vor und geben einen Einblick in das Handwerk der Arbeit. Der Leser kann die Arbeit durchaus selektiv lesen, durchaus auch vom Vergleichska­ pitel für nähere Erläuterungen auf die jeweiligen textanalytischen Kapitel zurückgehen. Ziel des ersten Teils der Arbeit ist also eine Rekonstruktion der Konzeption gelingenden Lebens in Camus’ Mythos des Sisyphos, in deren Zentrum, eingebettet in den theoretischen Kontext des Werks, die Begriffe Absurdität und Sprung stehen. Dazu folgt die Untersuchung dem Gedankengang des Werks, schlägt jedoch dort, wo es sinnvoll erscheint, eine eigene Gliederung der Kapitel vor. Es folgt nun ein kurzer Überblick über die Kapitel, im Anschluss über die zentralen Thesen zu diesem ersten Teil. Das erste Kapitel zum Begriff des Absurden erläutert Camus’ Diagnose einer absurden Grundstruktur der Existenz, die dieser zunächst als Gefühl, darauf theoretisch fasst und sich selbst mit dieser Einsicht in einer Reihe zentraler theoretischer Positionen des Nachidealismus und der Moderne auf der Höhe seiner Zeit veror­ tet. Das zweite Kapitel arbeitet den Vorwurf Camus’ an eben diese Denker, mit Ausnahme Nietzsches, aber einschließlich Kierkegaards, heraus, angesichts der Entdeckung des Absurden in den religiösen Glauben zu fliehen. Zentral ist hier der Begriff des Sprungs. Das darauffolgende Kapitel erläutert Camus’ Ausführungen zu seiner Idee gelingenden Lebens als Auflehnung des Bewusstseins und wachem Bezeugen des Absurden. Es rekonstruiert in diesem Kontext die Todesanalyse Camus’ sowie seinen Versuch der Formulierung einer Lebensregel. Das vierte Kapitel analysiert von Camus dafür ange­ führte Skizzen gelingenden Lebens: Don Juan, der Schauspieler,

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der Eroberer. Camus’ Frage nach dem bestmöglichen, dem schöpfe­ rischen Leben und nach der Möglichkeit des absurden Kunstwerks sind Gegenstand des fünften Kapitels des ersten Teils. Das sechste Kapitel analysiert Camus’ titelgebende Sisyphos-Interpretation, das abschließende siebte Kapitel widmet sich der Kafka-Interpretation Camus’, dem zweiten Kapitel zur Kunst im Mythos des Sisyphos, das ursprünglich an der Stelle der Dostojewski-Interpretation hätte stehen sollen. Die Arbeit vertritt folgende zentrale Thesen: Das absurde Ver­ hältnis von Menschen und Welt ist bei Camus erste rein negative metaphysische Wahrheit. Camus stellt diese Position provisorisch an das Ende der Geschichte der Metaphysik, deren Fortschritt er als zunehmende Einsicht in ihr eigenes Scheitern interpretiert, mit der er aber, so die These, über den Begriff der Wahrheit (des Absurden) im Singular doch verbunden bleibt. Es gibt viele Wahrheiten, also keine Wahrheit, aber dass es keine Wahrheit gibt, ist die eine Wahrheit. ›Wahr‹ und ›negativ‹ fallen zusammen. Das ›Ich‹ ist dabei introspek­ tiv gewiss, jedoch undefinierbar, die Welt durch Berührung gewiss, jedoch unbegreiflich, ihr Verhältnis das Absurde. Das Fehlen einer tragenden Tiefenschicht wird so zur Tiefenschicht. Das Leben misslingt als Flucht vor dem Absurden, als Sprung in das Religiöse, die Illusionen des Alltags oder des Idealismus, sowie als leiblicher Selbstmord. Sprung meint hier einen ungerechtfertigten Übergang, der angesichts der (begrenzten) Vernunft des Menschen – diesen Begriff benutzt Camus affirmativ – jedoch rechtfertigungsbe­ dürftig wäre. Der Pluralismus der Religionen, unter denen keiner ein privilegierter Status zukommt, bietet Aufforderungen zum Sprung in das Falsche. Religiosität wäre die Lösung, ist es aber nicht, der irreale Konjunktiv bleibt unüberwindbar. Kierkegaard entdeckt in der Interpretation Camus’ das Absurde, von Angst befangen will er es jedoch nicht wahrhaben. Kierkegaard und Husserl bieten dabei zwei Seiten der Verkehrung, gegen die Camus seine eigene Position konzipiert. Das Leben gelingt, so eine zentrale These des ersten Teils, als Nicht-Springen, als Nichtung der Möglichkeit des Sprungs in jedem Augenblick und damit als ein Sich-Halten am Abgrund in Gegenwart des Absurden. Der Verlust von Sinn ist dabei der hohe Preis der Wahrheit, den es zu zahlen und auszuhalten gilt. Das Leben gelingt in der Auflehnung bei gleichzeitigem Bewusstsein ihres Scheiterns, als ein Zugleich von Involviertheit und Reflexion, als ein Bezeugen und damit Wiederholen des Absurden. Der Mensch

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realisiert seine Aufgabe in dem ihm gegebenen begrenzten Spielraum. Die Gegenwart des Todes im Leben wirkt dabei aufklärerisch. Die Möglichkeit des eigenen Todes als äußerster Absurdität vermag das bisherige Leben zu erschüttern und den Einzelnen zu befreien. Die­ ser erkennt das trügerische jedes relativen Sinnhorizonts und das Absurde als Grund von Freiheit. Camus holt damit zuvor im Zuge einer Abrechnung mit der Geschichte der Metaphysik kritisierte verkehrte metaphysische Grundbegriffe affirmativ wieder ein. Der Versuch, positiv eine Lebensregel zu formulieren, scheitert und führt Camus in immer neue Metaphern. Dazu gehören drei Skizzen, diese sind jedoch Gegenentwürfe und nur von ihren jeweiligen Negativfo­ lien her verständlich. Die Arbeit vertritt hier die These, dass es Camus gelingt, die methodische Spannung zwischen seinem negativistischen Vorgehen und der Beschreibung dieser drei Skizzen zu relativieren. Das bestmögliche Leben ist das schöpferische Leben, dessen Ver­ wirklichung darin gipfelt, nicht realisiert werden zu müssen. Das wahre Kunstwerk deutet indirekt auf das Absurde, was das Absurde wiederum zum Maßstab der Kunst macht. Die direkte Mitteilung des Gesollten, diskutiert am Beispiel des pädagogischen Selbstmords bei Dostojewski, scheitert. Camus’ abschließende Sisyphos-Interpre­ tation ist eine Umdeutung einer klassischen Figur schlechter Unend­ lichkeit angesichts der Wahrheit des Absurden, in deren Zentrum die Begriffe des Augenblicks und der Pause stehen. Der Autor besetzt hier Schlüsselbegriffe der metaphysisch-christlichen Tradition bis hin zum Begriff des Heiligen im theoretischen Kontext seiner Kon­ zeption. In der eigentlichen Gegenwart blitzt dabei etwas auf, das unerklärlich bleibt. In seinem Hauptwerk setzt Camus also thematisch bei einem äußerst reichhaltigen Feld von Begriffen und Metaphern des Negativen an und versucht methodisch genau nicht direkt vom Standpunkt des Absurden, sondern umgekehrt, von der Beschreibung des Misslingens und im Durchgang durch die Gestalten des Sprungs, ex negativo auf die Idee gelingenden Lebens zu schließen. Der zweite Teil der Arbeit sucht von der Interpretation des Mythos des Sisyphos her den Rückgang auf Kierkegaard. Es folgt dabei den von Camus aufgeworfenen Begriffen und Figuren: Absurdität, Sprung, Gelingen als Nichtung der Möglichkeit des Misslingens, Tod sowie zwei Kapiteln zur Kunst. Dazu kommt ein Kapitel zum expliziten christlichen Selbstverständnis Kierkegaards. Das erste Kapitel des zweiten Teils beginnt bei den Begriffen Absurdität und Sprung und untersucht dafür Kierkegaards Furcht

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und Zittern, eines der zentralen Werke der Kierkegaard-Interpretation Camus’. Gegenstand des Werks ist eine Interpretation der biblischen Erzählung des Abrahamsopfers als Fassung einer modernen Konzep­ tion gelingenden Lebens.153 Die Analyse folgt hier dem Gedanken­ gang der vier Problematakapitel des Werks. Die These der Arbeit ist, dass Kierkegaard die Begriffe Absurdität und Sprung in einem völlig anderen Sinn verwendet: Das Absurde in Furcht und Zittern ist, dass für Gott alle Dinge möglich sind. Der Begriff Sprung bezeich­ net den Vollzug lediglich des ersten Teils der Doppelbewegung als Resignationsbewegung. Das Leben misslingt im alltäglichen Dahin­ leben, im Vollzug der Resignationsbewegung und in dem Versuch des Menschen, sein Ziel aus eigener Kraft zu realisieren. Furcht und Zittern vertritt eine paradoxale, hoch individuelle ethisch-religiöse Konzeption gelingenden Lebens als Vollzug der Doppelbewegung von Resignation und Glaube in jedem Augenblick, jenseits des ethischAllgemeinen, der Gemeinschaft und der Sprache. Nicht jeder ist auserwählt, Abraham oder Maria zu sein, aber jeder kann ›etwas mehr‹ sein als ein funktionierendes Rädchen in einem System. Was unter Isaak verstanden werden soll, muss letztlich jeder für sich selbst übersetzen. Das Werk ist thematisch negativistisch, das Negative innerweltlich unüberwindbar. An ihm scheitert die klassische Hand­ lungsethik. Das zweite Kapitel folgt der Figur des Gelingens als Überwinden von Misslingen und dazu dem für Camus bei Kierkegaard ebenso zentralen Begriff der Krankheit des Geistes und untersucht dafür Kierkegaards Krankheit zum Tode. Die Analyse folgt auch hier dem Gedankengang des Werks, dem mit der viel rezipierten Exposition der Krankheit zum Tode beginnenden ersten Kapitel zur Verzweiflung als Krankheit des Geistes, dem zweiten zur Allgemeinheit dieser Krankheit, und dem dritten, der Phänomenologie der Formen der Krankheit, bestehend aus synthesetheoretischer Betrachtung und Betrachtung nach Grad des Bewusstseins. Die Arbeit vertritt hier folgende Thesen: Der Begriff des Absurden in der Krankheit zum Tode entspricht dem von Furcht und Zittern, der Begriff der Disharmonie meint dagegen das Phänomen der Verzweiflung. Das Leben misslingt auf verschiedensten Reflexionsstufen, unabhängig von Anlass und 153 Die Arbeit folgt her der Interpretation Hackels, der zufolge das Problem der Ausnahmegestalten in Furcht und Zittern im Spätwerk Kierkegaards zum Problem jedes Einzelnen wird (vgl. Hackel (2011) 393).

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Gestalt der Verzweiflung, immer als Missverhältnis des Selbstver­ hältnisses in einem Gottesverhältnis, innerhalb dessen das Selbst immer schon verstanden wird. Der Mensch lässt sich durch Scheinsi­ cherheiten eines soziokulturellen Kontexts betrügen, der das Relative verabsolutiert. Der zentrale Begriff des Misslingens ist der Begriff der Verkehrung. Gelingendes Leben ist Vernichtung der Möglichkeit des Misslingens in jedem Augenblick durch Vollzug der Doppelbewegung von Bruch und Übernahme des wirklichen Selbst. Indem das Selbst sich zu sich selbst verhält, verhält es sich – als gesetzt – zugleich zu dem, der das Verhältnis gesetzt hat. Das normativ Gesollte ist dabei nicht direkt mitteilbar. Es ist keine Frage der richtigen Handlung, sondern der Metamorphose der gesamten Person. Die Krankheit zum Tode geht thematisch vom Primat der Krisis aus und versucht methodisch, durch Reflexion des Gegenteils und umgekehrtes Ver­ stehen des Verkehrten vom Misslingen zu Gelingen zu gelangen. Die Verzweiflung bezeugt das Gottesverhältnis im Modus der Ver­ kehrung. Kierkegaards negativistisches Hauptwerk ist nur innerhalb eines paradigmatischen christlichen Rahmens kohärent. Wenn es den Glauben als sicheres Gegengift gegen die Verzweiflung bezeichnet, so formuliert das Werk von einem Metastandpunkt aus, der dem Glauben selbst unzugänglich ist. Das dritte Kapitel zu Begriff und Funktion des Todes widmet sich Kierkegaards Todesanalyse in der Rede An einem Grabe. Die Textana­ lyse folgt Kierkegaards Bestimmung des Todes als entscheidend, nicht bestimmbar und unerklärlich und vertritt dabei folgende Thesen: Im Vorlaufen zum Tod und von dort her zu sich selbst finden enthält die Rede An einem Grabe die strukturgleiche Figur der Doppelbewegung von Verlust und Gewinn wie Furcht und Zittern und die Krankheit zum Tode als Kern der Idee gelingenden Lebens. Das Leben misslingt dagegen im Vertrauen auf Scheinsicherheiten und im Irrglauben, über eine bestimmte Masse an homogener Sukzessionszeit verfügen zu können, an deren Ende der Tod steht. Die Gegenwart des Todes im Leben und seine rückwirkende Kraft bilden als das entscheidende Moment der Konzeption den Übergang vom misslingenden zum gelingenden Leben, umschrieben mit der zentralen Metaphorik des Aufwachens. Der Tod enthält den universalen Maßstab gelingenden Lebens. Die Rede An einem Grabe geht dabei thematisch vom Tod als dem Negativen aus und zeichnet die Grundfigur des Negativismus vor: Das Leben gelingt von seinem Gegenteil her.

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Es folgen nun zwei Kapitel zum Ästhetischen bei Kierkegaard, die das vierte und fünfte Kapitel bilden. Analysiert werden das Vor­ wort des pseudonymen Herausgebers Victor Eremita und die erste Schrift des Ästhetikers A, die ›Diapsalmata‹, aus Entweder-Oder sowie die Briefe des jungen Mannes und der abschließende Brief des pseudonymen Autors Constantin Constantius aus der Wiederho­ lung. Die Arbeit möchte hier zeigen, dass das zentrale Motiv der Diapsalmata die Diagnose der Bodenlosigkeit ist, verbunden mit einer Diskrepanz zwischen Erwartung und Gebotenem. Der Ästhetiker A ist handlungsunfähig, weist Züge dämonischer Verzweiflung auf und kann ohne einen theologischen Begriff von Möglichkeit die Diagnose der Gegenwart des Todes im Leben nicht in einen Motor für ein gelingendes Leben umwandeln. Die Diapsalmata sind thematisch negativistisch, und auch sie deuten die Grundfigur des methodischen Negativismus an: Das Faktische ist verkehrter Modus eines Seinsol­ lenden. Auch die ästhetische Position des jungen Mannes in den Briefen der Wiederholung beschreibt thematisch negativistisch einen fundamentalen Daseinsekel als ein ungefragtes Sich-Vorfinden, ori­ entierungslos, jedoch eingegliedert in ein soziales Gefüge. Auch hier deutet die paradoxe Hiobinterpretation eine Figur des methodischen Negativismus an. Der produktive Ästhetiker wird laut dem pseudony­ men Autor der Wiederholung, Constantin Constantius, von einem unaussprechlichen religiösen Fundament getragen. Das Ästhetische bei Kierkegaard ist immer schon auf das Religiöse hin konzipiert. Daran anknüpfend widmet sich das sechste und abschließende Kapitel des Kierkegaardteils der kurzen Schrift Über meine Wirksam­ keit als Schriftsteller und damit dem christlichen Selbstverständnis des späten Kierkegaard. Kierkegaards gesamtes Werk, so die leitende, dem Text folgende These, zielt auf die indirekte Mitteilung des normativ Gesollten. Ziel ist es, den Einzelnen aus dem Modus der ideologischen Verkehrung heraus in Richtung des eigentlich normativ Gesollten zu führen und ihn dieses selbst entdecken zu lassen. Der Gehalt dieser indirekten Mitteilung ist dabei nicht prinzipiell offen im Sinne einer doppelten Reflektiertheit, sondern das Christliche. Gelingen als Reflexion aus dem Falschen heraus entspricht auch hier der Grundfigur des methodischen Negativismus, Reflexion der Verkehrung bietet Zugang zum normativ Gesollten. Der Einzelne verhält sich zum Unbedingten, wenn auch auf Abstand und im Modus der Verkehrung. Das Christliche ist bei Kierkegaard Maßstab hinter der Erörterung des Maßstabs. Ziel ist es, ein Christ zu werden.

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Einleitung

Der abschließende dritte Teil der Arbeit vergleicht die Konzeptio­ nen im Horizont des in den ersten beiden Teilen Erschlossenen. Der Aufbau der Kapitel folgt der Grundbewegung der Sache vom misslin­ genden Leben über das Verhältnis zum Tod zur Idee gelingenden Lebens. Daran schließt eine Reflexion der Methode der Autoren und die Diskussion der Ergebnisse an. Die zentralen Begriffe des ersten Kapitels zum misslingenden Leben sind Grund, Negativität, Alltäglichkeit und Maßstab. Das von Camus diagnostizierte Fehlen eines tiefen Grundes zu leben als sozusagen Grundproblem hinter seiner Diagnose des Absurden findet sich bei Kierkegaard werksübergreifend in Motiven von Bodenlosig­ keit und der Illusion festen Bodens. Beide Denker gehen dabei vom Scheitern der theoretischen Philosophie und der Wissenschaft aus, uns über diesen Grund aufzuklären, für beide stellt sich in erster Linie die Frage nach dem Sinn des Lebens, weniger die Frage nach der Grundlegung intersubjektiver Moralität. In ihrer Beschreibung der Erfahrung des Negativen nutzen beide Denker ein nahezu identisches Begriffs- und Metaphernfeld. Die Einbruchserfahrung deckt auf, was in Wahrheit immer schon gewesen ist. In ihrer Kritik des Alltags deuten Kierkegaard und Camus das berechnende, auf die Zukunft hin gerichtete Dahinleben in der chronologischen Zeit als unbewusste Verzweiflung bzw. Absurdität. Der jeweilige soziokulturelle Kontext bietet hier dem Einzelnen eine trügerische Sicherheit, die Illusion von festem Grund und einem sinnvollen Leben innerhalb letztlich aber repressiver Strukturen, die den Horizont des Möglichen auf das Alltägliche reduzieren und aus dem Individuum eine Zahl machen. Das scheinbar gelingende Leben, soziokultureller Erfolg, Beruf und Familie, ist doppelt negative Gestalt der Krankheit des Geistes. In der verkehrten Welt hintergehen ideologische Verkehrungsstrukturen die Sprache, so dass mit ›richtigen‹ Begriffen das Falsche gemeint ist. Für Kierkegaard und Camus ist dagegen das Seinsollende der Mensch als das jeweils konkrete Individuum in seiner absoluten Einzigartigkeit. Die jeweiligen Deutungen der Negativphänomene und Negativdiagnosen der Alltäglichkeit unterscheiden sich jedoch durch eine paradigmatische Differenz von Grund von Existenz und folglich Menschenbild. Kierkegaards Maßstab der Verzweiflungsana­ lyse ist das Gesetzt-Sein des Einzelnen in einem für die Konzeption paradigmatischen theologischen Horizont eines immer noch christ­ lich zentrierten Weltbildes. Camus teilt genau diesen Horizont nicht und zeigt dagegen, wie im modernen, dezentrierten Weltbild des

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3 Zum Vorgehen

Absurden die Abwesenheit des Maßstabs selbst Maßstab und Grund von Existenz wird. Die Konzeptionen misslingenden Lebens sind folglich strukturgleich, ihre Differenz ist paradigmatisch. Der Mensch will nicht sein, wer er in Wahrheit ist – der von Gott gesetzte Mensch bei Kierkegaard, der absurde Mensch bei Camus. Die Position Camus’ ist nicht negativ-theologisch im Sinne Kierkegaards, und gerade deshalb, als vorweggenommene Überwindung der Postmoderne154, paradoxerweise die echte religiöse Suche unserer Zeit.155 Das zweite Kapitel vergleicht die Todesanalysen beider Denker am Übergang vom Misslingen zur Idee gelingenden Lebens. Die Gegenwart des Todes im Leben bietet im Leben eine universale Struk­ tur Aufklärung, sie entwirrt die Verwirrungen durch die Pluralität der Perspektiven und bietet Maßstab und Motiv für ein gelingendes Leben. Das Leben gelingt nicht vom Jetztpunkt auf den Tod hin, sondern vom Tod her. Dabei ist es bei beiden Denkern genau die Erschütterung durch das Denken der Möglichkeit des eigenen Todes, die jede Sicherheit als Illusion entlarvt und den Einzelnen aus der Verkehrung heraus in ein Verhältnis zu sich und damit zu sich Selbst führt. Die absolute Grenze des Möglichen zeigt dem Einzelnen, was Möglichkeit bedeutet, von dem das jeweils individuell Mögliche als Möglichkeit zu erschließen ist, und mahnt, das wirklich Wesentliche nicht aufzuschieben. Vom Tod lernt der Mensch zu leben. Die zentrale These des dritten Kapitels ist die prinzipielle Strukturgleichheit der Idee gelingenden Lebens bei Kierkegaard und Camus. Dies wird in zwei Schritten erläutert, zunächst an der Fassung der Konzeptionen als ein Nein zum Misslingen, darauf an der Notwendigkeit der Übersetzung des normativ Gesollten im Horizont des Einzelnen. Das Leben gelingt bei Kierkegaard und Camus strukturgleich als ein Verhältnis zum Grund von Existenz, in das der Mensch gelangt, in dem er sich zu sich selbst verhält, durch ein Nein zur Möglichkeit des Misslingens in jedem Augenblick. Gelingen meint Nicht-Fliehen, durch ein ›nicht Nicht-sein-Wollen, wer man in Wahrheit ist‹ der konkrete Mensch zu werden, der man ist. Es ist in der Tradition der Figuren der Conversio keine Frage von Handlungsimperativen, sondern eine Frage der ganzen Person. Die Argumente beider Denker gegen den Selbstmord als bei Kierkegaard gegen Gott, bei Camus gegen das Absurde gerichtet, stützen dabei die 154 155

Vgl. Hengelbrock (1987) 63 ff. Vgl. Esslin (2001) 400.

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Einleitung

zentrale These der Arbeit, derzufolge das Absurde Camus’ strukturell an die Stelle des Anderen bei Kierkegaard als Grund von Existenz tritt. Der Versuch, von der Möglichkeit des eigenen Todes her durch ein kontinuierliches Nein zum Falschen aus diesem heraus und zu sich selbst zu finden, scheitert immer wieder an der Allgegenwart der verkehrten Sinnkonstrukte und bedarf so immer wieder neuer Anstrengung, metaphorisch gefasst als der Versuch, sich inmitten der metaphysischen Nacht wach zu halten. Der Weg in ein Verhältnis zum Wahren ist risikobehaftet, führt über das Negative, wobei das Leiden letztlich doch unüberwindbar bleibt. Das je konkret normativ Gesollte ist bei beiden Denkern nicht direkt und nicht als universale abstraktallgemeine Regel, sondern nur indirekt und, wenn überhaupt, dann auch nur metaphorisch mitteilbar. Der Grund hierfür ist sowohl die Wirklichkeit des konkreten Lebens des je Einzelnen als absolut einzigartig als auch der Modus der Verkehrung, welcher die Sprache vereinnahmt und das Verstehen direkter Kommunikation als Selbstbetroffen-Sein praktisch unmöglich macht. Jede Form der direkten Mitteilung ist dagegen repressiv. Der Einzelne kann nur auf etwas, genauer auf sich selbst, aufmerksam gemacht werden. Es gilt, ihn das normativ Gesollte für sich in seinen eigenen Kontext übersetzen und seine eigene Aufgabe für sich entdecken zu lassen. Die Idee gelingenden Lebens ist nur ihrer Struktur nach und metaphorisch zu fassen. Moralphilosophie geht hier über in eine Sphäre von Erzählung und Interpretation, von Unsagbarkeit und Entzug – im Horizont der Maßstäbe des Christlichen bzw. des Absurden. Die eigene Aufgabe kann außergewöhnlich sein, sie muss es aber nicht sein. Das vierte Kapitel reflektiert das methodische Vorgehen beider Denker. Die Arbeit zeigt hier, dass die Interpretation Kierkegaards als methodischer Negativismus mit Vorzeichen vor der Klammer für den Vergleich mit Camus fruchtbar zu machen ist. Das Gesollte zeigt sich in der Analyse und Reflexion des Scheiterns, also der Verzweiflung bei Kierkegaard und des Sprungs bei Camus. Es wird nicht behauptet, dass die Autoren ihr methodisches Vorgehen in vollem Umfang selbst reflektieren. Die Arbeit vertritt die These der Inversion der Negati­ ven Theologie bei Camus: Ohne die theologisch-anthropologischen Voraussetzungen und die zirkulären Beweise Kierkegaards zeigt sich für Camus im Phänomen des Religiösen das Absurde im Modus der Verkehrung, d.h. des Sprungs. Die Negative Theologie ist der letzte Strohhalm des absurden Menschen auf der Flucht vor sich selbst.

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3 Zum Vorgehen

Das abschließende fünfte Kapitel widmet sich der Diskussion der Ergebnisse, zunächst mit Blick auf Camus’ eigene Kierkegaard-Inter­ pretation, dann im Kontext der Hauptströmungen der gegenwärtigen vergleichenden Forschung. Kierkegaard entdeckt nicht das Absurde im Sinne Camus’, sondern eine Disharmonie als Verzweiflung in seinem Sinne. Der Übergang zum Glauben ist nicht Sprung im Sinne Camus’, der damit einen der zentralen Begriffe der Hegelkritik Kierkegaards gegen Kierkegaard selbst wendet, wohl aber Sprung im Sinne von Kierkegaards Konzeption einer auf der Mikroebene diskontinuierlichen Wirklichkeit. Damit ist der Übergang absurd im Sinne Kierkegaards, aber nicht ungerechtfertigt im Sinne Camus’, sondern innerhalb Kierkegaards paradigmatischem Rahmen herme­ neutisch zirkulär. Damit weist die Arbeit die zentralen Thesen der Kierkegaard-Interpretation Camus’ zurück. Camus schafft sich einen eigenen ›Kierkegaard‹ als Gegenposition in seiner Zeit, diese Interpretation wird aber der Position des hundert Jahre vor ihm schreibenden Dänen nicht gerecht. Die Differenz ist nicht: Fliehen oder Bleiben. Die Arbeit weist die Forschungsthese der Inversion des Ästhetischen Stadiums Kierkegaards durch Camus156 zurück. Im Großen sind die Konzeptionen paradigmatisch different, aber auch im Kleinen kann etwa die Musik als Kunst die Mauern des Ästhetikers A in den Diapsalmata durchdringen, während die Mauern Camus’ undurchdringlich sind. Auch Federballspiel als Antwort der Wechselwirtschaft aus Entweder-Oder hat keine Schnittmenge mit der Aufgabe des Sisyphos. Ebenso weist die Arbeit die These der Inversion der dämonischen Verzweiflung Kierkegaards durch Camus zurück. Die paradigmatische Differenz ist auch hier zentral, aber auch im Kleinen ist die Aufgabe des Sisyphos nicht selbst geschaffen, sondern von den Göttern gegeben. Camus will nicht Recht haben, sondern befürchtet Recht zu haben, sein Mythos des Sisyphos ist wegen seiner Betonung der Pause gerade ein Gegenmythos zum Tan­ talischen der dämonischen Verzweiflung. Paul Ricœur weist die Ver­ ortung der Position Kierkegaards innerhalb des Hegelschen Systems mit dem Verweis darauf zurück, dass diese Verortung die Existenz des Hegelschen Systems voraussetze.157 Die Arbeit überträgt diese These Ricœurs zum Verhältnis Kierkegaard-Hegel auf das Verhältnis »Camus’ Haltung ist die des reinen ästhetischen Stadiums nach Kierkegaard, mit allen Konsequenzen« (Richter (1959) 121, Hervorhebung JA). 157 Vgl. Ricœur (1979) 590.

156

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Einleitung

Camus-Kierkegaard. Gegen die Inversionsthesen der vergleichenden Forschung schlägt sie eine eigene Fassung der Inversionsthese, der Inversion der negativen Theologie bei Camus vor: Bei Camus zeigt sich nicht im Absurden als Trotz gegen Gott die Anwesenheit Gottes im Modus der Abwesenheit, sondern Camus entdeckt im Religiösen das Absurde im Modus des Verkehrten und Verdrängten. Camus vernichtet damit nicht das »Band der Kreatürlichkeit«158, sondern invertiert dieses Strukturmodell159 als Ganzes. »Das Absurde […] ist vorerst das einzige Band [...]« (MS 33).

158 159

Schelling, Freiheitsschrift 62. Vgl. Hühn (2009) 236.

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I Camus: Der Mythos des Sisyphos

1 Absurdität Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass Camus das absurde Ver­ hältnis von Mensch und Welt als rein negative erste metaphysische Wahrheit ausweist. Dazu geht er in drei Schritten vor: Er beschreibt die Entdeckung des Absurden zunächst als Gefühl oder Empfindung, im zweiten Schritt dann160 im Denken als Konsequenz des Scheiterns von theoretischer Philosophie und Wissenschaft.161 Zuletzt verortet er diese Entdeckung bei Philosophen des Nachidealismus und der Moderne, insbesondere auch bei Kierkegaard.

1.1 Das Gefühl des Absurden Camus beginnt seine Untersuchung162 mit dem Aufzeigen einer exis­ tenziellen163 anthropologischen Grundsituation: Der Mensch »muss« (MS 11) sich zur Frage nach dem Sinn des Lebens verhalten. Jeder Augenblick ist damit ein Augenblick der Entscheidung zwischen Selbstmord und Nicht-Selbstmord. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist »ernst […]« (MS 11), sie ist das eine wirkliche philosophi­ sche Problem. Alle übrigen theoretischen Probleme sind gegenüber dieser Frage zunächst einmal »Spielereien« (MS 11). Damit grenzt Camus mit dem Begriff Ernst die für ihn im strengen Sinn philoso­ phische Dimension von übrigen Fragen ab, denen der Gegenbegriff Spiel zukommt. Die Arbeit sieht hier weniger ein »doppeltes Absurdes« (Richter (1959) 114), als vielmehr verschiedene Zugänge zu demselben Phänomen. 161 Vgl. dazu A. Pieper (1994) 4 ff. 162 Im französischen Original heißt das erste Hauptkapitel ›Un raisonnement absurd‹, was im Gegensatz zur deutschen Übersetzung ›Eine absurde Betrachtung‹ den argu­ mentativen Anspruch betont. 163 Das Selbstmordproblem ist nicht akademisch (vgl. Sagi (2002) 33). 160

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Camus interessiert sich dabei nicht für den Selbstmord als etwa soziales Phänomen, sondern für die »Beziehung zwischen individuellem Denken und Selbstmord« (MS 12), das Phänomen des Selbstmords »aus freiem Willen« (MS14). Aus freiem Willen sterben impliziere das Urteil, das Leben sei es nicht wert zu leben, welches wiederum, sei es auch implizit oder unterschwellig, die Erkenntnis [»erkannt« (MS 14)] des Absurden beinhalte, auf die der Selbstmord die Antwort sei. Erkenntnis des Absurden bedeutet hier, »das Lächerliche dieser Gewohnheiten […], das Fehlen jedes tiefen Grundes, zu leben164, die Sinnlosigkeit der täglichen Betriebsamkeit, die Nutzlosigkeit des Leidens« (MS 14) erkannt zu haben. Aus dieser Aufzählung von Negativerfahrungen ist das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben als zentrale Figur hervorzuheben.165 Der Autor beschreibt diese Erfahrung166, der bereits explizit auch der Begriff der Erkenntnis zukommt, als Verlust von Welt, Rahmen, Vertrautheit, Heimat und Licht, hin zu einer Erfahrung167 von Universum, also gleichgültigem Raum, Dunkelheit, Fremde und Exil (vgl. MS 14). Der Mensch verliert dasjenige, was Sinnhorizont gewesen ist, was die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gegeben und verbürgt hat. Dieser Verlust vollzieht sich »plötzlich« (MS 14), das heißt als fundamentale Einbruchserfahrung, die das Leben unwiederbringlich in ein Davor und Danach einteilt. Als auslösendes Ereignis dieser Einsicht in das Absurde als in die­ sem Sinne »Entzweiung zwischen Mensch und seinem Leben« (MS 14) nennt Camus an dieser Stelle schlicht und einfach das Denken. »Wenn man zu denken anfängt, beginnt man ausgehöhlt168 zu wer­ den« (MS 13). Dieser auf den ersten Blick unscheinbare Satz impliziert bereits die gesamte Tragweite und den Anspruch der Position Camus’, die philosophische Position, den Standpunkt zu formulieren, der aus »l’absence de tout raison profonde de vivre« (MS frz. 20). Das Substantiv »Grund« ist nur im Deutschen doppeldeutig, die Metaphorik des tiefen Grundes wird aber im französischen Original mit dem Adjektiv »profonde« (MS frz. 20) (lat. profundus, fundus: Grund, Boden) eingeholt. 166 Golomb nennt Camus Vorgehen hier »quasi-phänomenologisch« (Golomb (1995) 173). 167 Die Interpretation des Absurden a priori bei Camus (vgl. A. Pieper (2014) 89, A. Pieper (1994) 2) ist insofern problematisch, da Camus an dieser Stelle gerade von der Erfahrung ausgeht. 168 Schlette weißt darauf in, dass »miné« (MS frz. 19) als ›unterminiert‹ zu übersetzen ist (vgl. Schlette (2000) 20). Das Denken unterminiert das Fundament. 164 165

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einem Anfang des Denkens, der Reflexion des Menschen auf sich und sein Weltverhältnis, konsequenterweise folgt.169 Unterstützt wird dieses durch die erste Verwendung der Metaphorik des Aufwachens für die Einsicht in das Absurde und die Bezeichnung des Verlorenen als »Illusionen« (MS 14). Der Einbruch als Erfahrung des Negativen, auf den Begriff des Absurden gebracht, ist der Einbruch von Wahrheit in das Falsche. Im Anschluss an diesen ersten Zugang zum Absurden, der, wie sich zeigen wird, bereits die wesentlichen Züge des Ganzen der Position Camus’ enthält, formuliert Camus das Thema seines Werks: Untersucht werden soll der Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord, »wieweit der Selbstmord für das Absurde eine Lösung ist« (MS 15). Dies wird im Folgenden von Camus noch mehrfach präzisiert werden. Dazu formuliert er die zentralen Prämissen seiner Konzeption des gelingenden Lebens: Aufrichtigkeit, verstanden als Ausrichtung des Handelns nach dem als wahr erkannten, ist ein Wert, ein »Grundsatz« (MS 15), von dem Camus ausgeht und der nicht begründet werden wird. Dahinter steht das grundsätzliche Ausgehen von einer Dichotomie von wahr und falsch sowie die Annahme, dass das Wahre, sofern es denn erkannt ist, handlungsleitend sein sollte. Ein Begriff des gelingenden Lebens, den Camus selbst explizit nicht verwendet, muss genau an diesem Sollen ansetzen. »Der Glaube an die Absurdität der Existenz muss demnach sein Verhalten leiten« (MS 15). Argumentativ ist dies ein Syllogismus: P 1: Das Leben gelingt, wenn das Wahre das Handeln leitet. P 2: Das Absurde ist das Wahre. C: Das Leben gelingt, wenn das Absurde das Handeln leitet. Prämisse 1 wird von Camus vorausgesetzt. Ziel seiner Untersuchung ist es, die Richtigkeit von Prämisse 2 aufzuzeigen und aus der Analyse des Absurden heraus die Konklusion zu interpretieren, d.h. den Sollensanspruch, der aus dem Absurden folgt, zu spezifizieren. Dabei wird radikal offen gefragt, ob dieses Sollen den Selbstmord verlangt, was verneint werden wird.

169 Die Arbeit teilt hier nicht die These Richters, Camus verwerfe die philosophi­ sche Betrachtungsweise und wolle das Absurde als Künstler erfassen (vgl. Richter (1959) 116).

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Camus präzisiert im Folgenden den normativen Charakter seiner Untersuchung. Faktisch handeln Menschen häufig inkonsequent. Die einen ziehen keine Schlüsse als der Einsicht in das Absurde, andere begehen Selbstmord, obwohl sie an den Sinn des Lebens glauben (vgl. MS 15). Menschen weichen aus, sei es, weil wir uns als leibliche Wesen an das Leben gewöhnt haben (vgl. MS 16), sei es, weil wir Hoffnung haben (vgl. MS 17), die für Camus, wie noch auszuführen sein wird, immer Illusion und damit misslingendes Leben ist. Camus fasst nun seine Frage wie folgt: »Verlangt ihre [Bezug: der Existenz] Absurdität, dass man ihr mittels Hoffnung oder durch den Selbstmord entflieht – eben das müssen wir erhellen […] Verlangt das Absurde den Tod – dieses Problem hat Vorrang vor allen anderen« (MS 17). »[...] Gibt es keine Logik bis zum Tode?« (MS 18). Dabei liegt im Begriff der Flucht und der Frage nach ihrer Folgerichtigkeit als Konsequenz170 aus der Entdeckung des Absurden der Kern der Sache. Der Gegenbegriff ist der des »sich […] haltens« (MS 19). »Das Gefühl der Absurdität kann an jeder beliebigen Straßenecke jeden beliebigen Menschen anspringen« (MS 20). Camus beginnt die Analyse des Gefühl des Absurden im zweiten Unterkapitel des ersten Hauptkapitels des Mythos mit der Betonung des Plötzlichen171 einer Einbruchserfahrung, bei der das nicht fassbare Absurde als Gefühl grammatisch Subjekt ist. Der Metaphorik von Nacktheit und Glanzlosigkeit (vgl. MS 20) verweist auf das Absurde als Wahrheit einer Tiefenschicht172 unterhalb dessen, was Verkleidung und Verblen­ dung ist. Für das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe nutzt Camus auch die Metaphorik der Musik (vgl. MS 21). Camus versucht, das Unfassbare zu fassen, indem er ein »Klima der Absurdität« (MS 22) spürbar machen will. Es ist der Versuch, über das durchaus metaphorisch-bildhafte Fassen eines »Gefühls« (M 22) zum »Erken­ nen« (MS 22) des Absurden zu gelangen, welches sich zunächst einmal der theoretischen Erkenntnis zu entziehen scheint, und auf das lediglich die Praxis, Handlungen wie etwa der Selbstmord, verweist. Dem Anspruch nach zielt die Analyse auf Erkenntnis des wahren »unerbitterlichen Gesichts« (MS 22) der Welt. Das »erste Anzeichen der Absurdität« (MS 22), an dem die Analyse ansetzt, ist der Mensch, der sagt, er denke »nichts« (MS 22), Die Arbeit teilt hier nicht die These A. Piepers, der zufolge Camus’ Anspruch der Konsequenz selbst absurd ist (vgl. A. Pieper (1974) 425). 171 Plötzlich erscheint alles ziel- und sinnlos (vgl. Hengelbrock (1984) 48). 172 Zur Deutung des Absurden als Tiefenschicht vgl. Esslin (2001) 401. 170

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und dessen Antwort »aufrichtig« (MS 22) sei. Das Gefühl des Absur­ den beschreibt die Erfahrung von Einbruch, von Leere, Nichts und Zerrissenheit. Das alltägliche Leben, die »Kette alltäglicher Gesten« (MS 22), ist zerrissen. Es beschreibt die Erfahrung des Wunsches, sie wieder zusammenzufügen, sowie der Unfähigkeit, diesen Wunsch zu realisieren (vgl. MS 22). Der Zusammenbruch der Kulissen ist die zweite Metaphorik der Einbruchserfahrung: Manchmal stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik. Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das »Warum«, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. »Fängt an« – das ist wichtig. Der Überdruss steht am Ende der Handlungen eines mechanischen Lebens, [...] Er weckt das Bewusstsein und fordert den nächsten Schritt heraus. Der nächste Schritt ist die unbewusste Rückkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen (MS 22, 23).

Die Metaphorik impliziert eine deutliche Wertung: Das alltägliche Leben war zwar bequem, aber Schein, falsch. Die Kulissen sind nie die wahre Wirklichkeit, sondern immer schon Kulissen gewesen. Das Wahre ist verdeckt, dahinter, eine Tiefenschicht, die in der Erfahrung eines radikalen Einbruchs zugänglich wird und sich als das zeigt, was sie immer schon war. Alles Vorherige verliert damit seine vorherige Bedeutung. Es wird zum ›davor‹. Camus unterstützt diese These durch die herabqualifizierende Metaphorik des bisherigen Lebens als Schlaf und Mechanik, dem gegenüber neue Begriffe von Wachheit und Lebendigkeit auftreten. Das bisherige Leben war nicht das Leben. Das Absurde ist die Wahrheit über die Alltäglichkeit. Grammatisches Subjekt ist die sich erhebende Warum-Frage. Sie war vermutlich immer schon da, aber in der plötzlichen Erfahrung des Einbruchs stellt sie sich. Sie führt zu Überdruss, der »gut« (MS 23) ist. Wert haben nicht das Funktionieren und das psychische Wohlbefinden, sondern die Befreiung und das Bewusstsein des Wahren. Diesen Wert der Wahrheit hinterfragt Camus nicht und hält ihn offensichtlich auch nicht für rechtfertigungsbedürftig. Durch eine ganz einfache Frage wird der gesamte Sinnhorizont des bisherigen Lebens brüchig, der den Zugang zum Gefühl des Absurden verstellte. Damit ist der Mensch nach Camus vor eine Entscheidung gestellt: Versuch der Wiederherstellung des Verlorenen oder Selbstmord (vgl. MS 23).

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Im Folgenden skizziert Camus weitere Zugänge zum Klima des Absurden: Den ersten Zugang bietet das »Verhältnis zur Zeit« (MS 23) im alltäglichen Leben. Der Mensch lebt »auf die Zukunft hin« (MS 23), versteht sich selbst als »an einem bestimmten Punkt« (MS 24) der Zeit, genauer gesagt der Zeit als chronologischer Zeit. Gegen diese Struktur des vom Jetztpunkt auf die Zukunft hin leben erfährt der Mensch aufgrund seiner Sterblichkeit ein leiblich-affek­ tives »Aufbegehren« (MS 24), in dem sich, folgt man Camus, das Absurde zeigt. Während uns also zunächst im Alltag die Sukzessions­ zeit trägt (vgl. MS 24), wendet sich dieses Blatt mit zunehmender Ahnung der eigentlichen Grundstruktur der Existenz. Der zweite Zugang zum Absurden ist die Erfahrung von Fremdheit der Welt. Wir erfahren die Welt als »dicht« (MS 24), verfügen also über kein Erkenntnisvermögen, das uns einen differenzierenden Zugang zum Ganzen ermöglicht und uns dieses erkennen oder begreifen lässt. Camus beschreibt diese Erfahrung als Augenblickserfahrung. »Eine Sekunde lang verstehen wir die Welt nicht mehr, […]« (MS 24). Ein Stein, Bäume erscheinen uns fremd, verlieren ihren Sinn. »Die Welt entgleitet uns, da sie wieder sie selbst wird. Die von der Gewohnheit verstellten Kulissen werden wieder, was sie wirklich sind« (MS 24). Die Metapher der Kulisse unterstützt dabei erneut die These des Aufdeckens des Wahren in der Einbruchserfahrung des Alltäglichen. Jedes kohärente Weltbild ist Konstruktion. Das Wahre erschließt sich im Abbau von falschen Bildern, »die wir zuvor in sie [Bezug: die Welt] hineingelegt hatten« (MS 24) und die sich nun als das zeigen, was sie sind, und so den Blick auf das Absurde freigeben. Drittens zeigt sich das Absurde in der Erfahrung der Unmensch­ lichkeit oder Fremdheit der anderen Menschen: »Ein Mensch spricht hinter einer Glaswand ins Telephon; man hört ihn nicht, man sieht nur sein sinnloses Mienenspiel: man fragt sich, warum er lebt« (MS 25).173 Das Fehlen des lebensweltliches Kontexts, des Sinns des Gesagten, legt, so zumindest die These, die ursprüngliche Dimension des Fehlens des Sinnhorizonts des Ganzen frei. Man fragt sich nicht, was er sagt oder mit wem er spricht, sondern warum er lebt. Der Mensch wirkt »mechanisch« (MS 25) und öffnet dadurch den Raum, die Alltäglichkeit als Ganzes, als mechanisches Leben ohne tiefere 173 In seiner für die Literatur- und Theaterwissenschaft wirkmächtigen Darstellung des Absurden fokussiert Esslin seine Interpretation auf diese Passage (vgl. Esslin (2001) 400 f.).

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Sinnschicht zu erschließen. Camus ergänzt diesen Zugang viertens auch durch die eigene Fremderfahrung »in gewissen Augenblicken in einem Spiegel« (MS 25). Auch hier blitzt das Wahre im Augenblick quasi auf.174 Der fünfte Zugang schließt wiederum an den ersten Zugang an. Der Tod, genauer gesagt die durch den Tod erschlossene »elementare und endgültige Seite« (MS 26) des Lebens erschließt das Absurde. Das alltägliche Dahinleben ist nicht von Dauer, sondern radikal endlich. Es kann, um Camus’ Analyse zu ergänzen, sogar im nächsten Augenblick vorbei sein. Um so erstaunlicher, und da ist Camus’ Auffassung zu teilen, ist es, »dass alle so leben« (MS 25). Parallel zur Gewissheit des eigenen Todes erschließt an diesem Punkt wiederum die Fremdheit anderer Menschen die letztliche Unbegreiflichkeit, was diese da tun wenn sie leben, das Absurde. Camus schließt diesen Teil der Phäno­ men- oder Situationsanalyse mit der These, dies seien »evidente Tatsachen« (MS 26), und dem wenig hilfreichen Literaturhinweis auf »alle Literatur und alle Philosophie« (MS 26). Er geht also davon aus, dass diese Analysen bzw. Phänomeninterpretationen des Absurden bzw. diese selbst als das Absurde unproblematisch und auch außer­ halb seiner Arbeit gut begründet sind. Zentraler Gegenstand seiner Arbeit sollen nicht die Entdeckungen des Absurden sein, sondern deren Konsequenzen, genauer gesagt, ob wir aus dem Absurden schließen, dass man freiwillig sterben muss oder hoffen muss (vgl. MS 27). Zusammenfassend kann man bis hierher festhalten, dass Camus in diesem ersten Schritt beansprucht, eine negative wahre Tiefen­ schicht unterhalb der Welt der alltäglichen Betriebsamkeit aufzuzei­ gen, die uns durch Einbruchserfahrungen als ein Negativerleben und somit als ein Gefühl zugänglich wird. Charakteristisch sind die Erfahrungen von Sinnleere und Fremdheit anstelle von Sinn und Ver­ trautheit.

1.2 Das Denken des Absurden Im nun folgenden zweiten Schritt setzt sich Camus, äußerst knapp, mit historischen Positionen der Metaphysik sowie mit den gegenwär­ Stan bringt das Fremde an dieser Stelle auf den Begriff der Entfremdung von der Welt und von uns selbst (vgl. Stan (2011) 68).

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tigen Wissenschaften auseinander, mit dem Ziel, das Absurde auch als Erkenntnis des Denkens175 auszuweisen176 und seine Konzeption, provisorisch, an das Ende einer Geschichte des Scheiterns der Meta­ physik zu stellen. Camus beginnt diese Auseinandersetzung mit zwei Thesen. Die erste ist die Dichotomie von Wahrheit und Falschheit, von der er ausgeht und die nicht weiter gerechtfertigt wird. Die zweite besagt, dass das reflektierende Denken stets auf Widersprüche stoße, und wird von ihm im Folgenden näher erläutert (vgl. MS 27). Die Prüfung von Camus sehr knapper Aristoteles-Interpretation, in der er offenbar versucht, mit Aristoteles Thesen wie ›alles ist wahr‹ oder ›alles ist falsch‹ als selbstwidersprüchlich und diese Selbst­ widersprüchlichkeit auf das Denken insgesamt auszuweiten (vgl. MS 27), ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Das Problem scheint jedoch durch die Unterscheidung von Reflexionsebenen lösbar zu sein. Aus dieser knappen Aristoteles-Interpretation auf das Scheitern der klassischen Metaphysik insgesamt zu schließen, überzeugt nicht. Zu beachten ist jedoch, dass Camus hier nicht den Anspruch erhebt, dies argumentativ zu zeigen, sondern davon ausgeht, dass dieses Scheitern bereits Konsens ist und er hier lediglich Bekanntes knapp darstellt.177 Ohne konkrete Textbezüge kritisiert Camus im folgenden Schritt klassische metaphysische Positionen, etwa die Hegels, die Versuche des Verstehens der Wirklichkeit durch ihre Rückführung auf »Denkbegriffe« (MS 28) sind sowie nach »einem einzigen Prinzip«, dem »Absoluten«, dem »Einen« (MS 28)178 fragen.179 Das Scheitern all dieser Konzeptionen liegt Camus zufolge darin, dass der mensch­ liche Geist jeder Formulierung einer Konzeption von Einheit180 als Zu Parallelen der Methode bei Camus und Descartes vgl. Thurnherr (2004) 265. Die Interpretation Kanns, der zufolge Camus nicht mit der Vernunft, sondern (ausschließlich) mit dem Gefühl argumentiere (vgl. Kann (2013) 55) teilt die Arbeit damit nicht. 177 Die These lautet, dass die Metaphysik sich maßlos überschätzt (vgl. A Pieper (2014) 91). 178 A. Pieper ergänzt hier den Begriff des teleologischen Sinnganzen (vgl. A. Pieper (2014) 85 ff.). 179 Nach Ricœur etwa ist es Aufgabe der Philosophie, »das Prinzip oder Fundament, die Ordnung, den Zusammenhang oder die Bedeutung von Wahrheit und Wirklich­ keit zu sichern« (Ricœur (1979) 585). 180 Gemäß A. Pieper ist das philosophische Problem Camus’ das Problem der Einheit, jedoch nicht im spekulativ-metaphysischen, sondern in einem ethisch-existentiellen Sinne (vgl. A. Pieper (1984) 64). 175

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der diese Formulierende immer noch einmal gegenüber steht (vgl. MS 29) und dass diese fundamentale Differenz durch keine der bisherigen Konzeptionen eingeholt wird und daher, vielleicht, auch prinzipiell nicht einholbar ist. Eine Prüfung dieser sehr skizzenhaften Interpretation der Geschichte der Metaphysik kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Camus entnimmt nun aus dieser Geschichte der Metaphysik ein »Verlangen«, eine »Sehnsucht«, eine »Triebkraft«, ein »Begehren« des »vor seine Welt gestellten Menschen« (MS 28). Der Mensch will die Welt verstehen. Wir brauchten – der Konjunktion 2 ist an dieser Stelle von entscheidender Bedeutung – wir brauchten ein System, ein Prin­ zip, eine metaphysische Konzeption.181 Damit wäre das Denken im wahrsten Sinne des Wortes glücklich und zufrieden (vgl. MS 28). Der »Abgrund« (MS 28) tut sich nun genau auf zwischen diesem Verlan­ gen nach Klarheit und der Wirklichkeit. An dieser Stelle benennt Camus noch nicht den Begriff des Willens als Konstitutiv für den Abgrund des Absurden. Camus geht dabei davon aus, dass das Ver­ langen nach Erkenntnis berechtigt, sogar notwendig ist. Der Mensch muss verstehen oder begreifen wollen, aber die Welt ist nicht ver­ stehbar bzw. unbegreiflich. Für Camus ist das ›Ersticken‹ unserer Hoffnungen durch die Einsicht in das Scheitern der Metaphysik gewiss (vgl. MS 29). »Wollte man die einzig bedeutsame Geschichte des menschlichen Denkens schreiben […] „ (MS 30), so wäre die Geschichte der Metaphysik die Geschichte der zunehmenden Einsicht in ihr Scheitern (vgl. MS 29 f.).182 In gewisser Weise kohärent zum Zustand der Metaphysik ist der Zustand der Wissenschaften.183 Zum einen reduzieren diese das mannigfaltige »bunte Universum« (MS 31) auf letztlich homo­ gene kleinste Teilchen, einen beschreibbaren und klassifizierbaren »Mechanismus« (MS 31) und bieten damit keinen Zugang zur Welt als erlebter Welt (vgl. MS 31).184 Zum anderen ist wissenschaftli­ ches Wissen immer »Hypothese« (MS 31), und damit wesentlich Der Mensch bedarf im Grunde des Absoluten (vgl. Hüsch (2014b) 58). Baltzer-Jaray nennt das Absurde den »Elefanten im Raum« (Baltzer-Jaray (2013) 3) der Metaphysik. 183 In dieser Hinsicht teilt die Arbeit die These Veits über die Kompatibilität von Absurdität und wissenschaftlichem Weltbild (vgl. Veit (2018) 213). Dies bedeutet jedoch genau nicht die Überwindung der Philosophie der Existenz. 184 Löwith sagt, der moderne Existenzbegriff sei negativ vom Naturbegriff des modernen Menschen abhängig (vgl. Löwith (1979) 551). 181

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fallibel und kein wahres Wissen im ursprünglich philosophischen Sinn. Auf der Suche nach den kleinsten Teilchen wird Wissenschaft Camus zufolge zunehmend metaphorisch185 und damit ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht (vgl. MS 31). Auch die Wissenschaften bie­ ten dem Menschen keine Erkenntnis, kein »ergreifen« (MS 32) der Welt.186 Gegenüber dieser Darstellung des Scheiterns von Erkenntnis formuliert Camus drei Gewissheiten: 1. 2. 3.

Ich Welt Sterblichkeit.

Das Ich ist introspektiv »sicher« (MS 30), aber nicht fassbar, nicht definierbar. Es ist nicht lediglich die Summe seiner Charakteristika. Dass ich bin, ist gewiss, nicht aber, wer oder was ich bin. »Ich werde mir selbst immer fremd bleiben« (MS 30). Unser einziger Zugang zur Welt erschließt gleichsam lediglich das ›dass‹ ihrer Existenz: »Die Welt kann ich berühren, und daraus schließe ich, dass sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruktion« (MS 30). Ein differenzierter Zugang, ein Erschließen und Begreifen der Welt durch Metaphysik oder Wissenschaft ist nicht möglich. Wissen, das nicht wahr, sondern Konstruktion ist, ist philosophisch wertlos.187 »Ich kenne noch eine Gewissheit: der Mensch ist sterblich« (MS 29). Camus erläutert diesen Satz nicht. Vermutlich geht er aber ebenso von einem aus der Perspektive der ersten Person Singular introspektiven Zugang im Angesicht des Lebens aus, der auch ohne die Möglichkeit metaphysischen oder wissenschaftlichen Wissens gewiss ist. Das Bemerkenswerte ist nun Camus zufolge, dass der Mensch aus dieser Situation keine »Schlüsse« (MS 29) zieht. Im Alltag ist uns die Rätselhaftigkeit unserer unbegreiflichen Existenz im Universum kognitiv klar, aber wir leben nicht dementsprechend. Unsere Unwissenheit ist »vorgetäuscht« (MS 29). Faktisch leben wir, als ob wir wüssten. Was »unser ganzes Leben erschüttern müsste […]« (MS 29) tut dies zumeist nicht. Im alltäglichen Leben werden wir der Realität eines »Risses« (MS 29), eines sich auftauenden 185 Zur Bedeutung von Metaphern in den sogenannten strengen Wissenschaften vgl. auch Kuhn (1997) 196. 186 Zum Scheitern jeder Form von Erkenntnis oder Wissen bei Camus vgl. Stan (2011) 68. 187 Vgl. dazu Thurnherr (2011) 266.

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Abgrunds, nicht gerecht. Sollte der Abgrund wahr sein und das Leben im Verhältnis zum Wahren gelingen, dann misslingt das Leben in der Alltäglichkeit. Die dritte Gewissheit, die Sterblichkeit, deutet bereits hier den Weg hin zu einem Gelingen an. Hervorzuheben ist zudem, dass nicht nur der Alltagsmensch, sondern auch der Wissenschaftler sich zwar ›im Hinterkopf‹ des Problems bewusst ist, dass es kein siche­ res Wissen gibt, dass all sein wissenschaftliches Wissen hypothetisch und fallibel ist, dass man sich jedoch in der wissenschaftlichen Praxis tatsächlich so verhält, als ob es diese grundlegende Unsicherheit allen Tuns nicht gäbe. Die theoretische Erschütterung der Wissenschaften spielt in der Wissenschaftspraxis kaum eine Rolle. Aus seiner Analyse von Metaphysik und Wissenschaft schließt Camus auf die Erkenntnis des Absurden durch den Verstand188 (vgl. MS 32). Während für Camus’ erste Annäherung an das Absurde der Begriff der Erfahrung zentral war, formuliert er nun die These der Wahrheit des Absurden als Erkenntnis189 des Verstandes, begrün­ det durch die Unmöglichkeit wahrer Erkenntnis. Er vergleicht die Situation des Menschen in der Welt mit jemandem, dessen »Erobe­ rungslust an Mauern stößt« (MS 32), eine für ihn zentrale Metapher für die Situation des Menschen in der Welt. Wir wollen erkennen bzw. begreifen, aber wir scheitern. Der Begriff der Eroberung deutet an dieser Stelle an, dass vielleicht auch, gegen Camus, ein friedli­ cherer Umgang mit der oder Zugang zur Welt als alternative Kon­ zeption denkbar ist. Camus formuliert zusammenfassend, die Welt sei absurd (vgl. MS 32), korrigiert aber sofort, absurd sei nicht die Welt, sondern der »Zusammenstoß« (MS 33), also das Verhältnis oder die Beziehung zwischen Mensch und Welt, zwischen dessen »heftigem Verlangen nach Klarheit« (MS 33) und dem, was sich ihm biete, dem Scheitern jedes Versuchs philosophischer Erkenntnis. Die Wahrheit des Abgrunds ist also Ergebnis der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt.190 Damit, so Camus, verbinde sie beide. Es gebe ein »vorerst […] einziges Band« (MS 33) zwischen Mensch und Welt. Die Struktur diese Argumentation ist »intelligence« (MS frz. 38). Die Arbeit teilt damit nicht A. Piepers Interpretation des Absurden als Prämisse Camus’ (vgl. A. Pieper (1984) 180). 190 Die Arbeit teilt auch nicht die laut Bowker heute dominierende Deutung des Absurden als Verhältnis von Kultur und Natur (vgl. Bowker (2011) 88). Diese Deutung müsste sowohl ihren Natur- als auch ihren Kulturbegriff klären. 188

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die zentrale Argumentationsfigur des Hauptwerks des französischen Philosophen: Dass es keinen Zugang gibt, ist eine Art von Zugang. Das Begreifen von Unbegreiflichkeit ist ein Begreifen. Die Erkenntnis der Unmöglichkeit der Erkenntnis ist Erkenntnis. Diese Grundfigur benennt Camus bereits zuvor quasi nebenbei, in der Diskussion um die Bestimmung des Ich: »In der Psychologie und Logik gibt es Wahrheiten, aber keine Wahrheit« (MS 30).191 Camus hält an dem Begriff der Wahrheit im Singular der metaphysischen Tradition fest. Er formuliert, wie bereits im vorangegangenen Kapitel, erneut, dass, wenn die Absurdität wahr ist, der Mensch sein Verhalten von ihr in einem normativen Sinne und damit im Sinne einer Idee eines gelin­ genden Lebens bestimmen lassen sollte (vgl. MS 33). Metaphorisch identifiziert er die Wüste als Wüste und fragt im zweiten Schritt, ob in ihr etwas gedeihen könne (vgl. MS 33). Die Frage nach dem gelingen­ den Leben angesichts des Absurden ist die Frage nach der Möglichkeit des Lebens in einer eigentlich lebensfeindlichen Situation. Gelingen bedeutet, »das Herz zu verbrennen« (MS 34), auf das Sinnverlangen zu verzichten. Mit dem Ziel, seine eigene Position in der Abgrenzung zu Gegen­ positionen zu schärfen, analysiert Camus, was sich in der ›Wüste‹ abspielt, an dem Punkt der Geschichte des Denkens also, an dem wir sowohl affektiv als auch denkend die absurde Grundstruktur zwischen Mensch und Welt eingesehen haben. Spielarten eines Ratio­ nalismus, die mit Konzeptionen wie »wahre Erkenntnis« (MS 30), »allgemeine, praktische oder moralische Vernunft« (MS 32), »Kate­ gorien« (MS 32) oder »System« (MS 34) auftreten und damit aus Camus’ Sicht überkommene philosophische Positionen wieder stark machen wollen, haben für ihn »etwas Lächerliches« (MS 32), da sie die »tiefe Wahrheit« (MS 32) leugnen. In der immer wiederkehrenden Attraktivität dieser Konzeptionen sieht Camus den Beweis für das tiefe Verlangen des Menschen nach Erkenntnis und damit für eine konstitutive Seite seiner eigenen Theorie des Absurden. Im Gegensatz zur Verstandeserkenntnis des Absurden sei die Vernunft blind, »tut vergeblich so, als wäre alles klar« (MS 32). Camus selbst wünscht sich, dass diese Position recht habe, aber er vermutet, dass seine eigene Position – leider – korrekt ist (MS 32).

191 Die Interpretation Pascals bleibt bei dieser These stehen (vgl. Pascal (1998) 173), die Position Camus’ jedoch genau nicht.

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Während Camus sich hier deutlich vom Vernunftbegriff abgrenzt, formuliert er zwei Seiten darauf gegen den Rationalismus, dieser bringe die »Vernunft zum straucheln« (MS 34), beansprucht also affirmativ einen Vernunftbegriff192, wie auch bereits zuvor den Erkenntnisbegriff, für seine eigene Konzeption.193 Von der Gegen­ seite, Konzeptionen des Irrationalen, grenzt sich Camus dagegen nur insoweit ab, wie diese Theorien »die Rechte des Irrationalen vertei­ digten« (MS 34), die er »Tradition des gedemütigten Denkens« (MS 34), oder, wie noch zu zeigen sein wird, philosophischen Selbstmord nennt. Camus verteidigt gegen den Rationalismus oder die Metaphy­ sik im klassischen oder neuzeitlichen Sinne das Irrationale, aber gegen irrationale Konsequenzen aus der Einsicht in die Irrationalität wiederum das Rationale. Er sucht einen rationalen Umgang mit dem rational erkannten Irrationalen, dem in seinem Sinne Absurden. Es gilt zusammenfassend festzuhalten, dass Camus im zweiten Schritt die Geschichte der Metaphysik als Geschichte der zunehmen­ den Einsicht in ihre Unmöglichkeit und damit in das in seinem Sinne Absurde als Abgrund zwischen menschlichem Erkenntnisver­ langen und Welt interpretiert. Angesichts des Scheiterns von sowohl Metaphysik als auch, an ihrem ursprünglichen Anspruch gemessen, der Wissenschaften bildet das Absurde die neue kohärente Konzep­ tion des menschlichen Weltverhältnisses, die damit auch die Grund­ lage für eine philosophisch-normative Konzeption des gelingenden Lebens bieten soll.

1.3 Das Absurde in der Philosophie des Nachidealismus und der Moderne Der nun folgende dritte Schritt soll die Analyse Camus’ nachzeichnen, welche den Anspruch hat zu zeigen, dass eine Reihe nachidealistischer und moderner Positionen seine Diagnose des Absurden als »gemein­ sames Klima« (MS 36) teilen. 192 Müller-Lauter interpretiert das Absurde als Induktionsschluss (vgl. Müller-Lau­ ter (1975) 125 f.), Bondy als weder logisch noch dialektisch (vgl. Bondy (1975) 221). A. Pieper weist beide Interpretationen zurück. Camus rekonstruiere das Absurde rational und gelange zu einer Antinomie als Letztpunkt (vgl. A. Pieper (1994) 7 Fuß­ note 5). 193 Camus will rational zeigen, dass der traditionell-metaphysische Rationalismus nicht rational ist (vgl. Sagi (2002) 59).

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Nietzsches Also Sprach Zarathustra und Kierkegaards »Krank­ heit zum Tode« bilden für Camus den Beginn des in seinem Begriff »absurden Denkens« als »Angriff auf die Vernunft« (MS 35). Bemer­ kenswert sind hier zwei Aspekte: Leicht zu übersehen ist, dass Camus hier nicht den Buchtitel, sondern den Ausdruck »Die Krankheit zum Tode« (MS 35)194 zitiert. Es ist zum einen zu vermuten, dass Camus sich bewusst bei dieser ersten Nennung Kierkegaards auf das Spätwerk Kierkegaards bezieht, weil es für ihn von zentraler Bedeutung ist. Dazu scheint Kierkegaards Begriff der Krankheit für ihn ein zentraler Anknüpfungspunkt zu sein. Camus zitiert aus der Krankheit zum Tode ohne Quellenangabe: »[...] seit Kierkegaards ›Krankheit zum Tode‹ [...] die zum Tode ist, bei der der Tod das Letzte und bei der das Letzte der Tod ist […]« (MS 35)195. Der zweite wichtige Aspekt ist, dass Camus seine These, dies sei der Beginn des in seinem Sinne absurden Denkens, sofort relati­ viert. Es sei »zumindest« (MS 35) der Beginn, von dem an sich »The­ men des irrationalen und des religiösen Denkens einander ab[lösen]« (MS 35). Diese »Nuance« (MS 35) hebt Camus ausdrücklich hervor. Das ›und‹ zwischen irrational und religiös ist dabei, das wird aus dem vorherigen Halbsatz »die bezeichnenden und quälenden Themen des absurden Denkens« (MS 35) klar, logisch nicht als Gegensatz zu verstehen. Das Religiöse ist für Camus irrational. Camus verortet bei Kierkegaard und Nietzsche also den Beginn eines Denkens gegen Rationalismus und Systemphilosophie, an dessen Diagnose er mit seiner Konzeption des Absurden anknüpfen möchte, gegen deren (wohl mit Ausnahme der Position Nietzsches) Konsequenzen er aber seine eigene Idee des gelingenden Lebens formulieren wird. Die Positionen »von Jaspers bis Heidegger, von Kierkegaard bis Schestow, von den Phänomenologen bis Scheler« (MS 35) interpre­ tiert Camus als in Methoden und Zielen einander entgegengesetzt, aber darin verbunden, »die Königsstraße der Vernunft zu sperren und die geraden Wege zur Wahrheit wiederzufinden« (MS 35). In diesem vernunftkritischen Element sieht er den gemeinsamen Zug dieser Positionen des 19. und 20. Jahrhunderts, an die er in diesem Sinne anschließen möchte. Die entdeckte Wahrheit wird dabei mit Negativ­ begriffen charakterisiert: »[...] sie alle sind von diesem unaussprech­ »la maladie mortelle« (MS frz. 41). Das Zitat stammt aus KT 37, Camus nimmt es jedoch aus dem Zusammenhang. Kierkegaard präzisiert seinen Begriff der Verzweiflung im folgenden Absatz »noch bestimmter« (KT 37) mit Blick auf das Gottesverhältnis des Einzelnen.

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lichen Universum ausgegangen, in dem Gegensatz, Widerspruch, Angst oder Ohnmacht herrschen. [...] Auch für sind ohne Zweifel vor allem die Schlüsse wichtig, die sie aus diesen Entdeckungen ziehen konnte« (MS 35). In einer Nebenbemerkung erläutert Camus an dieser Stelle wich­ tige Aspekte des seinem Ansatz zugrundeliegenden Verstehensbe­ griffs. Er setze diese Gedankengänge (der Existenzphilosophen) »als bekannt und durchlebt voraus« (MS 35). Verstehen bedeutet damit für Camus nicht lediglich kennen, sondern durchleben. Der Mythos des Sisyphos richtet sich damit nicht an einem abstrakten Leser, einen Reviewer oder eine abstrakte Scientific Community, sondern an einen konkreten Menschen, der in seinem Leben philosophische Positionen durchlebt. Dazu schließt diese Passage an die Formulierung der »evidenten Tatsachen« (MS 26) an. Camus geht davon aus, an eine Denkbewegung anzuknüpfen, die das Wahre als die Erfahrung des Negativen fasst, das durch den Einzelnen nachvollzogen werden muss, und sich mit dieser Position, gegen die Systemphilosophie, sozusagen auf dem ›Forschungsstand‹ der Philosophie zu befinden. Sein Anspruch ist zu zeigen, dass er an die Zeitdiagnosen anderer Denker anknüpft und von dort aus weiterdenkt. Camus’ Auseinander­ setzungen mit Heidegger, Jaspers oder Husserl werden nur skizziert. Sie sind nicht Thema dieser Arbeit und behalten den Status als Camus’ Interpretationshypothesen. Zentral in Heideggers Sein und Zeit ist für Camus die Einsicht in die Ursprünglichkeit der Endlichkeit und die Angst als »Klima des klarsehenden Menschen« (MS 36), welche sein Gegenpart, der »Durchschnittsmensch in sich zu unterdrücken und zu ersticken sucht« (MS 36). Ebenso affirmativ knüpft Camus an Heideggers Interpretation des Gewissensphänomens an (vgl. MS 37) und ver­ knüpft die Bewegung »aus der Verlorenheit an das Man«196 (MS 37) mit seiner eigenen Metaphorik des Aufwachens. Gelingen bei Heidegger ist nach Camus ein Sich-Halten »in dieser absurden Welt« (MS 37), ein Begriff, den Camus zum Ende des ersten Unterkapi­ tels ebenso für seine eigene Konzeption gebrauchte (vgl. MS 19), ein Suchen eines Wegs »mitten durch Trümmer« (MS 37). Camus scheint also sowohl im Hinblick auf die Diagnose des in seinem Sinne Absurden als auch im Hinblick auf eine mögliche Konzeption des gelingenden Lebens affirmativ an diese Teile aus Heideggers 196

Heidegger, SuZ 364, zitiert nach MS 37.

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Hauptwerk anschließen zu wollen. Korrigieren müsste man an dieser Stelle mit Blick auf Camus, dass für ihn an diesem Punkt seiner Argumentation nicht die Welt absurd ist, sondern das Verhältnis Mensch – Welt. Der Bezug auf Heidegger ist hier aber trotzdem positiv gemeint, also lediglich unpräzise formuliert. In einer äußerst knappen Auseinandersetzung mit Jaspers fasst Camus das Absurde bereits zum Ende des ersten Unterkapitels als ein Aufdecken der Unmöglichkeit, »die Einheitlichkeit der Welt zu begründen« (MS 18). Dies sei der Ort, an dem das Denken seine äußerste Grenze erreiche, die »letzte Windung, an der das Denken schwankt« (MS 18). Hier knüpft er nun an, interpretiert die Situation des Menschen in der Welt nach Jaspers mit seiner eigenen Metaphorik der Wüste als Einsicht in das Absurde. Jaspers decke die Mängel aller Systeme auf, wisse, dass Scheitern am Ende des Geistes stehe (vgl. MS 37). Bemerkenswert ist die Einsicht in das Absurde als Verlust von Naivität. Nicht nur die Alltäglichkeit, auch die hochdiffe­ renzierte Systemphilosophie zeige sich im Nachhinein als ein naives Unterfangen. Die Unmöglichkeit der Erkenntnis sei erwiesen (vgl. MS 37). Auch hier wird sich im Folgenden noch zeigen, dass Camus’ eigene Konzeption differenzierter ist als er diese hier im Vergleich mit Jaspers darstellt. Nicht die Unmöglichkeit der Erkenntnis ist erwie­ sen, sondern das Scheitern aller bisherigen Versuche. Abgrenzend formuliert Camus, dass für Jaspers »das Nichts die einzige Realität und die ausweglose Verzweiflung die einzig mögliche Haltung zu sein scheinen« (MS 37) und dass Jaspers versuche, den Faden hin zum Göttlichen wiederzufinden. Camus sucht einen anderen Ausweg. Auch Schestows Konzeption schreibt Camus die Metapher der »Wüste« (MS 38) zu, welche damit eine zentrale Metapher für seine Konzeption des Absurden zu sein scheint. Die Frage nach dem gelin­ genden Leben wird damit zur Frage nach der Möglichkeit des Lebens in einer an sich lebensfeindlichen Umgebung, der wahren Welt hinter den Kulissen der Alltäglichkeit und den Illusionen der Systemphiloso­ phie. Es folgt der erste Teil seiner Kierkegaard-Interpretation: Kierke­ gaard sei »vielleicht der anziehendste von allen« (MS 38). Camus räumt dem dänischen Philosophen damit eine herausgehobene Stel­ lung in der Reihe der von ihm hier rezipierten Denker des 19. und 20. Jahrhunderts ein. Grund sei, dass Kierkegaard selbst, »wenigstens für einen Teil seiner Existenz« (MS 38), mehr tue, als das Absurde nur zu entdecken, er lebe es. Damit vertritt Camus zwei Thesen: Zum einen

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die These, Kierkegaard habe das in seinem, Camus’, Begriff Absurde entdeckt. Der Verweis auf das Leben Kierkegaards besagt zudem, dass Kierkegaard das Absurde im Sinne von Camus’ ›Verstehen als Durchleben‹ verstanden hat. Kierkegaard ist in diesem Sinne selbst von der Krankheit betroffen. Das darauf folgende Zitat »Die sicherste Stummheit ist nicht das Schweigen, sondern das Sprechen« (MS 38) stammt nicht von Kierkegaard, sondern aus dem Vorwort des Herausgebers der französischen Ausgabe der Krankheit zum Tode, der sich seinerseits auf einen Tagebucheintrag Kierkegaards bezieht.197 Dies ist zunächst einmal ein Beleg für die durchgehend unsaubere Arbeit Camus’ mit den Primärtexten. Worauf sich Camus’ These, Kierkegaard vergewissere sich zunächst, dass keine Wahrheit absolut und die an sich unmögliche Existenz befriedigend machen könnte (vgl. MS 38), bezieht, bleibt unklar. Camus interpretiert darauf die pseu­ donyme Schriftstellerei Kierkegaards, einen zentralen Streitpunkt der gegenwärtigen Kierkegaardforschung198, als Vervielfachung von Widersprüchen (vgl. MS 38) und damit als Teil der Darstellung des Absurden.199 Kierkegaard schreibe, so offenbar Camus’ Interpre­ tation, sich widersprechende Texte wie die »Erbaulichen Reden« und das »Tagebuch eines Verführers«, weil keine Wahrheit absolut, weil das Ganze absurd sei. Kierkegaard lehne jeden Trost, jede Moral, alle beruhigenden Grundsätze ab (vgl. MS 38). Camus zitiert hier nicht die Autoren der pseudonymen Schriften, etwa Anti-Climacus oder Johannes de Silen­ tio, sondern skizziert, das ist an dieser Stelle eindeutig, eine Position Kierkegaards hinter den pseudonymen Schriften, deren Autor dieser ist. Er lindere den Schmerz nicht, er wecke ihn: »Im Gegenteil: er weckt ihn [Bezug: den Schmerz] und entwickelt mit der verzweifelten Freude eines freiwillig Gekreuzigten Stück um Stück Hellsichtigkeit, Verwei­ gerung, Komödie und eine Kategorie des Dämonischen (MS 38 f.).« Die Verben dieses Absatzes sind ›wecken‹ und ›entwickeln‹. Camus interpretiert hier das Werk Kierkegaards als ein Entdecken und Ent­ wickeln des in Camus’ Sinne Absurden hin zum Begriff des Dämoni­ schen, der das abschließende Kapitel des ersten Teils der Krankheit zum Tode bildet, auf das, nach Camus, Kierkegaards Entdeckung hin­ ausläuft. Darüber hinaus gibt Camus keine weiteren konkreten Text­ Vgl. MS Endnote 33 des Herausgebers. Vgl. dazu ausführlich Schwab (2012). 199 In der Kierkegaardforschung deutet Sagi das Spiel der Pseudonyme als Reflexion der ontologischen Struktur der menschlichen Wirklichkeit (vgl. Sagi (2000) 61). 197

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bezüge. Da Camus’ erste Kierkegaard-Rezeption mit einem Verweis auf die Krankheit zum Tode beginnt und die Entdeckung des Absurden bei Kierkegaard auf ein Schlusskapitel darin hinausläuft, ist davon auszugehen, dass das Hauptwerk Kierkegaards in diesem Kontext von zentraler Bedeutung ist. Camus fährt fort: »[...] diese Kapriolen, denen ein Schrei aus tiefster Seele folgt, sind der absurde Geist selbst im Kampf mit einer Wirklichkeit, die stärker ist als er« (MS 39). Dass die Wirklichkeit stärker sei, ist hier die zentrale These Camus’. Kierkegaard entdecke das Absurde, sei aber zu schwach, dieser Einsicht in die Wirklichkeit standhalten zu können. Camus schließt diese Analyse wie folgt: »Und auch das geistige Abenteuer, das Kierkegaard in seine geliebten Skandale verwickelt, beginnt im Chaos einer Erfahrung, die ihrer Kulissen beraubt und ihrer ursprünglichen Zusammenhanglosigkeit preisgegeben ist« (MS 39). Zur Beschreibung der Entdeckung des Absurden bei Kierkegaard nutzt Camus also seine eigene Metaphorik des Zusammenbruchs der Kulissen, als Einsicht in das vormals ver­ deckte ursprünglich Wahre.200 Für Camus ist das Zusammenhanglose das Wahre. Er schreibt Kierkegaard also die Entdeckung des in seinem Sinne Absurden zu. In einem letzten Schritt dieser Skizze eines gemeinsamen Klimas reiht Camus auch den Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, in die Reihe der Positionen ein, deren Vernunftkritik er sich anschließen möchte. »Auf einer ganz anderen Ebene« (MS 39) als etwa bei Kierkegaard zeige sich bei Husserl durch das paradoxe Privi­ legiert-Sein von »allem« im Phänomenreichtum das »Unmenschliche […]« (MS 40). Der Versuch, auch bei Husserl die Entdeckung des Absurden aufzuweisen, ist eine hochinteressante Interpretationshy­ pothese der klassischen Phänomenologie, deren Untersuchung den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen würde.201 Camus selbst fasst sein Ergebnis dieser knappen Auseinander­ setzung mit nachidealistischen und modernen philosophischen Posi­ tionen wie folgt zusammen: Er geht von einer Übereinstimmung, zumindest einer großen Schnittmenge aus. Man befinde sich nach 200 Camus’ knappe Interpretation deckt sich mit Forschungspositionen, die Die Krankheit zum Tode als Phänomenologie des Nihilismus interpretieren (vgl. Rasmus­ sen (2017) 203 ff.), unterschlägt jedoch in ihrer Kürze den Kontext der Analysen und damit des Werks insgesamt. 201 Vgl. dazu etwa Heffernan (2013). Zur These der Nähe Camus’ zu Derrida ausge­ hend von ihrer Rezeption Husserls vgl. Sharpe (2015) 150 ff.

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dem Zusammenbruch der Vernunftphilosophie an einem »bitteren und privilegierten Ort« (MS 40), den Camus bereits mehrfach mit dem Bild der Wüste besetzt. Er verknüpft nun einen metaphorischen »Schrei« (MS 40) dieser Position mit der zuvor bereits benutzten Metapher des Aufwachens für die Einsicht in die absurde Grundstruk­ tur. Der wache Geist treffe auf Widersprüche und Mauern. Ebenso greift er das Bild der »äußersten Grenzen« (MS 40) wieder auf, an denen man sich denkend befinde. Das Absurde entstehe auf dem Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem Schweigen der Welt. Diese Wüste dürfe man nicht wieder verlassen (vgl. MS 41). Dieser Begriff des Nicht-Dürfens impliziert wieder das norma­ tive Sollen, das Albert Camus für eine Konzeption des doch gelingen­ den Lebens des modernen Menschen ausweisen will. Camus fragt nach der »Antwort« (MS 40) die der Geist geben, nach dem folgerich­ tigen Schluss, den er ziehen muss. Bemerkenswerterweise schlägt Camus nun für diese Aufgabe, einen folgerichtigen Schluss auszuwei­ sen, folgendes Vorgehen vor: »Ich will jedoch umgekehrt vorgehen« (MS 40, Hervorhebung JA). Der Autor zieht also keinen Schluss, obwohl er diesen mehrfach andeutet, sondern er will aus der oder gegen die Analyse der bisher gezogenen Schlüsse heraus seinen eige­ nen Schluss ziehen. Camus möchte seine eigene Position also letztlich nicht direkt ausweisen, sondern als Gegenentwurf zu Negativfolien, zu in seinen Augen verfehlten Konzeptionen darstellen.202 Die Ana­ lyse und Verneinung der Fehlschlüsse misslungener Konzeptionen führt zum richtigen Schluss. Dieses Vorgehen, der Schluss auf das Seinsollende durch Verneinung des Falschen ist methodisch-negati­ vistisch. Konkret bedeutet dies, dass Camus glaubt, seine Position in der Ablehnung der Position Kierkegaards präzise fassen zu können. Der Mensch findet sich in einer an sich lebensfeindlichen Situa­ tion wieder. Die Adjektive bitter und privilegiert, analog negativ und wahr, fallen zusammen. Für Camus’ eigene Konzeption des gelingenden Lebens in dieser Situation deutet sich jetzt bereits die Halt-Metaphorik als ein reflexives ›Sich-Halten‹ als zentral an. Ange­ sichts der vielen Vorgriffe Camus’ auf seine eigene Konzeption stellt sich jedoch die Frage, in welcher Hinsicht die Negativanalysen für seine eigene Konzeption konstitutiv sind, welche Teile also von der 202 »Der Mythos des Sisyphos befasst sich primär mit einer Untersuchung anderer Antworten auf das Absurde [...]« (Foley (2008) 8), präziser gefasst, mit einer Untersuchung verkehrter Antworten.

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Sache her notwendig sind und welche (lediglich) der Darstellung dienen, insofern diese Bereich trennbar sind. Camus beginnt das Unterkapitel ›Der philosophische Selbst­ mord‹ zunächst mit einem Gedanken, der noch an das Vorherige anschließt, dem Versuch einer »direkten Analyse« (MS 43) des Begriffs des Absurden, mit dem Ziel, die eine Theorie zu präziser zu fassen. Anhand einer Reihe konkreter lebensweltlicher Beispiele illustriert er, dass das Absurde nicht auf einer einfachen Prüfung einer Tatsache, sondern wesentlich auf einem Vergleich beruht. Je größer der Abstand zwischen den Vergleichsobjekten, desto größer sei die Absurdität (vgl. MS 44). Das Absurde ist wesentlich eine Entzweiung. Es ist weder in einem noch in anderen der verglichenen Elemente enthalten. Es entsteht durch deren Gegenüberstellung. Auf der Ebene des Verstandes kann ich also sagen, das Absurde liegt weder im Menschen [...] noch in der Welt, sondern in ihrer gemeinsamen Präsenz. Das ist zunächst das einzige Band, das sie verbindet. Wenn ich mich an augenscheinliche Tatsachen halten mag, dass weiß ich, was der Mensch will und was die Welt ihm bietet (MS 44).

Camus schließt, dass das Absurde als »[s]eine erste Wahrheit gelten kann« (MS 45). Dieser Schluss ist zentral203 für seine gesamte Konzeption204, sowohl für seine Diagnose als auch für seine Theorie des Gelingens als »festhalten«, als »respektieren« (MS 45) dieser Wahrheit. Aus der Diagnose der Unmöglichkeit wahrer Erkenntnis, aus dem Scheitern der Metaphysik folgert Camus eine erste wahre Erkenntnis205 und schließt an diesem Punkt an die metaphysische Tradition an.206 Camus schließt auf eine erste rein negative metaphy­ sische Wahrheit: »Es gibt einen [...] moralischen Tatbestand, dass ein Mensch immer Gefangener seiner Wahrheiten ist. [...] Ein Mensch, dem das Absurde bewusst geworden ist, bleibt für immer daran gebunden« (MS 46). Im nächsten Schritt führt Camus die Begriffe

Vgl. dazu Sharpe (2015) 181 f. In einer guten Interpretation nennt Thurnherr dies die »Pointe« (Thurnherr (2011) 267) Camus’. 205 Sartre nennt Camus daher einen »Cartesianer des Absurden« (Sartre, PP 103). Für die Gegenthese der Relativität des Absurden bei Camus vgl. Kann (2013) 56. 206 Die Arbeit interpretiert das Werk Camus’ durchaus anti-theologisch, jedoch nicht in dem postmodernen Sinn, in dem Berthold den Begriff verwendet (vgl. Berthold (2013b) 149). 203

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Moralität und Wahrheit eng. Moralisch richtig ist ein aufrichtiges Verhältnis zur Wahrheit.207 Misslingendes Leben sei demnach »alles« (MS 46), was das Absurde »vernichtet« (MS 46), jede Form von Hoffnung, Auflösung des Absurden oder Entlastung des Menschen. Gelingendes Leben ist das Nicht-Nichten des Absurden als rein negativer wahrer Tiefenschicht Lebens.208 Das Argument: »Wenn ich ein Problem lösen will, dann darf ich durch diese Lösung zumindest nicht einen Bestandteil des Problems verschwinden lassen« (MS 45), ist nicht schlüssig, ist aber nicht das eigentliche Argument, das Camus hier vorbringt. Der zweite Schritt ist der unproblematischere. Kann eine erste Wahrheit ausgewiesen werden, ist eine Konzeption des gelingenden Lebens als Nicht-Nichten der Wahrheit nach dem Muster Camus’ zumindest in dieser Negativformulierung herleitbar, wenn der Wert dieser ersten Wahrheit als Prämisse vorausgesetzt ist. Der entscheidende Schritt ist der erste. »Das Absurde entsteht aus diesem Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schwiegen der Welt« (MS 41). Dieser »Ruf«, davor gefasst als »Warum«-Frage (MS 23), wird an der eben zitierten Stelle zum ersten Mal auf den Begriff des Willens gebracht (vgl. MS 44). Der Mensch will etwas – eine Antwort, sichere Erkenntnis –, das die Welt ihm nicht bietet. Die Frage ist, ob der Mensch dies wollen muss, da dieses Wollen konstitutiv für das Absurde ist. Wenn er nicht wissen will, wäre sein Verhältnis zur Welt nicht absurd. Es tun sich hier zwei Fragehorizonte auf: Zum einen gilt es zu fragen, ob die Frage, auf

207 Wenn Hackel an diese Stelle fragt, was damit gewonnen sei (vgl. Hackel (2011) 406), so impliziert sie einen Begriff des Gelingens als Gewinnens von etwas, den Camus nicht teilt. 208 In der Forschung wird hier wiederholt die These des Wertes des Lebens bei Camus vertreten (vgl. etwa Whistler (2018) 54). A. Pieper sagt, es gelte das Absurde um des Menschen und des Wertes des Lebens aufrechtzuerhalten (vgl. A. Pieper (1984) 107, 110). Zum Wert des Humanen bei Camus vgl. auch Bianchi (2018) 153. Der Wert des Lebens ist bei Camus jedoch nicht primär oder grundlegend, sondern abgeleitet aus der konstitutiven Funktion des Lebens für die erste Wahrheit des Absurden als Grund von Existenz. Camus’ Ethik ist in diesem Sinne nicht »humanistisch« (Whistler (2018) 60), sondern negativ. Hackel schreibt, Camus’ Begründung des Wertes des Lebens überzeuge hier nicht (vgl. Hackel (2011) 405 Fußnote 64), aber dies ist genau nicht der erste begründete Wert Camus’. H.-J. Piepers Interpretation, das Absurde wach zu halten impliziere den Wert des Lebens (vgl. H.-J. Pieper (2013) 112) ist möglich, der entscheidende Begründungsweg ist aber der Wert der Wahrheit des Absurden.

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die es offensichtlich keine Antwort gibt, nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig ist. Ist der Mensch an diesem Punkte frei oder muss er erkennen oder begreifen wollen – und ist das das eigentliche Problem, die eigentliche Sisyphos-Aufgabe?209 Die zweite Frage fragt nach einer zweiten Ebene: Muss er weiter erkennen wollen, nachdem wir eingesehen haben, dass das offensichtlich zu »nichts« (MS 22) führt? Oder gibt es Alternativen? Müssen wir das auf Gedeih und Verderb durchhalten, auch wenn absehbar ist, wohin das Denken führt, oder gibt es einen Punkt, ab dem wir das auch sein lassen können? Ist dieses Wollen-Müssen die große implizite Prämisse Camus’? Und ist sein fester Punkt damit künstlich, da er mittels dieser Prämisse konstruiert ist? Ist Camus dem Prinzip des Willens der Metaphysikgeschichte stärker verpflichtet, als ihm dies bewusst ist? In seiner Auseinandersetzung mit dem Scheitern wissenschaftlicher Erkenntnis skizziert Camus einen ursprünglichen, »berühren[den]« (MS 31, vgl. auch MS 32) Zugang zur Welt, und es stellt sich die Frage, ob wir es nicht, zumindest nach dem Durchgang durch das Absurde, bei diesem Zugang zur Welt einfach belassen können. Sobald hier eine alternative Haltung möglich wird, verschwindet das Absurde als Grundwahrheit. Camus würde diese Alternative verneinen. Er argumentiert auf der modalen Ebene der Notwendigkeit. Der Mensch muss sich, nach Camus notwendigerweise, in der Welt und in seinem Weltverhältnis orientieren, und er muss dieses tiefe Grundbedürfnis nach Orientierung aufrechterhalten. Der Mensch, insofern er nicht auf der Flucht vor sich selbst in die alltägliche Betriebsamkeit versun­ ken ist, fragt wesentlich »Warum?«. Ein Ausweichen, ein Umgehen dieser Frage und ihrer Notwendigkeit ist für Camus ›philosophischer Selbstmord‹ und würde sich in die Reihe der nachidealistischen und modernen Philosophen einfügen, mit denen sich Camus im Folgenden auseinandersetzt. Für ihn ist das schlicht ein Abbruch der Philosophie. Camus impliziert also den Wert der ersten Wahrheit im Singular. Dass wir sie nicht erkennen können konstituiert sie, als Wahrheit des Absurden. Camus’ Erörterungen werfen demnach Fragen nach dem Wert der Wahrheit und der Notwendigkeit des Wissenswollens und damit nach dem dahinterliegenden Welt- und Menschenbild auf. Camus’ Hengelbrock verweist hier auf das biblische Motiv aus dem Buch Genesis: Mit dem Wissen-Wollen verspielt Adam das Paradies, die Harmonie mit sich und der Welt (vgl. Hengelbrock (1984) 24). 209

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Konzeption erscheint in diesem Sinne ›metaphysisch‹, an der philo­ sophischen Frage des Menschen nach der Wahrheit210 festhaltend. Der Mensch ist für Camus in diesem Sinne ein vernünftiges Wesen. Die nach-metaphysische Position ist immer noch metaphysisch.211 Es ist an dieser Stelle nicht Aufgabe dieser Arbeit, diese philosophische Sachfrage zu klären. Sie vermutet aber, dass der Wert der Wahrheit nicht ohne performativen Selbstwiderspruch des Fragenden in Frage gestellt werden kann. Die Position Camus’ scheint in diesem Punkt zumindest keine zu sein, deren philosophischen Gehalt man unter­ schätzen sollte.212 Ergebnis des dritten Schritts ist also, dass Camus seine eigene Konzeption des Absurden als rein negativer erster metaphysischer Wahrheit als gemeinsames Klima der rezipierten Position Positionen auszuweisen versucht. Die Auseinandersetzung mit Kierkegaard setzt bei dessen Begriff der Krankheit an, bietet jedoch einen sehr selektiven Zugang zum Werk, der so viel deutet sich jetzt bereits an, dem Denker insgesamt und dem Kontext des Werks wohl nicht gerecht wird.

2 Sprung Für Camus gibt angesichts der Entdeckung des Absurden zwei mög­ liche Schlussfolgerungen: »Fliehen oder bleiben« (MS 42). Das »Auf­ decken des Gemeinsamen in ihren Schlussfolgerungen« (MS 42) soll zeigen, dass die bisherigen existenzphilosophischen Positionen die Flucht vorschlagen. Ziel des Kapitels ist es, diesen von Camus an die Existenzphilosophie gerichteten Vorwurf des ›Sprungs‹ als nicht gerechtfertigten Übergang vom Absurden zum Religiösen zu rekonstruieren. Die Analyse geht dazu in drei Schritten vor: Ihr Gegenstand ist zunächst der Sprung bei Jaspers und Schestow und darauf aufbauend in einem zweiten Schritt der für Camus zentrale Vorwurf des Sprungs an Kierkegaard. Der dritte Teil analysiert Camus’ Gegenüberstellung der Negation der Enttäuschung bei Husserl und 210 Wenn Golomb das Werk als Überwindung des Nihilismus innerhalb des Nihilis­ mus interpretiert (vgl. Golomb (1995) 172), so ist doch dieser Wert immer schon ange­ nommen. 211 Schaubs Formulierung »Metaphysik ohne Gott« (Schaub (1968) 67) ist durch­ aus treffend. 212 Die Arbeit teilt hier genau nicht die Deutung Hüschs, der zufolge Camus hier hinter post-metaphysische Konzeptionen zurückfalle (vgl. Hüsch (2014b) 69).

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Negation der Erwartung bei Kierkegaard als zwei Negationsbewegun­ gen, gegen die er seine eigene Konzeption gelingenden Lebens fasst. Methodisch reflektiert Camus selbst sein negativistisches Vorge­ hen in diesen Schritten wie folgt: »Nichts ist aufschlussreicher als eine Untersuchung darüber, in welcher Weise die Menschen, die ausgehend von einer Kritik des Rationalismus das absurde Klima erkannten, ihre Schlussfolgerungen weitertrieben« (MS 46).

2.1 Ungerechtfertigter Übergang bei Jaspers und Schestow Zunächst gilt es, Camus’ These des Sprungs bei Jaspers und Schestow zu analysieren, der exemplarischen Charakter hat und die zentralen Begriffe der ›Rechtfertigung‹ und des ›Übergangs‹ einführt, die für Camus’ Vorwurf des Sprungs an Kierkegaard zentral sein werden. Wenn ich mich nun an die Philosophie der Existenz halte, so sehe ich, dass ausnahmslos alle mir die Flucht vorschlagen. Ausgegangen vom Absurden auf den Trümmern der Vernunft [...] vergöttlichen sie durch einen sonderbaren Schluss, was sie niederdrückt [...] Diese erzwungene Hoffnung ist bei allen wesenhaft religiös (MS 46, 47).

Angesichts der Alternative »fliehen oder bleiben« (MS 42) vom erkannten Standpunkt des Absurden plädieren die Existenzphiloso­ phen, so Camus, für die Flucht. Sie nichten die Wahrheit des Absurden durch religiöse Hoffnung – eine Bewegung, die Camus als »Schluss« (MS 47) interpretiert und von dieser Interpretation her angreift. Der Begriff ›Flucht‹ stellt damit in gewisser Weise die Antwort der Exis­ tenzphilosophen zurück auf eine Ebene mit der alltäglichen Betrieb­ samkeit, der Systemphilosophie und dem leiblichen Selbstmord. Es sind Ausweichbewegungen vor etwas, dem man sich eigentlich stellen sollte, das man im Alltag lediglich ahnt, in Einbruchserfahrungen fühlt, in der Systemphilosophie »leugnet« (MS 32) und in der soge­ nannten Existenzphilosophie auf der Ebene des Denkens aufgedeckt hat. Analog zum leiblichen Selbstmord ist (religiöse) Hoffnung für Camus der Selbstmord des Denkens als Schlussfolgerung aus der Einsicht in das Absurde. Typisch für die – in Camus’ Terminologie – Philosophie der Existenz sei Karls Jaspers. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, Camus’ Jaspers-Interpretation zu prüfen. Wichtig ist ihre Darstellung jedoch, da sie die Kritikfigur vorzeichnet, die Camus auch gegen Kierkegaard

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vorbringen wird. Camus zufolge bejaht Jaspers, sich des »durch das Scheitern erschütterten Universums bewusst« (MS 47), »[...] ohne Rechtfertigung […] das Transzendente, das Sein der Erfahrung und den übermenschlichen Sinn des Lebens« (MS 47). Das Absurde werde Gott (vgl. MS 47). Der an dieser Stelle für Camus in der kritischen Auseinandersetzung entscheidende Begriff ist der Begriff der Rechtfertigung. Jaspers’ Schritt von der Diagnose des in Camus’ Sinne Absurden zu einer Affirmation einer Dimension »des Transzen­ denten« (MS 48), die eine positive Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens möglich mache, sei »nicht nachvollziehbar« (MS 48): »Nichts führt der Logik folgend zu diesem Schluss. Ich kann ihn einen Sprung nennen« (MS 48). Entscheidend ist dabei, dass, nach Camus, Jaspers selbst den Übergang vom Absurden zum Religiösen nicht als Problem der Recht­ fertigung oder Nachvollziehbarkeit versteht, sondern im Gegenteil explizit die Nichtnachvollziehbarkeit sogar noch betont (vgl. MS 48). Der »Abstand« (MS 48) zwischen Erklärungsvermögen und Irratio­ nalität des Glaubens entspreche dabei dem Abstand von Erklärungs­ vermögen und Irrationalität der Welt. Die Absurdität des Glaubens in diesem Sinne scheint für Jaspers ein positiver Befund zu sein. »So wird das Absurde Gott« (MS 47). Camus selbst lehnt diese als Position des »gedemütigten Denkens« (MS 48) ab. Für ihn ist im Ausgang von der Diagnose der Absurdität der Existenz eine Konzeption gelingenden Lebens rechtfertigungsbedürftig. In Camus’ Interpretation bejaht Jaspers die Dimension der Transzendenz allein aus dem Grund, dass sie dem Menschen fehle, ohne hier weiter etwas rechtfertigen zu können. Dass wir Gott brauchten – Konjunktiv 2 – ist für Camus genau nicht hinreichender Grund.213 Bemerkenswert ist an dieser Stelle die Betonung Camus’, der Position Jaspers’ ihr Recht einzuräumen. Man darf so denken und genießt das volle Recht auf Toleranz. Es ist jedoch keine Position, die dem »Problem« und den »Bedingungen« (MS 48) der Untersuchung, d.h. der Frage nach Wahrheit und Folgerichtigkeit, gerecht wird. Analog zu Jaspers interpretiert Camus Schestow, der in der menschlichen Ausweglosigkeit Gott als Ausweg sehe, welcher sich in seiner Unbegreiflichkeit und Widersprüchlichkeit offenbare (vgl. Thurnher umschreibt Camus’ Deutung und Kritik des Religionsphänomens tref­ fend mit folgender Analogie: »Das Empfinden von Durst beweist nicht die Existenz einer Quelle« (Thurnher (2003) 138). 213

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MS 49). »Man muss in ihn hineinspringen« (MS 49). Interessant ist an dieser Stelle die Lichtmetaphorik: Mit dem Ans-Licht-Bringen des Absurden leuchte für Schestow die Hoffnung auf. Camus gesteht auch Schestow die Legitimität seiner Position zu, die allerdings den Kriterien von Camus’ Untersuchung ebenfalls nicht gerecht wird. Camus kritisiert genau diese Position, für die die Ausweglosigkeit auf den Ausweg hindeutet, die in der Abwesenheit der Transzendenz ihre Anwesenheit angezeigt sieht. Camus teilt die Kritik am Rationa­ lismus Schestows, aber nicht, in Camus’ Verständnis, dessen Konse­ quenz. Die Verwandlung des Absurden, das wesenhaft »Gegensatz, Zerrissenheit und Entzweiung« (MS 50) sei, in ein »Sprungbrett zur Ewigkeit« (MS 50) ist für Camus gleichbedeutend mit dessen Nichtung, mit einer Ausweichbewegung (vgl. MS 51), eine Flucht vor der Wahrheit und dem Gesollten als ein Sich-Halten. Im Folgen­ den nutzt Camus die Analyse des Sprungs, um das Absurde weiter zu spezifizieren. Der Mensch will verstehen, weil er »viele Dinge verstehen und erklären« (MS 51) kann. Lediglich das Ganze, die Welt, ist ihm unbegreiflich. Die Vernunft sei wirksam, aber begrenzt (vgl. MS 51). Diese Passage löst das scheinbare Paradox auf, dass Camus den Rationalismus, der das Ganze (z.B. als System) begreifen oder erkennen will, kritisiert, gleichzeitig aber das Prädikat der Rationalität für seine eigene Position gegen den Irrationalismus beansprucht. Ein »Übergang« (MS 52) aus dem Scheitern der Metaphysik zum gänzlichen Vorrang des Irrationalen, den er Schestow zuschreibt, sei »nicht überzeugend« (MS 52). Damit verschwinde das Absurde. An dieser Stelle bringt Camus seine Anthropologie zum ersten Mal auf den Begriff »der absurde Mensch« (MS 52). Unter der Prämisse der Wahrheit des Absurden, von der Camus ausgeht, dass er sie gezeigt hat, ist der absurde Mensch der, der in Wahrheit ist. Er ist genau nicht auf der Flucht vor dem, was ihn in Wahrheit ausmacht. »Er ist […] wenig geneigt zu springen, bevor er weiß« (MS 52). Der absurde Mensch geht von einer begrenzten Vernunft, aber einem umfassenden Wissens- und Wahrheitsbegriff aus. Einen Übergang vom Absurden zu einem Begriff von Religion oder Sinn erwartet er durch nachvollziehbare Argumente begründet. Er will wissen und ist bereit, mit dem zu leben, was er weiß, selbst wenn es lediglich die beängstigende Wahrheit des Absurden sein sollte. Der zentrale Begriff, gegen den sich Camus an dieser Stelle wendet, ist der Begriff einer nicht weiter gerechtfertigten Hoffnung.

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Festzuhalten ist, dass Camus Jaspers und Schestow dahingehend kritisiert, den Übergang vom Absurden zum Religiösen nicht recht­ fertigen zu können, und dabei selbst den Standpunkt einer begrenzten aber wirksamen Vernunft vertritt, für die dieser Übergang rechtferti­ gungsbedürftig ist.

2.2 Kierkegaards Sprung Der zweite Schritt besteht nun in der Rekonstruktion des Vorwurfs des Sprungs an Kierkegaard, die direkt an die Kritik Jaspers und Schestows anschließt. Die erste Bemerkung Camus’ gilt dabei dem pseudonymen Schriftstellertum Kierkegaards. Der Autor Kierkegaard sei schwer greifbar (vgl. MS 52). Dennoch, trotz gegensätzlicher Schriften und über allen Pseudonymen, spüre man überall in seinem Werk eine Ahnung und gleichzeitig die Furcht vor einer Wahrheit, die schließlich in den letzten Werken herausbreche. »Das Christentum […] kehrt am Ende in seiner strengsten Gestalt zurück« (MS 53). Damit impli­ ziert Camus folgende Thesen: Im Umgang mit dem Problemfeld der pseudonymen Schriften geht Camus davon aus, dass es letztlich doch die Position Kierkegaards hinter allen Pseudonymen gebe, die sich im explizit christlichen Spätwerk offen zeige. Damit schließt sich Camus denjenigen Interpretationen an, die davon ausgehen, dass Die Krankheit zum Tode das Hauptwerk Kierkegaards ist, von dem her die Position Kierkegaards zu verstehen ist. Die zweite These ist Camus’ zentrale These zur Gesamtinterpretation Kierkegaards: Die Ahnung und gleichzeitige Furcht vor einer Wahrheit. Camus interpretiert Kierkegaard als ein Entdecken und eine Flucht vor der Wahrheit des in seinem Sinne Absurden. Daraus folgt Camus’ zentrale Kierkegaardkritik: Auch Kierkegaard mache den »Sprung« (MS 53), könne also den rechtfertigungsbedürftigen Übergang von der Einsicht in die grundlegende Absurdität des Verhältnisses von Mensch und Welt zum religiösen Glauben nicht rechtfertigen. Camus interpretiert ein religiöses Leben, das sich selbst als gelingendes Leben versteht, als Flucht vor dem eigentlich Gesollten. In der Fußnote erläutert Camus dabei den Anspruch seiner Kierkegaard-Interpretation: Er untersuche nicht die »Philosophie Kierkegaards« (MS 53 Fußnote), er greife sich nur ein Thema heraus und untersuche die Folgerungen. Camus interessiert sich für Diagnose des Absurden und die Konsequenz bei Kierkegaard.

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»Er macht das Absurde zum Kriterium des Jenseits, während es nur ein Bodensatz der diesseitigen Erfahrung ist« (MS 53).214 Nach Camus’ Interpretation ist die »Folgerung […]« (MS 53 Fußnote) Kier­ kegaards aus der Entdeckung des absurden Verhältnisses zwischen Mensch und Welt die Flucht in die christlich-religiöse Existenzform. Dabei werde das Absurde, das in Wahrheit rein immanente Charak­ teristikum des Verhältnisses von Mensch und Welt, von Kierkegaard zum Charakteristikum des Verhältnisses von Mensch und Glaube gemacht.215 Camus zitiert Kierkegaard ohne Quellenangabe: »In seinem Scheitern […] findet der Gläubige seinen Triumph« (MS 53). Mit diesem Übergang tritt eine religiöse Tiefenschicht an die Stelle des Bodenlosen und nichtet damit das ursprüngliche Absurde. Diese »Haltung« (MS 53), so Camus’ zentraler Vorwurf, sei nicht gerechtfertigt. Camus spricht im Folgenden von einer »Methode« (MS 53) Kierkegaards, die durch erneute Analyse des Absurden verständ­ lich werde. Zum ersten Mal skizziert er dabei das Absurde als ein »Gleichgewicht« (MS 54) zwischen dem Irrationalen der Welt und der aufrührerischen Sehnsucht216 nach dem Absurden. Hier scheint ein offensichtlicher Fehler vorzuliegen, da die Sehnsucht der Menschen nicht dem Absurden, sondern dem Verstehen gilt. Im Absurden liegt demnach ein Gleichgewichtspunkt zwischen Mensch und Welt, an dem der Mensch sich halten soll – die Grenze des Denkens217 oder metaphorische Wüste. Kierkegaard, so nun Camus, halte nicht das Gleichgewicht, betrachte nicht das Verhältnis Mensch – Welt, das das Absurde ausmache (vgl. MS 54). Kierkegaard, so Camus, wolle sich in der Gewissheit der irrationalen Welt vor der verzweifelten Sehnsucht retten, die ihm unfruchtbar und belanglos erscheine (vgl. MS 54). Kierkegaard vollziehe eine Bewegung der Verneinung. Er ignoriere das eigentlich Absurde, das Verhältnis Mensch – Welt, und vergöttliche die einzige Gewissheit, die bleibe: Das Irrationale (vgl. MS 54). 214 »Il fait l’absurde le critère de l’autre monde alors qu’il est seulement un résidu de l’experience de ce monde« (MS frz. 59), wörtlich also »der anderen Welt« und »die­ ser Welt«. 215 Während Janke schreibt, Camus verfehle das Zentrum des Kierkegaard’schen Denkens, weil er dessen Begriff des Absurden uminterpretiere (vgl. Janke (1982) 85), wirft Camus Kierkegaard hier genau diese Umdeutung des ursprünglich immanenten Begriffs des Absurden vor. 216 »la nostalgie révoltée« (MS frz. 59). 217 Für Sasso liegt gerade in der philosophischen Reflexion der Grenzen des Denkens das Philosophische Camus’ (vgl. Sasso (1998) 208).

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»Wie der Abbé Galiani zu Madame d’Epinay sagte, wichtig ist nicht, gesund zu werden, sondern mit seinem Leiden zu leben. Kier­ kegaard will gesund werden. [...] Sein Verstand ist angestrengt darauf gerichtet, dem Widerspruch der conditio humana zu entrinnen« (MS 54). Dieser Vorwurf des Gesund-werden-Wollens bringt Camus’ Inter­ pretation und damit seine Kritik Kierkegaards auf den Punkt. Kier­ kegaards Interesse gelte der Überwindung des Negativerlebens – und nicht der Wahrheit. Dem Camus’schen ›sich halten‹ steht in seiner Kierkegaard-Interpretation ein ›sich retten wollen‹ gegenüber. Camus’ Deutung lautet, dass Kierkegaard das Absurde als das Wahre erkenne, aber als Preis für die Rettung bereit sei, die Wahrheit auf­ zugeben. Genauer gesagt gibt die begrenzte Vernunft auf, so dass sich für Kierkegaard – in Camus’ Interpretation –, ungerechtfertigterweise das Prädikat der Wahrheit damit vom absurden Verhältnis Mensch – Welt zum Irrationalen verschiebt. Kierkegaard verleihe dem Irratio­ nalen und Gott »die Attribute des ungerechten, inkonsequenten und unbegreiflichen Absurden« (MS 54). Gott werde das, was das Absurde eigentlich sei: Das Wahre. Sein Verstand versuche, das Verlangen in sich zu unterdrücken (vgl. MS 54 f.). Camus beschreibt Kierkegaards Position hier mit Partizipien wie ›gezwungen‹, ›angestrengt‹, ›ver­ zweifelter‹, ›gequält‹ und ›unterdrückt‹. Es sei ein Akt der Verdrän­ gung. Kierkegaard verdrängt in dieser Interpretation eine für die Wahrheit konstitutive Seite, um zu einer neuen Wahrheit zu gelan­ gen, mit der sich besser leben lässt. Kierkegaard verdrängt nicht nur die Wahrheit, sondern auch das »blitzartig[e]« Wahrnehmen der »Vergeblichkeit« (MS 54) dieses Verdrängens. Kierkegaard will das Unmögliche. Er hat die Wahrheit erkannt und will, da er nicht mehr hinter sie zurück kann, ihr durch eine Verdrängungsbewegung aus­ weichen. Dazu muss er dasjenige negieren, was ihn als Menschen gerade definiert: Seine begrenzte Vernunft, die zwar das Ganze nicht erkennen kann, aber dennoch berechtigt ist zu fragen. Es wird klar, dass die Konzeption Kierkegaards in ihrer Interpretation durch Camus eine massive Spannung enthält und zum Scheitern verurteilt ist. Kier­ kegaard will der conditio humana entrinnen und damit genau dem, was ihn als Menschen ausmacht.218 Er will nicht sein, wer er in Wahr­ heit sei: der absurde Mensch. Dies sei, so Camus, eine »nahezu frei­ willige seelische Verstümmelung« (MS 55). Gegen Kierkegaard wird Camus’ eigene Konzeption eines gelingenden Lebens deutlich: Ein 218

Damit verrät Kierkegaard für Camus den Menschen (vgl. A. Pieper (2000) 145).

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Sich-Halten am Gleichgewichtspunkt der Wahrheit des Absurden, ein Leben mit seinem Leiden, ein Leben mit dem, was den Menschen ausmacht – sein, wer man ist. Kierkegaard schließe sich einem großen Hoffnungsschrei an. Dazu zitiert Camus aus der Krankheit zum Tode: »Aber für den Chris­ ten ist der Tod keineswegs das Ende von allem; er enthält schließlich mehr Hoffnung, als das Leben uns bietet, selbst wenn es von Kraft und Gesundheit strotzt« (KT 28, zitiert nach MS 55). Camus inter­ pretiert diese Textstelle als ein Hoffnung-Schöpfen aus dem Gegenteil der Hoffnung, dem Tod (vgl. MS 55). »Versöhnung durch den Skandal ist immer noch Versöhnung« (MS 55). Er kritisiert nun diesen Gedan­ ken als nicht gerechtfertigte »Maßlosigkeit« (MS 55). In der Hoffnung überschreite der Mensch sein Maß, der sich gegen die Wahrheit des Absurden stelle, sie überwinden wolle. Damit richte sich der Mensch letztlich gegen sich selbst als absurden Menschen. Hoffnung und Ver­ söhnung seien weder logisch gewiss noch wahrscheinlich (vgl. MS 55 f.). Dagegen wolle Camus »[...] zumindest auf dem Unbegreiflichen nichts gründen. Ich will wissen, ob ich mit dem, was ich weiß, und nur damit leben kann« (MS 56). Sein Fundament ist nicht das Irrationale, sondern der Zusammenstoß des Irrationalen der Welt und des vernünftigen Fragens, ein »Mittelweg« (MS 56), der Verstand und Vernunft nicht leugnet, sondern ihre »relative Macht« (MS 56) anerkennt. Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen, das an Grenzen stößt. Einen Verzicht auf den Verstand im Sinne eines Übergangs zum Irrational-Religiösen sieht Camus dagegen nicht gerechtfertigt, nicht hinreichend begründet. Camus verweist auf das Vorwort der Krankheit zum Tode: Verzweiflung sei keine Tatsache, sondern ein Zustand: der Zustand der Sünde, und schließt sich dem an, mit der Begründung, Sünde sei, was von Gott entferne (vgl. MS 56). Wenn Camus selbst nun das Absurde den »metaphysischen Zustand des bewussten Menschen« (MS 56) nennt, so benutzt er damit zum ersten Mal explizit den Begriff Metaphysik affirmativ, also nicht in Abgrenzung zur philosophischen Tradition, sondern für seine eigene Position, die damit die Stelle beansprucht, die vormals die Metaphysik innehatte. Damit bestätigt er die von dieser Arbeit vorgeschlagene

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Interpretation.219 Diese Metaphysik führe nicht zu Gott. Camus präzisiert in einer Fußnote dazu, dass diese Metaphysik nicht Gott ausschließe, da Ausschluss immer noch eine Bestätigung impliziere. Das Absurde sei »Sünde ohne Gott« (MS 56). Camus fasst also das Absurde als eine Bewegung des sich Entfernens von Gott, die genau nicht als eine Negation Gottes Gott doch affirmieren will. In einer eigenartigen Konstruktion entfernt sich der Mensch von Gott ohne Gott. Camus identifiziert die Leerstelle Gottes durch den Mangel an Hoffnung und Versöhnung, die wir uns faktisch wünschen, will diese Leerstelle aber genau nicht negativ-theologisch220 als eine Anwesenheit im Modus der Abwesenheit interpretieren. Der Mensch entferne sich damit von Gott, ohne sich von Gott zu entfernen, da Gott mit dieser Bewegung nicht affirmiert werden solle. Das Paradox liegt darin, dass Camus mit dem Begriff der Sünde formuliert, aber den Begriff Gottes fallen lassen will. Es wird deutlich, dass Camus durch­ aus bewusst ist, dass es hier eine Leerstelle gibt und wie sie ausgefüllt werden könnte. Das absurde Verhältnis Mensch – Welt impliziert die prinzipielle Denkbarkeit dieses Verhältnisses als versöhnt. Camus interessiert sich an diesem Punkt für die Übergangsproblematik, und er vermutet, dass ein philosophisch-gerechtfertigter Übergang nicht möglich sei. Seine eigene Position fasst er in der Reflexion der Position Kierkegaards. Die kritische Rezeption Kierkegaards ist die Präzisie­ rungsbewegung der Position Camus’. Mit dem diese Überlegungen einleitenden Zitat zur Sünde aus der Krankheit zum Tode führt Camus im Übrigen nun eindeutig Kierkegaards Begriff der Verzweiflung mit seinem eigenen Begriff des Absurden eng. Das Bild des Gleichgewichts wird im folgenden Abschnitt gefasst als ein gegenseitiges Sich-Abstützen von Geist und Welt. Das Absurde ist auf dieses wechselseitige Sich-Stützen gegründet. Geist und Welt stützen sich, ohne sich umfassen zu können. Der Mensch kann die Welt berühren, aber sie nicht als Ganzes umfassend begreifen. Dieses Verhältnis konstituiert das Absurde. Mensch und Welt gründen das Absurde als das Wahre. Wenn Camus schreibe, in diesem Zustand müsse man leben, dann impliziert dieses Muss 219 Wenn Stan auf dieser affirmativen Verwendung des Metaphysikbegriffs die Inversionsthese des Dämonischen bei Kierkegaard durch Camus gründen möchte (vgl. Stan (2011) 88), dann fasst er diesen Begriff hier zu weit. 220 Negative Theologie meint die reale Erfahrung des Gegenteils des theologischen Gehalts (vgl. Deuser (1980) 13).

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die normative Dimension, die »Lebensregel« (MS 56) einer an der Wahrheit orientierten Konzeption des gelingenden Lebens. Die Frage nach dem gelingenden Leben fasst Camus hier also als Frage nach der Lebensregel »für diesen Zustand« (MS 56). Kierkegaard verneine ein Glied dieses Zustandes und befehle die Aufgabe (vgl. MS 56). In Camus’ Interpretation erkennt Kierkegaard diese fundierende Tie­ fenschicht, wendet sich aber in seiner religiösen Konzeption gegen sie. Die religiöse Konzeption, die, so Camus’ Interpretation, aus der Einsicht in das Absurde den Übergang zum Religiösen konstruiert, indem sie den Geist verneint und dem Religiösen die Prädikate221 des Absurden zukommen lässt, überzeuge nicht: »[...] man versichert mir, diese Nacht sei mein Licht.« (MS 57) Diese Position sei offensichtlich paradox. Die Deutung der Nacht als Licht impliziert von Seiten Camus’ den Vorwurf, dass die Position Kierkegaards schlicht und einfach falsch ist. Kierkegaard will die Wahrheit nicht wahrhaben. Es gibt kein Licht, keinen Sinn, keine Hoffnung. Um dem zu entrinnen, flüchtet222 sich Kierkegaard in das Falsche. Camus zitiert dafür aus Furcht und Zittern: Falls im Menschen kein ewiges Bewusstsein herrschte, falls allem nur eine wild gärende Macht zugrunde läge, die, sich in dunklen Leidenschaften windend, alles vollbrächte, was wäre das groß und was wäre unbedeutend; wenn eine bodenlose Leere, die durch nichts zu sättigen ist, sich hinter allem verstecken würde, was wäre dann das Leben anderes als Verzweif1ung (FZ 191, zitiert nach MS 57)?

Und entgegnet selbst: Dieser Schrei vermag nicht, den absurden Menschen zum Einhalt zu bewegen. Das Wahre suchen heißt nicht das Wünschenswerte suchen. Muss man sich, um der angstvollen Frage »Was wäre dann das Leben?« zu entgehen, wie der Esel von den Rosen der Illusionen nähren, dann wird der absurde Geist, statt in der Lüge zu resignieren, lieber ohne Zittern Kierkegaards eigene Antwort zu eigen machen: »die Verzweif­ lung.« Wenn man alles recht betrachtet, wird eine entschlossene Seele schon damit zurecht kommen (MS 57).

Dieses längste Kierkegaardzitat scheint für Camus von besonderer Bedeutung zu sein. Camus interpretiert diese Passage aus Furcht Der Vorwurf bezieht sich nicht, wie Stewart interpretiert, auf den Begriff (vgl. Stewart (2009) 442), sondern auf die Prädikate des Absurden. 222 Vgl. Stewart (2009) 442. 221

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und Zittern als suggestives Argument, das faktisch ein Fehlschluss von der Diagnose der bodenlosen Leere zur Religiösen ist. Aus der Tatsache, dass es furchtbar wäre, falls es keine religiöse Tiefenschicht gäbe, schließe Kierkegaard, dass es sie gibt. Hinzu kommt der bereits zuvor formulierte Vorwurf des Gerichtet-Seins. Kierkegaard suche von vornherein nicht das Wahre, sondern das Wünschenswerte. Demgegenüber beansprucht Camus selbst, philosophisch das Wahre zu suchen. Kierkegaard wolle dagegen der wahren Antwort, die er eigentliche kenne, durch die Flucht in die Lüge und Illusion entgehen. Die Pointe liegt nun in Camus affirmativer Wendung dieser Passage aus Furcht und Zittern, ihrer Rückwendung aus dem Konjunktiv 2 in den Indikativ, der, so Camus’ These, der ursprünglichen Einsicht Kierkegaards entspricht, vor der dieser flieht. Die Tiefenschicht sei eine bodenlose Leere, und das Leben sei Verzweiflung. Das sei die Wahrheit, zu der wir uns verhalten müssten. Im Rückgang auf seine Ursprungsfrage, ob der Selbstmord folgerichtig sei, nennt Camus die Position Kierkegaards, wie auch die Jaspers’ und Schestows, »philosophischen Selbstmord« (MS 57). Kierkegaards Umgang mit der Einsicht in das Absurde inmitten der Trümmer der Vernunft inter­ pretiert Camus als Selbstmord des Denkens, im Sinne des subjektiven und objektiven Genitivs. Er negiere letztlich den Menschen und sei damit gegen die Wahrheit des Absurden gerichtet. Camus fasst diese Position als eine Bewegung, »mit der ein Denken sich selbst negiert und danach strebt, in seiner Verneinung über sich hinaus zu gehen« (MS 57). Das Denken will durch Negation des Denkens über das Denken hinaus zum Göttlichen gelangen, während es damit faktisch das Wahre und das eigentlich Menschliche negiert. In einer Randbemerkung betont Camus noch einmal, dass er im »aufgeklärten« (MS 58) 20. Jahrhundert die Positionen berücksich­ tige, die von einer »Nicht-Bedeutung der Welt« (MS 58) ausgingen, von der Entdeckung des Absurden. Damit sei der Großteil der Posi­ tionen, welche nämlich die Welt für zumindest potenziell vernünftig erklärbar erachteten, für seine Untersuchung nicht relevant. Camus schreibt sich hier implizit den höheren Standpunkt zu und benutzt den Begriff der Aufklärung mit einer gewissen Ironie. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten: Camus zufolge hat Kierkegaard das absurde Verhältnis zwischen Mensch und Welt als die negative metaphysische Wahrheit entdeckt, will sie aber nicht wahrhaben. Der ungerechtfertigte Übergang zur religiösen Existenz sei in Wahrheit eine Fluchtbewegung, eine Verdrängung

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der begrenzten Vernunft, die uns als Menschen ausmache, und eine Projektion der Prädikate der absurden Wirklichkeit auf ein Verhältnis zu Gott, das uns von dieser erlösen solle. Der absurde Mensch will hier das Unmögliche, er will nicht sein, wer er in Wahrheit sei.

2.3 Negation der Enttäuschung und Negation der Erwartung Der nun folgende dritte Schritt des Kapitels zum ›Sprung‹ soll zeigen, wie Camus den Sprung bei Husserl und Kierkegaard als entgegenge­ setzte und somit parallele Negativfolie interpretiert, um gegen beide seine eigene Konzeption zu fassen. Camus leitet seine Interpretation eines Sprungs bei Husserl mit dem Satz ein: »Aber wie die Selbstmorde ändern sich auch die Götter mit den Menschen. Man kann auf vielerlei Arten springen [...]« (MS 58), um zu dem Schluss zu gelangen: »Zwischen dem abstrakten Gott Husserls und dem Blitze schleudernden Gott Kierkegaards ist der Abstand nicht allzu groß« (MS 64 f.). Dabei verwendet Camus den Gottesbegriff im Plural und sieht diese durch den Menschen geschaf­ fen, interpretiert ihn funktional, so dass es für ihn prinzipiell auch funktionale Äquivalente gibt. Die Nähe Kierkegaard – Husserl wird von Camus also nicht nur auf der Ebene der vernunftkritischen Dia­ gnose, sondern auch auf der Ebene der Schlussfolgerung behauptet, die Camus als Fluchtbewegung, als Selbstmord des Denkens inter­ pretiert. Das Charakteristische dieses Sprungs sei der »Anspruch auf das Ewige« (MS 58). Gemeinsamer Ausgang der Position Husserls und der Position Camus sei die Behauptung, der zufolge es keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten gebe (vgl. MS 59). Das Verhältnis von Wahrheitsbe­ griff in Singular und Plural ist, wie bereits angedeutet, für die Argu­ mentationsstruktur Camus’ von zentraler Bedeutung. Für Camus ist das Faktum des Pluralismus der Wahrheiten die Wahrheit im Singular. Es ist, wie bereits zuvor gesagt, nicht Thema dieser Arbeit, die Husserl-Interpretation Camus’ zu prüfen. Ihre Kernthese ist die Deutung des Wesensbegriffs der Phänomenologie als »abstrakter Polytheismus« (MS 62). Camus verortet den Ewigkeitsbegriff bei Husserl in der Vernunft, die phänomenologische Erkenntnis der Welt münde schließlich doch in einen Triumph der Vernunft (vgl. MS

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2 Sprung

62).223 Husserl und Kierkegaard, der abstrakte und der religiöse Philosoph, seien von derselben Angst befangen (vgl. MS 65). Der Vor­ wurf der Befangenheit präzisiert damit noch einmal den Vorwurf des von Vornherein-Gerichtetseins auf ein bestimmtes Untersuchungser­ gebnis. Dabei lägen die Positionen Husserls und Kierkegaards als »äußerste […] Rationalisierung« (MS 65) auf der einen und »äußerste […] Irrationalisierung« (MS 65) auf der anderen Seite nur scheinbar weit auseinander. »Man sucht die Versöhnung, und dazu genügt in beiden Fällen der Sprung« (MS 65). »Die Sehnsucht ist hier stärker als das Wissen« (MS 65). Dieses auf Versöhnung des Verhältnisses von Mensch und Welt ausgerichtete und in diesem Sinne befangene, nicht der Wahrheitssuche verpflichtete Denken, bringt Camus auf den Begriff einer »Metaphysik des Trostes« (MS 63), der seinem eigenen Metaphysikbegriff, der Metaphysik des klar sehenden Menschen, als Verkehrung gegenübersteht. In diesem Sinne rekapituliert Camus am Ende das Kapitel ›Der philosophische Selbstmord‹ und unternimmt einen erneuten Versuch, seine eigene Position zu präzisieren: Für den absurden Geist, dessen Standpunkt Camus behauptet, sei die Welt weder so rational wie für Husserl noch so irrational wie für Kierkegaard. »Das Absurde ist die hellsichtige Vernunft, die ihre Grenzen feststellt« (MS 66), ohne jedoch diese Grenze negieren zu wollen, was Kierkegaard Camus zufolge tue (vgl. MS 66). Am Ende dieses schwierigen Weges erkenne der absurde Mensch seine wahren Gründe. Wenn er seinen tiefen Anspruch mit dem vergleiche, was ihm geboten werde, fühle er plötzlich, dass er sich abwenden müsse. In Husserls Universum klärt sich die Welt, und der dem Men­ schen eigene Hang zur Vertrautheit wird überflüssig. In Kierkegaards Apokalypse muss der Wunsch nach Klarheit, wenn er befriedigt wer­ den will, auf sich selbst verzichten (MS 66 f.).

Methodisch-negativistisch erkennt Camus durch Analyse und Refle­ xion des ihm Gebotenen hier zwei Theorien, den normativen Anspruch eines doppelten Sich-abwenden-Müssens von beiden Seiten, da beide seinem Anspruch nicht genügen. Durch diese doppelte Abwendung wird die eigene Richtung klarer. In der folgenden Passage reflektiert Camus auf den bereits oben thematisierten Willensbegriff. Das Absurde entstehe aus dem Anspruch des Menschen und dem, was 223 Der Vorwurf lautet, dass Husserl nicht bei der phänomenologischen Reduktion verbleibe, sondern zur Ideation übergehe (vgl. Richter (1959) 126).

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die Welt ihm biete. Bei Husserl kläre sich die Welt. Camus interpre­ tiert Kierkegaard als den Versuch des Auflösens des Absurden durch die Selbstvernichtung der für das Absurde konstitutiven Seite des Wunsches nach Klarheit in der Annahme des Religiösen als Paradox. »Die Sünde besteht nicht so sehr im Wissen (in dieser Hinsicht sind alle unschuldig) als im Verlangen nach Wissen. Gerade das aber ist die einzige Sünde, von der der absurde Mensch spürt, dass sie zugleich seine Schuld und seine Unschuld ist« (MS 67). Camus präzisiert an dieser Stelle seine Definition des Absurden als »die Sünde ohne Gott« (MS 56). Der Anspruch nach Klarheit, das Wissen-Wollen, dieser für das Absurde konstitutive Wille sei Teil und damit auch Teilursache des Problems. Im Zuge der paradoxen Formulierung ›zugleich Schuld und Unschuld‹ wehrt sich Camus implizit gegen jede Konzeption des Lassens als theoretisch-philoso­ phische Alternative. Der Mensch könnte die Frage lassen, aber er soll nicht. Jedes Lassen ist hier Verdrängen. Camus’ Argument basiert auf dem Wert der ersten Wahrheit des Absurden als sich durch Geist und Welt wechselseitig abstützend gründende Tiefenschicht. »Man schlägt ihm [Bezug: dem absurden Menschen] eine Auflösung vor […] Er aber muss ihre [Bezug: das Absurde] Wahrheit bewahren« (MS 67). Camus beansprucht für das Absurde einen starken Begriff von »Evidenz« (MS 67). Es entstehe aus dem Zusammentreffen von Erwartung und Enttäuschung, von »begehrendem Geist und enttäu­ schender Welt« (MS 67).224 Der Widerspruch225 zwischen »Sehnsucht nach der Einheit« (MS 67) und »zersplittertem Universum« (MS 67) verbinde beide. Das absurde Verhältnis226 zwischen Mensch und Welt sei ein Verhältnis.227 Festzuhalten ist, dass die Konzeptionen Kierkegaards und Husserls in der Deutung Camus’ gegen das Absurde gerichtet sind: Kierkegaard negiert die Erwartung des Menschen, Husserl negiert die Enttäuschung durch die Welt. Beide Varianten des Sprungs »maskieren« (MS 67) damit die Evidenz des Absurden und sind damit Illusion. Gegen diese beiden ›Sprünge‹, zwei verkehrte

Janke fasst das Absurde bei Camus als »Unversöhnbarkeit von Vernunft und Wirklichkeit« (Janke (1982) 82). Galle schließt sich dieser Interpretation an (vgl. Galle (2009) 55). 225 Vgl. dazu auch Weyemberg (2000) 168 f. 226 A. Pieper nennt es antinomisch (vgl. A. Pieper (1974) 424). 227 Comte-Sponville spricht von einer Kluft ohne Trennung (vgl. Comte-Sponville (1998) 162). 224

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Negationsbewegungen einer jeweils für das Absurde konstitutiven Seite, formuliert Camus seine eigene Position.

3 Nichtung der Möglichkeit des Sprungs Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass Camus gegen die Nega­ tivfolien eines ungerechtfertigten Übergangs vom Absurden zum Religiösen seine eigene Konzeption des gelingenden Lebens als Nichtung eben dieser Möglichkeit des Sprungs in jedem Augenblick konzipiert. Das Kapitel besteht aus drei Schritten. Es beginnt mit einer Rekonstruktion der zentralen Begriffe ›Auflehnung‹ und ›Zeugnis‹. Der zweite Schritt interpretiert Camus’ Todesanalyse als Übergangs­ figur vom Misslingenzum Gelingen. Der dritte Schritt analysiert das Scheitern Camus’ bei dem Versuch, für den absurden Menschen eine Lebensregel zu formulieren.

3.1 Auflehnung und Zeugnis Der erste Schritt rekonstruiert Camus’ Konzeption gelingenden Lebens um den zentralen Begriff der Auflehnung228 im Mythos des Sisyphos. Der Begriff sollte neun Jahre später titelgebend für die Essaysammlung Der Mensch in der Revolte sein und markiert damit werkübergreifend vielleicht das Zentrum des Camus’schen Denkens. Darüber hinaus soll gezeigt werden, wie Camus als Konsequenz seiner Interpretation des Faktums des religiösen Pluralismus den traditionell theologischen Begriff des Zeugnisses in seine eigene Konzeption der Nichtung der Möglichkeit des Sprungs einbindet. Camus möchte keine Seite des Absurden negieren, sondern wis­ sen, »ob wir damit leben können, oder ob die Logik verlangt, dass wir daran sterben« (MS 67). Er interessiere sich nicht für den philosophi­ schen Selbstmord, sondern für den Selbstmord an sich (vgl. MS 67), fragt also nach Konsequenzen für die Praxis. »In jeder anderen Posi­ tion erkennt der absurde Geist die Möglichkeit des Wegdrängens und des Zurückweichens des Geistes vor dem, was der Geist ans Licht bringt« (MS 67 f.). Camus fasst damit alle theoretischen Alternativen als Verdrängungs-, Flucht-, oder Ausweichbewegungen. Dieses Urteil 228

frz. la révolte.

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fußt auf dem oben angedeuteten starken Anspruch von Evidenz für die eigene Position. Camus wendet sich noch einmal explizit gegen Kierkegaard: Die Gefahr liege nicht im Sprung, wie Kierkegaard meine, sondern, im Gegenteil, im subtilen Augenblick vor dem Sprung (vgl. MS 68). Das Problem ist nicht der Sprung. Die Aufgabe ist nicht, wie Kierkegaard meint, ein Christ zu werden. Kierkegaard ist Camus zufolge immer schon einen Schritt zu weit, fragt nach der Möglichkeit des Glaubens. Camus setzt in diesem Bild einen Schritt vorher an, konzipiert gelin­ gendes Leben als »sich auf diesem schwindelnden Grad zu halten« (MS 68), demgegenüber die Konzeption Kierkegaards »Ausflucht« (MS 68), also Flucht vor dem Gesollten sei. »Bequemlichkeit« (MS 68) kennzeichnet das misslingende Leben. Camus spricht der Posi­ tion Kierkegaards jegliche systematische Relevanz ab. Sie habe als ergreifende, von der Ohnmacht erzeugte Akkorde ihren Platz in der Geschichte, nicht aber in einer »Beweisführung« mit dem »Anspruch« (MS 68) Camus’. Gegen die Negation der Erwartung und die Negation der Enttäuschung konzipiert Camus seine Konzeption des gelingen­ den Lebens als ein Sich-Halten am Abgrund, im Augenblick vor dem Sprung. Das Leben gelingt im Augenblick als Negation der Möglichkeit der Negation des Absurden. Die von ihm rezipierten philosophischen Positionen bieten Camus Negativfolien für seine eigene Konzeption. »Jetzt ist die Hauptsache getan« (MS 69). Der Beginn des Kapitels ›Die absurde Freiheit‹, das vierte Unterkapitel des ersten Hauptkapitels des Mythos, formuliert damit den Anspruch, dass der Kern seiner Argumentation geleistet wurde, den er im Folgenden noch einmal differenziert darstellt und von dort ausgehend seine Konzeption einer Idee des gelingenden Lebens konkreter ausarbeitet. Der Begriff »Wahrheiten« (MS 69) im Plural, über die Camus an dieser Stelle zu verfügen beansprucht, ist zunächst verwirrend und in seinem Verhältnis zur Wahrheit des Absurden im Singular näher zu bestimmen. Im französischen Original ist vielmehr von Evidenzen229 die Rede. Camus betont die Notwendigkeit des »Verlangens«, des »Anspruchs« (MS 69) des Bewusstseins auf Klarheit, Absolutheit und Einheit. Dieses sei nicht zu leugnen, ist für Camus also denk­ notwendig und absolut gewiss. Auf der anderen Seite skizziert er die Welt als »Chaos« (MS 69), in der das Prädikat des Göttlichen 229

»évidences« (MS frz. 75).

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der Gleichwertigkeit zukomme. Camus präzisiert nun noch einmal die Aussage über die Welt als konstituierend für das Absurde: »Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über sie hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass es mir vorerst auch nicht möglich ist, ihn zu erkennen« (MS 69). Damit schränkt er die Thesen seiner Position über die Wirklichkeit weiter ein. Bezweifelt wird nicht das generelle Fehlen der Sinnhaftigkeit des Ganzen und dessen prinzipielle Erkennbarkeit. Das Absurde ist eine provisorische theoretische Position.230 Nach derzeitigen Wissen kennen wir den Sinn das Ganzen nicht und es besteht auch kein guter Grund zur Annahme, dass wir ihn bald erkennen werden. Gänzlich ausschließen kann man eine Art revolutionäre Erkenntnis aber nicht. Camus vermutet, den metaphysisch wahren Standpunkt erschlossen zu haben, behauptet dies aber nicht absolut, sondern zunächst für uns, die Leser seines Buches in unserer konkreten Situation. Im Spannungsfeld zwischen Begriffen wie Denken, Geist, Bewusstsein, Verstand und Vernunft verortet Camus an dieser Stelle den Grund des Absurden in der Vernunft. Sie lässt uns nicht Teil der Welt sein, sondern stellt uns in gewissem Sinne der Welt gegenüber (vgl. MS 70). Acht Zeilen später verwendet er wiederum den Geistbegriff. Der Bewusstseinsbegriff scheint sich in Camus’ Terminologie auf die stets höhere Ebene zu beziehen, ist sozusagen noch einmal der Reflexions­ begriff. Der Mensch erlangt Bewusstsein vom Bruch zwischen Geist und Welt (vgl. MS 70). Das normative Sollen einer Konzeption des gelingenden Lebens bezieht Camus hier auf ein »Festhalten«, »Aufrechterhalten« und »Halten« (MS 70) des Absurden231 und Evidenten – »auch gegen mich selbst« (MS 70). Ein wie auch immer definiertes Wohlbefinden ist für Camus explizit kein noch einmal der Wahrheit übergeordnetes Kriterium, wenn von Gelingen die Rede ist. Camus’ Konzeption ist eher angespannt denn entspannt. Es geht ihm darum, eine Spannung zu halten, sie nicht an die Alltäglichkeit zu verlieren. Gelingendes Leben ist eine »Auflehnung« (MS 70)232 innerhalb der »Welt des anonymen ›man‹« (MS 70), die »im Augenblick« (MS 70) den Bezug 230 Damit teilt die Arbeit hier nicht A. Piepers Begriff des Faktums (vgl. A. Pieper (1994) 2). 231 A. Pieper verweist hier auf Schlettes Konzeption des Harrens und Murrens (vgl. A. Pieper (2011) 121 f., vgl. dazu Schlette (1991) 439 ff.). 232 Wendel findet dies nicht überzeugend (vgl. Wendel (2011) 170), ohne diese Kritik weiter auszuführen.

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zum Absurden aufrechterhält. Der Mensch lebt in der vom ›man‹ beherrschten Welt, aber zugleich mit Bezug zum Absurden als dem metaphysisch Wahren. Die Bewegung, die Camus zeichnet, ist das Eintreten des Absurden in das Leben des Menschen, und darauf das Wiedereintreten des absurden Menschen in die Welt als der, der er ist. Der Weg mündet ins alltägliche Leben und war wesentlich ein »Verlernen« (MS 70) des Falschen. Camus wiederholt die Ausgangsfrage: Soll man sterben, sprin­ gen, oder im Gegenteil auf die »zerstörende und wunderbare Wette des Absurden eingehen« (MS 71)? Der Begriff des gelingenden Lebens als Wette ist an dieser Stelle ebenso interessant wie die Engführung der Begriffe ›zerstörend‹ und ›wunderbar‹. Camus scheint bewusst zu sein, dass dies eine nach normalen Maßstäben pathologische Position ist, aber sein Maßstab ist eben nicht alltäglich, sondern philosophisch. Camus plädiert für das »Wiedereinnehmen« (MS 71) eines Platzes in der als sinnlos erkannten Welt. Das Leben gelingt, so die These, nicht in der Flucht, sondern in der Rückbewegung in die Welt. Hier werde er Wein und Brot finden (vgl. MS 71). Die Welt ist für Camus die Kirche. Die Auflehnung »ist« (MS 72), um das noch einmal präzise festzuhalten, das »ständige« (MS 72) Aufrechterhalten des geistigen, das Absurde konstituierenden Moments, und damit des Absurden.233 Man hält das philosophische Fragen, den Anspruch auf Einheit auf­ recht, jedoch ohne Hoffnung auf Versöhnung, Transparenz oder Auf­ lösung »dieses Konflikts, dieses Bruchs zwischen der Welt und mei­ nem Geist« (MS 70). Die Auflehnung bewahrt damit die Wahrheit des Absurden.234 Damit ist der Mensch »bei sich« (MS 73), als absurder Mensch bei dem, was ihn wesentlich ausmacht.235 Gegenbegriffe sind Dahinleben und Sprung. Das Leben gelingt für Camus also in der

233 A. Pieper sagt, die Vernunft erkenne die Ausweglosigkeit theoretisch, Widerstand und Protest seien dagegen affektiv und emotional (vgl. A. Pieper (2011) 129). Für Camus ist die Auflehnung aber konsequente Schlussfolgerung. 234 Somit ist die Frage Bowkers, gegen welche Absurditäten es sich aufzulehnen und welche es zu akzeptieren gelte (vgl. Bowker (2011) 90), verkehrt gestellt. Die Auflehnung schafft das Absurde (vgl. Thurnherr (2004) 272). H-J. Pieper weist auf den lediglich scheinbaren Widerspruch zwischen der Auflehnung gegen das Absurde und dem Standhalten angesichts des Absurden hin (vgl. H.J. Pieper (2013) 103). 235 Das Absurde wird dabei nie, wie Blankschaen meint, »einfach« (Blankschaen (2013) 47) akzeptiert, sondern entsteht erst durch Auflehnung und steht in einer beständigen Spannung zu ihr.

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Immanenz, als Auflehnung im Augenblick vor dem Sprung.236 Die Auflehnung ist Camus »erste Schlussfolgerung« (MS 74), die gegen die als ungerechtfertigt zurückgewiesenen Schlussfolgerungen eines Übergangs zum Glauben Camus’ eigene Position skizziert.237 »Der Geschichte fehlt es weder an Religionen noch an Pro­ pheten, selbst ohne Götter. Man fordert ihn auf zu springen (MS 71).«238 Camus vertritt damit einen explizit pluralistischen Religions­ begriff.239 Die Funktion der Religionen bringt er auf den Begriff des Sprungs, den Aufruf zur Uneigentlichkeit, zum misslingenden Leben. Camus erkennt damit eine Vielzahl von Religionen als prinzipiell gleichwertig an. Zu fragen wäre, ob genau in dieser Anerkennung der Keim der funktionalen Interpretation und damit der Destruktion jeglichen normativen Anspruchs von Religion liegt. Dass für Camus an dieser Stelle keiner Religion ein gewissermaßen privilegierter Status zukommt, erleichtert ihm seine Argumentation gegen die Wahrheitsansprüche der einzelnen Religionen, die er als Aufrufe zur Flucht zu entlarven beansprucht. Der ›Sprung‹ in den Glauben scheint im 20. Jahrhundert dadurch verkompliziert, dass nicht mehr klar ist, in welchen Glauben wir springen sollen. Der Pluralismus der Religionen scheint den Standpunkt des Absurden zu stärken. Nicht geklärt werden kann an dieser Stelle die systematische Frage, inwiefern ein religiöser Pluralismus hier gegen Camus mit Verweis auf die eventuelle Nichtverallgemeinerbarkeit der einzelnen Religion gedacht werden kann. Die Aufrufe der Religionen zum Sprung, so Camus weiter, könne der absurde Mensch nicht nachvollziehen, Der Autor stellt sich expli­ zit gegen Begriffe wie »Sünde«, »Hölle« oder »ewiges Leben« (MS 71), die für ihn allesamt nicht verstehbar im Sinn von nicht sinnvoll, nicht nachvollziehbar und damit belanglos sind. Nicht Gott, sondern der Mensch selbst, sein Erkenntnisvermögen, ist für Camus Maßstab von Sollen und von Schuld (vgl. MS 71). Der These religiöser Positionen, 236 Hüsch sieht hier einen Bruch, einen nicht nachvollziehbaren Schritt im Gedan­ kengang Camus’ und verweist auf Thesen der Forschung zu einem Sprung bei Camus (vgl. Hüsch (2014b) 60), vgl. dazu Cruickshank (1960) 63, Pascal (1998) 173 ff., Hochberg (1965) 92). 237 Zur Interpretation der Auflehnung als ›nein‹ vgl. Olivier (2007) 82. 238 Wenn A. Pieper abschließend Camus Christus als Maßstab vorschlägt (vgl. A. Pieper (1984) 190), so fordert auch sie ihn auf zu springen. 239 Zur Kritik ideologisch-metaphysische Denkens, das sich innerhalb einer christli­ chen Metaphysik bewegt, bei Camus vgl. Archambault (1980) 213.

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dass die von ihm erwartete Gewissheit in der Welt für den Menschen nicht zu finden sei, begegnet Camus mit der Grundfigur seines Kernarguments. Aus dem faktischen Pluralismus der Wahrheiten und Weltanschauungen und der Unmöglichkeit der Erkenntnis schließt er auf eine erste rein negative Erkenntnis: »Man gibt ihm zur Antwort, nichts sei gewiss. Aber das ist immerhin eine Gewissheit« (MS 72). Nun kündigt der Autor eine erneute Annäherung an den Begriff des Selbstmordes an: Camus antwortet auf das Verhältnis von Selbst­ mord und Sinnfrage mit der These der Verkehrung des Zusammen­ hangs im Eingangskapitel, verbunden mit dem Anspruch, dass dies im bisherigen Gang der Untersuchung begründet sei. Das Leben werde um so besser gelebt, je weniger Sinn es habe. Damit führt Camus als Konsequenz aus der Tatsache, dass die Begriffe Sinn und Wahrheit nicht zusammenfallen, nicht den Sinnbegriff, sondern den Wahrheitsbegriff, und diesen radikal gegen den Sinnbegriff, mit der Idee eines gelingenden Lebens eng.240 Der Mensch solle »alles« tun, um das Absurde »aufrechtzuerhalten« (MS 72). Das Leben gelingt in der bewussten Auflehnung gegen das Leben. Bemerkenswert ist hier die Formulierung: »Leben heißt das Absurde leben lassen« (MS 72), da hier der Begriff des Lassens mit aktiven Begriffen wie Auflehnung oder Anspannung zusammenfällt. Nach Camus Darstellung ist der Ort eines Lassens in seiner Konzeption nicht in der Konstitution des Absurden, sondern im Verhältnis zum Absurden. »Wille« (MS 72), Wahrheit und Wert fallen für Camus zusammen und beanspruchen den Status der Notwendigkeit. »Leben lassen« wird von Camus metaphorisch erläutert als ein »ins Auge sehen«, als Umkehrung des Eurydike-Mythos, als »ständige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Dunkelheit« (MS 72). Die Begriffe Wahrheit und Dunkelheit fallen für Camus zusammen. Misslingendes Leben wäre demnach ein Sich-Abwenden-von. Zum ersten Mal beansprucht Camus an dieser Stelle für seine eigene Konzeption, hier bezogen auf den Begriff der Auflehnung, auch den Begriff der Kohärenz (vgl. MS 72). Das Verhältnis Mensch – Welt ist absurd, aber dass es absurd ist, ist kohärent. Daher ist auch

240 Die These, bei Camus müsse der Mensch Sinn generieren (vgl. Kann / Victor (2017) 232), teilt die Arbeit damit nicht. Auch A. Piepers affirmativer Gebrauch des Sinnbegriffs (vgl. A. Pieper (1974) 428 ff., A. Pieper (1984) 102, A. Pieper (2011) 135 ff.) überzeugt nicht.

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die Auflehnung kohärent.241 Die Theorie der Inkohärenz beansprucht ihre eigene Kohärenz.242 Auch dieser These liegt Camus’ StandardArgumentationsfigur zu Grunde, und auch diese Formulierung ist, so die hier vertretene These, widerspruchsfrei243 möglich.244 Gelingen kann als »ständige Anwesenheit des Menschen bei sich selbst« (MS 73) verstanden werden, insofern der Mensch ›selbst‹ wesenhaft der absurde Mensch ist. Damit präzisiert Camus schließlich sein Gegenargument gegen einen vermeintlich logischen Schluss zum Selbstmord ausgehend von der Entdeckung des Absurden245: Der Selbstmord »löst« (MS 73) das Absurde und wäre damit ein Akt der Nichtung des metaphysisch Wahren, ein gegen das metaphy­ sisch Wahre gerichtetes Leben.246 Gelingendes Leben ist dagegen definiert als ein Nicht-Nichten des Wahren als Verhältnis Mensch – Welt. Bemerkenswert ist nun doch die Engführung des Begriffs dieser Auflehnung mit Begriffen wie »Wert« und »Größe« (MS 73). Camus selbst hat hier begriffliche Schwierigkeiten, die Konzeption des gelingenden Lebens als sinnlos und trotzdem gut konsequent einzuhalten. Dieses Grundparadox ist auch in der Formulierung enthalten, dass gerade die Unmenschlichkeit der Wirklichkeit die Größe des Menschen (vgl. MS 74), und damit in gewisser Hinsicht wiederum die Menschlichkeit ausmache. Camus definiert das Leben gegen das Leben und den Menschen gegen den Menschen, indem er beansprucht, das Negative, die Krankheit, als Kern des guten, gelingenden Lebens auszuweisen. Dieses Leben ist ohne Entlastung. Der Mensch muss, an dieser Stelle ist wieder ein normatives Sollen formuliert, das Gewicht seines eigenen Lebens allein tragen (vgl. MS 74). Grund scheint schlicht und einfach zu sein, dass es nichts gibt, was uns entlastet, ohne uns um die Wahrheit zu betrügen.

»Das Absurde ist kohärent im negativen Sinn« (Hengelbrock (1984) 49). Die Arbeit teilt damit nicht die These Bertholds, der zufolge Camus’ Hauptwerk, respektive das Verhältnis von Autor und Leser, selbst absurd ist und Camus durch einen Selbstmord des Autors die postmoderne Position von Roland Barthes vorweg­ nehme (vgl. Berthold (2013b) 143 ff.). Zur Diskussion in der englischsprachigen For­ schung vgl. Berthold (2013b) Endnote 1. 243 Golomb nennt das Absurde bei Camus dagegen dogmatisch (vgl. Golomb (1995) 179). 244 Zur These der Widersprüchlichkeit Camus’ vgl. Schaub (1968) 6. 245 Vgl. dazu Golomb (1995) 176. 246 Der Selbstmord wäre somit nicht lediglich, wie Schaub meint, Schwäche (vgl. Schaub (1968) 61). 241

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Der Autor benutzt darauf zum zweiten Mal den Metaphysikbe­ griff affirmativ (vgl. auch MS 56), nennt seine Position »skeptische Metaphysik« (MS 74). Camus’ auf diese Metaphysik aufbauende Konzeption des gelingenden Lebens ist ein Plädoyer für ein »mit unerhörter Anstrengung« (MS 74) Aufrechterhalten der »äußersten Anspannung« (MS 74) des Absurden, das Ausschöpfen und SichErschöpfen im Leben. Offenbar fällt die Idee eines etwa ›gesunden und langen Lebens‹ mit dem gelingenden Leben nicht zusammen. Ein weiterer Schlüsselbegriff für Camus’ Konzeption des Gelin­ gens ist an dieser Stelle der Begriff des Bezeugens (vgl. MS 74). Durch sein andauerndes waches Bewusstsein für das Absurde und seine bewusste Auflehnung bezeugt der Einzelne »Tag für Tag« (MS 74) das Absurde mit seinem Leben. Der Einzelne tritt mit seinem Leben als Zeuge für die Wahrheit ein, anstatt sich aus Furcht oder Bequemlichkeit von ihr abzuwenden, sei es in den Selbstmord, in die Religion, in die Vernunftphilosophie oder in die Alltäglichkeit. Camus sieht offenbar die moralische Pflicht, das, was man als wahr erkannt hat, zu bezeugen. Auf die hypothetische Frage, warum der Selbstmord kein ange­ messenes Zeugnis des Absurden wäre, würde Camus wahrscheinlich antworten, die Wahrheit (des Absurden) bedürfe eines Zeugen und sei es wert, fortdauernd auf diesem Wege in jedem Augenblick affirmiert zu werden. Diese Rückfrage scheint jedoch nicht unberechtigt zu sein. Sie legt eine Prämisse Camus’ offen, für den ein ›Auf-Dauer-Stellen‹ und nicht ›Abbruch‹ ein angemessenes Zeugnis des Absurden zu sein scheint. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Camus ausgehend von der Entdeckung des Absurden und gegen Konzeptionen des in sei­ ner Terminologie Sprungs gelingendes Leben als eine Auflehnung des Bewusstseins fasst, das im alltäglichen Leben den Bezug zum metaphysisch Wahren unter größter Anstrengung aufrecht erhält. Das Plädoyer für die absurde Wahrheit im Singular auf Kosten des Sinnbegriffs weist gewöhnliche Vorstellungen als verkehrt aus und definiert das Leben gegen das, was vor der Einsicht in das Absurde das Leben gerade auszumachen schien. Das Leben gelingt in diesem Sinn in der Auflehnung gegen das Leben als Selbst-Welt-Verhältnis. Das Leben gelingt im wachen Bezeugen seiner Negativität, nicht theo­ retisch-abstrakt, sondern durch das bewusste Leben eines absurden Lebens in der vom ›man‹ beherrschten Welt.

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3.2 Todesanalyse Ziel des zweiten Schritt ist die Rekonstruktion der Todesanalyse des Kapitels ›Die absurde Freiheit‹, die die Übergangsfigur vom miss­ lingenden zum gelingenden Leben247, von der Illusion von Freiheit zur eigentlichen Freiheit durch ein Erschüttert-Werden durch die Möglichkeit des Todes beinhaltet.248 Ihr zentraler Begriff ist der Begriff der Freiheit. Camus spricht an dieser Stelle von einem »zweiten Paradox« (MS 75), wobei unklar ist, was das erste Paradox ist. Affirmativ benutzt er den Begriff Paradox zuletzt fast 30 Seiten zuvor im Kontext der Auflehnung des sich des Absurden bewusst gewordenen Menschen (vgl. MS 46). Der Autor spricht dem metaphysischen »Problem der ›Freiheit an sich‹ „ (MS 75) seinen Sinn ab und bindet es stattdessen zurück an das »Gottesproblem« (MS 75), wobei Camus hier von der prinzipiellen Nichtauflösbarkeit der Theodizeeproblematik ausgeht (vgl. MS 75). Diese bezeichnet er als »Absurdität« (MS 75) und »Paradoxon« (MS 75). Gegen einen metaphysischen Begriff von Freiheit, wobei mit Metaphysik hier der Metaphysikbegriff gemeint ist, von dem er sich abgrenzt, fasst Camus Freiheit als »meine eigene Freiheit« (MS 75), die in der »individuellen Erfahrung« (MS 75) des Einzelnen in der ersten Person Singular zugänglich sei. Freiheit ist dabei kein Geschenk Gottes – eine Position, die Camus als unverständlich zurückweist (vgl. MS 75) –, sondern eine Gabe des Absurden. Das Absurde macht den Menschen frei, befreit ihn hin zu einer Freiheit »des Geistes und des Handelns« (MS 76). Camus erläutert diese Konzeption von Freiheit von einer Nega­ tivfolie her: Die Einsicht in das Absurde teilt das Leben des Menschen ein in ein »Bevor« (MS 76) und ein »Nach« (MS 76). Vor der Bewegung mit dem Absurden, so Camus, lebe der Alltagsmensch mit »Zielen […]. Er wägt seine Chancen, er rechnet mit später, mit seiner Pensionierung oder mit der Arbeit seiner Söhne« (MS 76). Er handele, als wäre er frei, auch wenn alle Tatsachen gegen diese Freiheit sprechen. Es ist nicht klar, was Camus an dieser Stelle mit ›Tatsachen‹ meint. Entweder glaubt der Alltagsmensch frei zu handeln, auch wenn aus seiner Perspektive die theoretische Erkenntnis von Freiheit 247 Die Gegenwart des Todes im Leben ist »das Thema« (Theunissen (1991b) 197, Hervorhebung MT) der modernen Philosophie. 248 Vgl. dazu Richter (1959) 140.

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unmöglich erscheint, oder er glaubt frei zu handeln, während er aus der Perspektive Camus’ lediglich das tut, was alle anderen um ihn herum ebenfalls tun. Dieses Handeln im Alltag oder in der Sphäre der Normalität, »als wäre er frei« (MS 76), wird nun durch die Begegnung mit dem Absurden »erschüttert« (MS 76). Das Absurde erschüttert die Alltäglichkeit und eröffnet dem Menschen eine neue Perspektive, eine Reflexionsperspektive auf das, was bisher sein Leben gewesen ist. Kennzeichnend für dieses bishe­ rige Leben war, dass es gelebt wurde, »als hätte alles einen Sinn« (MS 76). Die Erwartung des Ruhestandes oder der Arbeit der Kinder ist in einen als in gewisser Hinsicht absolut wahrgenommenen Sinnzu­ sammenhang oder -horizont eingebettet gewesen. Das gelegentliche Sich-Sagen, dass »nichts Sinn habe« (MS 76), fasst Camus dabei noch nicht als Einsicht in das Absurde, sondern immer noch als zugehörig zum alltäglichen Gerede. Durch die Einsicht in das Absurde wird nun der bisherige Sinnglaube »auf eine schwindelerregende Weise Lügen gestraft« (MS 76, Hervorhebung JA). Das Absurde erschüttert das Sinnfundament des Alltagsmenschen so sehr, dass es wegbricht, und die Schwindelmetaphorik verweist auf den dahinterliegenden Abgrund, der sich nun als das Wahre zeigt. Genauer gesagt ist es nicht das Absurde, sondern die »Absurdität eines möglichen Todes« (MS 76), die das Leben erschüttert. Zum ersten Mal kommt an dieser Stelle der Möglichkeit des eigenen Todes eine privilegierte Stelle in der Konzeption des Absurden zu – als »die offensichtlichste Absurdität« (MS 78). »Der Tod ist da, als die einzige Realität249. Nach ihm ist das Spiel aus« (MS 76). »Einzige Realität« scheint zunächst widersprüchlich zu sein, da Camus bereits Ich und Welt als evident und damit wohl auch als in diesem Sinne real aus­ machte. Dem Tod, genauer gesagt, der Möglichkeit des eigenen Todes, scheint in diesem Zusammenhang noch einmal eine Schlüsselrolle zuzukommen. Das ›Ich‹ ist wesenhaft zeitlich und endlich, und dies ist bedeutsam für sein Verhältnis sowohl zu sich selbst als auch zur Welt. Der Alltagsmensch, so Camus, erkenne, dass er die »höhere Freiheit« (MS 76), von der dieser bisher implizit ausgegangen sei, da er die Sinnhaftigkeit des Ganzen angenommen habe, nicht gebe, Camus scheint sich hier auf eine »ewige Freiheit« (MS 76) zu beziehen, die

Damit ist der Tod nicht, wie W. Schulz meint, lediglich in der Erfahrung des Sterbens der anderen real (vgl. W. Schulz (1975b) 332).

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ein theologisches Sinnfundament einschließt, und der der Tod als Ende gegenübersteht. Camus’ These ist damit, dass wir in unserem alltäglichen Han­ deln, als ob alles einen Sinn hätte, das »Ich bin« (MS 76) vollkommen falsch auffassen. Indem wir von einem übergreifenden Sinnzusam­ menhang ausgehen, verstehen wir uns nicht als der, der wir eigentlich sind – der absurde Mensch –, sondern gehen von einer »Freiheit zu sein« (MS 76, Hervorhebung AC) aus, die in Wahrheit jeglicher Grundlage entbehrt, die Illusion ist. »Welche Freiheit im vollen Sinne des Wortes kann es geben ohne die Gewähr einer Ewigkeit« (MS 77)? Diese Frage macht endgültig deutlich, dass Camus in der Beschreibung einer Negativfolie die Begriffe Alltag, Gott, Ewigkeit, Freiheit, Wahrheit eng führt – als die Welt des sich selbst missverste­ henden Menschen. Gegen diese Konzeption von Freiheit als Leben in einer Normali­ tät, der man implizit einen absoluten Sinnzusammenhang unterstellt hatte, konzipiert Camus nun seinen eigentlichen Begriff von Freiheit. »Der absurde Mensch [begreift], dass er in Wirklichkeit gar nicht frei war« (MS 77). Als Alltagsmensch lebte er von der »Illusion« (MS 77), dass das alles einen Sinn hat. Er passte sich an. Er stelle sich Ziele seines Lebens vor, »Familienvater« (MS 77), »Ingenieur« (MS 77) oder »Beamtenanwärter« (MS 77) zu sein, und er passte sich den Forderungen an, die das mit sich brachte. Während er glaubte, frei zu wählen, stützte er sich dabei faktisch auf die »Vorurteile [s]einer menschlichen Umwelt« (MS 77). »Die anderen sind so sicher, dass sie frei sind, und diese gute Laune ist so ansteckend!« (MS 77). Der absurde Mensch begreift also, dass sein als sinnvoll angenommenes Ziel als Alltagsmensch und das an seine Umwelt und ihre moralischen und sozialen Vorurteile angepasste Leben lediglich eine Illusion von Freiheit gewesen ist. Das geordnete Leben, dem durch die Ordnung ein Sinn unterstellt wurde, war in Wahrheit ein eingeschränktes Leben gewesen (vgl. MS 78). Der Glaube, Freiheit bedeute, innerhalb eines übergreifenden Sinnzusammenhangs zwischen Zielen – Arzt oder Anwalt, ein Kind oder zwei – zu wählen, war Illusion. Das aufklärerische Moment des Absurden fasst Camus nun so: »Es gibt kein Morgen. Das ist von nun an Grund meiner tiefen Frei­ heit« (MS 78, Hervorhebung JA). Der eigentlichen Freiheit kommt also das Prädikat ›tief‹ zu. Sie wird durch eine Einbruchserfahrung der Möglichkeit des eigenen Todes zugänglich, die die Bodenlosigkeit des bisherigen Lebens in der Alltäglichkeit offenlegt. Das bisherige Leben

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geht so nicht weiter. »Es gibt kein Morgen« scheint an dieser Stelle ein überspitzter Ausdruck für die wesenhafte Endlichkeit des Lebens zu sein. Auch der absurde Mensch, der ganz und gar dem Tode zugewandt ist (der hier als die offensichtlichste Absurdität verstanden wird), fühlt sich losgelöst von alledem, was nicht zu dieser leidenschaftlichen Aufmerksamkeit gehört [...] Er genießt eine Freiheit im Hinblick auf die allgemein anerkannten Regeln (MS 78).

Das Leben gelingt also als ein dem Tod (und damit dem Absurden) Zugewandt-Sein. Es gelingt damit in der Gegenwart des Todes.250 Das Absurde, das Wissen251 um die Möglichkeit des eigenen Todes, die gegenwärtig ist, befreit den absurden Menschen von »Zielen« (MS 76), »Vorurteilen« (MS 77) und »Regeln« (MS 78) des ihn umge­ benden alltäglichen (sozialen) Lebens, dessen Sinnversprechen er als Illusion, als Ideologie durchschaut hat. Das Ziel, in der Normalität »Familienvater« (MS 77) oder »Ingenieur« (MS 77) zu werden und sich den Wertvorstellungen seine Umgebung anzupassen hält nicht, was es verspricht – es hält nicht, was man sich davon verspricht. In Wahrheit ist diese soziale, künstliche, Konstruktion noch einmal eingebettet in einen größeren Kontext der Bodenlosigkeit, der Absur­ dität, und auf dieser Ebene wird über Gelingen und Misslingen des Lebens verhandelt. Zugang zu dieser Ebene des Wahren bietet die Einbruchserfahrung des Absurden, insbesondere die Erfahrung der Möglichkeit des eigenen Todes und damit der Grundstruktur der Existenz. Von dort her erkennt der absurde Mensch das Bisherige als das Falsche. Diese Freiheit als Befreiung von den alltäglichen Regeln sieht Camus auch bei den »Ausgangsthemen der Existenzphilosophen« (MS 78), deren Flucht aus der Alltäglichkeit erste Schritte zur absur­ den Freiheit darstellen, die aber den »geistigen Sprung« (MS 78 f.) anvisieren. Camus fasst an dieser Stelle das alltägliche Leben als eine Art Dämmerzustand, aus dem es zum Bewusstsein zurückzukehren gilt (vgl. MS 78). Der Begriff der Freiheit ist also für Camus’ Konzeption eines gelingenden Lebens zentral. »Sich in diese bodenlose Gewissheit stürzen, sich von nun an dem eigenen Leben gegenüber fremd genug 250 251

Schaub missdeutet diese Figur als Sterbephase (vgl. Schaub (1968) 94). Champigny betont hier das Denken (vgl. Champigny (1979) 11).

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fühlen, um es weiter werden zu lassen […] darin liegt das Prinzip einer Befreiung« (MS 79). Das Leben gelingt als von den Illusionen der Alltäglichkeit befreites. Die Figur des Sturzes in die bodenlose Gewissheit erinnert ein wenig an die von Camus kritisierte Konzep­ tion des Sprungs etwa bei Kierkegaard. Gegenüber dem Sprung gelingt der Sturz auf der Ebene der Metapher ohne eigenes Zutun, allein durch die Gravitationskraft. Dazu stehen sich hier Sprung in den Glauben und Sturz in die Gewissheit gegenüber. Der Abgrund ist bodenlos, aber dass er bodenlos ist, um an Camus’ Grundfigur anzuknüpfen, ist sicher – steht fest. Dazu wird an dieser Stelle der Begriff der Fremdheit als Gegenbegriff zum Vertrauten in der Welt sein zentral für Gelingen. Die »neue Unabhängigkeit« (MS 79) ist wesenhaft »zeitlich begrenzt« (MS 79) und ersetzt die »Illusion der Freiheit« (MS 79), in der das bisherige Leben gelebt wurde, ohne die Dimension der Ewigkeit.252 Bemerkenswert ist, dass Camus nun im letzten Schritt seiner Argumentation seine Konzeption von Freiheit als die »einzig vernünf­ tige Freiheit« (MS 79) bezeichnet und damit im Sinne der bereits angesprochenen Metaphysik des bewusst-absurden Menschen den Vernunftbegriff für sich beansprucht. Die Prinzipien jener Freiheit seien der Tod und das Absurde (vgl. MS 79). Dabei irritiert der Plural an dieser Stelle ein wenig, da eine Seite zuvor der Tod als Absurdität bezeichnet wurde, so dass das Verhältnis der Begriffe nicht eindeutig ist. Metaphorisch fasst Camus die Befreiung des Alltagsmenschen hin zur eigentlichen absurden Freiheit mit einem Sich-Öffnen der Gefängnistore für einen zum Tode Verurteilten (vgl. MS 79). Dieser scheint interesselos, da er »allem gegenüber, außer der reinen Flamme des Lebens« (MS 79) das Interesse verloren habe. Das ist eine zweite Schlussfolgerung. So erahnt der absurde Mensch ein glühendheißes und eiskaltes, durchsichtiges und begrenztes Uni­ versum, in dem nichts möglich, aber alles gegeben ist, und jenseits ist nur noch Niedergang und Nichts. Nun kann er sich entschließen und bereit sein, in einem solchen Universum zu leben und aus ihm seine Kraft zu gewinnen, seinen Verzicht auf Hoffnung und die eigensinnige Bekundung eines Lebens ohne Trost (MS 79 f.).

252 Die Arbeit teilt hier nicht die Deutung Sagis, der zufolge Camus’ Todesanalyse, im Gegensatz etwa zu der Heideggers, die Sehnsucht nach verlorener Positivität offenbare (vgl. Sagi (2002) 51).

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Der freie Mensch verliert seine »menschliche Umwelt« (MS 77), wird sich selbst fremd und findet sich in einem Universum wieder, in dem es kein Oben und Unten, keine »Werteskala« (MS 80) und damit kei­ nen »Sinn des Lebens« (MS 80) gibt. Camus’ zweite Schlussfolgerung aus der Einsicht in das Absurde ist, dass der Mensch in diesem Sinne frei ist. Festzuhalten ist, dass der Begriff der Freiheit für gelingendes Leben als Schlussfolgerung aus der Entdeckung des Absurden bei Camus zentral ist. Freiheit wird dabei verstanden als Befreiung des Einzelnen von der Illusion des in der Alltäglichkeit als sinnvoll vorge­ stellten angepassten Lebens mitsamt seiner moralischen und sozialen Regeln. Befreiend wirkt dabei die Einbruchserfahrung des Absurden, insbesondere als Erschütterung durch die Erfahrung der Gegenwart der Möglichkeit des eigenen Todes. Die menschliche Umwelt kann ihr implizites Sinnversprechen nicht halten. Sie ist in Wahrheit bodenlos und absurd und der in diesem Sinn reflektiert-bewusste Mensch erkennt das. Im Verhältnis zu dieser darunterliegenden tieferen Ebene des Wahren gelingt das Leben im Angesicht des Todes, frei von der Hoffnung auf Sinnerfahrung in Welt oder Ewigkeit. Der absurde Mensch ist frei von vorgegebenen Laufbahnen und Lebenswegen, weil er die ihnen zugrunde liegenden Prämissen und Versprechen als falsch durchschaut. Bezüglich des Aspekts dieses Bewusstseins ist der Bruch mit jedem ›davor‹ radikal.

3.3 Lebensregel Der dritte Schritt soll nun das letztliche Scheitern des Versuchs Camus’ analysieren, den auf das Absurde selbst gegründeten Sollensanspruch an den Menschen als allgemeine Lebensregel zu formulieren. Ausgehend von der Diagnose der Situation des Menschen in einem Universum ohne Werte, ausgenommen ist dabei implizit der Wert der Wahrheit, formuliert Camus die Frage: »Mich interessiert nur, ob man unwiderruflich leben kann« (MS 80), wobei dieses nur (impliziert, dass die Frage nach dem gelingenden Leben auf diese Frage hinausläuft. Gelingendes Leben wird gefasst als ein Nichtverlassen dieser Ebene, also dieses Gebiets, das zuvor mit der Wüstenmetaphorik gefasst wurde. Es gilt, wie bereits dargestellt, sich im Verhältnis zum Absurden zu halten.

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Camus resümiert: Das Leben zeige sich mit dem Gesicht des Absurden. Das Gleichgewicht des Absurden beruhe auf dem Gegen­ satz zwischen Auflehnung und Dunkelheit, und Freiheit sei nur »in ihrer Beziehung auf ihr begrenztes Schicksal sinnvoll« (MS 80), womit gemeint ist, dass nur der absurde Mensch, der sich der absurden Mauern bewusst ist, im eigentlichen Sinne frei sei. Daraus schließt Camus, dass es nicht darauf ankomme, so gut wie möglich, sondern so viel wie möglich zu leben (MS 80). Diese Schlussfolgerung scheint zunächst wenig nachvollziehbar. Sie wird dadurch erschwert, dass Camus erläutert: »Soviel wie möglich leben; im weiteren Sinne bedeutet diese Lebensregel nichts« (MS 81). In Anerkennung des Fehlens einer Werteskala möchte Camus offenbar eine Konzeption des gelingenden Lebens nicht auf Wertur­ teile, sondern auf »Sachurteile« (MS 80) oder auf Tatsachen beruhen­ den Urteilen gründen. Die erste Tatsache, dieser Begriff wurde zuvor so in diesem Kontext verwendet, sei das Absurde selbst. »Ich darf nur ausgehend von dem, was ich sehen kann, schließen und nichts riskieren« (MS 80) bedeutet, dass eine Konzeption des gelingenden Lebens ohne zusätzliche Prämissen auskommen muss. Jede über das als wahr erkannte Absurde hinaus gehende Prämisse birgt in sich das Risiko des Abgleitens der gesamten Konzeption in das Falsche. Entscheidend scheint dabei zu sein, dass der Begriff »leben« (MS 80) für Camus im Kontext des Absurden zu verstehen ist. Mehr leben bedeutet nicht ein Mehr an alltäglichen Erfahrungen, sondern ein Mehr des Wahren. Die These ist hier, dass die absurde Existenz dann nicht weiter qualitativ zu differenzieren sei, so dass gelingendes Leben nur ein ›mehr‹ bedeutet, nicht ein ›besser‹. Es gibt keinen guten und schlechten absurden Menschen, sondern den absurden Menschen und den, der sich als absurden Menschen verfehlt. Neben dem Begriff der ›Lebensregel‹ verwendet Camus im Folgenden noch den Begriff des »Gebots« (MS 81) und den der »Spielregel« (MS 82). Geboten sei, »mit dem auszukommen, was unmittelbar evident ist« (MS 81). Zum zweiten Mal im Text fasst er das gelingende Leben mit dem Begriff der »Wette« (MS 82, vgl. dazu auch MS 71). In Bezug auf seine Konzeption des gelingenden Lebens bestä­ tigt Camus im Folgenden die eben formulierte Interpretation: Die Konsequenz aus dem Absurden ist die Abwesenheit aller Werte und damit zunächst einmal die Gleichgültigkeit aller Lebensentwürfe und -formen. Sie alle machen keinen Sinn. Geboten ist nun aber, nicht einfach irgendein Leben unter den »modernen Lebensbedingungen«

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(MS 81) zu wählen, dem eine »Mannigfaltigkeit der Erfahrungen« (MS 81) entspricht – wie sich »so viele Menschen verhalten« (MS 82). Das Absurde, das alle Werteskalen erschütterte, ist selbst, durch seinen Wahrheitscharakter, ein Quasi-Wert. Quantität bezieht sich also nicht auf Welterfahrung, sondern auf die Erfahrung des absurden Verhältnisses Mensch – Welt selbst. »Sein Leben, seine Auflehnung und seine Freiheit so stark wie möglich empfinden, das heißt: so intensiv wie möglich leben« (MS 83), wobei Auflehnung und Freiheit Schlüsse aus dem Absurden sind. Camus führt den Leser mit der Behauptung des Verzicht auf Werturteile und darauf folgend einer Ethik der Quantität in die Irre, während in der Argumentation die ganze Zeit der Wert der Wahrheit und die Wahrheit des Absurden im Hintergrund stehen, auf die nach diesem Umweg auch wieder zurückgekommen wird. Begriffe wie Wert, Wahrheit, Vernunft oder Metaphysik sind im Mythos stets doppelt besetzt. Sie kommen den kritisierten und zu überwindenden Positionen zu, werden darauf aber auf höherer Reflexionsebene selbst von der Konzeption Camus’ in Anspruch genommen. Dieser Umstand stiftet Verwirrung, ist aber nicht »widerspruchsvoll« (MS 82), son­ dern bedarf lediglich des Hinweises auf die Ebene, von der gerade die Rede ist. Camus präzisiert im Folgenden seine These der Quantität: Ein bewusstes Leben von 60 Jahren sei besser als ein bewusstes Leben von 40 Jahren (vgl. MS 83). Es gebe keine Tiefe oder Emotion, gemeint sind qualitative Dimensionen, die hier eine Gleichwertigkeit erzeug­ ten. Der »vorzeitige Tod« (MS 83) ist also eine Grenze, ein Hindernis, durch die ein Leben besser wird als das andere. Das hänge »nicht vom Willen des Menschen ab« (MS 83, Hervorhebung AC), sondern vom Gegenteil, dem Tod. Zunächst einmal scheint dahinter die Prämisse zu liegen, dass ›mehr‹ gleich ›besser‹ ist.253 Diese Prämisse folgt nicht aus dem bisher Gesagten und wird von Camus nicht weiter erläutert. Camus geht davon aus, dass die späte Einsicht in die Wahrheit schlechter ist als ein Leben, das über Jahrzehnte der Wahrheit ins Auge gesehen habe. Das könnte man aber sehr wohl bestreiten. Zwei­ tens wird der Tod hier sozusagen lebensfeindlich als Gegenspieler des gelingenden Lebens dargestellt, während er wenige Seiten zuvor noch als offensichtlichste Absurdität die Einbruchserfahrung und das 253 A. Pieper sagt, es gelte ›je länger desto besser‹ (vgl. A. Pieper (1994) 9). Argumen­ tativ ist das eine neue Prämisse.

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gelingende Leben überhaupt ermöglichte. Dem Tod scheinen offenbar beide Seiten zuzukommen. Er ist sowohl Schlüssel zum Leben als auch »Gegenteil« (MS 83) des Lebens, und wahrscheinlich ist er nur Schlüssel, weil er Gegenteil ist. In einer Fußnote konkretisiert Camus dazu quasi beiläufig seinen Willensbegriff. Der Wille sei das Handelnde. Er strebe danach, das Bewusstsein aufrechtzuerhalten und liefere eine Lebensdisziplin (vgl. MS 83 Fußnote 2). Camus scheint das gelingende Leben als vom Wollen bestimmt zu sehen, dessen Grenze lediglich der Tod ist. Es scheint, dass der Mensch keine Alternative zum Wollen hat, das Handlungen hervorbringt – dass er wollen muss. Im letzten Schritt des Gedankens und konsequent mit seiner bisherigen Vorgehensweise, Begriffe der Tradition zu kritisieren und dann selbst zu besetzen, nimmt Camus nun für seine auf der Evidenz des Absurden basierende Konzeption eines gelingenden Lebens den Begriff des Ideals in Anspruch. »Die Gegenwart und die Abfolge von Gegenwartsmomenten vor einer ständig bewussten Seele, das ist das Ideal des absurden Menschen« (MS 84). Im Original heißt es nicht Gegenwartsmomente, sondern »sucession des présents« (MS frz. 90), wobei diese Pluralbildung von Gegenwart so im Deutschen nicht möglich ist. Wichtig ist aber, dass Camus an dieser Stelle nicht etwa den Momentbegriff als expliziten Gegenbegriff zu einem Begriff von Augenblick benutzt. Das Leben gelingt im bewussten Erleben von Gegenwart in der Zeit und über die Zeit. Dabei ist das Absurde stets gegenwärtig. Camus fasst das quantitative Element des ›Mehr‹ mit dem Begriff der »Leidenschaft« (MS 84). Damit ist seine Konzeption der Versuch, im Ausgang von der Angst ohne weitere Prämisse eine leidenschaftliche Konzeption gelingenden Lebens auszuweisen. Dieser Versuch kommt jedoch nicht ohne weitere Prämissen aus. Wichtig ist die Kohärenz. Wir gehen hier von einem Einverständnis mit der Welt aus. Aber das östliche Denken lehrt, dass man sich mit derselben logischen Anstrengung gegen die Welt entscheiden kann. Das hat ebenso seine Berechtigung – und verleiht diesem Essay seine Perspektive und seine Grenzen (MS 84 Fußnote, Hervorhebung AC).

In dieser Fußnote schränkt Camus seine gesamte Konzeption perspek­ tivisch auf das ›westliche Denken‹ ein und lässt damit implizit sowohl seinen Wahrheits- als auch seinen Metaphysikbegriff wieder fallen. Es ist nicht klar, wie mit dieser Fußnote umzugehen ist, zumal die Untersuchung nicht an diesem Punkt endet, sondern in den folgenden

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Kapiteln weiter auf dem bisher Gesagten aufbaut. Es ist zu vermuten, dass diese Fußnote einen argumentativen Fehler enthält, dass Camus seine Konzeption nicht kohärent noch einmal derart kulturell relati­ vieren kann. Tut er es doch, wird letztlich eine Form der Ethnologie anstelle der philosophischen Anthropologie zur Wissenschaft vom Menschen. Die Arbeit schlägt die Interpretation vor, dass Camus nun doch ahnt, dass seine Konzeption prämissenbeladener ist als er dies darstellt. Der »Wille« (MS 83), der konstitutiv für das Absurde und für das ›Mehr‹, für die Ethik der Quantität ist, scheint kein neutrales Faktum und nicht alternativlos zu sein. Vielleicht impliziert Camus eine Prämisse derart, dass Aktivität besser sei als Passivität. Da er diese nicht expliziert und begründet, hat er gegen die zitierte Abkehr von der Welt im östlichen Denken kein Gegenargument. Es scheint angesichts des Absurden doch eine Alternative zum ›es auf Gedeih und Verderb Wissen-Wollen‹ und zum ›Mehr‹ der absurden Erfahrung zu geben, eine Konzeption, die vielleicht der Welt deutlich passiver begegnet, als dies in Camus’ Konzeption so selbstverständlich angenommen wird. Das Bemerkenswerte ist in jedem Fall, dass Camus die Abkehr von der Welt im östlichen Denken an dieser Stelle nicht prinzipiell als ›Sprung‹ zurückweist. Es scheint damit für ihn eine theoretische Alternative, einen Spielraum der Lebensformen, die wir als gelungen ansehen müssen, zu geben. Ohne dies hier abschließend klären zu können, könnte man vermuten, dass dennoch der Begriff der Wachheit ein gemeinsamer Nenner sein und bleiben könnte. Das zitierte »Einverständnis mit der Welt« könnte durchaus Spuren des Westlichen im Sinne des Christlichen bei Camus sein, der letztlich doch aufgrund von Prämissen die Entscheidung für die Welt und für das Leben sucht. Im letzten Abschnitt des Unterkapitels »Die absurde Freiheit« des Mythos fasst Camus seine drei Schlussfolgerungen aus dem Absurden zusammen: Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft (vgl. MS 84). »Durch das bloße Spiel des Bewusstseins« (MS 84), was hier meinen soll, durch reines Nachdenken, beansprucht Camus, von der Frage nach dem Selbstmord zu einer »Lebensregel« (MS 84) gekommen zu sein. Dieser Regel zu gehorchen sei zugleich das Leichteste und das Schwierigste (vgl. MS 85). Ob Camus diesen Anspruch wirklich einlösen kann, ist wie gesagt fraglich. Er scheint doch weit mehr Prämissen zu machen als die bloße Frage nach dem Sinn des Lebens.

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»›Das Gebet‹, sagt Alain, ›stellt sich ein, wenn die Nacht das Denken überkommt‹„ (MS 85). Camus stellt sich gegen diesen, wie er es nennt, Sprung im Angesicht der Nacht. In einer letzten Metapher wendet Camus das Bild der Nacht zum Bild einer »Nacht der Ver­ zweiflung, die hell bleibt« (MS 85), womit er metaphorisch all seine scheinbar paradoxen Argumentationsfiguren auf den unterschiedli­ chen Reflexionsstufen elegant einholt. Dass es keine Wahrheit gibt, ist die Wahrheit. Bodenlosigkeit ist das Fundament. Es ist Nacht, aber die Nacht ist doch zugleich hell und klar. Gelingendes Leben ist in diesem Bild die »Nachtwache des Geistes« (MS 85). Der Geist ist wach, im Bewusstsein der Nacht, sieht aber klar und deutlich die Konturen der Welt. Camus verwendet für diese helle Nacht den Begriff »Polarnacht« (MS 85). Geowissenschaftlich meint jedoch das durch die Neigung der Erdachse verursache Phänomen der Polarnacht gerade die Dunkelheit in der Nacht und am Tage im Zeitraum um die Wintersonnenwende jenseits der Wendekreise. Die Polarnacht ist genau nicht die helle Nacht, sondern der dunkle Tag. Näher kommt Camus’ Bild einer hellen Nacht dagegen der Polartag, der das Nichtuntergehen der Sonne in der Nacht um die Wintersonnenwende bezeichnet. Der Begriff ›Polarnacht‹ wird also falsch verwendet. Auf dieser Stufe begegnet die Äquivalenz dem leidenschaftlichen Ver­ stehen. Da geht es nicht einmal mehr darum, den existentiellen Sprung zu verurteilen. Er erhält wieder seinen Platz im jahrhundertealten Fresko menschlicher Haltungen. Für den Zuschauer, wenn er bewusst lebt, ist dieser Sprung immer noch absurd. So wie er das Paradox auf­ zulösen glaubt, stellt er es vollständig wieder her. In dieser Hinsicht ist der anrührend (MS 85 f.).

Die Revision der Kritik des Sprungs bezieht sich hier nicht auf die Ebene der Sache, sondern vollzieht dessen Historisierung. Camus streitet nicht mehr mit Kierkegaard. Er betrachtet die Position Kierke­ gaards, wie man Wandmalerei betrachtet, als Teil einer Geschichte, an deren Spitze er sich selbst sieht.254 Mit diesem Kapitel ist die Darlegung der Absurden »Denkweise« (MS 86) abgeschlossen. Jetzt gelte es zu leben. Camus wendet sich nun dem Konkreten zu. Bemerkenswert ist, dass Camus in diesem letzten Abschnitt noch einmal beansprucht, im ersten Hauptkapitel ›Eine absurde Betrach­ Damit ist Jankes’ Deutung, Kierkegaards Position sei für Camus anachronistisch (vgl. Janke (1982) 87), korrekt.

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tung‹ eine »Lebensregel« (MS 84) formuliert zu haben. Wenn es aber darum geht, sie am Kapitelende noch einmal auf den Punkt zu bringen, wählt er den Weg der Metaphorik, der Polarnacht. In dieser Vorge­ hensweise, viele Anläufe zu nehmen, und es am Ende doch in einem Bild auf den Punkt zu bringen, liegen Thesen gegen das systematische Philosophieren. Die eine Regel wird umkreist, aber letztlich steht da doch nicht eine Regel. Es gibt nicht nur einen Satz, einen Imperativ255, unabhängig vom Gedankengang und von Bildern. Vermutlich gibt es auch nicht einen Syllogismus oder anderweitigen logischen Schluss, mit dem alles gesagt wäre. Das ganze Werk läuft, wie der Titel schon sagt, auf einen Mythos zu. Zusammenfassend kann man sagen, dass Camus gelingendes Leben als bewusstes Erleben der Gegenwart des Absurden als das Wahre in der Zeit fasst. Seine Konzeption der Quantität überzeugt nicht bzw. führt weitere Prämissen ein, die unbegründet bleiben. Zudem bleiben Prämissen der Aktivität und des Wollen-Müssens problematisch und relativieren ggf. den gesamten Anspruch der Kon­ zeption. Der Versuch, eine allgemeine Lebensregel für den absurden Menschen zu formulieren, scheitert dahingehend, dass diese Regel zum einen bedeutungsarm ist, sie zum anderen in dem ihr gedanklich folgenden Schritt immer noch einmal metaphorisch erläutert und damit überboten wird. Das Gesollte als Nichtung der Möglichkeit des Sprungs in jedem Augenblick ist negativ gegen den Sprung, darüber hinaus letztlich doch nur bildlich fassbar.

4 Skizzen Ziel des folgenden Kapitels ist die Analyse des Ansatzes von Camus, seine Konzeption gelingenden Lebens im Kapitel ›Der absurde Mensch‹ mittels dreier Skizzen und deren Interpretation metapho­ risch256 zu fassen.257 Das Kapitel folgt dabei in drei Schritten den Bildern Don Juans, dem Schauspieler und dem Eroberer. Thurnherr unternimmt zwei Versuche, die Konzeption Camus auf einen Imperativ zu bringen (vgl. Thurnherr (2004) 267, 273). Diese Versuche bleiben letztlich hinter der Position Camus’ zurück. 256 Vgl. dazu A. Pieper (1974) 430, Gay-Crosier (2015) 26. 257 Es sind keine ethischen Grundsätze, sondern lebendige Vorbilder (vgl. Richter (1959) 116). 255

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4.1 Don Juan Dem ersten Schritt, der knappen Interpretation des Don-JuanMythos, stellt Camus einige Vorbemerkungen voraus. Er beginnt das zweite Hauptkapitel des Mythos, das den Titel ›Der absurde Mensch‹ trägt, mit einem Verweis auf die Schlüsselstellung des Begriffs der Zeit für seine Konzeption des absurden Menschen, dessen Zeitstruktur für ihn wesentlich ist. Die drei Schlüsselbegriffe seiner Schlussfolgerungen aus dem vorangegangenen Kapitel aufgreifend ist Freiheit wesentlich »Freiheit auf Zeit« (MS 89) und »Auflehnung ohne Zukunft« (MS 89). Der absurde Mensch ist er selbst, wenn er leidenschaftlich »sein Abenteuer in der Zeit seines Lebens« (MS 89) verfolgt. Die Zeit ist die Zeit des eigenen Lebens. Sie ist begrenzt, und »seine Grenzen« (MS 89) kann der absurde Mensch mittels seiner Urteilskraft einsehen. Das Leben gelingt als ein nicht-»unaufrichti­ ges« (MS 89) Leben, als ein Vorziehen von Mut und eigener Urteils­ kraft gegenüber der Sehnsucht nach Ewigkeit, nach einer anderen Zeit und einem anderen Menschenbild. Es gelingt als ein wesentliches Sich-Besinnen auf und Sich-Verhalten zur Zeitstruktur des eigenen begrenzten Lebens, als ein Nicht-nicht-sein-Wollen, wer man ist. Im folgenden Abschnitt interpretiert Camus das Zitat »Alles ist erlaubt« (MS 90) von Dostojewskis Karamasow im Horizont seiner Konzeption des Absurden. Der Mensch lebt außerhalb von Gott und ist prinzipiell unschuldig (vgl. MS 89, 90). Freiheit in diesem Sinne ist keine Positiv-, sondern eine Negativdiagnose, kein »Schrei […] der Freude«, sondern »eine bittere Feststellung« (MS 90). Der Mensch würde Gott, »der dem Leben einen Sinn gäbe« (MS 90), wählen, »aber es gibt keine Wahl« (MS 90). Camus wiederholt damit die der Religion zukommende Konjunktiv-2-Struktur: Sie wäre von ihrer Konzeption her die Antwort auf die Frage nach dem gelingenden Leben, aber sie ist es nicht – weil sie nicht wahr ist, sondern falsch. Die für Camus in diesem Kontext entscheidende Frage der Ethik ist die Sinnfrage, nicht die Frage nach der richtigen Handlung. Die Konsequenz aus dem Verlust Gottes ist der Sinnverlust, nicht die Freiheit, Böses zu tun – »das wäre kindisch« (MS 90).258 »Alles ist erlaubt […] bedeutet nicht, dass nichts verboten wäre« (MS 90).259 Vgl. dazu Henngelbrock (1984) 81. Reichenbachs These, Camus sei ein Amoralist (vgl. Reichenbach (1976) 236 ff.), wird Camus nicht gerecht.

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Ohne Gott ist der Schlüsselbegriff der intersubjektiven Moral nicht der Begriff Schuld, sondern der Begriff der Verantwortung, und zwar nicht als abstraktes Substantiv, sondern als der »Verantwortli­ che« (MS 90)260, als verantwortliche Subjekte. Aus der Tatsache, dass das Leben »unvorhersehbar«, ein »begrenztes und gleichzeitig von Möglichkeit strotzendes Felde« (MS 91) ist, folgert Camus, dass das moralisch Richtige nicht als »formell[e]« (MS 91), abstrakte Regel formulierbar ist, sondern in Form »anschaulicher Beispiele« (MS 91) und »Bilder« (MS 91).261 Camus vertraut darauf, dass der Einzelne das Richtige tut, wenn er nur die »Folgen […] mit heiterer Ruhe betrachtet« (MS 90). Für Camus gibt es nur den Einzelfall und allen­ falls Vorbilder und Figuren, an denen wir unser Handeln orientieren können. Es stellt sich dabei jedoch die Frage, wie diese Konzeption damit umgehen will, dass der Einzelnen ggf. die komplexen Folgen einer Handlung gar nicht im Blick haben und betrachten kann. Man »macht sich lächerlich, wenn man […] von Nietzsche das Recht, seine Mutter zu misshandeln, [ableitet]« (MS 91). Camus’ Beispiel einer moralisch richtigen Handlung ist ein Negativbeispiel. Das Recht, in diesem Fall der Mutter, auf körperliche Unversehrtheit ist für ihn evi­ dent, das moralisch Richtige eindeutig. Man könnte einwenden, dass Camus sich hier ein relativ einfaches Beispiel ausgesucht hat, und dass moralisches Urteilen bei komplexeren Fragen weniger eindeutig ist. »Die Verhaltensweisen, von denen die Rede ist, können nur bei Betrachtung der entgegengesetzten Haltungen ihren vollen Sinn entfalten« (MS 91, Hervorhebung JA). Camus geht hier explizit negativistisch vor: Nur aus der Betrachtung des Gegenteils erschließt sich der Sinn des Gesollten, sei es in Bezug auf die Frage nach dem intersubjektiv moralisch Richtigen oder in Bezug auf die umfassen­ dere Frage nach dem gelingenden Leben, die auf das für Camus eigentlich zentrale Problem des Sinnverlustes zu antworten versucht. Daran schließt Camus eine zweite These an: »Ein Beamtenanwärter der Post ist einem Eroberer gleich, wenn beide das gleiche Bewusstsein haben« (MS 91). Das gelingende Leben ist eine Frage des Inneren, des Bewusstseins. Es ist von außen nicht sichtbar. Der Beamtenanwärter kann an den Sinn des Ganzen glauben und als angepasster Mensch aufgehend in »Arbeit und Betriebsamkeit« (MS 92) ein misslingendes »reasonables« (MS frz. 97). Whistler sagt Camus suche einen Grund der Moral, der die Abstraktion umgehe (vgl. Whistler (2018) 55). 260 261

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Leben leben, oder er kann als Beamtenanwärter ein bewusst absurdes und damit gelingendes Leben leben. Von Außen ist das nicht unter­ scheidbar. Das Leben gelingt in der bewussten Erfahrung. Im letzten Satz dieser Vorbemerkungen verknüpft Camus die Idee des gelingen­ den Lebens mit dem Begriff der »Unfruchtbarkeit« (MS 92). Das gelingende Leben ist nicht das vitale, auf die Zukunft ausgerichtete Leben, sondern das sich seiner Grenzen bewusste und in diesem Sinne »jeder Zukunft beraubte« (MS 92) Leben. Das gelingende Leben ist nicht das biologisch gesunde, sondern das geistige Leben, dessen Wert sich um Umgang mit der Krankheit des Geistes bemisst. Das Leben gelingt also als Nicht-nicht-sein-Wollen, wer man ist, wobei die begrenzte Zeit des eigenen Lebens den absurden Menschen wesentlich ausmacht. Das Problem der Freiheit ohne Gott, die nicht positiv ist, ist für Camus nicht der Verlust der intersubjektiven Dimension der Moralität, sondern der Verlust der Sinndimension, die Gott garantierte (Konjunktiv 2), aber nicht garantiert. Das moralisch Richtige, nicht als abstraktes Prinzip, sondern für den verantwortli­ chen Einzelnen, erschließt sich durch Nachdenken und anschauliche Beispiele, wobei negativistisch insbesondere Negativfolien anschau­ lich, ggf. sogar notwendig sind – sowohl für die richtige Handlung als auch für das gelingende Leben im Ganzen. Das gelingende Leben ist von außen nicht erkennbar und nicht biologisch-vital gesund, sondern zeigt sich im Verhältnis zur Krankheit, als bitteres Aben­ teuer in der eigenen Lebenszeit. Camus vereinigt somit moralische Verantwortung und Sinnlosigkeit des Ganzen in einer Konzeption, ohne dass sich diese Dimensionen der Praxis wechselseitig aufheben oder ersetzen. Camus skizziert nun im Folgenden drei »Bilder« (MS 91) des guten Lebens. Offen ist dabei, inwiefern dies methodisch möglich ist. Es entsteht eine methodische Spannung zwischen »anschauli­ chen Beispielen« (MS 91) und dem negativistischen Vorgehen der »Betrachtung der entgegengesetzten Haltungen« (MS 91). Es folgt nun die Analyse der eigentlichen Don-Juan-Interpretation als erstes von drei Bildern, deren Anspruch sowohl Fortsetzung des absurden Gedankengangs als auch auf dessen Konkretisierung ist (vgl. MS 91). Jede Frau glaubt, Don Juan die »totale Liebe« (MS 93) gegeben zu haben, während dies für Don Juan »nur einmal mehr« (MS 93) bedeutet und genau diese »Wiederholung« (MS 93) sein eigentliches Bedürfnis ist. Er sucht nicht, da er weiß, dass es die totale Liebe nicht gibt. »Je mehr man liebt, desto mehr festigt sich das Absurde« (MS

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93). Camus charakterisiert Don Juan mit den Begriffen »Lachen«, »sieghaft«, »sprunghaft«, »Freude«, »hell«, »fröhlich«, als in einem vitalen Sinne »gesund« (MS 93), da er dem Streben jedes gesunden Wesens, sich zu vermehren, folge. Aber auch »darüber hinaus« (MS 93), also quasi auf höherer Ebene, sei Don Juan nicht traurig, da er weder in Unkenntnis lebe noch hoffe. Sein Leben gelinge mit einer »meisterlichen Leichtigkeit« (MS 94) in seinem unsicheren Spielraum, dessen Grenzen er kenne und nie überschreite (vgl. MS 94). Der Begriff »Geist« (MS 94)262 deutet dabei auf die Richtigkeit der Interpretation der höheren Reflexionsebene gegenüber der Vitali­ tät. Das Genie kennzeichne »der Verstand263, der seine Grenzen kennt« (MS 94). Camus verwendet an dieser Stelle zum ersten Mal den Genie-Begriff als Bezeichnung des gelingenden Lebens, wobei das Genie genau nicht in der Überschreitung, sondern im Kennen und Anerkennen der Grenzen des Menschen liegt. Es ist genial, nicht mehr zu wollen. Es ist genial, nicht sein zu wollen, wer man nicht ist. Was logisch ein wenig banal erscheint, verlangt die Leistung des Genies. Menschsein ist ein hohes Ziel. »Unvollkommenheit« (MS 94), das Wissen darum, dass es die Frau nicht gibt, dass es keine Hoffnung gibt, mache das Glück »spürbar« (MS 94). »Er war traurig, solange er hoffte« (MS 94). Gelingen liegt in der Überwindung von Hoffnung hin auf Erkenntnis der absurden Grundstruktur des Lebens. Camus grenzt Don Juan gegen Faust ab: Faust glaubte stark genug an Gott, »um sich dem Teufel zu verschreiben« (MS 94), »[...] und wie lang ist die Reihe der Tage für den, der zu leben weiß« (MS 94). Gegen den Augenblick, auf den Faust aus ist, lebt Don Juan die Sukzession der Tage, und gewinnt dadurch Zeit – die Reihe ist lang für ihn –, dass er der absurden Lebensregel folgt. Er spiele die Hoffnung auf ein anderes Leben gegen den Himmel aus (vgl. MS 94). Das Leben gelingt im Akt des Anerkennens desselben. Der Mensch hat einen begrenzten Spielraum. Erkennt er diesen an und verschwendet seine Energie nicht darauf, ihn überwinden zu wollen, kann darin das Leben in gewisser Weise gelingen. Er »erzwingt den Überdruss« (MS 95) – dieser Begriff kennzeich­ nete an entscheidender Stelle (vgl. MS 23) den Übergang zur Einsicht in das Absurde. Er verlässt eine Frau »keineswegs, weil er sie nicht 262 263

»esprit« (MS frz. 100). »l’intelligence« (MS frz. 100).

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mehr begehrt« (MS 95) und auch nicht, weil er glaubt, die Frau zu finden, sondern weil sich darin die Struktur des Absurden abbildet: »Dieses Leben füllt ihn ganz aus, nichts wäre schlimmer, als es zu verlieren. Dieser Narr ist ein großer Weiser. Die Menschen aber, die von der Hoffnung leben, richten sich schlecht ein in dieser Welt [...]« (MS 95). Methodisch negativistisch ist das bewusste Leben Don Juans ein Gegenentwurf gegen die Suche nach der einen Frau, der »totalen Liebe« (93). Camus skizziert damit hier den Gegenentwurf zur Negativfolie, dem aber die Negativfolie zu Grunde liegt. Dazu ist das Leben Don Juans durch den Kontext des Absurden nicht das, was es scheint. Es scheint aus alltäglicher Perspektive misslungen, ist aber durch Anerkennen des Absurden in Wahrheit gelungen. Mit der Interpretation, Don Juan suche die »Quantität der Freu­ den« (MS 95), schließt Camus an seine zuvor formulierte Ethik der Quantität an.264 Camus weist alle Interpretationen Don Juans als Schwächling, Idealist, Heiliger oder Immoralist zurück (vgl. MS 95 f.). Der entscheidende Punkt sei dagegen, dass Don Juan nichts weiter sei als ein gewöhnlicher Verführer: Er ist ein gewöhnlicher Verführer. * Nur mit dem Unterschied, dass er bewusst und infolgedessen absurd lebt. Ein klarsichtig gewordener Verführer wird deswegen kein anderer. [...] Man kann jedoch behaup­ ten, dass nichts geändert265 und gleichzeitig alles verwandelt266 ist. Was Don Juan verwirklicht, ist eine Ethik der Quantität – im Gegensatz zum Heiligen, der zur Qualität neigt. Nicht an den tiefen Sinn der Dinge glauben – das kennzeichnet den absurden Menschen (MS 96).

Damit bringt Camus seine Don-Juan-Interpretation auf den Punkt. Don Juan ist ein gewöhnlicher Mensch. Sein Leben gelingt, weil er bewusst und im Verhältnis zur Wahrheit des Absurden lebt, sich selbst vom Absurden her als absurder Mensch versteht. Entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen changé und transformé. Das gelingende Leben gleicht von Außen betrachtet dem misslingenden und ist in diesem Sinne unverändert. Gleichzeitig ist es aber durch

Zimmermann zufolge weist Camus an dieser Stelle die Argumente des Ethikers Wilhelm gegen den Ästhetiker A in Entweder-Oder zurück (vgl. Zimmermann 2004 77). Diese Arbeit geht nicht davon aus, dass die Position des Ethikers in systematischer Hinsicht der Idee gelingenden Lebens bei Kierkegaard entspricht. 265 »changé« (MS frz. 102). 266 »transformé« (MS frz. 102). 264

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die innere Haltung des Subjekts vollständig verändert.267 Der absurde Mensch lebt im vollen Bewusstsein der Abwesenheit eines tiefen Sinns, bzw. eines tiefen Grundes, der einen solchen Sinn garantieren würde, und er hält dieses Bewusstsein aufrecht, mit allen psychischen Konsequenzen, die dies hat. Der absurde Mensch fordert damit die Hölle heraus (vgl. MS 96). In der Fußnote, die in dem Zitat den Begriff des ›gewöhnlichen Verführers‹ erläutert, macht Camus auf einen interessanten Punkt aufmerksam. Der gewöhnliche Mensch hat Fehler. Das gelingende Leben ist kein unerreichbares Ideal der Perfektion, an dem der kon­ krete Mensch notwendig scheitern muss. Es ist durch den konkreten Menschen realisierbar, indem er sich selbst zum Absurden verhält. Dabei kommt Don Juan erneut der positiv besetzte Begriff der Gesundheit zu. Die folgende interessante Bemerkung beschreibt das Verhältnis des absurden Menschen zur Zeit: »Die Zeit geht mit ihm. Der absurde Mensch trennt sich nicht von der Zeit« (MS 96). Don Juan sammle die Frauen nicht und lebe in diesem Sinne nicht von seiner Vergangenheit (vgl. MS 96). Der absurde Mensch lebt nicht in der Vergangenheit. Er »erschöpft […] seine Lebenschancen« (MS 96), realisiert Möglich­ keiten in der Zeit. Dabei gehe und ver-geht seine Lebenszeit. Er lebt in der Gegenwart, im Bewusstsein und in der Anerkennung der Zeitlichkeit und Endlichkeit der Existenz. Das Leben gelingt in eben dieser Verwirklichung von Möglichkeiten im Verhältnis zur metaphysischen Wahrheit des Absurden. Die Möglichkeiten ergeben sich aus dem, wer man ist. Im Sinne von changé ist das nicht änderbar, im Sinne von transformé aber sehr wohl. »Solange er hoffte« (MS 94), die eine Frau zu finden, ist Don Juan zu dem geworden, der er ist. Nach der Einsicht in das Absurde kann er nicht bei Null anfangen, sondern lediglich sich ändern. Er scheint sich aber doch die Frage zu stellen, ob Don Juan nicht doch lediglich seine innere Haltung, sondern auch seine Handlung ändern sollte. Nutzt er die Frauen nicht aus? Sollte er ihnen gegenüber nicht die absurde Struktur transparent machen, anstatt jede in dem Glauben zu lassen, die eine Frau zu sein. »Ist er […] egoistisch« (MS 97)? Der Don-Juan-Mythos stellt damit Fragen der intersubjektiven Moralität, welche jedoch nicht der Punkt sind, auf den Camus in Zur These, dass die Auflehnung bei Camus in erster Linie eine Haltung ist, vgl. Galle (2009) 63.

267

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seiner Interpretation hinaus will. Dennoch wird der Eindruck erweckt, Don Juan sei in dem Szenario das einzige Subjekt. Aber jede der Frauen ist auch ein absurder Mensch. Es stellt sich damit die Frage der Verantwortung des Einzelnen im Verhältnis zum Anderen in Bezug auf dessen ggf. verdecktes Verhältnis zum Absurden. Sollte und kann man helfen zu entdecken? Auf den Egoismusvorwurf antwortet Camus, Don Juan sei auf seine Art zweifellos egoistisch, und dies bedürfe der Verständigung (vgl. MS 97). Camus differenziert dafür den Begriff der Liebe, die sich mit den »Illusionen des Ewigen« (MS 97) schmücke und deren »völlige Hingabe und Selbstaufgabe« (MS 97) eine als Ablenkung und damit Flucht von dem eigenen Leben Art des Selbstmords sei, von der Position Don Juans. »Don Juan hat gewählt, nichts zu sein. Für ihn geht es darum klar zu sehen« (MS 97). Die Wahl, nichts zu sein im Zuge der Beschreibung eines gelingenden Lebens, ist an dieser Stelle neu. Die befreiende Seinsweise Don Juans ist »die Liebe, die sich gleichzeitig vergänglich und einzigartig weiß« (MS 98). Camus wehrt sich gegen den Oberbegriff der Liebe als »kollektive Betrachtungsweise« (MS 98) und plädiert für die Einzigartigkeit des Einzelfalls, der der allgemeine Begriff nicht gerecht wird. Das gelingende Leben ist sich der Vergänglichkeit und Einzigartigkeit der Einzelerfahrung bewusst. Don Juans Frauen sind nicht einfach ›viele‹. Camus beschreibt Don Juan darauf mit einer dreifachen Meta­ phorik des Neuen oder Lebendigen: »Tode und […] Wiedergebur­ ten«, »Ernte seines Lebens«, »seine Art, zu geben und Leben zu spenden«268 (MS 98). Die Interpretation lautet damit, dass Don Juan nicht im biologischen Sinn im Akt der Fortpflanzung, sondern in der vergänglichen und einzigartigen Liebe Leben gibt, weil das Leben absurd ist und Don Juan diese Absurdität mit seinem Handeln und Leben bezeugt. Das eigentlich Lebendige liegt nicht oder nicht nur in der biologischen Vitalität, sondern im bewusst absurden Leben. Das Wissen um Einzigartigkeit, Vergänglichkeit und Vergeblichkeit befreit ihn, sein absurdes Tun ist Sinnbild des eigentlichen Lebens. Er wählt nicht, etwas zu sein, das er nicht ist. Er ist ohne festen Grund im Grunde nichts und wählt in diesem Sinne nichts zu sein. In dieser Form der Gabe von Leben, interpretiert nicht als ein Ausnutzen der Frauen, sondern als Verwirklichung der absurden Struktur des 268

»de faire vivre« (MS frz. 104).

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Lebens, verortet Camus offenbar das nicht-egoistische Moment des Don Juan. Daher grenzt er sich auch gegen den Teil der mythischen Erzäh­ lungen ab, in denen Don Juan bestraft und im Alter zum »Gespött« (MS 98) wird. »Für einen bewussten Menschen sind das Alter und die Dinge, die es ankündigen, keine Überraschungen« (MS 98). Das gelingende Leben zeigt sich im Umgang mit Alter und körperlicher Krankheit. Der absurde Mensch lebt genau nicht auf die Zukunft hin, als ob es immer so weiter gehe, sondern ist sich der Struktur des Ganzen, die Camus im Folgenden mit dem Begriff der Spielregel fasst, immer schon bewusst: »Und gerade das ist ja seine Großmut, dass er die Spielregel ganz und gar akzeptiert hat. Er weiß aber, dass er recht hat und dass es sich nicht um Strafe handeln kann. Ein Schicksal ist keine Bestrafung« (MS 99). Don Juan ist im Alter »gemartert und bejammernswert« (MS 99) geworden, aber er hat die ganze Zeit gewusst, dass er es werden wird. Es gehört dazu. Er hat den »unsicheren Spielraum« (MS 94) samt dessen Grenzen akzeptiert und fühlt sich daher im Recht. Camus formuliert an diesem Punkt unklar, ob Don Juan das Absurde »erahnt« (MS 99) oder »weiß« (MS 99). Für den absurden Menschen ist das Alter kein plötzlicher Schicksalsschlag, Krankheit und Gebrechen keine Strafe. Er akzeptiert die Spielregeln von vornherein. »Er gelangt zu einem illusionslosen Wissen, das alles leugnet, was sie [Bezug: die Vertreter der Ewigkeit] bekennen« (MS 99). Diejenigen, die an den Sinn des Ganzen glauben, fordern die Bestrafung Don Juans, da dieser mit seinem Leben die Sinnlosigkeit bezeugt. Camus schreibt Don Juan nun wieder ein Wissen, nicht lediglich eine Ahnung der Wahrheit des Absurden zu. Dabei kommt Don Juan auch der Begriff des Eroberers zu, der an dieser Stelle zum zweiten Mal in der Schrift verwendet wird (vgl. dazu MS 91), und dem als Bild des gelingenden Lebens noch ein eigenes Unterkapitel im Mythos des Sisyphos gewidmet werden wird. Der absurde Mensch kämpft nicht gegen Vertreter der Religiosi­ tät. Er weiß sich ihnen erkenntnismäßig überlegen und ignoriert sie – und genau dadurch ist er, in dem Maße, in dem er sie ignoriert, ihr schlimmster Feind. In der Auseinandersetzung mit Religion als Aufforderung zum Sprung in das Falsche scheint dieser Punkt Camus’ wichtig zu sein: Derjenige, der der Religion wirklich gefährlich wird, bekämpft sie nicht. Don Juan wagte zu denken gewagt und leugnete folgerichtig die ewige Vernunft, die Ordnung, die allgemeine Moral und Gott (vgl. MS 100). Er forderte einen nichtexistierenden Gott

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heraus und »der Gottlose […] [musste] die furchtbare Bitterkeit derer fühlen [...], die recht gehabt hatten« (MS 100). Die Wahrheit ist im Grunde negativ. Camus diskutiert in diesem Kontext die verschiede­ nen Tode des Don-Juan-Mythos in der Literatur und plädiert im Zuge seiner Interpretation für die Variante des Ganges ins Kloster: Um welche Zuflucht sollte er Gott bitten? Es stellt eher den logischen Abschluss eines vom Absurden ganz und gar durchdrungenen Lebens symbolisch dar, die trotzige Auflösung einer Existenz, die ganz auf zukunftslose Freuden ausgerichtet war. Das Genießen vollendet sich hier in der Askese. Man muss verstehen, dass sie gleichsam die beiden Gesichter ein und desselben Mangels sein können. Ein Mensch [...] vollendet die Komödie, indem er Aug in Aug mit dem Gott, den er nicht verehrt, das Ende erwartet [...] kniend vor der Leere und die Arme einem stummen Himmel entgegengestreckt, der für ihn keine Tiefe hat (MS 100 f.).

Camus endet mit einem Paradox: Der Genuss vollendet sich in der Askese. Folgerichtiger Abschluss des absurden Lebens ist der Gang des Ungläubigen ins Kloster, kniend vor der Leere. Der absurde Mensch nimmt damit den Ort und den Ritus des Glaubens ein. Äußerlich dem Glauben zum Verwechseln ähnlich liegt das Gelingen im Inneren, im Bewusstsein der Gegenwart des Absurden. Es bleibt festzuhalten: Camus konkretisiert seinen Gedanken­ gang in seiner Don-Juan-Interpretation. Don Juans Leben ist, der negativistischen Methode folgend, der Gegenentwurf zur Negativfo­ lie der Suche nach der, wie Camus sagt, totalen Liebe. Don Juan weiß, dass es die Frau nicht gibt. Sein Leben als Leben eines gewöhn­ lichen Menschen gelingt, von Außen vom misslingenden Leben ununterscheidbar, im Erkennen und Anerkennen der metaphysischen Wahrheit der absurden Grundstruktur des Lebens, der Abwesenheit eines tiefen Grundes, als ein begrenzter – auch zeitlich begrenzter – Spielraum, in dem der Mensch nicht nicht sein will, wer er nicht ist, sondern seine begrenzten und je einzigartigen Möglichkeiten im Bewusstsein des Absurden realisiert. Er verlässt die Frauen nicht in der Hoffnung auf etwas, sondern weil sich darin die Struktur des Absurden abbildet. Das eigentlich Lebendige liegt nicht in der biologi­ schen Vitalität, sondern im geistig-bewussten Leben. Camus interpre­ tiert die Verwirklichung des absurden Lebens als eine Form der Gabe des Lebens. Der absurde Mensch wird von Alter und Krankheit nicht überrascht. Gelingen zeigt sich gerade im Bewusstsein der Struktur des Lebens. Er ignoriert die Vertreter der Religion(en). Er fordert

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einen Gott heraus, den es gar nicht gibt. Aufgrund der Negativität der Wahrheit ist es bitter, Recht zu haben und Recht gehabt zu haben. Das normativ Gesollte kann auch in diesem Kapitel nicht als abstraktes Prinzip gefasst werden, sondern in Form einer Interpretation eines Mythos in einem theoretischen Kontext, die der einzelne Mensch noch einmal selbst in sein Leben zu übersetzen hat. Offen bleibt in diesem Unterkapitel die Verantwortung des absurden Menschen gegenüber dem Anderen und für dessen Selbsterkenntnisprozess als absurder Mensch.

4.2 Der Schauspieler Die nun folgende zweite Skizze mit dem Anspruch der Weiterführung und Konkretisierung des Gedankengangs ist die des Schauspielers. »›Das Schauspiel‹, sagt Hamlet, ›sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe‹„ (MS 102).269 Camus problematisiert hier das Unterfangen Hamlets, dass Gewissen des Königs mit der Wirkung des Theaters gemäß klassisch-aristotelischer Tragödien­ theorie – eleos und phobos – einzufangen. Man müsse das Gewissen »in dem unschätzbaren Augenblick270, da es einen flüchtigen Blick auf sich selbst wirft« (MS 102), einfangen. »Der Alltagsmensch« (MS 102) reflektiert nur flüchtig. Er hat keine Zeit. Im Theater nimmt er »Poesie auf [...], ohne ihre Bitterkeit [Bezug: die Schicksale der Protagonisten] zu erleiden« (MS 102). Die Tragödie wirkt also in der Regel nicht, da sie nicht zu Selbstre­ flexion und Selbstveränderung anregt. Man findet es schön. Der Alltagsmensch, der das misslingende Leben lebt, lebt unbewusst, hofft, »bewundert« (MS 102) das Theater, ohne dass es ihn letztlich selbst betrifft. Ihn interessiert zwar, was er sein könnte, aber ihm fehlt es an wirklicher Reflexion. Als Gegenentwurf zu dieser Negativfolie des theaterbesuchenden Alltagsmenschen entwirft Camus hier das Bild des Schauspielers, der »das Spiel nicht mehr bewundert, sondern in es eindringen will« (MS 102), als Skizze für ein gelingendes Leben. 269 Hier zitiert der deutsche Herausgeber eine, wie er auch selbst anmerkt (vgl. MS Endnote 82 des Herausgebers), fehlerhafte deutsche Hamlet-Übersetzung, während Camus im Original eine gelungene französische Übersetzung zitiert, in der das Ich Subjekt ist: »Le spectacle, dit Hamlet, voilá le piége oú j’attraperai la conscience du roi« (MS frz. 108). 270 »moment« (MS frz. 108).

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Nicht jeder Schauspieler sei ein absurder Mensch, aber das Schicksal des Schauspielers sei absurd (vgl. MS 102). Der Schauspieler ist nicht der, der eine Vorstellung konsumiert, nach ihr nach Hause geht und weiter lebe wie bisher. Er lebt für das Theater. Entscheidend sind die Gegenbegriffe »Poesie« (MS 102) und »Bitterkeit« (MS 102). Der absurde Mensch hat Zugang zur negativen Wahrheit, weil er geistiger, reflektierter lebt und mit der alltäglichen Betriebsamkeit gebrochen hat, in welcher der Alltagsmensch aufgeht und den abendlichen Theaterbesuch integriert. Letzterer versteht die Tragik nicht. Camus illustriert die Vergänglichkeit aller menschlichen Kultur und Zivilisation. Selbst Goethe werde in zehntausend Jahren verges­ sen sein (vgl. MS 103). »Aus der Tatsache, dass eines Tages alles sterben muss, zieht er [Bezug: der Schauspieler] den besten Schluss« (MS 103): Er »herrscht im Vergänglichen.« (MS 102) Die Tätigkeit des Schauspielers hinterlasse nichts. Der Schauspieler verfügt über drei Stunden, um Jago oder Alkestis, Phädra oder Glocester zu sein. In dieser kurzen Zeitspanne lässt er sie auf fünfzig Quadratmeter Bretterboden erstehen und sterben. Nie sonst ist das Absurde so treffend und so ausführlich veranschaulicht worden. [...] Von der Bühne abgetreten, ist Sigismund nichts mehr (MS 103 f.).

In dieser Darstellung ist die Zeitlichkeit als Vergänglichkeit Grund­ struktur des Absurden.271 Sie deckt sich mit der Analyse des Todes als »offensichtlichste Absurdität« (MS 78), der uns die »elementare und endgültige Seite« (MS 26) des Lebens erschließt. Camus Gesamtkon­ zeption liegt darin, angesichts dieser Erkenntnis konsequent zu leben, und dies verkörpere der Schauspieler. Er ist nicht der Alltagsmensch. Er spielt »wirklich« (MS 102), und seine Arbeit, all seine Anstren­ gung, hinterlasse nichts (vgl. MS 103). Das, was den Schauspieler eigentlich ausmacht, seine »Gebärden«, »Pausen« und »Atemstöße« (MS 103), sind nicht nur nicht von Dauer, man kann noch nicht einmal sagen, dass sie Gegenstand der Erinnerung sins. Das gelingende Leben ist in diesem Sinne fruchtlos, es liegt in seiner Struktur, dass sein Tun nichts sein wird, zunichte gemacht werden wird. Genau darin liegt sein Bezeugen der metaphysischen Wahrheit des Absurden. Der Schauspieler als der absurde Mensch ist der »Reisende der Zeit« (MS 104). Er »schöpft […] etwas aus« (MS 104) und geht 271 Die Deutung der Schauspieler empöre sich, nur ein Leben zu haben (vgl. A. Pieper (1994) 10), überzeugt hier nicht.

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weiter. Gegenbegriff zum in diesem Sinne gelingenden Leben ist hier offenbar der Begriff der Oberflächlichkeit. Der Schauspieler »identifi­ ziert« (MS 104) sich von jeder Rolle, aber hat nicht die Illusion von Dauer im Sinne eines Festhalten-Könnens. Das Schreiten von Rolle zu Rolle versteht Camus zudem als Bild der Ethik der Quantität (vgl. MS 104). Am Beispiel des Schauspielers formuliert Camus die in der Untersuchung neue These, der zufolge es keinen Unterschied gebe zwischen dem, was ein Mensch sei und dem was er sein wolle. Der Schein prägt das Sein (vgl. MS 105). Es gibt nichts hinter dem, was er tut. Am Ziel der Anstrengung wird seine Berufung deutlich: sich mit allen Kräften darum bemühen, nichts oder mehrere zu sein. [...] Er wird in drei Stunden sterben mit dem Gesicht, das heute sein Gesicht ist. [...] In diesen drei Stunden geht er bis ans Ende eines nirgendwohin führenden Weges, für den der Mensch im Parkett sein ganzes Leben braucht (MS 105).

Der Schauspieler verkörpert mit seinem Beruf in einer, genauer gesagt, in jeder Rolle das Leben als Ganzes. Das gelingende Leben ist leidenschaftliches (vgl. MS 106) Hineintauchen, ein wirkliches voll und ganz Spielen, in vollem Bewusstsein, dass es am Ende zu nichts führt. Es ergibt sich eine gewisse Gleichzeitigkeit von Involviertheit und Reflexion oder Bewusstsein. Der absurde Mensch ist nicht passiv, aber er verliert auch nicht den Bezug zur Struktur des Ganzen. Mit der Wahl des Theaters als Bild besetzt Camus die Begriffe Vergänglichkeit, Schein und Körper positiv (vgl. MS 105) – und damit die Gegenbegriffe zu den Begriffen Ewigkeit, Sein und Seele der klassischen metaphysisch-christlichen Tradition. Der Schauspieler ist kein Reproduzierender, obwohl sein Beruf darin besteht, Skripte und Anweisungen zu befolgen. Mit Verben wie komponieren, zeichnen oder meißeln (vgl. MS 106) betont Camus die kreative Seite dieser Tätigkeit. Das gelingende Leben ist also ein schöpferisches Leben, auch wenn dies nicht immer auf den ersten Blick sichtbar ist. Das gelingende Leben ist dazu wesenhaft körperlich. »Er [Bezug: der Schauspieler] löst den Bann der gefesselten Seele« (MS 106). Es ist, wie schon mehrfach herausgestellt, ein leidenschaft­ liches Leben. »Durch ein absurdes Wunder ist es wieder der Körper, durch den die Erkenntnis kommt. Ich verstände Jago nur dann, wenn ich ihn spielte, es nützt mir nichts, wenn ich ihn nur höre« (MS 107). Quasi nebenbei spezifiziert Camus seinen Verstehensbegriff, der auch für

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seine Philosophiekonzeption von zentraler Bedeutung ist und an die Fassung von Verstehen als »Durchleben« (MS 35) anschließt. Der Zuschauer versteht Jago nicht, der Schauspieler versteht ihn. Man muss Jago sein, in die Rolle schlüpfen, sich voll und ganz darauf einlassen. Es muss das eigene Leben sein. Schein und Sein fallen zusammen. Verstehen ist nicht rezeptiv, intellektuell oder kognitiv. Das genügt nicht. Man muss etwas leben, um es zu verstehen. Der Nachvollzug muss sich im Leben ›abspielen‹, im Leben realisieren. In dieser Hinsicht widerspricht der Schauspieler sich: er ist derselbe und doch so verschiedener, und so viele Seelen vereint er in einem einzigen Körper. Aber das ist der absurde Widerspruch selbst. Dieses Individuum, das alles erreichen und alles leben möchte, dieser vergebli­ che Versuch, dieses ergebnislose Beharren. Was sich stets widerspricht, das eint sich in ihm trotzdem. Er steht an jener Stelle, an dem Körper und Geist sich treffen und umschlingen, an der der Geist, seiner Niederlagen müde, sich seinem treusten Bundesgenossen272 zuwendet (MS F.).

Das gelingende Leben ist demnach ein im Grunde vergeblicher und ergebnisloser Versuch. Camus versucht an dieser Stelle, die Spannung zwischen leidenschaftlichem Versuch und reflektierter Ausweglosig­ keit mit einem Dualismus von Körper und Geist zu greifen, der sich im Individuum »eint« (MS 107). Der absurde Mensch bringt leidenschaftliche Involviertheit und reflektierende Distanz zusam­ men, offenbar indem er einen Platz in der Welt mit seiner ganzen Person einnimmt, sich dabei aber zugleich immer zur metaphysischen Wahrheit des Absurden verhält. Er verliert sich weder in der Welt, noch, nach Bruch und Rückkehr, in Passivität und Starre im Angesicht des Absurden. Er lebt im Angesicht des Absurden. In den letzten Abschnitten seines Unterkapitels zum Theater möchte Camus den historischen Gegensatz zwischen Schauspiel und Kirche für seine Studie fruchtbar machen. Die Kirche verurteilte den Schauspieler. Dessen »Lust am Gegenwärtigen« (MS 108) sei die Verneinung der kirchlichen Lehre, für die der Begriff der »Ewigkeit« (108) zentral ist. Gegenwart und Ewigkeit werden hier also als Gegen­ begriffe konzipiert. Das Schauspielern an sich, so Camus, wurde Weigerung »nur ein Schicksal zu leben« (MS 108), also als Weigerung der zu sein, der man ist, aufgefasst. 272

»allié« (MS frz. 114).

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»Wichtig ist nicht das ›ewige Leben‹, sagt Nietzsche, sondern ›die ewige Lebendigkeit‹. In dieser Wahl liegt tatsächlich das ganze Drama« (MS 108)273. Mit Nietzsche konzipiert Camus die Wahl zwischen misslingendem, hier als religiösem, und gelingendem Leben als Wahl zwischen ewigem Leben und ewiger Lebendigkeit. Leben­ digkeit wird zum Gegenbegriff zum Leben, das das Leben der leben­ den Toten meint. Das Adjektiv ›ganz‹ betont die Schlüsselstellung dieser Entgegensetzung. Camus führt das Beispiel eines konkreten Menschen an, Adrienne Lecoureur, die im Augenblick vor dem Tod bereit zur Kommunion, jedoch nicht zur Aufgabe ihres Berufs der Schauspielerin gewesen sei (vgl. MS 108). Sie habe »für ihre tiefe Passion und gegen Gott Partei« (MS 108) ergriffen. »Das war ihre schönste Rolle« (MS 109) – auch ihr Leben ist eine Rolle. Es gibt kein ›dahinter‹. Das Leben gelingt im Widerstand gegen Gott. Der absurde Mensch zieht »sich selbst der Ewigkeit vor« (MS 109). Es gelingt also genau nicht in der Wahl dessen, was die Kirche das je eigene Schicksal oder Leben nennt, sondern in der Wahl von Gegenwärtigkeit, Leidenschaft und Lebendigkeit. Ewigkeit wird für den absurden Menschen dabei zum Prädikat eines endlichen Daseins. Die Wahl des Religiösen ist die Wahl des Falschen, gegen welche Camus die Wahl des Richtigen konzipiert. Camus führt das Bild weiter fort: Der Schauspieler wählte seinen Beruf im Wissen um seine Exkommunikation. »Diesen Beruf ergrei­ fen hieß die Hölle wählen.« (MS 109) Mit der Wahl eigentlicher Lebendigkeit und eigentlicher Gegenwart – mit der Wahl seines »Selbst« (MS 109) – wählt der absurde Mensch im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle. Dieser Schluss ist für Camus scheinbar paradoxe Konzeption des gelingenden Lebens zentral. Die Wahl der Wahrheit ist die Wahl der letztlichen Nichtüberwindbarkeit der Negativität. Der Schauspieler wusste also, welche Vergeltung ihm versprochen war. Aber welchen Sinn konnte eine derart vage Drohung haben angesichts der letzten Strafe, die das Leben für ihn bereit hielt? Gerade diese Strafe empfand (éprouvait MS frz. 115 auch: erfuhr) er im voraus, und er nahm sie ganz und gar an. Für den Schauspieler wie für den absurden Menschen ist ein vorzeitiger Tod irreparabel. [...] Wie auch immer – man muß sterben. [...] die Zeit reißt auch ihn mit sich und lässt ihn ihre Wirkung spüren (MS 109, Hervorhebung JA). Im französischen Original wird das gesamte Zitat, in der deutschen Übersetzung nur die Schlüsselbegriffe als Nietzschezitat ausgewiesen (vgl. MS frz 114).

273

110 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

4 Skizzen

Das Leben gelingt im Hier und Jetzt durch die Todeserfahrung im Voraus und ihre Annahme, man könnte mit Camus sagen, in der konsequenten Reaktion auf sie. Dieser für die Sache zentralen Figur gibt Camus wenig Raum, er erwähnt sie quasi nebenbei. Dem Tod kommt hier das Negativprädikat der Strafe zu. Die Drohungen der Kirche sind im Angesicht der Grundstruktur des Lebens wirkungslos. Der absurde Mensch wählt nicht die Illusion der Hoffnung, sondern findet durch das ›Vorlaufen‹ zum Tod zu sich selbst. Der absurde Mensch lebt »in der Zeit« (MS 110), diese Formulierung wiederholt Camus zum Abschluss des Unterkapitels zweimal. »Es kommt die Zeit, da er sterben muss […] Er sieht klar. Er fühlt das schmerzliche und unersetzliche dieses Abenteuers« (MS 110). Camus bezieht hier seine zentrale Figur des klaren Sehens auf Zeitlichkeit, Sterblichkeit, Negativität und Einmaligkeit. Das Leben in der Zeit – und damit das Leben in seiner wahren Bedeutung – erschließe der Einzelne vom Tod her.274 Um die Analyse noch einmal knapp zusammenzufassen: Das Bild des Schauspielers ist der Gegenentwurf zur Negativfolie des theaterbesuchenden Alltagsmenschen. Der Schauspieler hinterlässt nichts und personifiziert damit die vergängliche Grundstruktur des Lebens. Er spielt ›wirklich‹, leidenschaftlich, im Wissen, dass es am Ende zu nichts führt, gleichzeitig involviert und reflektierend. Das gelingende Leben ist ein kreatives Leben – auch wenn es auf den ers­ ten Blick nicht danach aussehen mag. Camus setzt seine Konzeption klar der metaphysisch-christlichen Tradition entgegen, indem er mit Vergänglichkeit, Schein und Körper die Gegenbegriffe zu Ewigkeit, Sein und Seele für sich besetzt. Das Leben gelingt nicht in der Ewigkeit als einem Jenseits, sondern in der Zeitlichkeit, nicht als Illusion des ewigen Lebens, sondern als ewige Lebendigkeit. Die Wahl des Religiösen ist die Wahl des Falschen, gegen welche Camus die Wahl des Richtigen als Wahl der Nichtüberwindbarkeit der Negativität konzipiert. Die Entscheidung gegen Gott ist die Wahl des eigenen Selbst. Das Leben gelingt in der Todeserfahrung ›im Voraus‹, von der her der absurde Mensch sich selbst entdeckt und konsequent lebt. Verstehen ist nicht rezeptiv, intellektuell oder kognitiv. Verstehen realisiert sich als Vollzug im eigenen Leben.

Whistler weist die Grundzüge dieser Figur bereits in der Dissertation Camus’ nach (vgl. Whistler (2018) 53.

274

111 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

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4.3 Der Eroberer Ziel des folgenden Abschnitts sind Darstellung und Analyse der drit­ ten Skizze, die das Bild gelingenden Lebens im Mythos des Sisyphos sowohl ergänzen als auch konkretisieren soll: das Bild des Eroberers. Camus beginnt das entsprechende Unterkapitel mit dem Wort »Nein« (MS 111). Der Eroberer fasst seine Position, methodisch nega­ tivistisch, als Gegenentwurf zu demjenigen, der vorgibt, über sicheres Wissen zu verfügen, dieses aber nicht ausdrücken kann und darin auch kein Defizit sieht (vgl. MS 111). Dies sei maximal oberflächliches, in der Regel aber gar kein Wissen. Dieser Position gegenüber stellt Camus die bekannten Begriffe klar, sicher und evident (vgl. MS 111). »[...] Eine einzige Wahrheit [...] genügt für die Dauer einer Existenz« (MS 111). Die These ist, dass eine Wahrheit, die des Absurden, genügt, damit gelingendes Leben möglich ist. Der Begriff des Individuums, der auf den vorherigen 110 Seiten des Mythos des Sisyphos lediglich dreimal gefallen ist, rückt in diesem Unterkapitel ins Zentrum des Gedankengangs: »Ich jedenfalls habe ganz entschieden etwas über das Individuum auszusagen« (MS 111). Diesem Vorhaben fügt Camus die beachtliche These hinzu: »[...] ich glaube fest, dass alle, die über das Individuum geurteilt haben, ihr Urteil mit viel weniger Erfahrung begründet haben als ich« (MS 111). Ziel ist also ein auf Erfahrung gegründetes Urteil über das Indivi­ duum, demgegenüber der Verstand vielleicht geahnt habe, »was fest­ zustellen wäre« (MS 111). Diesen Erfahrungsbegriff spezifiziert Camus im Satz darauf: Es sind die »evidenten Tatsachen« (MS 112) der Trümmer und des Bluts »unseres Maschinenzeitalters« (MS 112). Zum ersten Mal wird damit in dem 1942 veröffentlichten Werk die Erfahrung des Negativen, die beim Alltag in »Büro oder Fabrik« (MS 22) ansetzte, auf das politische Geschehen der Zeit ausgedehnt, wel­ che inmitten des Krieges für Camus wesentlich das Zeitalter der Tech­ nik ist. Camus plädiert gegen einen ästhetischen Genuss der während der Kriege entstandenen Werke holländischer Maler oder Predigten schlesischer Mystiker, welcher in diesen »ewige Werte« über den »weltlichen Wirren« (MS 112) zu sehen meint. Er kritisiert nicht lediglich die Rezipienten, sondern die »heitere Ruhe« (MS 112) dieser Maler. Seine eigene Konzeption der Kunst wird Camus später kon­ kretisieren (vgl. MS 146 ff.).

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4 Skizzen

Mit jeder Form, die in den Schützengräben umkommt, mit jedem Strich, jeder Metapher und jedem Gebet, das vom Stahl zermalmt wird, verliert das Ewige eine Partie. Da ich mir bewusst bin, mich nicht von meiner Zeit trennen zu können, habe ich beschlossen, eins mit ihr zu sein. Nur deshalb mache ich vom Individuum so viel Aufhebens, weil es mir lächerlich275 und erniedrigt scheint (MS 112 f.).

Camus sieht das Ewige durch die Geschichte widerlegt. Der Einzelne ist wesenhaft geschichtlich, wird in der geschichtlichen Wirklichkeit aber erniedrigt. Die Wirklichkeit wird dem Wert des einzelnen Men­ schen nicht gerecht. Genau an dieser Stelle plädiert Camus für das Individuum und gegen eine Welt, in der der Einzelne nur noch eine Nummer ist und von der Maschinerie »zermalmt« (MS 119) wird. Diese Grundkonstellation scheint für die Moderne allgemein zu gelten, sowohl für Büro und Fabrik als auch für die Schützengräben. Camus expliziert diese übergreifende Perspektive jedoch nicht. Es gebe keine Sache, keine Ideologie, die am Ende siegen werde (vgl. MS 113). Die Niederlage ist das übergreifende Ganze, Siege lediglich »vorübergehend« (MS 113). Camus beschreibt eine Wahl zwischen Kontemplation und Aktion, zwischen Ewigkeit und Geschichte, Gott oder Zeit, Kreuz oder Schwert, höherem Sinn oder Geschäftigkeit – zwischen dem sich seiner Zeit um eines höheren Lebens willen entziehen oder einem Leben und Sterben in seiner Zeit (vgl. MS 113). Camus wählt die zweite Seite und begründet diese Wahl mit dem Verweis auf Gewissheit. Die »Kraft, die mich zerdrückt« (MS 113) ist gewiss und als Erfahrung des Negativen das Kriterium für Wahrheit und Wirklichkeit. Der Mensch leidet und erschließt durch sein Leiden die Realität. Dabei wehrt sich Camus gegen einen Mittelweg, ein Leben in der Zeit bei gleichzeitigem Glauben an die Ewigkeit: »Ich will alles oder nichts« (MS 113). Die Kontemplation, die klassische Konzeption des gelingenden Lebens seit Aristoteles, »kann mir nicht alles geben« (MS 113), ist ein angesichts der menschlichen Wirklichkeit unzureichendes Konzept gelingenden Lebens. »Klar sehen« (MS 114) ist Camus’ entscheiden­ des Kriterium. »Ich sage euch, morgen werdet ihr mobilisiert werden. Für euch und wie für mich ist das eine Befreiung. Das Individuum kann nichts und vermag dennoch alles. [...] Die Welt zermalmt es. Das Französische »dérisoire« (MS frz. 119) meint lächerlich im Sinne etwa eines Spottpreises.

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113 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

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Ich setze es in all seine Rechte ein«276 (MS 114). Das gelingende Leben ist kein Leben der Kontemplation, das sich verbittert von der Welt abwendet oder sehnsüchtig auf ein höheres Leben hofft (vgl. MS 113). Das gelingende Leben ist ein Leben des Widerstandes – auch und nach diesem Kapitel besonders in gesellschaftspolitischer Dimension. Obwohl der Kampf letztlich aussichtslos sein wird, hat der Widerstand allein etwas Befreiendes. Leiden erschließt die Wirk­ lichkeit einer Maschinerie der Vernichtung. Im Widerstand gegen diese realisiert sich die Freiheit. Das Individuum hat in diesem Prozess eine eigenartige Doppelstruktur. Es ist zugleich machtlos und letztlich doch das einzige, das Macht hat, von dem Handeln ausgeht. Den folgenden Gedanken beginnt Camus mit dem Verweis auf das Wissen und die Nutzlosigkeit der Tat (vgl. MS 114). Den Nutzenbegriff als Positivbegriff verwendet er dabei zum ersten Mal im Mythos in dieser Form. »Es gibt nur eine nützliche Tat: die den Menschen und die Erde neu erschaffen würde. Ich werde die Men­ schen niemals neu erschaffen. Aber man muss so tun ›als ob‹„ (MS 114). Die Tat der Neuschöpfung, traditionell die göttliche Tat, wäre in diesem Sinne nützlich. Das gelingende Leben als Leben des Kampfes oder Widerstandes ist ein So-Tun-als-ob, wissend um das Als-Ob und die Unmöglichkeit der Realisierung des im hier skizzierten Sinne Positiven. Unklar ist, warum Camus sagt, das Fleisch sei seine »einzige Gewissheit« (MS 114), während es zuvor bestimmt wurde als ein Zugang zur einzigen Gewissheit des Absurden. Im Wissen um die Grundstruktur der Existenz ist gelingendes Leben die Wahl der »absurden und folgenlosen Anstrengung [… des] aussichtslosen Opfers« (MS 114), der Sache nach gegründet in der Wahrheit des Absurden und dem Wert der Wahrheit selbst. Auch der »Sieg« (MS 114), eine letztliche Wendung ins Positive, bleibt »wünschenswert« (MS 114), während gleichzeitig das Bewusstsein um ihre Unerreichbarkeit klar bleibt. [...] dem wesentlichen Widerspruch gegenüberstehend, halte ich an meinem menschlichen Widerspruch fest. Ich stelle meine Klarheit mitten hinein in das, was sie verneint. Ich erhebe den Menschen angesichts dessen, was ihn niederdrückt, und meine Freiheit, meine Auflehnung und meine Leidenschaft vereinen sich dann in dieser Spannung, in dieser Hellsichtigkeit, in dieser maßlosen Wiederholung. 276

»Je le fournis de tous ses droites« (MS frz. 120) auch: Ich gebe ihm all seine Rechte.

114 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

4 Skizzen

Ja, der Mensch ist sein eigener Zweck. Und er ist sein einziger Zweck. Wenn er etwas sein will, dann nur diesem Leben (MS 115).

Camus richtet sich damit nicht gegen Gott, »die Götter« (MS 114) oder einen Begriff von Schicksal in diesem Sinne, sondern gegen die Welt und die den Menschen zermalmende Maschinerie. Der Unklarheit des Ganzen stellt er die Klarheit des Absurden gegenüber, deren Wahrheit den Menschen erhebt. Der Begriff der »Wiederho­ lung« (MS 115) fällt hier erst zum dritten Mal im Werk nach zwei Nennungen im Kapitel zu Don Juan. Camus fasst das gelingende Leben als Wiederholung der drei Konsequenzen aus dem Absurden: Freiheit, Auflehnung und Leidenschaft. Das »Ja« deutet dabei in gewisser Weise eine Folgerung aus dem bisher Gesagten an. Camus schließt, nicht streng logisch, sondern vor dem Hintergrund des bisher gesagten, von dem Sich-Erheben des Menschen gegenüber der Maschinerie als Konsequenz aus dem absurden Denken, auf einen Begriff des Selbstzweckcharakters der Menschen, der dem der kantischen Moralphilosophie sehr nahe zu kommen scheint.277 Das Absurde verleiht dem Menschen einen unbedingten und in diesem Sinne absoluten Wert. Die Konzeption gelingenden Lebens fasst also den Menschen anthropologisch wesenhaft als Einzelnen, dem ein absoluter Wert und aus diesem in einem normativen Sinne »Rechte« (MS 115) zukommen, die in der Wirklichkeit, in der eine Maschinerie ihn zermalmt, permanent verletzt werden. Camus wendet sich damit gegen eine aristotelische Konzeption des Selbstzweckcharakters der »Kontemplation« (MS 113) und für eine kantische Konzeption, in der der Selbstzweckcharakter dem Menschen zukommt, betont aber, dass wir den Menschen nicht als abstraktes Subjekt, sondern als Einzelnen fassen müssen und die Wirklichkeit nicht über den »Verstand« (MS 111), sondern über die Erfahrung des Negativen erschließen.278 Im Anschluss an diese Kant-nahe Formel beschreibt Camus eine Augenblickerfahrung des absurden Menschen, die aber nicht in Gott, sondern im Bewusstsein der Größe des menschlichen Geistes gegründet ist (vgl. MS 115). Ein Sieg oder ein »Überwinden« (MS 115) des Negativen sind unmöglich. Die Augenblickerfahrung liegt genau im Bewusstsein der Struktur des Absurden. »Eroberer sind unter den Menschen nur jene, die ihre Kraft stark genug fühlen, um sicher zu sein, dass sie beständig auf diesen Höhen leben können und 277 278

Vgl. dazu Kant, GMS 62. Camus beginnt bei der Identifikation des Inhumanen (vgl. Corbic (2003) 227 ff.).

115 https://doi.org/10.5771/9783495998632 .

I Camus: Der Mythos des Sisyphos

in vollem Bewusstsein dieser Größe« (MS 115). Mit dem Adjektiv ›beständig‹ fasst Camus gelingendes Leben als ein Auf-Dauer-Stellen dieser Augenblickserfahrung, wobei dies graduell zu verstehen sei, »eine Frage von mehr oder weniger« (MS 115). Das Verhältnis zum Absurden begründet die Erfahrung eigentlicher Zeit. Dazu fasst er hier zum ersten Mal gelingendes Leben mit der Metaphorik der Höhe. Der Position Camus’ als Konsequenz aus dem Tod Gottes kommt gegenüber konkurrierenden Positionen, so die These dieser Arbeit, durch das Formulieren einer neuen Wahrheit das höhere Reflexionsniveau zu. In einem Kapitel, das den Begriff des Menschen als Individuum ins Zentrum rückt, kommt Camus nun über Begriff des »Wertes [… des] Menschen« (MS 116) zu einem Begriff von Gemeinschaft. Von wesentlicher Bedeutung sind dabei die Begriffe der Verwundbarkeit und der Vergänglichkeit. »Brüderlichkeit« (MS 116) und »Freund­ schaft der Menschen untereinander sind die wahren Reichtümer, da sie vergänglich sind« (MS 116). »Sie [Bezug: die Intelligenz279] kennt ihre Abhängigkeiten und macht sie sichtbar. Sie wird mit dem Körper sterben. Doch das zu wissen, das ist ihre Freiheit« (MS 116). Das Wissen um den eigenen Tod und die Vergänglichkeit erschließt dem Einzelnen also seine eigentliche Freiheit. Gleichzeitig liegt aber, so Camus’ implizite Argumentation an dieser Stelle, in diesem Wissen um die eigene Vergänglichkeit und Verwundbarkeit auch die Brücke zum Anderen. Menschen verstehen sich (selbst) als verwundbar und verstehen sich (intersubjektiv) von dieser Negativität her. Ihnen kommt ein absoluter Wert zu, der permanent verletzt wird, und dies verbindet. Im letzten Abschnitt des Unterkapitels ›Die Eroberung‹ positio­ niert Camus seine Konzeption gegen die Begriffe »Ideen«, »Ewigkeit« und »Dauer« (MS 117), wobei er nicht sich gegen religiöse Positionen stellt, sondern »alle Kirchen« als »gegen uns« (MS 116) darstellt. »Glück«, »Mut«, »Lohn« und »Gerechtigkeit« (MS 116) seien für Kirchen Ziele zweiter Ordnung – sollen damit also, so der Autor implizit, Ziele erster Ordnung sein. Wenn Camus sagt, er könne gegen die religiösen Ideen seine Wahrheiten »mit Händen greifen« (MS 117), so bezieht sich der Begriff ›Wahrheiten‹ auf die Konzep­ tion des Absurden in ihrer Entfaltung. Fundamental für Ziele erster Ordnung und die Wahrheit des Absurden ist der Tod, in diesem 279

»l’intelligence« (MS frz. 122) wurde zuvor als ›Verstand‹ übersetzt (vgl. MS 111).

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4 Skizzen

Kapitel nicht gegenwärtig als äußerste Möglichkeit des Einzelnen, sondern als »Friedhöfe, die Europa bedecken« (MS 117) mit den Toten der Weltkriege. Camus beschreibt den Tod mit dem Superlativ als »schlimmster Missbrauch« (MS 117). Dabei bleibt unklar, wie die Aufforderung, der Tod müsse erobert werden, zu verstehen ist. »In der Welt des Aufrührers ist der Tod die Feier der Ungerech­ tigkeit« (MS 117)280. Der Tod in der Gestalt des Massensterbens in den Weltkriegen scheint das Nichtseinsollende in seiner höchsten Ausprägung darzustellen. Dies gelte es »zu überwinden« (MS 117), abzustellen. Während die Friedhöfe der Kirchen »unter lauter Blumen und Vögeln« »lächeln« (MS 117) »[...] wählt« der Eroberer »die namenlose Grube« (MS 117) als »Bild [des] Todes« (MS 118), also als Bild dafür, wie der Tod in diesem geschichtlichen Kontext als das Negative zugegen ist. »Bewusstsein unserer bedeutungslosen condi­ tio« als »klarer Blick« (MS 118) kennzeichnet den Standpunkt des Absurden, dem die »besten« (MS 117) der Vertreter eines religiösen Standpunkts mit einem »mit Hochachtung und Mitleid gemischten Entsetzen vor Geistern, die mit einem solchen Bild ihres Todes leben können« (MS 118), begegnen. Auch hier ist also das gelingende Leben von einem Verhältnis zum Tod bestimmt, diesmal im Verhältnis zur Wahrheit des Mas­ sensterbens in den Kriegen. Der absurde Mensch verdrängt diese Wahrheit nicht, auch nicht mittels einer jenseitigen Hoffnung. Die namenlosen Gruben sind die Wirklichkeit und das Ende. Zum ersten Mal verwendet Camus an dieser Stelle den Begriff der Hochachtung, den er dem Urteil des religiös-misslingenden über das absurd-gelin­ gende Leben zuschreibt. Das misslingende Leben kann mit dem Bild des Todes nicht leben. Das gelingende Leben schöpft dagegen seine »Kraft« (MS 118) aus diesem Verhältnis zum Tod. Zu fragen bleibt, ob Einsicht und Anerkennung des Absurden Bedingung der Möglichkeit für den Einsatz für Gerechtigkeit ist, weil es die Dimension des Wahren erschließt. Festzuhalten bleibt: Camus stellt den Begriff des Individuums in das Zentrum seiner Untersuchung, das, nachdem sich das Absurde zuvor im Alltag von Büro und Fabrik zeigt, nun das Negative in Gestalt der Kriege des Zeitalters der Technik erfährt. Der Einzelne ist nur noch eine Nummer und wird von einer Maschinerie zermalmt. Die »Dans l’univers du revolté, la mort exalte (D: steigert, verstärkt) l’injustice« (MS frz. 123).

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I Camus: Der Mythos des Sisyphos

Wirklichkeit steht dem normativ absoluten Wert des Einzelnen fun­ damental entgegen. Jeder Sieg ist nur vorübergehend, das Negative ist das übergreifende Ganze, und bietet genau deshalb den Zugang zur Wahrheit und Wirklichkeit. Gegen die antike Idee der Kontem­ plation konzipiert Camus das gelingende Leben als Widerstand, im aussichtslosen Kampf liegt etwas Befreiendes. Die Freiheit realisiert sich im Widerstand, wissend um die Unmöglichkeit der Realisierung des Positiven, und gelingt in der Wiederholung. Das Bewusstsein der Struktur des Absurden ermöglicht eine Erfahrung von eigentlicher Zeit und Dauer. Camus schließt auf den Selbstzweckcharakter und den im kantischen Sinne absoluten Wert281 des Menschen, sieht (aber) den Menschen als Einzelnen und dessen Zugang zur Wirklichkeit nicht über den Verstand, sondern über Erfahrungen des Negativen. Das Wissen um die eigene Vergänglichkeit und Verwundbarkeit ermöglicht das Verstehen des Anderen von dieser Negativität her. Schlüssel zum gelingenden Leben ist das Verhältnis zum Tod, in diesem Fall zur Wirklichkeit des anonymen Massengrabs als höchste Ausprägung des Nicht-sein-Sollenden. Das religiös-misslingende Leben kann mit diesem hoffnungslosen Bild nicht leben, demgegen­ über sieht Camus hier den Zugang zum Wahren. Camus schließt seine Darstellung der drei Bilder gelingenden Lebens mit einem Versuch, das Wesentliche noch einmal auf den Punkt zu bringen. Die »Bilder« (MS 119) seien lediglich »Skizzen« (MS 119), also weit weniger konkret und fertiggestellt. Methodisch seien sie kein Vorschlag für eine Moral, und es folgten aus ihnen keine Urteile. »Sie veranschaulichen lediglich« (MS 119). Im Gegensatz zum ersten Hauptkapitel nimmt Camus damit für das zweite Hauptkapitel den argumentativen Anspruch zurück. Vielmehr scheint es darum zu gehen, die Konzeption zu konkretisieren mit dem Ziel, dem Leser zu helfen, sie für sich zu konkretisieren. Unterstützt wird diese Lesart durch Camus’ Bemerkung, die Beispiele hätten ebenso gut »der Keusche, der Beamte und der Präsident« (MS 119), also den drei Skizzen wiederum entgegengesetzte Lebensentwürfe sein können. Es genügt zu wissen und nichts zu maskieren. In italienischen Museen kann man zuweilen kleine bemalte Schirme finden, die der Priester den Verurteilten vors Gesicht hielt, um ihnen das Schafott zu verbergen. Der Sprung in all seinen Formen, der Sturz ins Göttliche oder ins Ewige, die Hingabe an die Illusionen des Alltags oder der Idee – alle 281

Vgl. dazu Kant, GMS 61.

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4 Skizzen

diese Schirme verbergen das Absurde. Es gibt aber auch Beamte ohne Schirm, und von ihnen möchte ich sprechen (MS 119).

Mit diesem erneuten Anlauf möchte Camus seine Konzeption präziser fassen und wiederum benutzt dazu ein neues Bild. Zunächst jedoch kann man hier die basale Formel »zu wissen und nichts zu maskieren« festhalten, die ihre Erläuterung in einer Negativfolie findet. Wissen ist nicht-maskieren, das Absurde als die Wahrheit nicht mittels eines Schirms zu verbergen.282 Religiosität, Alltäglichkeit oder philosophi­ sche Ideenlehre sind dabei Spielarten des Misslingens, gegen die Camus seine Konzeption fasst. Das Leben gelingt ›nicht so‹, sondern ›ohne dies‹, ohne die Flucht in oder zu etwas, das die Wahrheit verdeckt. Das Leben gelingt im Entdecken der Wahrheit und im sich Halten in diesem Verhältnis. Das Leben des Beamten »ohne Schirm« gelingt, weil er etwas nicht tut, weil ihm etwas fehlt. Es gelingt hart und schonungslos. Mit Verweis auf die Beliebigkeit der Skizzen und diesem erneuten Bild des Gelingens als ›ohne das Falsche‹ rückt die Konzeption wieder näher an den Negativismus. Camus beschreibt das gelingende Leben mit dem Prädikat des Königlichen: »Gewiss, es sind Fürsten ohne Reich.283 Aber sie haben anderen das eine voraus, dass sie wissen, wie illusorisch alle Reiche sind. Sie wissen, und eben das ist ihre ganze Größe [...]« (MS 119). Der absurde Mensch hat nichts Festes in der Hand, durchschaut aber, dass die anderen es auch nicht haben, und in dieser höheren Reflexionsebene284, der die Prädikate Wissen und Wahrheit zukommen, liegt die Qualität seiner Position. Es ist ein rein negatives Wissen. »Der Hoffnung beraubt sein heißt noch nicht verzweifeln« (MS 119) – Camus präzisiert nun seine Position derart, dass er die Begriffe Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung differenziert, ersteren affir­ miert und letzteren ablehnt. Basierend auf dem Wert der Konsequenz (vgl. MS 119) beansprucht Camus den Begriff der Weisheit für seine Konzeption, definiert als »von dem leben, was er hat, und nicht auf das spekuliert, was er nicht hat« (MS 119 f.). Methodisches Ziel seines 282 Richter wählt die alternative Metaphorik einer spanischen Wand (vgl. Richter (1959) 115). 283 In einer Endnote zieht der Herausgeber hier eine Parallele zu Kierkegaards For­ mulierung ›Ich bin ein König ohne Reich‹ aus BA (vgl. MS Endnote 105 des Heraus­ gebers), einem Werk, auf das nach Stan Camus nicht explizit Bezug nimmt (vgl. Stan (2011) 74 f.). 284 Zur These der Unmöglichkeit dieser Ebene bei Camus vgl. Hüsch (2014b) 62.

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Kapitels war es, dem absurden Gedankengang »Gesichter« (MS 120) zu geben und ihn in diesem Sinne zu konkretisieren. Die Vorstellungskraft kann noch viele andere hinzufügen, die an die Zeit und das Exil gefesselt sind und die nach dem Maßstab einer Welt285 ohne Zukunft und ohne Schwäche zu leben wissen. Diese absurde Welt ohne Gott bevölkert sich dann mit Menschen, die klar denken und nicht mehr hoffen. Und dabei habe ich noch nicht von der absurdesten Gestalt, vom schöpferischen Menschen286 gesprochen (MS 120).

Das gelingende Leben ist ein Zustand im Exil, nach dem »Maßstab« einer Welt »ohne Zukunft und ohne Schwäche«, die Camus im folgenden Satz »absurde Welt« nennt – das Leben gelingt also nach dem Maßstab des Absurden, klar denkend und »nicht mehr hoffen[d]« (MS 120), also im Überwunden-Haben der Hoffnung.287 Das Leben gelingt also nicht direkt, sondern in der Überwindung des misslin­ genden Lebens, das es voraussetzt, auf der so erreichten erkenntnis­ mäßig höheren Reflexionsebene. Der Superlativ der Konzeption des gelingenden Lebens kommt dabei dem schöpferischen Menschen zu. Gegenstand des dritten Hauptkapitels wird damit dieser Superlativ der Konzeption sein. Festzuhalten ist hier Camus’ methodisches Resümee, im zweiten Hauptkapitel ›Der absurde Mensch‹ die Konzeption des ersten Haupt­ kapitels durch Skizzen konkretisiert zu haben. Das Leben gelingt in der zentralen Metapher dieses letzten Teils »ohne Schirm« (MS 119), als ein Nicht-Fliehen, als Nicht-Verdeckung, in der Überwindung des Falschen nach dem Maßstab des Absurden.

5 Kunst I Im dritten Hauptkapitel des Mythos des Sisyphos stellt Camus die Frage nach der Möglichkeit gelingenden Lebens als Frage nach der Möglichkeit von Kunst, und untersucht speziell die Möglichkeit des Romans im Horizont des Absurden. Ziel des folgenden Kapitels ist »d’un univers« (MS frz. 126). »le créateur« (MS frz. 126). 287 Während H.-J. Pieper Camus’ leidenschaftliches Plädoyer für ein Leben ohne Glauben, Hoffnung, Illusion und Sinn herausstellt (vgl. H.-J. Pieper (2013) 108), legt diese Arbeit das Gewicht auf den argumentativen Charakter. 285

286

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5 Kunst I

die Analyse dieses Gedankengangs, der in drei Schritten vorgeht: Er untersucht zunächst das Verhältnis des schöpferischen Menschen zum Absurden und vergleicht hier Kunst und Philosophie, diagnos­ tiziert im zweiten Schritt das Scheitern als Sprung im literarischen Werk Dostojewskis, um im dritten Schritt aus diesem Scheitern heraus Konsequenzen in eigener Sache zu ziehen.

5.1 Der schöpferische Mensch Das folgende Kapitel untersucht im ersten Schritt Camus’ Idee des gelingenden Lebens anhand seiner Theorie der Kunst und des Ver­ hältnisses von Philosophie und Kunst. Im ersten Abschnitt nutzt Camus für das gelingende Leben die Metaphorik von Höhe und Tiefe. Der absurde Mensch, der die Abwesenheit eines tiefen Grundes entdeckt hat (vgl. MS 14), bedarf, um sich in der »dünnen Luft« (MS 123) des erkenntnismäßig überlegenen Lebens halten zu können, eines »tiefen […] Gedankens« (MS 123)288, der metaphorisch die Stelle des Grundes einnimmt. Camus spezifiziert diesen Gedanken als ein Gefühl, ein »Gefühl von Treue« (MS 123). Analog zu einem seine Pflicht erfüllenden Soldaten konzipiert Camus das gelingende Leben als ein Sich-nicht-Drücken »in einem Feldzug, in dem er im Voraus besiegt ist« (MS 123). Camus konzipiert also das gelingende Leben als Pflichterfüllung und beansprucht von dort aus den Begriff »metaphysisches Glück« (MS 123) für seine Konzeption, das in der Pflichterfüllung als Sturz in die »Absurdität der Welt [sic!]« (MS 123) liege. Die Analogie zur Pflicht des Soldaten ist die Pflicht gegenüber dem Absurden. Den Begriffen Pflicht und Glück folgt der Begriff der »Würde« (MS 123), die der Mensch auf diese Weise darbringe. Camus besetzt damit einen weiteren klassischen ethischen Begriff289 in seinem Sinne. Implizit liegen damit Werte wie Treue oder Aufrichtigkeit seiner Konzeption gelingenden Lebens noch einmal zu Grunde liegt. Das Wahre ist grundsätzlich besser als das Falsche.

»pensée profonde« (MS frz. 129). Weyemberg weist zu Recht darauf hin, dass die Kunst in diesem Kapitel wichtig wird, zentrale Begriff aber ethisch sind (vgl. Weyemberg 2000 170). 288

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Das Schaffen290 sei »die absurde Freude par excellence« (MS 123), das bestmögliche Leben ist also ein schöpferisches Leben. »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen« (MS 123). Mit dieser Paraphrasierung Nietzsches291 sieht Camus im künstlerischen Schaffen einen Weg, im Angesicht des Absurden zu leben. »Man muss durch ihn [Bezug: den Krieg in der Analogie] sterben oder durch ihn leben« (MS 123). Das Leben gelingt, indem das Absurde entdeckt und von der Frage nach dem Selbstmord her, der immer möglich bleibt, zum Motor eines schöpferischen Lebens wird. War das künstlerische Schaffen bisher lediglich eine Möglichkeit des gelingenden Lebens gewesen, sei es auch die bestmögliche als die absurdeste Existenz, so fasst Camus nun das »Werk« (MS 124)F292 als »einzige Chance, sein Bewusstsein aufrechtzuerhalten« (MS 124), also als einzigen Weg, auf dem ein Leben gelingen kann (vgl. dazu MS 72). In diesem Zusammenhang nennt er die Idee eines gelingenden Lebens »geordneten Wahn« (MS 124). Die Krankheit ist also nicht überwindbar, jedoch ist es möglich, ihre Struktur zu entdecken und sich zu dieser zu verhalten. Dennoch ist das Leben immer wieder aufs Neue eine »Qual« (MS 124), der »Ruf nach Zufriedenheit« »kind­ lich« (MS 124), also naiv. Metaphysisches Glück ist demnach etwas anderes als der Wunsch nach Zufriedenheit im Leben, genau weil die negative metaphysische Wahrheit letztlich nicht auf ein Positives, der Wahn nicht in Richtung Gesundheit überwindbar ist.293 Der absurde Mensch hält »angesichts der Welt« eine »ständige Spannung […] aufrecht« (MS 124)F294 und hält sich damit im Verhältnis zur Wahrheit des Absurden. Gleichzeitig hat es [Bezug: das Schaffen] aber nicht mehr Tragweite als die die fortgesetzte und unschätzbare Schöpfung, der der Schauspieler, der Eroberer und alle absurden Menschen sich täglich ihr Leben lang widmen. Sie alle erproben sich darin, ihre Wirklichkeit nachzuahmen, sie zu wiederholen und neu zu schaffen295 (MS 124).

290 »la création« (MS frz. 129). Der Titel des Hauptkapitels ist von hierher auch als ›Das absurde Schaffen‹ lesbar. 291 Vgl. MS Endnote 108 des Herausgebers. 292 »l’œuvre« (MS frz. 130). Der Begriff spricht dafür, création als Schaffen zu über­ setzen. 293 Vgl. dazu Hoinski (2018) 136 f. 294 Vgl. dazu MS 74. 295 »recréer« (MS frz. 130) auch: wieder erschaffen.

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Damit erläutert Camus letztlich den Gedanken, auf den er hinauswill: Der absurde Mensch ist der schöpferische Mensch, indem er die Spannung hält, wach bleibt und damit die Wirklichkeit schafft. Nicht Gott, sondern die Menschen sind damit kontinuierlicher Schöpfer der Wirklichkeit, indem sie durch ihr nicht Nachgeben gegenüber der Welt das Absurde und damit das »ihrer« (MS 124) Wirklich­ keit Wesentliche aufrechterhalten. Ein Schlüsselbegriff ist dabei der Begriff der Wiederholung. Den Prozess des absurden und schöpferischen Menschen fasst Camus im Folgenden in zwei Schritte: Entdecken und Beschreiben. In der ersten Phase, der »Entdeckung des Absurden« (MS 124), fällt der Alltagsmensch aus seiner Betriebsamkeit in eine »Zeit des Stillstan­ des« (MS 124), am Übergang von Täuschung zu »wissen« (MS 124). Camus beschreibt dies als Zeit »in der sich künftige Leiden entwickeln und ihre Rechtfertigung erhalten« (MS 124 f.). Die Einsicht in das Wahre ist »scharfsichtige Gleichgültigkeit« (MS 125). Ohne die Wahrheit ist alles gleich gültig, womit, nach der bekannten Figur, die Gleichgültigkeit selbst die Wahrheit wird. Nur die Gleichgültigkeit selbst ist nicht gleichgültig. Camus fasst das Entdecken des Absurden metaphorisch als Anlaufen einer »zukunftslosen Insel« (MS 124), womit die Insel neben der Wüste in die Reihe der Metaphern der Orte des Absurden tritt. Das Absurde ist nicht lösbar (vgl. MS 125). Die Insel kann lediglich vermessen, vergrößert, bereichert werden (vgl. MS 124). Der »Tiefe der Welt« (MS 125), die unergründlich, da abgrün­ dig, ist, stellt Camus das »quantitativ unerschöpfliche Universum« (MS 125) entgegen, wo der Ort des Kunstwerks verständlich werde. Auch die Wissenschaft höre auf, Vorschläge zu machen (vgl. MS 125). Wie bereits dargestellt, geht Camus davon aus, dass sich auch die Wissenschaften im Angesicht des Absurden bewegen und es in gewisser Weise aufzeigen (vgl. MS 125), wenn sie es auch selbst nicht reflektieren können. Der absurde Mensch fühlt sich von der Situa­ tion der Wissenschaften in seiner Einsicht in das Absurde bestätigt. Kennzeichnend für den absurden und in diesem Sinne schöpferischen Menschen ist die »Wiederholung der Themen, die die Welt bereits inszeniert hat« (MS 125), auch, wie Camus metatextuell anmerkt, der »Hauptthemen dieses Essays« (MS 125). Der schöpferische Mensch wiederholt das Absurde. Camus spricht in diesem Kontext nun explizit vom »Kunstwerk« (MS 125) und das Verhältnis zur »Schöpfung, der […] alle absurden

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Menschen sich täglich ihr Leben lang widmen«, dem »Werk« (MS 124). Ist der Künstler der absurdeste Mensch? Oder ist jeder absurde Mensch Künstler? Das Kunstwerk sei nicht »Zuflucht vor dem Absur­ den« (MS 125 f.): Es ist selbst ein absurdes Phänomen, und es geht nur um seine Beschreibung. Es bietet der Krankheit des Geistes keinen Ausweg. Es ist im Gegenteil ein Merkmal dieses Leidens, das auf das ganze Denken eines Menschen zurückwirkt. Aber zum erstenmal lässt es den Geist aus sich selbst heraustreten und stellt ihn einem anderen gegenüber, nicht damit er sich in ihm verliere, sondern um genau auf den aussichtslosen Weg zu zeigen, den alle gehen müssen. In Zeiten der absurden Beweisführung296 folgt das Kunstwerk der Gleichgültigkeit und der Entdeckung. Es bezeichnet den Punkt, von dem die absurden Leidenschaften ausgehen und bei dem die Beweisführung stehenbleibt (MS 126).

Das Kunstwerk ist keine Lösung der Krankheit des Geistes – ein Ausdruck, der in dieser Zusammensetzung hier zum ersten und einzigen Mal in der Schrift fällt. Die Beschreibung des Kunstwerks scheint als subjektiver und objektiver Genitiv lesbar zu sein. Das Kunstwerk beschreibt das Absurde, und es zu beschreiben erschließt das Absurde. Das Kunstwerk zeigt auf den Weg, den der Mensch – Camus formuliert hier einen Sollensanspruch – gehen muss. Das gelingende Leben ist ein aussichtsloses Leben mit der Krankheit. Wir entdecken das Absurde, die Krankheit des Geistes, in der Kunst. Das Kunstwerk markiert den Punkt, an dem wir uns halten müssen, damit das Leben gelingen kann. Camus stellt nach einer ersten Nennung im Zusammenhang mit seiner Abgrenzung zu Kierkegaard (vgl. MS 54) nun noch einmal explizit den Begriff des Leidens ins Zentrum seiner Konzeption des gelingenden Lebens. Der bewusste Mensch wird leiden (vgl. MS 124) und das Leiden an der absurden Grundstruktur der Existenz wird für sein »ganzes Denken« (MS 126) zentral sein. Das gelingende Leben ist Entdecken, Beschreiben und bewusstes Erleiden der Krankheit des Geistes. Man drückt sich nicht davor, man flieht nicht. Während jedes bewusst absurde Leben schöpferisch ist und das Absurde ver­

»le temps du raisonnement absurde« (MS frz. 132). Von Wroblewsky übersetzt hier ›raisonnement‹ nicht wie im Titel des ersten Hauptkapitels mit ›Betrachtung‹, sondern mit ›Beweisführung‹.

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körpere297, scheint sich dies im Kunstwerk besonders deutlich zu zeigen. Es ist einfacher – komparativ –, das Absurde in der Kunst zu entdecken. In den folgenden Überlegungen möchte Camus einige gemein­ same Themen des Künstlers und des Denkers ausweisen mit dem Ziel, ihre Verwandtschaft weniger in der »Identität der Schlüsse« (MS 126), sondern in der »Gemeinsamkeit der Widersprüche« (MS 126) auszuweisen. Beide, so Camus, werden von der gleichen Qual getrieben. Künstler und Denker gingen vom Absurden aus, aber nur wenige »behaupteten« (MS 126)298 sich darin. »Und gerade an ihren Abschweifungen und an ihrer Untreue habe ich am besten ermessen, was nur dem Absurden gehörte« (MS 126). Camus geht hier wieder eindeutig methodisch negativistisch vor. Das Absurde und seine normative Forderung zeigen sich ver­ kehrt. Im Verfehlen des Absurden liegt der negative Maßstab eines gelingenden Verhältnisses zu ihm. Dazu ist das Verfehlen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Superlativ zeigt allerdings an, dass bei Camus ein anderer Zugang zum Absurden durchaus möglich ist, das Verfehlen nicht den einzigen, aber den ausgezeichneten Zugang bietet. Dieser Befund führt Camus daher zu der grundlegenden Frage, ob ein absurdes Werk, also ein gelingendes Verhältnis des Schaffen­ den zum Absurden, überhaupt möglich sei (vgl. MS 126). Ein Gegensatz zwischen Kunst und Philosophie besteht für Camus nur zwischen dem Systemphilosophen und dem Künstler, dessen Werk von ihm losgelöst betrachtet wird. Beide Konzeptionen sind Camus zufolge der Sache nach »zweitrangig« (MS 127). Das Gemeinsame liege vielmehr darin, dass Künstler und Denker sich in ihrem Werk engagieren und dadurch zu dem werden, der sie sind (vgl. MS 127). »Es gibt keine Grenzen zwischen den Disziplinen, die der Mensch wählt, um zu verstehen und zu lieben. Sie durchdringen sich gegenseitig, und dieselbe Angst lässt sie miteinander verschmelzen« (MS 127 f.). In diesem folgenden Schritt fasst Camus die Unterschei­ dung zwischen Philosophie und Kunst als Disziplinen ohne feste Grenzen, die der Mensch vom gleichen Ausgangspunkt, Angst bzw. Absurdität, und mit dem gleichen Ziel wählt. Der Begriff Lieben wird 297 Die Arbeit teilt damit nicht Weyembergs These des Gelingens als ein sich Spiegeln der Welt im Leben (vgl. Weyemberg (2000) 169). 298 »maintenaient« (MS frz. 132) auch: aufrechterhalten.

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dabei parallel und ohne weitere Erläuterung zum Verstehenwollen verwendet. Kunst und Philosophie haben einen gemeinsamen Nen­ ner. Dennoch ist der Ausgang des absurden Kunstwerks das »klare Denken« (MS 128) des Absurden, welches aber im wesenhaft sinnli­ chen Kunstwerk nicht in Erscheinung trete. »Das Kunstwerk verkör­ pert das Drama des Verstandes, gibt aber nur einen indirekten Beweis davon« (MS 128). Damit sind Philosophie und Denken bei Camus wesenhaft direkte Gestalten des Absurden, der Bereich des Indirekten hingegen ist der Raum der Kunst. In diesem Kontext versteht sich Der Mythos des Sisyphos selbst als direkt. »Es [Bezug: das Kunstwerk] kann nicht das Ziel, der Sinn und der Trost eines Lebens sein. [...] Er [Bezug: der Künstler] könnte darauf verzichten« (MS 128). Aus Camus’ Terminologie wird klar, dass das »wahre Kunstwerk« (MS 128) das absurde Werk ist. Vieles, was sich Kunst nennt, ist im Horizont der theoretischen Konzeption des Absurden und ihres Anspruchs nicht Kunst. Kunst ist nicht Sinn des Lebens, sondern indirekte Gestalt des Absurden. Wurden Philosophie und Kunst eben noch als zwei Disziplinen konzipiert, so ist doch Philosophie offensichtlich die grundlegende Disziplin und die Kunst vom Absurden her zu denken. Das Absurde und die Aufrichtigkeit gegenüber ihm sind damit Maßstab für das, was Kunst ist, und das, was vielleicht aussieht wie Kunst, aber Illusion, Täuschung und / oder Selbsttäuschung im Sinne der Schirmmetaphorik (vgl. MS 119) ist. Die Regel ist ein Ausweichen, eine Flucht in die Kunst (vgl. MS 126), aber eigentliche Kunst ist prinzipiell möglich, wenn auch selten. Was bedeutet es aber, dass der wahre Künstler auf sein Werk verzichten, es auch sein lassen und sich zurückziehen könne? Hier liegt keine Dimension der Gelassenheit gegenüber der Anspannung des Absurden, sondern Camus argumentiert lediglich gegen die Kunst als Flucht. Der Künstler könnte auf sein Werk verzichten, nichtet aber damit nicht das Absurde. Ein gelungenes Kunstwerk, so Camus wei­ ter, beleuchte nur einen Ausschnitt einer größeren Erfahrung, deute diese lediglich an (vgl. MS 128 f.). Der »große Künstler [ist] in diesem Verständnis vor allem ein großer Lebender […] Das Werk verkörpert ein intellektuelles Drama« (MS 129). Das Kunstwerk setzt also im Sinne des Mythos des Sisyphos die Idee gelingenden Lebens voraus und zeigt einen Ausschnitt, der, indirekt, das Ganze andeutet und damit einen Zugang zum Absurden bietet. »Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst« (MS 129). Als Argument für den Standpunkt des Absurden ist dieser Satz zirkulär,

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wenn das Absurde wiederum den Maßstab der Kunst bietet. Aber dass Menschen überhaupt künstlerisch, wie auch philosophisch, tätig wer­ den, ist für Camus Anzeichen des Absurden. Es treibt sie dazu (vgl. MS 126), auch wenn sie in der Regel wieder fliehen. Exemplarisch behandelt Camus nun kurz die Kunstformen der Skulptur und der Musik, um sich danach ausführlich dem Roman zu widmen: Die Skulptur, der der Blick fehle, sei »Philosophie in Gebärde umgesetzt« (MS 129), für den »absurden Menschen lehrreicher als alle Bibliothe­ ken« (MS 129 f.). Ebenso verhalte es sich mit der Musik, die Camus als »Spiel des Geistes mit sich selbst« (MS 130) fasst. Es gebe keine reinere Empfindung als diese Schwingungen in einem nichtmensch­ lichen Universum. Die Frage, ob ein absurdes Werk möglich ist (vgl. MS 126), bejaht Camus mit Blick auf die Skulptur und die Musik. Diese Kunstwerke verkörpern das Absurde, da sie die Welt nicht erklären. »Diese Beispiele sind [...] einfach« (MS 130). Im Folgenden möchte Camus erörtern, inwiefern der Roman ein absurdes Kunstwerk sein könne, da in ihm die Versuchung zu Erklärung und Illusion besonders groß sei (vgl. MS 130). Es ist anzumerken, dass hier gezeigt wird, dass Bildhauerei und Musik prinzipiell Kunst im Sinne von Verkörperung und indirekter Beweis des Absurden sein können. Es gibt sicher viele Bildhauer und Musiker, die in ihrer Arbeit »Ziel, Sinn und Trost eines Lebens« (MS 128) sehen, und damit das Absurde, mögen sie auch ursprünglich von ihm ausgegangen sein, und das gelingende Leben als wahrer Künstler letztlich verfehlen. Für Camus sind offensichtlich die nicht-sprachlichen Künste im Vorteil, da sie von ihrer Form her nicht »dem Beschriebenen einen tieferen Sinn hinzufügen« können (MS 128). Dies kann aber schon durch einen Programmtext oder Worte des Künstlers, von denen das Werk ja nicht losgelöst zu betrachten sei (vgl. MS 127), sofort wieder zunichte gemacht werden. Ein Künstler sollte das Werk, das eine Facette seines intellektuellen Dramas verkörpert299 und indirekt auf ein absurdes Leben verweist, für sich sprechen lassen, es den Rezipienten selbst entdecken lassen. Der »große Künstler« (MS 129) ist sicher auf dem Kunstmarkt die Ausnahme. Camus’ Hypothese, dass es im Bereich der Literatur schwieriger sei, Künstler im eigentlichen Sinn zu sein, scheint mir vor diesem Hintergrund zunächst unplausibel. 299 Die Deutung, der Künstler schaffe die Welt immer wieder neu (vgl. A. Pieper (1984) 11), expliziert diesen Aspekt nicht.

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Der Denker, der Philosoph, so Camus, gehe von der »grundsätz­ liche Unstimmigkeit« (MS 130) aus und schaffe »ein von Vernunft­ gründen eingeschnürtes oder von Analogie erhelltes Universum, das eine Lösung der unerträglichen Entzweiung erlaubt« (MS 130). Man könnte dies mit den Schlüsselbegriffen ›Absurdität‹ und ›Sprung‹ fas­ sen. Ausgehend von der fundamentalen Disharmonie sucht er einen Ausweg. Dabei habe der Philosoph »seine Gestalten, seine Symbole und seine heimliche Handlung« (MS 130 f.). Camus versucht den Gegensatz zwischen (System-)Philosophie und Roman aufzuwei­ chen, indem er einerseits der Philosophie Prädikate des Fiktionalen, andererseits auch dem Roman Prädikate des streng-wissenschaftli­ chen Vorgehens wie Logik, Beweisführung oder Postulate zuschreibt (vgl. MS 131). Sowohl der Systemphilosoph als auch der Romancier schaffe eine »Weltsicht« (MS 132), die untrennbar mit dem Namen des Autors verbunden sei (vgl. MS 132). Damit geht er die Frage, ob der Roman ein absurdes Werk sein könnte, zunächst skeptisch an. Dass der Roman das Bild und nicht die Beweisführung wähle, stellt Camus positiv heraus: »Es ist das Ergebnis einer oft unausge­ sprochenen Philosophie, ihre Veranschaulichung und ihre Krönung« (MS 132). Methodisch und sogar philosophisch ist also der Roman implizit der Systemphilosophie überlegen, da er von der »Nutzlosig­ keit eines jeden Erklärungsprinzips« (MS 132) ausgeht und dies in seiner Form umsetzt. Bei Camus selbst scheinen Beweisführung und Bild verknüpft zu sein. Der Mythos des Sisyphos beginnt mit einer Beweisführung des Absurden, und diese führt in eine Fassung der Idee eines gelingenden Lebens als Mythos. »Aber ich habe es auch jenen Fürsten des demütigen Denkens zuerkannt, deren Selbstmorde ich in der Folge betrachten konnte« (MS 133). Die großen Romanciers des 19. und 20. Jahrhundert teilen also mit den bereits untersuchten Existenzphilosophien seit Kierkegaard und Nietzsche die Überlegenheit gegenüber der System­ philosophie. Was mich interessiert, ist gerade, die Kraft kennenzulernen und zu beschreiben, die sie auf den gewöhnlichen Weg der Illusion zurück­ führt. Da ich sie bereits angewendet habe, darf ich meinen Gedanken­ gang abkürzen [...] Ich möchte Wissen, ob man, wenn man bereit ist, ohne Berufung zu leben, auch einwilligen kann, ohne Berufung zu arbeiten, und welcher Weg zu diesen Freiheiten führt (MS 133).

Camus reflektiert hier wiederum sein methodisches Vorgehen: Sein leitendes Interesse gilt der Frage, ob, ausgehend von der Wahrheit

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des Absurden, das Leben gelingen kann und welcher Weg zu einem gelingenden Leben führt. Dazu untersucht er die »Kraft«, die diejeni­ gen, die das Absurde erkannt haben, auf den gewöhnlichen Weg eines misslingenden Lebens zurückführt. Durch eine Analyse der Flucht vor dem Gesollten erhofft sich Camus Aufschluss über die Möglichkeit eines gelingenden Verhältnisses zu diesem und geht in diesem Sinne methodisch-negativistisch vor. Ich kann Absurdes schaffen, kann die schöpferische Haltung einer anderen vorziehen. Aber wenn eine absurde Haltung absurd bleiben soll, dann muss sie sich ihrer Grundlosigkeit bewusst sein. So ist es auch mit dem Werk. Wenn die Gebote des Absurden nicht beachtet werden, wenn es nicht die Entzweiung und die Auflehnung sichtbar macht, wenn es Illusionen huldigt und Hoffnung aufkommen lässt, dann ist es nicht mehr grundlos. Ich kann mich nicht mehr von ihm lösen. Mein Leben kann in ihm einen Sinn finden: das ist lächerlich (MS 133).

Das absurde Werk muss das Bewusstsein der Grundlosigkeit bewah­ ren, und, wenn auch indirekt, Entzweiung und Auflehnung sichtbar machen. Für Camus’ Konzeption des gelingenden Lebens sind diese beiden Begriffe zentral, die hier das Absurde konstituieren. Während die Gefahr für die Philosophie im Abgleiten in die religiöse Hoffnung liegt, liegt die Gefahr für die Kunst darin zu glauben, in sich selbst einen Sinn zu finden und damit das Absurde zu verlieren. Dies muss aber analog für die Philosophie (des Absurden) gelten. Eine philosophische Beschäftigung mit dem Absurden, die darin den Sinn des Lebens zu finden glaubt, verfehlt ihren Gegenstand. Philosophie und Kunst, Philosoph und Künstler, dürfen in ihrem Tun keinen Sinn verorten, der das Absurde verstellt. Beim Kunstwerk, so Camus, sei die Versuchung »zu erklären« (MS 133) am stärksten. Das Leben gelingt im Bewahren der absurden »Haltung« (MS 133), im ihm »treu bleiben« (MS 134), im »nicht […] nachgeben« (MS 134) angesichts des inneren »Wunschs nach Schlussfolgerungen« (MS 134). Das Leben misslingt also in einem Nachgeben und in einem Schluss, der immer Illusion ist. Es gelingt, negativ gegen das Misslingen bestimmt ist, im Nicht-Nachgeben. Das Leben des Eroberers, des Schauspielers, des Künstlers oder Don Juans – Camus zählt diese in umgekehrter Reihenfolge auf und reiht den Künstler nach Don Juan ein (vgl. MS 134) – gelingt »im Bewusstsein des Absurden« (MS 134). Das Bewusstsein des Absurden schließt aber das Bewusstsein der Gefahr ein, das einmal Erkannte wieder zu

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verlieren und hinter den einmal erreichten ›Stand‹ eines gelingenden Lebens wieder zurückzufallen: Man gewöhnt sich so rasch. Man will Geld verdienen, um glücklich zu leben, und die ganze Anstrengung, die beste Kraft eines Lebens konzentrieren sich auf den Erwerb dieses Geldes. Das Glück wird ver­ gessen, das Mittel wird Selbstzweck. Ebenso wird die ganze Anstren­ gung des Eroberers abgelenkt durch seinen Ehrgeiz [...] Auch Don Juan wird sich [...] zufrieden geben [...] bei beiden aber ist das Absurde verschwunden. Das menschliche Herz kennt so viel hartnäckige Hoff­ nung. Manchmal geben selbst die nüchternsten Menschen schließlich der Illusion nach (MS 134).

Die Hoffnung im Menschen, die Sehnsucht nach Einheit, ist derart stark, dass auch ein gelingendes Leben permanent wieder zu misslin­ gen droht. Der Rückfall, die erneute Abkehr vom Absurden, geht dabei leicht, einfach, beinahe unmerklich vor sich. Die Verlockung des Falschen ist so groß, sie scheint fast zu groß zu sein, so dass die Frage, ob das Leben überhaupt im Ganzen gelingen kann, berechtigt ist. Camus weist in den Skizzen der Figuren, die das gelingende Leben metaphorisch konkretisieren sollen, die Tendenz zur Abkehr auf. Es ist nicht klar, worauf sich der Begriff »Mittelweg« (MS 135) bezieht. Es scheint unplausibel, dass zwischen Misslingen und Gelingen ein normativ relevanter Mittelweg liegt. »Bisher haben uns die Fälle des Scheiterns gegenüber der absur­ den Forderung am besten verdeutlicht, worin sie besteht« (MS 135). Camus reflektiert zum Ende des Kapitels wiederum sein methodischnegativistisches Vorgehen, wiederum mittels eines Superlativs (vgl. MS 132), der grundsätzlich auch andere Zugänge offen lässt. Camus selbst aber wählt methodisch die Beschreibung des Scheiterns gegen­ über einem normativ Gesollten zu dessen Verdeutlichung. Genauer untersucht er ›Fälle‹ des Scheiterns, also das Scheitern im Konkreten, um von dort ex negativo das Gesollte zu erfassen. Um den Roman zu untersuchen, wählt Camus, davon wird sein folgendes Unterkapitel handeln, exemplarisch Dostojewski. Dessen Ausgangspunkt sei »klar« (135) – »das Bewusstsein des Absurden« (MS 135). Camus möchte nun die »Schlussfolgerungen« Dostojew­ skis untersuchen, um zu »wissen, von welcher Seite die Illusion sich einschleicht« (MS 135). Seine Hypothese in Bezug auf Dostojew­ ski entspricht damit, analog zu seiner Analyse der Existenzphiloso­ phie, der Struktur von Absurdität (als richtiger Ausgangspunkt) und Sprung (in Form einer falschen Schlussfolgerung).

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Zusammenfassend lässt sich festhalten: Camus konkretisiert in seinem inhaltlichen wie auch seinem methodischen Negativismus mit Blick den Künstler als Skizze eines gelingenden Lebens. Kunst verkörpert indirekt das Absurde, welches damit Maßstab von Kunst ist. Die Versuchung des Falschen liegt für den Künstler wie auch für den Philosophen darin, in seiner Tätigkeit einen Sinn zu sehen. Um die Frage zu beantworten, ob das absurde Kunstwerk als Roman möglich ist, möchte er das Scheitern Dostojewskis analysieren.

5.2 Sprung im literarischen Werk Dostojewskijs Im zweiten Schritt untersucht das Kapitel zur Kunst Camus’ Analyse des Sprungs bei Dostojewski, der eine Negativfolie für die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des absurden Kunstwerks bieten soll. »Alle Helden Dostojewskis fragen nach dem Sinn des Lebens. Darin sind sie modern: sie fürchten die Lächerlichkeit nicht. Das moderne Empfinden unterscheidet sich vom klassischen dadurch, dass dieses von moralischen Problemen lebt, jenes von metaphysi­ schen« (MS 136). Dostojewski beginnt also mit der Sinnfrage, mit der auch Camus sein Hauptwerk beginnt, und folgert, dass die Existenz nur »verlogen«300 oder »ewig« (MS 136) sein könne. Das Leben ist also im Grunde negativ, es gibt einen Ewigkeitsbezug. Bis dahin, so Camus, sei Dostojewski Philosoph (vgl. MS 136) – Philosoph also im Sinne Camus’. Künstler ist er, da er ein »Bild der Konsequenzen« (MS 136) gibt. Dostojewski konkretisiert also die Konsequenzen des Denkens der »absoluten Absurdität« (MS 136) im Roman, deren »letzte« der »logische Selbstmord« (MS 136) sei: Da mir auf meine Fragen nach dem Glück vermittels meines Bewusst­ seins erklärt wird, dass ich einzig in der Harmonie des Ganzen glücklich sein kann, das ich nicht begreife und nie begreifen werde, ist es offen­ sichtlich [...] und da ich diese Komödie seitens der Natur absolut dumm finde, es sogar meinerseits erniedrigend finde, mich auf dieses Spiel einzulassen [...] so verurteile ich in meiner unbestreitbaren Eigenschaft als Kläger und als Beklagter, als Richter und als Angeklagter diese Natur, die mich so schamlos zum Leiden erschaffen hat – ich verurteile sie dazu, mit mir zusammen unterzugehen [...] (Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers, zitiert nach MS 136 f.). 300

»mensongére« (MS frz. 142), auch: falsch.

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Dostojewski geht also von der Diagnose des Absurden im Sinne Camus’ aus. Der Mensch brauchte Zugang zur »Harmonie des Gan­ zen«, eine Erkenntnis, die die ›Warum-Frage‹ beantwortet, erhält diese aber nicht. Im Gegensatz zu Camus bejaht Dostojewski jedoch die Frage nach einer Logik bis zum Tode, den Selbstmord als konse­ quente Schlussfolgerung. Der Selbstmörder bei Dostojewski sei, so fasst es Camus, »auf der metaphysischen Ebene […] beleidigt« (MS 137, Hervorhebung AC). Der Selbstmord werde zur Rache an der Natur, die ihn »zum Leiden« (MS 137) erschaffen habe. Dostojewski bejaht damit die Konsequenz, die Camus’ Analyse zufolge nahelie­ gend ist, die er jedoch letztlich mit seiner Konzeption eines gelin­ genden Lebens argumentativ zurückzuweisen beansprucht. Daraus folgt, dass Dostojewski, vom Standpunkt Camus’ betrachtet, zu einer falschen Schlussfolgerung gelangt. Camus versucht dagegen »auf der metaphysischen Ebene« (MS 137) im Absurden selbst eine rein negative Antwort zu finden, die doch eine Antwort ist. Camus betrachtet im folgenden Schritt der Analyse, der dem Unterkapitel seinen Namen gibt, die Figur Kirilow aus Dostojewskis Dämonen als »Vertreter des logischen Selbstmordes« (MS 137). Er analysiert die konkrete Romanfigur. Camus fasst dabei den Selbst­ mord »um eines Gedankens willen« (MS 137) als höchste Form des Selbstmords. »Er fühlt, dass Gott notwendig ist und existieren müsste. Aber er weiß, dass er nicht existiert und nicht existieren kann. ›Warum verstehst du nicht‹, fragt er, ›dass das ein hinlänglicher Grund ist, sich umzubringen?‹« (MS 137 f.). Camus diagnostiziert also bei Kirilov eine Konjunktiv-2-Struktur: Gott müsste existieren, aber er existiert nicht. Er wäre die Lösung, aber er ist es nicht. Während Camus seine eigene Position vorsichtiger als provisorisch formuliert und lediglich sein Nichtwissen feststellt, so teilt er doch diese Konjunktiv-2-Struktur. Wir brauchen Gott nicht, wir brauchten ihn. Er wäre der Ret­ tungsanker – ist es aber nicht. Das Absurde liegt genau im Verstoß der Abwesenheit Gottes gegen dessen eigene (scheinbare) Notwen­ digkeit. Dieses Missverhältnis lässt die Frage nach dem Sinn des Lebens unbeantwortet und führt zur Frage nach dem Selbstmord. »Ich werde mich umbringen, um meine Unabhängigkeit, meine neue und furchtbare Freiheit zu bestätigen« (Dostojewski, Die Dämo­ nen, zitiert nach MS 138). Camus diagnostiziert hier bei Kirilov nicht Rache, sondern »Auflehnung und Freiheit« (MS 138), weshalb dieser eine absurde Figur sei, mit dem Unterschied, dass er sich umbringe (vgl. MS 138). Kirilov macht also ausgehend vom Absurden einen

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Schritt in die richtige Richtung eines gelingenden Lebens, während es dann doch wegen folgender Logik misslingt: »Wenn Gott nicht existiert, ist Kirilov Gott. Wenn Gott nicht existiert, muss Kirilov sich umbringen. Also muss Kirilov sich umbringen, um Gott zu sein« (MS 138). Diese Logik, so Camus, sei absurd, aber das müsse so sein. Camus fragt nach der Rechtfertigung der ersten Prämisse (vgl. MS 138). Aber auch diese zweite Prämisse muss für Camus unbegründet sein, da sie auf einem Fehlschluss ausgehend von der Diagnose des Absurden beruht. Die erste Prämisse erläutert Camus mittels Kirilovs Christus-Interpretation: Jesus sei nicht Gott in Menschengestalt, sondern Gott-Mensch, »da er die absurdeste conditio verwirklicht hat« (MS 139). Jesus habe im Tode erkannt, dass sein Leiden nutzlos, dass er getäuscht worden sei. Genau der Superlativ ›absurdeste‹ mache Jesus zum vollkommensten Menschen. Mit Gott, so Camus, meine Kirilov »frei sein auf dieser Erde« (MS 140). Camus fasst das gelingende Leben bei Kirilov wie bei Nietzsche als »schon auf Erden das ewige Leben verwirklichen« (MS 140), was notwendig zu der Frage führt, warum Kirilovs Konsequenz aus dem Absurden dann der Selbstmord ist, die Camus zu Beginn des folgenden Absatzes auch stellt. Die Antwort Kirilovs nennt Camus »pädagogischer Selbstmord« (MS 141). Kirilov begeht Selbstmord, um die Freiheit zu demonstrie­ ren, damit die übrigen Menschen die absurde Freiheit entdecken, ihre »blinden Hoffnungen« (MS 140) aufgeben und ein gelingendes Leben leben. »Man muss ihnen den Weg zeigen« (MS 140). Dieses Zeigen als direkte Form der Mitteilung der absurden Freiheit scheint die zentrale Prämisse des Gedankengangs aus den Dämonen zu sein. Sie enthüllt Kirilovs Auffassung zur eigenen Verantwortung für die Entdeckung des Absurden durch den Anderen – eine Frage, zur der sich Camus noch nicht klar positioniert hat. Camus verweist im vorherigen Unterkapitel auf die indirekte Funktion der Kunst (vgl. MS 128). Bemerkenswert ist das Zitat aus den Dämonen in der Fußnote: »Der Mensch hat Gott nur erfunden, um sich nicht umbringen zu müssen. Das ist das Ergebnis der Weltgeschichte bis zu diesem Augenblick« (MS 140 Fußnote 2). Empirisch-psychologisch könnte diese Hypothese korrekt sein. Der Argumentation Kirilovs zufolge ist dies jedoch nicht notwendig. Es bedarf eines die Anderen befreienden Menschen: »Aber wenn er tot ist und die Menschen endlich erleuchtet

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sein werden, dann wird sich diese Erde mit Zaren bevölkern [...]« (MS 141). Camus selbst argumentiert genau gegen diese Fluchtbe­ wegung, gegen das Erfinden eines Gottes angesichts des Absurden. Gegen Kirilov vertraut Camus vermutlich nicht auf die Befreiung der Menschheit durch einen Retter, sondern auf das Entdecken des Absurden durch den Einzelnen. In Dostojewskis Dämonen werden Stawrogin und Iwan Kara­ masow durch den Tod Kirilovs befreit (vgl. MS 141), also genau genommen zwei konkrete Menschen, und nicht die Menschheit als solche. Iwan Karamasow widerspricht denen, »die durch ihr Leben beweisen, dass man sich demütigen müsse, um zu glauben« (MS 142). Sein Schlüsselwort »Alles ist erlaubt« (MS 142) führe ihn letztlich wie Nietzsche, den berühmtesten Gottesmörder, in den Wahnsinn, aber dieses Risiko, so Camus, müsse man auf sich nehmen (vgl. MS 142). Die letzte Bemerkung scheint ein entscheidender Punkt zu sein. Camus’ Konzeption eines gelingenden Lebens impliziert ein Risiko: Das Risiko des Wahnsinns, dass also die Krankheit des Geistes derart überhandnimmt, dass der Anteil der begrenzten Rationalität im Menschen seinen Einfluss verliert. Camus formuliert hier einen normativen Anspruch. Es ist Teil seiner Konzeption des gelingenden Lebens, dieses Risiko, das unter Umständen beträchtlich sein kann, auf sich zu nehmen. Camus formuliert sozusagen eine vernünftige Konzeption am Rande des Wahnsinns, eine Konzeption, die das Risiko eines Umschlags in sich birgt: Auch wenn Gott tot ist, sind wir der Wahrheit verpflichtet. Was beweist das Ende der Dämonen? Mit dieser Frage kehrt Camus zu Dostojewskis Tagebuch zurück. Seine Protagonisten ziehen absurde Schlüsse. »Wie aber lautet seine [Bezug: Dostojewskis] Schlussfolgerung?« (MS 142) Sie sei eine, so Camus, »vollständige metaphysische Umkehr« (MS 142): »›Wenn der Glaube an die Unsterblichkeit des Menschen so unentbehrlich ist (und wenn er sich ohne ihn umbringen muss), dann ist er der normale Zustand der Menschheit [...] Wenn dem aber so ist, dann gibt es keinen Zweifel an der Unsterblichkeit der Menschenseele‹„ (MS 143)301. Dostojewski schließt in dieser Darstellung aus der Konjunktiv-2Diagnose, »dass Gott notwendig ist und existieren müsste« (MS 137), auf die Unsterblichkeit der Seele, also auf ein theologisches 301 Camus zitiert aus Dostojewskis Tagebuch ohne Quellenangabe (vgl. MS Endnote 103 des Herausgebers).

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Menschenbild und damit auf Gott, oder, wie er selbst sagt: »die Existenz Gottes« (MS 144). Damit macht er genau den Fehlschluss, den Camus auch Kierkegaard zu Beginn der Lobrede auf Abraham in Furcht und Zittern nachweisen will, und den er als inkonsequent, als »Sprung« (MS 144), zurückweist. Dostojewski schließt dabei nicht nur auf die Hoffnung, sondern auf die Gewissheit des Religiösen. »Die Karamasows antworten den Dämonen: ›Gewiß‹ [...]« (MS 143). »So hat zwar Kirilows Pistole irgendwo in Russland geknallt, aber die Welt wälzt weiter ihre blinden Hoffnungen, die Menschen haben ›das‹ nicht verstanden« (MS 143 f.). Camus schließt hier aus dem literarischen Werk Dostojewskis, dass der pädagogische Selbst­ mord als Versuch der direkten Mitteilung der absurden Freiheit letzt­ lich gescheitert ist. Seine Wirkung bleibt auf die fiktiven Romancha­ raktere der Dämonen beschränkt und wirkt nicht weiter. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Schluss aus der extremsten Form der direk­ ten Mitteilung auf all ihre Formen zutrifft. Dazu ist offen, ob nicht zu schlussfolgern wäre, dass der pädagogische Selbstmord nicht doch Einzelnen zum gelingenden Leben verhilft, wenn er auch die Welt nicht verändert, und ob bei seiner Wirkung nicht präziser zwischen Entdeckung des Absurden und Schlussfolgerung aus dem Absurden differenziert werden müsste. »Am Ende entscheidet sich der Künstler gegen seine Gestalten. Dieser Widerspruch erlaubt uns, eine Nuance hinzuzufügen: es han­ delt sich nicht um ein absurdes Werk, sondern um ein Werk, das das Problem des Absurden stellt« (MS 144 f.). Das Werk Dostojewskis ist damit genau kein absurdes Werk, sondern ein Werk, das den Leser mit dem Problem des Absurden konfrontiert. Dostojewski fasst seine »Hauptfrage« (MS 144), die Camus hier als das Problem des Absurden beschreibt, als die Frage nach der Existenz Gottes (vgl. MS 144). Die Frage nach Gott, genau genommen die Frage nach der Schlussfolge­ rung aus der Feststellung, dass wir Gott brauchten, ist also das zen­ trale Problem des Absurden. Aus der Analyse des Scheiterns Dosto­ jewskis folgert Camus – negativistisch – die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen dem Werk, das sich lediglich mit diesem Problem befasst, und dem wahrhaft absurden Werk, das das Absurde bewahrt. »Ein absurdes Kunstwerk dagegen liefert keine Antwort« (MS 145). Im letzten Abschnitt seines Unterkapitels zu Dostojewski fasst Camus das Spezifische des Sprungs nicht als das Christliche, sondern als »Verkündigung des zukünftigen Lebens« (MS 145): »Man kann Christ und absurd sein. Es gibt Beispiele von Christen, die nicht

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an das zukünftige Leben glauben« (MS 145). Wenn dies aber das Spe­ zifikum des Sprungs ist, dann trifft es nicht auf Kierkegaard zu. Bei Dostojewski diagnostiziert Camus Einsicht in das Absurde und Sprung: »die Existenz ist trügerisch302 und sie ist ewig« (MS 145, Hervorhebung AC). In einem letzten Schritt präzisiert Camus, wie er sagt, »eine der Richtungen absurder Analyse« (MS 145). Sie, die absurde Analyse, führe dazu, Camus zitiert, aus dem Kontext ver­ mutlich Dostojewski, »›die Absurdität des Evangeliums‹ zu behaup­ ten« (MS 145). Überzeugungen, so Camus, könnten den Unglauben nicht verhindern. Die Gleichzeitigkeit des Denkens von Absurdität und Religiosität ist demnach möglich. Dostojewski verneint das Absurde nicht, aber bejahe die Existenz Gottes. Das Ergebnis ist Folgendes: Der Romanheld der Dämonen schließt aus dem Absurden auf den logischen Selbstmord als pädago­ gischen Selbstmord zur Befreiung der ›Menschen‹. Camus kritisiert sowohl den logischen Schluss als auch den Selbstmord als direkte Form der Mitteilung, die ihm zufolge scheitert. Dabei ist offen, ob der pädagogische Selbstmord als extreme Form der direkten Mitteilung und die direkte Mitteilung allgemein nicht doch zur Entdeckung des Absurden durch den Einzelnen beitragen kann, wie das im Roman durchaus geschieht. In der Diskussion Dostojewskis fasst Camus das »Problem des Absurden« (MS 145) als Frage nach der Schlussfol­ gerung aus der Diagnose, dass wir Gott brauchten (Konjunktiv 2). Dostojewski schlussfolgert allein daraus die Gewissheit der Existenz Gottes, ein Sprung als Fehlschluss nach Camus. Charakteristisch für das Absurde ist, ›dass es keine Antwort (auf die Warum-Frage) gibt‹, für den Sprung nicht notwendigerweise das Christliche, sondern Glaube an das zukünftige Leben. In dieser Fassung träfe der Vorwurf Kierkegaard nicht. Gelingendes Leben impliziert die normative For­ derung, das Risiko des Wahnsinns einzugehen. Camus nutzt die Analyse des Sprungs bei Dostojewski, um seine eigene Idee gelin­ genden Lebens gegen sie zu konkretisieren, die Problemstellung zu verdeutlichen und Begriffe noch präziser zu fassen.

302

»mensongére« (MS frz. 152) auch: unwahr.

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5.3 Das Kunstwerk Ziel des folgenden Abschnitts ist die Analyse von Camus’ abschlie­ ßender eigener Position zum Kunstwerk als Konsequenz der beiden vorangegangenen Kapitel. Camus resümiert zu Beginn des Kapitels ›Das Kunstwerk ohne Zukunft‹ mit Blick auf das vorangegangene Kapitel, dass die Hoffnung selbst die befallen könne, die sich von ihr befreien wollten (vgl. MS 146). Mit den Begriffen Hoffnung und Glaube wendet sich Camus gegen zwei Schlüsselbegriffe der christlichen Tugenden und plädiert dagegen für die klassischen Tugenden Mut und Einsicht.303 Im Zuge einer Analogie zu der Auseinandersetzung der Kirche mit den »Häre­ tikern« (MS 146) bringt Camus erneut sein methodisch-negativisti­ sches Vorgehen auf den Punkt: »Man erkennt dessen [Bezug: das Absurde] Weg, indem man Wege aufdeckt, die sich von ihm entfernen (MS 146)«. Das Aufdecken des sich Entfernens und des Entferntseins vom Wahren führt zur Erkenntnis des Wahren. Der Zugang zum Absurden liegt in Negativfolien. Das misslingende Leben, hier die Wiederkehr der Hoffnung bei Dostojewski, »beweist« sowohl »Schwierigkeit« als auch »Notwen­ digkeit eines […] wachen Bewusstseins« (MS 146) für das gelingende Leben, das Camus an dieser Stelle wie bereits in der Don Juan-Inter­ pretation mit dem Begriff der »absurden Askese« (MS 146) fasst, im sich Enthalten von der Hoffnung – ein Sich-Halten im Augenblick vor dem Sprung. Das Misslingen konkretisiert also als Negativfolie das normativ Gesollte. Von diesen Negativfolien her schließt Camus im folgenden Schritt auf die »schöpferische Haltung« als »eine der Haltungen, die die absurde Existenz vervollständigen können« (MS 147). Nicht jedes gelingende Leben ist also schöpferisch – es ist eine Möglichkeit eines gelingenden Verhältnisses zum Absurden. »Der Kunst kann nicht besser gedient werden als durch ein negatives Denken« (MS 147, Hervorhebung JA). Camus bringt an dieser Stelle zum einzigen Mal im Werk seine Konzeption selbst auf den Begriff des ›negativen Denkens‹, der, so die These dieser Arbeit, Pölzer sieht in diesem Plädoyer für ethische Tugenden die Inkonsistenz der Position Camus’ (vgl. Pölzer (2014) 93), während man diese auch als Prämissen der Konzeption ausweisen könnte. Camus ist jedoch in dem Sinne kein Tugendethiker, als dass das tugendhaft und das sinnerfüllte Leben für ihn nicht zusammenfallen (vgl. dazu Purdue (2014) 103). 303

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ein Schlüsselbegriff zum Zugang zur Konzeption ist. Das negative Denken ist hier explizit der bestmögliche Weg zu einer Konzeption des gelingenden Lebens. Es sei notwendig, um ein Kunstwerk zu verstehen (vgl. MS 147). Camus charakterisiert dieses Denken als »dunkel und demütig« (MS 147) und konkretisiert es inhaltlich als »›Für nichts‹ arbeiten und schaffen […] das ist die schwierigste Weisheit, zu der das absurde Denken die Gründe liefert304« (MS 147). Dieses Bewusstsein eines ›Für nichts‹ ist zentral für Camus’ Konzeption des gelingenden Lebens, und es soll, so der Anspruch, durch die vorangegangenen Kapitel theoretisch gerechtfertigt worden sein. Es ist der Zusammenbruch jeder Idee von Teleologie. Zugleich beansprucht Camus hier auch zum ersten Mal den Begriff ›Weisheit‹ für seine Konzeption, verbunden mit dem Superlativ ›schwierigste‹. Das gelingende Leben unter den hier diagnostizierten Bedingungen ist nicht einfach – ganz im Gegenteil. Aber die damit verbundene »Anstrengung« (MS 148) ist zumeist verborgen und an der Oberflä­ che nicht sichtbar. Die Schwierigkeit des Künstlers, so Camus weiter, liege im gleichzeitigen Nebeneinander von Leugnung und Steigerung (vgl. MS 147). Das scheint auch theoretisch eine der größten Schwierigkeiten der Konzeption zu sein, die bereits als Ethik der Quantität bezeichnet, der aber auch ein alternativer östlicher Denkweg offengelassen wurde. Camus versucht, im Anschluss an Nietzsche, ein ›Für nichts‹ und ein ›Mehr‹ eng zu führen. Dies scheint, wie bereits skizziert, nicht ohne Einführung weiterer, wenn auch basaler Prämissen wie etwas ›mehr ist besser‹ möglich zu sein. Camus’ Konzeption ist zugleich asketisch und produktiv-schöpferisch, asketisch in der Frage nach dem Sinn des Ganzen. Camus formuliert einen Imperativ, aber wiederum metaphorisch: »Er muss dem Leeren seine Farben geben« (MS 147). Man könnte noch einmal fragen ›Warum?‹ und Camus’ Antwort ist auch: »Er könnte darauf verzichten« (MS 128). Der Mensch, nicht Gott, ist schöpferisch, und die Farbe kommt vom Menschen. Gegeben sind lediglich Leere, Absurdität, und diese bleiben letztlich unüberwindbar. Das schöpferische Leben ist keine Lösung der absurden Grundstruktur der Existenz, sondern ein gelun­ gener Umgang mit ihr, ein gelungenes Verhältnis zu ihr – »nichts von alledem hat wirklich Sinn« (MS 151). In dem darauffolgenden Abschnitt stellt Camus die Bedeutung des Begriffs des ›Werdens‹ für 304

»que la pensée absurde autorise« (MS frz. 154).

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seine Konzeption heraus, das sowohl für das tiefe Denken als auch für das Werk des Künstlers zentral sei (vgl. MS 147). Es ist keine Folge von Werken, sondern eine »einzige Schöpfung« (MS 147), die sich aus der »Erfahrung eines Lebens heraus« (MS 147) formt. Der Abschluss ist nicht der illusorische Triumph, sondern der Tod des Schöpfers (MS 147 f.). Auch wenn die Werke eines Schöpfers beziehungslos erschie­ nen, so sind sie »vom Tode [des Schöpfers] her« als »Sammlung von Niederlagen« (MS 148), als »Wiederholen« (MS 148) »seiner eigenen conditio« (MS 148) zu verstehen. Das Leben gelingt also mit einer Figur der Wiederholung, für die ›Niederlage‹ und ›Scheitern‹ zentrale Begriffe sind. Das Kunstwerk zeigt das Scheitern des Künstlers und damit das Leben. Den entscheidenden Zugang zum »Klingen« (MS 148) eines Werks bietet nicht die Oberfläche, die durchaus zusam­ menhangslos erscheinen kann, sondern »derselbe Unterton« (MS 148). Genau diesen Unterton, diese Grundstimmung, möchte Camus mit seinem Hauptwerk aufzeigen. Das Kunstwerk zeigt also das Scheitern und damit die conditio humana auf. Der Mythos des Sisy­ phos liefert gewissermaßen die Theorie oder den theoretischen Rah­ men dieses Scheiterns. Das einzige Ziel ist dabei, »das Bewusstsein wach zu erhalten« (MS 148), also das Verhältnis zum Absurden nicht zu verlieren oder zu verstellen. Alle anderen Ziele sind nichtig, alle anderen Werte und Sinnhorizonte sind kollabiert, haben sich als unbegründet und damit als Illusionen, als falsch entpuppt. Das Schaffen sei dabei die wirksamste »Schule der Geduld und der Klarheit« (MS 149), also die Tätigkeit, bei der man das gelingende Leben am besten lernen und üben kann: Es [Bezug: das Schaffen] ist zudem das erschütternde Zeugnis für die einzige Würde des Menschen: die unnachgiebige Auflehnung gegen seine conditio, die Ausdauer einer für unfruchtbar erachteten Anstren­ gung. Es erfordert ein tägliches Sichmühen, Selbstbeherrschung, die genaue Abschätzung der Grenzen des Wahren, Maß und Kraft. Es begründet eine Askese. Und das alles ›für nichts‹, nur um zu wiederho­ len und auf der Stelle zu treten (MS 149).

Gegen Ende dieses Textabschnitts präzisiert Camus noch einmal zentrale Begriffe seiner Konzeption (vgl. MS 149). Er beansprucht, wie bereits zuvor, den Begriff ›Würde‹ – den zentralen Begriff der

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kantischen Moralphilosophie305 – für seine Konzeption. Diese Würde liege einzig und allein in der richtigen Konsequenz aus dem Absurden, hier in der Auflehnung. Dazu integriert Camus hier auch klassische Kardinaltugenden – Wissen (um das Wahre und seine Grenze), Mut und Maß – gegen die christlichen Tugenden Glaube und Hoffnung in seine Konzeption. Dabei ist die fundierende Schicht dieser Konzeption das »für nichts«, das Fehlen eben genau dieser fundierenden Schicht, die den Übergang zu einem Sinnbegriff möglich gemacht hätte. Das gelingende Leben steht jeden Tag neu auf dem Spiel. Das Kunstwerk bezeugt es. Daher, so Camus, liege »vielleicht« (MS 149) die Bedeutung des Kunstwerks nicht im Werk »an sich« (MS 149), sondern in der Gelegenheit, die es dem Menschen »zur Überwindung seiner Gespenster und zur Annäherung an seine nackte Wirklichkeit« (MS 149) biete. Das Kunstwerk hat also sowohl eine Funktion für den Künstler, vielleicht vor allem aber für den Rezipienten, der durch es seine eigene Wirklichkeit erkennen kann. Das Leben gelingt in der Überwindung von Falschem, was gleich­ zeitig Annäherung an die eigene Wirklichkeit ist. Ein Werk kann dabei helfen, sich selbst als absurden Menschen zu erkennen. Der Einzelne entdeckt sich im Verhältnis zum Absurden als der, der er wirklich ist. Das Leben gelingt dann in der Wiederholung des »Bildes seiner eigenen conditio« (MS 148) im eigenen Leben. Das gelingende Leben ist damit Abbau von Falschem, Entdeckung und Wiederholung. Es ist derart anspruchsvoll, dass es beinahe »übermenschlich« (MS 148) ist – ein Begriff, den Camus nur an dieser Stelle des Textes affirmativ benutzt. In dem im Mythos darauf folgenden Abschnitt kritisiert Camus den Thesenroman, der eine Wahrheit zu besitzen glaube. »Ideen sind das Gegenteil von Denken« (MS 149). Von diesem »zufriedenen Den­ ken« (MS 149, Hervorhebung AC) grenzt Camus den »hellsichtigen Denker« (MS 149) ab, in dessen Werk das Denken sich »mit evidenten Symbolen eines begrenzten, sterblichen und aufrührerischen Den­ kens« (MS 150) auf sich selbst zurückwende. Das wahre Kunstwerk ist also in seiner Metaphorik eindeutig, deutet auf Grenze, den Tod als äußerste Absurdität und die Auflehnung als konsequente Schlussfol­ gerung. »Jedes Denken, das auf Einheit verzichtet, erhöht die Mannigfal­ tigkeit. Und die Mannigfaltigkeit ist der Ort der Kunst. Das einzige 305

Vgl. dazu Kant, GMS 69 f.

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Denken, das den Geist befreit, ist jenes, das ihn allein lässt mit der Gewissheit seiner Grenzen und seines bevorstehenden Endes« (MS 150). Camus stellt den Begriffen Idee, Einheit und das Abstrakte die Begriffe Absurdität, Mannigfaltigkeit und das Konkrete gegenüber und beansprucht für die letzteren Begriffe den Status des philosophi­ schen Denkens, das die Wirklichkeit, und nicht die Illusion, zum Gegenstand hat. Während die klassische Metaphysik im Gottesbe­ weis, seit Aristoteles das Eine, gipfelt, ist das Mannigfaltige der Ort sowohl der Philosophie als auch der Kunst. Camus zeichnet eine Bewegung vom Tod her, die den Geist befreit. Alleingelassen sein mit der Gewissheit des Todes ist der Weg zum Abbau des Falschen und zum eigentlichen Selbst. Befreiung ist Befreiung »von der Hoffnung« (MS 150), von der Idee, von der Illusion, das Ganze verstehen oder begreifen zu können. Camus benennt im Schlussabschnitt des Kapitels nun explizit die zuvor skizzierte Parallele von absurdem Kunstwerk und Denken, also von eigentlicher Kunst und Philosophie: Er verlange Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft als Manifestation der Nutzlosigkeit (vgl. MS 150), als Verkörperung also des Absurden. Camus nutzt an dieser Stelle den Begriff des Mannigfaltigen, den Gegenbegriff zur abstrakten Idee, für das Wirkliche als das Konkrete, quasi synonym mit dem Begriff der Leidenschaft, die zuvor an dieser systematischen Stelle als eine der drei Schlussfolgerungen aus dem Absurden stand. Es ist also ein Sich-Zuwenden zur Welt, zur Wirklichkeit, das das gelingende Leben ausmacht. Das gelingende Leben bedarf »täglicher Anstrengung« (MS 150) und »Disziplin« (MS 151). Der Künstler gebe seinem Schicksal »Gestalt« (MS 151). Der absurde Mensch verkörpert das, was er ist, in seinem Leben und in seinem Tun. Er konkretisiert das Absurde in seinem konkreten Leben. Camus reiht damit nun den Künstler, zuvor als die absurdeste Gestalt bezeichnet (vgl. MS 120) neben den Schauspieler, den Liebenden und den Eroberer in die Skizzen eines gelingenden Lebens ein. Das Gemeinsame versucht er dabei in einer »Haltung« (MS 151) auszumachen, einem Sich-befreitWissen, das darin gipfele, sich auch von seinem eigenen Tun befreit zu wissen. Es – »sei es Eroberung, Liebe oder Kunstwerk« (MS 151) – müsste nicht sein. Die Vollendung des gelingenden Lebens als absurde Existenz liegt genau in diesem Bewusstsein: Dass es nicht sein müsste, weil es letztlich keinen Sinn hat. Für Camus liegt darin ein Weg zu Befrei­ ung und »mehr Leichtigkeit« (MS 151). Das gelingende Leben, so

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anstrengend es auch sein mag, ist nicht verkrampft, sondern letztlich durch die Einsicht in seine eigene Absurdität befreit. Man stürzt sich »mit allen Ausschweifungen« (MS 151) in das Leben, während man zugleich wach bleibt, also wie oben bereits skizziert, Einheit von Involviertheit und Reflexion. Letztlich ist die Reflexion immer die höhere Stufe, die jede Involviertheit, jedes Schaffen in der Welt noch einmal relativiert und in ein Verhältnis zum Wahren setzt. Die schwere Aufgabe kann aufgrund ihrer letztlichen Sinnlosigkeit doch wieder mit Leichtigkeit angegangen werden. Der Mensch ist absolut frei, befreit von Illusionen, und am Ende auch befreit von der absoluten Notwendigkeit seines Tuns, das das Absurde verkörpere, aber als Verkörperung des Absurden noch einmal absurd ist. Nur das Ende, das »Verhängnis des Todes« (MS 151), ist »unausweichlich« (MS 151). Alles andere ist Freiheit und kann von dort her als frei verstanden werden. Camus sagt darauf, das Los des Denkens sei es nun, in Bildern fortzufahren, sich in Mythen abzuspielen (vgl. MS 151), in denen sich »schwierige Weisheit und eine Leidenschaft ohne Zukunft […] vereinen« (MS 152). Der Mythos habe keine andere Tiefe306 als die des menschlichen Schmerzes und sei wie dieser unerschöpflich.307 Der Begriff ›Schmerz‹, der an dieser Stelle des Werks erst zum zweiten Mal überhaupt genannt wird, nachdem er zuvor lediglich zur Beschreibung Kierkegaards genutzt wurde (vgl. MS 38), genauer gesagt der Begriff des menschlichen Schmerzes, wird an dieser Stelle zum zentralen Negativbegriff der Tiefenschicht, hinter oder unter der es nichts Weiteres Tragendes gibt. Dazu vertritt Camus die These, dass das Denken, nachdem es mit dem Denken des Absurden seinen quasi höchsten und äußersten Punkt erreicht hat, nun in Bildern, Metaphern und Mythos308 fortfährt, deren Symbolik, wie er zwei Seiten zuvor betont, jedoch »evident« (MS 150) ist. Das absurde Denken gibt also Horizont und Spielraum der Interpretation vor. Camus selbst führt diesen nächsten Schritt mit seiner Interpretation des titelgebenden Mythos im folgenden Kapitel selbst durch. Er geht dabei zurück auf einen antiken Mythos, gegen die »göttliche Fabel, die unterhält und »profondeur« (MS frz. 159). Yilmaz vertritt die These, Camus wolle im Jahrhundert des Bösen mittels des Mythos als dem Kollektiv-Imaginären einen neuen Humanismus wiederherstellen (vgl. Yilmaz (2017) 7 ff.). 308 Vgl. dazu A. Pieper (1984) 178. 306

307

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blind macht« (MS 152). Religion täuscht(e) uns. Wir müssen dagegen klar sehen und wach bleiben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Leben vom Tod her gelingt, im Abbau von Falschem, in Entdeckung, Verkörperung oder Gestaltung und damit Wiederholen des Absurden, noch einmal befreit dadurch, dass es nicht sein müsste. Es ist ein Werden, ein Mehr für nichts, dessen fundamentale Tiefenschicht als ›profondeur‹ das negative Denken selbst im menschlichen Schmerz verortet, einem Leiden, das als Krankheit des Geistes aufgrund des Fehlens eines noch einmal fundierenden Grundes letztlich unüberwindbar ist. Ent­ scheidend ist eine absurde Grundhaltung und ihre Verwirklichung, die darin gipfelt, nicht realisiert werden zu müssen. Das Kunstwerk verkörpert diese Charakteristika der Idee gelingenden Lebens. Das schöpferisch-asketische Leben ist das bestmögliche Leben.

6 Der Mythos des Sisyphos Ziel des folgenden Kapitels ist die Analyse von Camus’ Interpretation des titelgebenden Mythos des Sisyphos. Camus folgt damit selbst seiner These, das Denken könne von seinem äußersten Punkt aus nur noch metaphorisch, in Erzählungen fortfahren. Dieser Mythos, traditionell Sinnbild der schlechten Unendlichkeit309 und des misslin­ genden Lebens, wird vor dem Hintergrund des Gedankengangs des Hauptwerks Camus’ zum Sinnbild der Idee gelingenden Lebens. Camus stellt seine lediglich fünfeinhalb Seiten umfassenden Interpretation des Mythos des Sisyphos auf die oberste Gliederungs­ ebene seines Hauptwerks. Ihr kommt also wahlweise der Status eines eigenen Hauptkapitels zu, oder sie steht am Ende der drei Hauptkapi­ tel, die auf sie zulaufen, zu ihr führen und in ihr gipfeln. Hätte nicht Camus’ Kafka-Interpretation wegen der jüdischen Herkunft Kafkas nachträglich als Anhang hinzugefügt werden müssen, sondern die ursprünglich ihr zugedachte Stelle im dritten Hauptkapitel einneh­ men können, wäre der Mythos der Abschluss des Werks gewesen. So nämlich hatte Camus sein Hauptwerk ursprünglich gegliedert. Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, einen Felsblock unablässig den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein Kraft seines 309

Zur Figur der schlechten Unendlichkeit vgl. Unger (2015).

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I Camus: Der Mythos des Sisyphos

eigenen Gewichts wieder hinunterrollte. Sie meinten nicht ganz ohne Grund310, es gäbe keine grausamere Strafe, als unnütze und aussichts­ lose Arbeit (MS 155).

Camus beginnt mit einer Darstellung des Mythos: Es ist eine mytho­ logische Welt, in der die Götter anwesend sind. Sisyphos wird von ihnen verurteilt. Schauplatz der Szene ist ein Berg. Der Stein wird durch menschliche Anstrengung bewegt und rollt ohne diese wieder zurück. »Kraft seines eigenen Gewichts« ist dabei nicht ganz korrekt – der Stein rollt aufgrund seiner Masse und der auf sie wirkenden Gravitationskraft der Erde, genauer gesagt der Erdmasse, zurück, und genau die Kraft ist es, gegen die der Mensch auf dem Weg hinauf anarbeitet. Der Widerstand ist permanent, und wenn man ihn lässt, rollt der Stein zurück nach unten. Ohne die Erde wäre der Stein keine Schwierigkeit. Die Götter haben sich dieses Szenario als grausamste Strafe ausgedacht, nicht ganz ohne Grund, wie Camus meint. Es scheint also, dass Nutzlosigkeit und Hoffnungslosigkeit die grausamste Strafe seien, aber es gibt hier im Horizont des Absurden einen Interpretationsspielraum, mit dem Camus arbeiten wird. Bei Homer heißt es wie folgt: Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.311

Im Original ist es der Versuch, den Stein final über die Kuppe zu werfen, der den Stein zum Zurückrollen bringt, da dort der Berg offenbar steiler wird, so dass ein ›Übergewicht‹ von Gravitationskraft zu menschlicher Kraft entsteht. Der Berg hätte natürlich auch bereits weiter unten derart steil sein können, aber das Szenario ist so kon­ struiert, dass der Mensch kurz vor dem Punkt der Überwindung scheitern muss.

310 311

»raison« (MS frz.163). Homer, Odyssee 206 (Elfter Gesang, Vers 593–600).

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6 Der Mythos des Sisyphos

Zunächst skizziert Camus die Erzählung, die Sisyphos in diese Lage führte, indem er der Darstellung von Coummelin 1909 folgt.312 Zwischen den unterschiedlichen Darstellungen – Sisyphos als weise und besonnen bei Homer gegenüber einem »Hang zum Straßenräu­ bergewerbe« (MS 155) in anderen Darstellungen – sieht Camus kei­ nen Widerspruch. Die Erzählungen des Mythos unterscheiden sich. Die erste Darstellung wirft Sisyphos »Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern vor« (MS 155). Sisyphos, König von Korinth, verrät nach Camus die Entführung Eginas, Tochter des Asopos, durch Jupiter, um der Burg von Korinth Wasser zu verschaffen, und wird dafür »in der Unterwelt bestraft« (MS 155). Diese Darstellung ist nicht korrekt. Korrekt wäre, dass Egina nicht von Jupiter, sondern von Zeus entführt wurde, und dass Sisyphos Zeus verrät und dafür von Zeus betraft wird. Homer, so Camus, erzähle auch, Sisyphos habe den Tod in Ketten gelegt (vgl. MS 155). Dies ist kein Zusatz oder alternative Erzählung, sondern Zeus, der verraten wurde, schickt zur Strafe Thanatos, den Tod, den Sisyphos aber überwältigt, indem er ihn betrunken macht und fesselt. Camus’ Darstellung des Mythos ist also ungenau und benennt die Zusammenhänge nicht. In der griechischen Mythologie wird Sisyphos von Zeus dafür bestraft, dass er ihn verrät, aber es war Zeus, der Egina entführte, und alles, was Sisyphos tat, war zu berichten, was er beobachtet hatte. Auch Camus’ zweite Darstellung ist nicht überzeugend: Er sagt, Sisyphos habe törichterweise vor dem Tod die Liebe seiner Frau auf die Probe stellen wollen (vgl. MS 156). Er habe ihr befohlen, seinen Leich­ nam nicht zu bestatten, sei dann von ihrem Gehorsam aufgebracht gewesen und habe die Erlaubnis erwirkt zurückzukehren, um seine Frau zu bestrafen. Beim Anblick der Welt, des Wassers, der Sonne, der Steine und des Meeres »wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück« (MS 156) und lebte noch viele Jahre, bis Merkur ihn gewaltsam zurückbrachte. Zuvor waren alle »Aufforderungen, Zornesausbrüche und Warnungen« der Götter vergeblich (vgl. MS 156). Im antiken Mythos war jedoch das an seine Frau gerichtete Verbot, ihn zu beerdigen, von Anfang eine List, um in die Welt zurückkehren und weiter an der Seite seiner Frau leben zu können. Nicht der Anblick der Welt bewegte ihn, dort zu bleiben, sondern es war von Beginn an sein Plan gewesen. Im Gegensatz zu dem Vorfall mit Zeus hat Sisyphos hier Hades betrogen und sich etwas 312

Vgl. MS Endnote 122 des Herausgebers.

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I Camus: Der Mythos des Sisyphos

zuschulden kommen lassen. Camus’ Darstellung ist also ungenau, sogar fehlerhaft, und nicht aus schriftstellerischem Interesse, sondern aufgrund unzureichenden Quellenstudiums. Auffällig ist im Kontext der bisherigen Untersuchung – Camus stellt diesen Aspekt nicht heraus – dass Sisyphos im wahrsten Sinne des Wortes ›vom Tod her‹ die Welt, zumindest in der Darstellung Camus’, neu und in einem anderen Licht sieht. Die existentialdialek­ tische Figur der Doppelbewegung findet sich in dieser Auslegung des Mythos, auch wenn sie nicht der Darstellung Homers entspricht. Steine, Wasser, Sonne, Meer, Bucht, Erde – es ist ein Begriff von Natur, die Sisyphos neu entdeckt und die er genießt. Es ist nicht schwer zu verstehen: Sisyphos ist der absurde Held. Ebensosehr aufgrund seiner Leidenschaften wie seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Hass auf den Tod und sein leidenschaftli­ cher Lebenswille313 haben ihm die unsagbare Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu vollenden. Das ist der Preis für die Leidenschaften in dieser Welt (MS 156).

Camus interpretiert nun vor dem Hintergrund seiner Darstellung Sisyphos als absurden Helden, aufgrund von Leidenschaft und Qual als Erfahrung des Negativen. Sisyphos verachtet die Götter wie der absurde Mensch zuvor die Religionen, wohl aber mit dem Unter­ schied, dass die Götter im Mythos anwesend sind, während die Abwesenheit Gottes oder der Götter die Moderne kennzeichnet. Sisyphos hat eine Leidenschaft für das Leben, die ihn letztlich in seine absurde Situation führt, während für den absurden Menschen in der Moderne, nach Camus, Leidenschaft folgerichtige Konsequenz aus dem Absurden ist. Das Absurde bei Camus ist nicht der »Preis für die Leidenschaft in dieser Welt«, sondern der Bruch, der erst die eigentliche Leidenschaft generiert. Auch der »Hass auf den Tod« ist schwer einzuordnen, da der absurde Mensch durch die Gegenwart des Todes als äußerste Absurdität gerade befreit wird. Eine Analogie, die Camus hingegen nicht sieht, die aber fruchtbar scheint, ist die Lokalisierung Sisyphos’ im Totenreich. Sisyphos ist tot, ein lebendiger Toter. Darin scheint Potential zu einer Analogie zu liegen, besonders im Auffinden von neuer, eigentlicher Lebendigkeit in der Annahme von Absurdität. Der Tod, in Gestalt des Hades, ist für Sisyphos gegenwärtig. Neu mit Blick auf Camus’ Begriff des Absurden ist hier 313

»sa passion por la vie« (MS frz.164) D: seine Leidenschaft für das Leben.

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der Aspekt des Unsagbaren. Absurdität und Erfahrung des Negativen sind nicht kommunizierbar, jenseits der Sprache. Bis hierher überzeugt Camus’ erste Analogie seiner Darstellung des Sisyphos zu seiner Konzeption des absurden Menschen in vielen Punkten nicht. Man müsste die Bewegung ›vom Tod her‹ und das Entdecken der Leidenschaft für das Leben bereits als Bewegung vom Absurden her interpretieren, nicht erst das vergebliche Rollen des Steins als das Absurde. So wäre Camus’ Interpretation ein wenig überzeugender, wenn auch nicht überzeugend. Die eigentliche Ana­ logie zwischen Sisyphos und dem absurden Menschen soll jedoch in der »Strafe« (MS 155) und dem sich Verhalten zu einer absurden Grundstruktur liegen. »Über Sisyphos in der Unterwelt wird uns nichts berichtet. Mythen sind dazu da, von der Vorstellungskraft belebt zu werden« (MS 156). An dieser Stelle endet Camus’ Auseinandersetzung mit und seine Rezeption der Erzählung des Mythos, und es beginnt der Kern seiner eigenen Interpretation des Szenarios: So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein anzuheben, ihn hinauf zu wälzen und mit ihm immer wieder den Hang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein presst, sehen, wie seine Schulter den erd­ bedeckten Koloss abstützt, wie ein Fuß sich gegen ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschliche Sicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser langen Anstrengung, die sich an einem Raum ohne Himmel und einer Zeit ohne Tiefe314 misst, das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein innerhalb weniger Augenblicke315 in jene niedere Welt hin­ abrollt, aus der er ihn wieder hoch auf den Gipfel wälzen muss. Er geht in die Ebene hinunter (MS 156 f.).

Camus beschreibt sehr detailliert seine Vorstellung von Sisyphos’ enormer Anstrengung. Er benutzt zweimal das Verb ›sehen‹ und einmal das Verb ›erleben‹, sowie eine Fülle von Formulierungen, die das Ausmaß der Anstrengung vermitteln: angespannt, anstrengt, gewaltig, anheben, hinaufwälzen, Hang, erklimmen, verzerrt, presst, Koloss, abstützt, stemmt, lang, Anstrengung. Die Aufgabe spielt sich in der Unterwelt ab, in einem anderen Raum und einer anderen Zeit als das gewöhnliche menschliche Leben. Während der Leser 314 315

»profondeur« (MS frz.165). »instants« (MS frz. 165).

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mitangesehen hat, wie er sich anstrengte, muss er nun auf dem Gipfel mit ansehen, wie alle Anstrengung zunichte gemacht wird. Es war für nichts. Das Bild ist gekennzeichnet von Höhe und Tiefe. Sisyphos beginnt in der Ebene, unten, wo seine Aufgabe auf ihn wartet, und erreicht unter enormer Anstrengung die Höhe. Seine Aufgabe ist, ›den Stein wieder hoch wälzen müssen‹ – obwohl alle Anstrengung letztlich vergeblich war, oder zu keinem bleibenden Resultat führt. Der Stein ist nachher wieder dort, wo er vorher war. Der einzige Unterschied liegt darin, dass er einmal ›mehr‹ auf dem Gipfel gewesen ist. Dieses ›einmal mehr gewesen‹ ist das, was bleibt, die Differenz zwischen davor und danach. Es ist unsichtbar. Der langen Anstren­ gung stehen »wenige Augenblicke« gegenüber, die Entlastung brin­ gen, aber in denen sich die neue Belastung anbahnt. Das Hinabrollen ist gleichzeitig Erholung und Vernichtung des einmal Erreichten. Insgesamt ist es eine Grundkonstellation der Wiederholung. Nach Erreichen der Höhe führt der Weg wieder nach unten, zu seine Auf­ gabe. Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisy­ phos. Ein Gesicht, das sich so nahe dem Stein abmüht, ist selbst bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu seiner Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Schlupfwinkel der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels (MS 157).

Im Zentrum von Camus’ Interpretation steht ein Aspekt, der in der ursprünglichen Erzählung keine Beachtung findet: die Pause. Diese »Augenblicke« sind sozusagen die Kehrseite der Anstrengungen, sie kehren in der zirkulären Struktur »ebenso zuverlässig«, also notwen­ dig wieder. Wenn Sisyphos oben ist, aber wieder unten beginnen soll, gibt es notwendigerweise eine Phase, in der er bergab geht, in der Erde und Gravitationskraft auf seiner Seite sind, in der er loslassen und »aufatmen« kann.316 Es ist sicher, dass es diese Augenblicke geben wird, und obwohl es wenige sind, ist es doch ›viel‹, es ist die »Stunde 316 In Zimmermanns Fokussierung auf die zunehmende physische Müdigkeit Sisy­ phos’, den Stein zu rollen (vgl. Zimmermann (2004) 77), bleibt die zentrale Bedeutung der Pause unterbelichtet.

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des Bewusstseins«. Es ist nicht Sisyphos’ Aufgabe, den Stein in der Höhe zu halten. Das wäre auf Dauer ebenso vergeblich, und er könnte es sicher nicht aushalten. Folglich leistet er an diesem Punkt keinen Widerstand. Es gehört zu seiner Aufgabe, den Stein zurückrollen zu lassen, mit ansehen zu müssen, wie alles vergeblich war und ist. Die Darstellung Camus’ von Gipfel und Lassen unterscheidet sich wie gesagt von der ursprünglichen Darstellung Homers, in der Sisyphos genau nicht stärker ist als sein Stein, sondern in der der Stein bei Sisyphos’ Versuch, ihn über die Kuppe zu werfen, Übergewicht gewinnt. Bei Camus liegt das Übergewicht auf Sisyphos’ Seite – Pause und Bewusstsein lassen ihn der grausamsten Strafe überlegen sein. Seine Einsicht ist Grund seiner Überlegenheit. Der Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Der Arbeiter von heute arbeitet sein Leben lang an den gleichen Aufgaben, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tra­ gisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken317, in denen er sich dessen bewusst wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Proletarier der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner elenden conditio: über sie denkt er nach während des Abstiegs. Die Klarsichtigkeit, die Ursache seiner Qual ist, vollendet zugleich seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann (MS 157 f.).

Camus formuliert an dieser Stelle die These der Analogie zur Situa­ tion des Menschen in der Moderne, dem Arbeiter als Teil einer Maschinerie. Der Grund des Sieges, des Sisyphos’ und des Menschen, liegt in der Einsicht in seine Situation, in die Grundstruktur seiner Existenz. Sie ist zugleich Grund seiner Qual, also seines bewussten Leidens, und Grund – oder zumindest Bedingung der Möglichkeit – seines Gelingens als Einsicht in die Wahrheit. Die eben skizzier­ ten Pausen, die Augenblicke, die notwendig eintreten, der Abstieg, geben ihm den Raum nachzudenken, und dies ist Grund seiner Überlegenheit. Die Situation ist jedoch nicht erst tragisch, wenn sie bewusst erfasst wird, sondern eine zuvor unbewusste Tragik wird durch Einsicht bewusst. Ihre Struktur an sich bleibt dabei unverändert. Tragisch gemäß klassischer Tragödientheorie ist, dass dasjenige, was den Protagonisten auszeichnet, gleichzeitig Grund seines Unter­ gangs ist. Die bewusste Erfahrung des Negativen und das gelingende 317

»moments« (MS frz. 165).

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Leben gründen beide auf der Einsicht in das Absurde. Während in der Tragödie jedoch die Einsicht – anagnorisis – zu spät kommt, präsentiert Camus hier eine Struktur der Wiederholung. Es tun sich immer wieder Augenblicke auf, in denen der Einzelne denken und das Ganze erkennen kann, und wenn er die absurde Grundstruktur der Existenz einmal entdeckt, dann hat er das Ganze, einschließlich des Vergangenen, entdeckt. Für das gelingende Leben bei Camus gibt es kein ›zu spät‹. Es steht jedem Menschen offen, es zu entdecken. Das Leben ist enorm anstrengend, aber bewältigbar, immer noch einmal mehr, für nichts. Die Augenblicke des Bewusstseins ermöglichen das Gelingen. Wenn der Abstieg an manchen Tagen von Schmerz, so kann er doch auch von Freude begleitet sein. Dieses Wort ist nicht zu stark. Ich stelle mir Sisyphos vor, wie er zu seinem Stein zurückkehrt und der Schmerz von neuem beginnt. Wenn die Bilder der Erde so sehr im Gedächtnis haften, wenn das Glück zu dringend mahnt318, dann steht im Herzen des Menschen die Trauer auf: das ist der Sieg des Steins, das ist der Stein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträglich. Das sind unsere Nächte von Gethsemane (MS 158).

Camus führt seine Interpretation mit seiner Vorstellung des Mythos fort. Grundsätzlich schließen sich Schmerz und Freude ist einer Situation nicht aus. Freude hat Raum in einer negativen Gesamt­ struktur. Hier beschreibt Camus jedoch das Überhandgewinnen des Negativerlebens »an manchen Tagen«, also nicht den Regelfall sei­ ner Sisyphos-Interpretation, aber schon einen dazugehörenden und wiederkehrenden Zustand. Es gibt Tage, an denen der Stein siegt, an denen das Negative überhand gewinnt. Der Stein »ist« dabei der Anstieg der Traurigkeit infolge des Rufs des Glücks, also Traurigkeit als Reaktion auf die negative Situation angesichts der Sinnlosigkeit des Ganzen. Bemerkenswerterweise wählt Camus für diese Grenzsi­ tuation die Analogie zur biblischen Nacht von Gethsemane, in der Jesus in seiner Angst bittet, dass der Kelch an ihm vorübergehe.319 Jesus’ Bestimmung ist eine andere, aber es gibt den Augenblick des Wunsches, verschont zu werden. Aber die erdrückenden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden. So gehorcht Ödipus zunächst unwillentlich dem Schicksal. Sobald er weiß, beginnt seine Tragödie. Gleichzeitig aber 318 319

»l’appel« (MS frz. 166) auch: Ruf. Vgl. Markusevangelium 14, 32–52.

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erkennt er in seiner Blindheit und Verzweiflung, dass ihn nur noch die kühle Hand eines jungen Mädchens mit der Welt verbindet. Und nun fällt er ein maßloses Wort: ›Allen Prüfungen zum Trotz – mein vorgerücktes Alter und die Größe meiner Seele sagen mir, dass es gut ist‹. So kleidet der Ödipus des Sophokles – wie Kirilow bei Dostojewski – den absurden Sieg in Worte. Antike Weisheit verbindet sich mit modernem Heroismus (MS 158).

Gegen die biblische Szene der Verzweiflung greift Camus nun auf den antiken Ödipus-Mythos zurück. Nach seiner Einsicht in die absurde Struktur, auf die er mit dem Ausstechen seiner Augen und seine Mut­ ter und Frau Iokaste mit Selbstmord reagierte, fällt Ödipus des Urteil, dass alles gut sei. Camus’ These innerhalb der Gewichtsmetaphorik des Steins als Traurigkeit ist, dass die Wahrheit an Gewicht verliert, sobald sie erkannt wird. Nach einer anfänglichen Schockreaktion auf die Einsicht in die Absurdität wird es doch letztlich leichter. Es gelingt, das Leben anzunehmen. Das Bewusstwerden des Leidens an der absurden Grundstruktur der Existenz macht das Leben schwerer, aber es erleichtert am Ende doch. Mit dem zunächst angenehmeren Dahinleben in der Alltäglichkeit ist auf Dauer niemanden wirklich geholfen, da häufig die Verzweiflung doch durchbricht, und dann mit mehr Gewicht, da die erkannte Verdrängungsleistung größer ist. Aber auch wenn sie nicht durchbricht, ist es objektiv als unreflektierte Flucht vor der Wahrheit kein gelingendes Leben. Es gibt keinen einfachen Ausweg.320 Auch unreflektiert ist das Schicksal »genauso absurd« (MS 157). ›Leiden‹ und ›Schmerz‹ sind zugleich beschwerlich und erleichternd. Durch Erkenntnis, einen Denkakt, verliert der Stein, die negative Wirklichkeit, für den Menschen an Gewicht. Camus’ Konzeption des gelingenden Lebens ist eine Konzeption der Aufklä­ rung und einer daraus resultierenden inneren Haltung. Sie geht dabei von der Moderne auf das Antike gegen das Christliche zurück. Man erkennt das Absurde nicht, ohne in Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. »Was! Auf so schmalen Wegen ...?« Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität sind Kin­ der ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar. Ein Irrtum wäre es, wollte man behaupten, dass das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Ebensogut kommt es vor, dass das Gefühl

320 A. Pieper benutzt mit Schlette für das Ausweglose den Begriff der Aporie, der etymologisch das Steckenbleiben in einer Furt meinte (vgl. A. Pieper (2011) 122).

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des Absurden dem Glück entspringt. »Ich finde321, dass alles gut ist«, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es hallt wider im unbarmher­ zigen und begrenzten Universum des Menschen. Es lehrt, dass noch nicht alles erschöpft ist, dass noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Er vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der in sie eingedrungen war mit der Unzufriedenheit und dem Gefallen an sinnlosen Schmerzen. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss (MS 158 f.).

Es gibt in Camus’ Konzeption zwei Glücksbegriffe, einen uneigentli­ chen und einen eigentlichen, also einen, der das misslingende, und einen, der das gelingende Leben charakterisiert. Das »Handbuch des Glücks« entspricht dabei dem Nachgeben gegenüber dem »Verlangen nach Glück und Vernunft« (MS 41), dem uneigentlichen Glück. Dieses Verlangen muss unbeantwortet bleiben, daher verweist auch das »aber« (MS 158) hier auf die eine Welt gegenüber Fiktionen des Jenseits. Der zweite Glücksbegriff in diesem Absatz – »Glück und Absurdität« (MS 159) – bezieht sich nun auf den eigentlichen Begriff von Glück, der nicht notwendigerweise aus der Entdeckung des Absurden folgt, jedoch untrennbar mit dem Absurden verbunden ist. Dies ist die Engführung von Glück und Wahrheit. Der Glücksbegriff hingegen, aus dem die Entdeckung des Absurden entspringen kann, muss jedoch der Begriff des uneigentlichen Glücks sein, auch wenn dies aus der Darstellung an dieser Stelle so nicht hervorgeht. Es müsste das Glück als Illusion des eigentlichen Glücks sein, in das das Absurde einbricht. Mit dem Urteil des Menschen, dass alles gut sei, nimmt Camus’ Konzeption nun auch den Begriff des Heiligen für sich in Anspruch. In einem Universum ohne Gott bejahe der Mensch die entdeckte Wahrheit des Absurden. Nicht Gottes Wort, sondern dieses Urteil des Menschen, das Bejahen der absurden Grundstruktur des Lebens, ist das heilige Wort und ist grammatisches Subjekt der folgenden vier Sätze: »Es hallt […] Es lehrt […] Es vertreibt […] Es macht […]« (MS 159). Gegen die biblische Genesiserzählung ist es nun der Mensch, der im Anschluss an den Schritt der Erkenntnis Gott vertreibt. Werturteil des Menschen und Vertreibung Gottes verkehren das Christliche. Allerdings ist dieses Werturteil des Menschen nicht unbegründet, sondern resultiert, wie bereits ausgeführt, aus der Einsicht in das Fehlen eines tiefen Grundes. Es gründet auf dem Fehlen 321

»Je juge« (MS frz. 167), auch: Ich urteile.

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des Grundes als der Wahrheit des Absurden. Camus besetzt damit die Begriffe ›Versuchung‹, ›das heilige Wort‹ und ›Vertreibung‹ aus dem christlichen Kontext mit seiner Konzeption, beansprucht aber, dass nicht seine Konzeption gegenüber der Christlichen ›verkehrt‹ ist, sondern dass das Christliche Versuchung zur Flucht vor einem Gesollten in das Falsche ist, Verkehrung der Wahrheit des Absurden. Wichtig ist dazu, dass es Teil der Konzeption des gelingenden Lebens ist, in Versuchung zu geraten, das uneigentliche Glück zu suchen. Dass der Stein die Überhand gewinnt, geschieht »an man­ chem Tag« (MS 158). Es ist unvermeidlich, und man muss sich immer wieder dazu verhalten. Gelingen steht immer wieder neu auf dem Spiel und wird nie perfekt und makellos sein, sondern ein Ringen mit der Versuchung des Falschen. Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso lässt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Univer­ sum, das plötzlich wieder im Schweigen ruht, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewusste, heimliche Rufe, Aufforderungen von allen Gesichtern bilden die uner­ lässliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Es gibt kein Licht ohne Schatten, und man muss auch die Nacht kennen. Der Absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann ist es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage (MS 159).

Das eigentliche Glück, das gelingende Leben, ist verborgen, verdeckt. Strukturell ist für es das Possessivpronomen »sein« wesentlich. Es ist sein Stein, seine Aufgabe. Der absurde Mensch sagt Ja zu seiner Aufgabe.322 In der Bejahung, in der Affirmation des Negativen, der Qual, kann das Leben gelingen. Er macht sich zum Herrn über sein Schicksal. Die Stimmen meinen hier Aufforderungen zum Sprung. Das gelingende Leben hat demnach eine Kehrseite, die als Versuchung zum Sprung in das Falsche präsent bleibt und wesentlich zum gelin­ genden Leben dazu gehört. Das Universum schweigt, aber die Rufe der Götzen, der falschen und von Menschen erdachten Götter, werden darin immer wieder laut. Dem gelingenden Leben kommt hier also die Die These Whistlers, es sei unsere paradoxe, unmögliche Aufgabe, Mensch zu sein (vgl. Whistler (2018) 58), ist an dieser Stelle korrekt, wenn man sie richtig, also den Menschen als absurden Menschen versteht. 322

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Lichtmetaphorik zu, deren Kehrseite die Versuchung der Illusion der Überwindbarkeit der Verzweiflung ist. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick der Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein (MS 160).

Camus betrachtet den Augenblick der Rückkehr zum Stein, erleich­ tert, bergab, in dem sich Sisyphos seinem Leben zuwendet, also über sein Leben und sich selbst reflektiert. Das Leben als Reihe unzusam­ menhängender Handlungen zeigt sich im Augenblick (Gegenwart) als zeitliche Struktur, vereint durch Erinnerung (Vergangenheit) und begrenzt durch den Tod (Zukunft). In der Erinnerung werden zusam­ menhangslose Handlungen zu seiner Geschichte, und er erkennt sich selbst. Das Leben gelingt in diesem besonderen Augenblick als Erfah­ rung eigentlicher Gegenwart, als Selbstreflexion des eigenen Lebens in Gegenwart des Absurden. Es ist eine Konzeption der Immanenz. Bemerkenswert ist, dass Camus die Lichtmetaphorik des gelingenden Lebens hier direkt widerruft. Der Mensch muss sich selbst als Blinder begreifen, der sehen will, aber weiß, dass er nicht sehen wird. Der Mensch will das Unmögliche, man könnte sagen, das Wunder, im Wissen um dessen Unmöglichkeit. Sein Anspruch nach Begreifen, nach Erkenntnis, ist jedoch berechtigt, und er gibt ihn nicht preis. Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Sisyphos lehrt uns jedoch die höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. Auch er findet, dass alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralistische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt an sich. Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen323 (MS 160).

Das Leben gelingt also in der Verleugnung der Götter und dem Anheben des Felsen, der Annahme des Absurden und der eigenen 323

»Il faut imaginer Sisyphe heureux« (MS frz. 168).

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absurden Aufgabe. Camus geht nun im letzten Schritt des Gedanken­ gangs der Steinmetaphorik weiter nach. In der Nacht, der dunklen Gesamtsituation, gibt es ein Aufblitzen324 im Stein als Mineral selbst. Es zeigt sich etwas lichtmetaphorisch Positives, ein Gegenstück zur Nacht ohne Ende, im Gegenstand der absurden Aufgabe selbst.325 In der je eigenen Aufgabe, so anstrengend, schwer und sinnlos326 sie auch sein mag, blitzt doch etwas anderes auf. Es ist eine Welt für sich, es ist genug, es kann erfüllend sein. Man könnte der Metapher nachfolgend weiter fragen, was die Minerale genau reflektieren. Wenn es Licht gibt, gibt es doch Sonne auf der anderen Seite der Welt. Entscheidend ist nun die Interpretation des ›müssen‹ im letzten Satz. Die hier vertretene These ist, dass dieser Satz beansprucht, die konsequente Schlussfolgerung des Gedankengangs der Untersu­ chung zu sein, die mit dem Problem des Selbstmords und der Frage nach dem Sinn des Lebens begann. Aufgrund des bisherigen Gedan­ kengangs müssen wir (notwendig) davon ausgehen, dass es das Glück ist, eine adäquate Metaphorik für ein der skeptisch-negativ-metaphy­ sischen Konzeption entsprechend im normativen Sinne gelingendes Leben.327 Es bedeutet nicht, dass wir denken müssen, dass es Sisyphos psychisch gut geht. Die Negativität des Lebens ist unaufhebbar. Aber wenn wir nach Gelingen im Gegensatz zu Misslingen fragen, dann kommen wir zu diesem Schluss. Der Mensch bejaht das, wozu er »verurteilt« (MS 155) wurde, in das er hineingeworfen wurde, und macht es dadurch zu seinem. Er versteht sich selbst vom Absurden her als absurden Menschen, wird sich selbst ›durchsichtig‹. Festzuhalten bleibt: Camus besetzt im theoretischen Kontext seiner Konzeption Schlüsselbegriffe der metaphysisch-christlichen Tradition bis hin zum Begriff des Heiligen. Aufklärung als Einsicht in das Negative hat zugleich etwas Befreiendes. Aufgrund der Kohärenz des Gedankengangs, der Prämisse des Wertes der Wahrheit und der Engführung der Begriffe Wahrheit und Glück müssen wir davon 324 Zum Motiv des Aufblitzens im Ausgang von Idealismus und Nachidealismus vgl. Unger (2015) 268. 325 Die Arbeit teilt nur an diesem Punkt die These Srigleys von Camus’ Gespür für das in gewissem Sinne Transzendente (vgl. Srigley (2012) 338). 326 A. Piepers Interpretation, für Sisyphos tue sich hier ein Sinnhorizont auf (vgl. A. Pieper (1984) 120, A. Pieper (1994) 15), scheint jedoch zu weit zu gehen. 327 »Derjenige, der das Absurde lebt, realisiert die menschliche Existenz voll und ganz und ist deshalb glücklich« (Sagi (2002) 2). Sagi arbeitet Camus’ Nähe zu einem aristotelischen, nicht-utilitaristischen Glücksbegriff heraus, den der Mensch in seiner Anstrengung realisiert (vgl. Sagi (2002) 80).

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ausgehen, dass das Leben desjenigen gelingt, der die Absurdität seines Lebens durchschaut und in einem aufrichtigen Verhältnis zu ihr zu seiner Aufgabe findet. Für Camus’ Idee des gelingenden Lebens bleibt die negative Grundstruktur des Daseins unaufhebbar. Sie rechtfertigt, dass wir von Gelingen sprechen können. In der eigentlichen Gegen­ wart blitzt jedoch etwas auf, das unerklärlich bleibt.

7 Kunst II: Absurdität und Sprung im literarischen Werk Kafkas Ziel des Kapitels ist die Untersuchung von Camus’ Kafka-Interpreta­ tion im Horizont der Begriffe ›Absurdität‹ und ›Sprung‹. Das entspre­ chende Kapitel war ursprünglich anstelle des Kapitels zu Dostojewski geplant und soll damit eine Negativfolie für das absurde Werk bieten. Wegen der jüdischen Herkunft Kafkas konnte es jedoch 1942 nicht erscheinen, erschien dann zunächst als separater Aufsatz und später als Anhang. Indem diese Arbeit diese Struktur übernimmt, lässt sie diesen historischen Kontext sichtbar bleiben. Camus beginnt sein Kapitel zu Kafka mit einem Verweis auf die Grenze der Interpretation. Man solle bei Kafka nicht alles bis in Einzelne interpretieren, ein symbolisches Werk bleibe abstrakt. Erklä­ rungen könnten hier nicht klar ausgesprochen werden, und manchmal seien zwei Interpretationen möglich. Wesentlich sei die Bewegung (vgl. MS 164). Der Begriff des Symbols wird hier überhaupt erst zum vierten Mal im Mythos verwendet. Im Kapitel ›Das Kunstwerk ohne Zukunft‹, ursprünglich also nach der Kafka-Interpretation, bezeichnet Camus die Symbolik des wahrhaft absurden Kunstwerks dagegen als »evident« (MS 150). Der Hinweis, man solle das Werk Kafkas »unvoreingenommen auf sich wirken [lassen]« (MS 165), steht im Gegensatz zu dem faktischen Vorhaben Camus’, eine Interpretation zu formulieren. Diese beginnt zunächst mit der werkübergreifenden These, für den unbefangenen Leser handele es sich auf den ersten Blick um Personen, die in beunruhigende Abenteuer verwickelt werden und Problemen nachjagen, die sich nicht genau benennen können (vgl. MS 165). Es gibt demnach noch einen zweiten Blick und eine genauere Interpretation. Zunächst folgt Camus jedoch der ersten Linie in Kafkas Prozess, in dem dieser die Handlung kurz nachzeichnet, wobei er den Fokus auf das Nicht-Wissen und Nicht-Begreifen Josef K.s legt, der

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weiter lebe (vgl. MS 165). Der Protagonist gerät in etwas hinein, das er nicht begreift und dem er sich nicht mehr entziehen kann. Camus interpretiert, die offensichtlichste Eigenschaft dieser Erzählung sei das Natürliche (vgl. MS 165). Es ist ein merkwürdiges, aber offensichtliches Paradox – je ungewöhn­ licher die Abenteuer, um so stärker spürt man das Natürliche der Erzählung: es verhält sich proportional zum Abstand, den man fühlt zwischen der Fremdartigkeit eines Menschenlebens und der Selbstver­ ständlichkeit, mit der dieser Mensch es auf sich nimmt. Dies scheint die Natürlichkeit Kafkas zu sein. […] Über diesen Mangel an Erstaunen wird er nie genug staunen (MS 166).

Der These, der Prozess bilde die conditio humana ab, entgegnet Camus, es sei einfacher und zugleich komplizierter (vgl. 166). Die These Camus’ ist, dass der Leser über den Mangel an Erstaunen des Protagonisten staunt. Der Protagonist ist mit dem Prozess konfron­ tiert, begreift nichts und lebt doch weiter dahin. Diese Struktur schlägt auf den Leser zurück, der darin sich selbst entdecken kann. Der Prozeß sei ein absurdes Werk, da der Geist seine eigene Tragödie ins Konkrete projiziere und »das Leere« (MS 166) dabei paradoxal im Alltäglichen ausdrücke (vgl. MS 166). Kafka schafft also einen literarischen Zugang zum Absurden, zur Leere als dem metaphysisch Negativen, indem er den Leser über den Mangel an Erstaunen eines mit einem konkreten Unbegreiflichen konfrontierten Protagonisten staunen lässt. Die juristische Symbolik bietet den Zugang zur negativen Metaphysik. Diese Tätigkeit des Schaffenden wird hier mit dem Verb projizieren ausgedrückt. Camus fasst diese Situation mit dem Paradoxon, dass Kafka spreche, während er uns die Beichte abnehme, als »Theologie in actu« (MS 166). Die Beichte des Lesers wird somit zum reinen inneren Vollzug der Selbsterkenntnis. Das Schloss sei dagegen vor allem das »individuelle Abenteuer […] eines Mannes, der die Dinge dieser Welt befragt nach ihrem königlichen Geheimnis« (MS 166 f.), Die Verwandlung »die entsetzliche Bildfolge einer Ethik der Hellsich­ tigkeit […] aber auch Produkt jenes unberechenbaren Staunens« (MS 167). »[...] Um das absurde Werk zu verstehen« (MS 167), sei es wichtig, die Paradoxa und Widersprüche zu benennen: Kafka wechsle »zwischen Natürlichem und Außergewöhnlichem, zwischen Indivi­ duum und Allgemeinem, zwischen Tragik und Alltäglichem, zwischen Absurdem und Logischem« (MS 167). Das »Schwierigste« (MS 167) sei es, ein »Wörterbuch« (MS 167) für die Symbolik Kafkas zu erstel­

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len, das zwischen »Welt der Ideen« (MS 167), also hier Fiktion, und »Welt der Empfindungen« (MS 167), der Welt des Lesers, übersetze. Für Camus stehen sich hier »die Welt des täglichen Lebens« und »die Welt der übernatürlichen Unruhe« (MS 167) gegenüber, also eine alltägliche Bildebene und eine negativ-metaphysische Bedeutungs­ ebene. In einer für die Sache zentralen Fußnote ergänzt Camus: Mit derselben Berechtigung kann man die Werke Kafkas als Gesell­ schaftskritik auffassen (beispielsweise Der Prozess). Übrigens gibt es da wahrscheinlich keine Wahl. Beide Interpretationen sind richtig. In der Terminologie des Absurden richtet sich, wie wir gesehen haben, die Auflehnung gegen die Menschen auch gegen Gott: große Revolutionen sind immer metaphysisch (MS 167 Fußnote, Hervorhebung AC).

Das Werk Kafkas ist also sowohl existenzphilosophisch als auch gesellschaftskritisch interpretierbar, wobei der Schlüsselbegriff der ›Auflehnung‹ diese beiden Interpretationen verbindet. Für Camus ist die existenzphilosophisch-metaphysische Dimension die tiefere, wel­ che aber in der gesellschaftskritischen immer mit enthalten ist. Jede Auflehnung gegen Menschen ist eine Auflehnung gegen Gott, gegen eine letztlich falsche ideologische Metaphysik einer Gesellschaft. Gesellschaftliche Veränderung kann daher, so die implizite These, nicht innerhalb des tradierten Weltbildes gelingen, in welchem die Menschen beruhigt dahinleben. Der Bruch mit dem Alten und der Übergang zu einem gesellschaftlichen Neuen fordert einen Bruch mit dem Dahinleben in den bisherigen metaphysischen Strukturen. Der Bruch mit den herrschenden Menschen fordert den Bruch mit der herrschenden Religiosität, den herrschenden metaphysischen Illusionen. Eine Interpretation des Prozesses, die auf der administra­ tiv-juristischen Ebene bleibt und sich gegen die Absurdität dieses Apparates wendet, ist also richtig, die metaphysische Interpretation aber die tiefere Ebene, die notwendig miterfasst werden muss. Als Gemeinplatz »aller« (MS 168) Literatur bezeichnet Camus im folgenden Abschnitt die Tatsache, dass beim Menschen grundle­ gende Absurdität328 und Größe zusammenfallen. Absurd sei zum Beispiel das Verhältnis von seelischer Maßlosigkeit und vergängli­ chen körperlichen Freuden (vgl. MS 168). Der Mensch ist für Camus durch ein fundamentales Nicht-Zusammenpassen gekennzeichnet. Nicht-Zusammenpassendes fällt zusammen, Seele und Körper wie zuvor Geist und Welt. Kafka drücke die Tragödie durch das Alltägliche, 328

»absurdité fondamentale« (MS frz. 175).

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das Absurde durch das Logische aus (vgl. MS 168). Er wählt also als Symbol einen Gegensatz, um das Paradox paradoxal auszudrücken. Dadurch macht er es »lebendig« (MS 168). Camus erläutert dieses Vorgehen am Beispiel eines Schauspielers: Die Darstellung einer tra­ gischen Figur sei um so überzeugender, je weniger er übertreibe. »Wenn er maßvoll ist, werden Furcht und Schrecken, die er hervorruft, maßlos sein« (MS 168). Der Autor interpretiert nun in diesem Sinne die griechische Tragödie am Beispiel des Ödipus, in der das Schicksal »unter der Maske des Logischen und des Natürlichen am deutlichsten werde« (MS 168). Durch den alltäglichen Rahmen, in dem das Schick­ sal des tragischen Protagonisten »unwahrscheinlich« (MS 169) erscheine, erhalte es seinen Schrecken. Das Hervorrufen von Furcht und Schaudern durch den Schauspieler widerspricht dabei allerdings Camus’ zuvor formulierter Kritik an der Tragödientheorie mit Blick auf den theaterbesuchenden Alltagsmenschen (vgl. MS 102 ff.). Neben dieser Tragödientheorie gibt Camus noch eine zweite Erläuterung der Vorgehensweise Kafkas: »Es gibt nämlich noch eine andere [Seite], die uns mit Hilfe der umgekehrten Methode erlaubt, Kafka besser zu verstehen« (MS 169). Der Mensch nenne nur etwas Erdrückendes Schicksal, und auch Glück sei unvernünftig. Camus betont darauf die Komplizenschaft von Logik und Alltäglichem beim Tragischen (vgl. MS 169). Der Protagonist der Verwandlung sorge sich um die Abwesenheit bei der Arbeitsstelle, seine körperliche Ver­ wandlung verursache nur »›leichten Kummer‹. Kafkas ganze Kunst liegt in dieser Nuance« (MS 170). Gregor Samsas Problem ist also, dass er nicht zur Arbeit gehen kann. Der Protagonist bleibt, zum Insekt verwandelt, in dem logischen Gedankengängen des alltägli­ chen Lebens verhaftet, und darin zeigt sich das Absurde. Es zeigt sich dem Leser, der als absurder Mensch am metaphysischen Abgrund ebenfalls mit Alltäglichkeiten befasst ist. Die Symbolebene bietet Zugang zur metaphysischen Bedeutungsebene. Und wenn Kafka das Absurde ausdrücken will, bedient er sich der Kohärenz. Wir kennen alle den Witz von dem Irren, der in der Bade­ wanne angelt; ein Arzt [...] fragte ihn: »Beißen sie an?« und bekommt die strenge Antwort »Du Idiot! In einer Badewanne?« [...] Man erkennt an ihm jedoch anschaulich, wie sehr die absurde Wirkung mit einem Übermaß an Logik verbunden ist. Kafkas Welt ist in Wirklichkeit ein unaussprechliches Universum, in dem der Mensch sich dem quälenden Luxus hingibt, in einer Badewanne zu angeln, obwohl er weiß, dass nichts dabei herauskommt (MS 170).

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Das Absurde zeigt sich als Übermaß an Kohärenz und Logik. Dass morgens als Insekt aufzuwachen bedeutet, dass man nicht zur Arbeit gehen kann, ist kohärent. Der Leser staunt über den Mangel an Erstaunen (vgl. MS 166) – und möglicherweise auch über sich selbst. Für Camus ist der Prozess »ein absurdes Werk in seinen Grundsätzen« (MS 171), enthalte »stumme Verzweiflung« und »unausgesprochene Auflehnung« (MS 171). Dennoch ist die Welt nicht so geschlossen, wie es den Anschein hat. In dieses unbewegliche Universum führt Kafka die Hoffnung in einer besonderen Form329 ein. In dieser Hinsicht gehen Der Prozess und Das Schloss nicht in dieselbe Richtung. Sie ergänzen sich. [...] Der Prozess stellt ein Problem, das Das Schloss in gewisser Weise löst (MS 171).

Der Prozess scheint also ein absurdes Werk zu sein. Diese Bewer­ tung wird jedoch durch seine Stellung im Gesamtwerk Kafkas wie­ der zurückgenommen: Der Prozess diagnostiziert, Das Schloss erfindet eine Therapie. Aber das vorgeschlagene Heilmittel nützt hier nicht. Es bewirkt nur den Einzug der Krankheit ins normale Leben. Es hilft sie zu akzeptieren. In gewissem Sinne (denken wir an Kierkegaard) hilft es, dass wir sie lieben (MS 171).

Das Schloss interpretiert Camus als »Abenteuer der Seele auf der Suche nach Gnade« (MS 170). Den Sprung bei Kafka und die Parallele zu Kierkegaard diagnostiziert Camus im »Heilmittel, das uns lieben lässt, was uns niederdrückt, und das in der ausweglosen Welt die Hoff­ nung aufkommen lässt« (MS 172) – die »Leere« und den »namenlosen Schmerz« (MS 171). Die Auflehnung und das Begreifen-Wollen werden fallen gelassen. Diese Art der Annahme des Absurden nichtet das Absurde. Der Mensch gibt nach. Darin liegt das misslingende Leben. Damit ist Camus zufolge auch bei Kafka die Diagnose des Absurden korrekt und wird genial dargestellt, die Schlussfolgerung jedoch ist ein inkonsequenter Sprung. Schlüsselbegriff des misslin­ genden Lebens ist der Begriff der Hoffnung. K. findet diese in der Nähe zu Frieda. Camus zieht hier eine Parallele zu Kierkegaard darin, dass das Heilmittel nicht wirke, dass es den Einzug der Krankheit des Geistes ins normale Leben bewirke. Diese Facette von Camus’ Kierkegaard-Interpretation ist hier neu. Der Sprung in das Religiöse ist nicht nur falsch und verkehrt. Er scheitert dazu auch. 329

»une forme singuliére« (MS frz. 178).

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Camus konkretisiert im Folgenden seine Interpretation des Schlosses: Zwischen dem neuen Landvermesser K. und dem Dorf gebe es keine Kommunikation, lediglich ein Gewirr von Stimmen am anderen Ende der Telefonleitung zum Schloss (vgl. MS 172). Das genügt, um seine Hoffnung aufrecht zu erhalten – wie gewisse Zeichen, die am Sommerhimmel erscheinen oder wie abendliche Ver­ heißungen, die für uns der Sinn des Lebens sind. Hier stoßen wir auf das Geheimnis von Kafkas sonderbarer Wehmut […] der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies (MS 172 f.).

Camus diagnostiziert bei Kafka also eine Hoffnung, die unbegründet ist, die sich aber an den kleinsten Strohhalm klammert, die zurück will aus dem Absurden in die Gemeinschaft derer, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, in die Alltäglichkeit. Ks große Hoffnung ist, dass er am Ende doch noch im Schloß aufge­ nommen wird. [...] dass er ein Dorfbewohner wird. Er will einen Beruf, ein Heim, das Leben eines normalen und gesunden Menschen. Er will vernünftig sein. Er will sich von dem besonderen Fluch befreien, der ihn von dem Dorf entfremdet (MS 173).

Diese Hoffnung ist der Sprung. Das Leben misslingt in der Hoffnung, wieder normal zu werden, den Zustand des Fremdseins und der Entfremdung, die Krankheit des Geistes überwinden zu können. Die Hoffnung ist »wahrscheinlich vergeblich« (MS 173), aber dieses ›wahrscheinlich‹, diese Ungewissheit genügt der Hoffnung, um sich an sie zu klammern. Kafkas Figuren sind, so Camus, was wir ohne Zerstreuungen wären, gedemütigt vom Göttlichen, auf der Suche nach dem Ewigen (vgl. MS 173). Das misslingende Leben gibt die Hoffnung nicht auf, das Göttliche doch zu finden und damit zu dem Zustand vor der Einbruchserfahrung des Absurden zurückzukehren. Das misslingende Leben »zieht […] den Schein der Wahrheit, das alltägliche Leben der geteilten Angst vor« (MS 173 Fußnote). Dazu misslingt das Leben in der Zerstreuung als Flucht vor dem Absurden. Das Leben gelingt also in der Aufgabe der Hoffnung, im Vorziehen der Krankheit des Geistes vor Normalität, Haus und Beruf, Gesundheit und Sinn – allein, weil es wahr ist. Camus zieht eine Parallele zwischen der Beziehung Ks zu Frieda, die er eingeht, weil sie einen Schlossbeamten gekannt hat (vgl. MS 173), und Kierkegaards Verhältnis zu Regine Olsen: Man denke an

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Kierkegaards sonderbare Liebe zu Regine Olsen.330 »Bei manchen Menschen ist das Feuer der Ewigkeit, das sie verzehrt, stark genug, um selbst das Herz jener zu verbrennen, die sie umgeben. Von dem verhängnisvollen Irrtum, Gott zu geben, was Gottes nicht ist, handelt wohl auf diese Episode im Schloß« (MS 174). Camus interpretiert Kierkegaard als einen Menschen, den das Feuer der Ewigkeit, die Sehnsucht nach dem Ewigen verzehrt. Kierkegaard kann, wie K., die Hoffnung nicht aufgeben, sucht in einer Beziehung den Rückweg zur Normalität. »Aber für Kafka ist es anscheinend kein Irrtum. Sondern eine Doktrin und ein Sprung. Es gibt nichts, das Gott nicht gehörte« (MS 174). Die Doktrin Kafkas (und Kierkegaards) ist also im Horizont der theoretischen Überlegungen Camus ein Irrtum und damit ein Sprung. »[...] Der Weg von Frieda zu den Schwestern Barnabas, ist der Weg von der vertrauenden Liebe zur Vergöttlichung des Absurden. Auch hier trifft Kafka sich mit Kierkegaard« (MS 174). Amelia Barnabas hat die »anstößigen Anträge« (MS 174) eines Schlossbeamten abgewiesen und ist damit aus der Liebe Gottes ver­ stoßen, da sie unfähig ist, ihre Ehre für ihn zu verlieren (vgl. MS 174). Camus interpretiert die Höherwertigkeit der moralisch fragwürdigen Beziehung zum Schlossbeamten offenbar analog zur teleologischen Suspension des Ethischen in Kierkegaards Furcht und Zittern. Das theologische Absurde wird zum höchsten Maßstab und in diesem Sinne vergöttlicht. Das Schloss bei Kafka und Gott bei Kierkegaard sind analog. Bei Camus hingegen wird das Absurde als Krankheit des Geistes zum höchsten Maßstab. Im nächsten Schritt analysiert Camus, weiter mit Blick auf Kier­ kegaard, Ks »letzte Anstrengung« (MS 174): »Die letzte Anstrengung des Landvermessers gilt dem Versuch, Gott mittels dessen zu finden, das ihn leugnet, ihn nicht nach unseren Kategorien von Güte und Schönheit zu erkennen, sondern hinter den leeren, hässlichen Gesich­ tern seiner Gleichgültigkeit, seiner Ungerechtigkeit und seines Has­ ses« (MS 174 f.). Der letzte Versuch, Gott in seiner Abwesenheit zu finden und zu verorten, ist negativ theologisch. Die Anwesenheit Gottes im Modus der Abwesenheit bedeutet für Camus die Aufgabe von »Logik und geistigen Wahrheiten« (MS 175). Es ist die letzte theoretische Ausflucht, die angesichts der offensichtlichen und auch eingestandenen Abwesenheit Gottes noch bleibt. Für Camus ist das nichts weiter als »unsinnige Hoffnung« (MS 175) angesichts der 330

Dagegen folgt diese Arbeit nicht dem Ansatz einer biographischen Deutung.

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offensichtlich absurden Grundstruktur des Lebens. Dabei diagnosti­ ziert er eine umgekehrt proportionale Struktur: Je tragischer die Situa­ tion, »um so strenger und herausfordernder wird diese Hoffnung« (MS 175). Je mehr der Prozess tatsächlich absurd ist, um so erschütternder und ungerechtfertigter erscheint der exaltierte »Sprung« im Schloss. Hier finden wir das Paradox des existentiellen Denkens in reiner Form wieder, wie es beispielsweise Kierkegaard ausdrückt: »Man muss die irdische Hoffnung abtöten, dann erst rettet man sich in die wahre Hoffnung.«331 – was man auch übersetzen kann: »Man muss den Prozess geschrieben haben, um das Schloss beginnen zu können« (MS 175).

Camus schreibt Kafka also das Grundparadox des existentiellen Den­ kens zu, und übersetzt zur Erläuterung ein Zitat Kierkegaards in die Terminologie von Kafkas Werk: Das Paradoxe oder synonym das Absurde der Existenzphilosophie ist, dass auf die Entdeckung des Absurden die religiöse Hoffnung folgt. Man entdeckt die absolute Hoffnungslosigkeit und rettet sich daraus in die sogenannte ›wahre Hoffnung‹ – ohne Rechtfertigung. Das ist der Sprung nach Camus. Der Prozess, die Einsicht in das Absurde, ist als Diagnose die Voraus­ setzung für diesen Ausweg. Absurdität und Sprung hängen notwen­ dig zusammen. Angesichts der absurden Grundstruktur der Existenz zu glauben oder zu hoffen ist paradox, ist also noch einmal absurd, und dieses zweite Paradox greift Camus an. Es ist ungerechtfertigt, inkonsequent, ein von Wunschdenken getriebener Fehlschluss. Hoff­ nungslosigkeit ist nicht der paradoxe, im Modus der Abwesenheit anwesende Grund der Hoffnung, sondern absolut hoffnungslos. Im folgenden Schritt der Analyse korrigiert Camus die Interpre­ tation, Kafkas Werk sei ein Verzweiflungsschrei, der dem Menschen keinen Ausweg lasse (vgl. MS 175 f.). Das absurde Werk könne zur Treulosigkeit verleiten. Bei Malraux zum Beispiel werde »die bedeu­ tungslose Wiederholung einer unfruchtbaren Situation […] zu einer Wiege der Illusionen« (MS 176). »Es erklärt, es gibt der Hoffnung Gestalt. Der Künstler kann sich von ihm nicht mehr trennen. Es ist nicht das tragische Spiel, das es sein sollte. Es gibt dem Leben des Verfassers einen Sinn« (MS 176). Die These lautet hier, dass selbst ein thematisch-negativistisches Kunstwerk der Hoffnung Gestalt 331 Camus’ eigene Fußnote verweist hier auf Die Reinheit des Herzens, aus Kierke­ gaards Erbaulichen Reden.

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geben kann, indem es erklärt. Es mündet in die zuvor bereits expli­ zierte Gefahr, zum Sinn des Lebens des Künstlers zu werden, der damit nicht mehr selbst der absurde Mensch ist, bzw. zu sein versucht, was er in Wahrheit nicht ist. Der Künstler ist immer mit dieser Ver­ suchung konfrontiert, und das absurde Werk kann ihn verleiten, in seinem Tun einen Sinn zu sehen. Demgegenüber ist das Sein-Sol­ lende, das gelingende Leben, explizit das tragische Spiel, das der absurden Grundstruktur die Treue hält. Jedenfalls ist es sonderbar, dass geistig verwandte Werke wie die von Kierkegaard, Kafka und Schestow, kurz, Werke existentieller Roman­ ciers und Philosophen, die ganz und gar dem Absurden und dessen Folgen zugewandt sind, schließlich in diesen gewaltigen Hoffnungs­ schrei münden. Sie umarmen den Gott, der sie verschlingt. Über die Demut schleicht die Hoffnung sich ein. Denn das Absurde dieser Existenz versichert sie ein wenig mehr einer übernatürlichen Wirklichkeit. Wenn der Weg dieses Lebens zu Gott führt, gibt es demnach einen Ausweg. Und der beharrliche Eigensinn, mit dem Kierkegaard, Schestow und die Helden Kafkas ihre Wege wiederholen, ist ein besonderes Unterpfand dieser Gewissheit. Kafka bestreitet seinem Gott die moralische Größe, Evidenz, Güte und Kohärenz – aber nur, um sich desto eifriger in seine Arme zu werfen. Das Absurde wird anerkannt und akzeptiert, der Mensch findet sich mit ihm ab, und von diesem Augenblick an wissen wir, dass es nicht mehr das Absurde ist. Was für eine größere Hoffnung gibt es in den Grenzen der conditio humana als diejenige, dieser conditio zu ent­ kommen (MS 176 f.)?

Camus stellt damit nun explizit Kafka in eine Reihe mit Kierkegaard und Schestow, die aus der Diagnose der Absurdität der Existenz auf einen Ausweg, eine, wie Camus sagt, übernatürliche Wirklichkeit schließen. Das misslingende Leben ist, wie oben bereits genannt, ein falsches Anerkennen des Absurden, das nicht das der Auflehnung ist. Der »Augenblick« (MS 177) dieser Anerkennung ist der Augen­ blick der Nichtung des Absurden. Der Mensch gibt sich zufrieden. Schlüsselbegriff des misslingenden Lebens ist weiter der Begriff der Hoffnung, wobei der Superlativ der Hoffnung darin liegt, die conditio humana zu überwinden – die Hoffnung darauf, sein zu können, wer man in Wahrheit nicht ist. Die Hoffnung auf ein anderes Leben bildet sich innerhalb der Grenzen des Lebens – wie Camus sagt durch inkonsequentes und unaufrichtiges Denken, den »Sprung«

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(MS 177). Dabei entspreche die Hoffnung der Existenzphilosophie der Heilsbotschaft des Urchristentums (vgl. MS 177). Die Klarheit, die Einsicht in das Absurde, verleugne sich selbst (vgl. MS 177) – Selbstverleugnung charakterisiert das misslingende Leben. Camus wendet sich in diesem Zusammenhang noch einmal gegen das Paradox einer negativen Theologie als »Vermessung einer flächenlosen Göttlichkeit« (MS 177). Das ist für ihn Selbstverleug­ nung der Klarheit. Dazu weist er im Folgenden ein Argument zurück, demzufolge nicht Klarheit, sondern Hochmut sich verleugne, um sich zu retten (vgl. MS 177). Meiner Ansicht nach schwächt man den moralischen Wert der Klarheit nicht ab, indem man ihn wie Hochmut steril nennt. Auch eine Wahrheit wird, wenn man sie definiert, steril. In der Welt, in der alles gegeben und nichts erklärt ist, ist die Fruchtbarkeit eines Wertes oder einer Metaphysik ein sinnloser Begriff (MS 177).

Camus impliziert an dieser Stelle seinen eigenen moralischen Wert der Klarheit. Er lehnt es ab, die Einsicht in das Absurde hochmütig zu nennen und von dort her abzulehnen. Die Formulierung »alles gegeben und nichts erklärt« (MS 177) ist bemerkenswert. Das ist das Absurde. Dem Menschen ist die Welt gegeben, aber unbegreiflich. Camus lehnt es ab, diese Klarheit als ›unfruchtbar‹ oder ›unpro­ duktiv‹ zurückzuweisen332 und von dort her zu versuchen, sie zu überwinden. Ein Wert muss nicht produktiv sein. Er muss wahr sein, weil Wahrheit selbst ein Wert ist. Und das Absurde ist für Camus klar und deutlich negativ-skeptische metaphysische Wahrheit. Eine fruchtbarere Metaphysik ist vielleicht wünschenswert, aber Illusion, »maßlose Hoffnung« (MS 177). Wir bewegen uns in der »Wüste« (MS 33) per se auf unfruchtbarem Terrain. Wissen, Mut und Maß sind für Camus hier evidente Kardinaltugenden. Auflehnung im Sinne von Wissen-Wollen, Begreifen-Wollen angesichts des Absurden ist für Camus ebenfalls notwendig, und in dieser Konstellation ist das Absurde unüberwindbar und jeder Überwindungsversuch ist als Form misslingenden Lebens zurückzuweisen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes hoffnungslos. Es werde, so Camus resümierend, an dieser Stelle des Gedan­ kengangs deutlich, »in welche Tradition des Denkens Kafkas Werk einzuordnen ist« (MS 177 f.). Der Prozess und Das Schloss bilden die Camus entgegnet damit hier Hackel, die fragt, was mit Camus’ Einsicht gewonnen sei (vgl. Hackel (2011) 406).

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beiden Pole, die Kafka anziehen. Sein Werk sei wahrscheinlich nicht absurd, aber universell (vgl. MS 178). Camus stellt an dieser Stelle die Begriffe Universalität und Wahrheit gegenüber. Sein Werk ist universell (ein wirklich absurdes Werk ist nicht uni­ versell) in dem Maße, in dem die hier bewegende Gestalt des die Menschheit fliehenden Menschen dargestellt wird, der aus seinen Widersprüchen Gründe für seinen Glauben schöpft, Gründe, um in seiner furchtbaren Verzweiflung zu hoffen [...] (MS 178).

Das misslingende Leben ist also ein universales Phänomen, dessen Schlüsselbegriff der der Flucht ist. Der Mensch flieht vor einem Gesollten, vor dem, was er eigentlich ist. Er will nicht sein, wer er in Wahrheit ist. Inkonsequenterweise folgert er aus seiner Verzweiflung an der Absurdität des Lebens Gründe zu glauben. Camus nennt dies einen »Übergang von der verzweifelten Weisheit zum freiwilligen Blindsein« (MS 185), wobei die Metaphorik diesmal dem religiösen Menschen zukommt, der die absurde Wahrheit nicht sehen will, während sie zuvor für den absurden Menschen gebraucht wurde, der den Sinn des Ganzen nicht erkennen kann (vgl. MS 160). Es [Bezug: das Werk Kafkas] ist universell, weil es religiös inspiriert ist. Wie in allen Religionen ist der Mensch auch hier vom Gewicht seines eigenen Lebens befreit. Aber [...] so weiß ich doch, dass ich nicht das Suche, was universell ist, sondern das, was wahr ist. Beides kann nicht zusammenfallen (MS 178).

Camus vertritt hier erneut einen explizit pluralistischen Religionsbe­ griff, den er als anthropologisches Phänomen der Verkehrung deutet und gegen den er sich mit dem Begriff der Wahrheit des Absurden im Singular wendet. Camus plädiert für das Aushalten dieser Wahrheit und gegen die Flucht. Der Preis des Wahren ist hoch: die Nichtüber­ windbarkeit des Absurden. Religiosität ist demnach für Camus ein universales anthropologisches Phänomen des misslingenden Lebens als verkehrte Entlastung. Das Leben gelingt demgegenüber im Aufsich Nehmen des Gewichts des Lebens, Entlastung bieten lediglich die Augenblicke der Pausen (vgl. MS 157). Das misslingende Leben ist die Regel, Gelingen die Ausnahme. Das »wirklich verzweifelnde Denken« (MS 178), eine Formu­ lierung, die Camus für das absurde und konsequente Denken hier zum ersten Mal verwendet, sei, methodisch-negativistisch, genau durch die entgegengesetzten Kriterien definiert (vgl. MS 178), und das tragische Werk ohne Hoffnung könne gerade die Lebensbeschrei­

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bung eines glücklichen Menschen sein (vgl. MS 179), was der Sisy­ phos-Interpretation als Konsequenz des Gedankengangs des Werks entspricht. Der eigentliche Gelingens- und Glücksbegriff fällt nicht mit Entlastung und psychischem Wohlbefinden, sondern mit Wahr­ heit zusammen. »In dieser Hinsicht scheint Nietzsche der einzige Künstler zu sein, der aus einer Ästhetik des Absurden die letzten Schlüsse333 gezogen hat, denn seine letzte Botschaft besteht in einer zwingenden, sterilen Klarheit und in der beharrlichen Verneinung jedes übernatür­ lichen Trostes« (MS 179). Dem Denken Friedrich Nietzsches, den Camus hier bemerkenswerterweise einen Künstler nennt, kommt demnach eine herausgehobene Stellung zu. Nietzsche ist Camus zufolge konsequent. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, diese These zu prüfen. Jedoch ist zu vermuten, dass die nihilistische Position des Spätwerks Nietzsches der Position Camus’ am nächsten kommt. Camus interpretiert Nietzsche nicht als Theoretiker des postmoder­ nen Spiels, sondern als (Vor-)Denker des Absurden. Die Formulie­ rung »Ästhetik des Absurden« zur Beschreibung des absurden Werks sowie »übernatürlicher Trost« zur Kennzeichnung des misslingenden Lebens benutzt Camus hier erstmals. Aufgrund des Argumentations­ gangs fallen auch die scheinbar gegensätzlichen Begriffe ›Großartig­ keit‹ und ›Gefühllosigkeit‹ zusammen (vgl. MS 179). Klarheit ist steril, unfruchtbar und damit zunächst einmal lebensfeindlich, aber sie ist wahr, und daher gilt es, mit ihr zu leben. Camus bewundert das Werk Kafkas als Darstellung des »Pro­ blems des Absurden in seiner Gesamtheit« (MS 179). Kafka versetze uns an die Grenze des menschlichen Denkens, die zu erreichen Camus selbst ganz zu Beginn für sein eigenes Werk beansprucht (vgl. MS 18). K. suche leidenschaftlich in einer alltäglichen Kulisse (vgl. MS 179). Gerade das Scheitern Kafkas zeigt Camus – methodisch-nega­ tivistisch –, welche »besondere Größe« (MS 179) das absurde Werk verlange. Dabei ist die Sehnsucht, zu Beginn der Untersuchung spezifiziert als »Sehnsucht nach Einheit« (MS 28), »das Merkmal des Menschlichen« (MS 179). Das Leben misslingt im verkehrten Über­ gang vom Absurden zum Religiösen als Stillen dieser Sehnsucht, es gelingt im Aufrechterhalten der Sehnsucht nach Begreifen des Ganzen als konstitutiver Teil des Absurden gegenüber der Welt. Religion gibt dem Menschen also die passende Antwort, aber die falsche. 333

»les conséquences extrême« (MS frz. 186).

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Die Größe des absurden Schriftstellers, so Camus abschließend, sei nach dem Abstand zu bemessen, den er zwischen die zwei Welten des Allgemeinen und des Besonderen, des Ewigen und des Vergänglichen zu bringen vermag (MS 180). Die Wirklichkeit in ihrer Vergänglichkeit und die göttliche Ewigkeit, nach denen wir uns sehnen, das besondere Konkrete und das allgemeine Prinzip einer Vernunftphilosophie – diese Gegensätze passen nicht zusammen. Ihr Verhältnis ist absurd und die Qualität des Schriftstellers liegt darin, das Absurde, den Zusammenstoß zwischen Welt und Geist, auf den Punkt zu bringen – »den Punkt […], an dem sie [Bezug: diese beiden Welten] in ihrem größten Missverhältnis aufeinanderstoßen« (MS 180). »Es kommt jedoch immer ein Augenblick, da der Geist die Wahrheiten leugnet [...], in dem das Kunstwerk nicht mehr tragisch, sondern nur noch ernst genommen wird« (MS 180). Der Abfall vom absurden Werk und vom gelingenden Leben allgemein ist allge­ genwärtig, gemäß dieser Formulierung vielleicht sogar notwendig. Der Geist wird die absurde Wahrheit leugnen und sich »um die Hoffnung [sorgen]« (MS 180). Vielleicht ist diese Notwendigkeit anthropologisch, in der Sehnsucht des Menschen begründet, die auch das Phänomen der Religion erklärt. Wiederholt führt Camus hier den Begriff des Tragischen mit dem Begriff des Absurden eng. »Das ist aber nicht seine Sache. Seine Sache ist es, jede Ausflucht zu vermeiden« (MS 180). Der Möglichkeit und also vielleicht sogar Notwendigkeit des Abfalls gegenüber steht sozusagen die normative Forderung der Konzeption Camus’, also das normativ Gesollte, die Flucht zu vermeiden. Diese Flucht als Hoffnung steht am Ende des Werks Kafkas (vgl. MS 180). Festzuhalten bleibt: Kafka zeigt das Absurde im Prozess und der Verwandlung auf literarisch herausragende Weise paradoxal als Übermaß von Kohärenz und Logik. In Gestalt der Hoffnung des Landvermessers K. im Schloss auf Rückkehr in die Normalität macht jedoch auch Kafka, Camus zufolge, den Sprung, steht damit in einer Reihe mit den Philosophen Kierkegaard und Schestow und bietet Camus lediglich eine weitere Negativfolie der Flucht für das absurde Werk. Damit sind Figuren der negativen Theologie für Camus der letzte Strohhalm des verzweifelten Menschen. Camus schreibt Fried­ rich Nietzsche den höheren Standpunkt zu. Existenzphilosophie und Gesellschaftskritik sind für Camus verwoben, wobei metaphysische Fragen die tieferen Schichten bearbeiten.

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8 Zwischensynthese

8 Zwischensynthese Das Absurde ist das dissonante Verhältnis von Mensch und Welt. Der Mensch entdeckt hinter der alltäglichen Betriebsamkeit das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben. Es ist das Entdecken der Wahrheit des Fehlens einer Tiefenschicht unterhalb der Oberfläche, des Einbruchs des Negativen als das Wahre in das Falsche, erfahren als Leere, Angst und Verzweiflung. Die alltäglichen Kulissen brechen zusammen und zeigen sich als das, was sie immer schon gewesen sind. Das Absurde zeigt sich zum einen in der Erfahrung der Fremdheit der Welt, der Fremdheit des Anderen und auch der Fremdheit des Selbst. Es zeigt sich im leiblichen Aufbegehren gegen das Dahinleben in der chronolo­ gischen Zeit sowie in der Endgültigkeit des Todes. Es zeigt sich auch im Denken, als konsequente und kohärente Konzeption, die provisorisch am Ende der Geschichte der Metaphysik steht, deren Fortschritt in der zunehmenden Einsicht in ihr eigenes Scheitern lag. Auch die Wissenschaften sind mit ihrem Erkenntnisanspruch gescheitert und verweisen auf das Absurde. Auf die einfache Frage, warum wir leben gibt es keine Antwort. Das Ich ist introspektiv gewiss, aber fremd und undefinierbar. Die Welt ist in der Berührung gewiss, bleibt für den Menschen jedoch dicht, undifferenziert und unbegreiflich. Der Tod und damit die radikale Endlichkeit der Existenz sind gewiss. Das Verhältnis von Mensch und Welt ist das Verhältnis von Erwar­ tung und Enttäuschung. Metaphern wie ›Wüste‹ und ›Trümmer‹, Sinnleere und Fremdheit treten an die Stelle von Sinnhorizont und vertrauter Welt. Camus nutzt dabei folgende argumentative Grund­ figur: Es gibt viele Wahrheiten, jedoch keine Wahrheit. ›Dass es keine Wahrheit gibt‹ ist die Wahrheit. Das Absurde ist erste rein negative metaphysische Wahrheit. Es ist die konsequente und höhere Position, die aus dem Eingeständnis des Faktums von Relativität und Multiperspektivität folgt. Ungewissheit ist gewiss. Das Fehlen einer Tiefenschicht ist die Tiefenschicht. Die Irrationalität hat keinen Vorrang, sondern ist rational als irrational begreifbar. Der Mensch ist philosophisch-anthropologisch in Wahrheit der absurde Mensch. Die Prädikate ›wahr‹ und ›negativ‹ fallen zusammen. Das berechtige und notwendige metaphysische Fragen des Menschen bleibt unbeantwor­ tet. Angesichts des Absurden gibt es zwei Alternativen: Fliehen oder Bleiben und sich in einem Verhältnis zum Absurden halten. Das Leben misslingt als Flucht vor dem Absurden, als Sprung in das Religiöse, die Illusionen des Alltags oder des Idealismus sowie

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als leiblicher Selbstmord. Die vielleicht zentrale Metaphorik ist der Schirm des Priesters, der den Blick auf das Schafott verdeckt. Im Sprung wendet sich der Mensch gegen das Absurde. Der Alltags­ mensch lebt, als ob er frei wäre und alles einen Sinn hätte, faktisch ein an kontingente soziokulturelle Normen angepasstes Leben. Er versteht das Tragische nicht. Das Leben misslingt im Glauben an eine umfassende Weltsicht, die Antworten auf unsere Fragen bietet, im Glauben an die Idee oder in der Überzeugung, ein Ziel, Sinn oder Trost gefunden zu haben. Der Pluralismus der Religionen, unter denen keiner ein privilegierter Status zukommt, bietet Aufforderungen zum Sprung in das Falsche. Das misslingende Leben als rastlose Suche nach einem Glück, das es nicht gibt, führt in ein Zermalmt-Werden durch die Maschinerie der modernen Massengesellschaft. Aber auch die Hoffnung des absurden Menschen, wieder ›normal‹ zu werden, ist Illusion. Seine letzte Ausflucht ist die negative Theologie, die Verortung Gottes in seiner Abwesenheit. Camus geht davon aus, die Entdeckung des Absurden mit einer Reihe nach-idealistischer und moderner Denker und Schriftsteller zu teilen. In der Existenzphilo­ sophie und Literatur, bei Jaspers, Schestow, Kierkegaard, Husserl, Dostojewski und Kafka, sieht Camus den Sprung als ungerechtfer­ tigten Übergang vom Absurden zum Religiösen. Religiosität bietet die passende Antwort, aber die falsche. Jeder Versuch, der conditio humana zu entrinnen, ist zum Scheitern verurteilt. Es ist nicht klar, welche Werke Kierkegaards Camus wirklich gelesen hat, und seine Textarbeit ist insgesamt unpräzise. Camus deutet das Werk Kierkegaards als ein Entdecken und Entfalten des Absurden, insbesondere hin zum Begriff des Dämonischen am Ende des ersten Teils der Krankheit zum Tode. Die Widersprüche der pseudonymen Autoren interpretiert er als Darstellungstechnik des Absurden. Das Religiöse bei Kierkegaard deutet er als Sprung, als Flucht vor der Wahrheit in das Falsche, als Negation der Erwartung und damit als Versuch der Selbstvernichtung der begrenzten Vernunft des Menschen. Camus diagnostiziert bei Kierkegaard ein verdecktes Interesse, ein Verdrängen, das vergeblich ist. Von Angst befangen ist er darauf gerichtet, das Negative, die Krankheit des Geistes zu überwinden, und will damit das Unmögliche. Das Leben misslingt in der theologischen Vergöttlichung der Absurdität. Der Versuch, über die Negation des Denkens zum Göttlichen zu gelangen, ist faktisch die Negation des einzig metaphysisch Wahren, und damit die Verleugnung des eigenen Selbst als absurder Mensch. Kierkegaard

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8 Zwischensynthese

entdeckt in der Interpretation Camus’ das Absurde, aber will es nicht wahrhaben. Die Gegenwart des Todes im Leben wirkt aufklärerisch. Die Möglichkeit des eigenen Todes als äußerster Absurdität vermag das bisherige Leben zu erschüttern und den Einzelnen zu befreien. Das bisherige Leben wird retrospektiv unfrei, alle Sinnversprechen als bodenlos erkannt. Ein Verständnis wahrer und vernünftiger Freiheit im Bewusstsein und in Gegenwart des Absurden tritt an die Stelle der bisherigen Illusion von Freiheit. Es gilt den Tod nicht zu verdrängen, weder seine Möglichkeit in jedem Augenblick noch seine historische Wirklichkeit in Gestalt der namenlosen Massengräber. Das Leben gelingt als Nicht-Springen, als Nichtung der Möglich­ keit des Sprungs in jedem Augenblick und damit als ein Sich-Hal­ ten am Abgrund in Gegenwart des Absurden. Der Einzelne findet (zurück) zu seiner Aufgabe in der Welt, jedoch transformiert, mit einer neuen Haltung, wach, gewöhnlich, aber bewusst, unter enormer, beinahe unmenschlicher Anstrengung das Verhältnis zum Absurden aufrechterhaltend. Es ist ein Entdecken, Beschreiben, Bezeugen, Erlei­ den, Verkörpern und Gestalt geben und damit ein Wiederholen des Absurden. Das gelingende Leben ist gelingender Umgang mit der Krankheit des Geistes, welcher das Risiko das Wahnsinns in sich birgt. Der Verlust von Sinn ist der hohe Preis der Wahrheit, den es zu zahlen und auszuhalten gilt. Die zentrale Metapher ist die Nachtwache des Geistes, der Versuch, sich umgeben von Dunkelheit wachzuhalten. Der absurde Mensch wird nicht von Alter und Krankheit überrascht, sondern erschließt von vornherein vom Tod her seinen begrenzten Spielraum. Religiosität wäre die Antwort auf das Leben, ist es aber nicht. Das Negative ist das übergreifende Ganze, ohne letztliche Mög­ lichkeit seiner Überwindung auf ein Positives hin. Alle Sinnhorizonte sind Illusion. Letztlich ist alles noch einmal ›für nichts‹. Das Leben gelingt in der Auflehnung bei gleichzeitigem Bewusstsein ihres Schei­ terns und steht angesichts der Versuchung von Hoffnung und falschen Sinnversprechen in jedem Augenblick neu auf dem Spiel. Gelingen als Verkörperung des Absurden ist selbst absurd, und befreit sein von Illusion bedeutet auch Befreiung vom eigenen Schaffen-Müssen. Die absurde Grundhaltung und ihre Verwirklichung gipfeln darin, nicht verwirklicht werden zu müssen. Sie sind schöpferisch-asketisch. Das Wissen um die Absurdität des Ganzen führt zu mehr Leichtig­ keit. Das gelingende Leben ist angestrengt und angespannt, jedoch nicht verkrampft oder blockiert. Es ist ein Sich-ins-Leben-Stürzen

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bei gleichzeitigem Wachbleiben, ein Zugleich von Involviertheit und Reflexion, ein rationaler und leidenschaftlicher Umgang mit der ratio­ nal erkannten Irrationalität des Lebens. Das misslingende Leben ist der Regelfall, Gelingen die seltene Ausnahme. Das gelingende Leben scheitert immer wieder, ist eine permanente Anstrengung aus dem Misslingen heraus die Möglichkeit des Sprungs in jedem Augenblick zu nichten. Für Camus ist dies die folgerichtige Konsequenz aus der Entdeckung des Absurden. Das schöpferische Leben ist das bestmögliche Leben. Das Kunst­ werk bietet dabei keine Lösung der Krankheit des Geistes. Es ist nicht Sinn des Lebens des Künstlers, sondern Gestalt des Absurden. Es projiziert die Tragödie des Geistes ins Konkrete. Der Künstler gibt damit seinem Schicksal als Mensch Gestalt. Wesentlich ist hier der Begriff des Indirekten: Das Kunstwerk beschreibt, bezeugt und verkör­ pert indirekt das Absurde. Es hilft dem Rezipienten, selbst die nackte Wirklichkeit, sich selbst als absurden Menschen zu entdecken. Es markiert damit den Punkt, an dem der Mensch sich halten muss, damit das Leben gelingen kann. Während das Kunstwerk nur andeutet, ist jedoch seine Metaphorik eindeutig. Sein negativer Unterton verweist auf Grenze, Tod und Auflehnung. Für den Künstler selbst bietet seine Tätigkeit eine Schule der Klarheit, ein Üben des Gelingens, das nicht in einem Punkt der Vollendung, sondern mit dem Tod des Künstlers sein Ende findet. Der Künstler, der sein Leben seiner Aufgabe widmet, könnte darauf verzichten. Während es für Camus keine feste Grenze von Philosophie und Kunst gibt, so ist es doch die Philosophie, die den Maßstab des Absurden ausweist, an dem die Kunst gemessen wird. Dagegen scheitert die direkte Mitteilung, exemplarisch diskutiert am Beispiel des pädagogischen Selbstmords bei Dostojewski. Auch Camus selbst wählt letztlich nicht den Begriff oder die allgemeine Regel, sondern immer neue Metaphern und Bil­ der und letztlich den Mythos, die der Einzelne vor dem Hintergrund der geschichtlichen und biographischen Situation für sich übersetzen muss. Eine allgemeine Lebensregel für den absurden Menschen bleibt bedeutungsarm. Verstehen ist nicht rezeptiv oder kognitiv, sondern Durchleben, der Nachvollzug im eigenen Leben. Thematisch setzt Der Mythos des Sisyphos bei Negativphänome­ nen an. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier zu nennen: Selbstmord, Fehlen, Sinnfrage, Bruch, Erschütterung, Leere, Krank­ heit, Angst, Verzweiflung, Leiden, Sinnlosigkeit, Tod, Alltäglichkeit, Krieg, Schützengraben, Massensterben, Wüste, Exil, Flucht, Schirm,

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Verdrängung, Sprung, Illusion, Bitterkeit, Enttäuschung, Hoffnungs­ losigkeit, Mauer, Grenze, Verletzung, Lüge, Scheitern, Niederlage, Kampf, Zerdrückt–Werden, Zermalmt–Werden, Schrei, Nichtver­ stehen, Nichtbegreifen, Nutzlosigkeit, Aussichtslosigkeit, Verlust, Bruchstücke, Nacht, Gewicht, Qual, Inseln, Leiden, Nutzlosigkeit, Schmerz, Erniedrigung, Verwundbarkeit, Dunkelheit, Unfruchtbar­ keit, Spottpreis. Der Begriff der Krankheit des Geistes bleibt der für das gelingende Leben zentrale Begriff und wird nicht noch einmal auf ein Positives hin überwunden. Methodisch schließt Camus nicht direkt vom Standpunkt des Absurden auf die Idee gelingenden Lebens, sondern indirekt, durch eine Analyse der Flucht vor dem normativ Gesollten. In der Beschrei­ bung, Analyse und Reflexion des misslingenden Verhältnisses zum Absurden zeigt sich das gelingende Verhältnis. Das Misslingen bietet ex-Negativo den Maßstab des Gelingens. Fälle von Abschweifung, Untreue und Scheitern gegenüber der Forderung des Absurden, so Camus, verdeutlichen am besten, worin diese besteht. Camus fasste seine Konzeption gegen Negativfolien. Die Würde des Individuums und seine Rechte zeigen sich in ihrem permanenten Verletzt-Wer­ den.334 Verletzlichkeit und Verwundbarkeit bilden die Brücken zum Anderen. Nicht der Verstand, sondern das Leiden erschließt die Wirk­ lichkeit. Es gelingt Camus dabei, die methodische Spannung zwischen Negativismus und anschaulichen Beispielen für die Idee gelingenden Lebens zu überwinden, in dem er auch ihre Gegenentwürfe für mögliche Beispiele und diese damit als beliebig erklärt. Zentral bleibt seine Interpretation nach Maßstab des Absurden. Camus besetzt zentrale Begriffe der Tradition im Sinne seiner Position: Das Leben gelingt in der Pflichterfüllung des Absurden, in der richtigen Schlussfolgerung aus dem Absurden als Weisheit liegen Würde und metaphysisches Glück. Camus impliziert dabei die Evidenz der Werte klassischer Tugenden wie Wissen, Mut und Maß, die er gegen die christlichen Tugenden Glaube und Hoffnung mobili­ siert. Das Leben gelingt in der konkreten, wirklichen Welt. Absurdität, Mannigfaltigkeit und das Konkrete sind dabei Gegenbegriffe zu Idee, Einheit und dem Abstrakten der traditionellen Metaphysik. Den Wert der Wahrheit selbst stellt Camus nie in Frage. Auf ihm basiert seine gesamte Konzeption. Angesichts des für das Absurde konsti­ tutiven Willens des Menschen stellt sich die Frage, ob der Mensch 334

Vgl. dazu Schlette (2000) 17.

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I Camus: Der Mythos des Sisyphos

Wissen–Wollen muss, nachdem sich seine Erwartungen als zu hoch erwiesen haben, und ob es dieser Wille ist, der ihn geradewegs in das Absurde führt und die eigentliche Sisyphosaufgabe ist. Camus weist jeden Ausweg aus der Problematik als Sprung zurück, verknüpft den Begriff des Lassens explizit mit dem Standpunkt des Absurden. Schließlich öffnet er aber doch selbst in einer Fußnote zum ›östlichen Denken‹ den Weg für theoretische Alternativen. Es stellt sich die Frage nach dem Grad der impliziten ›westlichen, christlich-metaphy­ sischen‹ Prämissen Camus’.

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II Kierkegaard

1 Absurdität und Sprung: Furcht und Zittern Kierkegaards unter dem Pseudonym335 Johannes de Silentio verfasste Schrift Furcht und Zittern (Frygt og Baeven) aus dem Jahr 1843 ist zentral für die Kierkegaardrezeption Albert Camus’. Ihr entlehnt er die Schlüsselbegriffe ›Absurdität‹ und ›Sprung‹ und das mit Abstand längste Kierkegaardzitat im Mythos des Sisyphos (vgl. MS 57). Furcht und Zittern kreist um Kierkegaards Interpretation der alttestamenta­ rischen Abrahamserzählung. Der Text besteht aus einem Vorwort, den kurzen Kapiteln ›Stimmung‹ und ›Lobrede auf Abraham‹, vier Kapiteln zu Problemata sowie einem kurzen Epilog.

1.1 Abraham glaubte Ziel des ersten Kapitels ist die Analyse des Beginns von Furcht und Zittern, also des Vorworts und ausgewählter Passagen aus den Kapi­ teln ›Stimmung‹ und ›Lobrede auf Abraham‹, in denen Kierkegaard den für das Werk zentralen Begriff des Glaubens336 fasst und von Begriffen ›Begreifen‹ und ›Verstehen‹ abgrenzt.337 Die Analyse folgt den drei Textteilen. Das Vorwort von Furcht und Zittern beginnt mit zwei für das Werk sozusagen tonangebenden Thesen: Die erste These richtet sich mit Descartes gegen eine Interpretation des Cartesianismus als umfassend radikalen Zweifel. Kierkegaard bezieht sich dabei affirma­ tiv auf §§ 28 und 76 aus Descartes’ Principia Philosophiae, denen Zur Komplexität der Pseudonymität bei Kierkegaard vgl. Pattison (2019) 243 ff. Nach Birkenstock ist es ein »Methodenproblem« (Birkenstock (1997) 18), wie weit man Kierkegaard folge, wenn er über die Philosophie hinaus von Glauben und Erlösung spreche. 337 Zur aktuellen Debatte um die Interpretation des Werks und zu Argumenten für eine ›traditionelle‹ textnahe ethisch-religiöse Interpretation des Werks vgl. Kemp (2013) 49 ff. 335

336

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II Kierkegaard

zufolge wir der göttlichen Autorität eher Vertrauen dürfen als unserer eigenen Urteilskraft, selbst wenn eine Vorstellung im Verstand so klar und deutlich wie nur möglich scheint. Descartes, so Kierkegaard, habe im Verhältnis zum Glauben nicht gezweifelt. (vgl. FZ 181 f.). Die zweite These richtet sich gegen die Systemphilosophie seiner Zeit, in deren Sinne der Verfasser von Furcht und Zittern nicht Philosoph sei. Kierkegaard differenziert in einer Konjunktiv-2-Struktur zwischen Begriff und Begreifen des Glaubens. Selbst wenn es gelänge, den »Glaubensinhalt in die Form eines Begriffs umzusetzen, so folgt daraus nicht, dass man den Glauben begriffen habe« (FZ 183). Die Schrift wendet sich gegen das Selbstverständnis einer Systemphilo­ sophie, die beansprucht weiter gegangen zu sein als der Glaube. Das Kapitel ›Stimmung‹ präsentiert in Form der Geschichte eines alten Mannes, der von der biblischen Erzählung des Abrahamsopfers begeistert ist, sie aber »weniger und weniger« (FZ 184) versteht, die Grundthese der Nichtverstehbarkeit Abrahams. Dabei grenzt Kier­ kegaard den Verstehensbegriff ironisch von einer rein philologischexegetischen Auffassung ab (vgl. FZ 186).338 Es geht nicht darum, ob man Hebräisch kann oder nicht. Nichtverstehen bezieht sich nicht auf die Bedeutung der Wörter, sondern auf das mit ihnen Ausgesagte. Das Unterkapitel ›Lobrede auf Abraham‹ beginnt mit einer aus Furcht und Zittern häufig zitierten Passage: Falls ein Mensch nicht in Besitz eines ewigen Bewusstseins wäre, falls allem zu eine wild gärende Macht zugrunde läge, die sich in dunk­ len Leidenschaften windend alles hervorbrächte, was es an Großem gibt und was es an Unbedeutendem gibt, falls sich unter allem eine bodenlose Leere, niemals gesättigt, verbärge, was wäre das Leben dann anders als Verzweiflung? Falls es sich so verhielte, falls kein heiliges Band wäre, das die Menschheit zusammenknüpfte, falls ein Geschlecht nach dem anderen entstünde, wie Blätter im Walde, falls ein Geschlecht das andere ablöste, wie der Vogelsang im Walde, falls das Geschlecht durch die Welt zöge, wie das Schiff durchs Meer zieht, das Wetter durch die Wüste, ein gedankenloses und fruchtloses Tun, falls ein ewiges Vergessen immer hungrig auf seine Beute lauerte und keine Macht wäre stark genug, sie ihm zu entreißen – wie leer und trostlos wäre dann das Leben (FZ 191)?

338 Aufgrund der Wahrheit von Existenz und Innerlichkeit ist jede objektive Analyse des Religiösen falsch (vgl. Theunissen / Greve (1979) 36).

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1 Absurdität und Sprung: Furcht und Zittern

Der Text skizziert an dieser Stelle ein Negativszenario im Konjunktiv 2, das heißt im grammatischen Modus Irrealis: Es beschreibt den Menschen rein hypothetisch ohne Bezug zum Ewigen, allein gegrün­ det in Macht und Leidenschaft. Das Leben, in dem eine verdeckte Bodenlosigkeit die letzte Tiefenschicht wäre, bringt der Autor auf den Schlüsselbegriff der Verzweiflung. Ohne Tiefenschicht, die das Ganze noch einmal trüge und ihm Sinn verliehe, gäbe es keine Idee der Menschheit, sondern lediglich ein letztlich gleichgültig sich abspielendes Nacheinander der Generationen in der Zeit, gleich der ›unbeseelten‹ Natur. Das ewige Vergessen, das auf den Menschen nach dem Tod lauert, nivelliert damit die Differenz zwischen ›vorbei‹ und ›nie gewesen‹. Zentral ist hier die Sammlung negativer Adjektive und Partizipien: wild, gärend, dunkel, bodenlos, leer, ungesättigt, verzweifelt, gedankenlos, fruchtlos, vergessen und trostlos. Der Text fährt fort: »Aber darum ist es nicht so, und wie Gott Mann und Weib erschaffen hat […].« (FZ 191). Grammatisch könnte sich das ›darum‹ sowohl auf das zuvor skizzierte Negativszenario als auch auf den anschließenden Verweis auf die Geschöpflichkeit des Menschen beziehen.339 Die erste Interpretationsalternative inter­ pretiert diese Stelle als quasi-Argument, als einen zumindest impli­ zierten Schluss: ›Weil das Leben andernfalls absolut negativ oder nihilistisch wäre, ist es nicht so, und wir gehen daher davon aus, dass Gott den Menschen geschaffen hat‹. Dieser Schluss macht entweder von der normativen Prämisse Gebrauch, dass Bodenlosigkeit nicht die Tiefenschicht sein soll, die wiederum zu begründen wäre, was nicht geleistet wird. Oder er schließt selbst aus der Abwesenheit Gottes negativ auf die normative These, dass diese nicht sein soll, was eine Form des naturalistischen Fehlschlusses wäre.340 Oder er geht davon aus, dass die Darstellung des Negativszenarios in all seiner Schrecklichkeit Grund genug ist, vom Gegenteil, der Geschöpflichkeit des Menschen auszugehen, was lediglich ein Suggestivargument wäre. Die zweite Interpretationsalternative interpretiert die Stelle als einen Verweis auf die Geschöpflichkeit des Menschen und damit auf die Wahrheit einer religiösen Tiefenschicht. Dahinter steht an dieser Stelle kein argumentativer Begründungsanspruch, sondern der

339 340

Vgl. dazu Abel (2018) 7 ff. Zur Interpretation dieser Passage mit Camus als Schluss vgl. Hüsch (2014b 58 f.).

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II Kierkegaard

Verweis auf etwas, das immer schon vorausgesetzt ist, das gar nicht zur Debatte steht.341 Es scheint, dass diese Interpretationsalternativen die Problem­ stellung des Werks vollkommen unterschiedlich verstehen: Die erste Lesart dieses ›darum‹ scheint Furcht und Zittern prinzipiell so zu verstehen, dass hier der Anspruch verfolgt wird, den Glauben gegen­ über der theoretischen Alternative der absoluten Bodenlosigkeit zu rechtfertigen, was immer Rechtfertigung in diesem Kontext genau bedeuten würde. Die zweite Lesart scheint demgegenüber davon auszugehen, dass »[dass]…Gott Mann und Weib erschaffen hat« (FZ 191) als Hintergrundannahme vorausgesetzt ist und dass das Problem der Schrift Kierkegaards der Glaubensakt des noch nicht glaubenden konkreten Menschen ist, der etwas für sich zu entdecken bzw. nachzuvollziehen hat, was als christliche Versöhnung zwischen Mensch und Welt durch die Menschwerdung Gottes immer schon geleistet ist, während das Christliche als grundlegender Standpunkt dabei in keiner Weise zur Debatte steht.342 Der biblischen Ausnahmeerscheinung343 des Abraham kommt bei Kierkegaard eine Vorbildfunktion zu. An ihr studiert Kierkegaard das gelingende Leben.344 Er skizziert Abraham zunächst mit der Grundfigur des Paradoxons.345 Ohnmacht ist seine Stärke, Torheit das Geheimnis seiner Weisheit, Wahnsinn die Form seiner Hoffnung, Selbsthass seine Liebe (vgl. FZ 193). Die positive Besetzung der Begriffe »Wahnsinn« und »Selbsthass« (FZ 193) wirkt auf den Leser dabei zunächst sicher nicht unproblematisch. Kierkegaard beschreibt die Erzählung, der zufolge Abraham an der Verheißung festhielt, er solle zum Stammvater werden, obwohl er und seine Frau Sara immer älter wurden und keine Kinder bekamen. »Abraham wurde alt, Sara zum Gespött des Landes [...] Aber Abraham glaubte und hielt an der Verheißung fest« (FZ 194). Der Gegenbegriff zum Glauben ist an die­ ser Stelle der »irdische Verstand« (FZ 193), den Abraham zurückließ. 341 Für Kierkegaard ist der Gegensatz zwischen normativ und deskriptiv in diesem Sinne naiv (vgl. Hühn (2009) 224 f.), die Wirklichkeit immer schon christlich ver­ standen. 342 Vgl. Theunissen (1982) 90. 343 Zur Ausnahmesituation in Furcht und Zittern vgl. Ackermann (2018) 276 ff. 344 Park nennt Abraham den »Prototypen eines gelungenen Selbst« (Park (2019) 21) bei Kierkegaard. 345 Furcht und Zittern zielt nach Wesche auf das Aufzeigen der Paradoxalität der Kierkegaard’schen Dialektik (vgl. Wesche (2003) 101).

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1 Absurdität und Sprung: Furcht und Zittern

»[...] Denn groß ist es, seinen Wunsch fahren zu lassen; aber größer ist es, daran festzuhalten, nachdem man ihn hat fahren lassen; groß ist, das Ewige zu ergreifen; aber größer ist es, am Zeitlichen festzuhalten, nachdem man es hat fahren lassen. – Dann kam die Fülle der Zeit« (FZ 194 f.). Kierkegaard skizziert an dieser Stelle zum ersten Mal in Furcht und Zittern die für seine Gesamtkonzeption als »Exis­ tentialdialektik«346 zentrale Figur der Doppelbewegung347, die er im Folgenden auch selbst mit diesem Begriff benennen und an dem zen­ tralen Beispiel des Ritters des Glaubens ausführlich erläutern wird (vgl. FZ 212 ff.). Die These ist, dass das Leben nicht unmittelbar gelingt, sondern im Vollzug einer Bewegung (hier: des Glaubens), die in ihrem Kern paradox ist.348 Abraham hält an seinem Wunsch fest, nachdem er ihn aufgegeben hat. Er hält am Zeitlichen fest, nachdem er es hat »fahren lassen« (FZ 194). Das Leben gelingt, indem man das Gelingen loslässt, und dann an ihm festhält. Dazu erläutert Kierke­ gaard mit dieser Stelle das Verhältnis von Zeitlichkeit und Ewigkeit seiner Konzeption. Die Idee des gelingenden Lebens in dieser christ­ lichen Konzeption ist keine jenseitige. Kierkegaard verlegt sie nicht in eine Welt hinter der Welt. Das Leben gelingt im Zeitlichen, also im Hier und Jetzt dieser Welt349, aber eben nicht unmittelbar. Das Leben, zumindest des bestmögliche Leben im Sinne des Komparativs »grö­ ßer« (FZ 195) und damit in der Konzeption, die im Werk skizziert wird, gelingt genau nicht im bloßen Ergreifen des Ewigen. Der Begriff ›Fülle der Zeit‹ meint dabei den Augenblick als Ewigkeit in der Zeit, orientiert an der Figur Jesu als Menschwerdung Gottes in der Zeit und dem damit verbundenen Grundparadox. Kierkegaard vertritt damit in Furcht und Zittern keine säkulare Konzeption, jedoch eine, der es um das konkrete Leben in dieser Welt geht und für die das christlich ver­ standene Ewige als religiöse Tiefenschicht anstelle der »bodenlosen Leere« (FZ 191) den Bezugspunkt oder -rahmen bildet. Vgl. Theunissen (1993) 17. Nach Theunissen ist die Doppelbewegung die »Schlüsselfigur« (Theunissen (1991d) 346) des Gesamtwerks Kierkegaards und damit auch das Verbindende der pseudonymen Schriften. 348 A. Piepers Darstellung von Absurdität und Doppelbewegung (vgl. A. Pieper (2014) 88) bleibt oberflächlich. 349 Der Mensch findet das endliche Glück, indem er die Beseitigung der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit absurderweise dem allmächtigen Gott überlässt. In Greves Deutung zeigt Furcht und Zittern eine Lösung auf, die das abstraktere Spätwerk dann theoretisch fasst (vgl. Greve (1990) 179, 261). 346 347

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II Kierkegaard

Kierkegaard fährt nun in der Darstellung damit fort, wie der Glaube Abrahams erneut auf die Probe gestellt wird: »Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berg, den ich dir sagen werde« (FZ 195). Gerade in dem Kontext, dass Abraham Stammvater werden sollte und nach langem Warten endlich einen Sohn bekam, scheint diese Forderung Gottes beim besten Willen nicht nachvollziehbar zu sein. »Aber es war Gott, der Abraham versuchte« (FZ 197). Abraham jedoch glaubte und glaubte für dieses Leben. Ja, hätte sein Glaube bloß einem kommenden gegolten, dann hätte er wohl leichter alles von sich geworfen, um aus dieser Welt hinwegzueilen, der er nicht angehörte. Aber Abrahams Glaube war nicht von dieser Art, wenn es einen derartigen gibt; denn eigentlich ist es nicht Glaube, sondern des Glaubens fernste Möglichkeit, die zu äußerst im Gesichtskreis ihren Gegenstand erahnt, jedoch geschieden davon durch einen klaffenden Abgrund, worinnen die Verzweiflung ihr Spiel treibt. Aber Abraham glaubte gerade für dieses Leben [...] (FZ 197).

Der Text differenziert an dieser Stelle zwischen zwei Glaubensbegrif­ fen, wobei er den zweiten radikal ablehnt. Entsprechend der Idee, dass das Leben in der Zeitlichkeit gelingen soll, gehört der Mensch, hier exemplarisch Abraham, wesenhaft dieser Welt an. Der Glaube an das gelingende Leben ist der Glaube an dieses Leben in dieser Welt, obwohl das phasenweise widersinnig erscheinen mag. Die Gegenkonzeption, der Glaube an Gelingen in einem kommenden Leben, wird hier radikal abgelehnt. Das sei nicht Glaube, sondern lediglich ein Erahnen dessen, was Glaube bedeutet. Dazwischen liege ein klaffender Abgrund.350 Der Glaube an ein kommendes Leben ist damit keine Überwindung der Verzweiflung, sondern von der Idee des gelingenden Lebens durch einen Abgrund getrennt, der auf diesem Weg noch nicht überwunden ist. Diejenigen, die lediglich an das Jenseits glauben, sind in Wahrheit in der Welt verzweifelt. Die Idee des gelingenden Lebens ist damit implizit gefasst als Überwindung von Abgrund und Verzweiflung in dieser Welt durch den Glauben. Im Folgenden diskutiert Kierkegaard den Selbstmord Abrahams als alternativen Ausweg zum paradoxen Glauben. »Er wäre in der Welt bewundert worden« (FZ 198). Es sei aber etwas anderes, »zum Leitstern [zu] werden, der den Geängstigten erlöst« (FZ 198). Hier 350

»svælgende Dyb« (SKS 4, 116) D: gähnende Tiefe.

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1 Absurdität und Sprung: Furcht und Zittern

sind zwei Aspekte wichtig: Gelingendes Leben ist das Erlöstwerden von Angst. Dieser Begriff kommt hier in der Schrift zum ersten Mal ohne weitere Erläuterung vor. Die Angst scheint, als Negativerfah­ rung, dem eigentlichen Gelingen des Lebens vorauszugehen. Der zweite wesentliche Aspekt besteht darin, dass Bewunderung durch Mitmenschen in der Welt, auch wenn sie aus guten Gründen nachvoll­ ziehbar sein sollte, hier kein Kriterium des gelingenden Lebens ist. Es wird sich zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Das gute Leben wird häufig unverstanden sein. Im abschließenden Teil der Lobrede auf Abraham benennt der Text noch zwei weitere für das gelingende Leben zentrale Aspekte: Zum einen ist das die These der letztlichen Nichtkommunizierbarkeit des gelingenden Lebens des Einzelnen gegenüber einem Anderen. »Er sagte nichts zu Sara […] wer hätten ihn auch verstehen können« (FZ 198). Das Leben gelingt als Einzelner und von den Mitmenschen unverstanden. Der weitere wesentliche Aspekt ist der Begriff »Flucht« (FZ 199) als Schlüsselbegriff für das misslingende Leben in der Konzeption Kierkegaards. In Furcht und Zittern ist der Zweifel an Gott bereits Flucht vor dem Gesollten als dem Glauben. Zusammenfassend kann man bis hierher festhalten, dass Kier­ kegaard in den hier analysierten ersten Abschnitten von Furcht und Zittern gegen die Systemphilosophie von der Nichtverstehbarkeit des gelingenden Lebens des Einzelnen im Glauben ausgeht, der in der Welt auf kein Verständnis stoßen wird. Der Kern der Gegenkon­ zeption zur bodenlose Leere ist die theologische Anthropologie der Geschöpflichkeit des Menschen. Das Leben soll durch Vollzug der Doppelbewegung des Glaubens im Diesseits gelingen. Gegenbegriffe zum Gelingen sind Vertrauen auf die Urteilskraft des irdischen Ver­ standes, Zweifel und Flucht.

1.2 Problemata: Vorläufige Expektoration Ziel des folgenden Kapitels ist die Untersuchung des ersten Kapitels der Problemata in Furcht und Zittern. In drei Schritten widmet sich die Analyse zunächst dem Verstehensbegriff, im zweiten Schritt dem Begriff des Absurden und der Doppelbewegung und im letzten Schritt der Erläuterung der Figur der Doppelbewegung, der Differenz zwischen dem Ritter der unendlichen Resignation und dem Ritter des Glaubens anhand einer Reihe von Beispielen und Bildern.

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II Kierkegaard

1.2.1 Verstehen als Betroffensein Der erste Abschnitt zum Verstehen beginnt mit der These einer ewigen göttlichen Ordnung, die in der Welt des Geistes herrsche (vgl. FZ 201). In dieser Welt bekomme nur der Isaak, der das Messer zücke, und nur der finde Ruhe, der in Ängsten gewesen sei (vgl. FZ 201). Man findet wahre Ruhe nicht direkt, sondern erst, nachdem man in Angst gewesen ist. Nicht Isaak zu haben, sondern Isaak durch dem Glauben zurückzubekommen, sei analog das Entscheidende. Dieses Paradox wird nicht aufgelöst. Wer nicht geistig arbeitet, so die darauffolgende These, der wird vom Leben betrogen werden. Im Folgenden diskutiert der Text Formen der Verfehlung im Umgang mit der Erzählung Abrahams. Die erste Form ist das bloße Auswendiglernen der Geschichte (vgl. FZ 202). Man macht damit aus einem geistigen Inhalt ein ›Wissen‹ von der Art des letztlich gleichgültigen Wissens über die äußere Welt (vgl. FZ 201). Wer etwas auswendig lernt und reproduzieren kann, der hat es nicht verstanden. Dies treffe auf zahllose Menschen zu. Auch das Fassen der Erzählung in ganz gewöhnliche Worte wie: »Das war das Große, dass er Gott so geliebt hat, dass er ihm das Beste opfern wollte« (FZ 202) sei ein Versuch, die Erzählung verstehen zu wollen, ohne geistig zu arbeiten. Die Gefahr liegt darin, dass, wenn man versucht, etwas Außergewöhnliches in gewöhnliche Wort zu fassen, es dadurch Teil der gewöhnlichen Welt und des Bekannten zu werden droht. Der Satz, dass die Tat Abrahams groß war, ist sach­ lich-logisch richtig. Er kann aber trotzdem dahingehend falsch sein, dass man in seiner eigenen »Bequemlichkeit« (FZ 202) keinen blassen Schimmer davon hat worum es eigentlich geht. Das Reden über das gelingende Leben wird, in Heideggers Terminologie, ›Gerede‹.351 Die Schwierigkeit liegt darin, dass derjenige glaubt verstanden zu haben, nichts sachlogisch Falsches sagt, und sich doch im Grunde täuscht. Es ist eine Figur der Verkehrung. Dagegen kann von einem gelungenen Verhältnis zur Erzählung ausgegangen werden, wenn sie einen Menschen »schlaflos« (FZ 202) macht. Die Gegenkonzeption zu bloßem Kennen und Reden ist das subjektive – hier auch leibliche – Betroffensein352 ist der ersten Person Singular. Die Erzählung wirkt auf das Leben. Zugang zu 351 352

Vgl. Heidegger, SuZ 167 ff. Vgl. dazu Deuser (1980) 20.

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diesem gelungenen Umgang bietet die eigene Auseinandersetzung mit Abrahams Erfahrung des Negativen, der »Angst« (FZ 202). Angst bietet hier den Zugang zur Einsicht in das Gelungene. Daher, so der Text, werde die Angst im gewöhnlichen Gerede über Abraham häufig ausgelassen. Wen die Erzählung wirklich schlaflos macht, für den birgt die Erzählung Abrahams noch die Gefahr eines tragisch-komischen Miss­ verständnisses: Sich Abraham zum Vorbild zu machen, bedeutet selbstverständlich nicht, dass man aus der Kirche nach Hause gehen und seinen eigenen Sohn töten soll (vgl. FZ 203). Das scheint so offensichtlich zu sein, dass man sich fragt, warum es für Kierkegaard überhaupt erwähnenswert ist. Aber es liegt doch ein Widerspruch darin, dass Abraham etwas getan habe – und dafür bewundert wird – für das man normalerweise »hingerichtet oder ins Irrenhaus gesteckt« wird (FZ 204). Die Frage ist, wie genau der Vorbildcharakter Abra­ hams für ein gelungenes Leben zu verstehen ist. Beiläufig nennt Kierkegaard hier die Welt, in der man hingerichtet worden wäre, die »sogenannte Wirklichkeit« (vgl. FZ 204). Der angenommenen Welt des Geistes samt ewiger göttlicher Ordnung kommt damit implizit der Begriff der wahren Wirklichkeit zu. Die Auflösung des Widerspruchs des Vorbildcharakters Abrahams liegt für Kierkegaard in der Unterscheidung der Begriffe ›Mord‹ und ›Opfer‹, wobei ersterer der »ethische Ausdruck« (FZ 205), letzterer der »religiöse« (FZ 205) für die Tat Abrahams sei. In diesem Widerspruch liege gerade die Angst (vgl. FZ 205). Der Vorbildcharakter Abrahams liegt im Glauben »und nur durch den Glauben gewinnt man Ähnlichkeit mit Abraham, nicht durch den Mord« (FZ 206). Hochinteressant ist der Exkurs in Bezug auf die Frage: ›Was, wenn Abraham doch ein Mörder ist?‹ Die Antwort Kierkegaards unter dem Pseudonym Johannes de Silentio lautet hier, dass, falls er so gedacht hätte, er vermutlich geschwiegen hätte, »denn in solche Gedanken soll man andere nicht einweihen« (FZ 206). Durch das Pseudonym ›de Silentio‹ sagt er aber, dass er schweigt. Kierkegaard stellt hier durch einen pseudonymen Autor eine Konzeption des gelingenden Lebens als Leben des Glauben dar, der dieser fiktive Autor selbst nicht gerecht wird. Johannes de Silentio glaubt nicht bzw., vollzieht lediglich einen Teil der Doppelbewegung, wie noch erläutert werden wird, und ist dadurch immer noch durch den Abgrund der Verzweiflung vom Glauben getrennt.

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Im Folgenden erläutert Johannes de Silentio hypothetisch, wie er von Abraham sprechen würde, wenn er müsste. Kierkegaard eruiert so die Möglichkeit eines eigentlichen Sprechens über Abraham und damit der Vermittelbarkeit einer Idee des gelingenden Lebens durch Johannes de Silentio im Gegensatz zu dem typischen geistlichen Kirchenbeamten, »der bei der Predigt von Abraham keine Wärme oder Transpiration verspürt hatte« (FZ 203), der bequem lebt und keine Ahnung hat, worüber er da eigentlich redet. Demgegenüber spricht nun derjenige, der Angst und Schlaflosigkeit kennt, der aber, wenn er nicht glauben würde, es doch nicht sagen würde. Er würde zunächst sagen, dass nur Abraham als Auserwähltem Gottes eine solche Prüfung auferlegt werden könne, was dann aber zu der Frage führe: »wer ist ein solcher« (FZ 206)? In einem zweiten Schritt würde er, wie er leicht ironisch sagt, »etliche Sonntage« (FZ 207), über die Liebe Abrahams zu Isaak sprechen. Kierkegaard zieht im Folgenden eine Analogie zwischen dem Weg Abrahams und dem Weg desjenigen, der Ähnlichkeit mit Abraham gewinnen will. Dabei betont er mehrfach, dass man umkehren könne. So würde man selig mit allen anderen, aber nicht »in der Zeit« (FZ 207). Der entscheidende Punkt der Konzeption im Werk ist das Gelingen in der Zeit. Der, der weiter geht, den muss das gesprochene Wort bewegen, damit er die »dialektischen Kämpfe des Glaubens« (FZ 207) vernehmen und damit verstehen kann, wo die eigentliche Herausforderung liegt. Das Leben gelingt mittels einer dialektischen Bewegung. Wiederum wiederholt Johannes de Silentio, dass er selbst den Glauben nicht habe. Ein kluger Kopf habe große Schwierigkeiten, die »Bewegung des Glaubens zu machen« (FZ 208). Die Überwindung dieser Schwierigkeit brächte den klugen Menschen aber nicht weiter »als bis zu dem Punkt, wo der simpelste und einfältigste Mensch leichter hingelangt« (FZ 208). Die These lautet also, dass das Leben desjenigen, der die Schwierigkeiten des Glaubens sieht und überwindet, nicht ›besser‹ ist als das Leben desjenigen, der glaubt, ohne diese gesehen zu haben. Die Schwierig­ keit, nicht glauben zu können, sei kein »Wert« (FZ 208), in dem Sinne, dass ihre Überwindung das Leben besser mache. Darauf folgt eine Auseinandersetzung Kierkegaards mit der Systemphilosophie seiner Zeit: »Es soll schwierig sein, Hegel zu ver­ stehen, aber Abraham zu verstehen, sei ein leichtes Ding« (FZ 208). Damit schließt er an die bereits in der Vorrede formulierte Kritik an, dass in der akademischen Philosophie »jeder Privatdozent« (FZ 181)

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der Auffassung sei, über den Glauben zur Hegelschen Philosophie hinausgegangen zu sein. Dagegen formuliert er die These: Ich für meinen Teil habe etliche Zeit darauf verwendet, die Hegelsche Philosophie zu verstehen, glaube, sie auch einigermaßen verstanden zu haben [...] Wenn ich mich indessen daranmachen soll, über Abraham nachzudenken, dann bin ich wie vernichtet. Jeden Augenblick bewahre ich das ungeheure Paradoxon, das der Inhalt von Abrahams Leben dar­ stellt, jeden Augenblick werde ich zurückgestoßen und mein Gedanke vermag trotz aller Leidenschaft nicht, in es einzudringen (FZ 208). Deshalb meine ich jedoch keineswegs, der Glaube sei etwas Geringes, sondern ganz im Gegenteil, er sei das Höchste, sowie es sei unredlich von der Philosophie, stattdessen etwas anderes zu geben und den Glauben gering zu schätzen. Die Philosophie kann und soll nicht den Glauben geben, sondern sie soll sich selbst verstehen und wissen, was sie bietet, und den Menschen nichts nehmen und am allerwenigsten ein Etwas abschwindeln, als ob es ein Nichts sei (FZ 209).

Die Systemphilosophie sei also prinzipiell verstehbar, der Glaube, verkörpert durch das Leben Abrahams, dagegen von Grund auf paradox. Der Glaube sei jedoch höher als die Systemphilosophie, die Frage nach dem gelingenden Leben als bestmöglichem Leben damit eine Frage des Glaubens. Die Philosophie solle sich auf ihren Gegenstandsbereich besinnen und dem Menschen nicht den Glauben abschwindeln, als ob er nichts sei. Kierkegaard vertritt damit an dieser Stelle die These der prinzipiellen Höherwertigkeit und der Relevanz der Theologie gegenüber der Systemphilosophie seiner Zeit in Bezug auf die Frage nach dem gelingenden Leben des Einzelnen (vgl. FZ 208). Die Frage nach dem gelingenden Leben sei eine Frage des Glaubens und nicht des Denkens. Die philosophische Frage lautet natürlich, woher der Autor die­ ser Schrift das ›weiß‹, und impliziert mit dieser Frage wiederum den Vorrang der Philosophie. Die Alternative scheint der Abbruch der Erörterung zu sein. Als Interpretationsfrage bliebe dann, ob der Philosoph Kierkegaard in diese These flieht, oder ob er sie als zentrale Hintergrundannahme immer schon vertritt. Es stellt sich zudem die Frage, ob nicht eine andere Art von Philosophie als die Systemphilosophie nach Hegelschem Vorbild die Frage nach dem gelingenden Leben zum Gegenstand haben könnte. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Kierkegaard es kritisiert, die Schwierigkeit darin zu sehen, »über Hegel hinauszugehen« (FZ 208), selbst aber mit seinem Gesamtwerk sicher durchaus den Anspruch verfolgt, eine

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nach-hegelianische Position zu formulieren. Die Gegenthese lautete wiederum, dass diese nach-hegelianische Position theologisch ist. Dazu kommt die Komplexität, dass diese Position von Johannes de Silentio dargestellt wird, der sie als die höchste darstellt, aber selbst in diesem Sinne nicht gläubig ist: Ich vermag die Bewegung des Glaubens nicht zu machen, ich kann nicht die Augen schließen und mich vertrauensvoll in das Absurde stürzen, aber ich rühme mich dessen nicht. Ich bin davon überzeugt, dass Gott Liebe ist; [...] Aber ich glaube nicht; an diesem Mut fehlt es mir. [...] ich bin froh und zufrieden, aber meine Freude ist nicht die des Glaubens und ist doch im Vergleich zu dieser unglücklich« (FZ 209 f.).

Kierkegaard grenzt seine Konzeption des Glauben von der Überzeu­ gung ab, »dass Gott Liebe ist«, die man gemeinhin durchaus als Ausdruck des Glaubens verstehen könnte. Die Bewegung des Glau­ bens ist dagegen der Sturz in das ›Absurde‹ – dieser Begriff kommt an dieser Stelle zum ersten Mal vor und bezeichnet das nichtverstehbare Paradoxon, das im Folgenden noch genauer erläutert werden wird. Damit einhergehend unterscheidet er auch ein Glücklich- und Zufrie­ den-Sein von einem Begriff des eigentlichen Glücks, an welchem gemessen dieses unglücklich sei. Die den Gläubigen und wahrhaft glücklichen Menschen kennzeichnende Charaktereigenschaft ist Mut. Glaube ist der Mut, sich in das Absurde zu stürzen. »Ob wirklich ein jeder meiner Zeitgenossen dazu imstande ist, die Bewegung des Glaubens zu machen« (FZ 210)? Die Frage wirkt auf Grund der dar­ gestellten Schwierigkeit des Glaubens rhetorisch. Genau genommen ist sie aber unmöglich sicher zu beantworte, da, wie Kierkegaard noch erläutern wird, diese Konzeption des Gelingens von Außen nicht sichtbar ist. Der pseudonyme Autor Johannes de Silentio glaubt nicht. Auf dem Berg Morija hätte er zu sich gesagt, dass alles verloren sei. Dies sei der Vollzug der »unendlichen Bewegung« (FZ 211). Gott sei für ihn Liebe, aber er habe damit keine gemeinsame Sprache mit Gott »in der Zeitlichkeit« (FZ 211). Festzuhalten bleibt, dass die Systemphilosophie durchaus ver­ stehbar ist, der Glaube jedoch durch ein philologisches Verständnis verfehlt wird. Abraham zu verstehen, bedeute selbst existentiell betroffen zu sein.

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1.2.2 Annäherung an das Absurde und die Doppelbewegung Gegenstand des zweiten Abschnitts ist die erstmalige Bestimmung des Absurden im Werk. Im Gegensatz zu de Silentio glaubt Abraham. Dies wird mit dem für das Werk zentralen Begriff des Absurden wie folgt erläutert: Er glaubte kraft des Absurden353; denn von menschlicher Berechnung konnte da nicht die Rede sein, und es war ja das Absurde, dass Gott, der dies von ihm forderte, im nächsten Augenblick die Forderung widerru­ fen sollte. […] Er glaubte nicht, dass er einmal drüben selig werden sollte, sondern dass er hier in der Welt glückselig werden sollte. Gott konnte ihm einen neuen Isaak schenken, den Geopferten ins Leben zurückrufen. Er glaubte kraft des Absurden; denn alle menschliche Berechnung hatte ja längst aufgehört (FZ 212).

Der Text definiert an dieser Stelle den Begriff des Absurden354 als: ›dass Gott im nächsten seine Forderung widerrufen sollte‹. Abraham glaubt »noch in dem Augenblick, als das Messer blinkte« (FZ 212). Er rechnet nicht damit, dass er Isaak zurückbekommen wird. Er glaubt und ist daher »überrascht« (FZ 212), als dies tatsächlich eintritt. Das gelingende Leben des Glaubens ist jenseits menschlicher Berechnung. Abraham ist »durch eine Doppelbewegung zu seinem ersten Zustand zurückgelangt« (FZ 212, Hervorhebung JA).355 Vorher hatte er einen Sohn und nachher hatte er einen Sohn. In der Metaphorik des Sturzes in das Absurde (vgl. FZ 209) muss man aktiv nichts tun. Es bedarf Mut und von da an eines sich Fallen-Lassens. Es ist nicht die Kraft des Menschen, sondern die Kraft des Absurden. Es ist ein Akt des Vertrauens.356 Wesentlich ist zudem, dass diese Konzeption das Gelingen des Lebens nicht ins Jenseits verschiebt. Es soll in der Zeit gelingen.

»i Kraft af det Absurde« (SKS 4, 131). Zum Begriff des Absurden in Furcht und Zittern als negativ bestimmtes Konzept vgl. Turchin (2013) 5 ff. 355 Gegen den Gerichtsrat Wilhelm im zweiten Teil von Entweder-Oder will Furcht und Zittern zeigen, dass der Mensch das Wiederergreifen oder die Wiederholung der Zeitlichkeit als zweiten Teil der Doppelbewegung nicht aus eigener Kraft leisten kann (vgl. Theunissen / Greve (1979) 28). 356 Der von Wendel als Lösung vorgeschlagene vernünftig verantwortete Glaube (vgl. Wendel (2011) 170) ist für Kierkegaard bereits in Furcht und Zittern keine Option mehr. 353

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Kierkegaard abstrahiert die Doppelbewegung wie folgt: »[...] seinen Verstand verlieren können und damit jene ganze Endlichkeit, deren Wechselmakler er ist, und dann kraft des Absurden jene gleiche Endlichkeit zu gewinnen [...] [ist] das einzigste Wunder« (FZ 212). Das Leben gelingt nicht in der Endlichkeit kraft Verstand und Berech­ nung, sondern es gelingt jenseits von Verstand und Berechnung, in deren Aufgabe und der Rückgewinnung der Endlichkeit im Vertrauen auf Gott kraft des Absurden, was Verstand und Berechnung zuwider läuft. In diesem Sinne sei der Glaube dialektisch (vgl. FZ 213). Der Beweis in der Erzählung Abrahams sei, dass Abraham sich »sich freute, Isaak zu empfangen« (FZ 213). Der für Kierkegaard entschei­ dende Punkt ist, dass Abraham sich nicht erst innerlich sammeln musste. Er hat nicht damit gerechnet, dass er Isaak zurückbekom­ men wird, aber er hat es wirklich geglaubt. Johannes de Silentio selbst könne »den großen Trampolinsprung machen, womit [er] in die Unendlichkeit übergehe« (FZ 213, Hervorhebung JA), aber das nächste vermöge er nicht. Im Folgenden führt Kierkegaard zum ersten Mal den Begriff des Stadiums der »unendlichen Resignation« (FZ 213) ein357, welches durch Abraham im Glauben überwunden wird. Die bisher implizite These, Abraham sei nicht verstehbar, wird dabei zum ersten Mal expliziert (vgl. FZ 214). Kierkegaard erweitert die Bewegung des Glaubens als Figur des gelingenden Lebens um die Dimension der Dauer. Die Bewegung müsse »ständig« (FZ 214) kraft des Absurden gemacht werden. Das Leben gelingt im Vollzug der Doppelbewegung in jeden Augenblick. Neben der Erneuerung der Kritik an der Philosophie seiner Zeit, die glaubt, weiter zu gehen als der Glaube, räumt der Autor erneut ein, dass er die Bewegung nicht vollziehen könne. Er erläutert dies eindrucksvoll am Bild des Trockenschwimmens (vgl. FZ 214): Wer die Bewegung im Trockenen vollziehen kann, der kann noch nicht schwimmen. Entscheidend ist, welche Bewegung man vollzieht, wenn man wirklich ins Wasser geworfen wird – ob man der Bewegung vertraut oder ob man sich irgendwie über Wasser halten wird, was durchaus funktioniert, aber hinter dem Ideal doch zurückfällt. »Ich mache die Bewegung der Unendlichkeit, während der Glaube die entgegengesetzte tut, nämlich, nachdem er die Bewegung Wesche interpretiert die Resignationsbewegung als das Aufgeben einer sicheren Lebensdeutung (vgl. Wesche (2003) 102) im Sinne seiner Interpretation des gelin­ genden Lebens bei Kierkegaard als Annahme von Unbestimmtheit. 357

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der Unendlichkeit gemacht hat, die der Endlichkeit vollführt« (FZ 215). Lediglich die Bewegung der Unendlichkeit zu vollführen, für die Gott Liebe ist (vgl. FZ 211), ist analog zu dem ›Sich-irgendwie-überWasser-Halten‹. Es ist nicht grundverkehrt, aber das Leben gelingt auf diese Weise in der Zeit nicht. Der zweite Teil der Bewegung ist das Gegenteil dessen, was man sozusagen intuitiv tun würde. Das Leben gelingt nicht in der Theorie, sondern im Vertrauen auf Gott kraft des Absurden, wenn es wirklich darauf ankommt. Hier gibt es auch eine Grenze des Denkens und der Theorie. Trockenschwimmen ist nicht Schwimmen. Schwimmen bedeutet, dass man ertrinken könnte. Aber im Wasser hat man keine Zeit, zu überlegen und die Theorie zu rekapitulieren. Man muss es tun. Der Einzelne muss die Doppelbewegung vollziehen. Das Absurde meint also in Furcht und Zittern in dieser ersten Annäherung an den Begriff, ›dass bei Gott alle Dinge möglich sind‹. Das Leben gelingt im Vollzug einer Doppelbewegung in jedem Augenblick. Mit dem Begriff ›Sprung‹ bezeichnet de Silentio den Vollzug lediglich des ersten Teils der Doppelbewegung.

1.2.3 Erläuterung der Doppelbewegung Im dritten Schritt analysiert das Kapitel die Erläuterung der Figur der Doppelbewegung im ersten Problematakapitel anhand von Beispielen und Metaphern. Die »Ritter der unendlichen Resignation« (FZ 215), die nur die erste Bewegung vollziehen, erkenne man leicht. Ihr Gang sei schwe­ bend. Das wahrhaft gelingende Leben des »Ritters des Glaubens« (FZ 215) sei dagegen nicht leicht zu erkennen, da es von Außen dem misslingenden Leben ähnele. Eine Gestalt des misslingenden Lebens, die sowohl dem nicht grundverkehrten Leben der unendlichen Resi­ gnation als auch dem gelingenden Leben entgegengesetzt wird, bringt Kierkegaard hier auf den für seine Konzeption des misslingenden Lebens zentralen Begriff der »Spießbürgerlichkeit« (FZ 215). Die These ist also, dass gerade das vollends gelingende Leben von Außen betrachtet dem misslingenden Leben zum Verwechseln ähnlich ist. Man sieht es jemandem nicht an: »Ich gestehe aufrichtig, dass ich in meiner Praxis kein sicheres zweites Exemplar gefunden habe, ohne dass ich deshalb leugnen möchte, dass vielleicht jeder zweite Mensch ein solches Exemplar sei« (FZ 215). Aus dem Gesagten folgt, dass nicht sicher gesagt werden kann, wie viele Menschen

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ein gelingendes Leben leben. Es könnte niemand sein oder jeder zweite. Die Frage, ob ein Leben gelingt oder nicht, kann nur in der Innenperspektive, in der ersten Person Singular, beantwortet werden und ist für andere Menschen unzugänglich. Daraus folgt weiterhin, dass es unter den Menschen kein sicheres Vorbild geben kann. Dieses kann man nicht finden, aber man kann es sich denken (vgl. FZ 216). Während die Doppelbewegung vollzogen werden muss und nicht in seiner Wirklichkeit gedacht werden kann, kann der Vollzug der Doppelbewegung durch einen anderen Menschen nicht sicher wahrgenommen oder gewusst, aber gedacht werden. »[...] Der sieht ja aus wie ein Steuereinnehmer.« (FZ 216) – Man sieht es ihm nicht an.358 Der Ritter des Glaubens »gehört ganz der Welt an« (FZ 216), er geht seinem Beruf nach, ist pünktlich, geht sonntags in die Kirche, freut sich über die neuen Omnibusse und geht abends nach Hause, wo seine Frau für ihn bereits gekocht hat. Kein Blick und keine Geste verraten ihn. Er ist weder ein Dichter noch ein Genie, nicht von der ›Menge‹ zu unterscheiden (vgl. FZ 216 f.). Er zeichnet sich durch »Daseinsruhe« und »Sorglosigkeit« (FZ 218) aus. »[...] Und doch kauft er in jedem Augenblick, den er lebt, die passende Zeit zum teuersten Preis; denn er tut nicht das geringste außer359 Kraft des Absurden« (FZ 218). In seiner Daseinsruhe wirkt der gläubige Mensch wie ein »Taugenichts« (FZ 217), er beobachtet die Welt. Der Ritter des Glaubens hat Zeit. Aber dieses Erleben von Gegenwart ist, wie Kierkegaard sagt, teuer erkauft. In jedem Augenblick macht er die Bewegung der unendlichen Resignation und die Bewegung des Glau­ bens.360 »Er hat auf alles unendlich resigniert, und dann hat er alles wiederum kraft des Absurden ergriffen« (FZ 218). Die menschliche Existenz kennzeichnet eine »tiefe Wehmut« (FZ 218). Der Ritter des Glaubens kennt diese, »entleert« (FZ 218) sie in der Bewegung der unendlichen Resignation, kennt dabei die »Seligkeit der Unendlichkeit« (FZ 218), gewinnt aber durch die Doppelbewegung die Endlichkeit zurück. Kierkegaard erläutert die Doppelbewegung metaphorisch mit dem Sprung eines Tänzers in eine Stellung: »Die Menge der Menschen lebt in Trauer und Freude verloren« (FZ 219). Sie leben in der Unmittelbarkeit dahin und tanzen Vgl. dazu Thurnher (2003) 132 f. »uden« (SKS 4, 135), D: ohne. 360 Wendels Interpretation eines rettenden Sprungs in den Glauben bei Kierkegaard (vgl. Wendel 2011 165) ist eine gängige Fehlinterpretation. 358

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nicht, wobei Tanz hier die Metapher für Lebendigkeit ist. Eigentlich leben diese Menschen nicht. Der Ritter der unendlichen Resignation dagegen vollzieht einen Teil der Doppelbewegung. Er springt wie ein Tänzer361 in eine Stellung – aber er schwankt einen Augenblick, und in diesem Augenblick erkennt man ihn. Er ist doch ein »Fremder in der Welt« (FZ 219). Der Ritter des Glaubens dagegen, so Kierkegaard hier, kann so herabfallen, dass es so aussieht, als ob er in der gleichen Sekunde stände und ginge. Er kann »den Sprung im Leben in Gang [...] verwandeln« (FZ 219). Dieser Metaphorik liegt ein Bewegungs­ paradoxon zu Grunde. Bewegung und Übergang von Bewegung zu Ruhe werden in der modernen Physik mit ihrem chronologischen Zeitbegriff als Grenzwertproblem aufgefasst. Für Kierkegaard, der die wahre Gegenwart nicht als Jetztpunkt, sondern als »Augenblick« (FZ 219) auffasst, und von dort her den chronologischen Zeitbegriff kritisiert, stellt sich diese Problemlage anders dar. Im Augenblick ist Veränderung möglich. Das theoretische Paradox wird dabei nicht aufgelöst, der Übergang als Sprung gedacht. Kierkegaard beschreibt in gewisser Weise drei Stadien: Im Sta­ dium der unreflektierten Masse lebt der Mensch in der Welt dahin und bewegt sich im eigentlichen Sinne nicht. Es sind die »Sitzengebliebe­ nen« (FZ 219), die Spießbürger, die, die nicht nur so aussehen, als hätten sie ihre Seele an die italienische Buchhaltung verloren (vgl. FZ 216), sondern sie wirklich verloren haben. Im zweiten Stadium flüch­ tet sich der Mensch zu Gott und hofft auf das Jenseits. Er vollzieht die Bewegung der unendlichen Resignation. Das ist nicht grundverkehrt, aber der Mensch ist von dort an ein Fremder in der Welt. Es ist die richtige Bewegung, aber ihr zweiter Teil, die Gegenbewegung fehlt. Daher ist es vom Endpunkt her betrachtet doch eine Bewegung, die in die Verkehrung führt. Der Ritter des Glaubens vollzieht auch den zweiten Teil der Doppelbewegung. Ihm gelingt Bewegung im Leben. Er kann den Sprung in Gang verwandeln. Es sieht so aus, als bewegt er sich wie alle anderen Menschen in der Welt, dabei ist nur er es, der sich im eigentlichen Sinne bewegen kann. Ihm gelingt der Umgang mit dem Paradox. Kraft des Absurden kann er in der Welt leben. Seine Bewegung sieht von Außen derjenigen der dahinlebenden Masse ähnlich, ist aber von innen grundverschieden. Diesen drei Stadien von Naivität, Resignation und Glaube entsprechen drei verschiedene 361 Zur Perspektivenerweitung durch die leibliche Metaphorik des Tänzers vgl. Jech (2019) 57.

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Zeitkonzeptionen. Die Masse lebt in der (chronologischen) Zeit, der Ritter der unendlichen Resignation flüchtet sich in eine Vorstellung von Ewigkeit, der Ritter des Glaubens lebt in der Gegenwart als Ewigkeit in der Zeit. Das Leben, das die Masse vielleicht für das gelingende Leben hält, das Leben der Spießbürger, ist in Wahrheit das misslingende Leben. Das wahrhaft gelingende Leben mag dagegen gewöhnlich aussehen. Aber da es nicht naiv-gewöhnlich, sondern reflektiert-gewöhnlich, geistig, ist, gelingt es nicht unmittelbar, son­ dern muss in jedem Augenblick durch Resignation angesichts der Traurigkeit des Lebens und Rückbewegung des Glaubens kraft des Absurden gewonnen werden – nicht verstehbar und im Vertrauen auf Gott. Der Text erläutert die Figur der Doppelbewegung von unend­ licher Resignation und Glauben im Folgenden am Beispiel eines Jünglings, der sich in eine Prinzessin verliebt, dessen Liebe aber nicht realisierbar ist. Der entscheidende Punkt dabei ist das unter­ schiedliche Verhältnis dieser Stadien zur Wirklichkeit, »denn darum dreht sich alles« (vgl. FZ 219). Zunächst werden die »Knechte des Elends, die Frösche im Sumpf des Lebens« ihm sagen, »die reiche Brauerswitwe sei eine genau so gute und solide Partie« (FZ 220). Man solle sie ungestört im Sumpf quaken lassen (vgl. FZ 220). Kierkegaard handelt hier zunächst die in der Alltäglichkeit und ihrer berechnen­ den Klugheit verhafteten Menschen ab, die in Bezug auf die Frage nach dem gelingenden Leben gar nicht verstanden haben, worum es eigentlich geht. Für sie ist die Prinzessin austauschbar, eine Option mit vielen Äquivalenten. Kierkegaard nutzt eine Tiermetaphorik zur Kennzeichnung des nicht geistigen Lebens. Ihrem Gerede kommt nicht der Begriff der menschlichen Sprache zu. Auf dieser Ebene gibt es keine argumentative Auseinandersetzung mit ihnen als Gruppe. Man solle sie sein lassen, wie sie seien. Der Mensch, in diesem Beispiel der Jüngling, der sich von den Vielen unterscheidet und dessen Leben potenziell gelingen kann, schafft es, seinen Lebensinhalt in einen Wunsch zu fassen. Er hat eine echte Leidenschaft. Klüger wäre es, wie der Text beschreibt, das Risiko durch Streuung zu minimieren (vgl. FZ 221), aber er lebt jenseits dieser Art der Berechnung. Das Leben ist für ihn kein Geschäft. Sein Ziel ist nicht quantifizierbar, nicht substituierbar, sein Leben nicht als Maximierungs- oder Optimierungsaufgabe ›objektiv‹ begreifbar. Seine Prinzessin ist einzigartig. Es geht ihm nicht um das positive Gefühl, seinen Wunsch realisiert zu haben, sondern um die

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Realisierung des Wunsches selbst, jenseits dessen die Wirklichkeit keine »Bedeutung« (FZ 221) für ihn hat. Der Ritter der unendlichen Resignation vergewissere sich nun, dass sie wirklich Inhalt seines Lebens sei, und gehe dann in Gedanken alle möglichen Wege der Verwirklichung durch, worauf er einsehe, dass es in der Tat unmöglich sei (vgl. FZ 220 f.). Darauf mache er die Bewegung der unendlichen Resignation und werde durch diese mit dem Dasein versöhnt, seine Liebe zu jener Prinzessin nehme dabei »religiösen Charakter« (FZ 222) an. Gegen das Gerede, dass für einen Menschen alles möglich sei, stellt Furcht und Zittern hier klar, dass in der endlichen Welt für den Menschen vieles nicht möglich ist. Der Ritter der unendlichen Resignation erkenne dies an, indem er ver­ zichte, seinen Wunsch nach innen wende und dort bewahre (vgl. FZ 222). Er lässt die Wirklichkeit los und es macht ab diesem Augenblick keinen Unterschied mehr, was danach in dieser geschieht. »Er hat das tiefe Geheimnis erfasst, dass man sich auch in der Liebe zu einem anderen Menschen selber genug sein muss. Er nimmt keine endliche Rücksicht mehr darauf, was die Prinzessin tut, und eben dies beweist, dass er die Bewegung unendlich gemacht hat« (FZ 223). Im hypothe­ tischen Fall, in dem die Prinzessin genauso dächte, würde auch sie die Liebe im Inneren bewahren, und wenn der Augenblick käme, in dem sie ihre Liebe ausdrücken könnte, dann könnten sie dort anfangen, wo sie angefangen hätten (vgl. FZ 224). »In der unendlichen Resignation ist Friede und Ruhe; jeder Mensch [...] kann sich dazu erziehen, diese Bewegung zu machen, die in ihrem Schmerz mit dem Dasein ver­ söhnt« (FZ 224). Der Mensch kann Versöhnung finden, indem er verzichtet und seinen ursprünglichen Wunsch im Inneren bewahrt. »In der unendlichen Resignation ist Friede und Ruhe und Trost im Schmerz« (FZ 225). Wer sein Leben dagegen nicht in einem leiden­ schaftlichen Wunsch konzentrieren kann, wer sich in der Fülle von Optionen und Projekt verliert, der »wird [dagegen] niemals Zeit fin­ den« (FZ 221), diese Bewegung zu vollziehen. Er wird nie zur Ruhe kommen, nie Versöhnung erleben. Der Ritter des Glaubens, der die Konzeption gelingenden Lebens in im Werk verkörpert, vollzieht nun dieselbe Bewegung der unend­ lichen Resignation: »[...] er ist versöhnt im Schmerz; aber dann geschieht das Wunder; er macht noch eine Bewegung, erstaunlicher als alles, denn er sagt: ich glaube doch, dass ich sie bekomme, nämlich kraft des Absurden, kraft dessen, dass bei Gott alle Dinge möglich sind« (FZ 226). Das Absurde ist, ›dass für Gott alle Dinge möglich

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sind‹. Der Text grenzt dabei das Absurde von dem lediglich Unerwar­ teten oder Unwahrscheinlichen ab. Dass der Jüngling die Prinzessin doch bekommt, ist nicht unwahrscheinlich, sondern unmöglich. Das ist das »Resultat des Verstandes« (FZ 226). »[…] Das einzige also, das ihn retten kann, ist das Absurde, und er ergreift es durch den Glauben. Er erkennt also die Unmöglichkeit, und im gleichen Augenblick glaubt er das Absurde« (FZ 226). In der unendlichen Resignation versteht der Jüngling, dass es unmöglich ist. Der einzige Weg, die Prinzessin zu bekommen, liegt darin, dass für Gott alles möglich ist.362 Das ist dies das Absurde und er ergreift es durch den Glauben. Er glaubt das Absurde. Diese Fassung ist vom Wortlaut her nicht mit der ersten Fassung »Abraham glaubt kraft des Absurden« (FZ 212) identisch. Der Text will darauf hinaus, dass man glaubt ›dass bei Gott alles möglich ist‹, Kraft dessen, ›dass bei Gott alles möglich ist‹. Der Glaube ist das »Paradoxon des Daseins« (FZ 227). Der Text grenzt von der naiven Gewissheit ab, dass ein Wunsch trotz aller Schwierigkeiten erfüllt werden werde. Diese Art der Gewissheit traue sich nicht, »im Schmerz der Resignation der Unmöglichkeit in die Augen zu schauen« (FZ 227). Für den pseudonymen Autor Johannes de Silentio ist die Bewe­ gung der unendlichen Resignation als rein philosophische Bewegung der Einsicht der Unmöglichkeit und des Verzichts einsehbar, die Bewegung des Glaubens als »jetzt kraft des Absurden alles zu bekom­ men« (FZ 227) jedoch nicht. Sein Gehirn drehe sich in seinem Kopf und sein Versuch, die zweite Bewegung zu vollziehen, ist begleitet von Bewunderung und ungeheurer Angst zugleich (vgl. FZ 227). Wenn ihm die Endlichkeit über den Kopf zu wachsen drohe, gewinne er durch diese Bewegung sein ewiges Bewusstsein: »mein ewiges Bewusstsein ist meine Liebe zu Gott« (FZ 228). Der entscheidende Punkt ist, dass der Verzicht auf die Endlichkeit, das sich Hinwenden zu Gott, die Liebe zu Gott und der Gewinn der Ewigkeit in dieser Konzeption genau nicht der Glaube ist, obwohl, wie Kierkegaard schreibt, der Begriff alltagssprachlich häufig derart verwendet werde. Der Glaube sei gerade das Gegenteil des Verzichts und als solcher nicht Teil der 362 Das Beispiel soll verdeutlichen, dass die Synthetisierung nur im Glauben gelingen kann. Das Ethische ist unrealisierbar. Durch den Glauben verliert dazu die eigene Faktizität ihre Unveränderlichkeit (vgl. Theunissen / Greve (1979) 31, 48). Selbst zu versuchen, die Prinzessin zu bekommen, wäre unmöglich, das eigene Leben so unerträglich.

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Philosophie, auch wenn diese ihn in einer Begriffsverwirrung für sich beanspruche, sondern Teil der Theologie (vgl. FZ 228). Zentral für diese Konzeption des gelingenden Lebens ist, wie bereits genannt, der Begriff des Mutes. Hier unterscheidet der Text zwischen dem »rein menschlichen Mut« (FZ 229) der ersten Bewe­ gung und dem »paradoxen und demütigen Mut [...] nun die ganze Zeitlichkeit kraft des Absurden zu ergreifen, und dieser Mut ist der des Glaubens« (FZ 229). Die für die Idee eines gelingenden Lebens entscheidende Dimension sei die der Zeitlichkeit, der Endlichkeit (vgl. FZ 229), die der Mensch gewinne, weil er mutig genug sei, paradoxerweise daran zu glauben, dass für Gott alles möglich ist. »Durch den Glauben bekam Abraham Isaak« (FZ 229). Nicht im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt. Eine zentrale Annahme ist dabei, dass der Mensch das Leben nicht allein, aus eigener Kraft, in der Zeitlichkeit gelingen lassen kann, offenbar weil vieles in der Endlichkeit schlicht und einfach »nicht möglich ist« (FZ 222). Die Kraft des Menschen genügt lediglich für die Bewegung der Resignation um »im Schmerz Frieden und Ruhe zu finden« (FZ 229). Aus eigener Kraft kann der Jüngling die Prinzessin nicht bekommen (vgl. FZ 230). Dies zu wollen wäre ein Akt der Selbstüberforderung. Der Text ändert nun die Metaphorik: Während zuvor der Glaube als ein ›richtiges Schwimmen‹ von der Resignation als ›ein Sich-irgendwie-über-Wasser-Halten‹ unterschieden wurde (vgl. FZ 214), wird er nun als ein »mystisches Schweben« (FZ 230) dem bloßen Schwimmen im Leben gegenübergestellt. »Derart exis­ tieren, dass mein Gegensatz zur Existenz sich in jedem Augenblick als die schönste und verlässlichste Harmonie mit ihr ausdrückt, das vermag ich nicht« (FZ 230). Diese Fassung ist neu: Das Leben gelingt als Gegensatz zum Leben in Harmonie mit ihm. Dabei komme nur dem Ritter des Glaubens der Begriff »Glück« (FZ 230) zu. Nur sein Leben ist im eigentlichen Sinne gelungen. Der Ritter der Resignation dagegen ist ein »Fremder« (FZ 230) in der Welt. Der Ritter des Glaubens sehe »jeden Augenblick das Schwert über dem Haupt der Geliebten schweben« (FZ 231). Er ist sich also der Unmöglichkeit des Gelingens und der Negativität des Lebens vollends bewusst. Jedoch ist er »jeden Augenblick kraft des Absurden froh und glücklich« (FZ 231). Allein der Glaube daran, dass für Gott alles mög­ lich ist, lässt also sein Leben gelingen, und diese Doppelbewegung von Resignation und Glauben muss er in jedem Augenblick vollziehen. Es ist ein Ergreifen des Daseins kraft des Absurden (vgl. FZ 231).

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Das gelingende Leben ist kein Zustand, sondern gerade fortwährende Bewegung, die »Gang« (FZ 219) und Schwebe (vgl. FZ 230) erreicht. Es gelingt nicht unmittelbar in der Endlichkeit, sondern als ihr harmo­ nischer Gegensatz. Der Text benennt nun die einseitige Bewegung der Resignation erstmals als »Flucht« (FZ 230). Es ist ein legitimes Sich-über-Wasser-Halten, das besser ist als ein unreflektiertes Leben. Das unreflektierte misslingende Leben ist dagegen metaphorisch ein Leben in »Sumpf« (FZ 220) und »Schlamm« (FZ 221). Es ist weder ein Schwimmen noch ein Schweben. Ohne festen Grund bleibt man durch die Konsistenz des Untergrunds irgendwie oben, oder aber man versinkt langsam, ohne es unmittelbar zu bemerken. Aufgrund der Ähnlichkeit des Ritters des Glaubens mit dem Spießbürger ist die Frage offen, wie viele Mitmenschen es sind, die glauben. Der Autor selbst könne die letzte paradoxale Bewegung des Glaubens nicht machen (vgl. FZ 232) und sei daher vielleicht der Geringste unter ihnen (vgl. FZ 231). Der Text unterscheidet nochmals den Redner über Abraham, der vorher gut schlafen kann, von demjenigen, den dies schlaflos mache (vgl. FZ 233) – der von der Geschichte selbst existentiell betroffen ist und sie in diesem Sinne versteht. Er betont dabei die Zeit, die Abraham auf dem Weg nach Morija gelitten habe, während er die ganze Zeit geglaubt habe. Man verfehle dies, wenn die Geschichte schnell erzählt sei. Ich beabsichtige nunmehr, der Erzählung von Abraham in Form von Problemata das Dialektische zu entnehmen, das darinnen steckt, um zu erkennen, welches ungeheure Paradoxon der Glaube ist, ein Para­ doxon, das einen Mord zu einer heiligen und gottgewollten Handlung zu machen vermag, ein Paradoxon, das Abraham Isaak wiedergibt, dessen kein Denken sich bemächtigen kann, weil der Glaube eben da anfängt, wo das Denken aufhört (FZ 234 f.).

Die nun folgenden drei Kapitel dienen also der Erkenntnis des Para­ doxons des Glaubens. Die Kernthesen sind damit in diesem Kapitel formuliert. Es gilt festzuhalten: Das Leben gelingt gemäß dieser Konzeption durch den Vollzug einer Doppelbewegung. Der erste Teil der Bewegung liegt in der Verstandeseinsicht, dass der Wunsch nach Gelingen im Sinne der Realisierung des für das eigene Leben wesent­ lichen Ziels in der Endlichkeit nicht realisierbar ist. Der zweite Teil der Bewegung besteht darin, im Angesicht dieses Schmerzes der Einsicht in die Unmöglichkeit des gelingenden Lebens zu glauben, dass es doch gelingen wird, weil für Gott alles möglich ist. Zentrale Bilder

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sind der Gang und das Schweben. Aus eigener Kraft die zahlreichen Unmöglichkeiten der endlichen Welt zu überwinden liegt nicht in der Kraft des Menschen und wäre ein Akt der Selbstüberforderung. Der Vollzug lediglich des ersten Teils der Doppelbewegung, die Flucht aus der Endlichkeit zur Liebe Gottes und zur Ewigkeit, ist nicht das gelin­ gende Leben, wohl aber legitim. Das Leben misslingt, wenn ihm ein leidenschaftliches Ziel fehlt (verkörpert durch Isaak oder die Prinzes­ sin), wenn das Leben als Kalkulation, als quantitativ-ökonomische Aufgabe aufgefasst wird, oder wenn es der Unmöglichkeit des Gelin­ gens in der Endlichkeit auszuweichen versucht oder diese nicht reflek­ tieren kann.

1.3 Problema I: Teleologische Suspension des Ethischen Die Pointe der Wahl der Abraham-Erzählung liegt darin, dass Abra­ ham gemäß quasi jeder Moraltheorie ein Mörder ist, das Religiöse also das Ethische scheinbar aussetzt. Ziel dieses Kapitels ist die Analyse des zweiten Kapitels der Problemata. Der Text beginnt mit einer Klärung des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem, konkretisiert die Figur des Absurden nochmals in einer Interpretation des kontrafaktisch gewendeten Agamemnon-Mythos, und fragt im letzten Schritt nach dem gelingenden Leben desjenigen, der nicht ›das große Los‹ gezogen hat, der nicht Abraham oder Maria ist.

1.3.1 Der Einzelne und das Allgemeine Mit der Bestimmung des Ethischen als das »Allgemeine […], das für jeden gilt« (FZ 237) greift der Text die Tradition der kantischen Moralphilosophie363 auf, die über die Hegelsche Rechtsphilosophie364 (vgl. FZ 238) fortläuft.365 Kierkegaard interpretiert hier offensichtlich eine am Allgemeinen orientierte Moralphilosophie als repressiv, als Vgl. dazu Kant, GMS 62. Vgl. dazu Hegel, GPR 14. 365 In Entweder-Oder verkörpert der Gerichtsrat Wilhelm die Hoffnung auf Versöh­ nung des Einzelnen mit dem Allgemeinen in diesem Sinne, welches nun zum Durch­ gangsstadium wird (vgl. Schwab (2014) 96 f.). Der Gedanke einer »Kongruenz zwi­ schen subjektivem, objektivem und absolutem Geist« (Greve (1990) 266) trägt nicht länger. 363

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ein »sich selbst als der Einzelne im Allgemeinen« (FZ 237) Aufgeben, als Imperativ zur Aufgabe der Individualität. Gegen Hegel mobilisiert Kierkegaard im nächsten Schritt den Begriff des Glaubens. Abraham handelte nicht gemäß dem Ethisch-Allgemeinen, und dennoch werde er gefeiert und nicht als Mörder verwiesen (vgl. FZ 238). Der Glaube ist nämlich jenes Paradox, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine, jedoch wohlgemerkt solchermaßen, dass die Bewe­ gung sich wiederholt, dass er also, nachdem er das Allgemeine gewesen ist, sich jetzt als der Einzelne höher als das Allgemeine isoliert. Falls dies nicht der Glaube ist, so ist Abraham verloren [...] (FZ 238).

Charakteristisch für den Glauben ist wiederum der Begriff des Para­ dox. Der Einzelne ist höher als das Allgemeine, aber nicht unmittelbar, sondern nachdem er das Allgemeine gewesen ist. Das gelingende Leben ist eine Isolationsbewegung dessen, der im Ethisch-Allgemei­ nen gewesen ist. Zum ersten Mal im Werk fällt an dieser Stellen im Kontext der religiösen Konzeption gelingenden Lebens der Begriff der ›Wiederholung‹. Die theoretische Alternative ist der Zusammen­ bruch des Christlichen – dass wir Abraham in letzter Hinsicht einen Mörder nennen müssen. Damit hätte bereits die »griechische Phi­ losophie« bzw. deren »konsequentes« Weiterdenken und nicht die »christliche Welt« (FZ 238) die Idee eines gelingenden Lebens. In einer Nebenbemerkung kritisiert Kierkegaard Phrasen über das Licht der Christlichen Welt und die Finsternis der Heiden, die »sich daraus erklären, dass man nicht weiß, was man sagen soll, sondern bloß, dass man etwas sagen soll« (FZ 238), während man eigentlich gar nicht versteht, was mit Glauben gemeint ist. Was gemeint ist, erläutert Kierkegaard wie folgt: Der Glaube ist eben dieses Paradox, dass der Einzelne als der Einzelne höher ist als das Allgemeine, diesem gegenüber berechtigt ist, nicht subordiniert, sondern übergeordnet, doch wohlgemerkt solchermaßen, dass der Einzelne, nachdem er als der Einzelne dem Allgemeinen unter­ geordnet gewesen ist, jetzt durch das Allgemeine zu dem Einzelnen wird, der ihm als der Einzelne übergeordnet ist; dass der Einzelne als der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt läßt sich nicht mediieren; denn alle Mediation geschieht gerade kraft des Allgemeinen; es ist und bleibt aller Ewigkeit ein Paradoxon, das dem Denken unzugänglich ist (FZ 239).

Das Leben gelingt genau nicht im Verhältnis zum Allgemeinen, im Aufgehen im Allgemeinen, sondern im Verhältnis zum Absoluten –

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im Gottesverhältnis. Das gelingende Leben ist eine Bewegung von Unter- und Überordnung. Für diesen Standpunkt, so der Text, gebe es keine Rechtfertigung. Er sei dem Denken unzugänglich. Um ihn dennoch einsichtig zu machen, benennt er wiederum die Alternative: Wenn dem nicht so sein sollte, dann wäre auch Abraham verloren. Kierkegaard möchte diese Stelle aber explizit nicht als Rechtfertigung oder Argument verstanden wissen. Im darauffolgenden Absatz geht er auf den Einwand ein, dies könne leicht mit einer »Anfechtung« (FZ 239) verwechselt werden. Kierkegaard räumt diese Möglichkeit ein und möchte daher im Folgenden einige Kriterien der Unterscheidung zwischen Paradox und Anfechtung benennen (vgl. FZ 240). Die Erzählung von Abraham, der den Glauben repräsentiere, enthalte eine teleologische Suspension des Ethischen.366 Das Leben Abrahams, also das Leben des Glaubens, sei dabei nicht das Para­ doxeste, das sich denken lasse, sondern so paradox, dass es sich überhaupt nicht denken lasse (vgl. FZ 240). Es gebe »in der ganzen Welt« (FZ 240) keine einzige Analogie. Der christliche Glauben sei einzigartig – »wenn feststeht, dass Abraham den Glauben repräsen­ tiert« (FZ 240). Er handelt kraft des Absurden, denn das ist gerade das Absurde, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine. Dies Paradoxon lässt sich nicht mediieren; denn sobald er damit anfängt, muss er eingestehen, dass er sich in einer Anfechtung befand, und wenn dem so ist, kommt er nie dazu, Isaak zu opfern, oder wenn er Isaak geopfert hätte, müsste er reuig zum Allgemeinen zurückkehren. Kraft des Absurden bekommt er Isaak zurück. Abraham ist deshalb in keinem Augenblick ein tragischer Held, sondern etwas ganz anderes, entweder ein Mörder oder ein Gläubiger (FZ 240).

In diesem Abschnitt fasst Kierkegaard das Absurde als: ›dass das der Einzelne höher ist als das Allgemeine‹ und benutzt nun eindeutig die Begriffe des Absurden und des Paradox synonym.367 Jeder Versuch der Vermittlung des Absurden macht den Glauben unmöglich. Durch Denken und Mediation gelangten wir zum Ethischen als dem Allge­ meinen, und Abraham käme nicht zum Glauben. Es gebe, so der Text, kein Dazwischen, keine Tragik. Der tragische Held sei verstehbar, Abraham nicht – jedoch »in einem gewissen tollen Verstande« (FZ Zur Problematisierung einer telelogischen Suspension des Ethischen bei Kierke­ gaard vgl. Fox-Muraton (2018) 3 ff. 367 Vgl. dazu Greve (1990) 181. 366

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240) zu bewundern. Das Verb ›bewundern‹ ist dabei wörtlich zu nehmen: Das Wunder können wir lediglich bewundern. Das Leben gelingt also jenseits des Allgemeinen, damit aber auch jenseits der Möglichkeit der allgemeinen Rechtfertigung.

1.3.2 Kontrafaktische Agamemnon-Interpretation Der Text betrachtet nun drei Tragische Beispiele – Agamemnon, Jephtah und Brutus – deren Opfer jeweils aus nachvollziehbarem Grund »versteh[bar]« (FZ 241) war. Zur Erläuterung des Absurden und der weiteren Erörterung Frage nach der Berechtigung innerhalb des Ethischen wendet Kierkegaard diese Beispiele nun kontrafaktisch, was hier am Beispiel des Agamemnon-Mythos erläutert werden soll: Hätte hingegen Agamemnon, während ein günstiger Wind die Flotte mit vollen Segeln ihrem Ziel zuführte, jenen Boten ausgeschickt, Iphi­ genia zu holen, damit sie geopfert werde [...] – wer würde sie [Bezug: Agamemnon, Jephtah, Brutus] dann verstanden haben (FZ 242)? Würden hingegen diese drei Männer [...] das kleine Wort hinzufügen: es geschieht ja doch nicht – wer würde sie dann verstehen? Fügten sie aber eine Erklärung hinzu: das glauben wir kraft des Absurden, wer würde sie dann besser verstehen, denn wer würde nicht leicht verstehen, dass es absurd wäre, aber wer würde verstehen, dass man dann glauben könnte (FZ 243)?

Das zentrale Problem ist also genau nicht, dass man versteht, dass etwas absurd ist. Dass ›dass Gott Abraham einen neuen Isaak schen­ ken kann‹ absurd ist, ist verstehbar. Nicht verstehbar ist, dass man das Absurde glauben kann. Es ist damit absurd, das Absurde zu glauben, und man glaubt es kraft des Absurden. Die in dieser Arbeit vertre­ tene These ist, dass es diese zentrale Verwendung des Begriffs des Absurden in Furcht und Zittern ist, die in den vorherigen Fassungen intendiert, doch erst hier präzise formuliert wird. Der Text grenzt nun Abraham von Agamemnon, Jephtah und Brutus ab. Die drei antiken Figuren stehen in Wertkonflikten inner­ halb des Ethisch-Allgemeinen. Es ist nachvollziehbar, warum sie so handeln, wie sie handeln. »Nicht um ein Volk zu erretten, nicht um die Idee eines Staates zu behaupten, tut Abraham solches. Nicht um erzürnte Götter zu versöhnen [...] Abrahams ganzes Handeln steht in keinem Verhältnis zum Allgemeinen, es ist ein rein priva­ tes Unternehmen« (FZ 243). Charakteristisch für die Konzeption

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eines gelingenden Lebens in Furcht und Zittern ist die Kategorie oder Dimension des Privaten. Das gelingende Leben sei etwas »rein persönliches« (FZ 243). Anderen Menschen sei es nicht zugänglich. Abraham rette nicht die Gesellschaft oder die Welt. Und nach inter­ subjektiv-sittlichem Maßstab hätte Abraham anders handeln müssen. Das gelingende Leben ist hier im konkreten Fall moralisch falsch und sozial kontraproduktiv. »Aber warum tut es Abraham denn? Gottes wegen368 und völlig identisch hiermit seiner selbst wegen« (FZ 244). Der Text führt hier die Begriffe ›Gott‹ und ›selbst‹ eng. Was der Mensch um seiner selbst Willen tut ist identisch mit dem, was er um Gottes Willen tut. Dazu hebt er die traditionelle Entgegensetzung von Versuchung und ethischer Pflicht auf. Die Versuchung Abrahams sei das Ethische, also seinen Sohn nicht zu töten, die Pflicht das Religiöse – »Gottes Wille« (FZ 244). Damit besetzt Kierkegaard den seit Kant philoso­ phisch-normativen Schlüsselbegriff für das Gesollte, den Begriff der Pflicht369, mit der Dimension des Religiösen.370 Hier erweist sich die Notwendigkeit einer neuen Kategorie, um Abra­ ham zu verstehen. Ein solches Verhältnis zur Gottheit kennt das Heidentum nicht. Der tragische Held tritt in kein privates Verhältnis zur Gottheit, sondern das Ethische ist das Göttliche, und deshalb lässt sich das Paradoxale darin im Allgemeinen mediieren (FZ 244).

Plötzlich spricht Kierkegaard nun doch explizit davon, Abraham zu verstehen. Dieses Paradox lässt sich dahingehend auflösen, dass es darum geht, die Nichtverstehbarkeit Abrahams zu verstehen, genau genommen die Nichtverstehbarkeit des Glaubens. Dazu benutzt Kier­ kegaard den Begriff Heiden und betont damit die Dichotomie, die qualitative Differenz, zwischen Christentum und den übrigen Reli­ gionen, ohne die seine Untersuchung nicht auszukommen scheint. Das Leben gelingt in einem privaten Verhältnis zu Gott. Dies zeigt sich laut Kierkegaard konkret daran, dass Abraham nicht sprechen kann. »Sobald ich spreche, drücke ich das Allgemeine aus« (FZ 244). Das Leben gelingt genau nicht in der Vergöttlichung, man könnte vielleicht sagen, in der Verabsolutierung des Ethisch-Allgemeinen, sondern im privaten Verhältnis zum Religiösen. Es gibt keinen allge­ »For Guds Skyld« (SKS 4, 153) wörtlich / etymologisch: Schuld. Vgl. dazu Kant, GMS 69. 370 Das normativ Gesollte bei Kierkegaard ist das Religiöse, etwa in Furcht und Zittern (vgl. Adorno, KdÄ 300 f.). 368

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meinen Ausdruck für die Dimension jenseits des Allgemeinen. Das gelingende Leben entzieht sich dem Diskurs. Der Einzelne macht es mit sich selbst und mit Gott aus, was in der Konzeption Kierkegaards auf dasselbe hinausläuft. Die Frage nach dem gelingenden Leben entzieht sich damit auch der Kritik durch die anderen, zumindest der offenen Kritik. Festzuhalten gilt, dass die kontrafaktische Wendung des Aga­ memnon-Mythos der präzisen Fassung des Begriffs des Absurden galt, die Nachvollziehbarkeit des Handelns Agamemnons in der Tragödie der Abgrenzung zu Abrahams Sphäre des Privaten. Dessen Nichtverstehbarkeit ist wiederum verstehbar. Das normativ Gesollte in Furcht und Zittern ist nicht das Ethisch-Allgemeine, sondern das (Ethisch-)Religiöse.

1.3.3 ›Etwas mehr‹ als das Gewöhnliche Zentral für den dritten Schritt ist die Frage nach dem gelingendem Leben desjenigen, der nicht Abraham oder Maria ist. Der Text beginnt mit der Frage, wie Abraham sich vergewissern kann. Was, wenn der Einzelne »danebengegriffen hat […,] die Gott­ heit missverstanden hätte« (FZ 245) – »wenn er sich getäuscht hätte« (FZ 246)! »Wie hat denn Abraham existiert? Er glaubte« (FZ 246). Abraham setzt »sich als Einzelner in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten« (FZ 247). Dabei sei es sowohl paradox, dass er dies niemandem vermitteln könne, als auch, dass er dazu berechtigt sei – »kraft dessen, dass er der Einzelne ist« (FZ 247). Aber wie »vergewis­ sert« (FZ 247) sich Abraham? Der Text führt den Gedankengang von der Idee des misslingenden Lebens her: Es ist recht einfach, das ganze Leben auf die Idee des Staates oder auf die Idee einer Gesellschaft zu nivellieren. Tut man dies, so kann man auch mit Leichtigkeit mediieren; denn dann kommt man gar nicht bis zu jenem Paradoxon, dass der Einzelne als der Einzelne höher ist als das Allgemeine, […] (FZ 247).

Es sei ein Nivellieren des Lebens, es auf die Perspektive eines funktio­ nierendes Gemeinwesen zu reduzieren, in dem der Einzelne aufgehe. So stößt man gar nicht zur eigentlichen Frage nach dem gelingenden Leben vor, der Frage nach dem einzelnen Menschen. In diesem Kontext kritisiert Kierkegaard das Leben der »Dozenten« (FZ 247): Die Dozenten haben es zu ihrem »Geschäft« (FZ 248) gemacht,

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über große Persönlichkeiten zu richten, während sie dies von einer sicheren Stelle aus in einem »wohlorganisierten Staat« tun und die »Erschütterungen des Daseins« (FZ 247) selbst nicht kennen. Der Alltagsmensch, der glaube, ein »gesichertes« (FZ 247) Leben zu leben, kann das gelingende Leben nicht beurteilen. Sein Reden über das Außergewöhnliche ist bloß Gerede. Man könnte meinen, der Ausgang entscheide darüber, ob Abra­ ham berechtigt gewesen sei. Dieser Vermutung hält der Text entge­ gen, dass der Anfang wichtiger sei, dass man, wenn man sein Handeln nach dem Ausgang beurteilte, nie dazu käme anzufangen (vgl. FZ 248). Das »Wunder« (FZ 248) ist kein Argument. Abraham wäre, so impliziert eine rhetorische Frage, nicht weniger berechtigt gewesen, wenn er Isaak wirklich geopfert hätte (vgl. FZ 248). Die Position ist offensichtlich moralisch problematisch, aber genau das ist der entscheidende Punkt. Kierkegaard kritisiert das »ästhetische« (FZ 248) Liebäugeln mit dem Ausfall, die Lektüre dessen, der das Ende der Geschichte schon kennt, und das Entscheidende – Angst, Not, Paradox – dadurch verfehlt (vgl. FZ 248). Der Punkt der Erzählung ist nicht, dass Abraham am Ende seinen Sohn zurückerhielt. Es geht darum, dass er geglaubt hat – dass er sich genau nicht sicher sein konnte. Im nächsten Abschnitt stellt Kierkegaard einen weiteren Aspekt seiner Konzeption des gelingenden Lebens heraus: Man muss nicht das »große Los gezogen [haben]« (FZ 249) und ein großer, geschicht­ lich bedeutender Mensch sein, damit das Leben gelingen kann. Was man tut, nicht was einem zustößt, entscheidet über Gelingen und Misslingen (vgl. FZ 249). Auch in kleinen Verhältnissen kann man »würdig auftreten« (FZ 249), »immer etwas mehr als eine Scheuerfrau sein« (FZ 250). Das Leben gelingt in dieser Fassung der Konzeption genau in diesem ›etwas mehr‹. Man ist nicht lediglich ein Rädchen in einem »wohlorganisierten Staat« (FZ 247). Der Weg zum gelingen­ den Leben führt über oder durch »die Angst und die Not« (FZ 250) etwa Abrahams, durch die »Erschütterungen des Daseins« (FZ 247). Man darf träumen, ein König zu sein (vgl. FZ 249), aber man muss letztlich das eigene Leben leben. Das Leben gelingt im Verhältnis zu diesen großen Persönlichkeit, ohne sich selbst als solche zu verstehen. Die Frage eines jungen Mädchen, warum sie nicht die Jungfrau Maria geworden sei, sei »abstrakt gesehen« (FZ 250) vollkommen berech­ tigt, aber genau nicht konkret. Logisch-abstrakt hätte Gott auch sie auserwählen können. Abstrakt ist »jeder Mensch gleich berechtigt« (FZ 250), konkret sind aber keine zwei Menschen gleich. Abstrakt

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hätte ich ein anderer sein können, aber ich konkret hätte kein anderer sein können. Und das Konkrete sei die Wirklichkeit. Dazu kritisiert der Text diese »gedankenlose« (FZ 251) Perspektive auf Maria, die »die Not, die Angst, das Paradoxon beiseite« (FZ 250) lasse. Ein ›gro­ ßer Mensch‹ wird so leicht zum bloßen Gerede. Maria saß nicht dort und spielt glücklich mit dem Gotteskind. Niemand »konnte sie ver­ stehen« (FZ 251), da die Engel nur zu ihr sprachen und nicht zu den anderen jungen Mädchen in Israel (vgl. FZ 259 f.). Maria war wie Abraham einsam und allein mit ihrer Situation. Das Leben gelingt nicht ohne Not, Qual und Paradox, nicht im Verschont-Werden von diesen, sondern »durch diese« (FZ 251). Genau darin liegt der Vor­ bildcharakter Marias oder Abrahams. Der Weg zum gelingenden Leben ist einsam und unverstanden. Die entscheidende Dimension des Religiösen ist der Selbstbezug: »Weine nicht über mich [Bezug: den Ritter des Glaubens], sondern weine über dich selber« (FZ 251). Es waren keine »schöne Zeiten« (FZ 251) gewesen, in denen »Christus im gelobten Land umwandelte« (FZ 251 f.). Jesus oder die Apostel hätten sich irren können. Das Wesent­ liche des Glaubens sind »die Angst, die Not, das Paradoxon« (FZ 252). In der Zeit vor dem Ausfall war Abraham entweder in jeder Minute ein Mörder, oder wir stehen vor jenem Paradoxon, das höher ist als alle Mediation. Abrahams Geschichte birgt also eine teleologische Suspension des Ethischen. Er ist als der Einzelne höher geworden als das Allgemeine. Dies ist das Paradoxon, das sich nicht mediieren läßt. Ebenso uner­ klärlich ist, wie er hineinkam, als unerklärlich ist, was drinnen aus ihm wird. Verhält es sich nicht so mit Abraham, dann ist er nicht einmal ein tragischer Held, sondern ein Mörder (FZ 252 f.).

Logisch-argumentativ ist es offen, ob Abraham nicht doch ein Mörder ist. Diese Dimension ist nicht begründet und auch nicht begründbar. Es ist möglich, dass Abraham ein Mörder ist. Die entscheidenden Komponenten der Konzeption des gelingenden Lebens sind wesen­ haft »unerklärlich«. Abraham glaubte. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Was »drinnen aus ihm wird«, ist nicht explizierbar. »Wer den schmalen Pfad des Glaubens geht, dem kann niemand raten, niemand kann ihn verstehen. Der Glaube ist ein Wunder, und doch ist kein Mensch davon ausgeschlossen; denn das, worin alles Menschenleben eins wird, ist Leidenschaft, und der Glaube ist eine Leidenschaft« (FZ 253). Metapher für den Lebensweg dieser religiösen Konzeption des gelingenden Lebens ist der ›schmale Pfad‹.

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Er stehe jedem Menschen offen, aber jeder muss ihn allein und von den anderen unverstanden gehen. Obwohl es ›viele‹ Menschen gibt, ist jeder allein. Das gelingende Leben ist intersubjektiv nicht verstehoder vermittelbar. Das Leben des je konkreten ›einfachen‹ Menschen gelingt also in einem immer ›etwas mehr‹ als ein Rädchen in einem Gemeinwesen zu sein.. Er geht genau nicht darin auf. Letztens Endes ist jeder Mensch allein, einsam und unverstanden.

1.4 Problema II: Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott? Ziel des folgenden Abschnitts ist die Analyse des Problema-II-Kapi­ tels aus Furcht und Zittern, das die Frage nach der absoluten Pflicht gegenüber Gott stellt. Die zwei zentralen Aspekte sind hier die Inkommensurabilität von Innen und Außen und die daraus folgende Unmöglichkeit der Vergewisserung, welche jedoch zumindest ein wenig abgemildert werden wird.

1.4.1 Inkommensurabilität Die Erörterung der Leitfrage beginnt mit der These, dass man durch­ aus sagen könne, dass jede ethische Pflicht eine Pflicht gegen Gott sei, da das Ethische als das Allgemeine in gewissem Sinne göttlich sei, dass genau genommen die ethische Pflicht aber ein Verhältnis zum Nächsten und genau nicht zu Gott meine. Gott werde so »zu einem unsichtbaren, schwindenden Punkt« (FZ 255). Falls es sich so verhalte, habe Hegel recht. Es gebe in diesem Fall »in einem Menschenleben nichts Inkommensurables« (FZ 256), man betrachte das Dasein unter der allgemeinen Idee. Der Einzelne wird so in seiner absoluten Einzigartigkeit verfehlt. Gegen diese Auffassung Hegels stellt nun Kierkegaard seine Konzeption des Glaubens: Bei Hegel sei das Äußere höher als das Innere, im Glauben aber, paradoxerweise, das Innere höher als das Äußere (vgl. FZ 256). Während es nach dieser ethischen Auffassung Bestimmung des Lebens, also Idee eines gelin­ genden Lebens sei, Innerlichkeit »in einem Äußeren auszudrücken« (FZ 256), so liege im Glauben das Paradox, »dass es eine Innerlichkeit gibt, die mit dem Äußeren inkommensurabel ist« (FZ 256). Das »Paradoxon des Glaubens« (FZ 256) ist also, dass es eine mit dem

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Äußeren inkommensurable Innerlichkeit gibt. Das ethisch-religiös Gesollte widerspricht dem Ethisch-Allgemeinen.371 »Dem Glauben voran geht eine Bewegung der Unendlichkeit; erst dann tritt, nec opinate [unerwartet], kraft des Absurden der Glaube ein. Dies kann ich wohl verstehen, ohne deshalb zu behaupten, ich hätte den Glauben« (FZ 257). Die Bewegung des Glaubens kraft des Absurden setzt nicht direkt in der Unmittelbarkeit an. Ihr geht der erste Teil der Doppelbewegung voraus. Der Text wiederholt an dieser Stelle die These, der zufolge die Nichtverstehbarkeit des Nichtverstehbaren verstehbar ist. Das Paradoxon des Glaubens ist somit dies, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine, dass der Einzelne [...] sein Verhältnis zum All­ gemeinen durch sein Verhältnis zum Absoluten bestimmt, nicht sein Verhältnis zum Absoluten durch sein Verhältnis zum Allgemeinen. Das Paradoxon kann auch so ausgedrückt werden, dass es eine absolute Pflicht gegen Gott gibt; denn in diesem Pflichtverhältnis verhält sich der Einzelne als Einzelner absolut zum Absoluten (FZ 257).

Die Begriffe Innerlichkeit und Äußerlichkeit bezeichnen also die Sphären des Einzelnen und des Allgemeinen. Der Text wiederholt damit die bereits im Unterkapitel davor formulierte These (vgl. FZ 239). Das Leben gelingt im Gottesverhältnis und ist genau nicht auf die Dimension allgemeiner intersubjektiver Moralität reduzier­ bar. Das Religiöse ist der übergeordnete normative Maßstab. Im Verhältnis zu Gott verhält sich der Mensch als Einzelner, als das, was ihn wesentlich ausmacht. Das scheint der entscheidende Punkt der Konzeption zu sein. Er ist kein allgemeines Subjekt, das einer allgemeinen Regel folgen soll. So ist der Maßstab eines gelingenden Lebens in gewissem Sinne individuell und zugleich absolut. Damit wird das Gesollte relativ, aber nicht »zunichte gemacht« (FZ 257), sondern »paradoxal« (FZ 257) ausgedrückt. Das gelingende Leben kann einem allgemeinen Moralprinzip entgegenstehen – wie im Falle Abrahams, dessen Vorbildcharakter jedoch, wie dargestellt, nicht im Mord, sondern im Glauben liege. Die Idee eines gelingenden Lebens wird paradoxal, absurd gefasst: »Das Paradoxon lässt sich nicht mediieren; denn es beruht gerade darauf, dass der Einzelne nur der Einzelne ist« (FZ 258). Das Paradox, dass der Einzelne höher sei als das Allgemeine, beruhe auf dem Menschenbild der absoluten 371 Ricœur argumentiert hier mit Kierkegaard, Religion sei der Ort des philosophi­ schen Diskurses (vgl. Ricœur (1979) 594).

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Einzigartigkeit jedes Einzelnen als Geschöpf Gottes (vgl. FZ 191). Genau daher fielen auch »Gottes wegen und seiner selbst wegen« (FZ 258) letztlich zusammen. »Das Paradoxon des Glaubens hat das Dazwischenliegende, d.h. das Allgemeine, eingebüßt. Er [der Glaube JA] habe auf der einen Seite den Ausdruck des höchsten Egoismus, auf der anderen Seite den Ausdruck absolutester Ergebenheit, es Gott wegen zu tun« (FZ 259). Wenn der Einzelne sich richtig ver­ steht, fallen Egoismus und das normativ Gesollte zusammen, das intersubjektiv Gesollte fällt jedoch heraus, verliert seinen Charakter der Normativität, wird zur »sogenannten absoluten Pflicht« (FZ 258), die es in Wahrheit nicht ist. Grund der Inkommensurabilität von Innen und Außen, dem Konflikt zwischen dem nur paradoxal formulierbaren Ethisch-Reli­ giösen und Ethisch-Allgemeine ist also die Einzigartigkeit des je Ein­ zelnen.

1.4.2 Vergewisserung Dies hat nun direkte Konsequenzen für die im nächsten Schritt diskutierte Möglichkeit, sich des ethisch-religiös Gesollten zu verge­ wissern, denn damit verliert der Gehalt des gelingenden Lebens seine intersubjektive Kommunizierbarkeit.372 Es sei Illusion zu glauben, man könne von jemandem »im gleichen« (FZ 259) Fall verstanden werden. »In diesen Regionen ist Kompagnieschaft völlig unmöglich. Jede nähere Explikation dessen, was unter Isaak verstanden werden soll, kann der Einzelner immer nur selber geben« (FZ 259). Was die eigene Pflicht im Leben ist, so wie es die Pflicht Abrahams war, Isaak zu opfern, kann man dieser Konzeption zufolge nur selbst entdecken. Der Andere kann mir »nicht helfen« (FZ 259) und ich kann ihm nicht helfen. Kierkegaard spitzt die Problemlage weiter zu: Selbst, wenn es für mich allgemein ausdrückbar wäre, was meine Pflicht sei, was es nicht ist, so könnte ich mich dessen nicht durch andere vergewissern (FZ 259). Der Einzelne muss sich durch sich selbst als Einzelner vergewissern (vgl. FZ 259). Als Konzeption eines gelingenden Lebens mit normativem Anspruch scheint diese Konzeption in ihrer Radikalität kaum überbietbar: Weder Gehalt noch Vergewisserung sind allgemein konkretisierbar, genau weil das 372

Vgl. dazu Greve (1990) 181.

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Konkrete nicht verallgemeinerbar ist. Das Normative beruht allein auf dem Menschenbild. Es ist eine »entsetzliche« (FZ 260) Konzeption. Der Text liefert also ein Bild einer Konzeption eines gelingenden Lebens, das Opfer Isaaks, und jeder Mensch muss für sich selbst ent­ decken, was dieses Bild für ihn bedeute, »was unter Isaak verstanden werden soll« (FZ 259). Diese Formulierung folgt zwei mal unmittelbar aufeinander. Das gelingende Leben ist lediglich metaphorisch und seiner Struktur nach als Doppelbewegung zu fassen. Seine Normativi­ tät gründet auf einem theologischen Menschenbild. Fasst man dieses ›Verstehen‹ (vgl. FZ 259) als entdecken, übertragen oder übersetzen in den je individuellen Kontext, dann spricht in diesem Sinne jeder Mensch seine eigene Sprache. Im folgenden Abschnitt interpretiert Kierkegaard die absolute Pflicht gegenüber Gott, wie sie das Lukasevangelium formuliert: »So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, und auch dazu sein eignes Leben, der kann nicht mein Jünger sein« (FZ 260). Er wehrt sich dabei gegen eine »schmeichelnde Exegese« (FZ 260), die das Entsetzliche abzumildern und auf diesem Weg das Christentum in die Welt zu schmuggeln versuche (vgl. FZ 260 f.). Damit kritisiert Kierkegaard jeden Versuch, seine Konzeption des gelingenden Lebens von der Alltäglichkeit her milder verstehen und so mit der Alltäglichkeit vermitteln zu wollen. Kierkegaard erläu­ tert die Bibelstelle anhand des Abrahams-Opfers, indem er zwischen dem »ethischen Ausdruck für sein tun« (FZ 262) und seiner »wirkli­ chen« Liebe (FZ 262) unterscheidet. ›Hass‹ sei der ethische Ausdruck für den Mord. Aber Abrahams Liebe zu Isaak sei konstitutiv für das Paradox, ihn für seine Liebe zu Gott zu opfern. Hätte Abraham Isaak nicht geliebt, so hätte Gott nicht von ihm verlangt, ihn zu opfern (vgl. FZ 262). Das Paradox ist in dieser Fassung der »paradoxale Gegen­ satz« (FZ 262) zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum eigenen Sohn. Das Paradox ist, dass sich religiöse und ethische Forderung gegenüberstehen, aber dieses Paradox sei von Gott so konstruiert worden. Man könne das Paradox verstehen, sofern man ein Paradox verstehen kann (vgl. FZ 262), was bedeute, dass man verstehen kann, dass es paradox ist. Abraham kann sich, so Kierkegaard, nicht ver­ ständlich machen (vgl. FZ 262). Kierkegaard unterscheidet hier die Begriffe ›wirklich‹ und ›real‹. Wirklich sei Abrahams innere Liebe zu Gott, real sei seine äußere Handlung als Hass. Der äußeren Realität steht also eine innere Wirklichkeit gegenüber. Die Sphäre des gelin­ genden Lebens ist das in diesem Sinne Wirkliche, nicht das Reale.

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Der Autor betont, dass es gegenüber der metaphorisch-parado­ xalen Fassung des Gesollten keine noch einmal höhere allgemeine Fassung gebe, in die man sich retten könne (vgl. FZ 263). Dazu differenziert er zwischen dem Glauben im Sinne seiner Konzeption und der institutionalisierten Kirche, die qualitativ einem Staat gleiche, als Sphäre des Allgemeinen.373 Der »kirchliche Held« (FZ 263) werde von allen verstanden. Die in Furcht und Zittern vertretene Konzeption ist dagegen nicht instutionalisierbar und nicht institutionell im Sinne eines »durch einfache Mediation […] [H]ineinkommen« (FZ 263) vermittelbar. Das gelingende Leben ist nicht ›einfach‹, nicht Ergebnis eines Sozialisationsprozesses, sondern dessen Gegenteil – oder des­ sen Gegenbewegung. Im allgemeinen enthält man sich solcher Ausführungen [...]. Man fürchtet sich davor, die Menschen loszulassen, man fürchtet, das Schlimmste werde geschehen, wenn sich der Einzelne erst einmal darin gefalle, sich als der Einzelne zu gebären. Ferner ist man der Ansicht, als der Einzelne zu existieren, sei das Leichteste von allem, und deshalb sollte man die Leute gerade dazu zwingen, das Allgemeine zu werden. Ich vermag weder jene Furcht noch diese Ansicht zu teilen […] (FZ 263).

Der Text fasst hier den Prozess des Weges zum gelingenden Leben als ›sich als der Einzelne zu gebären‹, als zweite Geburt oder zwei­ ten Anfang in einer grammatisch reflexiven Konstruktion, die vom Menschen selbst ausgeht. Sich gebären ist wegen der Identität von Subjekt und Objekt ein paradoxaler Ausdruck. Dazu wird hier auf eine Verkehrung in der Alltagssprache verwiesen. Man nehme an, es sei leicht, ein Einzelner zu sein – weil man gar nicht weiß, was das bedeutet. Der zentrale Begriff des gelingenden Lebens ist missver­ standen. In Wahrheit ist es entsetzlich, ein Einzelner zu sein. Der Negativbegriff des Entsetzlichen kommt Kierkegaards Konzeption des gelingenden Lebens zu, genau wie »die Not und die Angst« (FZ 262). Mit ihnen kann lediglich im Modus der Selbstvergewisserung umgegangen werden (vgl. FZ 259). Ein Exkurs diskutiert hier das Verhalten zum Anderen als dem »Verirrten« (FZ 263): »[...] aber er soll es [Bezug: dass als der Einzelne zu existieren das Entsetzlichste von allem ist] auch derart sagen, dass 373 Das Allgemeine ist hier nicht positive Vermitteltheit, sondern negatives Zwangs­ system (vgl. Deuser (1980) 27 f.).

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seine Worte einem Verirrten nicht zur Schlinge werden, sondern ihm eher in das Allgemeine hinein verhelfen, wenn gleich seine Worte auch etwas Raum für das Große schaffen« (FZ 263 f.). Es ist ein Plä­ doyer dafür, das Wahre nicht direkt auszusprechen, wenn es den Anderen überfordert, sondern ihm in das Ethisch-Allgemeine hinein zu verhelfen und zugleich Raum zu lassen für dessen Überwindung zum Religiösen. Die Pflicht gegenüber dem Anderen ist also zunächst durch das Ethisch-Allgemeine bestimmt. Darüber hinaus gilt es ihm den Raum zu schaffen, den nächsten Schritt für sich selbst zu entde­ cken.374 In Wahrheit, so Kierkegaard gegenüber dem Zügellosen, sei »unter seiner eigenen Aufsicht in der ganzen Welt allein« (FZ 264) zu leben strenger als unter der Aufsicht anderer zu leben. Seine Kon­ zeption eines gelingenden Lebens ist damit strenger als jedes System sozialer Kontrolle. Der Ritter des Glaubens wisse, dass es »herrlich« (FZ 264) sei, dem Allgemeinen anzugehören, als Einzelner geboren zu werden, aber sich dem Allgemeinen zu »übertragen«375 (FZ 264), dort verstan­ den zu werden und sich zu Hause zu fühlen (vgl. FZ 265). »Aber er weiß zugleich, dass sich höher als dieses ein einsamer Pfad schlän­ gelt, schmal und steil; er weiß, dass es entsetzlich ist, einsam aus dem Allgemeinen herausgeboren zu werden, zu gehen, ohne einem einzigen Wanderer zu begegnen« (FZ 265). Das Leben gelingt im Wissen um die Herrlichkeit des Allgemeinen, in einem Sich-selbstHerausgebären aus diesem in eine höhere Sphäre des ›Ein-EinzelnerSeins‹, die durch gegensätzliche Begriffe gekennzeichnet ist: nicht verstanden zu werden, Unheimlichkeit, Einsamkeit. Der Lebensweg eines gelingenden Lebens ist wertmäßig höher, die Bergmetaphorik entspricht hier dem Normativen, aber einsam. Das gelingende Leben ist »menschlich gesprochen […] wahnsinnig« (FZ 265). Das normativ Gesollte erscheint in der Welt als krank. Der Text bleibt jedoch nicht bei der radikalen Unmöglichkeit der Vergewisserung stehen. Während sich der Gläubige bei niemandem vergewissern kann, so gibt es doch einen Negativtest. Wer glaube, es sei »bequem« (FZ 264), ein Einzelner zu sein, könne sich sicher sein, dass er es nicht sei. Damit wird aber auch im Gegenteil die Erfahrung des Negativen in der hier beschrieben Form zum Maßstab dafür, 374 Zu Kierkegaards Begriff der indirekten Mitteilung als dem Schaffen von Raum vgl. Hühn (2009) 212. 375 »oversætter« (SKS 4, 167) wörtlich: übersetzt.

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dass man, wenn auch nicht die hinreichende Bedingung, zumindest aber die notwendige Bedingung eines gelingenden Lebens bei sich selbst wahrnimmt. Der Verhältnis des Glaubens zum Allgemeinen formuliert Kier­ kegaard im Konjunktiv 2 im Verhältnis zum Schlüsselbegriff der »Aufgabe« (FZ 265): Der Ritter des Glauben könnte sich wünschen, das Leben im Allgemeinen sei seine Aufgabe. Während es hier noch offen ist, ob er das wirklich könnte, ist die Konkretisierung am Beispiel Abrahams klar als Vermutung formuliert: »So könnte sich wohl Abraham ab und zu gewünscht haben, die Aufgabe sei, Isaak zu lieben [...] [oder] Isaak für das Allgemeine zu opfern« (FZ 265). Es ist demnach durchaus denkbar, dass derjenige, dessen Leben gelingt, sich ›ab und zu‹ ein anderes Leben wünscht oder wünscht, dies sei nicht seine Aufgabe. Diesem Wunsch gegenüber steht das Wissen um die Einsamkeit des eigenen Weges sowie darum, »nichts für das Allgemeine auszurichten« (FZ 266): »Er wusste, dass es herrlich ist, das Allgemeine auszudrücken, herrlich, mit Isaak zu leben. Aber das ist nicht seine Aufgabe« (FZ 266). Das gelingende Leben ist hier also ein Leben im Wissen darum, dass ein anderes Leben schöner, positiver wäre. Aber es ist nicht die eigene Aufgabe, dieses Leben zu leben, und man kann noch nicht einmal erklären, warum (vgl. FZ 266). Das gelingende Leben scheine »verrückt« (FZ 266) – es ist aus der Perspektive der ›Welt‹ ver-rückt. Man kommt auf seinem einsamen Weg nur »langsam und krie­ chend« (FZ 267) voran, während »selbst der im meisten geprüfte tragische Held wie in einem Tanz daherschreite im Vergleich zum Ritter des Glaubens« (FZ 267). Der Text vertritt damit die These einer viel gewaltigeren Aufgabe oder Problemdimension eines gelingenden Lebens in der (christlichen) Moderne im Vergleich etwa zu klassischen Antike und damit auch zum Gesollten als dem Ethisch-Allgemeinen. Das gelingende Leben nach dieser Konzeption braucht also Zeit, denn es geht nur sehr langsam vorn. Es ist bemerkenswert, wie Kierkegaard wie auf der Bildebene die Parallele zum hohen Alter Abrahams aufweist (vgl. FZ 266). Es gebe jedoch ein »[Er]ahnen« (FZ 267) des Positiven: Das Positive ist das Gottesverhältnis, ein »zum Vertrauten Gottes« (FZ 267) werden, das Kierkegaard umschreibt als ein Du zu Gott Sagen, »während der tragische Held ihn nur in der dritten Person anredet« (FZ 267). Das Leben gelingt also in einem persönlichen Verhält­ nis zu Gott, und es gibt ein Positives, das der Einzelne, bei aller

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Angst, Verzweiflung und Unmöglichkeit der Vergewisserung doch erahnen kann. Der tragische Held, so das Werk weiter, sei nach dem Vollzug der unendlichen Bewegung sicher im Allgemeinen aufgehoben. Der Ritter des Glaubens dagegen bleibe schlaflos, werde fortwährend geprüft, und könne in jedem Augenblick »reumütig« (FZ 267) zum Allgemeinen zurückkehren. Ob dies richtig oder falsch sei, könne ihm niemand sagen (vgl. FZ 267). Das Schlaflos-gehalten-Werden zeigt, dass in dieser Konzeption des gelingenden Lebens eine Facette des Negativerlebens letztlich unüberwindbar ist. Es besteht permanent die Möglichkeit, den Glauben zu verlieren, ohne die Möglichkeit zur intersubjektiven Vergewisserung. In einer Fußnote erläutert Kierkegaard, dass, während der tragi­ sche Held seinen Wunsch aufgeben müsse, um seine Pflicht zu erfül­ len, beim Ritter des Glaubens Wunsch und Pflicht zusammenfallen, und er beide aufgeben müsse (vgl. FZ 267 f.). Er könnte also nach weltlichem Maßstab glücklich sein, muss es aufgeben, kann aber nie­ mandem erklären, warum, und sich auch selbst bei niemandem ver­ gewissern. Der tragische Held habe Zuflucht beim Allgemeinen, der intersubjektiven Moralität, die ihn letztlich beruhige. Der Ritter des Glaubens habe letztlich nur sich selbst und werde »immerzu in Span­ nung gehalten« (FZ 268). Das gelingende Leben findet keine Ruhe. Es bleibt in einer Grundspannung, in einer letztlichen Ungewissheit, auf der Kippe zum Misslingen. Beide, Agamemnon und Abraham, konzentrierten sich darauf, dass sie ihr Kind lieben. Agamemnon wird dadurch beruhigt, dass sein Opfer »dem Allgemeinen nützt« (FZ 269) – Abraham nicht. »Ob der Einzelne sich nun wirklich in einer Anfech­ tung befindet oder ob er der Ritter des Glaubens ist, das kann nur der Einzelne selbst entscheiden« (FZ 269). Dieser radikalen Konzeption zufolge kann der Einzelne letztlich nur selbst wissen, ob sein Leben gelingt oder nicht. Dennoch, so der Text, lassen sich aber »aus dem Paradoxon heraus einige Kennzeichen konstruieren« (FZ 269), die man verstehen könne. Es gibt also kein Wissen um das gelingende Leben, aber doch Merkmale: »Der wahre Ritter des Glaubens ist immer die absolute Isolation, der unechte ist sektiererisch« (FZ 269). Im misslingenden Leben hat man »ein paar gute Freunde und Kameraden« (FZ 269), man ist also nicht, wie Agamemnon, im Ethisch-Allgemeinen, sondern im Sozial-Allgemei­ nen aufgehoben. Sozial eingebunden und aufgehoben zu sein ist hier

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Merkmal des Falschen. Dagegen erfordert das gelingende Leben das Aushalten und Ertragen von Einsamkeit (vgl. FZ 269). Die Sektierer übertäuben einander durch Geräusch und Lärm, halten die Angst durch ihre Schreie fern, und eine solche spektakelnde Tier­ gartengesellschaft wähnt den Himmel zu erstürmen und wähnt den gleichen Weg zu gehen wie der Ritter des Glaubens, der in der Einsam­ keit des Universums nie eine menschliche Stimme vernimmt, sondern allein mit seiner entsetzlichen Verantwortung wandelt (FZ 270).

Das misslingende Leben zeichnet sich durch eine soziale Gemein­ schaft aus, die die Angst des Lebens übertönt. Man glaubt, sich gegen­ seitig helfen zu können, befindet sich aber in einer grundlegenden Verkehrung. Während man glaubt, das Leben gelinge, misslingt es. Dies wird dadurch problematisch, dass auch der Ritter des Glaubens glaubt, sein Leben gelinge. Letzterer kann sich jedoch auf die Merk­ male Angst und Einsamkeit stützen, wobei stützen wohl zu viel gesagt ist. Es sind Merkmale des richtigen Weges. Die Verantwortung liegt jedoch ganz beim Einzelnen. Es gibt also Menschen, die glauben, dass ihr Leben gelingt, sich aber in einer tiefen Verkehrung befinden und noch nicht einmal eine Ahnung davon haben, wovon sie eigentlich sprechen und worum es eigentlich geht. Dagegen sei es legitim, so Johannes de Silentio, einzugestehen, dass man zu schwach sei, um das Leben des Glaubens zu leben (vgl. FZ 270). Ein weiteres Merkmal, verbunden mit der Einsamkeit, ist das Leiden an der Nichtkommunizierbarkeit. Der Ritter des Glaubens »fühlt den Schmerz, sich für andere nicht verständlich machen zu können« (FZ 270), aber er will sich anderen Menschen nicht aufdrän­ gen. Er strebt nicht danach, von den anderen Menschen bewundert zu werden und sie im Stillen zu verachten (vgl. FZ 271). Er verachtet also die ›Alltagsmenschen‹ nicht – er lässt sie sie selbst sein, lässt sie selbst entdecken. Dabei ist er »Zeuge, niemals Lehrer« (FZ 270 f.). Das gelingende Leben ist nicht direkt vermittelbar. Man kann es in und mit seinem Leben bezeugen. Der andere muss »auf gleiche Weise zum Einzelnen werden« und bedarf dazu »keiner Anleitung« (FZ 270). Das »tiefe Humane« (FZ 271) liegt genau darin, andere nicht belehren zu wollen. Der Andere ist nicht irgendein ein anderer, sondern »ein anderer Einzelner« (FZ 270), der ebenso leidet und nicht kommuni­ zieren kann. Er gehe »den gleichen Weg« (FZ 270), den er aber für sich selbst entdecken muss. Der andere muss und kann den Weg aus der Verkehrung zu sich selbst also nur selbst entdecken. ›Bezeugen‹

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meint, das gelingende Leben selbst zu leben. Der Ritter des Glaubens ist »ernst« (FZ 270). Bemerkenswert ist, dass der Ritter des Glaubens nicht bewundert werden will und dass er den Anderen nicht verachtet, weil er selbst weiß, dass man selbst ein Einzelner werden muss, damit das Leben gelingen kann. Nicht Kritik oder gar Verachtung des Falschen, sondern (stilles) Bezeugen des Wahren ist seine Konsequenz aus seinem – höchst unsicheren – Wissen. Dem Anderen freizulassen, sich selbst zu entdecken, ist zugleich das »Humane« (FZ 271)376, das es zu entdecken gelte. Gehalt des gelingenden Lebens und ›Methode‹ seiner intersubjektiven Vermittlung fallen darin zusammen. Man entdecke sich als Einzelnen – in seinem absoluten Verhältnis zu Gott (vgl. FZ 267) – und lässt den Anderen sich als Einzelnen entdecken. Dem Anderen dagegen zu sagen, was er tun soll, ist inhuman und verfehlt die Sache. Festzuhalten bleibt, dass der Einzelne sich der Richtigkeit seiner Übersetzung des Religiös-Ethischen für sich selbst nicht noch einmal intersubjektiv oder sozial vergewissern kann.377 Es gibt jedoch einen Negativtest und negative Kennzeichen, also auch eine Ahnung des Positiven. Man kann den Anderen als den anderen Einzelnen konse­ quenterweise nicht belehren, sondern ihm lediglich in das Allgemeine verhelfen und Raum schaffen, dass er das eigentlich Gesollte für sich selbst entdeckt. Der Ritter des Glaubens muss das soziale ›Glück‹ aufgeben, ohne sich erklären oder vergewissern zu können. Es wäre herrlich, im Allgemeinen aufzugehen. Es ist entsetzlich, der Einzelne zu sein, der man ethisch-religiös378 ist und sein soll.

1.5 Problema III: Ethische Rechtfertigung des Verschweigens Ziel ist nun abschließend die Analyse des dritten Kapitels der Pro­ blema, das danach fragt, ob Abraham es rechtfertigen konnte, sein Vorhaben gegenüber seiner Familie zu verschweigen. Die Analyse folgt dem Gedankengang in vier Schritten. Zunächst geht er im Unterschied zum anvisierten Ethisch-Religiösen dem Phänomen der Verbogenheit im Ästhetischen und im Ethisch-Allgemeinen nach, 376 377 378

Zum Begriff des Humanen bei Kierkegaard vgl. Hannay (1982) 335. Vgl. dazu H. Schulz (2014) 14. Vgl. Theunissen (1979) 502.

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analysiert zweitens das Dämonische anhand von Triton und Tobias, interpretiert die Verborgenheit Fausts, um abschließend die Abra­ hamserzählung daraufhin zu interpretieren, dass dieser nicht spre­ chen kann.

1.5.1 Verborgenheit im Ästhetischen und Ethisch-Allgemeinen Als das Allgemeine, so die einleitenden Überlegungen, sei das Ethi­ sche das Offenbare. Es sei daher ethische Aufgabe des Einzelnen, sich aus der Verborgenheit zu entwickeln und im Allgemeinen als dem Ethischen offenbar zu werden (vgl. FZ 273). Gibt es keine Verborgenheit, die ihren Grund darin hat, dass der Ein­ zelne höher ist als das Allgemeine, dann lässt sich Abrahams Verhalten nicht rechtfertigen; [...] Gibt es hingegen eine solche Verborgenheit, dann stehen wir bei dem Paradoxon, das sich nicht mediieren lässt, da es gerade darauf beruht, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine [...] (FZ 273).

Das Verhalten Abrahams ist also ethisch-allgemein nicht zu rechtfer­ tigen. Ob es dem normativ Gesollten widerspricht, hängt davon ab, ob das eigentlich normativ Gesollte ethisch-religiös und paradoxal ist. Bei Hegel, so Kierkegaard weiter, gebe es diese berechtigte Verborgen­ heit nicht, aber dann könne Hegel nicht vom Glauben sprechen und Abraham als Glaubensvater annehmen. Der Glaube sei nicht die erste, ästhetische, Unmittelbarkeit, sondern eine spätere (vgl. FZ 273). Zur Erläuterung möchte der Text die Kategorie des »Interessan­ ten« (FZ 274) betrachten. Dass das Leben interessant sei, sei ein »verhängnisvolles Privilegium«, »in der Welt des Geistes nur in tiefem Schmerz erkauft« und »von Gott angewiesen« (FZ 274). Für Innerlichkeit sei jedoch im System, in der Schulphilosophie seiner Zeit, kein Platz (vgl. FZ 274). Das gelingende Leben als Leben des Geistes ist also schmerzvoll, aber »Monographien« (FZ 274) der akademischen Philosophie fassen diese Sphäre nicht. Kierkegaard führt seine Erläuterung des Verborgenen mit einer Ausführung zum Tragischen fort. In der antiken Tragödie liege der Grund für Verborgenheit und Wiedererkennen im Schicksal. Verbor­ genheit sei das Spannende, Wiedererkennen das Entspannende (vgl. FZ 275). Im neueren Drama der »reflektierenden Zeit« (FZ 275 f.) sei dagegen der Held selbstverantwortlich. Verbergung von Nonsens sei im neueren Drama komisch, Verbergung im Verhältnis zur Idee tra­

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gisch (vgl. FZ 276). Gang und Ziel dieser Erläuterungen sollten dabei folgende sein: »Der Weg, den ich zu gehen habe, ist, die Verborgenheit dialektisch durch Ästhetik und Ethik hindurch zu führen; denn es kommt darauf an, dass die ästhetische Verborgenheit und das Para­ doxon sich in ihrer absoluten Verschiedenheit darstellen« (FZ 277). Es geht also darum, das Verhalten Abrahams, der sein Vorhaben für sich behielt, normativ zu legitimieren. Allgemein-Ethisch ist es nicht zu legitimieren – es besteht etwa die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und wenn es ästhetisch-unmittelbar wäre, dann wäre das Ethische diesem gegenüber die höhere Kategorie. Es gilt also, eine normativ gehaltvolle ethisch-religiöse Konzeption der Verborgenheit auszu­ weisen, die uns Abraham, zumindest in seiner Nichtverstehbarkeit, verstehen lässt. Dazu folgen nun Beispiele im Text: Ein Mädchen und ein Jüng­ ling lieben sich heimlich, ohne dass der andere es weiß. Sie sind »füreinander verborgen« (FZ 277). Im Ästhetischen erhalten sie durch einen Zufall Wissen vom jeweils anderen (vgl. FZ 277). In einer Nebenbemerkung führt Kierkegaard dabei die Sphäre des Ästheti­ schen mit einem homogenen Zeitbegriff eng (vgl. FZ 278). Die Ethik dagegen »kann ihnen nicht helfen« (FZ 279). »Sie legt eine ungeheure Verantwortung auf die Schultern des Helden« (FZ 278). Beide haben sich entschieden, mit einem Geheimnis zu leben und müssen die Kon­ sequenzen tragen. Ohne »Ernst« (FZ 278), Kierkegaards religiöser Kernbegriff, könnten sie nicht anfangen, nicht voneinander erfahren. »Die Ästhetik forderte also Verborgenheit und belohnte sie, die Ethik forderte Offenbarung und bestrafte die Verborgenheit« (FZ 279). Wenn das Ästhetische Offenbarung fordert, so gibt es einen Aus­ weg, etwa den alten Diener im Iphigenie-Mythos, der Klytämnestra aufklärt (vgl. FZ 279). »Die Ethik hingegen hat keinen Zufall und keinen alten Diener bei der Hand« (FZ 279). Sie liebe den tragischen Helden, der das Allgemeine ausdrücke, der sich keiner Argumentation entziehe (vgl. FZ 280). Wenn also die Ästhetik Offenbarung fordere, behelfe sie sich mit Zufall, die Ethik finde im tragischen Helden ihre Befriedigung (vgl. FZ 280). Agamemnon sage Iphigenie selbst die Wahrheit (vgl. FZ 279). Dagegen sei die paradoxale Sphäre jenseits des Ethischen gekennzeichnet durch Schweigen und Innerlichkeit (vgl. FZ 281). Hier sei sowohl das Dämonische als auch das Göttliche verortet: »[...] Denn Schweigen ist beides. Schweigen ist Betörung durch den Dämon; und je mehr geschwiegen wird, um so entsetzlicher ist der

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Dämon; aber Schweigen ist auch das Einverständnis der Gottheit mit dem Einzelnen« (FZ 281). Die höchsten Formen misslingenden und gelingenden Lebens spielen sozusagen in derselben Liga, entscheiden sich in der Sphäre des Einzelnen jenseits des Ethisch-Allgemeinen und jenseits der Sprache, in einem Verhältnis des Einzelnen jenseits intersubjektiver Maßstäbe. Bevor er zu Abraham kommt, möchte Kierkegaard zunächst andere Individuen betrachten und, wie er sagt, »die Disziplin der Ver­ zweiflung über ihnen schwingenn« (FZ 281), so dass sie in ihrer Angst etwas gewahr werden (vgl. FZ 281). Damit rückt er die Begriffe Angst und Verzweiflung in diese Sphäre, wo über Gelingen und Misslingen des Einzelnen im Sinne der Konzeption des Werks entschieden wird. Er betrachtet einen Bräutigam aus Aristoteles’ Politik, der nicht hei­ raten will, weil ihm das Orakel Unglück voraussagt. Kierkegaard ver­ kürzt die Geschichte auf dieses Szenario (vgl. FZ 282). Die Braut ging davon aus, »dass er ihr mehr als je gehörte«, »schlug jungfräulich die Augen nieder« (FZ 283), blickte ihn nicht an, als er an ihr vorbeiging und sah seinen Gesichtsausdruck nicht. Er ging an der Tür zum Tempel vorüber (vgl. FZ 283). Kierkegaard spielt nun die Handlungsoptionen des Bräutigams durch: »Was sollte er nun tun« (FZ 284)? Wenn er schweigt, heiratet und hofft, das Unglück treffe ihn nicht, dann ist er im Unglücksfall für das Unglück beider verantwortlich, da die Frau ihn auch nicht geheiratet hätte, wenn sie es gewusst hätte (vgl. FZ 284 f.). Falls er schweigt und nicht heiratet, kränkt er das Mädchen, was, so Kierkegaard, ästhetisch vielleicht zu billigen wäre (vgl. FZ 285). Falls er spricht, »wird das Ganze zu einer unglücklichen Liebesgeschichte« (FZ 285). In einer Fußnote schließt Kierkegaard die Option einer romantischen Verbindung aus. Die Ethik fordert nun, dass er spricht, mit dem Mut des tragischen Helden (vgl. FZ 286). »Aber wozu nun diese Skizze [?]« (FZ 286). Ziel dieser in den Kontext des antiken Griechenlands eingebetteten Geschichte ist die Erläuterung des Para­ dox im Unterschied zu diesem Szenario. Entscheidend, so der Text, sei das Verhältnis des Protagonisten zum Orakelspruch, als öffentli­ ches oder privates: [...] ein Spruch der Auguren ist für alle verständlich, ich meine nicht bloß, dass der Einzelne lexikalisch den Inhalt verstehen kann, sondern der Einzelne kann verstehen, dass ein Augur dem Einzelnen den Beschluss des Himmels verkündigt. Der Spruch des Auguren ist somit nicht nur für den Helden verständlich, sondern für alle, und aus ihm resultiert kein privates Verhältnis zur Gottheit (FZ 287).

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Der Text betont hier explizit ein nicht-lexikalisches Verstehen, son­ dern ein Verstehen eines ›dass‹. Im Horizont des antiken Griechen­ lands ist der Satz ›Das Orakel hat zu mir gesprochen‹ intersubjektiv zugänglich. Daher kann der Bräutigam »sich verständlich machen« (FZ 287) und daher kann er die Wahrheit sagen. Falls hingegen der Wille des Himmels nicht durch einen Augur verkün­ digt worden wäre, falls er ganz privat zu seiner Erkenntnis gelangt wäre, falls er in ein ganz privates Verhältnis zu ihm getreten wäre, dann stehen wir beim Paradoxon, falls es dies überhaupt gibt [denn meine Erwägung ist dilemmatisch], dann könnte er nicht sprechen, und wenn er es noch so gern möchte. Er würde dann nicht im Schweigen genießen, sondern er würde Schmerz leiden; aber dieser wäre für ihn gerade die Gewähr dafür, berechtigt zu sein (FZ 287).

Entscheidend ist also der Zugang zum göttlichen Willen. Wenn es die Institution des Orakels nicht gibt, dann ist dieser nicht mehr nachvollziehbar und damit der Gehalt nicht mehr kommunizierbar. ›Gott hat zu mir gesprochen‹ ist in diesem Sinne nicht verstehbar. Bemerkenswerterweise soll nun nach Kierkegaard genau das Negativ­ erleben der Nichtkommunizierbarkeit als Schmerz an diesem Punkt Sicherheit hinsichtlich des göttlichen Willens geben. Das Leiden zeigt, dass man auf dem richtigen Weg ist. Es zeigt das gelingende Leben an. Ethisch-intersubjektiv ist das natürlich problematisch, man denke etwa an den sich von Gott berufen fühlenden Selbstmordattentäter, aber genau diese Problematik ist hier der Punkt. Dazu betont der Autor noch einmal die Möglichkeit, dass es das Paradox gar nicht gibt – dann wäre Abraham nicht Vorbild, sondern Mörder. Im Falle des Schweigens im antiken Kontext würde sich der Einzelne über das Allgemeine stellen wollen (vgl. FZ 287). Im Fall des Paradoxes ist sein Grund nicht der Wille des Einzelnen, sondern das passive Gesetztsein in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten. Dadurch steht der Einzelne als Einzelner höher als das Allgemeine, was das Paradox ist. Das Gesetztsein des Einzelnen in ein Gottesver­ hältnis ist die entscheidende Prämisse der Konzeption. Er will nicht schweigen, aber er kann nicht kommunizieren, weil er in den entschei­ denden Fragen, in der Frage nach dem gelingenden Leben, allein und ein Einzelner ist. Das Gottesverhältnis, das das Leben gelingen lässt, ist sowohl der institutionellen als auch der intersubjektiven Sphäre entzogen. Die »Ruhe« (FZ 288), die er darin finden könne, beruht augenscheinlich auf der über den Schmerz vermittelten Sicherheit. Nur das Religiöse könne das Ästhetische im Kampf mit dem Ethischen

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retten (vgl. FZ 288). Das gelingende Leben ist nicht das ethische. Es ist der Durchgang vom Ästhetischen zum Religiösen – »Kraft der Dialektik« (FZ 281) – der sich etwas vom Ästhetischen gegen das Ethische bewahrt. Es gilt hier festzuhalten, dass das Ethisch-Allgemeine fordert, die Wahrheit zu sagen. In der Komödie hilft der Zufall, die Tragödie for­ dert den Mut des Protagonisten. Gegenüber dem für alle verständli­ chen Orakelspruch entscheidet in der Moderne die paradoxale Sphäre jenseits des Ethisch-Allgemeinen über Misslingen und Gelingen, über das Dämonische und das Ethisch–Religiöse. Hier bietet lediglich die Erfahrung des Negativen die Möglichkeit zur Selbstvergewisse­ rung.

1.5.2 Das Dämonische Der zweite Schritt geht nun eben diesem Phänomen des Dämonischen auf der paradoxalen Sphäre des Allgemeinen nach, interpretiert dazu zunächst die Sage von Triton und Agnete, danach die Erzählung von Tobias und Sara. Um das Dämonische zu skizzieren, wird die erste Sage abgeän­ dert: Triton möchte Agnete verführen, weckt aber das Verborgene in ihr. Sie glaubt, in ihm gefunden zu haben, was sie suchte, und blickt ihn derart »absolut gläubig« (FZ 289), demütig und vertrauensvoll an, dass jener der Unschuld nicht widerstehen und sie nicht verführen kann. Er bringt sie zurück ans Land, sagt ihr, er habe ihr nur die Schönheit des Meeresgrunds zeigen wollen, und sie glaubt ihm. Danach ist er verzweifelt, weil sie gesiegt hat (vgl. FZ 289). Der Text betrachtet nun Triton mit einem menschlichen Bewusstsein als menschliche Präexistenz, dessen Leben verstrickt war in die Konse­ quenzen des »dass er Triton ist« (FZ 290) und der nun von seinem Dasein als Verführer durch Agnete erlöst wurde (vgl. FZ 290). »Aber im gleichen Nu streiten zwei Mächte um ihn: die Reue und Agnete und die Reue. Ergreift ihn allein die Reue, so ist er verborgen, ergreifen ihn Agnete und die Reue, so ist er offenbar« (FZ 291). Ergreife ihn die Reue, dann habe er Agnete unglücklich gemacht und werde »in Rich­ tung auf seine Leidenschaften noch unglücklicher« (FZ 291), aber das Dämonische der Reue erkläre ihm, das sei seine Strafe. »Gibt er sich diesem Dämonischen hin, so macht er vielleicht noch einen Versuch, Agnete zu erlösen, so wie man in gewissem Verstande einen Men­ schen mit Hilfe des Bösen erlösen kann« (FZ 291). Es geht darum,

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dass er sie unglücklich gemacht hat, weil sie ihn geliebt hat, und er sie nun durch Entreißen dieser Liebe, durch Verhöhnen oder LächerlichMachen, »in gewisser Weise erlöst« (FZ 291 f.). »Er wird sich selber nicht vor Qual aller Art schonen; denn dies ist der tiefe Widerspruch im Dämonischen, und in einem gewissen Verstande wohnt unendlich mehr Gutes in einem Dämonischen als in den triviellen Menschen« (FZ 292). Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Begriff des triviellen Menschen als Gegenbegriff zu dem Menschen, um den zwei Mächte streiten (vgl. FZ 291). Die Bereitschaft zu leiden wird hier mit dem Begriff des Guten eng geführt. Mit Hilfe des Dämonischen würde der Triton also der Einzelne sein, der als der Einzelne höher wäre als das Allgemeine. Das Dämonische hat die gleiche Eigenschaft wie das Göttliche, nämlich dass der Einzelne in ein absolutes Verhältnis dazu treten kann. Dies ist die Analogie, das Gegenstück zu jenem Paradoxon, von dem wir sprechen. [...] So besitzt Triton anscheinend einen Beweis dafür, dass sein Schweigen berechtigt ist [...] (FZ 292 f.).

Analog zum religiösen Paradox also kann der Einzelne in ein absolutes Verhältnis zum Dämonischen treten, höher als das Allgemeine. In beiden Fällen, im Fall Abrahams wie auch im Versuch Tritons, Agnete mittels des Bösen zu erlösen, verstößt der Protagonist gegen die ethische Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Gelingen als das Religiöse wie auch Misslingen in Gestalt des Dämonischen spielen sich also beide auf der Ebene des Einzelnen jenseits des Allgemeinen ab. Die Berechtigung Tritons zu lügen gilt natürlich nur dem Anschein nach. Er könnte sprechen und so zum tragischen Helden werden (vgl. FZ 293). Er könnte seinen Selbstbetrug auflösen und Agnete mit der Wahrheit »zermalmen« (FZ 293). Der Text skizziert nun zwei Wege, auf denen Triton in der Reue vom Dämonischen erlöst werden könne: Er könne im Verborgen blei­ ben, gleich dem mittelalterlichen Gang ins Kloster, und im »Gegen­ paradoxon Ruhe« (FZ 293) finden. Dies ist offenbar ein Ausweg aus dem Dämonischen. Der zweite Ausweg ist das Offenbar-Werden. Er heiratet Agnete und nimmt »Zuflucht zum Paradox« (FZ 294). Der Punkt ist folgender: Triton hat schon den Schritt in Richtung des Falschen, hier in Richtung des Dämonischen, gemacht, bewegt sich bereits im Raum jenseits des Ethischen. Das ist der Grund, dass die Lösung paradoxal sein muss. Kierkegaard verallgemeinert:

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Die Sünde ist nicht erste Unmittelbarkeit, die Sünde ist eine spätere Unmittelbarkeit. In der Sünde ist der Einzelne bereits in Richtung des dämonischen Paradoxons höher als das Allgemeine, weil es ein Widerspruch des Allgemeinen wäre, sich selbst von dem zu fordern zu wollen, welcher der conditio sine qua non ermangelt. [...] Eine Ethik, welche die Sünde ignoriert, ist eine ganz unnütze Wissenschaft; macht sie aber die Sünde geltend, so ist sie eo ipso über sich hinaus (FZ 294).

Philosophische Ethik, so die These hier, hat es mit einem Menschen als Subjekt zu tun, der sich, analog zu Triton, immer schon in Richtung des Falschen und in die Sphäre des Paradoxalen bewegt hat und gar nicht über die Voraussetzungen verfügt, das ethisch Richtige tun zu können. Die Ethik verfehlt den Menschen, und wenn sie ihm doch gerecht werden will, geht sie notwendigerweise über sich hinaus in den Raum des Einzelnen und des Paradoxes. Der Text skizziert das Szenario der Entscheidung als an einem Punkt, an dem die erste Entscheidung für das Falsche immer schon gefallen ist. Nicht die erste Entscheidung Tritons ist, so die These, die Analogie zum menschli­ chen Handeln, sondern diese jetzt, das Sich-Verhalten zum Falschen und zur Frage nach Reue und Erlösung. Jenseits sündentheologischer Prämissen lässt sich die Struktur verallgemeinern, dass sich die Frage nach dem gelingenden Leben hier aus dem Falschen heraus stellt. Wir können, so die These, nicht einfach gemäß einem Moralprinzip handeln. Es ist viel komplexer. Die Differenz zwischen Triton und Abraham liege nun genau darin, dass Triton durch seine Schuld zum Einzelnen geworden ist, Abraham durch die Auswahl Gottes. Daher sei Triton verstehbar, Abraham nicht (vgl. FZ 295). Werde Triton offenbar, so vollziehe er eine Doppelbewegung, die unendliche Bewegung der Reue und eine zweite »kraft des Absurden« (FZ 296). Er bereue aus eigener Kraft, könne jedoch aus eigener Kraft dann nicht noch einmal die Wirklichkeit ergreifen (vgl. FZ 296). Im Unterschied zu Abraham wolle er durch diese Bewegung das Allgemeine, hier in Gestalt der Ehe, ergreifen (vgl. FZ 295). In einem zeitdiagnostischen Exkurs kritisiert der Text seine Zeit als eine Zeit, in der man weder die eine noch die andere Bewegung macht, sich durchs Leben »pfuscht« (FZ 296), darauf vertraue, dass es schon gelingen werde, wie bei einem Kartenspiel. Menschen nehmen sich keine Zeit mehr zu denken. Und wenn sie sie sich nähmen und nicht in jedem Augenblick die Bewegung des Glaubens vollzögen (vgl. FZ 297), dann entdeckten sie »[...] mit Angst und Grauen jenes dunkle

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Rühren [...] das sich doch in jedem Menschen verbirgt, während man, in Gemeinschaft mit anderen lebend, so leicht vergisst, so leicht davonkommt, auf so viele Arten aufgehalten wird [...]« (FZ 297). Kierkegaard diagnostiziert also eine dunkle Bewegung in der Tiefe, die vom sozialen Leben übertönt, vergessen und verdrängt wird. Würde man sich die Zeit nehmen, einmal in Ruhe nachzudenken, dann würde man sie entdecken, von Negativerleben begleitet. Was auf der Oberfläche als gelingendes Leben in einem sozialen Kontext erscheint, ist in Wahrheit misslingendes Leben. Dies wähnt sich einem Klosterleben überlegen, während es doch weit hinter dieses zurückfällt. Die Menschen lachen und haben vergessen, dass sie über sich selbst lachen (vgl. FZ 297). Das Leben misslingt im Vollzug keiner der beiden Bewegungen. Es gelingt im Vollzug beider. Das Leben misslingt zudem auch als Teil des ›Heidentums‹, das Kierkegaard in einer Fußnote als »leichtsinniger und weniger durchreflektiert« (FZ 296 Fußnote) bezeichnet. Hier zeigt sich das Paradigma der Konzeption. Es wäre also besser, zumindest den ersten Teil der Bewegung zu vollziehen und ins Kloster zu gehen. Dagegen steht die »jämmerliche Lebensweisheit [und] Klugheit« (FZ 298), die sich, wie gesagt, dem überlegen wähnt. All diese Lebensweisheiten gehören in die Sphäre des misslingenden Lebens. Die eigentliche Sphäre gelingenden Lebens, die auch noch den zweiten Teil der Doppelbe­ wegung erfordert, versteht kaum noch jemand (vgl. FZ 298). Mit der Formulierung »ihr Gebrechen« (FZ 298) bezeichnet Kierkegaard seine Zeit explizit als krank, im Verlust des Mutes zur »Macht des Geistes« (FZ 298) als sozusagen geisteskrank. Dabei offenbare sich die Zeit, analog zum Dämonischen, ohne sich dabei selbst zu verstehen. Kierkegaard beschreibt eine komplexe Art und Weise, in der die Epoche misslingenden Lebens gegen das Gelingende gerichtet ist, es »durch Gelächter« »feig […] in sich selbst […], neidisch bei anderen, zu ersticken versucht« (FZ 298). Charakteristisch für den Zeitgeist ist ein Komisches, ein Lachen, ein Lächerliches, das über sich lacht, das gelingende Leben übertönt und auf perfide Weise ins Lächerliche zieht, während es selbst, gemessen am normativen Maßstab der Konzeption, einfach nur lächerlich ist. Das Falsche hält sich für das Richtige und unterdrückt in einem lachend-lächerlichen sozialen Kontext das eigentlich Gesollte, tötet es regelrecht ab. Man hat etwas »vergessen« (FZ 298), lebt derart in der Verkehrung und Verdrängung, dass man weder sich noch das Ganze durchschaut, traut sich aber auch nicht, sich die Zeit zu nehmen und einmal

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in Ruhe darüber nachzudenken (vgl. FZ 297). Als verdrängte und vergessene ist die Krankheit des Geistes doch gegenwärtig, würde sich in Negativphänomenen zeigen, wenn man sich die Zeit nähme. Das Leben gelingt also bei Kierkegaard nicht vollends im Kloster. Man soll den Weg zurück in die Welt finden – kraft des Absurden. Aber die »Klosterbewegung« (FZ 298) ist dem herrschenden Zeitgeist, dem unmittelbaren und unreflektierten, verdrängenden Dahinleben in Welt und Gesellschaft in einem letztlich beliebigen sozialen Kontext weit überlegen. Dieser Kontext steht, so die These, durch Vergessen und Verdrängen in Bezug zu dem eigentlich Gesollten. Der Text bringt nun ein zweites Beispiel »in Richtung des Dämo­ nischen« (FZ 288), in welchem »die Leidenschaft der Reue nicht in Bewegung gesetzt wurde« (FZ 298). Tobias möchte Raguels und Ednas Tochter Sara heiraten. Jedoch sind schon sieben Männer, die sie heiraten wollte, in der Hochzeitsnacht umgekommen, da der Dämon, der Sara liebt, den Bräutigam in der Hochzeitsnacht töten wird (vgl. FZ 299). »Sara war es [Bezug: unglücklich], bevor sie es wurde« (FZ 300, Hervorhebung SK). In der Hochzeitsnacht sagt nun Tobias: »Steh auf und lass uns beten« (vgl. FZ 300). Gegen die Interpretation von Tobias’ Heldenmut schlägt Kierkegaard eine andere Interpretation vor: [...] Sara ist die Heldin. [...] Denn welche Liebe zu Gott gehört nicht dazu, sich heiraten lassen zu wollen, wenn man solchermaßen von Anfang an schuldlos mißraten ist, von Anfang an ein verunglücktes Exemplar eines Menschen! Welche ethische Reife, die Verantwortung zu übernehmen, dem Geliebten ein solches Wagnis zu erlauben! Welche Demut einem anderen Menschen gegenüber! Welcher Glaube an Gott, dass sie nicht im nächsten Augenblick den Mann hassen werde, dem sie alles verdankte (FZ 301)!

Das Dämonische könne Mitleid nicht ertragen (vgl. FZ 301). Wäre Sara ein Mann, der wüsste, dass seine Geliebte in der Hochzeitsnacht ermordet würde, dann läge die Wahl des Dämonischen auf der Hand, die Freude, die Mädchen in der Hochzeitsnacht »umsinken zu sehen« (FZ 302). Kierkegaard erläutert seinen Punkt weiter an Gloster aus Shakespeares Richard III. Moralsysteme, die keine Ahnung vom Schrecken des Daseins haben, haben keinen Wert (vgl. FZ 303). Solche Naturen wie die Glosters kann man nicht erlösen, indem man sie in die Idee einer Gemeinschaft hinein mediiert. Die Ethik hält sie eigentlich bloß zum Narren, wie es ja ein Spott über Sara sein würde,

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wollte sie zur ihr sagen, warum drückst du nicht das Allgemeine aus und verheiratest dich. Solche Naturen befinden sich von Grund auf im Paradox, und sie sind keineswegs unvollkommener als andere Men­ schen, nur dass sie entweder im dämonischen Paradoxon verdammt oder im göttlichen erlöst werden. [...] Dieses: ursprünglich durch Natur oder Geschichtsverhältnisse aus dem Allgemeinen herausgenommen worden zu sein, das ist der Anfang zum Dämonischen, woran das Individuum keine Schuld trägt (FZ 303).

Der Text betrachtet hier ein ursprüngliches aus dem Allgemeinen herausgenommen worden Sein. Diese Menschen kann man nicht in die Gemeinschaft zurückbringen. Ihre Alternativen sind das dämoni­ sche oder das göttliche Paradox. Es gibt einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr in die Welt gibt und Gelingen und Misslingen sich derart entscheidet. Es ist dabei nicht klar, welchen Status die Menschen in dieser Lage haben. Kann das Leben in der »Idee einer Gemeinschaft« (FZ 303) gelingen, oder muss jeder zur Ausnahme werden und vor die Entscheidung für oder gegen den Glauben gestellt werden?379 Angesichts Kierkegaards vernichtendem Urteil über die Menschen seiner Zeit, die weder die Klosterbewegung noch die Bewegung des Absurden nachvollziehen, sondern in ihrem sozialen Kontext dahin­ leben, ist zu vermuten, dass ›aus dem Allgemeinen herausgenommen‹ und vor die eigentliche Entscheidung gestellt worden zu sein furchtbar ist, aber gut. Es soll so sein, dass der Mensch sich für oder gegen Gott, zwischen den beiden hier beschriebenen Paradoxa, entscheiden muss. Was wäre die alternative Konzeption gelingenden Lebens, die nicht letztlich doch von der Kritik (vgl. FZ 296 ff.) getroffen wird – ein Leben in der Idee einer Gemeinschaft, das kein Durchmogeln, Übertönen, Vergessen und Verdrängen dessen ist, worum es eigentlich geht? Der Dämonische, so Kierkegaard weiter, verachte, aber handle nicht verächtlich, da er sich allen über ihn Urteilenden überlegen wisse. Das sei seine Stärke (vgl. FZ 304). Der Text skizziert nun im nächsten Schritt das Leiden des Genies: So ist das Genie von Anfang an im Verhältnis zum Allgemeinen des­ orientiert und in ein Verhältnis zum Paradoxon versetzt, ob es nun in Verzweiflung über seine Grenzen, die in seinen Augen seine Allmacht

379 Hackel argumentiert hier, dass das Problem der Ausnahmegestalten in Furcht und Zittern in den späteren Werken Kierkegaards zum Problem aller werde (vgl. Hackel (2011) 393, vgl. dazu auch Theunissen / Greve (1979) 30).

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in Ohnmacht verwandelt, eine dämonische Beruhigung sucht, oder sich religiös in der Liebe zur Gottheit beruhigt (FZ 304 f.).

Der Mensch, um den es geht, ist also das Genie, durch seine Natur oder (Lebens-)Geschichte (vgl. FZ 303) ursprünglich im Verhältnis zum Allgemeinen desorientiert und in ein Verhältnis zum Paradox gesetzt. Der Text nennt hier dämonische Verzweiflung, Verzweiflung über menschliche Grenzen. Während man in der dämonischen Ver­ zweiflung Beruhigung suchen kann, sie aber nicht finden wird, kann man in Gott Beruhigung finden. Es ist zu vermuten, dass dem Genie (trotzdem) mit Blick auf das wahrhaft gelingende Leben Vorbildcha­ rakter zukommt. Es ist besser, die Doppelbewegung zu vollziehen, als dahinzuleben. Es ist besser, aus dem Allgemeinen herausgefallen zu sein, als es nicht zu sein – da es näher am gelingenden Leben ist. Über das Verhältnis von Genie und Wahnsinn, so Kierkegaard weiter, werde wenig geschrieben, da es auch sehr schwierig sei, über »den Überlegenen« (FZ 305) zu schreiben. Dieser Begriff bestätigt damit explizit die Annahme, dass sich der aus der Gemeinschaft her­ ausgerissene oder -gefallene Mensch auf einer höheren Ebene bewegt. Zu einem gewissen Grad beherrscht das Genie den Wahnsinn, sonst wäre es wahnsinnig und nicht Genie (vgl. FZ 305). Er kennt die »Schrecken des Daseins« (FZ 303) und damit, was es wirklich bedeu­ tet, Mensch zu sein. Ausgehend von dieser Einsicht kann ihm die Gemeinschaft nicht mehr helfen. Im Verhältnis zum Paradox bewegt sich misslingendes und gelingendes Leben ausgehend von einer fundamentalen Desorientiertheit zwischen dem Dämonischen und Gott. Derjenige, der den Abgrund gesehen habt, durch rein geniales Nachdenken oder durch Erfahrung, wird dämonisch verzweifelt oder religiös – jedoch nicht (re-)integriert. Jeder Versuch, ihn wieder in die Gemeinschaft derer zu integrieren, die diese Erfahrung nicht gemacht haben, ist zum Scheitern verurteilt. Ein fundamentales (»von Grund auf« FZ 303) Paradox ist innerweltlich unheilbar. Das in es hinein Gelangen hat ein zentrales passives Element. Es stößt dem Einzelnen zu, er trägt daran, analog zu Sara, keine Schuld (vgl. FZ 303). Es gibt also Menschen, die sich jenseits des Ethisch-Allgemeinen bewegen, sei es durch eigene Schuld, durch eine Erfahrung, durch reines Nachdenken oder immer schon. Das Dämonische ist jedoch nur scheinbar ein absolutes Verhältnis und damit keine wahre Legiti­ mation der Verborgenheit: Man könnte reden. Die Ethik ist nutzlos, wenn die Entscheidung für das Falsche schon gefallen ist. In einem zeit-diagnostischen Exkurs beschreibt das Kapitel den Versuch der

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Alltagsmenschen, sich aufgehoben in ihren sozialen Kontexten durchs Leben zu pfuschen und den eigentlichen Fragen und Abgründen des gelingenden Lebens aus dem Weg zu gehen, während man sich ihm überlegen wähnt.

1.5.3 Faust-Interpretation In der Diskussion um die Rechtfertigung des Schweigens interpretiert Furcht und Zittern drittens, den Faustmythos, »noch einen Fall [… in dem] der Einzelne durch seine Verborgenheit und durch sein Schweigen das Allgemeine erlösen möchte« (FZ 305). Eine lange Fußnote erläutert, eine Alternative zum Zweifler Faust sei der Ironiker, der »die Lächerlichkeit des Daseins von Grund auf entdeckt« (FZ 304 Fußnote) habe und das Lachen verborgen in den anderen Menschen verorte. Er wisse, dass, falls er spricht, »eine Menge Menschen zu Grunde gehen« (FZ 306 Fußnote). »Soll er Schweigen, dann muss er ins Paradoxon hinein« (FZ 307 Fußnote). Was sagt man der Mitwelt, die »absolut zuversichtlich [… ist], ohne derartiges zu ahnen« (FZ 307 Fußnote)? Um diese Frage kreisen die Überlegungen. Soll man sprechen oder schweigen, wenn die Wahrheit gegebenenfalls einen jungen Menschen befreien, aber viele in den Abgrund reißen würde (vgl. FZ 306 Fußnote)? Die bekannte dichterische Darstellung des Faust als Zweifler, als Apostat des Geistes, wandelt Kierkegaard minimal ab, stellt sich Faust als Zweifler, aber »sympathetische Natur« (FZ 306) vor. So beuge er Faust in sich hinein, so dass er selbst auch alles Leiden entdecke (vgl. FZ 306): »Er weiß dann, dass es der Geist ist, der das Dasein trägt; aber er weiß auch, dass jene Sicherheit und Freude, in der die Mit­ menschen leben, nicht in der Macht des Geistes gegründet ist, sondern leicht erklärlich als eine unreflektierte Glückseligkeit« (FZ 306 f.). Der Text konzipiert also Faust mit einer Einsicht in einen Nihilismus der Alltagsmenschen. Entscheidend sind dabei die Metaphorik des Grundes und des Tragenden. Ausgehend von der Annahme, dass der Geist das Dasein trägt, folgt die Diagnose, dass sowohl der Sicherheit als auch der Freude der Menschen dieses Fundament fehlt, dass sie unbegründet sind. Die faktische Freude der Alltagsmenschen ist dage­ gen Gegenstand einer einfachen Erklärung. Das Leben gelingt in die­ ser Konzeption als getragen durch und gegründet im Geist, es miss­ lingt, wenn das Fundament fehlt, und die Verkehrung der Wahrnehmung von Misslingen als Gelingen ist erklärbar.

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Kierkegaard nutzt nun die Metaphorik der Höhe in Verbindung mit dem ersten Teil der Doppelbewegung: Faust habe als Zweifler »eine unendliche Bewegung« (FZ 307) »in der Welt des Geistes gemacht« (FZ 307), sei damit »höher« (FZ 307) als die Alltagsmen­ schen und durchschaue leicht all diejenigen, die lediglich vorgeben, diese Bewegung gemacht zu haben. »Was ein Tamerlan mit seinen Hunnen vermag, das vermag Faust, wie er weiß, mit seinem Zweifel – die Menschen entsetzt aufzuschrecken, das Dasein unter ihren Füßen wankend zu machen, die Menschen auseinanderzuscheuchen, den Schrei der Angst allerorten zum Erschallen zu bringen« (FZ 307). Faust könnte also, der Metaphorik des tragenden Grundes folgend, das Fundament der Alltagsmenschen zum Wanken bringen, sie ver­ einzeln, die Erfahrung des Negativen verbreiten. Und im Gegensatz zur historischen Figur des Tamerlan wäre Faust in gewissem Sinn dazu berechtigt, da er die »Vollmacht des Gedankens« (FZ 307) auf seiner Seite hat. Er ist also der Sache nach im Recht und könnte es den Men­ schen offenbaren. Aus Liebe zum Dasein aber schweigt er, gemäß der Prämisse einer sympathetischen Natur, da nicht neidisch sei, wisse, dass er das »Rasen« (FZ 307), wenn er es wecke, nicht aufzuhalten vermöge, nicht nach Ruhm durch Zerstörung strebe (vgl. FZ 307). Mit dem Begriff Liebe und den Gegenbegriffen Neid und Ruhmsucht ist damit an dieser Stelle die »unreflektierte Glückseligkeit« (FZ 307) für Faust – und so war die den ursprünglichen Mythos ergänzende Prämisse – eindeutig positiv besetzt. Ihr komme der Begriff »Dasein« (FZ 307) zu. »[...] Er schweigt, er verbirgt den Zweifel [...] er sucht so gut wie möglich Schritt mit anderen Menschen zu halten; aber was in ihm vorgeht, das verzehrt er in sich selbst, und so bringt er sich selbst dem Allgemeinen zum Opfer« (FZ 307 f.). Das Allgemeine, dem sich Faust hier opfert, ist die geistlose, unreflektierte alltägliche Glückseligkeit, also das, was aus der normativen Perspektive des Geistes das miss­ lingende Leben ist. Er versucht in der Welt mitzuhalten und leidet im Verborgenen – nach Vollzug einer unendlichen Bewegung in der Welt des Geistes. Entscheidend ist dabei die ›sympathetische‹ Prämisse, die Kierkegaard macht. Deshalb möchte Faust das Allgemeine »erlösen« (FZ 305) und handelt wie er handelt. Faust hat die Liebe zu den Men­ schen bewahrt, erblickt Margarethe in ihrer liebenswerten Unschuld, und kann sich in sie verlieben: Aber er ist Zweifler, sein Zweifel hat die Wirklichkeit für ihn zunichte gemacht; denn so ideal ist mein Faust, dass er nicht zu diesen wissen­

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schaftlichen Zweiflern gehört, die in jedem Semester eine Stunde auf dem Katheder zweifeln, aber im übrigen alles andere tun können, wie denn auch dieses ohne Beistand des Geistes oder kraft des Geistes. Er ist ein Zweifler, und der Zweifler hungert ebenso sehr nach dem täglichen Brot der Freude wie nach der Nahrung des Geistes (FZ 308).

Die Einsicht in die Bodenlosigkeit der Alltagswelt führt Faust zum Verlust der Wirklichkeit. Der Text differenziert hier zwischen dem eigentlichen Philosophen und dem akademischen Philosophen, der eine Stunde pro Semester zweifle und eigentlich der Welt der All­ tagsmenschen angehöre. Man beweise heute dazu quasi im Schnell­ durchlauf durch einen »Doktoratstest« (FZ 309), dass man wirklich gezweifelt habe. Furcht und Zittern verortet die institutionalisierte Universitätsphilosophie samt ihrer »Hast« (FZ 309) letztlich als ein »Wirtschaften« (FZ 309) eindeutig auf der Seite des misslingenden Lebens. Das eigentliche, gelingende Leben des Geistes, bedürfe geisti­ ger Nahrung wie Brot. Denken ist zur absoluten Lebensnotwendigkeit geworden. Aber Faust entschloss sich zu schweigen, sowohl über seinen Zweifel als auch über seine Liebe zu Margarethe (vgl. FZ 308). Faust bewege sich jenseits des Geredes etwa der akademischen Philosophie. Seine Optionen seien: Er schweigt, und opfert sich damit, »oder er spricht im Bewusstsein dessen, dass er alles verwirren wird« (FZ 309). Er würde eine allgemeine Diskussion losbrechen – oder auch nicht (vgl. FZ 309): Schweigt er, so verurteilt ihn die Ethik; denn die besagt: »Du sollst das Allgemeine anerkennen, und das erkennst du gerade dadurch an, dass du sprichst, und du darfst mit dem Allgemeinen kein Mitleid haben.« Diese Betrachtung sollte man nicht vergessen, wenn man zuweilen einen Zweifler streng beurteilt, weil er spricht (FZ 309).

Gegen Fausts Versuch, aus »Liebe zu den Menschen« (FZ 308) das Allgemeine erlösen zu wollen und daher über das Bodenlose zu schweigen, steht hier nun das ethische Gebot, die Wahrheit zu sagen und gerade dadurch dem Allgemeinen zu dienen. Der Zweifler, selbst wenn er alles Unglück über die Welt brächte, sei doch denen vorzuziehen, »die den Zweifel heilen wollen, ohne ihn zu kennen« (FZ 310). Der Text thematisiert an dieser Stelle die Pathologisierung der der Sache nach berechtigten Kritik, etwa an der oberflächlichen Glückseligkeit, ohne diese Kritik der Sache nach verstanden oder sich mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Die Ebene des Geistes und des potentiell gelingenden Lebens wird von der Ebene der Alltäglichkeit

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und des zunächst einmal misslingenden Lebens her pathologisiert und mit ihren Mitteln zu heilen versucht. Dabei schreibt sich letztere Ebene eine höhere Deutungsmacht und Therapiefähigkeit zu, die ihr der Sache nach überhaupt nicht zukommt. Pathologisierung und Therapie befinden sich hier, auf einer Ebene mit Alltäglichkeit und Universitätsbetrieb, vom Standpunkt des Geistes aus in einer Verkeh­ rung. Hinsichtlich Faust fährt der Text nun fort, die Konsequenzen im Falle des Sprechens seien erst einmal nicht vorhersehbar. Und schweige Faust »auf eigene Verantwortung« (FZ 310), so möge dies vielleicht großmütig sein, aber die Forderung des Allgemeinen stehe ihm immer gegenüber, und vom Verdacht des Hochmuts könne er sich letztlich nie ganz befreien (vgl. FZ 310). Kann der Zweifler hingegen zum Einzelnen werden, der als der Ein­ zelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht, dann kann er eine Vollmacht für sein Schweigen erhalten. In diesem Fall muss er seinen Zweifel zu Schuld machen. In diesem Fall befindet er sich im Paradoxon; aber in diesem Fall ist sein Zweifel geheilt, wenn gleich ihm ein anderer Zweifel zuteil werden kann (FZ 310).

Die Lösung, die Faust von der ethischen Pflicht zu sprechen befreit und davon, auf eigene Verantwortung zu schweigen, ist, ein Einzelner in absolutem Verhältnis zum Absoluten zu werden. Dadurch ist er von seinem Zweifel, der der Sache nach berechtigt war, der die »Vollmacht des Gedankens« (FZ 307) auf seiner Seite hatte, geheilt, indem er diesen kohärenten Gedankengang zu Schuld macht. Faust müsste also die Einsicht in die Bodenlosigkeit der Alltäglichkeit zu seiner Schuld machen. Die Lösung ist paradox, aber das ist der Preis für Heilung und Gesundheit, und er impliziere die Gefahr eines anderen Zweifels. Philosophisch scheint dies nicht unproblematisch zu sein, und Furcht und Zittern zielt genau auf die Überwindung von Philosophie in diesem Sinne zur Theologie. Das Neue Testament, so der Text weiter, erkenne dieses Schweigen an, weil »die Subjektivität höher als die Wirklichkeit ist« (FZ 310). Aus einer Passage in der Bergpredigt, gemäß der der Fastende gegenüber den anderen nicht als Fastender erscheinen solle (vgl. FZ 311), folgert Kierkegaard die Erlaubnis, »das Bessere zu verbergen« (FZ 310), die Wirklichkeit zu betrügen (vgl. FZ 311). Subjektivität sei mit der Wirklichkeit inkommensurabel. Die paradoxe Konzeption gelingenden Lebens und die Wirklichkeit haben also kein gemeinsames Maß.

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Bis hierher gilt es festzuhalten, das Faust aus Liebe zu den Menschen über die Wahrheit der Bodenlosigkeit ihres unreflektierten alltäglichen Glücks schweigt, jedoch ethisch auf eigene Verantwor­ tung und nicht von dieser befreit in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten.

1.5.4 Abschließende Interpretation Abrahams Der Gedankengang kehrt nun im abschließenden Schritt zur ursprünglichen Frage nach der ethischen Rechtfertigung des Schwei­ gens Abrahams zurück. Ziel der Untersuchung sei es nicht gewesen, Abraham verständlicher, sondern dessen Unverständlichkeit »desult­ orischer« (FZ 311), also unbeständiger und sprunghafter erscheinen zu lassen. Denn »[...] Abraham kann ich nicht verstehen, ich kann ihn nur bewundern« (FZ 311). Zum Status der in den Problema III vorangegangenen Untersuchungen sagt der Text, keine enthielte eine Analogie zu Abraham. »Im Augenblick der Missweisung« (FZ 311) deuteten sie »die Grenze des unbekannten Landes an« (FZ 311). Sie sollten also lediglich etwas andeuten. Die Analogie müsse das Paradox der Sünde sein, aber auch diese liege in einer anderen Sphäre, könne Abraham nicht erklären, sei leichter zu erklären als Abraham (vgl. FZ 311). Abraham als Vorbild des ethisch-religiös gelingenden Lebens entzieht sich also dem Verstehen, der Erklärung und der Analogie. Trotzdem können Analogien etwas andeuten, auch wenn sie es verfehlen. Dass etwas paradox ist, ist erklär- und verstehbar, nicht jedoch das Paradox selbst. Obwohl das Familienleben für Abraham der höchste Ausdruck des Ethischen war, schwieg er ihnen gegenüber (vgl. FZ 311). Der Text erläutert, dass Abraham nicht in den Bereich des Ästhetischen falle. Das Ästhetische erlaube und fordere Schweigen, um den anderen zu retten, aber Abraham wolle habe Isaak nicht retten wollen. Auch habe er nicht sich opfern wollen, sondern Isaak für sich, was für das Ästhetische nicht verstehbar sei. »Der ästhetische Held kann […] sprechen, aber er will nicht« (FZ 312). Das Ethische sieht Abraham als »kraft seines zufälligen Einzelseins schweigsam« (FZ 312). Es fordere eine unendliche Bewegung und Offenbarung. Ethisch kann Abraham sein Schweigen also nicht rechtfertigen. Dazu opfere er sich nicht für das Allgemeine, wie der tragische Held, der damit auf der Seite der Offenbarkeit der Ethik stehe.

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Dies passt nicht auf Abraham, er tut nichts für das Allgemeine und er ist verborgen. So stehen wir nun beim Paradoxon. Entweder kann der Einzelne als Einzelner ist einem absoluten Verhältnis zum Absoluten stehen, und dann ist das Ethische nicht das Höchste, oder Abraham ist verloren, er ist weder ein tragischer noch ein ästhetischer Held (FZ 312).

Das gelingende Leben tut hier nichts für das Allgemeine – im Gegen­ teil. Abraham ist bereit, seinen Sohn für sich zu opfern. Weder schweigt er, um Isaak zu retten, noch sagt er seiner Familie die Wahr­ heit, bewegt sich damit jenseits den Kategorien des Ästhetischen und des Ethischen. Entweder steht er also in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten und ist Vorbild für eine hoch individuelle ethisch-reli­ giöse Konzeption gelingenden Lebens jenseits des Ethisch-Allgemei­ nen – oder er ist schlicht und einfach ein Mörder. Dass das gelingende Leben das gelingende Leben ist, ist in der Darstellung von Johannes de Silentio in Furcht und Zittern stetig theoretisch unsicher. Der pseudonyme Autor lässt diese letzte Unsicherheit offen. Das Paradoxon scheine, so der Text weiter, »das Leichteste und Bequemste von Allem« (FZ 312). Das gelingende Leben scheint einfach zu sein, weil es von den ethischen Imperativen entbunden ist. Dem ist aber selbstverständlich nicht so, »[...] denn die Not und die Angst sind die einzig denkbare Berechtigung, wenngleich sie im allgemeinen nicht gedacht werden können; denn dann wird das Paradox aufgehoben. Abraham schweigt – aber er kann nicht sprechen, darin liegt die Not und die Angst« (FZ 312, Hervorhebung SK). Angesichts der theoretischen Unsicherheit ist also die einzige Rechtfertigung dieser Konzeption gelingenden Lebens die Erfahrung des Negativen des Einzelnen (vgl. dazu FZ 287), die genau nicht ver­ allgemeinerbar ist. Die negative Rechtfertigung entzieht sich hier dem intersubjektiven theoretischen Zugang. Während Triton sprechen könnte (vgl. FZ 293), kann Abraham genau nicht sprechen. Der Text spezifiziert diese These: Abraham könne zwar Tag und Nacht reden, aber er könne sich nicht verständlich machen (vgl. FZ 312). »Das Lindernde der Sprache ist, dass sie mich ins Allgemeine überträgt380« (FZ 313). Der Begriff des Übersetzens scheint hier für die Idee gelingenden Lebens zentral zu sein. Der Einzelne übersetzt die Idee des gelingenden Lebens in seinen Kontext. Abraham versteht das Wort Gottes, der das Opfer Isaaks verlangt, aber die Übersetzung 380

»oversætter« (SKS 4, 201) wörtlich: übersetzt.

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in die Sphäre des Intersubjektiv-Allgemeinen misslingt. Der Einzelne kann verstehen, was er tun muss, aber der andere Mensch kann ihn nicht verstehen. Damit entfällt die intersubjektive Möglichkeit der Linderung, des Teilens und der wechselseitigen Vergewisserung. Das gelingende Leben ist auch hier radikal individuell, nicht in das Allgemeine übertragbar. Die Einsicht ›Niemand kann mich verstehen‹ ist für es charakteristisch. Dagegen ist die Sphäre des Ethischen die Sphäre des argumenta­ tiven Diskurses. Der tragische Held könne sich zumindest sicher sein, alle Gegenargumente gehört zu haben, nichts übersehen zu haben (vgl. FZ 313). Das ethisch-religiös gelingende Leben hat dagegen nicht diese Sphäre der intersubjektiven argumentativen Vergewis­ serung, sondern »die entsetzliche Verantwortung der Einsamkeit« (FZ 313). Zu dem Nicht-verstanden-werden-Können gesellt sich die Einsicht, sich radikal auf sein eigenes Urteil oder besser gesagt seine eigene Einsicht verlassen zu müssen. »[...] Denn würde nicht Sara, würde nicht Eliëser, würde nicht Isaak zu ihm sagen: ›Warum willst du es dann tun, du kannst es ja sein lassen‹« (FZ 314). Der normative Anspruch ist hier nicht vermittelbar. Es scheint aus der Perspektive der dritten Person, als gäbe es eine einfache Lösung, aber aus der Perspek­ tive der ersten Person gibt es diese nicht. Genau genommen verhält es sich, wie der Text ausführt, noch schlimmer. Wenn Abraham sage, dass er seine Familie liebe, bevor er zur Tat schreitet, dann würden sie ihm nicht glauben (vgl. FZ 314). Selbst die Sphäre des Sagbaren (vgl. FZ 313) wird im Kontext des Ethisch-Religiösen in die Sphäre des Unsagbaren mit hineingezogen. »Sprechen kann er nicht, er spricht keine menschliche Sprache. Wenn er selbst alle Zungen der Erde verstünde, wenn auch seine Geliebten sie verstünden, dennoch kann er nicht sprechen – er spricht mit einer göttlichen Zunge, er spricht mit Zungen« (FZ 314). Der Mensch, dessen Leben wahrhaft gemäß dieser ethisch-religiösen Konzeption gelingt, spricht, so die These, keine Sprache dieser Erde. Selbst wenn er alle Sprachen spräche, könnte er sich nicht verständlich machen, seine Gedanken nicht allgemein ausdrücken. Dazu kommt jedoch eine zweite These, die auf Hintergrundannahmen aufbaut. Er spreche keine menschliche Sprache, aber er spreche eine göttliche ›Zunge‹. Er kann Gott verstehen. Er ist also nicht absolut einsam, son­ dern intersubjektiv einsam, aber in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten. Das gelingende Leben ist nicht vollkommen unverständ­ lich, sondern menschlich unverständlich. In einem Gottesverhältnis

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macht es Sinn. Die Erfahrung des Negativen scheint beinahe seine religiöse Vergewisserung zu sein, sein einziger Zugang zu Rechtferti­ gung. Die Not Abrahams ist nun wiederum verstehbar. Aufgrund ihrer Negativität, so der Text, werde niemand leichtfertig ein Einzelner »sein […] wollen« (FZ 314). Das gelingende Leben ist also nicht unbedingt das, was wir wollen, zumindest nicht leichtfertig. Johannes de Silentio selbst gibt erneut freimütig zu, nicht den Mut dazu zu haben. Falls Abraham abbräche, das Ganze bereue, dann könnte er sprechen und jeder könnte ihn verstehen. Aber dann wäre er nicht Abraham (vgl. FZ 314) im Sinne seines Vorbildcharakters für das ethisch-religiöse Leben. In einem neuen Versuch skizziert der Text eine doppelte Nicht­ kommunizierbarkeit in der Sphäre des Gelingens: Abraham könne das Entscheidende nicht erklären, im Sinne, dass er es dem Anderen nicht verstehbar machen könne, »dass es eine Prüfung ist […] wo das Ethische die Versuchung darstellt« (FZ 314, vgl. dazu FZ 244). Das Ethisch-Allgemeine, das traditionell normativ Gesollte, wird zum Nicht-sein-Sollenden, zur Versuchung des Ethisch-Religiösen als des eigentlich Gesollten. Der Text nennt Abraham »Emigrant aus der Sphäre des Allgemeinen« (FZ 314). Der Einzelne, dessen Leben gelingt, ist aus der Sphäre des Allgemeinen emigriert und spricht nun nicht mehr deren Sprachen in einem eigentlichen Sinne. Er ist fremd geworden, fremd gegenüber denjenigen, die er am meisten liebt. Bei der Frage nach Gelingen und Misslingen geht es um ihn allein. Aber das nächste kann er noch weniger sagen. Abraham macht näm­ lich, wie früher hinreichend entwickelt, zwei Bewegungen. Er macht die unendliche Bewegung der Resignation und gibt Isaak auf; dies kann niemand verstehen, weil es ein privates Unternehmen ist; aber darauf macht er in jedem Moment die Bewegung des Glaubens. Dies ist sein Trost. Er sagt nämlich: doch es wird nicht geschehen, oder wenn es geschieht, dann wird der Herr mir nämlich kraft des Absurden einen neuen Isaak geben (FZ 314 f.).

Abraham kann also nicht sagen, dass es eine Prüfung ist, und noch weniger, dass er die Doppelbewegung vollzieht. Der Grad der Nicht­ kommunizierbarkeit der für das gelingende Leben zentralen Bewe­ gung ist damit die Steigerung von ›nicht‹. Sozusagen auf der Spitze des Unsagbaren steht die paradoxe Bewegung des Glaubens in jedem Augenblick. Die Doppelbewegung bewegt sich damit weit jenseits der

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Sphäre des intersubjektiv Kommunizierbaren, hat als Steigerung des nicht Sagbaren jeden Kontakt zu ihr verloren. Zur Verdeutlichung zieht Kierkegaard erneut Agamemnon heran: Iphigenie könne ihn verstehen, »weil sein Unternehmen das Allgemeine ausdrückt« (FZ 315). Er opfert sie für Wind für die Kriegsflotte. Kierkegaard wendet nun erneut den Agamemnon-Mythos kontrafaktisch: »Würde Aga­ memnon indessen ihr sagen: ›Ungeachtet Gott dich als Opfer fordert, so wäre es doch möglich, dass er dich nicht fordert, kraft des Absurden nämlich‹, so würde er im gleichen Augenblick für sie unverständlich« (FZ 315). Die Absurdität des Glaubens ist, dass Gott das Opfer fordert und es nicht fordert. Dass der Protagonist etwas tut und es trotzdem »nicht geschehen« (FZ 315) wird oder ungeschehen gemacht wird. Diese paradoxale Struktur des Glaubens ist nicht verstehbar. Der Text betont hier einen zuvor bereits herausgestellten Aspekt, den Unterschied zwischen Resignation und Berechnung. Die Bewegung des Glaubens ist frei von »menschlicher Berechnung« (FZ 315, vgl. dazu FZ 212)381, sondern folgt auf die Bewegung der unendlichen Resignation. Menschlich ist es unmöglich, dass Isaak das Abrahams­ opfer überleben wird. Der Glaube beruht nicht auf irgendeinem Grad von Wahrscheinlichkeit, sondern auf Gott. Im nächsten Schritt analysiert Kierkegaard das einzige Wort, das Abraham (doch) zu Isaak sagte: »Isaak stellte Abraham die Frage, wo das Schaf zum Brandopfer sei. Und Abraham antwortete: ›Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer, mein Sohn‹„ (FZ 315). Dieses letzte Wort sei notwendig. In der Frage, ob der tragische Held ein letztes Wort haben sollte, unterscheidet der Text zwischen den »Lebenssphären« (FZ 315) des Handelns und des Erleidens und ihrer intellektuellen Bedeutsamkeit, ihrer »Beziehung zu Geist« (FZ 316). Liege seine Lebensbedeutung in der Sphäre des Handelns, so müsse er seine Aufgabe schweigend vollziehen, und ein letztes Wort sei nur Gerede. Als Beispiel wird hier, wieder hypothetisch, der das Messer zückende Agamemnon genannt. Die Bedeutung seiner Tat »war ja allen offenkundig« (FZ 316). Demgegenüber müsse ein »intellektueller tragischer Held« (FZ 316), dessen Lebensbedeutung »in Richtung auf Geist [beruht]« (FZ 316), das letzte Wort haben und behalten. Quasi nebenbei differenziert der Text hier sogenannte ›Lebenssphären‹ mittels ihres Verhältnisses zum Begriff des Geistes. Die Bedeutung eines Lebens kann (lediglich) in äußeren Handlungen 381

Vgl. dazu FZ 212.

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liegen, oder es kann ein Leben des Geistes sein, präzisiert gesagt ein Leben als »Lehrer oder Zeuge des Geistes« (FZ 316). Abraham hat als Vorbild des ethisch-religiös gelingenden Lebens »absolute Bedeutung in Richtung auf Geist« (FZ 318). Das gelingende Leben ist also ein Leben im Verhältnis zum Geistigen, für das der Begriff des Zeugens zentral ist. Das Leben gelingt als Bezeugen des Geistes. Während der gewöhnliche tragische Held nach dem Tod unsterb­ lich werde, kulminiere das Leben des intellektuellen tragischen Hel­ den im Leiden, im Tod, und er werde im letzten Wort unsterblich (vgl. FZ 317). Bemerkenswert sind die Erläuterungen, dass Sterben die ganze Kraft des Geistes erfordere, und »dass der tragische Held immer stirbt, bevor er stirbt« (FZ 317). Der Text führt hier ›Geist‹ als Schlüsselbegriff gelingenden Lebens und den Begriff ›Tod‹ zusam­ men. Gelingendes Leben ist ein besonderes Verhältnis zum Tod, genauer gesagt zum Sterben. Sterben kann im Modus des Gelingens vollzogen werden – Sterben als »sich selbst durch[...]führen« (FZ 317). Das Beispiel Sokrates’, das der Text hier anführt, sei zwar keine Analogie zu Abraham, da es diese nicht gebe, aber könne illustrieren, warum Abraham sich selbst durchführen und ein letztes Wort haben müsse. Was er gesagt habe, sei nur im Nachhinein verständlich, ohne sich ihm dadurch nähern zu können (vgl. FZ 318). Es scheine ein Widerspruch darin zu liegen, dass die Not und Angst des Paradoxes doch genau darin liege, dass Abraham nicht sprechen könne, ohne aufzuhören, Abraham zu sein (vgl. FZ 318, vgl. auch FZ 314). Er könne nicht »wirklich mit Isaak sprechen«, daher »sagt [er] vor allem nichts« (FZ 319). Es sei Ironie, etwas zu sagen und doch nichts zu sagen (vgl. FZ 319), Der Text interpretiert nun die Antwort Abrahams, Gott werde sich ein Schaf ersehen, als Vollzug der Doppelbewegung: Abraham weiß, dass Gott Isaak fordert und dass er Isaak opfern wird. Hätte er lediglich die Bewegung der Resignation vollzogen, wäre die Antwort eine Lüge (vgl. FZ 320). Aber »kraft des Absurden wäre es ja möglich, dass Gott etwas ganz anderes machen könnte« (FZ 320). Wenn alles möglich ist, ist also intersubjektive Kommunikation quasi unmöglich. Was Abraham zu Isaak sagt impliziert etwas Absurdes, aber der Gläubige lügt nicht. Er glaubt. Der Andere kann ihn nicht verstehen, weil der Gedankengang dahinter absurd ist. Es ist eine den Menschen fremde Sprache (vgl. FZ 320). »Es zeigt sich somit hier wiederum, dass man Abraham zwar verstehen kann, aber nur so verstehen, wie man das Paradoxon ver­

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steht« (FZ 320).382 Die Verstehbarkeit Abrahams läuft auf die bereits bekannte Struktur hinaus. Das Absurde oder das Paradox ist nicht verstehbar, aber dass es absurd ist, ist verstehbar. Nichtverstehbarkeit ist verstehbar. Abraham wurde bewundert, aber niemand konnte ihn verstehen (vgl. FZ 321). Abraham sei der Liebe zu Gott treu geblieben, habe sein Leiden vergessen und bedürfe der Bewunderung der »Mitwelt« (FZ 321) nicht. Die ethisch-religiöse Konzeption gelingenden Lebens wird also auf die Formel ›Liebe zu Gott‹ gebracht, in der letztlich auch die Erfahrung des Negativen überwunden wird, vergessen wird. Aber Gott erinnert ihn daran, Gott vergisst die Not und die Tränen nicht (vgl. FZ 321). Das gelingende Leben bedarf absolut keiner intersub­ jektiven Bewunderung oder Anerkennung. Es gelingt als Einzelner im Gottesverhältnis. »Entweder es gibt somit ein Paradoxon, dass der Einzelne als der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht, oder Abraham ist verloren« (FZ 321). Kierkegaard schließt den Haupttext von Furcht und Zittern mit der zentralen Problemkonstellation des Werks: Abraham führt ein normativ vorbildhaftes gelingendes Leben, oder er ist ein Mörder. Darin spiegelt sich das Paradox einer absolut individualistische Ethik jenseits allgemeiner Maßstäbe, als Vollzug der Doppelbewegung im absurden Vertrauen auf Gott, nach der der Einzelne seine Aufgabe erfüllt. Am Ende steht ein Entweder-Oder. Der Text geht dabei paradigmatisch immer davon aus, dass Gott Isaak retten wird. Auch wenn es absurd ist, ist diese Hintergrundannahme letztlich immer schon gemacht. Furcht und Zittern ist in einen theolo­ gischen Kontext eingebettet. Das Leben, so Kierkegaard im Epilog, gelinge im Glauben. Hier fange jede Generation wieder am gleichen Punkt an, und die Aufgabe genüge für ein Menschenleben (vgl. FZ 324). In der Frage nach dem gelingenden Leben gibt es also für Kierkegaard keine Entwicklung in der Menschheitsgeschichte. Die nachfolgende Generation hat es nicht einfacher als die vorherige. Sie hat dieselbe Aufgabe. »Aber auch für den, der nicht bis zum Glauben gelangt, hat des Leben Aufgaben genug, und wenn er diese redlich liebt, dann wird das Leben auch nicht vertan sein, wenngleich es niemals dem jener gleich wird, die 382 Conway weist hinsichtlich der verschiedenen Aussagen de Silentios zur Versteh­ barkeit Abrahams hier auf das Indefinitpronomen ›man‹ gegenüber Aussagen in der ersten Person Singular hin (vgl. Conway (2014) 51).

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das Höchste vernommen und ergriffen haben« (FZ 325). Während das Leben also in der Liebe zu Gott gelingt, bietet der Text hier einen milden Weg für denjenigen an, der dies nicht erreicht, die ›Liebe zu den Aufgaben des Lebens‹. Dieses Leben erhält von Kierkegaard das Prädikat eines ›nicht vertanen‹ Lebens, wenngleich es weit unter dem ethisch-religiösen Leben verbleibt. Er kritisiert dagegen das hegelianische Denken seiner Zeit, das glaubt, beim Höchsten angelangt zu sein, das weiter gehen will als der Glaube (vgl. FZ 323 ff.) – das gemäß der Konzeption Kierkegaards das ethisch-religiöse Leben als Lebensaufgabe nicht verstanden habe. Wenn den Kindern um 12 Uhr mittags langweilig sei, da sie alle Spiele gespielt haben, so die Analogie, dann seien sie nicht denen überlegen, die den ganzen Tag spielen konnten (vgl. FZ 324). Das Leben misslingt in der Überzeugung, man habe die Stufe des Gelingens erreicht und müsse neue Aufgaben finden. Wenn aber jede Generation wieder an demselben Punkt beginnt – warum genau schreibt dann Kierkegaard Furcht und Zittern, und ist die Aufgabe nach diesem Buch wirklich dieselbe wie vorher? Macht es nicht einen Unterschied, ob man auf dieses Buch zurückgreifen kann oder nicht? Selbstverständlich ist die Konzeption gelingenden Lebens kein ›Stoff‹, kein Lehrbuchwissen, nicht lern- oder vermittelbar im Sinne kumulativen Wissens, sondern Bildungsaufgabe und -prozess des Einzelnen. Insofern fängt jeder von vorn an. Es scheint aber doch ein Unterschied zu sein, ob es Bücher von Menschen gibt, die ebenfalls von vorn angefangen haben. Es gilt festzuhalten, dass Abraham im Unterschied zu allen zuvor diskutierten Fällen nicht sprechen kann, und zwar in doppelter Hinsicht, hinsichtlich der Prüfung und der Doppelbewegung. Das Leben gelingt jenseits der Sphäre des Intersubjektiven im Übersetzen des ethisch-religiös Gesollten für sich selbst, in der Liebe zu Gott.

1.6 Zwischensynthese Das Absurde in Furcht und Zittern ist, ›dass für Gott alle Dinge möglich sind‹. Es ist absurd, das Absurde zu glauben, und daher glaubt man es kraft des Absurden. Die Begriffe Absurdität und Paradox werden im Text letztlich synonym gebraucht. Die erste Gestalt des misslingenden Lebens ist das spießbürgerli­ che Dahinleben in der chronologischen Zeit. Es ist das nicht-geistige Leben, dass auf den irdischen Verstand vertraut und das Leben als

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ein Geschäft, eine Optimierungsaufgabe versteht, der man mit dem Prinzip der Risikostreuung begegnet. Ihm fehlt das eine, leidenschaft­ liche Ziel, das dem individuellen Leben seinen Wert gibt. Es denkt in funktionalen Äquivalenten. Der Text benutzt für die Spießbürger die Metaphorik von Tieren in Sumpf oder Schlamm. Man hat die Frage nach dem gelingenden Leben gar nicht verstanden, weicht der funda­ mentalen Negativität des Lebens aus oder kann sie in seiner Naivität gar nicht reflektieren. Das Leben misslingt in seiner Nivellierung auf ein funktionierendes Gemeinwesen, einen wohlorganisierten Staat, in dem der Einzelne voll und ganz aufgeht und sich weit weg von den Erschütterungen des Daseins wähnt. Soziale Eingebundenheit ist Merkmal des Falschen. Man pfuscht sich irgendwie durchs Leben und zieht das Geistige auf perfide Weise ins Lächerliche. Der Sicherheit und Freude der Alltagsmenschen fehlt der Grund, ihr unreflektiertes Glück ist einfach erklärbar. Die zweite Form des misslingenden Lebens ist der Vollzug der Resignationsbewegung als Flucht zu Gott und Ewigkeit. Man erkennt die fundamentale Negativität des Lebens, die Unmöglichkeit der Realisierung des eigenen Ziels, und man verzichtet. Man glaubt nicht, dass für Gott alle Dinge möglich sind. Man ist froh und zufrieden, diesen Leben ist normativ legitim, aber verglichen mit dem Gläubigen doch unglücklich. Die dritte, implizite, Gestalt misslingenden Lebens, ist der Versuch, sein Ziel aus eigener Kraft realisieren zu wollen, als Selbstüberforderung des modernen Menschen. In der Welt ist vieles schlicht und einfach nicht möglich. Das Leben gelingt nicht unmittelbar, sondern als Überwindung von tiefer Traurigkeit, Abgrund, Angst und Verzweiflung durch den Vollzug der Doppelbewegung – der Bewegung der unendlichen Resi­ gnation und der Bewegung des Glaubens – in jedem Augenblick. Man gewinnt die Endlichkeit zurück, nachdem man sie losgelassen hat. Das normativ Gesollte ist in Furcht und Zittern nicht das Ethisch-Allge­ meine, sondern das Ethisch-Religiöse, demzufolge, paradoxerweise, der Einzelne höher ist als das Allgemeine. Das gelingende Leben ist also ein zunächst sich Unter- und dann Überordnen. Die klassische normative Ethik ist nutzlos. Nicht jeder ist auserwählt, Abraham oder Maria zu sein, aber jeder kann ›etwas mehr‹ sein als ein funk­ tionierendes Rädchen in einem System. Gelingen ist gerade kein Ergebnis eines Sozialisationsprozesses, sondern ein Bruch ohne letzt­ liche Möglichkeit der Reintegration. Am Ende stehen nur dämonische Verzweiflung oder der Glaube. Das Verhältnis des Einzelnen zum Gesollten ist privat, hoch individuell, auf die Innenperspektive der

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1. Person Singular beschränkt. ›Was unter Isaak verstanden werden soll‹ muss letztlich jeder für sich selbst übersetzen. Er tut nicht not­ wendigerweise etwas für das Gemeinwesen, steht diesem vielleicht sogar entgegen. Von außen scheint es, als könne er im Allgemeinen glücklich werden, und er weiß, dass es herrlich wäre, aber er muss es aufgeben und kann noch nicht einmal erklären warum. Die eigene Aufgabe ist weder intersubjektiv kommunizierbar noch Gegenstand intersubjektiver Vergewisserung. Der Verstand kommt zum Schluss, dass ihre Realisierung unmöglich ist. Während die Erfahrung des Negativen als Not, Angst, Einsamkeit, Spannung und Schlaflosigkeit unüberwindbar und zunächst einziger Gehalt der Selbstvergewisse­ rung ist, so deutet der Text doch auf eine Ahnung des Positiven als persönliches Verhältnis zu Gott. Das gelingende Leben ist Zeugnis des Geistes, Liebe zu Gott. Es ist ein einsamer und beschwerlicher Weg, der viel Zeit braucht. Das Werk ist thematisch negativistisch. Es beschreibt eine dunkle Bewegung in der Tiefe unterhalb der Alltagswelt, welche sich selbst für gesund hält, aber krank und grundverkehrt ist. Der Einzelne erfährt im Prozess, der das Leben gelingen lassen kann, das Negative als Desorientierung, Herausgefallen-Sein, Not, Angst, Einsamkeit, Fremdheit, Schmerz und Leiden. Das Negative, das innerweltlich unheilbar ist, ist sein einziger Zugang zum Wahren inmitten des Falschen. Furcht und Zittern macht dabei theologische Hintergrundan­ nahmen über die Geschöpflichkeit des Menschen, seine paradoxe Einzigartigkeit, die Ordnung der geistigen Welt und die wahre Wirk­ lichkeit. Der Einzelne ist von Gott gesetzt, so dass ›um Gottes Willen‹ und das recht verstandene ›um seiner selbst Willen‹ dasselbe sind. Der Andere ist der andere Einzelne, der keine Anleitung bedarf. Man kann dem anderen Menschen lediglich in das Ethisch-Allge­ meine verhelfen und ihm Raum schaffen, damit er das eigentlich normativ Gesollte für sich selbst entdecken kann. Verstehen meint nicht philologisch-exegetisch, sondern das je eigene Nachvollziehen, das Selbst-betroffen-Sein. Abraham ist nicht verstehbar, aber die Nichtverstehbarkeit Abrahams ist verstehbar. Der pseudonyme Autor Johannes de Silentio benennt den Voll­ zug des ersten Teils der Doppelbewegung, die Resignationsbewegung und den Übergang zur Unendlichkeit, als Sprung. Das Werk vertritt jedoch genau nicht diese Position, sondern die Idee gelingenden Lebens in der Endlichkeit durch den Vollzug der Doppelbewegung. Der Begriff des Sprungs wird auch im Beispiel des Tänzers für den

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Vollzug des ersten Teils der Doppelbewegung verwendet, den es durch den Glauben in Gang zu verwandeln gilt.

2 Disharmonie und die Nichtung ihrer Möglichkeit: Die Krankheit zum Tode Ziel dieses zweiten Kapitels zu Kierkegaard ist die Analyse des ersten Abschnitts der Krankheit zum Tode383 (1849; Sygdommen til Døden) mit dem Titel ›Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung‹, eine Beschreibung des Phänomens der Verzweiflung384 als den Gestalten des misslingenden Lebens385 sowie der Idee gelingenden Lebens als Nichtung der Möglichkeit seines Misslingens in jedem Augenblick. Der Text führt an genau einer Stelle die Begriffe Verzweiflung und Disharmonie, die deutsche Übersetzung des Begriffs des Absurden, eng, benutzt darüber hinaus jedoch den Begriff des Absurden wie in Furcht und Zittern und den Begriff Verzweiflung für die Allgegenwart der Krankheit des Geistes. Der Text besteht aus Vorwort, Einführung und drei Teilen, ›Ver­ zweiflung als Krankheit zum Tode‹ (A), ›Die Allgemeinheit dieser Krankheit‹ (B) sowie ›Die Formen dieser Krankheit‹ (C), wobei der lange dritte Teil das Phänomen der Verzweiflung zunächst syn­ thesetheoretisch und dann nach Grad des Bewusstseins beschreibt. Kierkegaard nennt in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller die Anti-Climacus-Schrift zwar pseudonym, jedoch direkt (vgl. ÜW 6), so dass die Analyse mit dem späten Kierkegaard hier direkter von der Position Kierkegaards sprechen kann. Eine Übersicht über die Forschung bietet Viertbauer (2017) 79. Kierkegaard bietet kein Modell gelingenden Lebens, sondern eine Beschreibung von Fehlformen (vgl. A. Pieper (2000) 106). Theunissen interpretiert die Krankheit zum Tode als Kierkegaards Entwurf einer zweiten, negativen Ethik (vgl. Theunissen (1982) 126, Theunissen (1996) 21 f.). Gegen die These einer rein negativen zweiten Ethik führt Grøn, mit Kierkegaard, den Begriff der Nächstenliebe an (vgl. Grøn (1994) 50). Die negativistische Position würde entgegnen, dass auch dieser Begriff in der Welt verkehrt worden sei. Zur These der generellen Unmöglichkeit einer zweiten Ethik vgl. Schwab (2014) 99. 385 Gemäß einer quasi-transzendentalphilosophischen Lesart fragt das Werk von den Gestalten der Verzweiflung her nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit (vgl. Theunissen (1991a) 26, vgl. dazu auch H. Schulz (2014) 21). 383

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2.1 Standpunkt: Vorwort und Einführung Kierkegaard beginnt sein Hauptwerk im Vorwort mit einer Bemer­ kung zur Form im Spannungsfeld zwischen »streng wissenschaftlich« (KT 25) und »erbaulich« (KT 25). Dem Einwand, die Schrift sei zu wissenschaftlich, entgegnet er, dass »christlich« (KT 25) alles der Erbauung dienen sollte, und wenn es dies faktisch nicht tue, sei es unchristlich. Gegenüber dem Einwand, das Werk sei zu erbaulich, also nicht wissenschaftlich genug, enthält er sich (vgl. KT 25). Damit ist das Erbauliche als christliche Absicht der Schrift benannt. »Alles Christliche muss in der Darstellung Ähnlichkeit mit den Ausführungen des Arztes am Krankenbett haben« (KT 25). Mit dieser Analogie führt Kierkegaard den zentralen und titelgebenden Negativ­ begriff der ›Krankheit‹ ein, um den Zustand desjenigen zu skizzieren, an den sich das Werk richtet. Die Metaphorik des Arztes besagt: Der christliche Fachmann adressiert den sich in einem Negativzustand befindenden Patienten386, dessen Zustand, so die normative Implika­ tion, überwunden werden sollte. Die Untersuchung ist in dem Sinne ethisch, dass sie dem Thema nicht wissenschaftlich »gleichgültig« (KT 25) gegenübersteht. Es steht viel auf dem Spiel. Darauf skizziert der Text knapp eine Konzeption gelingenden Lebens als Gegenentwurf zur Metaphorik des Kranken: »[...] und wahrlich kommt es vielleicht selten genug vor, dass einer ganz er selbst zu sein wagt, dieser bestimmte einzelne Mensch vor Gott, allein mit dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortung« (KT 25).387 Das Leben gelingt im Wagnis, man selbst zu sein, wobei dieses umgehend definiert wird als dieser bestimmte Mensch, der man ist, vor Gott zu sein. Gelingen ist selten und unfassbar anstrengend. Der Begriff Verantwortung bezieht sich hier, parallel zur Anstrengung, auf das allein vor Gott sein. Zentral für gelingendes Leben ist das Gottesverhältnis. Der Mensch ist ein Einzelner, ein bestimmter. Das Werk zielt auf die erste, nicht auf die dritte Person Singular. Kierkegaard führt nun die Schlüsselbegriffe ›Leben‹, ›Wirklich­ keit‹ und ›Persönlichkeit‹ eng (vgl. KT 26). Das Selbstsein des bestimmten einzelnen Menschen ist die Wirklichkeit, die die Unter­ Lateinisch: der Leidende. Söderquist schlägt mit Pattison (1997) die offene Interpretation des ›vor Gott‹ als regulatives Prinzip vor (vgl. Söderquist (2015) 92), die jedoch über die Textgrund­ lage hinausreicht. 386

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suchung zum Gegenstand hat. ›Ernst‹ ist definiert als Verhältnis zu dieser Wirklichkeit. Demgegenüber ist die objektiv-abstrakte Wis­ senschaft in diesem Sinne nicht ernst zu nehmen. Sie verfehlt den Menschen. Schon im Vorwort führt Kierkegaard also im Rahmen von Bemerkungen über die Form auf zwei Seiten die zentralen Begriffe und Figuren der Konzeption ein: Er adressiert ein Misslingen als Lei­ den, das auf ein Gelingen ein Selbstsein des konkreten Einzelnen als Gottesverhältnis hin überwunden werden soll, wobei das Christliche den normativen Maßstab dieses Gesollten bietet. Kierkegaard beginnt die auf das Vorwort folgende Einführung mit einer Interpretation der biblischen Lazaruserzählung aus dem Johannesevangelium, die der Schrift ihren Namen gibt: »›Diese Krankheit ist nicht zum Tode‹ (Joh. 11,4). Und doch stirbt Lazarus« (KT 27). Lazarus stirbt und Jesus erweckt ihn von den Toten. Aber, so Kierkegaard, auch wenn Jesus ihn nicht erweckt hätte, wäre diese Krankheit nicht die Krankheit zum Tode, und auch dass Lazarus von den Toten aufweckt worden sei, helfe ihm allein nicht, da er am Ende doch sterben müsse (vgl. KT 27). »Nein, nicht weil Lazarus von den Toten auferweckt wurde, nicht darum kann man sagen, dass diese Krankheit nicht zum Tode ist; sondern weil Er da ist, darum ist diese Krankheit nicht zum Tode« (KT 27, Hervorhebung SK). Weil Jesus gegenwärtig ist, so die Interpretation, ist diese, die Krankheit des Lazarus, nicht die Krankheit zum Tode, unabhängig davon, ob Lazarus lebt oder stirbt. Die Krankheit zum Tode ist also eine andere – das ist die Pointe der Interpretation. Kierkegaard stellt darauf die Begriffe ›menschlich‹ und ›christlich‹ gegenüber: Menschlich sei der Tod das Ende und die Hoffnung an das Leben gebunden, »christlich verstanden« (KT 28) sei der Tod nur eine kleine Begebenheit im allumfassenden ewigen Leben, und im Tod sei unendlich viel mehr Hoffnung als in dem, was wir Leben in »vollster Gesundheit und Kraft« (KT 28) nennen. Der Text verknüpft also die Begriffe ›Hoffnung‹ und ›Ewigkeit‹ mit seiner Konzeption des gelingenden Lebens, den Begriff ›Gesundheit‹ im Sinne von Vitalität aber genau nicht. Gesundheit in letzterem Sinne wird zur Kleinigkeit gegenüber dem Ewigen. Alles »irdische und zeitliche Leiden […] Not, Krankheit, Elend […] Seelenqualen, Sorge [ist], christlich verstanden, nicht die Krank­ heit zum Tode« (KT 28), auch wenn wir sagen würden, es sei schlim­ mer als der Tod (vgl. KT 28). Die Krankheit, an der der Patient im Krankenbett leidet, ist kein rein immanentes Leiden.

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Aber da hat das Christentum wieder ein Elend entdeckt, von dem der Mensch als solcher nichts weiß; dieses Elend ist die Krankheit zum Tode. Was der natürliche Mensch als das Grausige bezeichnet – wenn er so alles aufgezählt hat und nichts mehr zu nennen weiß: das ist für den Christen wie ein Scherz. Dergestalt ist das Verhältnis zwischen dem natürlichen Menschen und dem Christen; es ist wie das Verhältnis zwischen einem Kinde und einem Manne: wovor dem Kind graust, das sieht der Mann für ein nichts an. Das Kind weiß nicht, was das Ent­ setzliche ist; das weiß der Mann und davor graust es ihm. Die Unvoll­ kommenheit des Kindes besteht zunächst darin, dass es das Furchtbare nicht kennt; und daraus folgt wieder, dass es sich vor etwas fürchtet, was nicht entsetzlich ist. Und so auch der natürliche Mensch, er ist unwissend, was in Wahrheit das Entsetzliche ist; dennoch ist er nicht frei von Furcht, nein, er fürchtet sich vor dem, was nicht das entsetzliche ist (KT 28 f.).

Kierkegaard macht eine Analogie zwischen Erwachsenem und Kind, dem Christen und dem, wie er ihn nun nennt, ›natürlichen‹ Men­ schen: Das innerweltliche Leiden, dem Leben »in vollster Gesundheit und Kraft« (KT 28) entgegensteht oder es bedroht, ist kindisch im Ver­ gleich zu dem Leiden an der Krankheit zum Tode, das das Christentum »entdeckt« (KT 28) hat. Aus dessen Sicht bewegt sich das alltägliche Leben mit seinen Sorgen und Nöten auf der Ebene eines Spaßes oder Spiels als Gegenbegriff zum Ernst. Was uns in der Welt bedrohen kann ist also nicht das eigentlich Bedrohliche, das über Misslingen und Gelingen entscheidet. Kierkegaard fügt eine Analogie zwischen dem natürlichen Men­ schen und dem Heiden erläuternd hin zu. Gleich dem Heiden kennt jener nicht nur nicht den wahren Gott, sondern verehrt den falschen (vgl. KT 29). Damit baut der Autor eine Grundkonfiguration der Verkehrung weiter aus, die schon mit dem Begriff des Lebens als Vitalität eingeführt wurde. Der sogenannte normale Mensch lebt im Zustand der Verkehrung, er fürchtet Falsches und strebt nach Falschem. Die Begriffe Misslingen und Gelingen sind bei ihm falsch besetzt, wie im Fall des Heiden, dessen Leben in der Überzeugung, es gelinge, auf diese Weise misslingt. Mit dieser Analogie führt Kierkegaard aber auch den Begriff des ›Heiden‹ als Gegenbegriff zum Christen und damit die Christen-Heiden-Dichotomie analog zur Gelingen-Misslingen-Unterscheidung ein. Das Christliche ist hier genau nicht Chiffre für eine beliebige normativ-religiöse Sphäre, sonst gäbe es den Heidenbegriff nicht.

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Nur der Christ wisse, was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen sei, und er sei in der Welt mutiger geworden, da er die Furcht vor Entsetzlicherem, vor dem Entsetzlichsten, kennengelernt habe (vgl. KT 29). Die Krankheit zum Tode, so die Überschrift des folgenden ersten Hauptabschnitts, ist die Verzweiflung. Der Christ ist »fast« (KT 28) hochmütig gegenüber dem Alltagsmenschen – aber er ist es nicht. In der Einführung erläutert Kierkegaard also, dass das Negative, das Leiden dessen, den die Schrift adressiert, nicht innerweltliches Leiden ist, so schlimm dieses auch aus innerweltlicher Perspektive sein möge, sondern vom Christentum entdeckt wurde. Den nach einem gesunden und ›glücklichen‹ innerweltlichen Leben strebenden natürlichen Menschen und den Heiden stellt Kierkegaard dabei als in einer ideologischen Verkehrung zur eigentlichen Konzeption des gelingenden Lebens dar. Der Begriff des Christlichen fällt in Vorwort und Einführung – in verschiedenen Wortarten und Formen – auf fünf Seiten insgesamt 34 Mal. Dazu kommen noch weitere explizit christ­ lich-religiöse Begriffe vor wie ›Gott‹, ›Hoffnung‹, ›ewiges Leben‹, ›Christus‹ u.a. sowie der Begriff des Heiden als Gegenbegriff. Das normativ Gesollte der Konzeption des gelingenden Lebens ist explizit ein ethisch-religiös Christliches. Die der Konzeption zu Grunde liegende normative Bezugssphäre, der Referenzrahmen, ist eindeutig und mit Begriffen besetzt, für die es hier keine Alternativen oder Äquivalente gibt. Kierkegaard geht dabei davon aus, dass »christliche Erkenntnis« (KT 25), »christlich genommen« (KT 25), »christlich« (KT 26), »christlich verstanden« (KT 28), »für den Christen« (KT 28) zugleich wissenschaftlich ist, und sogar genau in dem Sinn, dass Wissenschaft im eigentlichen Sinne den konkreten Menschen388 und das Leben zum Gegenstand haben soll. Der konkrete Mensch ist nur christlich verstanden richtig verstanden. ›Das Christliche‹ und ›wah­ res Wissen‹ sind keine gegensätzlichen Begriffe, da das Christliche das Wahre und letztlich absoluter normativer Maßstab für die Diagnose der Verkehrung sind. Es bietet den Standpunkt der Untersuchung.389

388 Nach Adorno scheitert Kierkegaard an diesem eigenen Anspruch (vgl. Adorno, KdÄ 308). 389 Das Werk ist für eine offenere Deutung wenig fruchtbar (vgl. Schwab (2012) 568 f.).

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2.2 Verzweiflung als Krankheit zum Tode (A) Ziel des folgenden Kapitels ist die Analyse des ersten Teils ›A‹ des ersten Abschnitts der Krankheit zum Tode. Die Analyse folgt dabei der Gliederung des Textes in drei Teile: Sie analysiert zunächst die berühmte Anfangspassage des Werks zum Menschen als Selbstver­ hältnis und den Formen der Krankheit, darauf die Unterkapitel zu Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung und zur Verzweiflung als Krankheit zum Tode.

2.2.1 Selbst und Verhältnis – Formen der Krankheit Die Anfangspassage390 der Krankheit zum Tode versieht Kierkegaard mit folgender Überschrift: »Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: dass der menschliche Geist sich in der Verzweiflung nicht bewusst ist, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); dass er verzweifelt nicht er selbst sein will, dass er verzweifelt er selbst sein will«391 (KT 31). Die Untersuchung beginnt mit einer Antwort auf die Frage392 ›Was ist der Mensch?‹ welche nach Kant393 alle Fragen der Philoso­ phie einschließt: Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst?394 Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich

Das Werk ist methodisch entweder deduktiv-dogmatisch oder negativistisch (vgl. Theunissen (1991a) 24 f.). In seiner negativistischen Interpretation vertritt Theunis­ sen die These, das Werk beginne mit der Darstellung der Ergebnisse (vgl. Theunissen (1991a) 24, Theunissen (1991d) 353). Sein Begriff der ›Verifikation‹ dieses Ergebnisses (Theunissen 1991a 16) bleibtdabei unklar. 391 »Fortvivlelse er en Sygdom i Aanden, i Selvet, og kan saaledes være et Tredobbelt: fortvivlet ikke at være sig bevidst at have et Selv (uegentlig Fortvivlelse); fortvivlet ikke at ville være sig selv; fortvivlet at ville være sig selv.« (SKS 11, 129), wörtlich: Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen. 392 Wesche sieht die Krankheit zum Tode als das Hauptwerk Kierkegaards in der phi­ losophischen Tradition der Frage nach dem guten Leben (vgl. Wesche (2003) 30 f.). 393 Vgl. Kant, Logik 448. 394 Der Begriff des Selbst wird nun durch die Analyse des Negativen, d.h. der Verzweiflung, eingeholt (vgl. Theunissen (1996) 14). 390

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selbst verhält395, oder ist das im Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält (KT 31, Hervorhebung JA).

Die Antwort ist zunächst der Begriff ›Geist‹, ein Kernbegriff des Idealismus, den er aber sofort auf den für ihn zentralen Begriff des ›Selbst‹ bringt. Dieser Begriff ist nun doppelt bestimmt: Zunächst als ein Verhältnis oder eine Synthese, dann als genau nicht eben dieses Verhältnis, sondern als das Verhalten des Verhältnisses396 zu397 sich selbst – dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.398 Dieses ›dass‹ ist der Kern der Sache.399 Der Mensch wird wesenhaft als Selbstverhältnis400, als Sich-zu-sich-Verhalten401 bestimmt: ›Ich verhalte mich zu mir. Dass ich mich zu mir verhalte, macht mich aus‹.402 Das Selbstverhältnis ist damit keine Eigenschaft des Men­ schen. Grammatisch liegt eine reflexive Struktur vor, in der der Mensch sowohl Subjekt als auch Objekt des Prozesses ist, Begriffe, die Kierkegaard augenscheinlich bewusst vermeidet. Das »oder« (KT 31) scheint zunächst die Aussage ›Das Selbst ist ein Verhältnis‹ lediglich zu präzisieren, ist aber bei genauerer Analyse 395 Den Menschen als Existenz, als Sich-zu-sich-Verhalten, aufzufassen ist nach Theunissen die »originäre Leistung« (Theunissen 1979 497) Kierkegaards, der Weg aus dem Idealismus. Theunissen schlägt als ›Korrektur an Kierkegaard‹ eine begriffli­ che Unterscheidung zwischen selbst und Selbst bei Kierkegaard, zwischen Begabung und (Lebens-)Geschichte auf der einen und dem großgeschriebenen Selbst als reiner Prozessualität auf der anderen Seite vor, wobei Kierkegaard selbst diese begriffliche Unterscheidung nicht konsequent durchhalte (vgl. Theunissen (1993) 22). 396 Hoffmanns Interpretation des Menschen als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält (vgl. Hoffmann (2011) 339) lässt an dieser Stelle den letzten Schritt Kierkegaards aus. 397 Figals Plädoyer für ein ›in‹ anstelle des ›zu‹ (vgl. Figal (1984) 12) geht hier über den Text hinaus. 398 Viertbauer sieht hier einen infiniten Regress angelegt (vgl. Viertbauer (2017) 80). 399 Theunissen zeigt, wie Kierkegaard zwei Mal präzisiert, um zu diesem Ergebnis zu gelangen (vgl. Theunissen (1979) 498). 400 W. Schulz nennt das Bild des Menschen als Selbstverhältnis ein dem Naturalis­ mus entgegenstehendes dialektisches Menschenbild (vgl. W. Schulz (1975b) 325). A. Pieper interpretiert es als Gegenposition zu einer abstrakt-metaphysischen Wesens­ bestimmung, die den Einzelnen als ihre empirische Konkretion auffasst (vgl. A. Pieper (2000) 49, 59). 401 Dies ist nach Rasmussen der Kern des Personenbegriffs. Ihm gegenüber sei etwa das neurowissenschaftliche Menschenbild ein Typ des Nihilismus (vgl. Rasmussen (2017) 203 ff., 211). 402 Der Mensch verhält sich nicht einfach. Sein anthropologisches Charakteristikum ist das Selbstreflexive (vgl. Söderquist (2015) 85).

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wörtlich zu nehmen: ›Das Selbst ist ein Verhältnis‹ oder ›das Selbst ist nicht das Verhältnis [,sondern …]‹. Es kann also auf zwei Weisen sein. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen Zweien. So betrachtet, ist der Mensch noch kein Selbst. Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis das dritte als negative Einheit, und die Zwei verhalten sich zum Verhältnis und im Verhältnis zum Verhältnis; dergestalt ist unter der Bestimmung Seele das Verhält­ nis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis (KT 31).

Der Text präzisiert nun: Nicht das Selbst, sondern der Mensch kann auf zwei Weisen sein. Der Mensch ist wesentlich Geist und damit Selbst, aber es gibt eine Weise des Menschseins, in der er »noch« (KT 31) kein Selbst ist, sondern lediglich Verhältnis zwischen zwei Synthesegliedern als negative Einheit.403 Er kann Selbst sein oder noch kein Selbst sein. Die erste Weise ist damit normativ privilegiert als ein ›Sein, wer er ist‹, die zweite Weise ein Noch-nicht-erreichtHaben oder Zurückbleiben hinter jener. Als das Dritte, als negative Einheit, ist der Mensch Synthese von Gegensätzen, etwa klassisch vom Verhältnis Leib und Seele, bei Kierkegaard aber in erster Linie von Unendlichkeit und Endlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Freiheit und Notwendigkeit. Der Mensch lediglich als Synthese ist jedoch, wie gesagt, noch kein Selbst. »Verhält sich hingegen das Verhältnis zu sich selbst, so ist dieses Verhä1tnis das positive Dritte. Und dies ist das Selbst« (KT 31). Der Mensch ist also keines der Syntheseglieder absolut, weder Leib noch Seele, aber auch als Synthese dieser Gegensätze ist er noch kein Selbst. Das Selbst ist, dass sich die Synthese noch einmal zu sich verhält. Das ist das positive Dritte.404 Kierkegaard bewegt sich also eine Ebene über der Betrachtung des Menschen als lediglich Synthese und zwei Reflexionsebenen über dem Streit, ob der Mensch nun (nur) Leib oder (nur) Seele sei. Er ist entweder das negative Dritte der

403 Als negative Einheit befindet sich der Mensch im Jetztpunkt zwischen Vergan­ genheit und Zukunft (vgl. Theunissen (1979) 501) und schwankt dort »haltlos« (Theunissen (1979) 506). 404 Als das positive Dritte lebt er dagegen in der eigentlichen Gegenwart (vgl. Theunissen (1979) 502).

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Syntheseglieder, oder er ist als dieses dass405 das positive Dritte, und damit er selbst.406 »Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt sein« (KT 31). Kierkegaard benennt nun zwei traditionelle Grundalternativen: Das Selbst muss sich selbst gesetzt haben (causa sui), oder durch ein Anderes (Gott), gesetzt und damit Geschöpf und abhängig sein. Dahinter steht die Prämisse, dass das faktisch exis­ tierende Selbstverhältnis überhaupt gesetzt sein muss. Man könnte hier nachfragen, ob diese Prämisse nicht im weitesten Sinne eine Kausalannahme impliziert und damit noch hinter die kantische Tran­ szendentalphilosophie zurückfällt. Die Notwendigkeit des ›gesetzt‹ scheint nicht evident.407 »Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, so ist das Verhältnis zwar das Dritte, aber dieses Verhältnis, das Dritte, ist so doch wieder ein Verhältnis, welches sich zu dem verhält, was das ganze Verhältnis gesetzt hat« (KT 31 f.). Folgt man jedoch Kierkegaards Grundunterscheidung und versteht das Selbst als gesetzt durch ein Anderes, dann steht das Sich-zu-sichVerhalten – dass das Verhältnis sich zu selbst verhält als das positive Dritte – in einem Verhältnis zu diesem Anderen, das das ganze Ver­ hältnis gesetzt hat, und verhält sich zu diesem. Es gibt demnach vier Ebenen: Gegensätzliche Syntheseglieder, Synthese bzw. Verhältnis, Selbstverhältnis und Selbstverhältnis zum Anderen. Ein so abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und indem es sich zu 405 Der Mensch wird nicht nur mehr als traditioneller Gegensatz von Leib und Seele aufgefasst, sondern als Existenz mit gegensätzlichen zeitlichen Begriffen (Freiheit, Möglichkeit, Zukunft gegenüber Notwendigkeit, Faktizität, Vergangenheit), die es zusammenzubringen gilt. »Das Selbst, das die Syntheseglieder synthetisiert, ist das Verhalten des Verhältnisses zu sich selbst« (Theunissen / Greve (1979) 46). Bei Kierkegaard findet sich somit die »Urgestalt« (Theunissen (1991d) 348) der später rezipierten Spannung von Geworfenheit und Entwurf bei Heidegger bzw. Faktizität und Transzendenz bei Sartre (vgl. Theunissen (1991a) 43). 406 Kierkegaards Begriff der Synthesis hat nach Wesche hier die Bedeutung der Einheit von Gegensätzen und sei damit gleichbedeutend mit Dialektik (vgl. Wesche (2003) 88). 407 Kierkegaards Existenzbegriff ist nach Ricœur eine Antwort auf das kantische Problem, dass Praktische Philosophie nach dem Modell apriorischer Erkenntnis der theoretischen Philosophie scheitert, und Kierkegaard gehöre damit der ›Rückkehr zu Kant‹-Bewegung an (vgl. Ricœur (1979) 587 f.).

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sich selbst verhält, sich zu einem Anderen verhält. Daher kommt es, dass es zwei Formen der eigentlichen Verzweiflung geben kann. Hätte das Selbst des Menschen sich selbst gesetzt, so könnte nur von einer Form die Rede sein, nicht es selbst sein zu wollen, sich selbst los sein zu wollen; aber es könnte nicht davon die Rede sein verzweifelt es selbst sein zu wollen; Diese Formel ist nämlich Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst), der Ausdruck dafür, dass das Selbst nicht durch sich selbst in Gleichgewicht und Ruhe kommen oder sein kann, sondern nur dadurch, dass es, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu dem verhält, was das ganze Verhältnis gesetzt hat (KT 32, Hervorhebung JA).

Kierkegaard führt nun die These an, der Mensch sei ein derart gesetz­ tes Verhältnis, das also noch einmal in einem Verhältnis zu408 einem Anderen stehe. Das Leben gelingt als ein Verhältnis zu sich selbst und damit zugleich zum Anderen, weil das Verhältnis (immer schon) als gesetzt verstanden wird.409 Daher könne es zwei Formen410 eigent­ licher Verzweiflung geben.411 Die Begründung, falls dieser Begriff angebracht ist, lautet nun, dass anderenfalls, also im causa sui-Fall, nur von einer Form »die Rede sein« »könnte«. Schlüsselbegriff ist damit dieser Begriff der Rede, der aber im Weiteren unbestimmt bleibt. Kierkegaard geht offenbar davon aus, dass von zwei Formen die Rede ist. Bis hierher scheint jeder Aufweis dieser beiden Formen zirkulär zu sein, da der Aufweis zweier Formen als Begründung wiederum das Gesetztsein als das zu Begründende voraussetzt.412 Der argumentative Schritt scheint nun in dem Verweis darauf zu liegen, »dass das Selbst nicht durch sich selbst in Gleichgewicht und Ruhe kommen kann« (KT 31). Dahinter steht zum einen die Auch dieses zweite ›zu‹ wird von Figal problematisiert (vgl. Figal (1984) 13). Kierkegaard, so Theunissen / Greve, vereinige hier die Hauptströmungen des Idealismus: Der Mensch ist mit Hegel Synthese von Gegensätzen, mit Fichte reines Selbstverhältnis dieser Synthese, welche aber mit Schelling dennoch als gesetzt verstanden werde (vgl. Theunissen / Greve (1979) 22). 410 Theunissen selbst bezeichnet den Ausgang von zwei Formen der Verzweiflung als »Prämisse« (Theunissen (1991d) 353) Kierkegaards – als die einzige, die man von Vornherein teilen müsse. 411 Nach Viertbauer bietet Kierkegaard hier in der Ablehnung des Selbstbezugs als Tathandlung nach Fichte mit Frank gesprochen einen Ausweg aus dem Idealismus (vgl. Viertbauer (2017) 86, vgl. dazu Frank (2007) 415 ff.). 412 Die Arbeit teilt an dieser Stelle nicht die These H. Schulz’, der Aufweis zweier Verzweiflungsformen sei an dieser Stelle »rein phänomenologisch« (H. Schulz (2014) 20 Fußnote 34). 408

409

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deskriptive Annahme, dass dies in der Tat so ist, zum anderen aber die normative Annahme, dass Gleichgewicht und Ruhe ein Sein-Sollendes ist, das auch erreichbar ist. Kierkegaard geht also davon aus, dass sich der Mensch in der Welt in einem Negativzustand des Ungleichgewichts und der Unruhe befindet, dass er diesen nicht selbst überwinden kann und dass wir den Menschen, weil dieser Zustand überwunden werden soll, als gesetzt annehmen müssen. Der Mensch scheitert daran, etwas ohne Gott realisieren zu wollen. Daraus schließt der Autor scheinbar auf das Gesetztsein durch Gott. Logisch impliziert er damit normative Prämissen eines Sein-Sollen­ den und Realisierbaren, die nicht weiter begründet werden. Kierke­ gaard scheint vom Faktum eines Negativen auf Gott zu schließen. Argumentationslogisch wäre dies je nach konkreter Formulierung des Arguments ein naturalistischer Fehlschluss oder ein Zirkelschluss. Der Vorwurf eines Fehlers in der Argumentation kann hier nur mit dem Verweis auf einen übergreifenden Horizont der Untersuchung entkräftet werden.413 Die Geschöpflichkeit414 des Menschen und die prinzipielle Überwindbarkeit von Unruhe und Ungleichgewicht durch ein Gottesverhältnis stehen für Kierkegaard außer Frage.415 Nimmt man den Menschen als gesetzt an, dann bedeutet Selbstverhältnis immer auch Verhältnis zu einem Anderen.416 Dass wir etwas ohne Gott realisieren wollen und nicht lediglich nicht wir selbst sein wollen, nimmt Kierkegaard als gegeben an.417 Die darauf folgende These ist, dass alle Form der Verzweiflung auf diese Form des ›Verzweifeltman-selbst-sein-wollens‹ zurückgeführt werden kann (vgl. KT 32). Kierkegaard gibt dafür ein Beispiel, das er mit einem »Wenn« (KT 32) einleitet, das also die Sache nicht begründet, sondern anschaulich macht. Wenn ein Verzweifelter »mit aller Macht durch sich selbst 413 Zur Zurückweisung des Vorwurfs eines sogenannten naturalistischen Fehlschlus­ ses bei Kierkegaard vgl. Hühn (2009) 222 ff. 414 Wenn Deuser mit Schäfer argumentiert, Kierkegaard habe philosophisch auf dem Feld der Ontologie gearbeitet (vgl. Deuser (1985) 3, vgl. dazu Schäfer (1971) 428 ff.), so ist auch dieser Begriff von Ontologie letztlich theologisch gedacht. 415 Kierkegaards Deutung des Verzweiflungsphänomens, so Grøn, setze das Chris­ tentum voraus (vgl. Grøn (1994) 37). 416 Das Andere ist bei Kierkegaard »sprachlich doppeldeutig Grund des Selbst« (Viertbauer (2017) 97). 417 Wenn dies die Begründung für Gott ist, so ist in ihr Gott doch immer schon vorausgesetzt. Bettet man sie nicht in ein Paradigma ein, dann ist sie logisch zirkulär, tut man es, dann könnte man sie mit Theunissen hermeneutisch zirkulär nennen (vgl. dazu Theunissen (1991a) 28).

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und einzig durch sich selbst die Verzweiflung heben will: dann […] arbeitet [er] sich […] nur desto tiefer in eine tiefere Verzweiflung« (KT 32). Der Versuch, das Negative allein überwinden zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Kierkegaard wird aber nicht nur mit dem Scheitern der Überwin­ dung des Negativen das Gottesverhältnis, sondern auch umgekehrt mit dem Gottesverhältnis die Negativität des Negativen rechtfertigen, auch wenn es nicht als solches erlebt wird. In diesem Punkt ist die Konzeption logisch zirkulär, und setzt schlicht und einfach den festen christlichen Standpunkt als normativen Maßstab voraus. »Das Miss­ verhältnis der Verzweiflung ist nicht ein einfaches Missverhältnis, sondern ein Missverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und von einem Andern gesetzt ist, [...]« (KT 33). Verzweiflung ist ein falsches Sich-Verhalten eines Sich-zu-sich-Verhaltens, das sich zu einem Anderen verhält. Dieses Falsche reflektiere sich »zugleich unendlich« (KT 33) in der Macht418, die es gesetzt habe.419 Im letzten Absatz beschreibt Kierkegaard den Zustand des Nichtverzweifelt-Seins: »Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist: im Sich-Verhalten-zu-sich-selbst und im Es-Selbst-sein-Wollen gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte« (KT 33). Damit werden die neuen Begriffe der ›Durchsichtigkeit‹ und des ›Sich-Grün­ den (in Gott)‹ als Gegenbegriff zum Sich-Missverstehen und Sichselbst-schaffen-Wollen nach der causa sui Struktur eingeführt.420 Es gilt festzuhalten: Kierkegaard versteht den Menschen als Selbstverhältnis im Verhältnis zu einem Anderen, das das Verhältnis gesetzt hat. Der Struktur nach gelingt das Leben als Verhältnis zu sich Selbst und damit zugleich zu einem Anderen, genau weil das wahre menschliche Selbst immer schon als durch dieses Andere gesetzt verstanden wird. Insofern der Mensch lediglich Verhältnis und noch nicht Selbstverhältnis ist, ist er Mensch, aber noch nicht er selbst. Die Entscheidung Kierkegaards für das Gesetztsein und die Möglichkeit 418 Wesches Deutung, Kierkegaard wolle hier bewusst theologische Implikationen ausschließen (vgl. Wesche (2003) 93), überzeugt letztlich im Gesamtkontext des Werks nicht. 419 Zur Anschlussfähigkeit des Verzweiflungsbegriffs an den Entfremdungsbegriff vgl. Stewart (2019) 203 ff. 420 Das Leben gelingt also, indem der Einzelne sich selbst als einem christlichen Gott gegenüber erkennt. Selbstverhältnis und Gottesverhältnis fallen zusammen (vgl. Theunissen / Greve (1979) 16).

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und Wirklichkeit von, neben der uneigentlichen Verzweiflung, zwei Formen eigentlicher Verzweiflung und ihrer Überwindung basiert dabei auf normativen Voraussetzungen, die letztlich nur im Horizont eines die Konzeption übergreifenden christlichen Paradigmas ›argu­ mentativ‹ zu rechtfertigen sind. Dieser Maßstab ist hier implizit immer schon vorausgesetzt, in Vorwort und Einführung auch explizit benannt. Logisch bleibt die Möglichkeit offen, dass, wenn der Mensch nicht gesetzt, causa sui, ist, ›man selbst sein wollen‹ nicht Verzweif­ lung, Ruhe und Gleichgewicht aber unerreichbar sind, und man selbst stetig am Abgrund ohne festen Halt ausbalancieren muss. Leben wäre dann Scheitern. Für Kierkegaard ist das keine Option. Der Gedan­ kengang hat hier eine Nicht-Sondern-Struktur: Das Leben gelingt nicht als eines der Syntheseglieder, nicht als negative Einheit und nicht als causa sui, sondern als Selbstverhältnis im Gottesverhält­ nis.421 Die Konzeption des Gelingens wird stufenweise gegen Kon­ zeptionen des Misslingens konkretisiert.

2.2.2 Möglichkeit und Wirklichkeit Im Anschluss an die Bestimmung des Menschen als Selbst in einem Verhältnis zum Anderen und den daraus resultierenden Gestalten der Verzweiflung fragt der Text im folgenden Schritt nach dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit. Das zweite Unterkapitel des ersten Kapitels des ersten Abschnitts beginnt Kierkegaard mit der Frage, ob Verzweiflung Vorzug oder Mangel sei. Die scheinbar paradoxe Antwort, dialektisch sei sie beides, wird dadurch aufgelöst, dass die Möglichkeit der Verzweiflung Vorzug, ihre Wirklichkeit jedoch Elend sei (vgl. KT 33). Da es besser ist, verzweifelt sein zu können als es tatsächlich zu sein, steht hier bemerkenswerterweise die Möglichkeit höher als ihre Verwirklichung (vgl. KT 34). Erläuternd differenziert Kierkegaard hier zwischen Mensch als Geist und Tier sowie »natürlichem Menschen« (KT 33) und Christ. Die Möglichkeit der Verzweiflung sei der eigentliche Unterschied (Vorzug) zwischen Mensch und Tier, viel bedeutender als der auf­ rechte Gang. Der Vorzug des Christen vor dem natürlichen Menschen 421 Das Gottesverhältnis ist hier »Urbeziehung der menschlichen Selbstfindung« (Hoffmann (2011) 341).

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sei nun, auf die Krankheit aufmerksam zu sein, seine Seligkeit, von ihr geheilt zu sein (vgl. KT 33). Die Differenz zwischen Christen und Nichtchristen ist also die Stufe des Bewusstseins und die Möglichkeit der Rettung. Der Standpunkt des Christlichen ist universal422, sein Maßstab absolut. Es steht für Kierkegaard außer Frage, dass die Idee gelingenden Lebens eines absoluten Maßstabs bedarf. Es ist nicht dasselbe, nicht verzweifelt zu sein, wie nicht lahm, blind und so weiter zu sein. Wenn nicht verzweifelt zu sein weder mehr noch weniger bedeutet als es nicht zu sein, so ist es gerade dies zu sein. Nicht verzweifelt zu sein muß die vernichtete Möglichkeit es zu sein bedeuten; wenn es wahr sein soll, dass ein Mensch nicht verzweifelt ist, muss er in jedem Augenblick, die Möglichkeit zunichte machen. So ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht. Denn wohl sagen die Denker, dass die Wirklichkeit die zunichte gemachte Möglichkeit sei, aber das ist nicht ganz wahr. Sie ist die erfüllte, die wirksame Möglichkeit. Hier dagegen ist die Wirk­ lichkeit (nicht verzweifelt zu sein), also sogar eine Verneinung, die ohnmächtige, zunichte gemachte Möglichkeit; sonst ist Wirklichkeit im Verhältnis zur Möglichkeit eine Bekräftigung, hier eine Verneinung (KT 34).

Kierkegaard vertritt in diesem nächsten Schritt demnach folgende These: Die Wirklichkeit, nicht verzweifelt zu sein, sei die Verneinung der Möglichkeit, es zu sein – als Gegenthese zu der These, die Wirk­ lichkeit der Verzweiflung sei die Verwirklichung der Möglichkeit, es zu sein. Er konzipiert die Idee des gelingenden Lebens als Vernei­ nung423 der Möglichkeit des Misslingens in jedem424 Augenblick.425 Dies ist der Kern426 der Interpretation von Kierkegaards Idee gelingenden Lebens als negativistischer Ethik.427 Das scheint erläuterungsbedürf­

Birkenstock schreibt, indem Kierkegaard hier auf den christlichen Glauben setze, gebe er den Anspruch auf Universalität auf (vgl. Birkenstock (1997) 282 ff.). Kierke­ gaard denkt dagegen jedoch das Christliche als universal. 423 Das Leben gelingt hier ausschließlich auf diese Weise (vgl. Theunissen (1982) 170). 424 Hier unterscheidet sich das Werk vom Frühwerk Entweder-Oder, nach dem die Wahl des Selbst nur ein Mal zu leisten sei (vgl. Theunissen (1996) 14). 425 Vgl. dazu A. Pieper (2000) 108. 426 Bemerkenswert ist hier der Hinweis Theunissens, dass der Christ als in diesem Sinne »Augenblicksexistenz« (Theunissen (1991d) 359) seine Herkunft aus dem Ästhetischen Stadium behält. 427 Vgl. dazu Theunissen (1991a) 54 f. 422

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tig.428 Entscheidend ist folgende Frage, so Kierkegaards eigenes Bei­ spiel: Warum ist Nicht-blind-Sein dann genau nicht die Verneinung der Möglichkeit, blind zu sein in jedem Augenblick? Das Beispiel scheint nur Sinn zu machen, wenn ›blind sein‹ als ›von Geburt an blind sein‹ meint, nicht etwa ein Verneinen der Möglichkeit, sich zu blenden in jedem Augenblick. Kierkegaard erläutert im folgenden Abschnitt: Verzweiflung ist das Missverhältnis im Verhältnis einer Synthese, das [Bezug: Verhältnis] sich zu sich selbst verhält. Aber die Synthese ist kein Missverhältnis, sie ist nur die Möglichkeit, oder in der Synthese liegt die Möglichkeit des Missverhältnisses. Wäre die Verzweiflung gar nicht da, so würde die Verzweiflung etwas sein, das in der Menschenna­ tur als solcher läge, das heißt, so wäre es keine Verzweiflung; sie würde etwas sein, das dem Menschen widerführe, etwas, woran er litte wie an einer Krankheit, die den Menschen befällt, oder wie der Tod, der das Los aller ist. Nein, das Verzweifeln liegt im Menschen selbst; wäre er aber keine Synthese, könnte er gar nicht verzweifeln, und wäre die Synthese nicht durch Gottes Hand ursprünglich im rechten Verhältnis, könnte er auch nicht verzweifeln (KT 34).

Als ein sich zu Gott verhaltendes Selbstverhältnis liegt die Möglich­ keit eines Missverhältnisses ursprünglich im Wesen des Menschen. ›Ursprünglich‹ ist hier offensichtlich aber der falsche Begriff, da sich die Synthese429 »ursprünglich« (KT 34) durch Gottes Hand im rechten Verhältnis befand. Die folgende Frage »Woher kommt also die Ver­ zweiflung« (KT 34) verspricht in ihrem ›also‹ Klärung: »›Woher kommt also die Verzweiflung!‹ Von dem Verhältnis, worin die Syn­ these sich zu sich selbst verhält, indem Gott, der den Menschen zum Verhältnis macht, ihn gleichsam aus seiner Hand entlässt [...] darin liegt die Verantwortung, unter der alle Verzweiflung in jedem Augen­ blick steht [...]« (KT 34 f.). Der Ursprung der Verzweiflung ist also das Gottesverhältnis des Selbstverhältnisses. Gott hat den Menschen als ein solches und dadurch als frei geschaffen. In der Freiheit bei gleich­ zeitiger Präsenz eines normativ Gesollten liegt also die Möglichkeit der Verzweiflung. Kierkegaard betrachtet diese Konstellation damit als ursprünglich negativ – ursprünglich im Sinne des »gleichsam« (KT In seinem Versuch, die Konzeption positiv zu formulieren, wählt Hannay selbst eine negative Formulierung: Nicht ein Mensch mehr sein wollen (vgl. Hannay (1994) 13). 429 Weil das Selbst Vergangenheit und Zukunft zusammenhälte und der Augenblick der Ort dieses Zusammenhaltens ist, fallen Selbst und Augenblick zusammen (vgl. Theunissen (1991d) 350). 428

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35). Gott gibt dem Menschen die Möglichkeit, verkehrt zu handeln. Daraus folgt für diesen eine, wie Kierkegaard sagt, Verantwortung in jedem Augenblick. Hinter der Konzeption stehen damit Prämissen von Geschöpflichkeit und Freiheit, in einer ursprünglich sündentheo­ logisch-negativen Perspektive, von der her gelingendes Leben Ver­ neinung eines Negativen bedeutet. Kierkegaard differenziert im Wei­ teren diese Verzweiflung als Krankheit des Geistes mit einem »Schwindel« (KT 35) als Krankheit der Seele, welcher ähnlich, jedoch qualitativ verschieden sei. Der Begriff der Seele wird hier nicht weiter erläutert, wurde jedoch zu Beginn als eines der Syntheseglieder, also auf unterster Ebene, eingeführt (vgl. KT 31). Wenn die Verzweiflung andauere, so Kierkegaard im nächsten Schritt, liege der Grund nicht im Missverhältnis, sondern im Selbst­ verhältnis, also im Menschen (vgl. KT 35). Im Gegensatz zur Krank­ heit, die man »sich einmal zuzog«, deren Ursprung »vergangen ist« (KT 35, Hervorhebung SK), ziehe sich der an der Krankheit des Geis­ tes leidende diese »jeden Augenblick, da er verzweifelt ist« (KT 36) zu. Die körperliche Krankheit resultiert aus der Verwirklichung einer Möglichkeit in der Vergangenheit, die Krankheit im Geist ist in jedem Augenblick Verwirklichung ihrer Möglichkeit. Kierkegaard erläutert: Das kommt daher, dass die Verzweiflung eine Bestimmung von Geist ist, sich zum Ewigen im Menschen verhält. Aber das Ewige kann er nicht verlieren, in alle Ewigkeit nicht; er kann es nicht ein für allemal von sich werfen, nichts ist unmöglicher; er muss in jedem Augenblick, in dem er es nicht hat, es fortgeworfen haben oder von sich werfen – aber es kommt zurück, das heißt jeden Augenblick, wenn er verzweifelt, zieht er sich die Verzweiflung zu. Denn die Verzweiflung folgt nicht aus dem Missverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Und um das Verhältnis zu sich selbst kann ein Mensch nicht kommen [...] (KT 36).

Der Grund verortet Kierkegaard also im Ewigen im Menschen, den er als Selbstverhältnis des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeitlichkeit (vgl. KT 31) und als gesetzt, als aus der Hand Gottes entlassen auffasst (vgl. KT 35). Aufgrund dieser theologischen Voraussetzungen430 gibt es also etwas im Menschen, dass er nicht loswerden kann, also jeden

430 Nach Sagi zeigt die a priori religiös gedachte ontologische Struktur des Selbst die wahre Bedeutung des Verzweiflungsbegriffs (vgl. Sagi (2000) 35 f.).

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Augenblick loswerden muss, sofern er denn verzweifelt ist.431 Dazu kommt, dass der Mensch dem Selbstverhältnis, der Freiheit, nicht ausweichen kann, gerade weil sie ihn ausmacht. Diese Konzeption, sich in jedem Augenblick, also stets in der »gegenwärtigen Zeit« (KT 36), für das Falsche entscheiden ist kohärent. Sie impliziert aber auch, dass der Mensch sich in jedem Augenblick hin zu einem gelingenden Leben ändern kann. Zusammenfassend gilt also: Die Möglichkeit der Verzweiflung als Krankheit im Geist unterscheidet den Menschen vom Tier, das Bewusstsein von ihr und die Möglichkeit des Nicht-verzweifelt-Seins den Christen vom ›natürlichen Menschen‹. Die Idee eines gelingen­ den Lebens in der Krankheit zum Tode ist gefasst als die Verneinung der Möglichkeit des misslingenden Lebens in jedem Augenblick. Das Leben misslingt als Missverhältnis des Selbstverhältnisses im Gottesverhältnis. Dabei dominiert eine negative Perspektive, der zufolge Gott den einzelnen Menschen als frei geschaffen und ihm dadurch in erster Linie die Möglichkeit, ein normativ Gesolltes zu verfehlen, eingeräumt hat. Als freies Geschöpf kann sich der Mensch nicht endgültig für das Falsche entscheiden, sondern muss dies in jedem Augenblick der Verzweiflung in der Gegenwart tun, worin aber auch die Möglichkeit liegt, im nächsten Augenblick das gelingende Leben zu realisieren. Die Konzeption ist kohärent im Lichte ihres theologischen Horizonts.

2.2.3 Verzweiflung ist die Krankheit zum Tode In der nun folgenden Analyse des dritten Unterkapitels des ersten Kapitels erläutert Kierkegaard den Begriff der ›Krankheit zum Tode‹ für die Verzweiflung. Christlich verstanden gebe es keine leibliche Krankheit zum Tode, da der Tod »ein Durchgang zum Leben« (KT 37) sei. Verzweif­ lung sei also in dem Sinn Krankheit zum Tode, dass der Tod das letzte sei, aber »noch bestimmter« (KT 37) in einem anderen Sinn: Krankheit zum Tode meine keine tödliche Krankheit. Man sterbe nicht an ihr. »Die Qual der Verzweiflung ist eben, nicht sterben zu können« (KT 37). Hannay fasst den Existenzbegriff als ein sich fragen können und müssen, wer man ist, gefolgt von einem Prozess der Deidentifikation und Dekonstruktion. Der Kern der Krankheit zum Tode ist, dass der Mensch sein wahres Selbst nicht loswerden kann (vgl. Hannay (1994) 18, 22). 431

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Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft man auf das Leben; wenn man aber die noch schrecklichere Gefahr kennenlernt, hofft man auf den Tod. Wenn also die Gefahr so groß ist, daß der Tod die Hoffnung geworden ist, dann ist die Verzweiflung die Hoffnungslosigkeit, nicht einmal sterben zu können. In dieser letzten Bedeutung ist nun Verzweiflung die Krankheit zum Tode, dieser qualvolle Widerspruch, diese Krankheit im Selbst, ewig zu sterben, zu sterben und doch nicht zu sterben, den Tod zu sterben. Denn sterben bedeutet, dass es vorbei ist, aber den Tod zu sterben bedeutet, dass man das Sterben durchlebt (KT 37).

Das zentrale Bild des Verzweifelten ist hier das Bild des lebenden Toten, auf das die paradoxe Formulierung »zu sterben und doch nicht zu sterben« hinauszulaufen scheint.432 Im Zustand absoluter Hoffnungslosigkeit kann er weder auf das Leben noch auf den Tod hoffen. Sein Leiden ist ausweglos, das Negative auf Dauer gestellt. Der Mensch lebt physisch, erlebt aber geistig das Sterben als Dauer. Selbst wenn man dies nur einen einzigen Augenblick erlebe, so Kierkegaard, fühle es sich ewig an (vgl. KT 37). Die Verzweiflung ist schlimmer als der Tod. Sie tötet nicht körperlich, aber man stirbt im Leben. Leben ist Sterben geworden.433 Der Grund der Ausweglosigkeit liegt dem Autor zu Folge darin, dass das Ewige im Menschen, das Selbst, nicht wie der Leib an der Krankheit sterben könne (vgl. KT 37). Ein wenig irritierend ist hier der synonyme Gebrauch der Begriffe des ›Ewigen‹ und des ›Selbst‹, der auf der kommenden Seite noch einmal wiederholt wird (vgl. KT 38), während das Selbst das Sich-zu-sich-Verhalten einer Synthese ist, deren eines Glied das Ewige ist. Das »Ewige in ihm« (KT 37) ist hier die bekannte Prämisse Kierkegaards. »[...] das Sterben der Verzweiflung setzt sich beständig in ein Leben um. Der Verzweifelte kann nicht sterben« (KT 37 f.). Kierke­ gaard versucht hier weiter, die Figur des lebenden Toten, des Sterbens im Leben, zu greifen. Verzweiflung sei »Selbstauszehrung« (KT 38, Hervorhebung SK), die aufgrund des Ewigen im Menschen dies nicht vermag und sich nun gerade dadurch weiter potenziert (vgl. KT 38). Das gegen das Selbst als Gesetztsein gerichtete misslingende Leben scheitert an diesem – man könnte sagen: Noch nicht einmal das Miss­ lingen gelingt. Das Misslingen misslingt und potenziert sich dadurch. 432 Connells Kritik des Bildes des lebenden Toten (vgl. Connell (2011) 26 f.) vernach­ lässigt Kierkegaards Begriff des Lebens im geistigen Sinne. 433 Verzweiflung ist der lebensimmanente Tod (vgl. Birkenstock (1997) 74).

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Kierkegaard beschriebt dieses Misslingen mit der faszinierenden und scheinbar paradoxen Formulierung des »kalten Brandes« (KT 38). Man brennt, aber verbrennt nicht. Es ist das Gegenteil von Verbren­ nen, aber dennoch ein Verbrennen, eine Bewegung »beständig nach innen« (KT 38), und man gerät immer »tiefer und tiefer« (KT 38) hinein. Im Folgenden versucht er dies weiter zu präzisieren: »[...] denn eben darüber – nicht verzweifelt434 – verzweifelt er aber: dass er sich nicht selbst verzehren kann, nicht von sich selber loskommen kann435, nicht zu Nichts werden könne. Das ist die potenzierte Formel für die Verzweiflung« (KT 38). In der Verzweiflung richtet sich das Selbst gegen sich selbst, aber der Versuch misslingt. Es kann nicht von sich loskommen, nicht hinter sich zurück. Das misslingende Leben ist also der misslingende Versuch, von sich loskommen zu wollen. Der Text impliziert hier, dass sogar der physische Selbstmord ein – verkehrtes, aber dennoch ein – Sich-zu-sich-Verhalten in einem Gottesverhältnis ist. Diese Grundstruktur der Existenz ist nicht hin­ tergehbar. Der Versuch, sie zu hintergehen, ist Verzweiflung und führt zum lebenden Toten. Im nächsten Abschnitt erläutert Kierkegaard nun die These, der zufolge Verzweiflung nur scheinbar über etwas sei, in Wahrheit aber Verzweiflung über sich selbst im Sinne des oben beschriebenen Vonsich-selbst-loskommen-Wollens. Als Beispiel dient ein Herrschsüch­ tiger, der Cäsar werden will (vgl. KT 38). Im Fall, dass er nicht Cäsar werde, könne er es nicht aushalten, er selbst zu sein. Er verzweifle, so die Pointe, nicht lediglich über die Tatsache, dass er nicht Cäsar geworden sei, sondern über sein Selbst, das nicht Cäsar geworden sei (vgl. KT 38 f.) – »oder noch richtiger, dies ist ihm das Unerträglichste, ja, dass er von sich selbst nicht loskommen kann« (KT 39). Der Wunsch, Cäsar zu sein, war der Wunsch, nicht er selbst, sondern Cäsar zu sein. Kierkegaard interpretiert hier eine Figur der Selbstverände­ rung, die sich gegen das Selbst richtet. Ex negativo kann man hier erschließen, dass das Leben als Selbstveränderung436 gelingt, die sich nicht gegen das Selbst richtet. Auch im Fall, dass er Cäsar geworden wäre, wäre er »in einem anderen Sinne […] gleichwohl verzweifelt« (KT 39). Wenn er Cäsar geworden wäre, so wäre er nicht Selbst Cäsar »ikke fortvivlede (SKS 11, 134)« D: verzweifelte er nicht. Der Mensch kann nie eigentlich unmittelbar leben. Das Streben nach Sicherheit und Ruhe in der Unmittelbarkeit scheitert (vgl. Theunissen (1979) 506). 436 Der Einzelne hält dabei nicht, wie Kant dachte, den Kompass in der Hand (vgl. Kant, GMS 31), sondern muss selbst Kompass werden (vgl. A. Pieper (2000) 136). 434 435

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geworden, sondern er wäre »verzweifelt sich selbst losgeworden« (KT 39). Es gibt also eine zweite Figur der Verzweiflung, in der das von sich loskommen gelingt, die aber auf dasselbe hinausläuft wie die erste Figur. Nicht von sich loskommen können und von sich loskommen läuft für Kierkegaard auf dasselbe hinaus. Ob das Misslingen als misslingt oder gelingt, es ist in beiden Fällen misslungen. In beiden Fällen will das Selbst nicht es selbst sein. Kierkegaard resümiert: Man verzweifelt im eigentlichen Sinne nicht über etwas, sondern über sich selbst (vgl. KT 39). Er erläutert dies an einem zweiten Beispiel, an einem Mädchen, das über den Ver­ lust ihres Geliebten verzweifelt, eigentlich aber mit diesem »›seine‹ Geliebte geworden wäre« (KT 39) sich selbst loswerden wollte und nun ohne ihn sie Selbst sein soll.437 Sie erfährt die Verzweiflung als »Leere« (KT 40), ein sich nicht verzehren können (vgl. KT 40). Kierkegaard diagnostiziert dieses etwas werden wollen – Cäsar oder Geliebte –, als jemand anders als man selbst sein wollen, sich selbst loswerden wollen, und damit Verzweiflung über sich selbst. Analog zum Arzt (vgl. KT 39) stelle der Fachmann eine Diagnose, die der Betroffene so nicht erlebt oder hätte stellen können. Über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst los sein wollen, ist die Formel für alle Verzweiflung, so dass auch die andere Form der Verzweiflung, dass jemand verzweifelt er selbst sein will, auf die erste zurückgeführt werden kann, dass einer verzweifelt nicht er selbst sein will, gleich wie wir im Vorangegangenen die Form, dass der Mensch verzweifelt nicht er selbst sein will, in die Form auflösten, verzweifelt er selbst sein zu wollen (vgl. A) (KT 40).

Mit dem Verweis auf das erste Unterkapitel (vgl. KT 32) vertritt Kierkegaard hier die These, dass beide Formen der Verzweiflung, ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ und ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ wechselseitig aufeinander rückführbar seien.438 Das Selbst, das derjenige sein will, der verzweifelt er Selbst sein will, ist nicht das von Gott gesetzte Selbst, das er in Wahrheit ist439, sondern ein Selbst, »auf das er selbst gekommen«440 (KT 40) ist. Das Selbst will sich »von der Macht losreißen, die es setzte« (KT 40) 437 Das Mädchen, das über den Verlust ihres Geliebten verzweifelt, ist schon verzwei­ felt gewesen (vgl. Danko (2016) 14). 438 Vgl. Wesche (2003) 36. 439 Hannay nennt das von Gott gesetzte Selbst das »true self« (Hannay (1994) 11). 440 »han selv har hittet paa« (SKS 11, 136) auch: das er selbst erfunden hat.

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und damit nicht es selbst im eigentlichen Sinne sein. Hier liegt also eine Äquivokation des Begriffs Selbstsein vor, der sich im Falle des Misslingens auf das Selbst gegen das Gottesverhältnis, im Falle des Gelingens auf das Selbst im Gottesverhältnis bezieht. Das Misslingen benutzt die Terminologie des Gelingens. So kann man auch das Ewige in einem Menschen daran beweisen, dass die Verzweiflung nicht sein Selbst verzehren kann, dass das gerade die Qual des Widerspruchs in der Verzweiflung ist. Wäre nichts Ewiges in einem Menschen, so könnte er gar nicht verzwei­ feln, könnte aber die Verzweiflung sein Selbst aufzehren, so wäre das dennoch keine Verzweiflung. (KT 41)

Dieser »Beweis«441 des Ewigen im Menschen ist zirkulär: Kierkegaard definiert den Begriff ›Verzweiflung‹ von vornherein als Missverhält­ nis in einem Gottesverhältnis. Die theologische Konklusion ist bereits in der Prämisse enthalten. Das ›Selbst‹, das als nicht verzehrbar ange­ nommen wird, wird immer schon vorausgesetzt. Der Mensch kann sich nur dann nicht aus einem Gottesverhältnis befreien, wenn er von vornherein anthropologisch-theologisch als in diesem gedacht wird. Die logische Möglichkeit, die offen bleibt, ist, dass es ›Verzweiflung‹ im Kierkegaardschen Sinne paradigmenunabhängig nicht ›gibt‹. Verzweiflung, so Kierkegaard weiter, sei Krankheit zum Tode, aber als Krankheit im Geist, die »die edelsten Teile angegriffen« (KT 41) hat, führt sie im Gegensatz zur körperlichen Krankheit nicht zum Tod, sondern besteht gerade darin, nicht sterben zu können (vgl. KT 41). »Die Ewigkeit wird es dann doch offenbaren, dass sein Zustand Verzweiflung war [...]« (KT 41). Hier wird die Zirkelstruktur nun endgültig offensichtlich: Kierkegaard beweist die Ewigkeit durch die Verzweiflung, darauf nun die Verzweiflung durch die Ewigkeit. Das Selbst des Menschen, zugleich »das größte […] Zugeständnis« (KT 41) und »Forderung der Ewigkeit an ihn« (KT 41), ist immer schon als Verhältnis zu einem Ewigen gedacht. Während der in diesem Unterkapitel zentrale, die Verzweiflung charakterisierende Begriff der der ›Qual‹ ist, der auf etwa fünf Seiten insgesamt neun Mal genannt wird, beschreibt Kierkegaard im letzten Abschnitt »die besondere Art Verzweiflung« (KT 41), die gar nicht als solche erlebt werde, die unbemerkt bleibe, am Ende aber doch von der Ewigkeit offenbart werde. Verzweiflung ist also einerseits Die Arbeit teilt hier nicht die Interpretation Hoffmanns, Kierkegaard wolle aufweisen statt beweisen (vgl. Hoffmann (2011) 331).

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Negativerleben als Qual, welches aber analog zum Arzt vom Fach­ mann als Verzweiflung über sich selbst richtig diagnostiziert werden muss. Anderseits gibt es aber auch Verzweiflung, die nicht negativ erlebt und nur vom Fachmann mittels eines normativen Maßstabs diagnostiziert wird. An dieser Stelle gilt es festzuhalten: In der Verzweiflung als Krankheit des Geistes ist Leben Sterben geworden, der Mensch ein lebender Toter ohne jegliche Hoffnung, weder auf das Leben noch auf den Tod. Misslingendes Leben als ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ potenziert sich in seinem Misslingen oder misslingt in seinem Gelingen. Misslingen bedeutet, dass der Mensch sich von einem Gottesverhältnis lossagen und selbst neu erfinden will, wobei der Begriff des Selbstseins für das misslingende Leben in Beschlag genommen wird. Beide Formen der Verzweiflung sind gegen das Selbst als Selbstverhältnis in einem Gottesverhältnis gerichtet und so wechselseitig aufeinander rückführbar. Kierkegaard beweist zirkulär das Ewige im Menschen durch die Verzweiflung und die Verzweiflung durch das Ewige, die Konzeption ist also nur als paradigmenrelativ verstanden kohärent. Das misslingende Leben kann negativ als Leere oder Qual erlebt werden, wobei die Struktur durch den Fachmann zu interpretieren ist. Es kann aber auch als gelingend erlebt werden und ›nur‹ im Horizont des normativen Maßstabs der Konzeption als verzweifelt gelten.

2.3 Die Allgemeinheit dieser Krankheit (B) Ziel des nun folgenden Kapitels ist die Analyse des zweiten Kapitels, ›Die Allgemeinheit dieser Krankheit (der Verzweiflung)‹, der Krank­ heit zum Tode. Die Analyse folgt dem Gedankengang in drei Schritten: Sie grenzt zunächst die These des Textes von der vulgären Betrachtung des Phänomens der Verzweiflung ab, zeigt, dass Gesundheit des Geistes nur in der Überwindung von Krankheit liegen kann und stellt im dritten Schritt nochmals das Primat der Krisis gegenüber der Alltagsperspektive heraus.

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2.3.1 Diagnose und vulgäre Betrachtung Der erste Abschnitt greift die bekannte Analogie der Diagnose der Verzweiflung als »Krankheit des Geistes« (KT 42) zur Diagnose der »Krankheit im Körper« (KT 42) durch den Arzt auf. Bezüglich ersterer stellt der Text zwei Thesen auf: Die erste besagt, wenn man den Men­ schen recht kenne, so müsse man sagen, das kein einziger Mensch lebe, ohne zumindest etwas verzweifelt zu sein. Dabei beschreibt er die Krankheit wie folgt: »[...] zu innerst eine Unruhe zu tragen, eine Disharmonie, eine Angst vor einem unbekannten Etwas oder vor einem Etwas, mit dem er noch nicht einmal Bekanntschaft zu machen wagen darf, eine Angst vor einer Möglichkeit des Daseins oder eine Angst vor sich selbst, […]« (KT 42). Bemerkenswert ist die Fülle von Negativbegriffen, mit der der Text das Phänomen zu fassen versucht. Erlebt werden Unruhe, Angst und Disharmonie. Mit letzterem Begriff, auf Latein bedeutet disharmonisch ›absurdus‹, benutzt Kierkegaard an genau dieser einen Textstelle in seinem Hauptwerk faktisch den Begriff des Absurden für die Verzweiflung als Krankheit des Geistes.442 Das Wovor der Angst, der Grund von Unruhe und Disharmonie, ist dabei zunächst dunkel und unbestimmt, und wird dann im Laufe der Aufzählung konkretisiert als Angst vor einer Möglichkeit des Daseins und Angst vor sich selbst, was dasselbe meint. Angst vor der Möglichkeit der Verzweiflung ist Angst vor dem Selbst, weil dieses als wesentlich zu einem Gottesverhält­ nis in einen Missverhältnis treten kann. Die These ist, dass jeder Mensch zumindest eine dunkle Ahnung davon hat, die Verzweiflung irgendwo, tief verschüttet und verdeckt, fühlen kann. Diese könne sich, so der Text weiter, in einem Mal »blitzartig« »offenbar« machen als für den Einzelnen »unerklärliche Angst« (KT 42). Die These ist also, dass wir krank sind, diese Krankheit mit uns herum tragen (vgl. KT 42), eine dunkle Ahnung von ihr haben, und dass sie sich plötzlich in einer uns vollkommen unbegreiflichen Angst zeigen kann. Der Einzelne versteht seine Krankheit nicht. Er ahnt sie und fühlt

442 Es ist unklar, ob Turchin diese Verwendung sieht, wenn er schreibt, der Begriffe des Absurden komme »a couple of times« (Turchin (2013) 5) in der Krankheit zum Tode vor. Zumindest differenziert er nicht zwischen diesen verschiedenen Absurditäts­ begriffen im Werk.

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ggf. die Negativsymptome. Kierkegaard deutet damit ein konkretes innerweltliches Phänomen als Krankheit in seinem Sinne.443 Die zweite These des ersten Abschnittes verweist wiederum auf den Horizont dieser Deutung: »Und auf jeden Fall hat kein Mensch gelebt und lebt kein Mensch außerhalb der Christenheit, ohne dass er verzweifelt wäre. Und in der Christenheit keiner, sofern er nicht ein wahrer Christ ist; und insofern er es nicht ganz ist, ist er doch etwas verzweifelt« (KT 42). Ähnlich stark wie zuvor mit dem Verb »beweisen« (KT 41) formuliert der Text nun mit »auf jeden Fall« (KT 42) eine Aussage mit umfassendem und absolutem Anspruch über die menschliche Wirklichkeit: Jeder Mensch außerhalb der Christenheit sei verzweifelt und jeder in der Christenheit, sofern er nicht wahrer Christ sei. Kierkegaard differenziert damit zwischen Christen und Nichtchristen, sowie innerhalb des Christlichen zwischen Christen­ heit und wahren Christen. Die These über die Verzweiflung der Nicht­ christen ist kohärent, wenn Verzweiflung als Missverhältnis zu einem christlich verstandenen Gottesverhältnis konzipiert wird, aber sie ist nicht mit einem kulturrelativen Sollensanspruch trivial, sondern mit einem umfassenden universalistischen normativen Sollensanspruch einer Theorie gelingenden Lebens formuliert, der sich an alle Men­ schen richtet und von einem qualitativen Primat des Christlichen als fundamentale Prämisse ausgeht. Nichtchristen können nicht in ihrem jeweiligen Kontext nicht-verzweifelt sein.444 Sie sind ›auf jeden Fall‹ verzweifelt. »Der Mensch ist Geist« (KT 31), nicht lediglich der Mensch in der Christenheit, aber der Geistbegriff impliziert ein christlich verstandenes Gottesverhältnis, zu dem der Nichtchrist für Kierkegaard per se in einem Missverhältnis steht. Es ist dieser Stelle wichtig, dieses Selbstverständnis Kierkegaards klar herauszuarbeiten, da es ein ganz bestimmtes Verständnis der Problemlage, der Frage nach dem gelingenden Leben des »Menschen« (KT 31) impliziert. Kierkegaard formuliert also eine umfassende Theorie der Ver­ zweiflung. Daher geht er nun im nächsten Schritt auf den vielleicht 443 Lundsgaard-Leth gesteht Kierkegaard lediglich zu, dass nicht alle Psychopatho­ logien durch fehlende soziale Anerkennung entwickelt werden (vgl. Lundsgaard-Leth (2018) 152). Der Vergleich mit Honneth und Pippin wird jedoch der Diagnose Kierkegaards nicht gerecht. 444 Die These des Werks ist hier, dass der christliche Glaube die einzig gelingende Daseinsweise des Menschen ist (vgl. Theunissen / Greve (1979) 45). Das genaue Verhältnis von Glauben und Selbstsein – Voraussetzung oder Identität – bleibt jedoch unklar (vgl. Theunissen (1991d) 355).

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naheliegenden Einwand ein, diese sei paradox und übertrieben, dazu düster und verstimmend (vgl. KT 42). Dem entgegnet er, zunächst, lediglich mit den entsprechenden Gegenthesen: Sie ist nicht düster, sie sucht vielmehr Licht in das zu bringen, was man gemeinhin in einem gewissen Dunkel stehenlassen möchte; sie ist nicht verstimmend, im Gegenteil erhebend, da sie jeden Menschen unter der Bestimmung der höchsten Forderung an ihn betrachtet, Geist zu sein; sie ist auch kein Paradox, vielmehr eine konsequent durch­ geführte Grundanschauung und insofern auch keine Übertreibung (KT 42).

Kierkegaard beansprucht also das zu beleuchten, was gemeinhin lieber verdrängt wird, und die Betrachtung ist positiv, weil sie die Idee eines gelingenden Lebens im Blick hat. Gegen den Vorwurf der Paradoxalität nimmt er hier bemerkenswerterweise den Begriff der Konsequenz für seine eigene Konzeption in Anspruch. Das Negative, so die These, liegt nicht in der Perspektive, sondern in der Sache. Argumentativ möchte er nun die Gegenposition zu seiner Posi­ tion, die »allgemeine« (KT 42), »vulgäre« (KT 43) Betrachtung der Verzweiflung widerlegen. Diese sei oberflächlich. »Sie nimmt an, dass jeder Mensch ja am besten bei sich selber wissen müsse, ob er verzweifelt ist oder nicht. [...] Demzufolge wird die Verzweiflung ein selteneres Phänomen, statt dass sie das ganz Allgemeine ist« (KT 43). Das Oberflächliche und die Problematik Verfehlende liegt also genau in der Annahme, man könne sich auf das Urteil des Patienten verlassen, und es bedürfe nicht der Diagnose des Fachmanns. Gegen diese landläufige Meinung stellt Kierkegaard die These, das Seltene sei nicht die Verzweiflung, sondern nicht doch in Wahrheit verzweifelt zu sein (vgl. KT 43). Die Diagnose basiert dabei auf der bereits erläuterten Konzeption von Selbst und Verzweiflung. Aber die vulgäre Betrachtung versteht sich sehr schlecht auf Verzweif­ lung. So übersieht sie unter anderem völlig (um nur dies zu erwähnen, was doch recht verstanden Tausende und aber Tausende und Millionen unter die Bestimmung Verzweiflung bringt), sie übersieht völlig, dass das gerade eine Form von Verzweiflung ist, es nicht zu sein, sich dessen nicht bewusst zu sein, dass man es ist (KT 43).

Man müsste Kierkegaard korrigieren: Milliarden. Diese These der verdeckten, unbewussten Verzweiflung unter der Oberfläche von Alltäglichkeit, Normalität und Gesundheit ist eine der systematischen Kernthesen des Werks. Es ist eine Gestalt der Krankheit des Geistes,

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sich selbst für gesund zu halten, nicht bewusst an ihr zu leiden, und genau diese Dimension entgeht der normalen, gewöhnlichen Betrachtung der Verzweiflung als Deutung der Negativphänomene – weil sie sich auf der Ebene der Krankheit bewegt. Die gewöhnliche Perspektive ist, vom Standpunkt des Geistes aus betrachtet, selbst krank. Die alltägliche Betrachtung, so der Gedankengang weiter, könne schon mit Blick auf körperliche Erkrankungen nicht sicher über Krankheit und Gesundheit urteilen und verstehe sich noch viel weniger auf das Geistige. Im allgemeinen nimmt man an, dass ein Mensch, wenn er nicht selbst sagt, dass er krank sei, gesund ist, und gewiss dann, wenn er selbst sagt, dass er gesund sei. Der Arzt hinwiederum betrachtet die Krankheit anders. Und warum? Weil der Arzt eine bestimmte und entwickelte Vorstellung davon hat, was es heißt, gesund zu sein, und nach ihr prüft er das Befinden eines Menschen. Der Arzt weiß, dass es ebenso eine Krankheit gibt, die nur Einbildung ist, wie auch eine Gesundheit; er wendet deshalb im letzteren Falle zuerst ein Mittel an, um die Krankheit offenbar zu machen. Überhaupt hat der Arzt, gerade weil er Arzt ist (der Sachverständige), nicht unbe­ dingt Zutrauen zur eigenen Aussage des Menschen über sein Befinden (KT 43 f.).

Kierkegaards Punkt ist hier also, dass Verzweiflung ein Fachbegriff ist, der einer professionellen Diagnose bedarf. Die Analogie zum Arzt löst er dabei selbst auf, indem er sie auf den Begriff des indem er sie auf den Begriff des Sachverständigen bringt. Der Arzt hört die Aussage und Selbsteinschätzung des Patienten, aber diese ist für ihn lediglich Ausgangspunkt, ein Faktor auf dem Weg zur Diagnose. In der Selbstwahrnehmung des Kranken kann sich ein Symptom der Krankheit zeigen, das dieser nicht durchschauen kann. Selbst wenn die moderne Medizin immer mehr das subjektive Wohlbefinden des Patienten in den Vordergrund zu rücken scheint, scheint doch die grundsätzliche Analogie zwischen Urteil des Laien und Urteil des Sachverständigen weiterhin zu bestehen und Kierkegaards Punkt klar zu sein. Dahinter steht natürlich die Annahme, der Philosoph im Sinne Kierkegaards sei Fachmann für die Krankheit des Geistes. Beachtenswert ist vielleicht nur die Richtung der Analogie, der zufolge nicht lediglich die Gesundheit, sondern auch die Krankheit nur Einbil­ dung sein kann. Der Einzelne kann auf aus dem alltäglichen Kontext stammenden Urteils – man würde heute in der Psychologie sagen: auf seine subjektive Theorie – nicht vertrauen. Dass der Einzelne

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Mensch in einem gesellschaftlichen Kontext funktioniert, die an ihn gestellten Anforderungen bewältigen kann, ist genau nicht das normative Kriterium Kierkegaards, sondern eine Form der Verzweif­ lung.445 Wäre das Urteil des Patienten ›unbedingt‹ zutreffend, so das Argument Kierkegaards, »so wäre das Arztsein eine Einbildung« (KT 44). Wichtig scheint hier zu sein, dass die Analogie zum Arzt allein nicht beweist, dass die Krankheit des Geistes im gleichen Sinne ein Fachbegriff ist. Dies bedarf der theoretischen Erläuterung, welche wiederum paradigmenrelativ ist. Aus heutiger Sicht tut sich hier eine nicht beabsichtigte Analogie zwischen der modernen Medizin als Wissenschaft und Kierkegaards christlichem Standpunkt auf, sozusagen eine Kehrseite der Argumen­ tation: Im heutigen kohärenztheoretischen Wissenschaftsverständnis sind Fachbegriffe nicht in dem Sinne ›wahr‹, wie Kierkegaard dies hier annimmt, sondern immer relativ zu einem Paradigma oder Forschungsprogramm. Dass die Analogie zum Wahrheitsbegriff nicht greift, müsste für die Position Kierkegaards kein Problem sein, könnte sie denn die Wahrheit des Christlichen ausweisen. Für Kierkegaard steht an dieser Stelle in der Analogie zum Arzt nicht die Therapie, sondern zunächst einmal die Diagnose im Vordergrund: »zu erkennen, ob der vermeintlich Kranke wirklich krank oder ob der vermeintlich Gesunde vielleicht wirklich krank ist« (KT 44). Von hierher zieht er die Analogie zum »Verhältnis des Seelenkundigen zur Verzweiflung. Er weiß, was Verzweiflung ist« (KT 44). Die Konzeption nimmt hier also explizit den Wissensbegriff für sich in Anspruch. Demgegenüber ist das Laienurteil unzuverlässig, sowohl bezogen darauf, dass man verzweifelt ist, als auch, dass man es nicht ist. In diesem Kontext erläutert Kierkegaard abschließend eine Äquivokation des Verzweiflungsbegriffs: Der sich selbst als verzweifelt bezeichnende Mensch könne sein Urteil auf lediglich eine vorübergehende Verstimmtheit beziehen oder eine affektierte Verzweiflung. Der Fachmann deutet nun diese unbedeutende und mit dem Verzweiflungsbegriff besetzte Verstimmtheit als Verzweiflung im eigentlichen Sinne (vgl. KT 44). Das Leiden an einer vorüber­ gehenden Verstimmtheit kann demnach Symptom einer tiefen Ver­ zweiflung als Missverhältnis des Selbst zu Gott sein.

445 Verzweiflung ist bei Kierkegaard kein Objekt einer die Normalität wiederherstel­ lenden Psychotherapie (vgl. Hoffmann (2011) 338).

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2 Disharmonie und die Nichtung ihrer Möglichkeit: Die Krankheit zum Tode

Es gilt festzuhalten: Gegen ein vulgäres Verständnis von Ver­ zweiflung, das von der Gesundheit des Normalen und Alltäglichen ausgeht, diagnostiziert Kierkegaard vom Standpunkt des philosophi­ schen Fachmanns Verzweiflung als Missverhältnis innerhalb eines christlich verstandenen Gottesverhältnisses als Massenphänomen. Zum einen haben die meisten Mensch doch eine dunkle Ahnung, dass sie verzweifelt sind, zum anderen gibt es aber auch, so eine zentrale These des Werks, eine Gestalt der unbewussten Verzweiflung unter­ halb der Oberfläche der Alltäglichkeit. Alle Nichtchristen sind ver­ zweifelt, dazu auch praktisch jeder innerhalb der Christenheit. Kier­ kegaard geht dabei von einem starken Wissensbegriff und einem universalistischen Anspruch des christlichen Standpunkts aus. In die­ sem Kapitel benutzt Kierkegaard den Begriff der Disharmonie, also des Absurden, zum ersten und einzigen Mal im Werk für die Ver­ zweiflung als Krankheit des Geistes.

2.3.2 Gesundheit als Überwindung von Krankheit Auf Kierkegaards Überlegungen zur Diagnose der Krankheit folgt nun die Erläuterung zur Gesundheit des Geistes. Diese leitet er mit der Benennung eines weiteren Aspekts ein, den die allgemeine oder vulgäre Betrachtung der Krankheit übersehe: Die Verzweiflung als Krankheit des Geistes sei »anders dialektisch« (KT 44) als eine gewöhnliche Krankheit und daher fielen Tausende darunter (vgl. KT 44). Dies erläutert er wie folgt: Falls nämlich ein Arzt in einem gegebenen Augenblick sich davon überzeugt hat, dass der und der gesund ist – und er dann in einem späteren Augenblick krank wird: so kann der Arzt darin Recht haben, dass dieser Mensch damals gesund war, nun hingegen krank ist. Anders mit der Verzweiflung. Sobald sich Verzweiflung zeigt, so zeigt es sich, dass der Mensch verzweifelt war. Insofern kann man in keinem Augen­ blick etwas über einen Menschen ausmachen, der nicht dadurch geheilt ist, dass er verzweifelt gewesen war. Denn wenn nun das eintritt, was ihn zur Verzweiflung bringt, so wird es in demselben Augenblick offen­ bar, dass er sein ganzes vergangenes Leben hindurch verzweifelt gewe­ sen war. (KT 45 f., Hervorhebung SK)

Hier sind drei Aspekte von Bedeutung: Zum einen das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe oder Verborgenheit. Die Krankheit des Geistes muss sich nicht offen zeigen, sie kann aussehen wie die Gesundheit.

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Der zweite Aspekt ist ein anderes Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Kierkegaard durch die kursiven Hervorhebungen betont. Die Gegenwart ist abhängig von der Vergangenheit, die Gegenwart der Krankheit zeigt, was verborgen immer schon da gewe­ sen ist. Der dritte Aspekt ist die Vorstellung von Gesundheit, nicht als unmittelbar, sondern als Überwindung von Krankheit. Nur in diesem Fall, so Kierkegaard, könne man sicher sagen, dass jemand wahrhaft gesund sei. Wer krank ist, ist es immer schon gewesen, und nur wer die Krankheit überwunden hat, kann sicher als gesund gelten. Die argumentative Rechtfertigung dieser ›dialektischen‹ Besonderheit der Krankheit des Geistes gegenüber der des Körpers liegt im Verhältnis des Geistes zum Ewigen, der »daher« (KT 45) etwas von diesem in seiner Dialektik446 habe. Wieder einmal wird also mit dem Begriff des Ewigen argumentiert, welches jedoch, gegen das Selbstverständnis Kierkegaards, nicht bewiesen wurde (vgl. KT 41). Kierkegaard führt diesen Aspekt des Dialektischen447 nun weiter aus: [...] im Verhältnis zur Verzweiflung sind alle Kennzeichen dialektisch, und deshalb täuscht sich die oberflächliche Betrachtung so leicht im Bestimmen, ob die Verzweiflung vorhanden ist oder nicht. Nicht verzweifelt zu sein, kann nämlich gerade bedeuten, verzweifelt zu sein, und es kann bedeuten, von der Verzweiflung erlöst zu sein. Sicherheit und Beruhigung kann bedeuten, verzweifelt zu sein, gerade diese Sicherheit, diese Beruhigung kann Verzweiflung sein; und es kann bedeuten, die Verzweiflung überwunden und Frieden gefunden zu haben (KT 45).

Die Schwierigkeit liegt hier sowohl in den Äquivokationen der Begriffe als auch im Unterschied von Oberflächenphänomen und der dahinterliegenden Tiefe. Nichtverzweifeltsein, also die Überzeu­ gung davon und der Anschein, kann sowohl Gesundheit als auch Krankheit bedeuten. Sicherheit und Ruhe, Begriff und Phänomen, können ebenfalls beides bedeuten. Der Begriff und die Erscheinung von Gesundheit können also sowohl auf Gesundheit als auch auf 446 Adorno kritisiert, dass Kierkegaard die Dialektik als Methode grundsätzlich verfehle, da er nicht verstehe, dass der Einzelne sein Gegenteil, die Gesellschaft, notwendig miteinschließe (vgl. Adorno, KdÄ 306). 447 Theunissen beschreibt das Dialektische bei Kierkegaard mit folgenden vier Punk­ ten: Die Wirklichkeit ist dialektisch, der Motor das Negative, Unmittelbarkeit wird aufgehoben und wiederhergestellt, das Negative ist Widerspruch (vgl. Theunissen (1996) 12). Es sei Dialektik im Sinne Hegels, jedoch temporalisiert (vgl. Theunissen (1991d) 346).

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Krankheit hindeuten. Äußerung und Oberfläche geben damit keinen sicheren Aufschluss über das Dahinterliegende. Begriff und Anschein gelingenden Lebens fallen sowohl dem Misslingen als auch dem Gelingen zu. Sich nie als krank empfunden zu haben ist gerade die Krankheit (vgl. KT 45). Das Leben misslingt demnach, wenn man es nie als misslingend erlebt hat. Als »Grund« (FZ 45) benennt Kierke­ gaard wiederum den Menschen als »Geist« (FZ 46), womit er die bereits erläuterten Voraussetzungen impliziert. »Geist ist das Selbst« (KT 31), immer schon verstanden als in einem Gottesverhältnis. Gesundheit ist also Überwindung von Krankheit, wobei dies argumentativ mit dem Begriff des Ewigen gerechtfertigt wird. Die Schwierigkeit der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit liegt sowohl in der Äquivokation der Begriffe als auch in der Differenz von Oberflächenphänomen und Tiefe. Das Phänomen der Verzweif­ lung offenbart, dass man immer schon verzweifelt gewesen ist.

2.3.3 Das Primat der Krisis Der dritte gedankliche Schritt des Kapitels betont nun noch einmal das Primat der Krisis gegenüber der Alltagswelt. Kierkegaard nennt den »Zustand des Menschen als Geist allzeit kritisch« (KT 46). Körperliche Gesundheit sei unmittelbar, als Geist seien aber »sowohl Gesundheit als auch Krankheit kritisch; es gibt keine unmittelbare Gesundheit des Geistes« (KT 46).448 Damit for­ muliert er die These eines Primates der »Krisis« (KT 46) in der Dimension, in der über gelingendes Leben entschieden wird – in seiner Terminologie des Geistes. Die Möglichkeit einer primären oder unmittelbaren Gesundheit des Geistes (vgl. KT 45) schließt er explizit aus. Gelingendes Leben ist die erfolgreiche Überwindung des Misslingens – und das Überwinden von dessen Möglichkeit in jedem Augenblick (vgl. dazu KT 34). Gelingen ist Überwindung von Misslingen.449 Es zeigt sich nicht unmittelbar und oberflächlich, sondern ist verborgen dahinter und darunter.

Diese Annahme ist zentral (vgl. Theunissen (1991a) 31). Figal argumentiert hier gegen die negativistische Lesart, dass die Negativinterpre­ tation der Verzweiflung als Verzweiflung das »Sein des Seienden als Geordnetheit« (Figal (1984) 20) voraussetze.

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Als »seelisch-leibliche Synthese« (KT 46)450 betrachtet, sei Gesundheit unmittelbar, aber hier ist der Mensch zwar Mensch, jedoch, wie eingangs ausgeführt, »noch kein Selbst« (KT 31). Aber Verzweiflung ist gerade, dass der Mensch sich nicht bewusst ist, als Geist bestimmt zu sein. Selbst was menschlich gesprochen das Schönste und Liebenswerteste von allem ist, eine weibliche Jugend­ lichkeit, die lauter Friede und Harmonie und Freude ist: das ist doch Verzweiflung. Dies ist nämlich Glück; aber Glück ist keine Bestim­ mung des Geistes, und tief, tief drinnen, zuinnerst in der heimlichsten Verborgenheit, dort wohnt doch die Angst, die die Verzweiflung ist; [...] denn das ist der Verzweiflung am liebsten. Ihre meist gesuchte Wohnstätte: tief drinnen im Glück. Alle Unmittelbarkeit ist trotz ihrer eingebildeten451 Sicherheit und Ruhe Angst, und darum ganz konsequent meist Angst vor nichts (KT 46).

Kierkegaard wendet sich an dieser Stelle gegen einen Glücksbegriff der Unmittelbarkeit, der Oberbegriff ist für Positivbegriffe wie Schön­ heit, Frieden, Harmonie, Freude, Sicherheit und Ruhe, die alltäglich und klassisch mit gelingendem Leben assoziiert werden, aber als unmittelbares und oberflächliches Glück hier der Idee des misslin­ genden Lebens zufallen. Diese Art von Glück ist Illusion. Dahinter verbergen sich Angst und Verzweiflung, Begriffe, die hier synonym gebraucht werden. Verzweiflung ist Angst vor nichts. Nicht die Positivphänomene, sondern die Negativphänomene sind es, die die Wahrheit »tief« (KT 46) unter der Oberfläche offenbarten und erst die Möglichkeit gelingenden Lebens eröffnen. Grund dieser Analyse ist wiederum das Menschenbild als »Geist« (KT 46) und der ihm implizite normative Maßstab. Dieses scheint die gesamte Dimension der Tiefe zu begründen, auf der die hier vertretene Idee gelingenden Lebens fußt. Gesundheit als negative Einheit ist Krankheit des Selbst­ verhältnisses in dessen Gottesverhältnis. Man könne, so Kierkegaard im nächsten Schritt, die Angst hinter der Unmittelbarkeit mit »Absicht der Reflexion« (KT 46) aufzeigen, wenn man der Reflexion unterstelle, »dass sie selbst genug wisse, wovon die Rede sei« (KT 47). Die Verzweiflung zeigt sich nicht direkt, in dem man sie anspricht, sondern indirekt, durch Anregen von Refle­ xion. Dazu bedarf es »nichts« (KT 47), lediglich eine unbestimmte (vgl. KT 46) Anregung. Dies ist eine beeindruckende Analyse. Kier­ 450 451

Mit Bindestrich im Original (vgl. SKS 11, 141). »illusoriske« (SKS 11, 141) wörtlich: illusorisch.

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kegaard interpretiert das Angstphänomen, das er hier aufzeigt, als Verzweiflung im Horizont seiner Konzeption. Nur der Glaube könne die »Reflexion des Nichts« (KT 47) ertragen. Sie ertragen zu können ist also Kennzeichen eines gelingen­ den Lebens, während das misslingende Leben an diesem Punkt die Abgründigkeit hinter seiner Fassade offenbart. Dieses Glück ist Ver­ zweiflung. Daher glückt es wohl auch nicht, durch das Leben zu schlüpfen mit die­ ser Unmittelbarkeit. Und glückte es diesem Glück durchzuschlüpfen, ja, das würde nur wenig helfen, denn es ist Verzweiflung. Verzweiflung ist, gerade weil sie ganz dialektisch ist, die Krankheit, von der gilt, dass es das größte Unglück ist, sie niemals gehabt zu haben – ein wahres Gottesglück, sie zu bekommen, ob sie auch die allergefährlichste Krankheit ist, wenn man nicht von ihr geheilt werden will (KT 47).

Weil sich Angst und Verzweiflung unter der Oberfläche verbergen, gelingt es also nicht, sich durchzumogeln, so durchs Leben zu kom­ men, um eine Auseinandersetzung mit der Dimension des Negativen und des Geistes drum herumzukommen. Die Reflexion »fängt« (KT 47) die Verzweiflung früher oder später, und man wird mit ihr konfrontiert. Und selbst wenn es gelänge – Konjunktiv 2 – dieser Dimension auszuweichen, wäre nichts erreicht, denn das Leben wäre als Verzweiflung misslungen. Es ist also das größte Unglück, nie verzweifelt gewesen zu sein, weil man es in Wahrheit doch ist und so um die Chance gebracht wurde, sein Leben zu einem gelingenden zu wenden. Dem glücklichen452, unreflektierten Leben in der Unmittelbarkeit kann Kierkegaard nichts Positives abgewinnen.453 Der normative Maßstab dominiert die erlebte verkehrte Innenperspektive des Einzelnen. Es ist Gottesgeschenk, die Krankheit zu bekommen, weil man entdeckt, dass man immer schon krank gewesen ist und nun die Chance auf Gesundheit hat. Hier müsste man begrifflich präzisieren: Man erkrankt genau genommen nicht, sondern entdeckt seine Erkrankung. »Bekommen« (KT 47) kann nur einen höheren Grad an Reflexion und Bewusstheit des eigenen Leidens meinen. Der Unterschied zur

Dieses Glück ist unwirklich (vgl. Theunissen (1982) 96). Die Unmittelbarkeit ist für Kierkegaard nicht das vorgefundene Erste, sondern im sündentheologischen Kontext immer schon sündhafter Akt der Freiheit (vgl. Theunissen (1979) 506). 452

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Krankheit des Leibes liegt darin, dass der Geist in der Unmittelbarkeit immer schon verzweifelt gewesen ist. Die Krankheit sei gefährlich 454, wenn man nicht geheilt werden wolle. An dieser Stelle sticht der Willensbegriff besonders hervor. Kierkegaard skizziert ein Misslingen als gesund werden Können, aber nicht Wollen, die Möglichkeit der Überwindung der Krankheit willentlich ausschlagend. Bemerkenswert ist hier zudem die Nähe von Gesundheit und »allergefährlichster« (KT 47) Gestalt der Krankheit, zwischen Gelingen und einem extremen Misslingen. Kierkegaard plädiert dafür, sich auf diese Gefahr einzulassen, dankbar für das »Gottesglück« (KT 47) zu sein, Einsicht in die eigene Verzweiflung erlangt zu haben und bewusst die eigene Entscheidung über Gelingen und Misslingen treffen zu dürfen. Angesichts des Risikos des offenen Leidens an der Krankheit des Geistes ist es erstaunlich, mit welcher argumentativen Konsequenz er das als Glück erlebte verdeckte Lei­ den radikal ablehnt. Das ist für ihn keine erstrebenswerte Option, unabhängig davon, ob die Verzweiflung irgendwann im Leben einmal an die Oberfläche durchbricht oder nicht. Dieses »Glück« (KT 47) ist in Wahrheit »Unglück« (KT 47), erlebtes Gelingen ist normativ gesehen Misslingen. Dabei geht Kierkegaard immer davon aus, dass Gesundheit möglich ist. Das Leben gelingt also in der Entdeckung der Krankheit und mit dem Willen, sie in Gott gründend zu überwinden. Die Formulierung, es sei »daher völlig unmöglich« (KT 47), dass die vulgäre Betrachtung Recht damit habe, dass die Verzweiflung das Seltene sei und nicht das Allgemeine, impliziert den Anspruch, dies in der vorangehenden Argumentation gezeigt zu haben. Während Kierkegaard selbst noch nicht einmal die Möglichkeit des Zweifels an seiner Position einräumt, gilt die Argumentation nur innerhalb eines christlichen Kontextes. Über Krankheit und Gesundheit entscheide nicht Meinung oder Gefühl dessen, der sich verzweifelt wähne – dies sei ebenfalls »völlig unmöglich« (KT 47) –, sondern die Diagnose des Fachmanns. Wer sich für gesund hält ist in der Regel vollkommen verzweifelt, wer sich selbst für verzweifelt hält dagegen der Heilung schon einen Schritt näher (vgl. KT 47). »[...] Das Allgemeine [ist], dass die meisten Menschen leben, ohne sich recht bewusst zu werden, dass sie als Geist bestimmt sind 454 Später im Text nennt Kierkegaard die unbewusste Verzweiflung die gefährlichste Form der Krankheit (vgl. KT 70), die Verwendung des Adjektivs ist also nicht eindeu­ tig.

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– und darauf beruht all die sogenannte Sicherheit, Zufriedenheit mit dem Leben und so weiter, und so weiter, was gerade Verzweiflung ist« (KT 47 f.). Der Normalfall sieht also so aus, dass die Menschen nicht wissen, dass sie Selbstverhältnis in einem Gottesverhältnis sind. Das, was sie für das gelingende Leben halten, Sicherheit und Zufriedenheit, ist daher Illusion, beruht auf einem falschen Selbstverständnis. Zu meinen oder zu fühlen, das eigene Leben gelinge, ist im Verhältnis zum normativen Maßstab nichts wert. »Zufriedenheit mit dem Leben u.s.w.« (KT 48) sei kein unmittelbar erstrebenswertes Ziel. Wer dage­ gen sage, er sei verzweifelt, habe eine »viel tiefere Natur« (KT 48) oder ihm hätten »schwere Ereignisse oder furchtbare Entscheidungen [dazu] zu verholfen, sich als Geist bewusst zu werden« (KT 48). Dem, was wir Schicksalsschläge nennen würden, gewinnt Kierkegaard hier demnach eine positive Seite ab. Indem diese Negativerfahrungen die Scheinsicherheit des Alltäglichen aufbrechen, verhelfen sie zur Erkenntnis dessen, worum es eigentlich geht. Sie eröffnen die kriti­ sche Dimension, in der sich das Leben immer schon abspielt (vgl. KT 46). [...] Aber nur jenes Menschen Leben war verspielt, der so dahin lebte, betrogen von den Freuden des Lebens oder von seinen Sorgen, dass er sich nie auf ewig entscheidend als Geist bewusst wurde, als Selbst, oder was dasselbe ist, nie darauf aufmerksam wurde und im tiefsten Sinne einen Eindruck davon erhielt, dass ein Gott da ist, und »er«, er selbst, sein Selbst vor diesem Gott da ist, der niemals außer durch Verzweiflung gewonnen wird (KT 48).

Kierkegaard fasst hier zum ersten Mal das misslingende Leben mit dem zentralen Begriff des Dahinlebens, das Gelingen dagegen als Gottesverhältnis. Die Begriffe ›Selbst‹ und ›Selbst vor Gott‹ sind synonym, da dieses das Selbst wesentlich ausmacht. Dem Auf und Ab des alltäglichen Lebens kommt hier eine aktive Rolle zu: Es betrügt uns, bringt uns um die Möglichkeit gelingenden Lebens. Der Übergang aber gelingt nur ›durch Verzweiflung‹, durch die Erfahrung des Negativen. Der Begriff des Dahinlebens wird im unmittelbar folgenden Satz wiederholt und neu umschrieben: Ach, und dieses Elend, dass so viele derartig dahinleben, betrogen um den seligsten aller Gedanken, dieses Elend, dass man geschäftig ist455, oder im Verhä1tnis zur Menge der Menschen diese mit allem anderen 455

»beskjæftiger sig« (SKS 11, 143) wörtlich: sich beschäftigt.

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beschäftigt, sie dazu braucht, dass sie ihre Kräfte im Schauspiel des Lebens hergeben, aber sie niemals an diese Seligkeit erinnert, dass man sie zusammentreibt – und sie betrügt, anstatt sie zu zersplittern, damit jeder Einzelne dieses Höchste gewänne, das Einzige, das wert ist, dafür zu leben, und genug, um eine Ewigkeit darin zu leben [...] (KT 48).

Hier wird der Vorwurf des Betrugs zweimal wiederholt. Das Leben misslingt in der Menge, im Beschäftigt-Sein oder Beschäftigt-Wer­ den. Man verschwendet seine Zeit und Energie mit Nichtigkeiten. Im Gegensatz dazu gibt es einen einzigen Wert. Der Anspruch dieser Konzeption gelingenden Lebens ist Absolutheit und Exklusivität. Nur dieses christlich-religiöse Leben ist es wert, gelebt zu werden. Es gibt nur genau einen wahren Sinnhorizont als Gegenkonzept zur Allgegenwart der Verzweiflung, die wiederum relativ zu diesem Horizont als solche bestimmt ist. Dem Misslingen kommt zudem hier der Begriff der Menge der Menschen, dem gelingenden Leben dagegen der Begriff des Einzelnen zu. Das Elend in der Welt ist das Dahinleben in sozialen Kontexten456, in diese eingebunden457 und damit glücklich und zufrieden zu sein. Die »furchtbarste aller Krankheiten und Nöte« (KT 48), so Kierkegaard weiter, sei ihre Verborgenheit, und zwar genau die Verborgenheit der Krankheit gegenüber dem Kranken selbst. Kam zuvor der Superlativ der »allergefährlichsten Krankheit« (KT 47) der Form zu, sie entdeckt zu haben und nicht geheilt werden zu wollen, so kommt nun dieser neue Superlativ der »furchtbarsten« (KT 48) dieser Formen der Krankheit zu. Diese Bestimmungen schließen sich nicht unbedingt aus. Es scheint vielmehr zwei extreme Formen der Krankheit des Geistes zu geben: Nicht zu wissen, dass man krank ist und den Weg der Besserung auszuschlagen. Die unbewusste Verzweiflung, als glücklich und zufrieden erlebt, bewegt sich damit für Kierkegaard in vergleichbaren Sphären zur extremsten Form der Negativerfahrung. Im letzten Abschnitt des Kapitels skizziert Kierkegaard, dass am Ende mittels eines normativen Maßstabs über Misslingen und Gelingen geurteilt werde. Dabei spiele es keine Rolle, ob man Mann oder Frau, arm oder reich, berühmt oder unbekannt (vgl. KT 49) gewesen sei. Alle weltlichen Erfolgskriterien sind demnach nichtig. Die sozialen Rollen sind geistig leer (vgl. Hannay (1994) 20). Man wird dort hineingeboren, sozialisiert und bürokratisiert (vgl. Theunissen / Greve (1979) 38). 456 457

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Auch spiele es keine Rolle, ob man glücklich oder unglücklich gewesen sei (vgl. KT 49). Die subjektiv erlebte Zufriedenheit ist irrelevant. Am Ende entscheidet, ob man verzweifelt gelebt hat oder nicht. Dabei ist es auch nicht von Belang, ob einem selbst die Verzweiflung verborgen war, ob man sie vor anderen verborgen hat oder ob man zum Schre­ cken anderer in Verzweiflung tobte (vgl. KT 49). Kierkegaard skizziert hiermit drei Ausprägungsformen der Krankheit. Unter welcher man gelitten habe, sei aber irrelevant. Für das verzweifelt gelebte Leben gibt es abschließend zwei Negativszenarien: Die Ewigkeit kennt dich nicht oder, schlimmer, kennt dich als Verzweifelten und setzt dich so fest (vgl. KT 49). Allein die normative Dimension des Selbstverhält­ nisses als Gottesverhältnis458 entscheidet. Alles übrige, weltliche Maßstäbe, persönliches Empfinden und Bewusstseinsgrad der Krank­ heit ist letztlich gleichgültig. Festzuhalten bleibt: Das als glücklich und zufrieden erlebte Dahinleben in einem beliebigen sozialen Kontext ist Betrug. Dem kann Kierkegaard nichts Positives abgewinnen. Es ruht auf einem verkehrten Selbstverständnis. Daher ist auch nichts damit gewonnen, sich durchs Leben durchgemogelt zu haben. Nicht das oberflächlich Positive, sondern das Negative, Angst und Verzweiflung, sind die Wahrheit über das Leben, welche nie unmittelbar, sondern nur durch die Verzweiflung hindurch gelingen kann. Es ist immer kritisch.459 Superlative über das misslingende Leben kommen sowohl der unbe­ wussten Verzweiflung zu als auch der bewussten Verzweiflung desje­ nigen, der nicht gesund werden will. Welche Form die gefährlichere ist, wird im Werk jedoch nicht einheitlich gesagt.

2.4 Die Formen dieser Krankheit (C) Das nun folgende abschließende Kapitel zur Krankheit zum Tode ana­ lysiert Kierkegaards komplexe Darstellung der Formen der Verzweif­ lung im dritten Kapitel (C) des ersten Abschnitts des Werks. Kierke­ gaard beschreibt die Krankheit des Geistes in zwei Durchgängen, Vgl. Theunissen (1982) 53. Der Mensch, so Theunissen, ist immer bedroht und gefährdet. Das Leben ist schwer, und der Mensch regiert darauf gewöhnlich mit Entsetzen und Flucht. Deren drei Hauptgestalten sind glückhafte Unmittelbarkeit, verabsolutierte Relativität und Trotz (vgl. Theunissen (1982) 150 ff., 169 ff.). 458

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zunächst synthesetheoretisch der Anthropologie der Einführung fol­ gend460 (KT 31 ff.), danach entsprechend dem Grad ihres Bewusst­ seins bzw. der Reflexion. Die Arbeit folgt dieser Struktur. Kierke­ gaards Kapitel ist komplex, jedoch streng symmetrisch gegliedert. Das erste Unterkapitel betrachtet die Verzweiflung, unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst ist, in der Reflexion auf die Momente der Synthese, zunächst unter der Bestimmung Endlichkeit – Unendlich­ keit, dann unter der Bestimmung Möglichkeit – Notwendigkeit.461 Hier liegt jeweils der Grund der Verzweiflung des einen Moments im Fehlen des anderen.462 Das zweite Unterkapitel betrachtet die Ver­ zweiflung unter der Bestimmung des Bewusstseins und betrachtet zunächst die unbewusste, darauf die bewusste Verzweiflung, wobei letztere noch einmal in zwei Formen auftritt: Verzweifelt nicht man selbst sein wollen, und verzweifelt man selbst sein wollen. Kierkegaard selbst schreibt dazu auf seiner obersten Gliede­ rungsebene, dass sich die Formen der Verzweiflung abstrakt in der Reflexion der Momente der Synthese auffinden lassen müssen (vgl. KT 50). Er bestimmt in diesem Zusammenhang explizit das Sich-zusich-Verhalten als Freiheit. »Das Selbst ist Freiheit« (KT 50).463 Der Mensch ist also kein Etwas, das die Eigenschaft hat, frei zu sein. Er ist wesentlich frei. Wichtiger als dieses abstrakte erste Kapitel, wie Kierkegaard mit dem Ausdruck »vor allem« (KT 50) klar macht, sei die Betrachtung der Verzweiflung unter dem Gesichtspunkt, ob sie bewusst sei oder nicht. Hier gebe es eine qualitative Differenz, quasi zwei Begriffe von Ver­ zweiflung. Bewusstsein bedeute hier Selbstbewusstsein, Bewusstsein darüber, ein Selbst im explizierten Sinne zu sein. Nicht weiter erläu­ tert wird der Willensbegriff, den der Autor an dieser Stelle einführt: Je mehr Selbstbewusstsein, desto mehr Wille, und je mehr Wille, desto Vgl. Theunissen / Greve (1979) 47. Theunissen schlägt für die Synthesegliederpaare die Oberbegriffe ›begrenzt‹ und ›grenzenlos‹ vor (vgl. Theunissen (1991a) 43). 462 Wesche deutet die jeweilige Einseitigkeit als den strukturellen Ausschluss von Unbestimmtheit (vgl. Wesche (2003) 39), womit er den Schlüsselbegriff seiner eigenen Interpretation einführt und die Figur des gelingenden Lebens bei Kierkegaard als Annahme von Unbestimmtheit (vgl. Wesche (2003) 110, 118, 151) bereits vor­ zeichnet. 463 Das Selbst ist Freiheit, »aber nicht frei dazu, die Freiheit die [es] ist, zu sein oder nicht zu sein« (Theunissen (1979) 505). Theunissen versucht über diese Figur das Entdecken des Gesetztseins durch Gott auszuweisen. Der Schluss von der Freiheit als Notwendigkeit auf die Geschöpflichkeit impliziert jedoch weitere Prämissen. 460 461

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mehr Selbstbewusstsein (vgl. KT 50). Bewusste Verzweiflung zeige sich in zwei Gestalten: verzweifelt nicht man selbst oder verzweifelt man selbst sein zu wollen.

2.4.1 Synthesetheoretische Perspektive 2.4.1.1 Endlichkeit und Unendlichkeit Ziel des folgenden Abschnitts ist also die Analyse der ersten von zwei Betrachtungen der Verzweiflung nach den Momenten ihrer Synthese. »Das Selbst ist die bewusste Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält, deren Aufgabe es ist, sich selbst zu werden, was sich nur durch das Verhältnis zu Gott ver­ wirklichen lässt« (KT 50 f.). Das Kapitel beginnt mit der ersten Ver­ wendung des für das Werk zentralen normativen Begriff der Auf­ gabe.464 Der Mensch als sich-zu-sich-verhaltende Synthese der angenommenen Syntheseglieder soll werden, wer er ist, was nur in einem Gottesverhältnis gelingt – weil das Selbst immer schon in die­ sem konzipiert ist. Es gibt also nicht lediglich zwei Existenzweisen des Menschen, negative Einheit oder positives Drittes, es gibt ein ›Soll‹, ein Misslingen und ein Gelingen. Die offensichtliche Frage ist nun: wie gelangt man in dieses Verhältnis zu Gott? Kierkegaard benennt dieses mit dem Ausdruck »konkret werden« (KT 51), das Kierkegaard mit einer Doppelbewegung skizziert: »Die Entwicklung muss also darin bestehen, unendlich von sich selbst loszukommen im Unend­ lichmachen465, und darin unendlich zu sich selbst zurückzukehren im Endlichmachen466« (KT 51). Man wird also der konkrete Mensch, der man ist, indem man von sich loskommt und zu sich zurückkommt.467 Dabei ist der Mensch »im Werden« (KT 51) der, der er sein soll. Wird er es nicht, ist er verzweifelt (vgl. KT 51). Kierkegaard schreibt, der Mensch sei »nicht wirklich da« (KT 51). Er ist in der paradoxen Lage, dass er sein soll, wer er ist, also noch nicht ist, wer er ist, aber dennoch 464 Durch die Gabe des Gegebenen wird eine Möglichkeit zur Aufgabe (vgl. Theunis­ sen (1979) 503). Weder ist der Mensch einfach festgelegt, noch ist die Zukunft einfach offen. Das »Sein als Aufgegebensein« (Theunissen (1982) 50) ist für ihn zu entdecken. 465 »Uendeliggjørelse« (SKS 11, 146) auch: Verunendlichung. 466 »Endeliggjørelsen« (SKS 11, 146) auch: Verendlichung. 467 Das Mögliche ist dann nicht mehr abstrakt-phantastisch, sondern das Feld des mir Möglichen (vgl. Theunissen / Greve (1979) 48 f.).

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sozusagen da ist. Dahinter steht das Paradoxon der reflexiven Struktur der Selbstveränderung, ein Prozess, in dem der Mensch grammatisch zugleich Subjekt und Objekt ist. Er ist noch nicht der, der er eigentlich ist. Gemäß der bereits erläuterten Struktur besteht nun die Verzweif­ lung des einen Moments im Fehlen des anderen.468 2.4.1.1.1 Verzweiflung der Unendlichkeit als Fehlen von Endlichkeit »Keine Form von Verzweiflung kann man direkt bestimmen (das heißt undialektisch), sondern nur dadurch, dass man auf ihr Gegen­ teil reflektiert« (KT 51). Kierkegaard erläutert an dieser zentralen Stelle sein methodisches Vorgehen: Er geht davon aus, dass man nicht direkt, sondern nur indirekt, durch Reflexion des Gegenteils, und in diesem Sinne dialektisch, Formen bestimmen kann. Dieser Ansatz reicht weit über das aktuelle Kapitel hinaus und liegt der gesamten Konzeption der Krankheit zum Tode zu Grunde – die These der Unmöglichkeit eines direkten Zugangs und die These der Implikation des Gegenteils, welches durch Reflexion bestimmbar wird. Daher befasst sich Kierkegaards Hauptwerk, das die Idee eines gelingenden Lebens bestimmen will, mit dem Studium der Formen der Krankheit des Geistes. Misslingen impliziert Gelingen, und der Weg zum Gelingen liegt in der Reflexion des Misslingens. Dabei entspricht, wie bereits ausgeführt, das methodische Vorgehen der Sache: Gesundheit ist Überwindung von Krankheit. Es gibt keine unmittelbare Gesundheit des Geistes, wie es auch keine direkte und unmittelbare Idee von Gelingen gibt. Der Zugang liegt darin, miss­ lingen zu studieren bzw. zu überwinden. Gesundheit ist nur durch Überwindung von Krankheit, Bestimmung ist nur durch Reflexion des Gegenteils möglich. Im Zuge der ersten abstrakten Untersuchung der Verzweiflung bestimmt Kierkegaard nun das Endliche als das Begrenzende, das Unendliche als das Ausweitende. Jede Existenz, die unendlich sei oder sein wolle, sei daher verzweifelt, da sie die Synthese verfehle (vgl. KT 51). Gelingen wird dagegen hier zum zweiten Mal bestimmt als »sich 468 In der Verzweiflung der Notwendigkeit und der Verzweiflung der Endlichkeit kommt der Mensch nicht über sich hinaus, in der Verzweiflung der Möglichkeit und der Verzweiflung der Unendlichkeit nicht auf sich zurück. Die Doppelbewegung miss­ lingt (vgl. Theunissen (1991a) 50 f.).

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selbst durchsichtig in Gott gründen« (KT 52, vgl. dazu 33), womit die Begriffe ›Macht‹ und ›Gott‹ eindeutig hier synonym sind.469 Das Unendliche, so Kierkegaard diesen Punkt erläuternd, sei »das Phantastische, das Grenzenlose« (KT 52). Auf der Phantasie als »Möglichkeit aller Reflexion« beruhen letztendlich »Gefühl, Erkennt­ nis [und] Willen« (KT 52) des Menschen, die Kierkegaard hier als knappes anthropologisches Modell benennt und im Folgenden nach­ einander betrachtet. Wenn das Selbst Reflexion ist, dann ist Phantasie Möglichkeit des Selbst (vgl. KT 52). Einseitig wird dies aber zum Prob­ lem: Das Phantastische führe den Menschen ins Unendliche hinaus, von sich weg, halte ihn davon ab, »zu sich zurückzukehren« (KT 52). Das Selbst verflüchtige sich und das Gefühl werde »unmenschlich« (KT 52). Dies könne zur Form des misslingenden Lebens führen, »gefühlvoll an dem Schicksal« (KT 52) eines Abstrakten teilzuneh­ men, etwa der »Menschheit in abstracto« (KT 52).470 Der Einzelne entfernt sich also von sich als konkretem Menschen471, »er verliert mehr und mehr sich selbst« (KT 53). Gleiches geschehe im Bereich der Erkenntnis: Wenn zunehmende Erkenntnis phantastisch werde und den Bezug zur Selbsterkenntnis verliere, dann werde sie auf gleiche Weise unmenschlich (vgl. KT 53). Kierkegaard skizziert wie »[...] zu dessen [Bezug: das unmensch­ liche Erkennen] Zuwegbringen das Selbst des Menschen verschwen­ det wird, wie Menschen zum Bau der Pyramiden verschwendet wurden, oder wie in jener russischen Hornmusik dazu verschwendet werden, ein Takt zu sein, nicht mehr und nicht weniger« (KT 53). Unmenschliches Erkennen, losgelöst von Selbsterkenntnis und in diesem Sinne von Bildungsprozessen, kennzeichnet das misslingende Leben. Interessant sind hier die metaphorischen Beispiele, der Pyra­ midenbau oder die Hornmusik. Das Leben misslingt als lediglich einer von vielen, die alle das gleich tun, als Aufgehen in der abstrak­ ten homogenen Masse der Menschheit, der Pyramidenbauer oder Hornisten, wo jeweils der Einzelne austauschbar ist. Diese Prozesse »verschwenden« (KT 53) Menschen, die dort nicht das sind, was sie 469 Theunissen versucht den Begriff ›Macht‹ offener zu interpretieren (vgl. Theunis­ sen (1991a) 36). 470 Rasmussen nennt dies den ersten Typ des Nihilismus bei Kierkegaard (vgl. Rasmussen (2017) 211). 471 Wo nur von Menschheit und Weltgeschichte die Rede ist, hat man vergessen, was es bedeutet, Mensch zu sein und sich damit vom Christentum abgewandt (vgl. Theunissen (1979) 496).

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nicht nur sein könnten, sondern was sie sein sollten. Der konkrete Mensch ist nicht einfach die kleinste Einheit der Menschheit. Das Leben gelingt dagegen, wenn Erkenntnis immer auch Selbsterkennt­ nis472 ist, den Bezug zum eigenen Leben nicht verliert. Wie Gefühl und Erkenntnis kann auch der Wille phantastisch werden: Der Vorsatz werde unendlich, womit der Teil der Arbeit, der sich noch heute ausführen lasse, unendlich klein werde (vgl. KT 53). Dadurch, dass man alles mögliche will, wird der Teil, den man jetzt konkret tun könne, immer kleiner, bis man am Ende gar nichts mehr tut. Der Gedanke ›was ich nicht alles tun könnte‹ führt zu nichts. Und wenn so Gefühl oder Erkenntnis oder Wille fantastisch geworden sind, so kann es schließlich das ganze Selbst werden, was entweder in einer mehr aktiven Form geschieht, dass der Mensch sich in das Phan­ tastische stürzt, oder in einer mehr leidenden Form, dass er hingerissen wird, aber in beiden Fällen verantwortlich. Das Selbst führt so eine phantastische Existenz in abstrakter Unendlichmachung oder in abstrakter Isolation [...] (KT 53 f.).

Sich verlieren in das Phantastische führt also in einen Zustand abstrakter Isolation als Gestalt des misslingenden Lebens. Man verliert den Bezug zu sich als konkretem Menschen und wird so handlungsunfähig. Ob man das aktiv tut oder da hineingerät, ent­ bindet nach Kierkegaard nicht von der Verantwortung. Es genügt auch, wenn eine Dimension – Gefühl, Erkenntnis oder Wille – sich ins Phantastische verliert, um die ganze Person da hineinzuziehen. Kierkegaard fügt noch ein religiöses Beispiel an: Als Phantastisches werde das Gottesverhältnis »bloß ein Rausch« (KT 54). Man könne es vor Gott nicht aushalten, wenn man nicht zu sich zurückfinde. Wenn aber ein Mensch so phantastisch geworden ist und darum verzweifelt, so kann er doch, obwohl das meistens offenbar wird, recht gut dahin leben; Mensch sein, wie es scheint, beschäftigt mit dem Zeitlichen, heiraten, Kinder zeugen, geehrt und angesehen sein – und man merkt es vielleicht nicht, dass ihm im tieferen Sinne ein Selbst fehlt. Von solchen Dingen macht man in der Welt kein großes Aufheben; denn ein Selbst ist das, was in der Welt am wenigsten gefragt ist, und das ist etwas, was am allergefährlichsten ist, sich anmerken zu lassen, dass man eines hat. Die größte Gefahr, sich selbst zu verlieren, kann in der Welt so still vonstatten gehen, als wäre es nichts (KT 54). Durch theologische Prämissen fällt hier Selbsterkenntnis mit dem Verstehen des Willens Gottes zusammen (vgl. Sagi (2000) 7, 14).

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Kierkegaard konkretisiert hier seinen Begriff des Dahinlebens als einen der Schlüsselbegriffe für das misslingende Leben: Man ist beschäftigt, verheiratet, hat Familie und ist angesehen. Das misslin­ gende Leben, das Fehlen des eigentlichen Selbst, ist in der Welt ›am wenigsten gefragt‹ – der Superlativ drückt also ein genau umgekehr­ tes Verhältnis, man könnte auch sagen, ein verkehrtes Verhältnis, zwischen dem in der Welt deskriptiv Gesollten und Gewürdigten und dem normativ Gesollten aus. Die Welt ist an diesem Punkt genau verkehrt. Damit ist auch der fundamentale Begriff des ›Menschseins‹ in der Welt verkehrt besetzt. Das misslingende Leben geschieht so unbemerkt in einer Welt, in der sonst jede Kleinigkeit bemerkt wird. Neu an dieser Stelle ist dazu die Bemerkung, ebenfalls im Superlativ formuliert, dass das gelingende Leben, lässt man es sich auch nur anmerken, in der Welt gefährlich sein kann. Man fühlt sich hier an das Ende des platonischen Höhlengleichnisses erinnert. Das gelingende Leben führt nicht zu sozialem Erfolg, sondern in das genaue Gegenteil. Als Ergebnis der Teilanalyse gilt es festzuhalten: Der Mensch hat als Selbst die normative Aufgabe, durch die Doppelbewegung konkret zu werden, wer er ist. Verliert er sich einseitig ins Unend­ lich-Phantastische, so verliert er den Bezug zu sich als konkretem Menschen und wird letztlich handlungsunfähig, sein Leben misslingt im Zustand abstrakter Isolation. Es ist jedoch auch möglich, dass sich in diesem Zustand im Alltäglichen gut dahinleben und sozialer Erfolg erzielen lässt, der in der verkehrten Welt mit einem im Verhältnis zum normativ Gesollten verkehrten soziokulturellen Maßstab bemessen wird. Sowohl Maßstäbe als auch elementare Begriffe sind verkehrt. So fällt das misslingende Leben in keiner Weise auf, während das eigent­ lich gelingende Leben gefährlich werden kann. Das Leben misslingt als Teil einer homogenen Masse in Prozessen, durch die Menschen verschwendet werden. Methodisch geht Kierkegaard davon aus, dass Bestimmung nur durch Reflexion des Gegenteils möglich ist, das das zu Bestimmende als negativ impliziert. Der methodische Ansatz, das gelingende Leben durch die Studie der Verzweiflung zu erschließen, entspricht dabei der Kernthese zur Sache, der zufolge Gesundheit nur als Überwindung von Krankheit möglich ist.

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2.4.1.1.2 Verzweiflung der Endlichkeit als Fehlen von Unendlichkeit Der folgende Abschnitt untersucht das Gegenstück zum Vorherigen, verzweifelte Begrenztheit und Borniertheit aus Mangel an Unendlich­ keit und Phantasie. Dabei werde in der Welt gerade nicht diese Art der Beschränktheit thematisiert, sondern lediglich ästhetische oder intellektuelle Beschränktheit, da man in der Welt dem Gleichgültigen unendlichen Wert beimesse (vgl. KT 55). Indem Kierkegaard die hier thematisierte verzweifelte Beschränktheit gegen die Begriffe ästhe­ tisch und intellektuell mit dem Begriff »ethisch« (KT 55) abgrenzt, bekommt beiläufig die Krankheit zum Tode das Prädikat einer in diesem Sinne ethischen Untersuchung, als Frage nach dem normativ Gesollten und dem gelingenden Leben. Die weltliche Betrachtung [... hat] darum kein Verständnis für Beschränktheit und Borniertheit, was ja bedeutet, sich selbst verloren zu haben, nicht durch Verflüchtigung ins Unendliche, sondern dadurch, dass man ganz verendlicht, statt ein Selbst geworden zu sein eine Zahl wurde, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr in diesem ewigen Einerlei (KT 55).

Da sie mit Gleichgültigem beschäftigt ist, sieht die weltliche Perspek­ tive die Form der Verzweiflung oder des misslingenden Lebens nicht. Sie besteht darin, dass man nicht der konkrete Mensch geworden ist, der man ist (vgl. KT 51), sich aber nicht durch die Phantasie in abstrakte Isolation verloren hat (vgl. KT 54), sondern an das Gegen­ teil der Phantasie: Man ist eine Zahl geworden, ein Mensch mehr, einer von vielen. Das Leben misslingt immer dort, wo der einzelne Mensch nur noch eine Nummer ist. Während man von anderen, etwa einem Verwaltungsapparat, dazu gemacht werden kann, kann man es auch selbst werden. Der Gegenbegriff Kierkegaards ist das geistige Leben.473 Man hat sich selbst seiner Ursprünglichkeit beraubt, »geis­ tig verstanden, sich selbst entmannt« (KT 55), metaphorisch also in gewissem Sinne seine Schaffenskraft verloren. Jeder Mensch ist nämlich primitiv474 als ein Selbst angelegt, dazu bestimmt, er selbst zu werden; und zwar ist jedes Selbst als solches kantig, aber daraus folgt nur, dass es zugeschliffen werden, nicht dass es abgeschliffen werden soll, nicht dass es aus Menschenfurcht ganz Hier gelingt das Leben als Wiederholung im Sinne eines sich Zurückholens aus eben dieser Nivellierung (vgl. Löwith (1979) 542, 554). 474 »Primitivitet« (SKS 11, 149) D: ursprünglich.

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aufgeben soll, es selbst zu sein, oder gar bloß aus Menschenfurcht nicht zu wagen, es selbst in dieser seiner wesentlichen Zufälligkeit zu sein (die eben nicht abgeschliffen werden soll), in der man doch sich selbst für sich selbst ist (KT 55).

Eingebettet in eine Schleifmetaphorik erläutert Kierkegaard eine Theorie der Anlage, der individuellen Einzigartigkeit jedes Menschen. Der Metaphorik des Schleifens des Kantigen folgend unterscheidet er zwischen zu- und abschleifen, also zwischen der Notwendigkeit von Bildungsprozessen und deren Perversion durch einseitige Sozia­ lisations- oder Enkulturationsprozesse, die dem Individuum in einem Gewaltakt das nehmen, was es eigentlich wesentlich ausmacht.475 Dass aus der individuellen Anlage aber »folgt« (KT 55), dass diese nicht gewaltsam nivelliert werden soll, impliziert neben diesem Menschenbild auch ein normatives Sollen, das in ein christliches Menschenbild immer schon eingelassen ist. Ohne diesen Rahmen ist dieses ›folgt‹ ein naturalistischer Fehlschluss von einem ›ist‹ auf ein ›soll‹. Das gelingende Leben benötigt Bildungsprozesse und misslingt, wenn diese gegen das Individuum gerichtet und derart pervertiert werden. Indem er die Menge Menschen um sich sieht, mit allerhand weltlichen Angelegenheiten zu tun bekommt, klug wird, wie es in der Welt zugeht, vergisst ein solcher Mensch sich selbst, wie er, göttlich verstanden, heißt, wagt nicht an sich selbst zu glauben, findet es zu gewagt, er selbst zu sein, findet es leichter und sicherer, wie die anderen zu sein, eine Nachäffung zu werden, eine Nummer zu werden, inmitten der Menge (KT 56).

Kierkegaard beschreibt nun im Folgenden den negativen Einfluss einer größeren sozialen Gruppe oder Menge von Menschen auf den Gelingensprozess des Lebens des Einzelnen. Man findet sich in diese hinein, glaube zu lernen, und irgendwann traut man sich nicht mehr, man selbst zu sein, auch weil es bequemer ist, einfach wie die anderen zu sein. Das misslingende Leben wird dabei zum einen mit der quantitativen Reduktion des Individuums auf eine Nummer, zum anderen mit der Tiermetaphorik des Nachäffens beschrieben. Als lediglich einer von vielen verfehlt man das eigentlich Menschli­ che. Dieses Klugwerden und Nachäffen treten an die Stelle, an der eigentlich der Bildungsprozess des metaphorischen Zuschleifens sein 475 Kierkegaard kritisiert die Destruktion der Individualität in der modernen Massen­ gesellschaft (vgl. Deuser (1985) 91).

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sollte. Das misslingende Leben scheint dabei »leichter und sicherer« (KT 56). Es ist bequemer mitzuspielen als zu tun, was man tun sollte. Das gelingende Leben dagegen erfordert den Mut, die Kom­ fortzone und den scheinbaren Schutz »inmitten der Menge« (KT 56) zu verlassen. Subjekt ist dabei jedoch stets der Einzelne, der diese Prozesse ›zulässt‹, ›vergisst‹, ›nicht wagt‹ und ›findet‹ im Sinne von ›einschätzt‹ (vgl. KT 56). Die Verantwortung für diesen Prozess des Misslingens liegt damit letztlich beim Individuum, das diesen Weg wähle, das Ja sage, wo es längst hätte Nein sagen sollen. Während der sich an das Phantastische verlierende Mensch lediglich recht gut dahinleben könne (vgl. KT 54), werde man auf diese Form der Verzweiflung in der Welt praktisch nicht aufmerksam. Durch diesen Verlust des Selbst gewinnt er die Perfektheit, um in der Welt erfolgreich zu sein (vgl. KT 56). »[...] Er ist abgeschliffen wie ein Kie­ selstein, kurant wie eine gangbare Münze. Niemand wird ihn für ver­ zweifelt halten, ist er doch gerade ein Mensch, wie es sich gehört« (KT 56). Das misslingende Leben der verzweifelten Begrenztheit fügt sich reibungslos, sogar überaus erfolgreich, in die Welt ein, deren faktische deskriptive Ethik, die sage ›wie es sich gehört‹, im Zuge einer voll­ kommenen Verkehrung der Maßstäbe, welche sich im Übrigen in einer Vielzahl von Sprichwörtern und Klugheitsregeln ausdrücke (vgl. KT 56), das misslingende Leben fordert und positiv sanktioniere. Neben der Wiederholung der Schleifmetaphorik impliziert die Münz­ metaphorik den Prozess der völligen soziokulturellen Prägung, eben­ falls als gewaltsame Perversion des Bildungsprozesses.476 Die Ver­ zweiflung, »die das Leben bequem und behaglich macht« (KT 56), gilt gerade nicht als Verzweiflung. In Sprichwörtern, nach denen das Reden gefährlicher sei als das Schweigen, zeigt sich nach Kierkegaard gerade die Verkehrung, da gerade im Schweigen der Mensch nach innen gerichtet und mit sich selbst konfrontiert ist (vgl. KT 56 f.). All­ gemein kommt dem gelingenden Leben die Dimension des Inneren zu, während sich das misslingende Leben selbst im Außen verliert. Das misslingende Leben, in der verkehrten Welt positiv sanktio­ niert, ist dazu das risikolose. Wer gut in der Gesellschaft funktioniert, für den scheint es »klug« (KT 57), nichts zu riskieren (vgl. KT 57). Gerade in dieser Risikolosigkeit, im Sich-eingerichtet-Haben in der Welt, riskiert aber gerade der Mensch, sich selbst zu verlieren, geht 476 Gelingen ist folglich Überwindung dessen, was andernfalls unser Leben formen würde (vgl. Söderquist (2015) 93).

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das höchste Risiko ein. Ob man in der Welt gewinnt oder verliert, ist dagegen letztlich gleichgültig. Im Vergleich zu allen »irdischen Vorteilen« (KT 57) erscheint das Selbst, »als wäre es nichts« (KT 57), obwohl es eigentlich das Entscheidende ist. Das Leben gelingt also im Wagnis, auch gegen den soziokulturellen Kontext zu sein, wer man ist, das Risiko des Misserfolgs an dieser Stelle bewusst in Kauf nehmend. Weil ein Mensch so verzweifelt ist, darum kann er sehr gut, und eigentlich gerade desto besser, in der Zeitlichkeit dahinleben, als ein Mensch erscheinen, gepriesen von anderen, geehrt und angesehen, mit allen Aufgaben der Zeitlichkeit beschäftigt. Ja, was man gerade die Weltlichkeit nennt, besteht aus lauter solchen Menschen, die, wie man so sagen kann, sich der Welt verschreiben (KT 57).

Die Konjunktion ›weil‹ zeigt hier die Grundstruktur der Verkehrung der Welt an. Die Begriffe ›gut‹ und ›besser‹ in der Welt korrespon­ dieren mit dem normativ misslingenden Leben, hier abermals auf den Kernbegriff des Dahinlebens gebracht. Man ist überaus beschäf­ tigt, ökonomisch klug und erfolgreich, anerkannt, man widmet sich voll und ganz der Welt und ihren Aufgaben und verfehlt dabei die eigentliche Aufgabe. Erneut stellt Kierkegaard dar, dass sich die Verkehrung bis in den Begriff des ›Menschseins‹ hinein erstreckt. Seine »Gaben« (KT 57) im Sinne seiner Talente zu nutzen ist dabei noch kein Merkmal des gelingenden Lebens, wenn es sich auf das innerweltliche Erfolgsstreben beschränkt. Das »und so weiter und so weiter« (KT 57) zeigt hier gerade dessen letztliche Gleichgültigkeit an. Das Selbstsein vor Gott ist von diesem ›Selbstischen‹ (vgl. KT 57) grundverschieden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Leben misslingt, indem man zulässt, durch Mitmachen und durch einseitige und umfassende Sozialisations- und Enkulturationsprozesse, welche für den Men­ schen notwendige Bildungsprozesse pervertieren, das je individuell Einzigartige zu verlieren und ein Mensch von vielen, eine Zahl zu werden. Man wählt den bequemeren, reibungsloseren, risikoloseren Weg, der in der verkehrten Welt überaus erfolgsversprechend ist, ent­ fremdet sich dabei jedoch von sich selbst. Diese Gestalt der Krankheit des Geistes macht das Leben oberflächlich bequem und erfolgreich. Die Verkehrungsstruktur zieht sich dabei durch alle Maßstäbe und Begriffe bis in den Begriff des Menschen selbst. Man ahnt noch nicht einmal oder nur dunkel, worum es im Leben eigentlich geht. Das Leben gelingt als Gegenkonzeption zum Misslingen, methodisch bestimmt durch dessen Reflexion, in dem Wagnis, auch gegen das

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eigene soziokulturelle Umfeld vor Gott zu sein, wer man ist. Das Risiko sozioökonomischen Misserfolgs ist dabei letztlich belanglos. Geschöpflichkeit des Einzelnen und das normatives Sollen ihrer Ent­ faltung bedürfen dabei des christlich-paradigmatischen Horizonts, sollen sie nicht einem naturalistischen Fehlschluss unterliegen. 2.4.1.2 Möglichkeit und Notwendigkeit Der nun folgende Schritt untersucht die zweite synthesetheoreti­ sche Betrachtung des Phänomens der Verzweiflung. Die Struktur entspricht dabei der des vorherigen Abschnitts, das heißt die jeweilige Gestalt der Verzweiflung hat ihren Grund im Mangel des jeweils anderen Syntheseglieds. Zum Werden, so Kierkegaard in der einlei­ tenden Passage, gehören wie Unendlichkeit und Endlichkeit auch Möglichkeit und Notwendigkeit. Dabei expliziert das »soll« (KT 58) die normative Forderung des Selbstwerdens.477 Das Selbst ist als Synthese »gesetzt […] um zu werden« (KT 58). 2.4.1.2.1 Verzweiflung der Möglichkeit als Fehlen von Notwendigkeit Der Grund, warum dies so sei, liege, »wie gezeigt wurde […] im Dialektischen« (KT 58). Der Autor geht also davon aus, dass das Dialektische des Selbst als Verhältnis von Gegenteilen – und als Verhältnis zu diesem – (vgl. etwa KT 51) hinreichend erläutert und erwiesen wurde. In der Strukturanalogie der Synthesegliederpaare entspricht nun die Notwendigkeit der begrenzenden Endlichkeit (vgl. KT 58). Dage­ gen zeige sich im Medium der Phantasie »die unendliche Möglich­ keit« (KT 58), die Momente Unendlichkeit und Möglichkeit sind also ebenfalls eng zu führen. »Das Selbst ist ϰατα δυναμιν ebensosehr möglich wie notwendig478; denn es ist ja es selbst, aber es soll es selbst werden. Insoweit es es selbst ist, ist es notwendig, und insoweit es es selbst werden soll, ist es Möglichkeit« (KT 58). Kierkegaard 477 Wirklichkeit ist gerade Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit (vgl. Theunis­ sen (1982) 50). 478 Theunissen interpretiert diesen Begriff der Notwendigkeit als Notwendigkeit der Möglichkeit, des Sich-Imaginieren-Müssens. Man bildet in der Phantasie ein Bild von sich und realisiert dieses (vgl. Theunissen (1991a) 59 ff.).

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eröffnet hier eine Doppelstruktur. Der Mensch ist zugleich wer er ist und wer er sein soll, doch beides ist nicht dasselbe. Sowohl Notwendigkeit als auch Möglichkeit sind faktisch und im Rahmen der Konzeption dazu immer schon normativ gehaltvoll gedacht.479 Möglichkeit ist notwendig. Der Mensch ›ist‹ wesentlich und ›soll‹ wesentlich sein. Das Selbst impliziert als von Gott gesetzt beides und bringt es zusammen.480 In der einseitigen Fehlkonstellation der Verzweiflung der Mög­ lichkeit »rennt nun die Möglichkeit die Notwendigkeit über den Haufen« (KT 58): »Dieses Selbst wird eine abstrakte Möglichkeit, es zappelt sich in der Möglichkeit müde, aber es kommt nicht von der Stelle und auch nicht zu irgendeiner Stelle, denn das Notwendige ist gerade die Stelle; es selbst zu werden ist ja gerade eine Bewegung auf der Stelle« (KT 58). Kierkegaard führt hier den zentralen Begriff der Stelle481 ein, dem über das Notwendige das Prädikat des Konkre­ ten als Gegenbegriff zur lediglich abstrakten Möglichkeit zukommt. Selbstwerden ist immer als Selbstwerden eines konkreten Menschen das Zusammenbringen von Notwendigkeit und Möglichkeit dessen, was er ist und dessen, was er werden soll. Aufgrund des immer schon normativen Gehalts ist Selbstwerden eine Doppelbewegung auf der Stelle. ›Ich selbst soll ich selbst werden‹. Das normativ Gesollte ist für Kierkegaard hier untrennbar vom konkreten Menschen. Ein Mangel an Notwendigkeit bedeutet folglich eine Flucht vor sich selbst. In dieser Gestalt des misslingenden Lebens, so Kierkegaard weiter, erscheine das Mögliche immer größer, die Zeit aber immer kürzer. Weil nichts wirklich werde, erscheine alles als möglich. Da habe der Abgrund das Selbst bereits verschlungen (vgl. KT 59). Die Möglichkeit werde intensiver, aber intensiver beziehe sich auf das Mögliche und gerade nicht auf die Intensität des Wirklichen. Es folg­ ten Phantasmagorien [Wahnbilder] aufeinander, »bis das Individuum gar selbst Lufterscheinung geworden ist« (KT 59). Abstrahiert vom konkreten Menschen scheint am Ende also möglich, aber man kann nichts mehr verwirklichen und die Zeit läuft davon. Weil man von sich selbst abstrahiert und nichts mehr konkret in der Zeit verwirklicht, 479 Der Entwurf ist faktisch, nicht nur das sich Vorfinden (vgl. dazu Theunissen (1979) 508). 480 Theunissen sieht in der Notwendigkeit der Freiheit das Argument für das Gesetzt­ sein (vgl. Theunissen (1991a) 63). 481 Hier muss der Mensch Vergangenes und Zukünftiges zusammenbringen (vgl. Theunissen (1979) 501).

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erscheint alles als möglich. Dass alles möglich ist und dass nichts möglich ist, läuft damit letztlich auf dasselbe hinaus. ›Was ich nicht alles tun könnte‹ führt zu nichts. Man verliert sich in Phantasien, wird handlungsunfähig, verliert den Bezug zu sich als konkretem Menschen und in diesem Sinne selbst. Dem Sich-Gründen in Gott des gelingenden Lebens steht der Begriff des Abgrunds dieser Gestalt des misslingenden Lebens gegenüber. Kierkegaard korrigiert nun die scheinbar naheliegende Dia­ gnose, dem derart verzweifelten Menschen fehle es an Wirklichkeit, oder er habe den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Es fehle ihm nicht an Wirklichkeit, sondern an Notwendigkeit (vgl. KT 59). Der These, Notwendigkeit sei Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit, stellt Kierkegaard die These entgegen, Wirklichkeit sei Einheit von Mög­ lichkeit und Notwendigkeit (vgl. KT 59). Damit stellt er der These der Schlüsselstellung der Notwendigkeit die These der Schlüsselstellung der Wirklichkeit des konkreten Menschen und damit letztlich auch der Freiheit gegenüber. »Freiheit ist das Dialektische in der Bestimmung von Möglichkeit und Notwendigkeit« (KT 50). »Was fehlt, ist die eigentliche Kraft zu leiden, sich unter das Notwendige im eigenen Selbst zu beugen, was die eigene Grenze genannt werden muss« (KT 59). Das derart misslingende Leben hat also weder den Bezug zur Wirklichkeit verloren, noch fehlt es ihm an Kraft, sich entscheiden zu können (vgl. KT 59). Es hat den Bezug zum eigenen Notwendigen, zu eigenen Grenzen verloren. Das Leben gelingt also, andersherum, in der Annahme der eigenen Grenzen, im Aushalten der eigenen Grenzen, in der Fähigkeit, auch daran zu leiden und dies zu ertragen. Das gelingende Leben erträgt Leiden. Für den je konkreten Menschen ist nicht alles möglich und er muss das akzeptie­ ren, auch wenn es schwer ist, und es ist schwer. An dieser Stelle tut sich die Frage auf, wie genau der Einzelne seinen Möglichkeitsspielraum ermessen kann. Vielleicht ist doch mehr möglich als man denkt – aber das fällt unter den nächsten Punkt ›Verzweiflung der Notwendigkeit‹. Das normative Problem, oder wie Kierkegaard sagt, das »Unglück« (KT 59), sei auch genau genommen nicht, dass der sich in Phantasien verlierende Mensch in der Welt nichts erreiche, sondern dass er sich selbst missverstehe (vgl. KT 59 f.). Das ›Ich‹ des ›Was ich nicht alles tun könnte‹ ist, abstrahiert von der je konkreten Notwen­ digkeit, verkehrt aufgefasst. Was man in der Welt erreicht ist dem­ gegenüber letztlich irrelevant. Im Folgenden erläutert Kierkegaard das Gesagte noch einmal mittels zweier Metaphern: Die Spiegelmeta­

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phorik besagt, dass man sich selbst kennen muss, um sich im Spiegel reflektiert erkennen zu können, und der »Spiegel der Möglichkeiten« (KT 60) sei unwahr. Abstrahiert von der Notwendigkeit zeige er noch nicht einmal die halbe Wahrheit (vgl. KT 60). In diesem Zusammen­ hang formuliert Kierkegaard eine starke Metapher für das misslin­ gende Leben als sich abstrakt als einer von vielen zu sehen: Man sehe im Spiegel nicht sich selbst, sondern nur einen Menschen. Gemäß der darauffolgenden Eltern-Kind-Metaphorik entspricht das Phantasti­ sche des Möglichen den Einladungen an ein Kind, das sofort ja sagt. Es bedürfe jedoch der Erlaubnis der Eltern, metaphorisch der Not­ wendigkeit korrespondierend (vgl. KT 60). Im letzten Schritt des Abschnitts differenziert Kierkegaard noch zwischen zwei Weisen, sich im Möglichen zur verlieren: der wün­ schend-begehrenden und der schwermütig-phantastischen (vgl. KT 60). Der Wünschende entspreche dabei dem Ritter, der, einem schein­ bar nahen Vogel folgend, sich in der Wildnis verliert. Man laufe der Möglichkeit nach, ohne zu sich selbst zurückzufinden, anstatt sie auf Notwendigkeit zurückzuführen (vgl. KT 60). Das Leben gelingt also demgegenüber im Rückführen von Möglichkeit auf Notwendigkeit.482 Schwermütig geschieht in gleicher Weise das Gegenteil. Den Men­ schen verfolgt schwermütig liebend eine Möglichkeit der Angst, die ihn schließlich weit von ihm selbst wegführt, so dass er in der Angst umkommt, genauer darin umkommt, wovor ihm Angst war umzu­ kommen (KT 60 f., Hervorhebung SK).

Der schwermütig-phantastische Mensch ist hier grammatisch Objekt. Er wird verfolgt von einer Angst, so dass er sich selbst verliert und im wovor der Angst umkommt. Der Mensch laufe also wünschend der Möglichkeit nach oder werde schwermütig von der Möglichkeit der Angst eingeholt – in beiden Fällen verliere er sich selbst. Das Ergebnis der Analyse ist: Der Mensch ist als von Gott gesetzt zugleich wer er ist und wer er sein soll, Notwendigkeit und Möglich­ keit sind faktisch, und dazu in ein normatives Ganzes eingebettet, das Selbst bringt sie zusammen. Wirklichkeit ist Einheit von Möglich­ keit und Notwendigkeit. Analog zur Verzweiflung der Unendlichkeit misslingt die Verzweiflung der Möglichkeit als das Sich-Verlieren in unendlichen Möglichkeiten. Weil man von sich selbst abstrahiert und nichts konkret verwirklicht, erscheint alles möglich, was auf Das Leben gelingt, so A. Pieper, in der Verwirklichung des Möglichen innerhalb der durch das Notwendige des Selbst gesetzten Grenzen (vgl. A. Pieper (2000) 114).

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dasselbe hinausläuft, als ob nichts möglich wäre. Man könnte alles tun, ist aber faktisch handlungsunfähig. Der sich an das Phantastische verlierende Mensch läuft wünschend der Fülle der Möglichkeiten hinterher oder wird schwermütig von der Möglichkeit der Angst eingeholt, in beiden Fällen verliert er sich selbst als Selbstverhältnis in einem Gottesverhältnis. Das ›Ich‹ im einseitig phantastischen ›Was ich nicht alles tun könnte‹ ist hier verkehrt verstanden. Das Leben gelingt demgegenüber als Doppelbewegung auf der Stelle, das faktisch Mögliche, das normativ Gesollte und der konkrete Mensch sind untrennbar und nicht abstrahierbar. Es gelingt im leidenden Aushalten der eigenen Grenzen, im Rückbinden von Möglichkeiten an Notwendigkeiten. Das ›ist‹ für Kierkegaard Freiheit. »Das Selbst ist Freiheit« (KT 50). 2.4.1.2.2 Verzweiflung der Notwendigkeit als Fehlen von Möglichkeit Der folgende Abschnitt untersucht nun die Gegenvariante.483 Wäh­ rend die Verzweiflung der Möglichkeit metaphorisch den Äußerun­ gen von Wünsche eines Kindes entspreche, so entspreche Verzweif­ lung der Notwendigkeit dem Stummsein (vgl. KT 61). Dass gewisse Lebensphasen »so reich an Hoffnung und Möglichkeit« (KT 61) seien, sei lediglich »Gerede« (KT 61), also Sphäre des misslingenden Lebens. Hoffnung und Verzweiflung des alltäglichen Geredes sind nicht das, worum es im Leben eigentlich geht, sondern Gestalt von Verzweif­ lung. Den wahren Begriff von Möglichkeit konzipiert Kierkegaard dagegen von Gott her: »für Gott ist alles möglich« (KT 61). Man sage das so dahin, [...] aber die Entscheidung fällt erst, wenn der Mensch zum Äußersten gebracht ist, dass er menschlich gesprochen keine Möglichkeit mehr hat. Dann gilt es, ob er glauben will, dass für Gott alles möglich ist, das heißt, ob er glauben will. Aber das ist ganz und gar die Formel für das Verlieren des Verstandes. Glauben heißt gerade den Verstand verlieren, um Gott zu gewinnen (KT 61, Hervorhebung SK).

Das Leben gelingt als ein Leben im Glauben daran, dass für Gott alles möglich ist, um den Preis des Verstandes. Ob das Leben gelingt oder nicht, zeigt sich in Grenzsituationen, in der Ausweglosigkeit. Hier 483

Zur Bedeutung dieses Kapitels vgl. Birkenstock (1997) 83.

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kommt dem Glauben das Verb ›wollen‹ zu. Die Glaube an die absolute Möglichkeit ist ein Akt des Willens. Kierkegaard konkretisiert die Bewegung des Glaubens an einem Beispiel: Ein Mensch stellt sich das Schrecklichste vor, das nicht auszuhalten wäre, und dann tritt dies ein. »Menschlich gesprochen ist sein Untergang das Allergewisseste« (KT 62). Er wünscht sich, nur noch in Ruhe verzweifeln zu dürfen (vgl. 62). »Daher ist also Rettung, menschlich gesprochen, das Unmöglichste von allem: aber für Gott ist alles möglich! Dies ist der Kampf des Glaubens, der, wenn man so will, wahnsinnig um Möglichkeit kämpft. Denn Möglichkeit ist das allein Rettende« (KT 62, Hervorhebung SK). Der Glaube daran, dass für Gott alles möglich ist – man könnte mit Furcht und Zittern ergänzen: kraft dessen, dass für Gott alles möglich ist – lässt das Leben angesichts des Schrecklichen in der Welt gelingen. Wesentlich ist hier das Adjektiv ›allein‹. Das Leben kann nur auf diesem skizzierten religiösen Wege gelingen, es bedarf dieses theologischen Begriffs von Möglichkeit, um nicht Verzweiflung zu sein. Neben dem Begriff des Willens ist der Begriff des Kampfs für diesen Prozess charakteristisch. Kierkegaards metaphorische Erläuterung der Möglichkeit, das Hilfsmittel sei wie Eau de Cologne gegen den Zustand der Ohnmacht (vgl. KT 62), also vorübergehende Bewusstlosigkeit, erläutert dies nochmals. Der Mensch ist ohne Möglichkeit ohnmächtig im Sinne von handlungsunfähig. Die Metaphorik der »Luft zum Atmen« (KT 62) bringt es noch einmal auf den Punkt. Ohne diese theologische Konzeption von Möglichkeit, so die These, kann der Mensch nicht leben. Menschliche Phantasie trägt nur bis zu einem gewissen Punkt (vgl. KT 62), jenseits dessen bedarf der Mensch des Glaubens. An dem Punkt der Ausweglosigkeit hilft nur noch dieser. Der Mensch mag hoffen, dass ihm dieses oder jenes nicht zustoßen möge. Doch wenn es ihm zustößt, gehe er unter. Der Glaubende sehe und verstehe menschlich gesprochen seinen Untergang (in dem, was ihm zustößt oder was er gewagt hat), aber er glaubt. Darum geht er nicht unter. [...] Zu verstehen, dass dies menschlich sein Untergang ist, und so doch an Möglichkeit zu glauben, das heißt Glauben. Dann hilft ihm Gott auch [...] (KT 63, Hervorhe­ bung SK).

Kierkegaard skizziert hier die Doppelbewegung des Glaubens als Verstehen des Untergangs und Glaube an das göttlich Mögliche. Der Mensch ist dabei Subjekt des Prozesses. Er will, er kämpft, er kann Möglichkeit »herbeischaffen« (KT 62). Die Adverbien ›darum‹

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und ›dann‹ vermitteln jedoch in diesem Kontext vom Standpunkt des Werks eine gewisse Gewähr, eine Sicherheit, die dem Argumen­ tationsgang folgend der Ebene des Verstandes verwehrt bleibt, hier aber als eintreffend, fast als sicher, in Aussicht gestellt wird. Der Glaubende wird nicht untergehen, Gott wird ihm helfen. Von einem Metastandpunkt jenseits des Verstandesbegriffs des Betroffenen geht diese Konzeption offenbar fest von der ›Rettung‹ (vgl. KT 62) aus. Man versteht den Untergang, man glaubt – und man wird nicht unter­ gehen. Das Leben misslingt also auch in der ständigen Hoffnung, mir möge dieses oder jenes innerweltlich nicht zustoßen. Es gelingt im Glauben an Gott, der es mir nicht zustoßen lassen oder mich retten wird (vgl. KT 63). Kierkegaard glaubt hier an das Wunder (vgl. KT 63). Er betont noch einmal den ersten Schritt der Doppelbewegung: Erst wenn der Mensch wirklich angestrengt nach einer Lösung gesucht und die Unmöglichkeit eingesehen hat, folgt die Bewegung des Glaubens. Der Glaubende besitzt das ewig sichere Gegengift gegen Verzweiflung: Möglichkeit; denn für Gott ist in jedem Augenblick alles möglich. Das ist Gesundheit des Glaubens, die Widersprüche löst. Der Widerspruch ist hier, dass menschlich gesprochen der Untergang sicher ist und dass dennoch Möglichkeit besteht. Gesundheit ist überhaupt, Widersprü­ che lösen zu können (KT 63, Hervorhebung JA).

Gegen die Verzweiflung als Krankheit zum Tode gibt es, auf der Ebene der medizinischen Metaphorik ausgedrückt, den im Glau­ ben erschlossenen Möglichkeitsbegriff als Gegengift. Die Wahl des Begriffs ›Gegengift‹, anstelle etwa Medikament oder Therapie, sowie seine Spezifikation durch das Adverb ›sicher‹ bestätigen die Interpre­ tation der zuvor Adverbien ›darum‹ und ›dann‹. Kierkegaard gibt hier eine Garantie, die es eigentlich, zumindest für den Glaubenden, derart nicht gibt. Die Krankheit zum Tode nimmt hier einen Metastandpunkt gegenüber der Doppelbewegung, der Dialektik (vgl. KT 62) des Glaubens ein. Dazu charakterisiert die Terminologie ›Gesundheit des Glaubens‹ hier explizit – nicht lediglich implizit – das gelingende Leben als Gegenentwurf zum misslingenden Leben der Verzweif­ lung als Krankheit des Geistes. Gesundheit ist hier ebenso sicher wie Krankheit. »Der Mangel an Möglichkeit bedeutet entweder, dass einem alles notwendig geworden ist, oder dass alles Trivialität geworden ist« (KT 64). Diese Gestalten der Verzweiflung der Notwendigkeit stellt Kier­ kegaard im Folgenden dar. Für den Deterministen oder Fatalisten ist

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alles notwendig geworden. Kierkegaard beschreibt diese Gestalt miss­ lingenden Lebens mittels einer Atemmetaphorik. Sein Selbst werde »ganz und gar erstickt« (KT 64). Ohne Möglichkeit, so die These, kann der Mensch in einem ganz elementaren Sinne nicht leben. Dabei wird das misslingende Leben mit einem eigentlichen Begriff von Leben, das misslingende Leben mit Absterben und Tod eng geführt. Man ist in Wahrheit – geistig – tot. Kierkegaard beschreibt den Gottesverlust des Fatalisten als gleichbedeutend mit dessen Selbstverlust – da das Gottesverhältnis für das Selbst konstitutiv ist – und wiederum gleichbedeutend mit der Diagnose »sein Gott ist Notwendigkeit« (KT 64). Damit befindet sich dieser Verzweifelte in einer fundamentalen Verkehrung, »[...] denn Gott ist das, dass alles möglich ist, oder dass alles möglich ist, ist Gott; « (KT 64). Kierkegaard fasst an dieser Stelle einen Gottesbegriff als Gegenentwurf zur Gott gewordenen Notwen­ digkeit, der beinahe mit dem Möglichkeitsbegriff zusammenfällt. Während zuvor »für Gott« (KT 62, auch KT 63) alles möglich ist, »ist« nun Gott, dass alles möglich ist, und dies wird sogar wiederholt. Dazu benutzt Kierkegaard in diesem Zusammenhang zum zweiten Mal die Metaphorik des Atmens. Beten sei auch Atmen und Möglichkeit für das Atmen wie Sauerstoff. Ohne sei der Mensch stumm (vgl. KT 64). Damit führt der Autor auch implizit ›Beten‹ und ›Sprechen‹ eng. Ohne Möglichkeit und damit ohne Gebet sei der Mensch »ebenso stumm wie das Tier« (KT 65). Die entscheidende Dimension der Sprache als Wesensmerkmal des Menschen ist also nicht intersubjektive Verständigung, sondern das Gottesverhältnis des Einzelnen. Ohne Gottesbeziehung ist Kommunikation wie Kommunikation der Tiere, eigentlich stumm. Kierkegaard führt damit das misslingende Leben mit der Sphäre des Tiers eng. »[...] Nur der, dessen Wesen so erschüttert wurde, dass er Geist wurde, um zu verstehen, dass alles möglich ist, nur der hat sich mit Gott eingelassen. Dies, dass Gottes Wille das Mögliche ist, macht, dass ich beten kann« (KT 64). Gegenüber dem Leben wie ein Tier beschreibt Kierkegaard das gelingende Leben hier als Bewegung eines Einbruchs des Negativen, einer Erschütterung, die, so der Text, dass Verstehen dessen, dass alles möglich ist, ist, also das Verstehen Got­ tes. Hier tritt also explizit der Begriff des Verstehens an die Stelle, die zuvor dem Glauben zukam (vgl. KT 61 ff.). Damit ist die Konzeption jedoch begrifflich inkonsistent. Die zweite Gestalt der Verzweiflung der Notwendigkeit und damit des misslingenden Lebens ist der »Spießbürger« (KT 65).

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Kierkegaard unterscheidet hier zwischen »Geistlosigkeit« (KT 65) des Spießbürgers und »Geistverzweiflung« (KT 65) des Deterministen, wobei auch der Determinist zuvor als derjenige beschrieben wurde, der kein Selbst hat, nicht Geist geworden ist (vgl. KT 64). Die Wider­ sprüchlichkeit soll vermutlich anzeigen, dass dem Deterministen noch ein wenig mehr Reflexion zukommt. Der Spießbürgerlichkeit fehlt jede Bestimmung durch Geist, und sie geht im Wahrscheinlichen auf, worin das Mögliche sein bisschen Platz findet; es fehlt ihr so die Möglichkeit, um auf Gott aufmerksam zu werden. Ohne Phantasie, wie der Spießbürger immer ist, lebt er in einem gewissen trivialen Inbegriff von Erfahrungen, davon wie es zugeht, was da möglich ist, was wohl zu geschehen pflegt, ob der Spießbürger im übrigen Bierzapfer oder Staatsminister ist. So hat der Spießbürger sich selbst und Gott verloren. Denn um auf sein Selbst und auf Gott aufmerksam zu werden, muss die Phantasie einen Menschen höher schwingen als bis zu dem Dunstkreis des Wahrscheinlichen [...] (KT 65).

Das Leben misslingt also ohne Phantasie, wenn der Horizont des Möglichen auf das triviale Alltägliche, ›was so geschieht‹, und das dementsprechend Wahrscheinliche reduziert wird. Man kann Mög­ lichkeit nicht denken, daher weder Gott noch sich Selbst. Das Mögli­ che ist reduziert auf das Alltägliche. Das Neue, das ganz andere, ist undenkbar. Zudem sind soziale Positionen, ob man »Bierzapfer oder Staatsminister ist«, für die Frage nach Gelingen oder Misslingen voll­ kommen belanglos. Für ein gelingendes Leben müsste die Phantasie den Menschen aus diesem »Dunstkreis […] herausreißen« (KT 65). Subjekt des Gelingensprozesses ist an dieser Stelle also die Phantasie. Aber Phantasie hat der Spießbürger nicht, will sie nicht haben, verab­ scheut sie. Hier gibt es also keine Hilfe. Und hilft so gelegentlich das Dasein mit Schrecknissen nach, welche die triviale Erfahrung der Papa­ geienweisheit überschreitet, so verzweifelt die Spießbürgerlichkeit, das heißt, es wird so offenbar, dass es Verzweiflung war; es fehlt so die Möglichkeit des Glaubens, durch Gott ein Selbst aus dem gewissen Untergang retten zu können (KT 65).

Zur Beschreibung des misslingenden Lebens nutzt Kierkegaard nach der »Nachäffung« (KT 56) hier eine zweite Tiermetaphorik, die Papageienweisheit. Gemeinsam ist beiden eine Imitation, ohne zu verstehen – man macht einfach nach, man macht einfach mit, ohne reflektieren zu können, ohne im eigentlichen Sinne zu denken. Mit der

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Phantasie fehlt dem Spießbürger nicht nur, was ihm helfen könnte, er ist aktiv gegen diese gerichtet. Er will das Verkehrte, will seinen trivialen Horizont nicht aufbrechen. Daher führt ihn der Einbruch des Negativen in sein alltägliches Dasein auch nicht zu Gott, sondern in die Verzweiflung, präziser: Der Einbruch des Negativen offenbart hier eine Verzweiflung, die immer schon Verzweiflung gewesen ist. »Fatalismus und Determinismus haben hingegen Phantasie genug, um an der Möglichkeit zu verzweifeln, Möglichkeit genug, um die Unmöglichkeit zu entdecken; die Spießbürgerlichkeit beruhigt sich im Trivialen, gleichwohl verzweifelt sie, ob es gut geht oder schlecht geht« (KT 65). Der Determinist hat also Phantasie genug, um die Unmöglichkeit zu entdecken und daran zu ersticken, zu leiden. Der Spießbürger entdeckt noch nicht einmal diese, kann die Bewegung der Resignation als ersten Teil der Doppelbewegung nicht vollziehen. Das Leben gelingt durch Beruhigung im Verhältnis zu Gott (vgl. KT 32), es misslingt durch Beruhigung im Trivialen, wenn also das Alltägliche in diesem Sinn an die Stelle Gottes tritt. Man versteht Möglichkeit vom Alltag, nicht von Gott her, verortet sie im Alltagsgeschehen und nicht in Gott. Für Kierkegaards normatives Urteil über gelingendes oder misslingendes Leben ist es zudem vollkommen unerheblich, ob das misslingende Leben ›gut‹ oder ›schlecht‹ verläuft, ob es gelingt, »durch das Leben zu schlüpfen« (KT 47), oder ob man von den negativen Erschütterungen des Daseins voll getroffen wird und an ihnen verzweifelt. Man ist in beiden Fällen verzweifelt, leidet an der Krankheit des Geistes, ob man es weiß oder nicht. Der Determinist, so Kierkegaard im abschließenden Abschnitt seines Unterkapitels, könne die Notwendigkeit nicht durch Mög­ lichkeit abmildern, dem Spießbürger mangele es hingegen an »der Möglichkeit als Erweckung aus Geistlosigkeit« (KT 66). Für den Übergang vom Misslingen zum gelingenden Leben nutzt Kierkegaard damit die Metaphorik des Aufwachens oder der Erweckung. Die besondere Schwierigkeit des Spießbürgers, die seinem Übergang vom misslingenden zum gelingenden Leben zunächst einmal in Wege steht, ist eine grundlegende Verkehrung: Der Spießbürger glaubt, mit seinem Begriff des im alltäglichen Horizont Wahrscheinlichen über einen dem Leben angemessenen Begriff von Möglichkeit zu verfügen, glaubt, »Herr zu sein« (KT 66), während er sich durch diesen Fehlglauben »selbst gefangen hat, um Sklave der Geistlosigkeit zu sein« (KT 66). Die Herr-Sklave-Metaphorik illustriert hier den Grad der Verkehrung. Der eigentlich normativ-theologische Begriff

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von Möglichkeit ist durch das Alltagsbewusstsein fehlbesetzt. Der Alltagsmensch »meint das« (KT 66), »bildet sich ein« (KT 66) und »merkt nicht« (KT 66) – Kierkegaard beschreibt mit diesen Verben die Strukturen einer fundamentalen Verkehrung des Bewusstseins, eine Ideologie. Die Verzweiflung der Möglichkeit tritt kühn484 auf, die determi­ nistische Verzweiflung der Notwendigkeit verbissen. »Aber geistlos triumphiert die Spießbürgerlichkeit« (KT 66). Das der Alltäglichkeit verfallene misslingende Leben leidet nicht offen, missversteht sich selbst als gelingend. Bei Kierkegaard gibt es also einen Grad der Ver­ zweiflung, bei dem man noch nicht einmal weiß, dass man verzweifelt ist, ja vom Gegenteil ausgeht, allenfalls noch hoffend, dass einem Erschütterungen erspart bleiben mögen. Damit verschließ man sich aktiv der Möglichkeit eines gelingenden Lebens. Es gilt festzuhalten: Der Verzweiflung der Notwendigkeit fehlt es an Möglichkeit. Kierkegaard konzipiert den für gelingendes Leben relevanten theologischen Begriff von Möglichkeit von Gott her. Für Gott ist alles möglich. ›Dass alles möglich ist‹ wird sogar zum Got­ tesbegriff selbst. Das Leben gelingt ausschließlich als Gesundheit des Glaubens mittels der Doppelbewegung von Verstehensakt der Resignation und Willensakt des Glaubens, wobei Kierkegaard dem Glauben von einem Metastandpunkt aus die Gewissheit des sicheren Gegengifts gegen die Verzweiflung zuspricht und sogar dem Einzel­ nen durch Einbruch des Negativen als Erschütterung des Daseins ein Verstehen Gottes zuschreibt. Glaube ist lebensnotwendig. Das Leben misslingt, wenn deterministisch Notwendigkeit die Stelle Gottes eingenommen hat oder wenn der beschränkte Möglich­ keitshorizont des Alltäglichen und damit das Alltägliche selbst an die Stelle Gottes getreten ist. Der Spießbürger lebt in einer fundamen­ talen ideologischen Verkehrung, in der er glaubt, über einen dem Leben angemessenen Begriff von Möglichkeit zu verfügen, während er sowohl Phantasie als auch Erschütterungen als potenziellen Aus­ wegen und Wegen zu einem gelingenden Leben aktiv entgegensteht, bzw. hofft, er möge verschont bleiben. Dabei ziehen sich die Struktu­ ren der Verkehrung durch seine Sprache, vom Begriff der Möglichkeit bis zum Begriff des Selbst und des Lebens. Der Spießbürger macht einfach mit, ohne im eigentlichen Sinne zu sprechen oder zu denken. Tiermetaphoriken charakterisieren ihn. Sprache ist für Kierkegaard 484

»Dristighed« (SKS 11, 157) D: Kühnheit, fehlübersetzt als Dreistigkeit.

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wesentlich Gebet. Über Gelingen und Misslingen entscheidet kein intersubjektives, sondern das Gottesverhältnis, das für Kierkegaard das spezifisch Menschliche ist.

2.4.2 Verzweiflung nach dem Grad des Bewusstseins Nach Abschluss der synthesetheoretischen Betrachtung widmet sich das nun folgende Kapitel der Analyse des zweiten Durchgangs durch die Gestalten der Verzweiflung im Kapitel C des ersten Abschnitts der Krankheit zum Tode, diesmal systematisiert nach dem Grad ihres Bewusstseins. Diese besteht aus zwei Teilen: Der erste Schritt betrach­ tet das Phänomen der unbewussten, der zweite das der bewuss­ ten Verzweiflung. Kierkegaard beginnt seine Studie mit der These, dass sich die Verzweiflung im Verhältnis zum Grad des Bewusstseins potenziere (vgl. KT 66). Der Verzweifelteste ist der Teufel, »denn der Teufel ist reiner Geist und somit absolutes Bewusstsein und Durchsichtigkeit« (KT 66). Der Teufel kann keine Entschuldigung geltend machen, seine Verzweiflung ist »absoluter Trotz« (KT 66). Kierkegaard führt hier die Adverbien ›rein‹ und ›absolut‹ sowie die Begriffe Geist, Bewusstsein, Durchsichtigkeit und Selbstsein eng. Auf der höchsten Stufe, auf der man sich selbst im Verhältnis zu Gott versteht, ist Verzweiflung reiner Trotz gegen Gott. Demgegenüber ist das Minimum der Verzweiflung »eine Art Unschuld [,die] nicht einmal davon weiß, dass sie Verzweiflung ist« (KT 67). Es sei beinahe so, als wäre es dialektisch, ob man diesen Zustand Verzweiflung nennen dürfe (vgl. KT 67). Die Frage nach den »Millionen« (KT 43), die in der Form der Verzweiflung leben, »sich dessen nicht bewusst zu sein, dass man es ist« (KT 43) ist für die Diagnose Kierkegaards entscheidend. Kierkegaards These ist hier eindeutig: Milliarden von Menschen sind alle verzweifelt und wissen es noch nicht einmal.485 Die Frage nach der Berechtigung dieser Diagnose stellt sich für Kierkegaard nur beinahe, es sei ledig­ Theunissen widerspricht an diesem Punkt Kierkegaards Theorie der unbewussten Verzweiflung und bezeichnet sie als anmaßend (vgl. Theunissen (1993) 75 Fußnote 29). Auch Hannay ist skeptisch, ob man unbewusst verzweifelt sein könne (vgl. Han­ nay (1994) 6). Grøn stellt die Frage, inwiefern auch in dieser Gestalt der Verzweiflung ein minimales Wollen des Falschen liege (vgl. Grøn (1994) 30). Die Arbeit teilt an dieser Stelle die Auffassung Kierkegaards. 485

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lich eine ›Art Unschuld‹, nicht Unschuld im eigentlichen Sinne. Der Unschuldsbegriff passt zur Beschreibung der Unwissenheit und er passt auch wieder nicht im Sinne der normativen Bewertung. Das Spektrum der Krankheit des Geistes bewegt sich also entspre­ chend dem Bewusstseinsgrad zwischen unbewusster Verzweiflung und Trotz in vollem Bewusstsein. 2.4.2.1 Unbewusste Verzweiflung Kierkegaard selbst reformuliert seine eindeutige These zu Beginn seines Unterabschnitts zur unbewussten Verzweiflung: »Dass dieser Zustand gleichwohl Verzweiflung ist und mit Recht so genannt wird, ist ein Ausdruck für das, was man im guten Sinne als Rechthaberei der Wahrheit bezeichnen mag. Veritas est index sui et falsi« (KT 67). Der Maßstab der Diagnose ist also schlicht und einfach die Wahrheit. Kierkegaard nimmt damit den metaphysischen Wahrheitsbegriff im Singular für seine Position in Anspruch, von deren Standpunkt aus es Verzweiflung ist, sich als gesetztes Selbst nicht durchsichtig in Gott zu gründen (vgl. KT 33). Dieser mit seinen impliziten theolo­ gisch-anthropologischen Voraussetzungen verknüpfte Anspruch ist für die gesamte Konzeption Kierkegaards entscheidend. Es ist nicht eine Konzeption von vielen. Das Leben kann »allein« (KT 62) auf diese ethisch-religiös-christliche Art und Weise gelingen. Alles Übrige ist Verzweiflung und auch als solche zu benennen. Das Leben gelingt, so die Grundfigur Kierkegaards, als »Verhält­ nis zum Wahren« (KT 67), »dass sie [Bezug: die Menschen] sich also zum Wahren verhalten« (KT 67). Das Sich-zum-Wahren-Verhalten ist das »höchste Gut« (KT 67). Vor dem Hintergrund eines Begriffs der Wahrheit im Singular scheint dies für Kierkegaard auch nicht wei­ ter begründungs- oder rechtfertigungsbedürftig zu sein. Das größte Unglück ist es folglich, »in einem Irrtum zu leben« (KT 67). In der Welt geht es nun anders zu: Nicht nur, dass die Menschen nicht im Verhältnis zum Wahren leben. Sie achten, wie Kierkegaard es formuliert, die Rechthaberei der Wahrheit nicht. Sie teilen diese genuin philosophische, von Kierkegaard als ›sokratisch‹ bezeichnete Grundstruktur gelingenden Lebens nicht. Sie ziehen das Sinnliche der Intellektualität vor (vgl. KT 67). Die Frage gelingenden Lebens ist damit eine Frage des Intellekts, der intellektuellen Einsicht. Dagegen ist die Wirklichkeit derart verkehrt, dass noch nicht einmal die Frage

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nach dem gelingenden Leben als Frage nach der Wahrheit richtig gestellt wird. Wenn so ein Mensch vermeintlich glücklich ist, sich einbildet, glücklich zu sein, während er doch im Lichte der Wahrheit betrachtet, unglück­ lich ist, so ist er doch nicht sehr weit davon entfernt486, zu wünschen, von diesem Irrtum befreit zu werden. Im Gegenteil, er wird verbittert, er betrachtet jeden als seinen schlimmsten Feind, der es versucht, er betrachtet es als einen Überfall, so etwas wie einen Mord, nach der Weise, wie es heißt, dass man sein Glück morde (KT 67).

Zur Verkehrung der Wirklichkeit gehört eine Verkehrung, großzügig interpretiert, eine Äquivokation des Glücksbegriffs. Das misslingende Leben bildet sich ein, glücklich zu sein, während es gemäß normati­ vem Maßstab gelingenden Lebens unglücklich ist. Das Problem ist nun, dass der in der Verkehrung lebende Mensch bestrebt ist, das falsche Glück zu schützen, und dabei den Versuch der Befreiung vom Irrtum als Angriff auf sein vermeintliches Glück interpretieren wird. Genau deshalb ist die direkte Mitteilung des normativ Gesollten in diesem Szenario unmöglich. Es würde verkehrt verstanden werden. Daher muss, was hier direkt formuliert wird, in der Praxis methodisch indirekt mitgeteilt werden. Jeder Mensch muss das Wahre selbst für sich entdecken. Dass es die Wahrheit im Singular gibt, ist dabei von diesen der Situation der Verkehrung geschuldeten methodischen Überlegungen vollkommen unabhängig. Ein Leben als Sich-zum-Wahren-Verhalten ist dagegen glück­ lich. Kierkegaard führt hier die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Glück‹ in normativer Hinsicht eng. Die Ursache der Verkehrung des Glücksbe­ griffs ist dabei folgende: Es kommt daher, dass das Sinnliche und das Sinnlich-Seelische ihn ganz beherrscht; es kommt daher, dass er in den Kategorien des Sinn­ lichen lebt, des Behaglichen und des Unbehaglichen, dem Geist, der Wahrheit und dergleichen Lebewohl sagt; es kommt daher, dass er zu sinnlich ist, um den Mut zu haben, zu wagen und auszuhalten, Geist zu sein. (KT 67 f.)

Diese Gestalt des misslingenden Lebens ist also eine vom Sinnlichen beherrschte, in der Bequemlichkeit faktisch zum normativen Krite­ rium erhoben worden ist. Man hat den Wert der Wahrheit verloren. »saa er det som oftest meget langtfra« (SKS 11, 158) D: so ist er doch sehr oft weit davon entfernt.

486

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Grammatisch ist das Sinnliche Subjekt geworden. Das gelingende Leben ist dagegen etwas, das Mut erfordert, ein Wagnis, das ggf. auch mit Risiken verbunden ist – und vor allem etwas, das man aushalten muss. Es verlangt klassische Tugenden. Es ist nicht einfach, nicht bequem, nicht psychisch angenehm. In diesem Kontext fährt Kierkegaard mit der Beschreibung der Verkehrung fort: Während die Menschen häufig »eitel und eingebil­ det« (KT 68) seien, so hätten sie doch, in gewisser Hinsicht paradoxer Weise, ein geringes Bild von sich selbst, in dem Sinne, dass ihnen die Vorstellung davon fehle, was sie sein könnten – dass sie Geist sein könnten (vgl. KT 68). Kierkegaard benutzt hier die Formulierung »das Absolute, das ein Mensch sein kann« (KT 68). Man könnte ergänzen: Sind Menschen doch generell recht ehrgeizig, so trifft dieses paradoxerweise auf das gelingende Leben nicht zu. Man strebt nach intersubjektiver Anerkennung, nach Erfolg oder Bequemlichkeit. Das eigentlich normativ Erstrebenswerte wird nicht als ein solches erkannt. Diese fundamentale Verkehrung der Wertordnung erläutert Kierkegaard noch einmal anhand der Metaphorik eines dreistöckigen Hauses: Der Mensch als Hauseigentümer zieht es vor, im Keller zu wohnen, während er in der Beletage wohnen könnte – und er reagiert »erbittert« (KT 68) wenn jemand ihm vorschlägt, dorthin umzuzie­ hen. Als »seelisch-leibliche Synthese, mit der Anlage, Geist zu sein«487 (KT 68) steht jedem Menschen das gelingende Leben offen. In seiner Verkehrung, die hier als Verkehrung von Sinnlichkeit und Geist skizziert wird, ist er jedoch nicht offen für die direkte Mitteilung des normativ Gesollten, auch wenn es vorsichtig als Vorschlag for­ muliert wird. Direkte intersubjektive Kommunikation, Verstehen des Anderen, ist unmöglich geworden. Dabei bewegt sich das Mitgeteilte hier natürlich immer innerhalb eines christlichen Paradigmas. Kierke­ gaard geht davon aus, die Wahrheit in der Hinterhand zu haben, von deren Standpunkt aus er auch unbewusste Verzweiflung als solche diagnostiziert. Die Menschen haben derart den Bezug zum normativ Gesollten verloren, dass sie dessen Gegenteil wollen, und noch nicht einmal die Frage nach dem gelingenden Leben, geschweige denn den Vorschlag, sich zu ändern, verstehen. Das misslingende Leben ist erstrebenswert geworden, ist zu dem geworden, was die Menschen 487

»anlagt til at være Aand« (SKS 11, 158) D: angelegt, Geist zu sein.

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wollen, was sie für das Gesollte und das Glück halten. Das alltägliche Leben ist ›traurig und lächerlich‹ (vgl. KT 68). Als Beispiel für jemanden, der es nicht fürchtet im Irrtum zu sein, führt Kierkegaard in einer bekannten Passage des Werks nun ausgerechnet Hegel an, der aber namentlich nicht genannt wird. Er entwerfe »ein das ganze Dasein und die ganze Weltgeschichte [...] umfassendes System« (KT 68), welches aber nicht sein persönliches Leben umfasse. Er selbst bewohne die Hundehütte daneben, maximal die Portierwohnung. Die These, der zufolge das System des Ganzen das konkrete Leben des Einzelnen genau nicht einschließt, gilt hier aber nur als Beispiel für eine Haltung: »Denn in einem Irrtum zu sein, fürchtet er nicht, wenn er nur das System fertig bekommt – mit Hilfe eines Irrtums« (KT 69). Man zieht ein kohärentes Weltbild der Wahrheit vor und ist nicht dankbar, sondern »beleidigt« (KT 69), wenn man darauf aufmerksam gemacht wird. Kierkegaard resümiert und führt den Gedankengang fort: Also, dass er, der verzweifelt ist, selber davon nichts weiß, dass sein Zustand Verzweiflung, tut nichts zur Sache, er ist gleichwohl ver­ zweifelt. Wenn Verzweiflung Verirrung ist, so bedeutet Unwissenheit hierüber bloß das Mehr, zugleich in einem Irrtum zu sein. Es ist mit der Unwissenheit im Verhältnis zur Verzweiflung wie im Verhältnis zur Angst (vgl. Begriff der Angst von Virgilius Haufniensis), die Angst der Geistlosigkeit wird gerade an der geistlosen Sicherheit erkannt. Aber die Angst ist gleichwohl im Grunde da, so ist auch die Verzweiflung im Grunde da, und wenn die Verzauberung durch den Sinnesbetrug aufhört, wenn das Dasein zu wanken beginnt, dann zeigt sich auch sofort die Verzweiflung als das, was im Grunde da war (KT 69).

Im Lichte der Wahrheit ist unbewusste Verzweiflung also Verzweif­ lung. Man ist sozusagen doppelt im Irrtum: In Bezug auf den Maßstab gelingenden Lebens und hinsichtlich der eigenen Selbsteinschätzung. Mit einem Verweis auf den Begriff Angst erläutert Kierkegaard, dass man parallel zum Negativphänomen der Angst auch die unbewusste Verzweiflung an ihrem Gegenteil, der geistlosen Sicherheit, erkennt. Man könnte diese Erkenntnis negativistisch nennen. In der unreflek­ tierten Sicherheit der Alltagsmenschen zeigt sich dem Fachmann das Gegenteil. Mittels der Metaphorik des Grundes erläutert der Autor, dass das Negative als Angst und Verzweiflung unter der Oberfläche des Dahinlebens immer da sind. Wenn jedoch die ›Verzauberung durch den Sinnesbetrug aufhöre‹, wenn also der illusorische Sinnho­ rizont des gesellschaftlichen Kontexts brüchig wird und das ›Dasein

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zu wanken beginnt‹, weil ihm das eigentliche Tragende fehlt, dann zeigt sich nur dem Fachmann die Verzweiflung als Verzweiflung, dann bricht sie heraus und durchbricht die Oberfläche eines bis dahin als gelingend missverstandenen Lebens, das sich dann als misslingend zeigt. Aber auch wenn das Negative sich nicht offen zeigt, ist die Diagnose des Fachmanns sicher, und für den Einzelnen ist durch das Sich-durchgemogelt-Haben nichts gewonnen. Neu ist hier die Metaphorik der Verzauberung488 für die gesellschaftliche ideologische Verkehrung der Maßstäbe. Man wird getäuscht und betrogen (vgl. dazu KT 48). Es gibt eine Tiefenschicht, eine Ebene, auf der sich der Mensch in Gott »gründet« (KT 33) oder bodenlos verzweifelt ist, und eine grundverkehrte und grundver­ kehrende Oberfläche, die ihn blendet und ihm den Zugang zu den eigentlichen Fragen und Entscheidungen verwehrt, indem sie sich für das ausgibt, worum es eigentlich geht. Der unbewusst Verzweifelte, so Kierkegaard weiter, sei »eine Negatives weiter von Wahrheit und Rettung entfernt« (KT 69). Ver­ zweifelt zu sein ist also negativ, und es nicht zu wissen, noch einmal mehr negativ. Das »Minimum der Verzweiflung« (KT 66) ist doppelt negativ. Der Autor führt dabei die Begriffe Wahrheit und Rettung eng. Der Mensch ist der Rettung bedürftig, Gelingen bedeutet gerettet zu werden aus einer Notsituation489 – ob einem der Ernst der Lage bewusst ist oder nicht. »Die Verzweiflung selbst ist eine Negativität, die Unwissenheit darum eine neue Negativität. Aber um der Wahrheit nahe zu kom­ men, muss man durch jede Negativität hindurch; [...] das Stück muss ganz und gar rückwärts gespielt werden, anders wird der Zauber nicht aufgehoben« (KT 69). Das Substantiv »Negatives« (KT 69) wird im darauffolgenden erläuternden Satz zur Negativität, als die Kier­ kegaard hier die Verzweiflung explizit bezeichnet. Dazu kommt die sachlich und folglich auch methodisch zentrale Prämisse, der Weg zur Wahrheit gehe durch jede Negativität hindurch, die der These »[...] es gibt keine unmittelbare Gesundheit des Geistes« (KT 46) entspricht. Gesundheit des Geistes ist Überwindung von Krankheit, Wahrheit ist Überwindung des Falschen. Wir sind ursprünglich mit dem Falschen konfrontiert, ihm ausgesetzt, finden uns in ihm vor und müssen von dort her das gelingende Leben suchen. Das Negative dominiert. 488 489

Zum Begriff der Verzauberung vgl. Heidegger, Beiträge 124. Vgl. dazu Heidegger, Beiträge 119.

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In einer Anspielung auf ein Musikspiel nach Grimms Märchen sagt Kierkegaard, der Zauber werde durch ›rückwärts spielen‹ aufge­ hoben (vgl. KT 69). Die These ist also, dass die ideologische Verkeh­ rung der Welt durch Umkehrung gebrochen werden kann. Gegen die intendierte Interpretation ist das Wahre umgekehrt erschließbar. Das Unmittelbare ist verkehrt, aber umgekehrt zeigt sich das Wahre. Das, was sich als das Gesunde oder Gelingende zeigt, muss als das Kranke oder Misslingende interpretiert und zum eigentlich Gesunden hin überwunden werden. Kierkegaard differenziert nun hinsichtlich Entfernung zur Wahr­ heit zwischen »rein dialektisch« (KT 69) und »ethisch-dialektisch« (KT 69). Rein dialektisch ist der unbewusst Verzweifelte wegen seines doppelten Irrtums weiter von der Wahrheit entfernt, ethisch-dialek­ tisch aber der bewusst Verzweifelte, »weil seine Verzweiflung intensi­ ver ist« (KT 69). Dennoch könne die unbewusste Verzweiflung, also ihr »Minimum« (KT 66), »die gefährlichere Form der Verzweiflung sein« (KT 70), eben weil man weiter davon entfernt ist, sich zu ändern. Das misslingende Leben ist »zu seinem Verderben« (KT 70) sicher davor, diese zu erkennen. Es ist in einem doppelten Sinne »ganz sicher in der Gewalt der Verzweiflung« (KT 70). In einem gewissen Sinne, nämlich mit Blick auf die Möglichkeit der Rettung, ist also das unbewusste Dahinleben die gefährlichste Form der Verzweiflung. Der Preis, nicht auf das eigene Verzweifelt-Sein aufmerksam zu werden, ist das eigene ›Verderben‹, das gemessen am normativen Maßstab misslingende Leben. Kierkegaard vertritt eindeutig die These, dass der Preis für die Illusion von Glück und Zufriedenheit in der nicht als solchen erkannten und reflektierten verkehrten Welt zu hoch ist. Es ist es nicht wert, es lohnt sich nicht – auch wenn diese Einsicht nicht erreicht werden sollte. Der unwissend Verzweifelte ist sich nicht als Geist bewusst, und so, wie Kierkegaard noch einmal herausstellt, per Definition verzweifelt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Zustand der unbewuss­ ten Verzweiflung [...] entweder ein völliges Ausgestorbensein, ein bloß vegetatives490 Leben [...] oder ein potenziertes Leben, dessen Geheimnis doch Ver­ zweiflung ist. Im letzten Falle geht es dem Verzweifelten wie einem, der an Auszehrung leidet: er fühlt sich sehr wohl, hält sich für ganz gesund, 490

»vegetativt« (SKS 11, 160) D: vegetatives, fehlübersetzt als negatives.

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scheint vielleicht anderen vor Gesundheit zu blühen, gerade wenn die Krankheit am gefährlichsten ist (KT 70).

Unbewusste Verzweiflung kann sich als lebendiger Tod, als bloßes Dahinvegetieren, aber auch als das völlige Gegenteil, als in hohem Maße vital und körperlich gesund zeigen. Vom normativen Stand­ punkt das Geistes ist das biologisch-vitale gesunde Leben dasselbe wie das bloße Dahinvegetieren, es ist auch nur eine Form des Dahin­ vegetierens. Es sieht gesund aus, aber im eigentlichen Sinne ist es genauso krank. Der Schein trügt. Diese Form der Verzweiflung (die Unwissenheit über sie) ist in der Welt die allgemeinste, ja, ist das, was man die Welt nennt oder genauer bestimmt, das, was das Christentum die Welt nennt; das Heidentum und der natürliche Mensch in der Christenheit, das Heidentum, wie es historisch war und ist, und das Heidentum in der Christenheit ist gerade die Art von Verzweiflung, ist Verzweiflung, aber weiß davon nichts (KT 70).

In seiner Diagnose, dass die unbewusste Verzweiflung die häufigste in der Welt sei und Heiden sowie Heiden im Christentum betreffe, führt Kierkegaard die Begriffe ›Welt‹ und ›Verzweiflung‹ eng, korrigiert ersteren Begriff aber zu ›was das Christentum Welt nennt‹. Der christliche Standpunkt ist hier explizit, wenn auch für Kierkegaard offensichtlich unproblematisch. Aus ihm folgt auch die Dichtomie Christen und Heiden, sowie die Heiden innerhalb des Christentums. Jeder Nichtchrist ist verzweifelt. Die Engführung mit dem umfassen­ den Begriff ›Welt‹ untermauert dabei die These vom Ausmaß der Diagnose, von der Dominanz des Negativen. Innerhalb des Heidentums selbst unterscheide man nun zwi­ schen verzweifelten und nicht-verzweifelten Menschen, mit der Annahme »als wenn nur ein paar Einzelne verzweifelt wären« (KT 70), während in Wahrheit alle verzweifelt sind. Gleich der ›vulgären Betrachtung‹ (vgl. KT 43) bildet sich auch in der nichtchristlichen Welt ein verkehrter Begriff von Verzweiflung. Vom normativen Standpunkt Kierkegaards aus unterscheiden sich die Verzweifelten selbst in Ver­ zweifelte und Nichtverzweifelte, während sich lediglich die Formen ihrer Verzweiflung unterscheiden. Die verkehrte Welt verkehrt jedoch den Verzweiflungsbegriff. Das Heidentum könne nicht weiter kom­ men als bis zu dieser »falschen Unterscheidung« (KT 70), gerade weil es sich vollständig innerhalb des Falschen bewegt. Das einzige Wahre, das das Leben gelingen lassen kann, ist für Kierkegaard das

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Christliche. Der Begriff des »natürlichen Menschen« (KT 70), den Kierkegaard synonym mit dem Begriff ›Heide‹ verwendet, impliziert dabei einen Naturbegriff des Verkehrten, des Noch-nicht-Christli­ chen. Da das Ästhetische ›Geist‹ nicht bestimmen könne, so Kierke­ gaard weiter, habe es dementsprechend auch keinen Maßstab für das Geistlose (vgl. KT 71). Heidnische Nationen und einzelne Heiden hät­ ten in Kunst und Wissenschaft große Leistungen vollbracht, »die man ästhetisch nicht genug bewundern kann« (KT 71). Der Maßstab für Verzweiflung sei aber nicht ästhetisch, sondern »ethisch-religiös« (KT 71). Dieser entscheidet über gelingendes Leben. Das misslingende Leben kann herausragende Leistungen in Bereichen wie Kunst oder Wissenschaft vollbringen, trotzdem misslingt es. Jede menschliche Existenz, die sich nicht als Geist bewusst ist oder sich vor Gott persönlich als Geist bewusst ist, jede menschliche Existenz, die so nicht durchsichtig in Gott gründet, sondern dunkel in etwas abstrakt Universellem ruht und aufgeht (Staat, Nation und derglei­ chen), oder in Dunkelheit über sich selbst ihre Fähigkeiten nur als Wirkkräfte nimmt, ohne sich im tieferen Sinne bewusst zu werden, woher sie diese hat [...] wie intensiv sie auch ästhetisch das Leben genießt: eine jede solche Existenz ist doch Verzweiflung (KT 71 f.).

Jeder Mensch, der sich nicht durchsichtig in Gott – christlich verstan­ den – gründet, ist demnach verzweifelt (vgl. KT 33). Das Leben misslingt also, wenn das Individuum, wie Kierkegaard formuliert, in etwas ›abstrakt Universellem‹ wie einer sozialen Gruppe oder einer Kultur im ethnologischen Sinn ›aufgeht‹. In diesem Aufgehen verschwindet das Entscheidende, der Einzelne wird lediglich einer von vielen. Es ist in gewisser Weise ein Auflösungsprozess. Man ist nicht ein Einzelner, der bei Kierkegaard immer in einem Gottesverhältnis gedacht wird. Das Leben misslingt dazu, wenn man seine Fähigkeit einfach als ›faktisch da‹ und nicht als ›gegeben‹ annimmt, wenn man sich nicht als gesetzt begreift. Man kann das misslingende Leben durchaus genießen. Genuss ist ein nicht relevantes Kriterium. In diesem Kontext steht für Kierkegaard die Bemerkung aus Augustinus’ De Civitate Dei, der zufolge »die Tugenden der Heiden glänzende Laster seien« (KT 72). Das tugendhafte Leben allein ist noch nicht das gelingende Leben. Es misslingt, wenn das »Innerste […] Verzweiflung sei« (KT 72), wenn Verzweiflung dort ist, wo das tragende Gottesver­ hältnis sein sollte.

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Im Kontext der Differenz Christen – Heiden diskutiert Kierke­ gaard abschließend das Beispiel des »Selbstmords« (KT 72, Hervorhe­ bung SK): Es sei »für den Geist die schwerste Sünde, so aus dem Dasein auszubrechen, der Aufruhr gegen Gott« (KT 72), »Verbrechen gegen Gott« (KT 72). Indem der Mensch sich gegen sich wendet, wendet er sich gegen das von Gott Gesetzte und damit, so der Gedankengang Kierkegaards, letztlich gegen Gott selbst. Man könnte hier einwenden, der Selbstmord sei doch der erfolgreiche Versuch, sich loswerden zu wollen, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen (vgl. etwa KT 40). Für Kierkegaard können wir das Selbstverhältnis als Gottesverhältnis nicht hintergehen. Auch der Selbstmord ist ein Sich-zu-sich-Verhalten in einem Gottesverhältnis, in diesem Fall ein falsches. Die gesetzte Freiheit ist nicht hintergehbar.491 Dem Heidentum fehlt »das Gottesverhältnis und das Selbst« (KT 72), zwei Begriffe, die eng verwandt sind, nicht aber das »Pflicht­ verhältnis zu anderen Menschen« (KT 72). Dem Heidentum Kierke­ gaards fehlt die christliche Anthropologie, nicht aber so etwas wie ein intersubjektives, Rechte und Pflichten begründendes Moralprinzip. Daher sei der Selbstmord »rein heidnisch gedacht […] das Indiffe­ rente« (KT 72), genau weil zunächst kein Pflichtverhältnis gegenüber anderen verletzt wird. Ein Argument gegen den Selbstmord müsste »auf dem langen Umweg« (KT 72) aufweisen, dass dem doch so ist. Dieses Beispiel erläutert Kierkegaards Konzeption von Gelingen und Misslingen: Das Leben gelingt nicht allein als richtiges Handeln gemäß einem intersubjektiven Moralprinzip.492 Wie das Ästhetische ist auch das Ethische sicher bewundernswert, aber im Kern verzwei­ felt. Das gelingende Leben ist das ethisch-religiöse, das sich selbst als Einzelner zu »dem verhält, was das ganze Verhältnis gesetzt hat« (KT 32). Im letzten Abschnitt unterscheidet Kierkegaard noch einmal »qualitativ« (KT 72) zwischen Heidentum und Heidentum in der Christenheit. Ersterem fehle Geist, es sei aber »in Richtung auf Geist bestimmt« (KT 73) während letzteres sich im Sinne eines Abfalls vom Geist weg bewege und somit wahrhaft geistlos sei (vgl. KT 73). Das Leben der Heiden misslingt also, weil sie noch nicht Christen sind, es aber noch werden können. Demgegenüber ist das Leben derjenigen, Faktizität ist unaufhebbar (vgl. Theunissen (1991a) 41. Greve nennt den Ausweis eines solchen Prinzips »bloße Normenbegründung« (Greve (1990) 267), wobei offenbleibt, wie genau eine solche Begründungsfigur aus­ sähe. 491

492

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die innerhalb des Christentums keine Christen im eigentlichen Sinne sind, das »im strengsten Sinne« (KT 73) misslingende Leben. Das Leben misslingt also als Bewegung vom Christlichen weg. Hier gilt es festzuhalten: Das Leben gelingt im Verhältnis zu der (ethisch-religiös-christlichen) Wahrheit im Singular. Der Mensch, der sich als einzelnes Selbst zu Gott verhält, ist wahrhaft glücklich. Von diesem Standpunkt aus ist auch der unbewusst Dahinlebende, der im Irrtum lebt und sich einbildet, glücklich zu sein, verzweifelt. Da er in seiner Verkehrung jeden Versuch der Befreiung als Angriff interpretieren und abwehren wird, kann die Wahrheit nur indirekt mitgeteilt werden. Paradoxerweise bezieht sich der Ehrgeiz der Men­ schen nicht auf das eigentlich normativ Erstrebenswerte, sie wollen das Gegenteil des Gesollten. Das misslingende Leben ist sinnlichbequem, das gelingende dagegen erfordert Mut, ist nicht risikolos und muss ausgehalten werden. Unbewusste Verzweiflung ist doppelt negativ – man ist verzweifelt und weiß es nicht – und in diesem Sinne weiter von Gesundheit entfernt. Unter der Oberfläche, in der Tiefe, sind Angst und Verzweiflung stetig anwesend. Ob sie durchbrechen, wenn der trügerische Sinnhorizont des ideologisch-verkehrten sozia­ len Kontexts brüchig wird und die wahren Strukturen der Existenz sich zeigen, oder ob es dem Einzelnen gelingt, sich durchzumogeln, ist für die normative Bewertung belanglos. Man wird getäuscht und betro­ gen. Die Verkehrung ist aber umgekehrt verstehbar: Das, was sich als das Gesunde oder Gelingende zeigt, muss als das Kranke oder Miss­ lingende interpretiert und zum eigentlich Gesunden hin überwunden werden. Das biologisch-vitale, sich als äußerst gesund zeigende Leben und das bloße Dahinvegetieren laufen als Verzweiflung auf dasselbe hinaus. Verzweiflung ist eine ›Negativität‹, gelingendes Leben ein gerettet werden angesichts der Übermacht des Negativen. Die ›Welt‹ ist Verzweiflung, der christliche Standpunkt dabei paradigmatisch immer vorausgesetzt, was notwendig in die Christen-Heiden-Dicho­ tomie führt. Entsprechend der vulgären Betrachtung unterscheiden die Heiden untereinander zwischen Verzweiflung und Nichtverzweif­ lung, während sie alle verzweifelt sind. Das misslingende Leben kann herausragende Leistungen in Kunst und Wissenschaft vollbringen, kann überaus tugendhaft sein oder pflichtbewusst gemäß einem intersubjektiven Moralprinzip handeln. Das gelingende Leben ist nicht das Ästhetische oder das Intersubjektiv-Ethische als Verhältnis Mensch zu Mensch, sondern das Ethisch-Religiöse als Verhältnis Einzelner zu Gott. Selbstmord ist als gegen das Selbst gegen das

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Gesetzt-Sein und damit gegen Gott gerichtet. Das Leben misslingt als Aufgehen in einem Abstrakt-Allgemeinen, in einem Staat, einer Nation, einer Kultur, Ethnie oder irgendeiner sozialen Gruppe. Indem der Einzelne einer von vielen wird, verliert er etwas, und dieses Etwas ist das Entscheidende, das das Leben gelingen lassen kann. Das Leben misslingt weniger im Heidentum, das zwar verzweifelt ist, dem aber das Christentum sich noch eröffnen kann, als vielmehr in der faktischen Abkehr vom Christlichen innerhalb des Christentums. 2.4.2.2 Bewusste Verzweiflung Es folgt nun die Analyse des zweiten Teils der Studie des Phänomens der Verzweiflung nach dem Grad des Bewusstseins: Die bewusste Verzweiflung. Diese tritt in wie bereits erläutert in zwei wechselseitig aufeinander rückführbaren Gestalten auf (vgl. KT 32), ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ und ›verzweifelt man selbst sein wollen‹, welche nun nacheinander rekonstruiert und analysiert werden.493 Kierkegaard schreibt wie gewohnt zunächst auf der obersten Gliederungsebene zur bewussten Verzweiflung, bevor er den jewei­ ligen Gestalten im Detail nachgeht. Er beginnt mit der Darstellung einer Äquivokation des Verzweiflungsbegriffs. Jemand könne sich für verzweifelt halten und damit im Recht sein, aber ohne »wahre Vorstellung« (KT 73) davon, was Verzweiflung ist, so dass man diesem Menschen sagen müsste »du bist im Grunde noch viel verzweifelter als du weißt« (KT 73). Der Satz ›Ich bin verzweifelt‹ ist damit wahre begründete Meinung, aber verkehrt. Als Beispiel nennt Kierkegaard seinen bereits erläuterten innerheidnischen Begriff von Verzweiflung. Die Konsequenz ist demnach: »Die bewusste Verzweiflung erfor­ dert also einerseits die wahre Vorstellung davon, was Verzweiflung ist. Andererseits wird Klarheit über sich selbst gefordert, das heißt, soweit Klarheit und Verzweiflung zusammen gedacht werden können« (KT 73). Das Problem ist hier, dass man eigentlich meinen könnte, Klar­ heit über sich selbst – als Selbstverhältnis im Gottesverhältnis – führe zu Nichtverzweifeltsein. Kierkegaard stellt dieses Problem zurück (vgl. KT 74), ein Ausblick wurde aber bereits mit der Verzweiflung des Teufels gegeben (vgl. KT 66). Bewusste Verzweiflung meint also, dass 493 Grøn weist vorab auf die Schwierigkeit hin, dass Kierkegaard die Begriffe ›Schwachheit‹ und ›Trotz‹ teils mehrdeutig verwende (vgl. Grøn (1994) 34 f.).

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man sich über die Verzweiflung und sich selbst im Klaren ist, insofern das überhaupt geht. In der Wirklichkeit trete das Bewusstsein sowohl über den ›Begriff Verzweiflung‹ als auch über den ›eigenen Zustand‹ in man­ nigfaltigen graduellen Abstufungen auf (vgl. KT 74). Meist bewege man sich »in einem Halbdunkel« (KT 74). Man ist sich zu einem gewissen Grad bewusst, dass man krank ist, ohne sich eingesehen zu wollen, was die Krankheit ist. Man weiß es in einem Augenblick, sucht dann aber doch eine andere äußere Ursache (vgl. 74). Oder er sucht vielleicht durch Zerstreuungen und auf andere Weise, zum Beispiel durch Arbeit und Beschäftigung494 als Zerstreuungsmit­ tel, sich selbst eine Dunkelheit über seinen Zustand zu bewahren, doch wiederum so, dass ihm nicht ganz deutlich wird, dass er das darum macht, damit495 er tut, was er tut, um Dunkelheit zu schaffen. Oder er ist sich vielleicht auch bewusst, dass er so arbeitet, um die Seele in Dunkelheit zu tauchen; er tut es mit einer gewissen Scharfsinnigkeit und klugen Berechnung, mit psychologischer Einsicht, aber ohne im tieferen Sinne sich klar bewusst zu sein, was er tut, wie verzweifelt er ist, sich so aufzuführen und so weiter (KT 74 f.).

Diese Phänomenbeschreibung und -analyse des Halbdunkels ist bril­ lant. Durch Beschäftigsein schafft man Dunkelheit, die wiederum dieses Tun als solches verdeckt, verhüllt, verdrängt oder zu ersticken versucht. Man verdeckt etwas aktiv, verdeckt damit aber gleichzei­ tig das Bewusstsein darüber, dass man etwas verdeckt. Die zweite Facette ist, dass man eine Art eigenen psychologischen Mechanis­ mus durchschaut hat und in diesem Sinne bewusst verdrängt, ohne die dahinterliegende Tiefendimension des Verzweiflungsphänomens durchschaut zu haben. Psychologische Mechanismen beschreiben also ein Geschehen auf der Oberfläche, im Rahmen des alltäglichen Lebens, hinter dem sich noch einmal das philosophisch-theologische Problemfeld der Verzweiflung verbirgt. Mit dem Grad sowohl des Bewusstseins über das Wesen der Verzweiflung als auch über den eigenen Zustand als Verzweiflung potenziere und intensiviere sich die Verzweiflung (vgl. KT 75). Kierkegaard erläutert dies kurz am Beispiel des Selbstmords: Sowohl das Wissen um den Selbstmord als Verzweiflung als auch das Wissen über sich selbst intensiviere die

494 495

»Travlhed« (SKS 11, 163) auch: Geschäftigkeit. »at« (SKS 11, 163) hier: dass.

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Verzweiflung gegenüber demjenigen, der es jeweils nicht wisse. Für das »Bewusstsein um496 sich selbst« (KT 75) benutzt Kierkegaard an dieser Stelle in Klammern den Begriff des Selbstbewusstseins. Im Folgenden will Kierkegaard nun zwei Formen bewusster Verzweiflung untersuchen und dabei eine Steigerung in sowohl dem Bewusstsein über das, was Verzweiflung ist, als auch über den eigenen Zustand aufzeigen (vgl. KT 75). Zuvor skizziert er noch einmal kurz den Glauben als Gegensatz zur Verzweiflung als »im-sich-Verhaltenzu-sich-Selbst, und im Selbst-sein-Wollen gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht die es setzte« (KT 76) und verweist an dieser Stelle selbst auf das erste Kapitel (vgl. KT 33). Methodisch bemerkenswert ist hier, dass Kierkegaard diese Fassung als »als Formel vorausgesetzt« (KT 75) bezeichnet, also als vorausgesetzte Konzeption gelingenden Lebens.497 Der Zustand »in dem gar keine Verzweiflung ist [… ist] zugleich die Formel für den Glauben« (KT 76). Hier scheint wiederum doch Nicht-Verzweiflung dem Glauben vorauszugehen, ihn zu definieren.498 2.4.2.2.1 Verzweifelt nicht man selbst sein wollen Die Analyse dieser ersten Gestalt der bewussten Verzweiflung folgt nun Kierkegaards Gliederung in zwei Unterkapitel, ›Verzweiflung über das Irdische‹ und ›Verzweiflung am Ewigen‹, wobei der dänische Autor nun abermals die Beschreibung zunächst auf der oberen Glie­ derungsebene beginnt. ›Verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ als ›Verzweiflung der Schwäche‹ impliziere bereits eine Reflexion auf die andere Form, ›Verzweifelt man selbst sein wollen‹ als ›Trotz‹, und beide Formen enthalten je etwas von der anderen (vgl. KT 76). Jede Beschreibung impliziert also bei Kierkegaard demnach immer schon die Reflexion auf die relativ zu ihr andere Form, so »om« (SKS 11, 163) hier auch: über. Genau diese Textstelle ist für die Interpretation Theunissens (vgl. Theunissen (1991d) 353) nicht unproblematisch. 498 Die Methodenfrage Kierkegaards läuft auf die Frage hinaus, ob das Übergewicht im ›negativen Material‹ der Verzweiflung oder im Vorbegriff von Gesundheit des Glaubens liegt (vgl. dazu Theunissen (1991a) 28 ff.). Es scheint ersteres der Fall zu sein, wenn Glaube und Selbstsein wesentlich Nein-Sagen zur Möglichkeit der Ver­ zweiflung (in jedem Augenblick) ist. Wenn das ›Nein‹ elementar für Gelingen ist, dann ist dasjenige, das man verneint, elementar und eventuell der Sache nach ›zuerst‹. 496 497

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auch die Beschreibung misslingenden Lebens die Idee gelingenden Lebens. Schwachheit und Trotz ordnet Kierkegaard nun die Attribute ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ zu und erläutert dies in einer aus­ führlichen Fußnote (vgl. KT 76). Diese essentialistische Theorie und die Zuschreibung von weiblich und männlich zu Schwäche und Trotz scheinen jedoch ganz dem Geist seiner Zeit verhaftet und der Sache nach wenig überzeugend.499 2.4.2.2.1.1 Verzweiflung über das Irdische Im ersten Unterkapitel zum ›Verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ beschreibt Kierkegaard diese Form der bewussten Verzweiflung auf zwei Stufen. Auf der ersten Stufe sei Verzweiflung über das Irdische »reine Unmittelbarkeit oder Unmittelbarkeit mit einer quantitativen Refle­ xion in sich« (KT 78). Der Mensch habe weder Bewusstsein von seinem Selbst, noch von der Verzweiflung, noch davon, dass seinen Zustand Verzweiflung sei (vgl. KT 78, vgl. dazu auch KT 74). Er leide »unter Druck von Äußerlichkeiten« (KT 78). Dass in der »Sprache der Unmittelbarkeit« (KT 78) Worte wie Selbst oder Verzweiflung vorkommen, sei ein »unschuldiger Missbrauch der Sprache« (KT 78). Die Verkehrung hintergeht die Sprache und es entstehen erneut bereits beschriebene Äquivokationen: Die Begriffe ›Selbst‹ und ›Ver­ zweiflung‹ in der der Dimension misslingenden Lebens zugehörigen Alltagssprache meinten nicht dasselbe wie in der normativen Konzep­ tion. Man sagt, man sei verzweifelt, ist auch verzweifelt, meint aber das Falsche, nämlich ein durch äußere Umstände verursachtes Leiden, nicht ein Missverhältnis zu Gott (vgl. dazu KT 73). Man verstehe sich in der Unmittelbarkeit »nur seelisch bestimmt [… als] ein Etwas innerhalb von Zeitlichkeit und Ewigkeit« (KT 78). In reiner Immanenz versteht man sich als Mensch mit anderen Menschen in der Welt – Mensch aber als, wie Kierkegaard sagt, ein ›Etwas‹ verstanden, vielleicht einem Substanz-Akzidenz-Modell folgend. Weit entfernt von einem Begriff des Menschen als Sich-zusich-Verhalten in einem Gottesverhältnis versteht man sich als animal rationale, wissenschaftlich, biologisch, psychologisch, soziologisch oder als Zusammenspiel dieser Faktoren. Man hat maximal »psycho­ 499

Vgl. dazu auch Wesche (2003) 36.

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logische Einsicht« (KT 75) in Mechanismen, ahnungslos von der eigentlichen Anthropologie und der Tiefendimension des Lebens. Das Verhältnis zum Ewigen ist »illusorische Vorstellung« (KT 78).F500 »Seine Dialektik ist: das Behagliche und das Unbehag1iche; sein Begriff: Glück, Unglück, Schicksal« (KT 79). In der reinen Immanenz als Verzweiflung wird die Frage nach dem gelingenden Leben missverstanden als die Frage nach Bequem­ lichkeit, nach Glück und Unglück in diesem Sinne. Kierkegaard zweifelt erneut, ob es Unmittelbarkeit ohne jede Reflexion wirklich geben könne (vgl. KT 78).501 Es scheint in der Tat überzeugender, dass der Einzelne wohl in der Regel doch das Phänomen einer dunklen Ahnung der Tiefendimension des Eigentlichen ausmachen kann, diese zu ersticken versucht, was aber wohl nie vollständig gelingt. In einem umfassenden und grundlegenden Sinn hat das Leben in der Unmittelbarkeit nach Kierkegaard nicht verstanden, was Leben ist. Nun begegnet ihm da etwas, es stößt diesem unmittelbaren Selbst etwas zu (stoßen – zu), was es zur Verzweiflung bringt; auf andere Weise kann es hier nicht geschehen, da das Selbst keine Reflexion in sich hat, muss das, was es zur Verzweiflung bringt, von außen kommen, und die Verzweiflung ist ein bloßes Erleiden (KT 79, Hervorhebung SK).

Der in der Welt lebende Mensch, oder auch der mit »ein klein wenig Reflexion«502 (KT 79), versteht sich in seinem verkehrten Sinn als verzweifelt, nicht durch Nachdenken, sondern wenn ihm von Außen etwas zustößt. Dabei kann, was ihm zustößt, aus seiner Sicht negativ sein, ein »Schicksalsschlag«, oder was er ein »allzu großes Glück nennt« (KT 79), man könnte sich hier einen Geldgewinn vorstellen. Entscheidend ist, dass es zu einem Bruch in seinem alltäglichunmittelbaren Dahinleben kommt, den er selbst nicht wiederherstel­ len kann (vgl. KT 79). Etwas wirft ihn aus der Bahn. Ein derart einschneidendes Ereignis »fordert« (KT 79) von ihm, über sich und sein Leben zu reflektieren, und das Ergebnis dieser Forderung ist Verzweiflung. Kierkegaard betont die ungeheure Zerbrechlichkeit der alltäglichen Unmittelbarkeit (vgl. KT 79). Dass einem Menschen ein Schicksalsschlag, oder, »dialektisch« (KT 79) großes Glück, zustößt, »Skin« (SKS 11, 165) D: Schein. Grøn weist auf diesen eigenen Zweifel Kierkegaards an der Theorie unbewusster Verzweiflung hin (vgl. Grøn (1994) 42). 502 Der aber gerade an der Welt hängt, weil er nur ein klein wenig reflektiert (vgl. KT 79). 500 501

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ist relativ wahrscheinlich. Wenn man darüber nachdenkt gehört es zum Leben dazu, aber man denkt genau nicht darüber nach, verdrängt es, um in den vorgezeichneten Lebensbahnen zu leben. Diese Begriffe von Glück, Unglück und Schicksalsschlag kommen der unreflektierten Ebene misslingenden Lebens zu. Kierkegaard erläutert die Verkeh­ rungsstruktur der Begriffe: Er verzweifelt also, das will besagen, durch eine absonderliche Ver­ kehrung und in vollkommener Mystifikation, sich selbst betreffend, nennt er das verzweifeln. Verzweifeln aber heißt das Ewige verlieren – und von diesem Verlust spricht er ja nicht, er träumt nicht mal davon. Das Irdische zu verlieren ist nicht zum Verzweifeln, und doch ist es das, wovon er spricht, und er nennt es verzweifeln. Was er sagt, ist in gewissem Sinne wahr, nur nicht insofern wahr, wie er es versteht, er ist umgekehrt gestellt, und was er sagt, muss umgekehrt verstanden werden: er steht und zeigt auch503 das, was nicht zum Verzweifeln ist, erklärend, dass er verzweifelt sei, und inzwischen ereignet sich ganz richtig die Verzweiflung hinter ihm, ihm unbewusst (KT 79 f.).

Weil er sich selbst und das Leben verkehrt versteht, also nicht als Selbstverhältnis im Gottesverhältnis, sondern als ein Etwas in der Welt, versteht er auch die Frage nach Misslingen und Gelingen nicht als Frage nach Verzweiflung und Glaube, sondern als Frage dessen, was einem zustoße, und besetzt daher den Verzweiflungsbegriff verkehrt. Sein Satz ›Ich bin verzweifelt‹ ist damit sachlich richtig, aber verkehrt gemeint. Das Entscheidende ist nun, dass die Sprache der Sphäre misslingenden Lebens »umkehrt verstanden« (KT 79) werden kann. Vor dem Hintergrund des korrekten theoretischen Kontexts ist also die verkehrte Welt umgekehrt verstehbar. Die eigent­ liche Verzweiflung als Krankheit des Geistes spielt sich also hinter dem Rücken des alltäglichen Lebens mit all seinen schicksalhaften Ereignissen statt, das diese nicht als Aufforderung zur Reflexion über das Leben deuten kann und zur eigentlichen Dimension gelingenden Lebens keinen Zugang hat. Man ist verzweifelt, egal ob man vom Schicksalsschlag getroffen wird, in der Lotterie gewinnt, oder sich erfolgreich als einer von vielen durchmogelt. Kierkegaard zeigt diese Struktur an einem plastischen Beispiel auf: »Es ist, wie wenn einer da stände und den Rücken zum Ratsund Gerichtsgebäude gewandt, geradeaus zeigend sagte: dort liegt das

503

»paa« (SKS 11, 167) D: auf.

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Rats- und Gerichtshaus; der Mensch hat recht, es liegt da – wenn er sich umwendet« (KT 80). Der Satz ›Ich bin verzweifelt‹ ist also kor­ rekt, wenn man ihn umgekehrt versteht, wie er gemeint ist. Das Bild zeigt zudem, das zwischen dem im Modus der Verkehrung lebenden Menschen und der Idee gelingenden und misslingenden Lebens kein kumulatives Wissen oder die Kenntnis eines Imperativs liegt, sondern eine revolutionäre Umkehr, eine Conversio der gesamten Person um 180 Grad.504 Man hat das Eigentliche gar nicht im Blick, obwohl es direkt vor einem liegt bzw. liegen könnte. In der verkehrten Richtung kann man suchen, solange man will. Dabei scheint es zugleich einfach und schwer. Es ist nur ein Schritt, und trotzdem verändert es die gesamte Perspektive auf das Leben. Aber es bedarf dieses Schritts, um überhaupt die Frage und die Aufgabe richtig zu verstehen. In diesem Kontext ist nun der Lebensbegriff von zentraler Bedeutung: Aber er nennt sich verzweifelt, er beträgt sich selbst wie tot, wie ein Schatten seiner selbst. Tot ist er doch nicht; es ist, wenn man so will, noch Leben in der Person. Wenn sich so plötzlich alles verändern würde, all das Äußerliche, und der Wunsch erfüllt würde, so würde wieder Leben in ihn kommen, so würde sich die Unmittelbarkeit wieder erheben, und er begänne von neuem zu leben (KT 80, Hervorhebung nur in der deutschen Übersetzung).

Derart aus der Bahn geworfen verhält man sich wie tot, ist nur ›ein Schatten seiner selbst‹, wie man so sagt, während man eigentlich nie wirklich man Selbst vor Gott gewesen ist. Vom Standpunkt des eigentlichen, geistigen Lebens, ist es jedoch, wie gezeigt, bloßes Dahinvegetieren und biologisch-vitales Leben dasselbe (vgl. dazu KT 60). Aus dem verkehrten Selbstbegriff folgt eine verkehrter Verzweif­ lungs- und ein verkehrter Lebensbegriff, den Kierkegaard hier durch die Formulierung ›wenn man so will‹ kennzeichnet. Aus diesem folgt ein verkehrter Todesbegriff und ein misslingendes Verhältnis zum Tod. Würden sich die Dinge wieder fügen, so der Text, begänne das alltägliche Dahinleben von neuem. Kierkegaard vergleicht im Folgenden diesen verkehrten Ver­ zweiflungsbegriff, wo der Mensch in den eigenen Augen nur noch ein Schatten seiner selbst ist, mit dem Sich-Tot-Stellen »niederer Tierarten« (KT 80). Man wäre durch den Einbruch des Negativen aufgefordert, zu reflektieren und sich zu sich selbst zu verhalten, aber man hat keine andere Bewältigungsstrategie als sich tot zu stellen. Das 504

Vgl. dazu Hannay (1994) 9.

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Leben als ein Etwas in der Welt, biologisch lebendig und Gegenstand der empirischen Naturwissenschaften, entspricht damit der Ebene des Tieres. Auf der unteren Stufe misslingenden Lebens gebe es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Aus der Bahn geworfen vergeht nun die Zeit. Kierkegaard beschreibt nun zwei mögliche Fortgänge: Einmal kommt Hilfe von außen, und es ›gelingt‹ dem Menschen, wieder da weiterzumachen wo er aufgehört hatte. »Ein Selbst war er nicht, und ein Selbst ist er nicht geworden; aber er lebt nun weiter dahin, nur unmittelbar bestimmt« (KT 80). Innerweltliche Hilfe kann ihn also in den misslingenden Modus des Dahinlebens zurückführen, den er aus seiner verkehrten Innenperspektive als gelingend erlebt. Dies könnte vielleicht durch »Arbeit und Beschäftigung« (KT 74) oder »mit psychologischer Ein­ sicht« (KT 75) geschehen. Man muss das, was »Reflexion fordert« (KT 79), bewältigen, aber in einem negativen Sinn verdrängen, ver­ dunkeln oder ersticken. Man findet zurück ins Leben, bezogen auf einen verkehrten Begriff von Leben. Ohne Hilfe von außen finde man häufig zurück ins Leben, aber im Modus eines ›Er ist nie wieder er selbst geworden‹ (vgl. KT 80), wobei ›selbst sein‹ sich auf die Verkehrung bezieht. Der Schritt zurück in das alte Dahinleben gelingt nicht mehr, aber man findet sozusagen einen alternativen Modus des Falschen, einen verkehrten Umgang mit der Einbruchserfahrung, die aber nicht der Schreckstarre entspricht, sondern aus der Innenperspektive als Bewältigungsstrate­ gie erlebt wird. Man »lernt andere Menschen nachzumachen505 wie sie es anstellen zu leben – und so lebt er nun auch« (KT 80). Man hilft sich selbst, aber auf der Ebene des durch die Tiermetaphorik gekennzeichneten Misslingens. Hierzu zählt Kierkegaard das »jeden Sonntag in die Kirche« (KT 81) Gehen, also das Christliche im Modus der Verkehrung der »Christenheit« (KT 81). Man wird vom Pfarrer verstanden (vgl. KT 81), weil der Pfarrer selbst im Modus der Ver­ kehrung lebt, sein Leben ebenfalls misslingt. Von diesem lernt man ein verkehrtes Verständnis von Ewigkeit. Das durch die christlichen Institutionen vermittelte Verständnis des Christlichen bewegt sich auf der Ebene des Misslingens und der Verkehrung. Man findet also durch Hilfe von Außen zurück in die Unmittel­ barkeit oder entwickelt eigene verkehrte Bewältigungsstrategien, um mit dem als verkehrte Verzweiflung Verstandenen zu leben – im 505

»at efterabe« (SKS 11, 168) D: nachzuäffen.

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Horizont eines verkehrten Lebensbegriffs »– aber ein Selbst war er nicht, ein Selbst wurde er nicht« (KT 81). Man hat, wie bereits gesagt, auf der fundamentalsten Ebene das Leben missverstanden. Die hier skizzierten Alternativen regen den beschriebenen Menschen nicht zur radikalen Umkehr seiner Person an – jedoch vielleicht den Leser. Kierkegaard differenziert nun innerhalb dieser Form der Ver­ zweiflung graduell und zugleich hierarchisierend: »Diese Form von Verzweiflung ist: dass der Mensch verzweifelt nicht er selbst sein will, oder noch niedriger: verzweifelt nicht ein Selbst sein will, oder am allerniedrigsten: verzweifelt ein anderer als er selbst sein will, sich ein neues Selbst wünscht« (KT 81). Niedriger und demnach misslingen­ der als nicht man selbst als Selbstverhältnis im Gottesverhältnis sein zu Wollen, ist demnach, gar kein Selbst sein zu wollen, noch niedriger, ein anderer sein zu wollen. Der in der Unmittelbarkeit lebende Mensch habe kein Selbst, kenne sich nicht und könne sich daher nicht wiedererkennen (vgl. KT 81). Das Leben misslingt also in einem sich nicht Wiedererkennen, es gelingt demnach in einem sich Wiedererkennen, als der, der man wirklich ist, sein sollte und immer schon gewesen ist, wenn auch im Modus der Verkehrung. Er habe zu wenig Selbst, »um zu wünschen oder zu träumen, dass er doch das geworden wäre, was er nicht wurde« (KT 81). Ihm fehlt also Einsicht in das Gesollte und die Kreativität oder Phantasie, sich selbst als derjenige vorzustellen, der er hätte sein sollen, und der er vor Gott eigentlich ist. Stattdessen sucht er »im Augenblick der Verzweiflung« (KT 81) einen verkehrten Ausweg: Er wünscht sich »ein anderer geworden zu sein oder ein anderer zu werden« (KT 81). Kierkegaard betont an dieser Stelle, wie bereits zuvor, die – in einem gewissen, menschlichen Sinn – Unschuld des derart unreflektiert Verzweifelten (vgl. dazu KT 67). Dieser Wunsch sei jedoch komisch, lächerlich. Er entspricht, wie oben dargestellt, der niedrigsten Stufe unreflektierter Verzweiflung. Neben Gott sei nichts so ewig wie das Selbst (vgl. KT 81). Kierkegaard geht hier von dem von Gott geschaffenen Individuum aus. Ein anderer als man selbst sein zu wollen, sei von dort her gesehen der »wahn­ sinnigste« (KT 81) Wunsch. An der Parallelität von naiver Unschuld und dem Superlativ des Wahnsinns erkennt man hier die Struktur wieder, der zufolge die unreflektierte Verzweiflung die gefährlichste Form der Krankheit des Geistes ist (vgl. dazu KT 70). Der derart Verzweifelte glaubt, ein anderer als er selbst zu werden sei so einfach wie das Wechseln eines Kleides. Kierkegaard weitet diesen Vergleich

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auf die Analogie aus, der zufolge er sich »buchstäblich« (KT 81) nur an der Kleidung, abstrakter formuliert an der »Äußerlichkeit« (KT 82) erkennt. Damit besteht hier die nächste Verkehrung: Während das Selbst gerade das Innere ist, macht der unreflektierte Mensch es am Äußeren fest. Er verwechselt das Haben mit dem Sein, schaut in den Spiegel und sieht nur einen Menschen, aber nicht sich selbst (vgl. dazu KT 60). Nun macht er den nächsten Fehler: Er glaubt, es bleibe »sein Wunsch« (KT 82, Hervorhebung JA), ein anderer zu sein, als ob er ein anderer Mensch werden und er selbst bleiben könnte. Am Beispiel eines Bauern, der aufgrund neuer Strümpfe seine Beine nicht als seine erkennt, erläutert Kierkegaard die Komik dieser Art von Verzweiflung (vgl. KT 82). Was wesenhaft Innen ist wird als Außen vollkommen missverstanden. Auf der zweiten Stufe der Verzweiflung über das Irdische ist die Reflexion nun nicht lediglich quantitativ. Kierkegaard diskutiert nun die Unmittelbarkeit mit »einer Reflexion in sich« (KT 82, Hervorhe­ bung SK). Der Begriff der ›Annahme‹ meint hier nicht das Einführen einer neuen Prämisse und eine Revision des vorher Gesagten (vgl. dazu KT 78 f.), sondern die Diskussion einer fortgeschritteneren Gestalt der Verzweiflung, bei der man von Selbstreflexion ausgeht Dies modifiziere die Verzweiflung, und im Gebrauch der Begriffe ›Selbst‹ und ›Verzweiflung‹ durch den Verzweifelten liege nun »etwas Richtiges« (KT 82), seine Sprache ist also nicht mehr vollkommen verkehrt, sondern enthält einen Anteil des Wahren, der nicht grund­ verkehrt formuliert sei. Diese Verzweiflung sei, so Kierkegaard, Ver­ zweiflung der Schwachheit, verzweifelt nicht man selbst sein Wollen (vgl. KT 82). Für Kierkegaard ist es nun explizit ein »Fortschritt« (KT 82), nicht lediglich wegen eines äußeren Anlasses, sondern durch Reflexion zur Verzweiflung zu gelangen. Er führt den Begriff der Reflexion hier mit den Begriffen »Selbsttätigkeit [und] Handlung« (KT 83) eng, die einem rein passiven Zustoßen von Außen entgegenstehen (vgl. dazu KT 79). Es ist also im normativen Sinn besser, durch reines Nachdenken ohne äußeren Anlass zur Verzweiflung zu gelangen. Kierkegaard beschreibt nun den Beginn eines »Absonderungs­ akts« (KT 83), im Zuge dessen sich der Mensch als von der äußeren Umwelt und ihren Einflüssen verschieden erkennt. Der Weg in Rich­ tung des Bewusstseins eines Selbst ist also ein Weg der Absonderung. Er ist nicht einfach ein funktionierendes Element in der Welt. Das

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bedeutet auch, dass das misslingende Leben voll in der Welt aufgeht, sich in diesem Sinne nicht als von ihr verschieden erkennt und damit auch ihren Einflüssen und dem jeweiligen Zeitgeist ungeschützt ausgesetzt ist.506 Kierkegaard benutzt hier in vier Sätzen sechs Mal das Wort ›Grad‹ (vgl. KT 83). Graduell liegen Reflexion, Bewusstsein von Selbst und Verzweiflung und Absonderung auf einer Ebene und Letztere sind vom Grad an Reflexion abhängig. Er beschreibt nun zwei Fälle: Im ersten Fall stößt der Mensch auf Schwierigkeiten und schreckt zurück (vgl. KT 83). Zurück meint hier das Zurückfallen in Unmittelbarkeit, Welt und Verkehrung. Im zweiten Fall stößt ihm etwas von außen zu, das ihn tiefer mit der Unmittelbarkeit brechen lässt als ihm dies durch sein Reflexionsni­ veau möglich wäre. Oder, sozusagen als Variante B des zweiten Falls, seine Phantasie entdeckt die Möglichkeit, die verwirklicht den Bruch mit der Unmittelbarkeit bedeuten würde (vgl. KT 83). Die Richtung hin zu einem gelingenden Leben fordert einen Bruch mit der Unmittelbarkeit. Dieser gelingt auf dem hier betrachteten Grad an Reflexion noch nicht allein durch Reflexion, sondern bedarf eines Zustoßens von Außen oder der Phantasie. Ohne dies gelingt der Bruch nicht, und der derart Verzweifelt schreckt zurück und fäll zurück in die Unmittelbarkeit, verdrängt also die Richtung des Eigentlichen wieder, kehrt wieder von ihr ab in die Verkehrung. Im zweiten Fall geschieht dies genau nicht: »So verzweifelt er«507 (KT 83). Diese Form der Verzweiflung der Schwachheit sei wesenhaft ein »Leiden des Selbst« (KT 83, vgl. auch KT 82), im Unterschied sowohl zum Trotz als auch zur Unmittelbarkeit. Im Unterschied zu Letzterer sei er, so Kierkegaard, bereit, Zugeständnisse zu machen. Jener werde dagegen von der Verzweiflung wie vom Schlag getrof­ fen (vgl. KT 83). Auf der graduellen Stufe der Unmittelbarkeit mit Reflexion kann man bereits zwischen sich selbst und weltlichen Äußerlichkeiten differenzieren (vgl. KT 84), hat bereits eine »dunkle Vorstellung« (KT 84) vom Ewigen im Selbst, sich also graduell abgesondert. Das Leben misslingt trotzdem, weil das gelingende Leben »einen Bruch mit der ganzen Unmittelbarkeit« (KT 84) fordert, also nicht lediglich einen graduellen Bruch, und zu diesem ist man auf dieser Reflexionsstufe nicht fähig. Es fehle, so Kierkegaard »die Der Mensch ist so lediglich Funktion des jeweiligen Zeitgeistes (vgl. Hoffmann (2011) 340). 507 »Saa fortvivler han« (SKS 11, 170) D: Dann verzweifelt er.

506

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Selbstreflexion oder die ethische Reflexion« (KT 84). Ein dunkle Vorstellung, eine Ahnung des Selbst und damit der Idee gelingenden Lebens, genügt noch nicht, um den Bruch vollziehen zu können. Das Leben gelingt dagegen in »unendlicher Abstraktion von allem Äußeren« (KT 84) und dann in der Übernahme des »wirklichen Selbst« (KT 84) von diesem »nackten, abstrakten […] unendlichen Selbst« (KT 84). Ohne den Begriff zu benennen, skizziert Kierkegaard hier den Vollzug der Doppelbewegung, dessen erster Teil jener Bruch ist. Die Begriffe ›Bruch‹ und ›unendliche Abstraktion‹ deuten hier auf dasselbe. Auf der hier beschriebenen zweiten Stufe der Verzweiflung über das Irdische, die Kierkegaard auch als »relative Reflexion« (KT 83) bezeichnet, gelingt jedoch noch nicht einmal die erste Bewegung, das Loswerden, die Verunendlichung, das sich Verlieren. Das abstrakte Selbst sei zudem das Vortreibende, also das Bewegende des gesamten Prozesses (KT 84). Kierkegaard schreibt diese Aktivität nicht dem konkreten Selbst zu – dieses muss man werden – sondern dem abstrakten Selbst, das man durch den durch Reflexion ausgelösten Bruch mit der Unmittelbarkeit gewinnt. Damit steht das abstrakte Selbst, das reine Selbstverhältnis, der Sache nach noch einmal als das Bewegende hinter der Reflexion, durch die man es der Zeit nach entdeckt, und führt im zweiten Teil der Bewegung zum wirklichen konkreten Selbst. Das gelingende Leben, so Kierkegaard hier am Rande, habe »Schwierigkeiten und Vorzüge« (KT 84) gegenüber dem misslingenden Leben, es ist also nicht in einem naiven Sinne besser, einfacher oder bequemer, sondern in einem normativen Sinn. Es bringt neue Schwierigkeiten mit sich. Da die Doppelbewegung hier aber nicht gelinge, misslingt das Leben im Beispiel des Textes. Er verzweifelt. Im Gegensatz zum unreflektierten Menschen kommt er aber nicht auf die Idee, ein anderer sein zu wollen. »Er unterhält ein Verhältnis zu seinem Selbst« (KT 84). Kierkegaard definiert also das Selbst als Selbstverhältnis im Gottesverhältnis, und auf dieser Stufe der Verzweiflung der Schwach­ heit aus relativer Reflexion verhält man sich wiederum zu diesem Verhältnis. Dies bedarf einer Erläuterung: Es ergeht ihm dann im Verhältnis zum Selbst, wie es einem Manne ergehen kann im Verhältnis zu seiner Wohnung (das Komische ist, dass das Selbst freilich zu sich selbst nicht in einem so unverbindlichen Verhältnis steht wie der Mann zu seiner Wohnung), dass sie ihm zuwi­ der wird, weil sie voller Rauch ist, oder gleichgültig aus irgendeinem

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Grunde; er verlässt sie dann, aber er zieht nicht aus, er mietet keine neue Wohnung, er betrachtet die alte als seine Wohnung; er wartet darauf, dass der Rauch wieder abzieht (KT 84).

Konfrontiert mit den Schwierigkeiten und dem Leiden des Selbst (vgl. KT 83), die der graduelle Bruch mit der Unmittelbarkeit offenlegt, ent­ schließt man sich abzuwarten. Man wagt es nicht, man selbst zu sein, will nicht man selbst sein (vgl. KT 84). Man verhält sich nicht zu Gott, sondern abwartend zu seinem Selbstverhältnis zu Gott. Man wartet, dass die Erfahrung des Negativen vorübergehe. Das Leben misslingt in diesem Abwarten. Diese verkehrte Strategie kann aber durchaus gelingen, die »dunkle Möglichkeit wird […wieder] vergessen« (KT 84). Der Prozess des Vergessens ist hier grammatisch im Passiv formuliert. Gelingt es, die eigentliche Dimension gelingenden Leben abwartend zu vergessen oder zu verdrängen, so beginnt man, wo man vor dem graduellen Bruch aufgehört hat (vgl. KT 85). Der Bruch mit der Unmittelbarkeit ist wieder geglättet. Der Mann wird von sich sagen er »ist wieder er selbst« (KT 85), benutzt damit aber genau wieder den verkehrten Begriff des Selbst, da er den Weg zurück in die Verkehrung des misslingenden Lebens gefunden hat. »[...] Er war also bis zu einem gewissen Grade ein Selbst, und zu mehr reichte es auch nicht« (KT 85). Kierkegaard hat damit also ein Szenario beschrieben, auf dem man sich graduell in Richtung eines gelingenden Lebens bewegt, der Schritt zum Selbstsein aber fehlt, und man abwartend zu sich selbst Bruch und Negativität vergisst und zurück in die verkehrte Welt und das misslingende Leben fällt. Nun folgt das nächste Szenario, die nächste graduelle Stufe, in dem Veränderung nicht eintritt, metaphorisch der Rauch nicht abzieht, das Vergessen sich nicht passiv vollzieht: Er schwenkt völlig von der Richtung nach innen ab, auf welchem Wege er vorwärts hätte streben sollen, um in Wahrheit ein Selbst zu werden. Die ganze Frage um das Selbst im tieferen Sinne wird zu einer Art blinder Tür im Hintergrunde seiner Seele, hinter der gar nichts ist. Er übernimmt, was er in seiner Sprache sein Selbst nennt, das besagt, was ihm an Fähigkeiten, Talenten und so weiter gegeben sein mag, all das übernimmt er jedoch in Richtung nach außen, auf das Leben zu, wie es heißt, das wirkliche, das tätige Leben; er umgeht sehr vorsichtig das bisschen Reflexion in sich, das er in sich hat, er fürchtet, dass es von neuem hervorkommen könnte aus dem Hintergrunde. So wird es ihm nach und nach glücken, es zu vergessen [...] (KT 85).

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Das Vergessen ist nun nicht mehr grammatisches Subjekt, sondern Resultat einer Bewegung der Abkehr des verzweifelten Einzelnen von dem Weg nach innen, den er für ein gelingendes Leben hätte weiter verfolgen sollen, nach außen, zurück in Richtung der verkehrten Welt. Die Begriffe ›Selbst‹ und ›Leben‹ werden nun wieder verkehrt ver­ standen. Das Leben misslingt in der rein weltlichen Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten und Talente ohne den Maßstab des EthischReligiösen. Kierkegaard benutzt hier wieder die Metaphorik der Tiefe für die eigentliche Frage nach Gelingen und Misslingen. Diese ganze Dimension wird nun aktiv verdrängt und vergessen. Die Abkehr umgeht sie. Diese Gestalt misslingenden Lebens lebt, bis zum völli­ gen Vergessen, in der Furcht, dass die Frage nach Sinn und Boden wieder aufkommen könnte. »[...] Im Verlauf der Jahre findet er es so beinahe lächerlich, besonders wenn er in guter Gesellschaft mit anderen tüchtigen und tätigen Männern ist, die Verständnis und Tüchtigkeit für das wirkliche Leben haben« (KT 85). Durch den Einfluss der verkehrten Gesell­ schaft über die Zeit verliert er nun die Dimension der Reflexion und die eigentliche Frage. Das, worum es Kierkegaard zufolge im Leben eigentlich geht – Selbst, Reflexion, Absonderung (vgl. KT 83), Doppelbewegung und wirkliches Selbst (vgl. KT 84) –, werde ins Lächerliche verkehrt. Man versteht die Frage nach dem gelingenden Leben in ihrem eigenen Sinn nicht mehr, weil sie einen nicht mehr betrifft. Man müsste lachen, wenn man sie gestellt bekäme. Er ist nun, wie es in einem Roman steht, seit mehreren Jahren schon glücklich verheiratet, ein tatkräftiger und unternehmender Mann, Vater und Bürger, vielleicht sogar ein großer Mann; daheim in seinem Hause nennt ihn die Dienerschaft »Er selbst«, in der Stadt gehört er zu den Honoratioren; sein Auftreten erfolgt mit Persönlichkeitsansehen oder mit Ansehen der Person. Er wird nach Ansicht aller als Persönlich­ keit beurteilt. In der Christenheit ist er Christ (ganz im gleichen Sinne wie er unter Heiden ein Heide sein würde und in Holland Holländer), einer von den gebildeten Christen (KT 85).

Der Mensch auf dieser Reflexionsstufe, oder mit diesem Grad an Reflexion, der diese nach außen umging, wird von Kierkegaard hier als sozioökonomisch überaus erfolgreich dargestellt. Jedoch urteilten Welt und Gesellschaft über ihn und über sein ›Selbst‹ verkehrt. Aus der Verkehrung des Selbstbegriffs folgen Verkehrungen der Begriffe ›Person‹, ›Bildung‹ und letztlich die Verkehrung des

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›Christlichen‹, die der Sache nach allen übrigen Verkehrungen zu Grund liegt und für die Kierkegaard den Begriff der Christenheit, im Gegensatz zum Begriff des Christentums, gebraucht.508 ›Christ‹ im christlichen Europa zu sein, »ganz im gleichen Sinn« (KT 85) wie Heide unter Heiden oder Holländer in Holland, impliziert eine Reduktion des Christlichen auf eine soziale Gruppe unter vielen, eine Kultur im ethnologisch-relativen Sinn. Das Christliche verliert seine qualitative Differenz und damit seinen philosophisch-universa­ listisch-normativen Anspruch und den Begriff des Absoluten, und so letztlich das tragende Sinnfundament, das die Gesundheit des Glaubens trägt.509 Für Kierkegaard ist dieser verkehrte Begriff des Christlichen nihilistisch und die These dieser Arbeit ist hier, dass diese Analyse, deren entscheidender Schritt dieses ›im gleichen Sinn‹ ist, korrekt ist. Das verkehrte Christliche510 wird nivelliert, reduziert, als mit anderen Sinnfundamenten äquivalent gedacht – während es, so implizit, in Wahrheit gar keinen Sinnhorizont mehr gibt. Als Kultur im ethnologischen Sinn versteht sich das Christliche Kierkegaard zufolge selbst verkehrt.511 Das hier Beispiel beschriebene Selbstsein im verkehrten Sinne ist in Wahrheit Flucht und Verdrängung. Der Halt, den man gefunden zu haben glaubt, ist in Wahrheit haltlos. Ironisch sagt Kierkegaard, die Frage, ob man sich im Modus der unsterblichen Seele selbst wie­ dererkennen würde, müsse ihn interessieren, da er kein Selbst habe (vgl. KT 85 f.). Diese Frage »beschäftigt« (KT 85) ihn, aber dennoch hat er keinen eigentlichen Zugang zu ihr. Er fragt die Frage im Modus der verkehrten Christenheit. Er frage also verkehrt, auch wenn die Frage buchstäblich richtig gestellt ist. Das Komische ist, dass er davon reden will, verzweifelt gewesen zu sein; das Furchtbare ist, dass sein Zustand, nachdem er, wie er meint, die Verzweiflung überwunden hat, gerade Verzweiflung ist. Dabei ist der, wie Deuser sagt, »Clou« (Deuser (1980) 215) der Kierkegaardschen Ideologiekritik, dass die Akteure selbst den Maßstab der Kritik bejahen. 509 Zur Rolle der Einsicht in die historische Bedingtheit von Werten und Normen bei Kierkegaard vgl. Hackel (2011) 394. 510 Das Absolute wird dazu benutzt, gesellschaftlich-relative Zwecke zu verabsolutie­ ren (vgl. Thurnher (2003) 135). 511 Die Pointe gegen Kierkegaard aus einer Perspektive, die Kierkegaards Hinter­ grundannahmen nicht teilt, ist an dieser Stelle, dass die Christenheit sich als Kultur im ethnologischen Sinn durchaus richtig versteht, die nihilistischen Implikationen dieses Selbstverständnisses aber nicht begreift. 508

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Es ist unendlich komisch, dass der in der Welt so sehr gepriesenen Lebensklugheit, dass all dem Satanszeug von guten Ratschlägen und klugen Wendungen und Zeitansichten und Hinnehmen und Wieder­ vergessen des eigenen Schicksals, ideell verstanden, eine vollkommene Dummheit zugrunde liegt, wo die Gefahr eigentlich ist und worin die Gefahr eigentlich besteht. Aber diese ethische Dummheit ist wiederum das Furchtbare (KT 86).

Bemerkenswert ist an dieser Stelle Kierkegaards Gespür für das Phänomen, erzählen zu wollen, dass man verzweifelt gewesen ist, dass man die Verzweiflung überwunden hat. Dieses Bedürfnis deutet auf diese Gestalt der Verzweiflung der Schwachheit. Die Überzeu­ gung, Verzweiflung – im verkehrten Sinn des Verzweiflungsbegriffs – überwunden zu haben, ist Verzweiflung im eigentlichen Sinne. Beinahe selbstverständlich benutzt Kierkegaard an dieser Stelle den Begriff der Idealität als Gegenbegriff zur Wirklichkeit. Dieser Begriff kommt in der Krankheit zum Tode insgesamt nur vier Mal und an dieser Stelle zum ersten Mal vor. Das Verhältnis von Realität und Idealität ist hier das der Verkehrung. In der Welt ist die Frage nach dem gelingenden Leben verkehrt verstanden, die eigentliche Gefahr, die Verzweiflung als Krankheit des Geistes, wird nicht verstanden. Daher sind alle Tipps und Lebensklugheiten in der Welt verkehrt. Alle gut gemeinten Ratschläge sind nutzlos und führen in die falsche Richtung. Sie sind im Kierkegaardschen Sinne teuflisch. Hier zeigt sich wiederum die oben bereits skizzierte Parallele von Naivität und Gefahr (vgl. KT 67). Sich Zeit nehmen, sich in seine Schicksal fügen, Vergessen (vgl. KT 86) – alle gut gemeinten Ratschläge sind verkehrt, da ihnen der eigentliche normative Bezugsrahmen fehlt. Sie geben dem Menschen Tipps, ohne zu wissen, was er als Selbst ›ist‹, und damit, ohne das Problem verstanden zu haben. Kierkegaard nennt nun die zuvor beschriebene erste Stufe der Verzweiflung über das Irdische, Unmittelbarkeit mit quantitativer Reflexion (vgl. KT 86, Bezug: KT 82 ff.), die »allgemeinste Form der Verzweiflung« (KT 86). Jenseits dieser verhalte sich der Grad der Reflexion antiproportional zur Anzahl reflektiert lebender Menschen: »Es gibt sehr wenige Menschen, die auch nur einigermaßen unter der Bestimmung Geist leben; ja, es gibt auch nicht viele, die dieses Leben nur versuchen, und von denen, die es tun, springen die meisten bald wieder ab« (KT 86). Gelingendes Leben ist also, selbst wenn man den Begriff großzügig fasst, die seltene Ausnahme, und von denjenigen, die sich auf den richtigen Weg machen, ist dazu noch das Phänomen

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der Abkehr der Regelfall. Den Grund der Abkehr verortet Kierkegaard in einem Nicht-gelernt-Haben von Furcht und Sollen, man könnte sagen von Negativität und Moralität. Daher könne man den richtigen Weg nicht aushalten (vgl. KT 86). Was ist auszuhalten gilt ist, dass gelingendes Leben »[...] in der Welt wie Zeitvergeudung aussieht, ja, wie unverantwortliche Zeitver­ geudung, die womöglich durch bürgerliche Gesetze bestraft werden müsste, in jedem Falle mit Verachtung und Spott als eine Art Verrat am Menschen bestraft werden müsste, als trotzige Verrücktheit, die irrsinnig die Zeit mit nichts ausfüllt« (KT 87). In der verkehrten Welt scheint also das gelingende Leben das misslingende zu sein und wird entsprechend negativ sanktioniert, bis hin zum Maximum der Verkehrung im Begriff ›Trotz‹, Kierkegaards eigenem Begriff für das extreme Misslingen. Gelingen sieht wie Zeitverschwendung aus, wie Verrücktheit, wie nichts. Weil die Welt den Begriff ›Mensch‹ verkehrt versteht, setzt sie den falschen Maßstab an. Das gelingende Leben bedarf demnach eines Lernprozesses, der den Einzelnen in die Lage versetzt, diese Negativerfahrung auszuhalten und an dem als normativ richtig Erkannten, auch gegen alle Welt, festzuhalten. Dies wird umso schwieriger, als sich die Einsicht in das Gesollte schwierig gestaltet, das Urteil der Umwelt jedoch sicher scheint. Fehlt dieser Lernprozess, dann begännen, wie Kierkegaard beschreibt, Menschen in Richtung innen, schwenkten aber bei den ersten Schwierigkeiten nach außen ab, bestärkt von den Geistlichen der Christenheit (vgl. KT 87). Kierkegaard diskutiert nun die Auffassung, Verzweiflung sei lediglich ein Phänomen der Jugend. Leider müsse man zunächst sagen, dass die meisten Menschen sowieso mit Blick auf die Frage nach gelingenden Leben nicht über das Niveau ihrer Jugendzeit hin­ auskämen: »Unmittelbarkeit, mit Zusatz von einer kleinen Dosis Reflexion in sich« (KT 87). Sie haben in jungen Jahren bereits ihren geistigen Höhepunkt erreicht. Dazu führt der Autor weiter aus, dass Jugend und Alter in der jeweils einseitigen Form der Illusion von Hoffnung und Erinnerung leben, und dass Menschen hohen Alters »vom vermeintlich höheren Standpunkt« (KT 88) auf die Jugend her­ absehen, sich der Sache nach aber in der Erinnerung an die Vergan­ genheit genauso täuschen wie die Jugend in der Hoffnung auf die Zukunft (vgl. KT 88). Kierkegaard weist nun die These zurück, man entwachse der Verzweiflung (vgl. KT 87 f.) und damit der Sache nach die These, das Überwinden der Verzweiflung sei eine Frage der Ent­

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wicklung. Die Idee einer Entwicklung bekräftigt hier sein Verweis auf den Bereich körperlicher Entwicklung, »Zähne, einen Bart und so weiter« (KT 88). Der Entwicklungsthese liegt ein verkehrtes biologi­ sches Menschenbild, ein Bild des Menschen als »Tier-Geschöpf« (KT 88) zu Grunde. Gelingendes Leben ist also auch keine Frage der kognitiven Entwicklung eines Menschen. De facto geschieht mit der Zeit sogar das Gegenteil: »Und mit den Jahren verliert man vielleicht das bisschen Leidenschaft, Gefühl, Phantasie, das bisschen Innerlichkeit, das man hatte, und geht ohne weiteres (denn so etwas geht ohne weiteres) hin unter der Bestimmung der Trivialität vom Verständnis des Lebens« (KT 89). In gewissem Sinne wie von selbst geschieht also nicht die Entwicklung hin zu gelingendem Leben, sondern ein Prozess der Habitualisierung in die Gegenrichtung durch Einflüsse der verkehrten Umwelt. Man verliert das Bisschen, das man erreicht hatte. Die Begriffe ›Gefühl‹, ›Leidenschaft‹ und ›Phantasie‹ sind hier als Gegenbegriffe zur alltäg­ lichen Trivialität normativ positiv besetzt. In gewissem Sinne sind junge Menschen also Erwachsenen voraus. Diesen – verbesserten Zustand, der freilich mit den Jahren gekommen ist, hält der Mensch nun verzweifelt für ein Gut. Er überzeugt sich leicht davon (und in einem gewissen satirischen Sinne ist nichts sicherer), dass es ihm nun niemals einfallen könne zu verzweifeln – nein, er hat sich gesichert, er ist verzweifelt, geistlos verzweifelt (KT 89).

Der Erwachsene besetzt nun also diesen Zustand, den er wie von selbst erlangt hat, das an die verkehrte Welt angepasste triviale misslingende Leben, in seiner Verzweiflung positiv. Das, was man fast wie von selbst geworden ist, das angepasste, in einem sozialen Kontext funktionierende Leben im normativen Sinne für ›gut‹ zu halten, ist Ausdruck der Verzweiflung als Krankheit des Geistes. Man versinkt »mit den Jahren in die trivialste Art der Verzweiflung« (KT 89). Kierkegaard benutzt an dieser Stelle nun selbst die von der Analyse bereits antizipierten Begriffe der ›Entwicklung‹ und der ›Reife‹ (vgl. KT 89). Finde diese wirklich statt, so könne man vielleicht auf eine höhere Art, also mit einem höheren Grad von Reflexion, verzweifeln. Entwickle man sich nicht, versinke aber auch nicht völlig in die Trivialität, so bleibe man ein junger Mensch im Sinne des entsprechenden Typus und Grades der Verzweiflung (vgl. KT 89). Der Autor zeigt nun einen »zufälligen« (KT 89) Unterschied in der Verzweiflung des Jugendlichen und des Erwachsenen auf, die aber

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»wesentlich« (KT 90) dieselbe sei: Der Jugendliche verzweifelt über die Zukunft, die er nicht übernehmen will, der Erwachsene über das Vergangene, das er nicht bereuen will, sondern zu vergessen versuche. Aber wesentlich wird die Verzweiflung eines solchen Jünglings und eines solchen Erwachsenen dieselbe sein, es kommt nicht zu irgendei­ ner Metamorphose, in der das Bewusstsein vom Ewigen im Selbst durchbricht, so dass der Kampf beginnen könnte, der die Verzweiflung entweder zu einer noch höheren Form potenzierte oder zum Glauben führte (KT 90).

Das Leben misslingt als Nicht-Metamorphose, es gelingt demnach als Metamorphose. Mit diesem Schlüsselbegriff verdeutlicht Kierkegaard, dass gelingendes Leben nicht lediglich eine Frage der richtigen Hand­ lung ist, sondern eine Frage der vollständigen Veränderung hin zu einer Person, die richtig handeln kann. Das Bisherige muss durch die Idee eines Gesollten durchbrochen werden, das Resultat ist entweder eine höhere Form des Misslingens oder der Glaube als das Gelingen. Der Weg zu einem gelingenden Leben ist demnach mit Risiken behaf­ tet, und Kierkegaards Konzeption impliziert die normative Forderung, diese Risiken einzugehen. Es könnte schlimmer werden, aber der gegenwärtige Zustand als Verzweiflung ist es nicht wert, bewahrt zu werden. Der Kampf zwischen Verzweiflung und Glaube ist in dieser Passage Subjekt, er wird in einem Menschen ausgetragen. Gesundheit und schwere Krankheit liegen hier nah beieinander. Die meisten Menschen kommen jedoch nicht bis dahin, verlieren das bisschen Phantasie, das sie einmal gehabt haben und gehen im Banalen auf. Zuvor sagt Kierkegaard, man müsse erst »gründlich verzweifeln« (KT 90), so dass das »Geistleben von Grund auf durchbrechen könne« (KT 90). In diesem Sinn sind Einbruch und Erfahrung des Negativen Voraussetzung für die Möglichkeit gelingenden Lebens. Sie führen zur Dimension des Grundes. Der letzte Abschnitt des hier analysierten Kapitels thematisiert den Unterschied zwischen der Verzweiflung über das Irdische als dem Ganzen und der Verzweiflung über etwas Irdisches als auf etwas Einzelnes bezogen (vgl. KT 90). Leidenschaft und Phantasie in der Verzweiflung über etwas Irdisches machen bzw. verunendlichen es zum Irdischen im Ganzen, während das Irdische jedoch wesenhaft das Einzelne sei und jede »Totalitätsbestimmung […] Gedankenbe­ stimmung« (KT 90). Die Welt als Ganzes ist also ein gedankliches Konstrukt und nicht die Wirklichkeit. Dieses Totalisieren in der

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Verzweiflung sei wichtig, um die nächste Gestalt der Verzweiflung zu verstehen. Zusammenfassend kann man festhalten: Der zentrale Begriff ist der Begriff der Verkehrung und damit der Äquivokation zentraler Begriffe. Hinsichtlich des Bewusstseins über den wahren Begriff der Verzweiflung und ihren eigenen Zustand bezogen auf diesen norma­ tiven Maßstab leben die meisten Mensch in einer Art Halbdunkel, indem sie versuchen, durch Flucht Dunkelheit zu schaffen oder aber einen psychologischen Mechanismus, nicht aber die Tiefendimension des Problems durchschauen. Der Glaube als Selbstverhältnis im Gottesverhältnis ist dabei ›als Formel vorausgesetzt‹. Das Grundproblem ist nach Kierkegaard, dass der von Gott gesetzte Mensch sich verkehrt versteht, etwa als ein rein immanentes ›Etwas‹, und damit z.B. die Frage nach gelingendem Leben als eine Frage der Suche nach dem Bequemen. Stößt dem in der Welt leben Menschen von außen etwas zu und wirft ihn aus der Bahn, so ver­ steht er sich im Horizont seines verkehrten Verzweiflungsbegriffs als verzweifelt, während er normativ immer schon verzweifelt gewesen ist. Sein Satz ›Ich bin verzweifelt‹ ist der Sache nach richtig, jedoch verkehrt gemeint, aber umgekehrt verstehbar. Gelingendes Leben ist keine Frage richtigen Handelns innerhalb eines von Grund auf verkehrten Selbst-Seins, sondern verlangt eine vollständige Umkehr der Person. Auf der Ebene ohne oder mit lediglich quantitativer Refle­ xion gibt es für Kierkegaard praktisch keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Aus der Bahn geworfen kann man mit der Hilfe anderer in die Verkehrung zurückfinden. Man findet zurück ins Leben – im Horizont eines verkehrten Lebensbegriffs, oder man findet allein alternative verkehrte Bewältigungsstrategien. Die niedrigste Form der Verzweiflung ist es, ein anderer als man selbst sein zu wollen. Auf der nächsthöheren Stufe hat der Mensch ein wenig Refle­ xion. Durch eigenes Nachdenken verzweifeln zu können ist für Kier­ kegaard explizit ein Vorzug. Der Weg zum gelingenden Leben ist ein Absonderungsakt von der verkehrten Umwelt, der entsprechend dem Grad an Reflexion hier jedoch nur graduell gelingt. Der endgültige Bruch bedarf hier eines weiteren Zustoßens von Außen. Auf der Stufe relativer Reflexion verhält man sich abwartend, hofft, dass der Bruch mit der Unmittelbarkeit sich wieder glättet, die Verzweiflung abzieht und der Weg zurück in die Unmittelbarkeit gelingt. Stellt sich das Vergessen nicht von selbst ein, kann es auch zu einer radikalen Abkehr nach außen kommen, weg von Selbst, Reflexion und Absonderung,

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zurück in die verkehrte Welt. Man hat das Bedürfnis zu erzählen, dass man verzweifelt gewesen ist. Der Verkehrung umgreift letztlich auch die Begriffe ›Person‹, ›Bildung‹ und das ›Christliche‹. Indem die Christenheit das Christliche als ein soziales Phänomen unter vielen versteht, vernichtet sie den absoluten, philosophisch-normativen Sinnhorizont. Der Halt, den man stattdessen in der Welt gefunden zu haben glaubt, ist in Wahrheit haltlos. Das Verhältnis zwischen Realität und Normativität als Idealität ist das der Verkehrung. Alle gut gemeinten Ratschläge sind nutzlos. Von den Menschen, die einmal in ihrem Leben den richtigen Weg einschlagen, ist das Phänomen der Abkehr der Regelfall. Es bedarf eines Lernprozesses, es aushalten zu können, dass das gelingende Leben in der Welt wie Zeitverschwendung aussieht. Man wird für verrückt gehalten. Das gelingende Leben ist keine Frage der Reife oder der kognitiven Entwicklung im Sinne eines Automatismus. Im Gegenteil: Fast wie von selbst verliert man im Laufe das Lebens das bisschen Phantasie, das man einmal hatte, und wird zu einem angepassten, funktionierenden, trivialen Menschen. Das gelingende Leben ist keine Frage der richtigen Handlung, sondern eine Frage der Metamorphose, der Änderung der eigenen Person hin zu einem Men­ schen, der das Richtige tut. Dieser Prozess ist mit psychischen Risiken behaftet, und es ist normativ geboten, diese einzugehen. Schwere Krankheit und Gesundheit liegen der Sache nach nah beieinander, gelingendes Leben ist Ergebnis eines Kampfes zwischen Verzweiflung und Glaube. Das Leben gelingt als Doppelbewegung von Bruch und Übernahme des wirklichen Selbst. Es ist nicht in einem naiven Sinne besser, bequemer als das misslingende, sondern im normativen Sinn. Die Welt als Totalität gibt es nicht. Das Ganze ist nur das Gedachte, das Einzelne dagegen das Wirkliche. 2.4.2.2.1.2 Verzweiflung am Ewigen Die nun folgende Analyse untersucht das zweite Unterkapitel zur Figur des ›Verzweifelt-nicht-man-selbst-sein-Wollens‹, welches Kierkegaard mit »Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst« (KT 91) betitelt. Thema ist hier zunächst eine vertiefende Erläuterung des zuvor Gesagten, darauf die Beschreibung der Verschlossenheit als graduell nächst höhere Form der Verzweiflung. Kierkegaard beginnt das Kapitel mit der These, Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches sei auch Verzweiflung

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am Ewigen oder über sich selbst, die er in einer längeren Fußnote erläutert (vgl. KT 91). Das ›worüber‹ beziehe sich auf den Anlass, das ›woran‹ dagegen darauf, woran man quasi der Sache nach verzweifle. Man verzweifle immer am Selbstverhältnis als Gottesverhältnis. Bei den Formen der Verzweiflung auf niedriger Reflexionsstufe sei das Worüber klar, etwa ein äußerer Umstand, aber nicht das Woran. Kierkegaard schließt die Fußnote mit der zuvor bereits skizzierten Problematik, ob man wirklich wissen könne, woran man verzweifle, oder ob man bei vollkommener Durchsichtigkeit nicht mehr verzwei­ felt sei (vgl. KT 91 Fußnote). Er differenziert hier also zwischen dem Anlass oder Auslöser der Verzweiflung und dem eigentlichen Problem, sich als Mensch misszuverstehen. Das gelingende Leben erfordert eine Umkehr oder Umwendung512, vom meist weltlichen Anlass der Verzweiflung hin zum eigentlichen Problem. Das wahre Problem ist nicht etwa der »Verlust meines Vermögens« (KT 91 Fußnote), sondern das sich selbst als Selbstverhältnis in einem Gottesverhältnis Verfehlen. Das richtige Problemverständnis ist der Weg zur Gesundheit. Kierkegaard vermutet, dass, wenn man das Problem richtig verstanden hat, man geheilt ist. Die Verzweiflung spielt sich sozusagen hinter dem Rücken des Einzelnen ab (vgl. KT 91). Die eigene Interpretation und das eigentliche Problem klaffen weit auseinander. Den Grund der Ver­ zweiflung in weltlichen Anlassen zu verorten, impliziert gerade, das Weltliche zu wichtig zu nehmen und damit am Ewigen zu verzweifeln (vgl. KT 92). Kierkegaard differenziert nun zwischen Verzweiflung der Schwachheit und Verzweiflung über seine Schwachheit. Auf höhe­ rer Reflexionsstufe erkennt man, dass man dem Weltlichen zu viel Bedeutung zumisst (vgl. KT 92). Jedoch gelingt auf dieser Stufe der Schritt zum Glauben noch nicht und man verzweifle darüber, dass man zu schwach ist, dass dieser nicht gelingt (vgl. KT 92). Man habe demnach ein größeres Bewusstsein davon, was ›Selbst‹ und ›Verzweiflung‹ seien (vgl. KT 93), bewege sich daher deutlich näher an einem der Sache angemessenen Problemverständnis. Ebenso sei es ein Fortschritt, dass die Verzweiflung nun als verzweifelte Reaktion auf die Verzweiflung »indirekt-direkt« (KT 93) vom Selbst komme.

»Omvendelse« (SKS 11, 175) D: Umwendung, fehlübersetzt als Sich-wenden-an (KT 91 Fußnote).

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Verzweiflung ist also ein Resultat des Denkens, allerdings des Nach­ denkens über eine niedrigere Form. Dass diese Verzweiflung »intensiver« (KT 93) ist, ist für Kierke­ gaard ebenfalls ein Fortschritt. Man ist in dem Sinne der Heilung näher, dass man eine Idee von der Heilung hat, die Möglichkeit offensteht. »Eine solche Verzweiflung wird schwerlich vergessen, sie ist zu tief;« (KT 93). Auf dieser Reflexionsstufe beschreibt Kierke­ gaard eine Erfahrung des Negativen, die Spuren hinterlässt, von der man sich nicht wieder erholt. Der Rückweg in die Unmittelbarkeit ist abgeschnitten. Scheinbar paradox, aber der Sache nach kohärent, sind intensi­ vere Formen misslingenden Lebens näher an der Idee des gelingenden Lebens, da das eigene Problemverständnis wächst und der Weg zur Gesundheit deutlich wird. Das misslingendere Leben, die intensivere Erfahrung des Negativen, ist in diesem Sinne näher am gelingenden Leben als das misslingende. Der gleichen Logik folgend ist Verzweif­ lung auf niedrigerer Reflexionsstufe gefährlicher, da sie weiter von einem angemessenen Problemverständnis und damit von der Heilung entfernt ist (vgl. dazu KT 70). Dennoch, so Kierkegaard weiter, sei dies sei dies eine Gestalt des verzweifelt nicht man selbst sein Wollens. Man hasse sich selbst, anstatt sich »gläubig unter seine Schwäche [zu] demütigen« (KT 93), dreht sich sozusagen in gewisser Weise im Kreis, ohne den Schritt zum Glauben vollziehen zu können. Man versucht zu vergessen, aber es gelinge nicht, da man zu weit fortgeschritten ist, »dazu ist das Selbst zu sehr es Selbst« (KT 94). Der Weg des Vergessens und Verdrängens, zurück »unter die Bestimmung der Geistlosigkeit zu schlüpfen« (KT 93), einer von vielen zu sein, »Mann und Christ […] wie andere Männer und andere Christen« (KT 93 f.), ist abgeschnitten. Ab einem gewissen Grad der Reflexion ist also der Weg zurück in die Normalität der verkehrten Welt unmöglich geworden. Niemand kann ihm helfen. Diese Verzweiflung über die Schwachheit sei eine Qualität tiefer und seltener ist der Welt (vgl. 94). Das Positive ist der Grad an Bewusstheit und Problemverständnis und damit die größere Nähe zur Einsicht in die Möglichkeit des Glaubens. Das Selbst ist »damit beschäftigt die Zeit auszufüllen, nicht es selbst sein zu wollen, und doch Selbst genug, sich selbst zu lieben« (KT 94). Man könnte es vielleicht einen Zwischenzustand nennen: Man ist zu verzweifelt, um den Weg zurück in die verkehrte Welt zu finden, aber nicht verzweifelt genug, man hängt noch zu sehr an der Welt, um den Schritt zum

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Glauben als Doppelbewegung wagen zu können. Misslingend hängt man zwischen Misslingen und Gelingen. Man verzweifelt darüber »dass es Schwachheit ist zu verzweifeln« (KT 92), dass der Schritt zu einem gelingenden Leben nicht gelingt. Kierkegaard nennt diesen Zustand »Verschlossenheit« (KT 94, Hervorhebung SK). Verschlos­ senheit sei das Gegenteil der Unmittelbarkeit und verachte diese (vgl. KT 94). Es ist ein Zustand der Verzweiflung, der über sich selbst als Verzweiflung reflektiert. Kierkegaard fragt, ob es einen solchen Menschen in der Welt überhaupt gebe, ob er nicht »aus der Wirklichkeit […] in die Einöde513, ins Kloster, ins Tollhaus« (KT 94) geflohen sei. Bemerkenswert ist hier die Parallele zwischen Wildnis, Kloster oder psychiatrischer Klinik als Gegenorte zur verkehrten Welt. Man würde einen derart Verzweifelten dort erwarten, bzw. erwarten, dass er sich dorthin wendet. Doch der Autor bejaht die Frage. Ein verschlossener Mensch könne aussehen wie jeder andere: Ei, ja sicher, warum auch nicht! Aber über das Selbst weiht er niemand ein, keine einzige Seele, er verspürt keinen Drang dazu oder er hat gelernt, ihn zu bezwingen, hört ihn nur selbst darüber reden: »Es sind doch nur die ganz unmittelbaren Menschen – die unter der Bestimmung Geist ungefähr auf der gleichen Stufe stehen wie das Kind im ersten Abschnitt der frühen Kindheit, wo es mit einer durch und durch liebenswürdigen Unbekümmertheit alles von sich gehen lässt – nur solche völlig unmittelbaren Menschen sind es, die gar nichts bei sich behalten können« (KT 94).

Der verschlossene Mensch lebt in der Welt, aber er schweigt, oder er hat gelernt zu schweigen. In geistiger Sicht, also mit Blick auf die Frage nach dem gelingenden Leben, sieht er seine Mitmenschen auf dem Niveau von Kleinkindern. Direkte Kommunikation ist unmöglich. Sie verstehen weder Frage noch Antwort und es macht auf diesem Niveau überhaupt keinen Sinn zu interagieren. Man kann sie nur lassen, wie sie sind. Es stellt sich hier die Frage, ob und wie sich zwei Verschlossene einander zu erkennen geben. Jene vollkommen in der Unmittelbarkeit lebenden Menschen benutzen gerade Formulierungen wie »ein wahrer Mensch [sein]« (KT 95), aber in vollkommener Verkehrung dessen, was es wirklich bedeutet, Mensch zu sein. Der Verschlossene hält sich aus diesen Debatten heraus und ist nach außen »›ein wirklicher Mensch‹„ (KT 513

»Ørkenen« (SKS 11, 177) D: Wüste.

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95) – Kierkegaard setzt die Formulierung in Anführungszeichen, um die Verkehrung anzuzeigen. »Er ist ein studierter Mann: Mann, Vater, sogar ein ungewöhnlich tüchtiger Beamter, ein respektabler Vater, angenehm im Umgang, sehr liebenswürdig zu seiner Frau, die Fürsorge selbst gegen seine Kinder. Und ein Christ?« (KT 95). Kierkegaard beschreibt den Ver­ schlossenen also als einen nach außen normalen Menschen, der das Abgründige verbirgt. Man erwartet, dass er in die Psychiatrie oder ins Kloster flieht, aber er sehe aus wie die anderen. Ein Christ sei er »auch so« (KT 95), also im Modus der Verkehrung, der in der Welt als normal und gesund, normativ hier jedoch Gestalt der Krankheit des Geistes ist. Er vermeide es, davon zu reden und sehe es »mit wehmütiger Freude, dass seine Frau sich zur Erbauung mit etwas Göttlichem beschäftigt« (KT 95). Der Verschlossene lässt also sogar seine Frau, seine engste Bezugsperson, mit Blick auf das Religiöse im Modus der Verkehrung. In die Kirche geht er sehr selten, weil es ihm vorkommt, als wüssten die meisten Pfarrer eigentlich nicht, wovon sie reden. Er macht mit einem ganz einzelnen Pfarrer eine Ausnahme, dem er zugesteht, dass er weiß, wovon er redet; aber er wünscht aus einem anderen Grunde ihn nicht zu hören, da er Furcht hat, dass ihn das zu weit führen könnte (KT 95).

Die in der Kirche institutionalisierte Religiosität gehört hier als Christenheit dem Bereich der Unmittelbarkeit an. Dass sie ›nicht wissen wovon sie reden‹ ist bemerkenswert. Die Worte sind richtig, aber sie werden nicht verstanden. Die Verkehrung kann zur Illusion führen, sich auf der ethisch-religiösen Ebene gelingenden Lebens zu bewegen, während man sich faktisch auf der Ebene unreflektierter Unmittelbarkeit bewegt und keine Ahnung von dem hat, was man da sagt und tut. Es sind Einzelne, die verstehen, worum es geht. Am anderen Ende des Spektrums hat der Verschlossene mit Blick auf diesen Menschen nun wieder Furcht vor dem nächsten Schritt in Richtung eines gelingenden Lebens. Dagegen sei für ihn Einsamkeit lebensnotwendig und dies sei Zeichen seiner tieferen Natur (vgl. KT 95). Das Bedürfnis nach Einsamkeit deutet also auf Reflexion und bewusstere Verzweiflung. Es ist normativ positiv. Kierkegaard nennt es sogar »Maßstab für das, was hier Geist ist« (KT 95). Der starke Begriff des Maßstabs kommt an dieser Stelle zum dritten Mal vor, nachdem in Kapitel (B) nicht das Ästhetische, sondern das Ethische-Religiöse Maßstab für

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Geist genannt wurde (vgl. KT 71). Der hier genannte Maßstab ist deutlich spezifischer. »Die nur geschwätzigen Un- und Mit-Menschen« verspüren in dem Grad keinen Drang zur Einsamkeit, dass sie, wie Gesellschaftsvögel, gleich sterben, wenn sie nur einen Augenblick allein sein sollen; wie das kleine Kind in Schlaf gelullt werden muss, so brauchen diese Leute das beruhigende Einlullen der Gesellschaft, um essen, trinken, schla­ fen, beten, sich verlieren zu können und so weiter (KT 95 f.).

Das ständige Bedürfnis nach Gemeinschaft ist also gemäß dem Maß­ stab Indikator für das misslingende Leben. Kierkegaard skizziert dies hier mit dem Begriff des Un-Menschen, also des Menschen, der eigentlich noch nicht Mensch ist, sowie mit der Metaphorik des Tieres, des Kleinkinds, des Schlafs und dem Bild des alltäglichen Dahinlebens. Entscheidend ist hier der Begriff der Gesellschaft. Die Gesellschaft beruhigt uns, aber auf verkehrte Weise. Sie führt uns von uns selbst, von einem gelingenden Leben im normativen Sinne weg, hin zu einem unbewussten alltäglichen Dahinleben. Die Gesellschaft fördert und forciert das misslingende Leben, indem sie die unreflek­ tierten Menschen weiter von sich selbst fernhält und beruhigt, damit aber deren Bedürfnisstrukturen entgegenkommt. Der vollkommen vergesellschaftete Mensch ist noch kein Mensch oder kein Mensch mehr (vgl. dazu KT 89). Bildung im eigentlichen Sinne gibt es innerhalb dieser Strukturen kaum, sie stehen der Idee von Bildung als Vereinzelung, als »konkret werden« (KT 51) entgegen. Sie fördern die Oberflächlichkeit, während sich das Eigentliche in der Tiefe abspielt. Es werden noch nicht einmal die richtigen Fragen gestellt, und selbst wenn sie gestellt werden, werden sie nicht verstanden. Man fragt sich nicht wirklich selbst. Die Verkehrung zeigt sich für Kierkegaard symptomatisch am modernen Gefängnis: Einsamkeit sei zur Strafe für Verbrecher geworden (vgl. KT 96). Dazu zieht er die Parallele »dass es ja in unserer Zeit ein Verbrechen ist, Geist zu haben« (KT 96), als sozusagen extremer Ausdruck für die Verkehrung von gelingendem und misslingendem Leben. Kierkegaard fährt nun mit der Analyse der Verschlossenheit fort: Der eingeschlossene Verzweifelte lebe dahin, »horis succesivis […] beschäftigt mit seines Selbst Verhältnis zu sich selbst, aber er kommt eigentlich nicht weiter« (KT 96). Zum ersten Mal in Krankheit zum Tode findet sich hier eine Engführung des Misslingens und des Dahinlebens mit einem Begriff von Sukzessionszeit. Das ›dahin‹ des Dahinlebens ist temporal. Man lebt nicht in Augenblicken als Fülle der

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Zeit, dem zeit-theoretischen Gegenmodell, in denen Entscheidungen fallen, sondern die Zeit vergeht und man tut im Grund nichts, ist »damit beschäftigt die Zeit auszufüllen« (KT 94). Die Zeit vergeht, als wäre sie nichts. Der Verschlossene verhält sich zu sich als Selbstver­ hältnis (vgl. dazu auch KT 84) und verzweifelt über seine Schwachheit. Gerade diese Schwachheit mache ihn aber, so die Wendung, zu einem zärtlichen und fürsorglichen Familienmenschen (vgl. KT 96). Im Unterschied zum unreflektierten Menschen hat sein Leben »doch mit der Ewigkeit etwas zu tun« (KT 96), sein Verhältnis zum Ewigen ist aber dennoch verkehrt. Kierkegaard deutet an, dass der Verschlossene »eigentlich stolz auf sich selbst« (KT 96) sei, sich dies aber kaum eingestehe und bald wieder ausrede (vgl. KT 96). Er möchte stolz auf sein Selbst sein (vgl. KT 97). Hier liegt also ein Gegenpol zur Verachtung der Unmittelbarkeit (vgl. KT 94), zu der Verschlossenheit die Gegenposition ist. Relativ zur Unwissenheit ist der Verschlossene stolz auf sich, und darin liegt ein Grund seiner Verzweiflung. »Es [Bezug: sein Selbst] will sich nicht gläubig unter seine Schwäche demütigen« (KT 93), ist stolz auf sein Reflexionsniveau, anstatt zu glauben, also sich zu verlieren und sich neu zu gewinnen. Er ist zu stolz auf sich, um die Doppelbewegung zu vollziehen – um gesund zu werden. Das Leben misslingt also mit dem Stolz auf die eigene höhere Reflexionsstufe, die immer noch Misslingen ist. Würde man zu ihm sagen »dies ist eine sonderbare Verwicklung, eine sonderbare Art von Knoten; denn das ganze Unglück liegt eigentlich in der Weise, wie sich der Gedanke verschlingt; sonst ist es ja auch normal, es ist ja gerade der Weg, den du gehen sollst, durch die Verzweiflung am Selbst musst du zum Selbst. Das mit der Schwachheit ist ganz richtig, aber es ist nicht das, worüber du verzweifeln sollst: das Selbst muss gebrochen werden, um es selbst zu werden, höre nur auf darüber zu verzweifeln.« Würde man so zu ihm reden, so würde er es in einem leidenschaftslosen Augenblick verstehen; aber bald würde die Leidenschaft wieder falsch sehen, und so macht er die Schwenkung wieder verkehrt, in die Verzweiflung hinein (KT 97).

Das Leben gelingt also, indem man durch die Verzweiflung am Selbst zum Selbst gelangt. Der Weg führt durch die Verzweiflung in das Verhältnis zu Gott. Man muss ihn gehen, nicht noch einmal darüber verzweifeln. Kierkegaard zeigt in diesem Abschnitt, dass die direkte Mitteilung auch in Bezug auf den Verschlossenen scheitert. Er kann sie immerhin durchaus verstehen, kognitiv nachvollziehen, aber gerade

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nicht im Leben, weil er eben zu schwach ist. Er wendet sich zurück in die Verkehrung. Kierkegaard diskutiert im Folgenden mehrere Szenarien des Fortgangs: Der Verschlossene kann weiter »auf der Stelle tretend« (KT 97) verbleiben, in der Sukzessionszeit, oder er kann durch eine »Wandlung« (KT 97) – dieser Begriff schließt an den Begriff »Metamorphose« (KT 90) an – auf den richtigen Weg zum Glau­ ben gelangen. Es bedarf also keiner kognitiven Leistung, sondern einer Wandlung des Selbst aus der Verkehrung hinaus, genau nicht »verkehrt, in die Verzweiflung hinein« (KT 97). Geschieht beides nicht, skizziert Kierkegaard zwei mögliche Folgeszenarien: Die Ver­ zweiflung potenziert sich als Verschlossenheit zum Trotz und bleibt Verschlossenheit als erste Stufe des Trotzes (vgl. KT 98) oder sie »bricht nach außen durch« (KT 97). Den Durchbruch nach außen beschreibt Kierkegaard als ein Ver­ nichten der äußeren Hülle, in der der Verschlossene unerkannt dahin­ gelebt habe. Er werde sich ins Leben stürzen, »ein unruhiger Geist, der vergessen will« (KT 97), der versucht, die Verzweiflung zu übertönen, zu vergessen, zu verdrängen. Er gehe große Unternehmungen an oder lebe in Ausschweifungen, »er will verzweifelt zur Unmittelbarkeit zurück, aber ständig mit dem Bewusstsein von dem Selbst, das er nicht sein will« (KT 98). Die Figur der Abkehr nach außen (vgl. dazu KT 85) kann sich also auch auf der Stufe der Verschlossenheit ereignen. Er versucht mit aller Macht zurück in die Unmittelbarkeit zu gelangen, startet große Projekte oder versucht es mit Rauschmitteln. Er versucht zu übertönen, zu vergessen, zu verdrängen – aber er scheitert. Die Reflexionsstufe ist zu hoch, das Bewusstsein vom Selbst zu hoch. Kierkegaard skizziert hier eine äußerst bemerkenswerte Theorie sowohl der Manie als auch der Drogenabhängigkeit – eine Theorie des Pathologischen auf geistig hohem Niveau, weit über dem Alltagsbewusstsein, nah am gelingenden Leben, aber trotzdem scheiternd. Auf niedriger Reflexionsstufe findet man den Weg in die Unmittelbarkeit zurück (vgl. KT 85), auf höherer Reflexionsstufe versucht man es und rutsche ab. Zum Abschluss seiner Beschreibung wendet sich Kierkegaard noch einmal dem ersten Szenario zu, dem in der Verschlossenheit auf der Stelle Tretenden: »[...] so wird der Selbstmord zu einer Gefahr werden, die ihm am nächsten liegt. Die Menschen, wie sie zumeist sind, haben natürlich keine Ahnung davon, was so ein Verschlossener zu tragen vermag; bekämen sie es zu wissen, sie würden entsetzt sein«

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(KT 98). Diese kurze Bemerkung ist wichtig, denn sie lässt tief blicken: Die meisten Menschen wäre entsetzt und erstaunt, wenn sie wüssten, welches Maß an Leiden ein verschlossener Mensch aushalten kann und tagtäglich aushält. Trotz dieser enormen Leidensfähigkeit ist nun, ohne Veränderung, der Selbstmord naheliegend – jedoch: Ein einziger Mensch genügt. Kann der Verschlossene sich einem einzigen Menschen öffnen, so ist nach Kierkegaard die Gefahr des Selbstmords aller Wahrscheinlichkeit nach gebannt (vgl. KT 98). Begrifflich wird hier zwischen absoluter Verschlossenheit und milderer Verschlossen­ heit mit einem Mitwisser unterschieden. Kierkegaards Theorie des Selbstmords ist, nachdem der Begriff bereits zuvor sachlich und normativ erläutert wurde (vgl. dazu KT 72), demnach die Theorie absoluter Verschlossenheit. Es ist bemerkenswert, was der Andere – ein anderer Mensch – an dieser Stelle für den Verschlossenen leisten kann. In Kierkegaards Denken des Einzelnen im Verhältnis zu Gott ist dies eine der gewichtigsten Textstellen, die dem Anderen Bedeutung beimisst.514 Man braucht in diesem Sinne nicht viele Freunde. Ein einziger genügt. Der Verschlossene hat zu ihm ein engeres Verhältnis als zu seiner engsten Familie. Das Leben misslingt immer noch, aber das Auszuhaltende wird etwas milder. Man erreiche einen Grad von Entspannung (vgl. KT 98), zu dem Manie und Suchtmittel nicht füh­ ren. Der Andere kann helfen, auf eine, im Komparativ, gelingendere Weise mit dem Negativen zu leben. Aber auch diese Figur kann sich wieder wenden: Kierkegaard beschreibt, dass man darüber verzweifeln könne, sich dem anderen geoffenbart zu haben, dass es vielleicht besser gewesen wäre, in Ver­ schwiegenheit gelebt zu haben. So kann doch gerade die Selbstoffen­ barung in den Selbstmord führen (vgl. KT 98). Der Andere ist eben nicht Gott. Kierkegaard vergleicht die Konstellation mit einem »dämonischen Tyrannen« (KT 98 f.), der einen Vertrauten benötigt, aber keinen haben kann und so die Menschen der Reihe nach einweiht und tötet. Der Verschlossene hingegen töte sich selbst. In den letzten Abschnitten klangen bereits die Begriffe des Dämonischen (vgl. KT 99) und des Trotzes (KT 98) an, die im Zentrum des Abschlusskapitels des ersten Teils der Krankheit zum Tode stehen werden. Festzuhalten bleibt: Unabhängig vom Anlass verzweifelt man der Sache nach am Selbstverhältnis als Gottesverhältnis. Das gelin­ Die Arbeit teilt hier die These Mjaalands, der diese Stelle hervorhebt: Am Ende des ersten Teils der Krankheit zum Tode beweist Kierkegaard seinen Glauben an den Wert des Dialogs (vgl. Mjaaland (2011) 96).

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gende Leben erfordert ein angemessenes Problemverständnis der Begriffe Selbst, Verzweiflung und über den eigenen Zustand. Auf der nun nächsthöheren Stufe verzweifelt man über seine Schwachheit, also über seine Verzweiflung. Die intensivere Verzweiflung ist der Idee gelingenden Lebens näher. Der Weg zurück in die Unmittel­ barkeit ist für immer verloren, man kann aber den Schritt in die Doppelbewegung nicht wagen. Kierkegaard nennt diesen Zustand, der die Unmittelbarkeit verachtet, Verschlossenheit. Man erwartet den verschlossenen Menschen in der Psychiatrie, er kann jedoch aussehen wie jeder andere. Es lebt unter den Menschen und lässt sie, wie sie sind. Er verbirgt das Abgründige, fürchtet sich aber vor dem nächsten Schritt. Maßstab für Geist ist das Bedürfnis nach Einsamkeit, die Gesellschaft dagegen fördert und forciert aber misslingendes Leben, indem sie verkehrt beruhigt. Die Sukzessionszeit vergeht wie nichts. Der Verschlossene ist in Wahrheit doch stolz auf sich und sein der Unmittelbarkeit überlegenes Reflexionsniveau. Das Leben gelingt ihm durch die Verzweiflung am Selbst zum Selbst kommen. Der Verschlossene kann dies kognitiv nachvollziehen, aber nicht vollziehen. Daher ist die direkte Mitteilung fruchtlos. Das gelingende Leben bedarf einer Wandlung. Ohne diese Wandlung kann sich Ver­ schlossenheit entweder zum Trotz potenzieren, oder sie bricht nach außen durch, und der vergebliche Versuch, in die Unmittelbarkeit zurückzukommen, führt zum Abrutschen in manische Hyperaktivität oder Sucht. Geschieht keines dieser drei und tritt der Verschlossene auf der Stelle, so wird der Selbstmord wahrscheinlich, da absolute Verschlossenheit nicht auszuhalten ist. Sie kann aber durch einen Freund gemildert werden, aber auch das sich geöffnet haben kann wieder wenden. 2.4.2.2.2 Verzweifelt man selbst sein wollen Ziel dieses abschließenden Kapitels zur Krankheit zum Tode ist die Analyse der zweiten Gestalt bewusster Verzweiflung, ›verzweifelt man selbst sein wollen‹.515 Kierkegaard beschreibt eine Steigerung von Selbstbewusstsein und Reflexion hin zum Phänomen des Dämo­ nischen. 515 Nach Hannay ist diese Form der Verzweiflung die grundlegende (vgl. Hannay (1994) 7). Auch Grøn teilt diese Auffassung (vgl. Grøn (1994) 29.

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Diese Gestalt der Verzweiflung, so beginnt das entsprechende Kapitel zum Ende des ersten Abschnitts der Krankheit zum Tode, sei Verzweiflung unter der Bestimmung des Geistes (vgl. KT 99). Sie sei einen einzigen Schritt weiter als die Verzweiflung über seine Schwachheit. Dem Verzweifelten wird bewusst, warum er nicht er selbst sein will, und »es« (KT 99) schlägt in Trotz um. Gegenstand ist also das misslingende Leben im Bewusstsein des ›Warum‹ seines Misslingens. Trotz sei »der verzweifelte Missbrauch des Ewigen, das im Selbst ist, um verzweifelt es selbst sein zu können.« (KT 99). Das Leben misslinge also in einem Missbrauch dessen oder der anthropologischen Komponente, die es gelingen lassen könnte. Kierkegaard spricht von Verzweiflung vermöge des Ewigen: Aber gerade weil er [Bezug: Trotz] Verzweiflung vermöge des Ewigen ist, liegt er in einem gewissen Sinne dem Wahren sehr nahe; und gerade weil er dem Wahren sehr nahe liegt, ist er unendlich weit entfernt. Die Verzweiflung, die der Durchgang auf den Glauben hin ist, ist auch ver­ möge des Ewigen; vermöge des Ewigen hat das Selbst Mut, sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen; hier dagegen will es nicht damit beginnen, sich selbst zu verlieren, sondern will es selbst sein (KT 99 f.).

Die höchste Stufe misslingenden Lebens hat sozusagen einen Dop­ pelcharakter, sie ist sehr nah am gelingenden Leben und unendlich weit davon entfernt. Diese Nähe und Ferne ist dasselbe.516 Sie ist das Pendant zur niedrigsten Stufe der Verzweiflung, dem unreflek­ tierten Dahinleben, die gleichzeitig die gefährlichste ist. Grund des Doppelcharakters ist folgender: Das Leben gelingt im verzweifelten Durchgang auf den Glauben hin vermöge des Ewigen, das zum Mut für die Doppelbewegung verhilft. Das misslingende Leben hat hier dasselbe Prädikat wie das gelingende Leben, die einzige Differenz zwischen Misslingen und Gelingen ist die Doppelbewegung. Der Verzweifelte will sich nicht verlieren, um sich zu gewinnen, sondern er selbst sein. Das Leben misslingt, wenn es nicht von Gott her, im Gottesverhältnis, sondern selbst gelingen soll. Es fehlt das Verhältnis zur Wahrheit, das das Leben gelingen lässt, obwohl man sehr nah dran ist. Diese Form der Verzweiflung ist eine Stufe höher als die vorhe­ rige, man hat ein größeres Bewusstsein vom Selbst, von der Verzweif­ Bertholds Begriff des »Respekts« (Berthold (2013a) 143) für den dämonisch Verzweifelten trifft die Sache in ihrer Zweischneidigkeit nicht.

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lung und davon, dass der eigene Zustand Verzweiflung ist, ist »sich seiner eigenen Tat bewusst« (KT 100). Die Verzweiflung »kommt direkt von Selbst« (KT 100), also weder von außen noch »indirektdirekt« (KT 93) vom Selbst. Sie ist in allen relevanten Belangen qualitativ höher. Das Verzweifelte habe, so Kierkegaard weiter, ein Bewusstsein vom unendlichen Selbst, jedoch nur als »abstrakteste Möglichkeit« (KT 100). Das Leben misslingt nun genau im ›über sich selbst verfügen wollen‹, ›sich selbst schaffen wollen‹, ›sich zu dem machen wollen der man sein will‹, ›bestimmen was man in seinem konkreten Selbst haben will und was nicht‹, ›das Ganze formen wollen wie man es will‹, ›sich selbst konstruieren wollen‹ (vgl. KT 100 f.). Kierkegaard ver­ steht diese Bestrebungen als »das Selbst von jedem Verhältnis zu der Macht losreißend, die es gesetzt hat, oder von der Vorstellung losrei­ ßend, dass es eine solche Macht gibt« (KT 100).517 Entscheidend ist hier das Gesetztsein. Man wendet sich gegen die Notwendigkeiten und Grenzen »dieses ganz bestimmten« (KT 100) Menschen, der man ist, mit all seinen »Gaben, Anlagen und so weiter (in der Konkretion dieser Verhältnisse [...])« (KT 100).518 Man wille nicht »in dem ver­ liehen Selbst seine Aufgabe sehen« (KT 101).519 Das Leben misslingt also, wenn man selbst »›im Anfang‹„ (KT 101), quasi bei Null, beginnen will und sich selbst unabhängig von dem konkreten Menschen, der man ist und geworden ist, also unabhängig von Begabungen, bisheriger Biographie und historischer Situation520, neu schaffen oder sich selbst konstruieren will. Ein radikaler Neuanfang ist Illusion, ist Verzweiflung. Das Leben gelingt, indem man in sich seine Aufgabe sieht, in dem konkreten Menschen, der man (geworden) ist. Hier liegt wiederum eine reflexive Struktur vor: ›Ich bin meine Aufgabe, muss mit mir arbeiten‹.521 Subjekt und Objekt sind identisch. Der Einzelne ist für Kierkegaard von Gott 517 Kierkegaard präzisiert dies am Ende der Untersuchung: Die höchste Stufe, das Dämonische, ist nicht von Gott losgerissen, sondern gegen Gott gerichtet (vgl. KT 107). 518 Das ist der Versuch Kierkegaards, der später von Adorno geäußerten Kritik, sein Begriff des konkreten Einzelnen bleibe abstrakt (vgl. Adorno, KdÄ 308 f.), zu entgeg­ nen. 519 Der Mensch hat von Gott die Aufgabe, sein Leben zu leben (vgl. Reutlinger (2014) 110). 520 Vgl. Theunissen (1991) 46. 521 Eine gute Interpretation der dem Menschen gegebenen Aufgabe bietet Pattisons Analogie zu einer Pokerhand – »the hand one has been dealt« (Pattison (1997) 80).

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gesetzt und kann sich nur von dort her verstehen. Wir sind Geschöpfe, geschaffen, und können uns nicht selbst neu schaffen. Im folgenden Schritt möchte Kierkegaard mittels der Unterschei­ dung zwischen handelndem und leidendem Selbst diesen Unterschied näher beleuchten. Das handelnde Selbst verhalte sich experimentie­ rend zu sich selbst, ihm fehle der Ernst (vgl. KT 101). Als »abgeleitetes Selbst« (KT 101) kann der Mensch nicht über sich hinaus. Wenn Kierkegaard sagt, auch wenn das Selbst nicht so weit gehe »dass es zu einem experimentierenden Gott wird« (KT 101), so deutet er doch in dieser Übertreibung die Richtung des Trotzes an: man will (sich) selbst schaffen, sich zu Gott machen. Kierkegaard nennt dieses abstrakte und sich selbst schaffen wollende Selbst die »negative Form des Selbst« (KT 102) und zeigt hier folgende Dialektik auf: »Insofern arbeitet das Selbst, in seinem verzweifelten Streben es selbst sein zu wollen, sich gerade in das Gegenteil hinein, es wird eigentlich kein Selbst« (KT 102). Auch hier liegt also eine Verkehrungsstruktur vor. Im Glauben, sein Leben auf diese Weise gelingen zu lassen, schafft der Mensch sein Misslingen. Das Ergebnis ist das Gegenteil des Erwarteten und Erhofften. Das ganze Leben wird hypothetisch522, könnte jeden Augenblick wieder mit einem neuen Entwurf von vorn beginnen, und dem Selbst offenbart sich mit der Zeit genau diese hypothetische Struktur (vgl. KT 102). Man ist »ein König ohne Land, der eigentlich über nichts regiert« (KT 102). Dem Menschen offenbart sich, dass scheinbar nichts feststeht, »das heißt ewig fest« (KT 102) – dass er eigentlich nichts ist. Er will sein, was er will, er denkt, er könne alles sein, aber am Ende steht die Erkenntnis, dass er nichts wirklich ist, dass er nichts ist. Er baue, so Kierkegaard, nur Luftschlösser. Das sehe zwar brillant aus, fabelhaft (vgl. KT 102) – aber eben im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaft. »Im Grunde liegt auch das Ganze im Nichts« (KT 102).523 Der Begriff des Grundes im Sinne des zu Grunde Liegenden scheint hier wichtig zu sein. Dieser Grund fehlt. Der Mensch wolle es genießen, sich selbst zu machen, bleibe sich aber doch »im letzten Grunde« (KT 102) ein Rätsel. Er könne willkürlich im Augenblick der Fertigstellung das Ganze in nichts auflösen (vgl. KT 103). Ohne Grund versteht sich der Mensch also selbst nicht, und genau genommen gibt es auch Der Struktur nach wurde dies bereits erläutert (vgl. dazu KT 50 ff.). »og til Grund for det Hele ligger ogsaa Intet« (SKS 11, 183) D: und dem Ganzen liegt auch nichts zu Grunde.

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nichts zu verstehen. Alles ist nur hypothetisch, Konstrukt, Kreation, Fiktion. Es ist interpretierbar, aber nicht erschließbar. In Wahrheit ist es nichts. Der Mensch kann sich nicht selbst festlegen, sich keine Aufgabe aus dem Nichts geben, die seine eigene ist, bei der feststeht, dass er morgen noch dabei sei. Es ist immer nur »Anschein von Ernst« (KT 101), von Leben, aber in Wahrheit ist es nichts. Im nächsten Schritt betrachtet Kierkegaard kurz das leidende Selbst. Hier treffe das negative Selbst im Prozess des Experimentie­ rens auf Schwierigkeiten, die es loswerden wolle, aber nicht könne (vgl. KT 103). Daran schließt wiederum die Frage an, wie »sich nun die Verzweiflung, verzweifelt es selbst sein zu wollen« (KT 103) zeige. Dazu rekapituliert er kurz das vorangegangene Kapitel: Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches habe sich als Verzweiflung am Ewigen erwiesen. Man lasse sich nicht von Ewigen heilen und trösten, weil man das Irdische so hoch bewerte, dass das Ewige kein Trost sein könne. Man wolle nicht auf die Möglichkeit hoffen, dass eine irdische Not hinweggenommen werden könne (vgl. KT 103). Wenn Kierkegaard nun schreibt: »Das will nun dieser, der verzweifelt er selbst sein will, nicht« (KT 103), so ist der grammatische Bezug nicht eindeutig. Vermutlich bezieht er sich auf die Hoffnung, irdische Not zu beheben. Er überzeuge sich vom »Pfahl im Fleische [der] so tief schmerzt« (KT 103), zu tief, um davon zu abstrahieren (vgl. KT 103 f.), also von der Erfahrung des Negativen, nehme ihn zum Anlass, sich am ganzen Dasein zu ärgern, wolle aber trotzdem er selbst sein (KT 104). Eine längere Fußnote erläutert den zentralen Begriff der Resignation: Man wolle »sein abstraktes Selbst sein« (KT 104 Fußnote) und das Bestimmte, worunter man leide, nicht sein. Man gestehe nicht ein, dass das auch Teil seines Selbst sei (vgl. KT 104 Fußnote). Man ver­ sucht also den Teil seines konkreten Lebens, an dem man leidet, als nicht zu einem Selbst zugehörig zu deklarieren und zu verdrängen, obwohl man selbst daran leidet. Man versucht zu verdrängen, was aber ebenso zu einem gehört, einen als Person ausmacht, woran und womit man arbeiten müsste. Wer aber, so weiter im Haupttext, verzweifelt er selbst sein wolle, der resigniere nicht derart: [...] Er will dann trotzdem er selbst sein, will trotzdem nicht ohne ihn er selbst sein (das hieße ja von ihm abstrahieren, und das kann er nicht, oder es ist die Bewegung in Richtung auf die Resignation), nein, er will trotzdem oder zum Trotz gegen das ganze Dasein er selbst mit ihm sein,

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ihn mit ertragen, fast auf seine Qual trotzend. Denn auf die Möglichkeit von Hilfe hoffen, besonders auch in Kraft des Absurden, dass für Gott alles möglich ist, nein, das will er nicht. Und bei irgend jemand anderem Hilfe suchen, nein, das will er um alles in der Welt nicht, er will lieber, wenn es so sein sollte, mit allen Qualen der Hölle er selbst sein, als Hilfe suchen (KT 104).

Er kann also weder vom Negativen abstrahieren, noch will er diesen Umstand oder diese Eigenschaft als nicht zu sich gehörend betrachten. Aber er will trotzdem er selbst sein. Das Leben misslingt also, indem man angesichts der Erfahrung der Negativität des Lebens nicht bei Gott Hilfe sucht. Hilfe gibt es kraft des Absurden, wobei das Absurde in der Krankheit zum Tode damit auch gefasst wird als ›dass bei Gott alle Dinge möglich sind‹.524 Man will sich selbst schaffen, anstatt bei Gott Hilfe zu suchen, man will das Leben selbst er-tragen, anstatt das Angebot des Christentums demütig anzunehmen und ge-tragen zu werden. Das Leben gelingt dagegen im Vollzug der Doppelbewegung des Glaubens. Kierkegaard geht hier offensichtlich davon aus, dass das Leben für den Menschen allein unerträglich ist. Diese Gestalt der Verzweiflung ist damit für Kierkegaard der Gegenbeweis dagegen, »dass es sich von selbst versteht, dass ein Lei­ dender sich so gern helfen lassen würde, wenn ihm nur jemand helfen könnte« (vgl. KT 104). Der trotzig Verzweifelte würde sich schon helfen lassen, wenn es nach seinen Vorstellungen von Hilfe ginge (vgl. KT 104). Sein Problem ist »dieses Demütigende, die Hilfe auf jede Weise unbedingt annehmen zu müssen« (KT 105). Damit erläutert Kierkegaard das ›Problem‹ der Demut. In seiner Verzweiflung ist der Mensch voll und ganz Gottes bedürftig, unbedingt, also ohne eigene Bedingungen stellen zu können. Der trotzig Verzweifelte zieht es vor, leidend er selbst zu sein. Kierkegaard beschreibt im nächsten Schritt des Gedankengangs die Potenzierung dieser Verzweiflung hin zum Dämonischen.525 Aus­ gang ist eine »Peinigung« (KT 105), die sich nun mal nicht von seinem konkreten Selbst wegnehmen oder trennen lasse (vgl. KT 105), also ein Leiden oder eine Erfahrung des Negativen, die ihren Grund im konkreten Leben dieses Menschen hat, nicht ignorierbar, nicht abstrahierbar ist. Sie gehört nun einmal zu ihm. Kierkegaard geht 524 Dieser Begriff des Absurden in der Krankheit zum Tode entspricht damit dem Begriff des Absurden in Furcht und Zittern. 525 Im Begriff Angst fasst Kierkegaard das Dämonische als Angst vor dem Guten (vgl. BA 585 ff.).

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davon aus, dass Negativität als »Leiden« (KT 104 Fußnote), »Not« (KT 103), ›Schmerz‹ (vgl. KT 103) oder »Qual« (KT 104) für den konkreten Menschen unhintergehbar ist. Es gehört zum Leben dazu. Das ist das Leben. Das Leben ist genau nicht das, was übrigbleibt, wenn man vom Negativen abstrahiert. Der Autor beschreibt nun ein »dämonisches Rasen« (KT 105), einen Prozess des leidenschaftlichen sich in dieses Leiden Hineinstei­ gerns. Man gelangt selbst an einem Punkt, an dem man sich so hin­ eingesteigert hat, dass es nun aus der eigenen Perspektive »zu spät« (KT 105) ist. Er hätte sich ja helfen lassen, aber »man lies ihn warten« (KT 105), und nun zieht er es vor, der »vom Dasein Benachteiligte [zu] sein« (KT 105). Das Motiv des dämonisch Verzweifelten ist, »dass er recht hat« (KT 106). Er versteht sein Leiden an der Negativität des Lebens als einen »unendlichen Vorzug vor anderen Menschen« (KT 106). Er ist »so konkret geworden« (KT 106). Der dämonisch Verzweifelte geht also davon aus, dass das misslingende Leben sein Leben ist, die Einsicht in die Negativität des Lebens und sein Leiden an ihr sein Vorzug vor anderen Menschen. Wer das Leben positiv sieht, der ist naiv, und den naiv in der Unmittelbarkeit lebenden Menschen gegenüber will er Recht behalten. Das Leben ist Leiden – aber es müsste nicht so sein, weil für Gott alles möglich ist. Diesen Schritt geht er nicht mit, und damit missversteht er das Leben und sich selbst als unüberwindbar negativ. Bemerkenswert ist hier die Figur des ›lange auf diese Weise gedacht haben und dann Recht behalten Wollens‹. Man gelangt also zu dem Punkt, an dem man meint, dass dieses Denken einen als Person ausmacht. Kierkegaard unterstellt hier das egoistische Motiv, sich privilegiert fühlen zu wollen bei gleichzeitigem Missverständnis, was einen als Person wirklich ausmacht – immer eingebettet in einen christlichen Gesamtkontext. Man verortet im Dämonischen das Besondere, während das, was einen Menschen in Wahrheit ausmacht, das Gesetztsein ist und sich im Gottesverhältnis realisiert. Die dämonische Verzweiflung komme, so Kierkegaard weiter, eigentlich nur bei fiktionalen Gestalten echter Dichter vor (vgl. KT 106). Es gibt also einen Bezug des Dichters526 zum Dämonischen, er ist es jedoch nicht selbst, er erschafft es. In der Wirklichkeit 526 Der Dichter ist zugleich die erste Figur in den Diapsalmata von Entweder-Oder zur Beschreibung der Stimmung des Ästhetischen bei Kierkegaard (vgl. EO 27 Aphorismus 1).

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gebe es diese Form der Verzweiflung auch, jedoch, analog zur Ver­ schlossenheit, kein ihr entsprechendes Äußeres, an dem man sie erkennen könnte. In diesem Kontext nennt Kierkegaard die dämoni­ sche Verzweiflung »übergeschnappte« (KT 106) Innerlichkeit. Das misslingende Leben ist eine pathologisch verkehrte Gestalt dessen, was gelingendes Leben ausmacht. Bei der niedrigsten Form der Ver­ zweiflung müsse man das Äußere des Verzweifelten beschreiben, mit den höheren Reflexionsstufen »wird die Innerlichkeit eine eigene Welt für sich« (KT 106). Das Misslingen spielt sich also außen ab, während innen der eigentliche »Kampf« (KT 90), das Ringen um ein gelingendes Leben mit sich selbst und mit Gott ausgetragen werde. Auf den höheren Stufen der Verzweiflung sei man mit geradezu »dämonischer Klugheit« (KT 107) darauf bedacht, sie hinter einem indifferenten Äußeren verschlossen zu halten (vgl. KT 107). Hier gibt es also eine negative Korrelation: Je verzweifelter jemand ist, desto weniger sieht man es ihm an, desto weniger würde man es vermuten. Das misslingende Leben tritt unscheinbar auf, weiß sich zu verstecken. Man schafft sich »hinter der Wirklichkeit« (KT 107) »eine eigene Welt für sich« (KT 106), in der man »rastlos und tantalisch damit beschäftigt ist, [man] selbst sein zu wollen« (KT 107). Kierkegaard wählt also an dieser Stelle den Mythos des Tantalos zur Beschreibung des misslingenden Lebens: Früchte und Wasser scheinen greifbar nah, sind aber faktisch unerreichbar. Dem dämonisch Verzweifelten scheint seiner Idee gelingenden Lebens, also sich selbst zu schaffen oder zu konstruieren, greifbar nah zu sein, aber er verfehlt sie immerzu, und umso größer ist seine Qual. Das Leben misslingt also im stetigen Verfehlen einer verkehrten Vorstellung von Gelingen. Das Adjektiv ›rastlos‹ betont hier ausdrücklich, dass es keine Pause gibt. Während der Mensch in der niedrigsten Form verzweifelt nicht er selbst sein will, ist der dämonisch Verzweifelte potenziert verzweifelt (vgl. KT 107). Der Begriff »nach seinem Elendsein« (KT 107) präzi­ siert nun den Begriff »nach seiner Vollkommenheit« (KT 107) und zeigt noch einmal die Verkehrungsstruktur des Gelingens aus Sicht des Dämonischen auf. Er hält das Falsche für das Richtige. Kierkegaard präzisiert nun folgende Aspekte: [...] Er will auch nicht im Trotz oder trotzig, aber zum Trotz er selbst sein; er will auch nicht im Trotz sein Selbst von der Macht losreißen, die es setzte. Er will sich zum Trotz ihr aufdrängen, sich ihr auftrotzen, will sich aus Malice zu ihr halten – und das versteht sich, ein bosheitsvoller

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Einwand muss sich ja auch vor allem an das wenden, woran es sich hält, wogegen es der Einwand ist (KT 107).

Der dämonisch Verzweifelte reißt sich also faktisch nicht von Gott los, sondern er wendet sich gegen Gott, bleibt also auf Gott bezogen527, aber gerade falsch bzw. verkehrt.528 Das misslingende Leben ist also nicht komplett losgelöst von der Idee gelingenden Lebens, sondern wendet sich explizit gegen sie.529 Man sagt nein, wo man eigentlich ja sagen sollte. Damit ist diese Struktur umkehrt zum Verhältnis der niedrigsten Form der Verzweiflung zum alltäglichen Dahinleben, die ja sagt, wo sie eigentlich nein sagen sollte. Der dämonische Verzweifelte, der sich »gegen das ganze Dasein wendet« (KT 107), glaube nun, in seinem Leben, in seiner Qual den Beweis gegen die Güte eben dieses Daseins gefunden zu haben und »deshalb will er er selbst sein, er selbst in seiner Qual, um mit dieser Qual gegen das ganze Dasein zu protestieren« (KT 108). Zentral sind hier die Begriffe ›Beweis‹ und ›Protest‹. Der dämonisch Verzweifelte glaubt, in seiner Erfahrung des Negativen den Beweis gegen die Güte des Ganzen gefunden zu haben, er glaubt diesen Beweis zu verkörpern, und er protestiert gegen das Leben. Beide, der Schwache und der dämonisch Verzweifelte, wollen nichts vom Trost der Ewigkeit für sie hören, aber aus jeweils anderen Gründen. Der Trost wäre Untergang des dämonisch Verzweifelten, Einwand gegen sein ganzes Dasein (vgl. KT 108). Der dämonisch Verzweifelte versteht sein konkretes Selbst verkehrt (vgl. dazu KT 106). Er denkt, dass Qual und evtl. auch Protest ihn ausmachen, dass das gegen Gott gewendete Leben sein Leben ist, dass er sich als Individuum verliert, wenn er sich ändert. Im letzten Abschnitt des Textes erläutert Kierkegaard die Kon­ stellation zwischen Dämonischem und Gott metaphorisch mit einem Schreibfehler, der sich gegen seine Korrektur durch den Autor wendet. Aus Angst, »ausgemerzt« (KT 108) zu werden, will er lieber Zeuge für die Mittelmäßigkeit des Schriftstellers sein. Den Einwand eines Fehlers Gottes nimmt Kierkegaard mit dem Einschub vorweg, dass der Fehler vielleicht »in einem viel höheren Sinne zur Darstellung des Kierkegaard folgert aus dem Aufstand gegen Gott das Gesetztsein durch Gott (vgl. Theunissen (1991a) 37). 528 Wenn Janke schreibt, in der dämonischen Verzweiflung kündige sich der Maßstab des theologischen Selbst an (vgl. Janke (1982) 54), dann teilt er hier die negativistische Interpretation des Werks. Vgl. dazu auch Bonsiepen (2007) 681. 529 Vgl. dazu Hühn (2009) 236 ff. 527

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Ganzen« (KT 108) gehöre. Die Existenz der dämonischen Verzweif­ lung ist uns Menschen also unbegreiflich, dennoch hat sie vielleicht für Gott ihren Sinn und ihre Berechtigung. In der Metaphorik versteht der Schreibfehler also nicht, dass er eigentlich ursprünglich als ein ›richtiges‹ Wort gemeint gewesen ist, dass seine Korrektur die ursprüngliche Intention ausdrückt und ihn zu dem macht, der er in Wahrheit ist und sein soll. Er missversteht sich dagegen selbst wesenhaft als Fehler, fürchtet, dass alle Eigenschaften, die ihn als Fehler auszumachen scheinen, verschwinden werden. Der Vollzug der Doppelbewegung erfordert den »Mut, sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen« (KT 100). Der dämonisch Verzweifelte ist nicht bereit, sich zu verlieren, um sich als der zu gewinnen, der er eigentlich ist. Um zum gelingenden Leben zu werden, muss das misslingende Leben bereit sein, sich aufzugeben. Die Aufgabe ist, sich aufzugeben, um zu sich zu finden. Metaphorisch geht Kierkegaard dabei immer davon aus, dass es einen Autor gibt und einen Maßstab, der den Fehler als Fehler bestimmt, und der die Möglichkeit einer Korrektur anbietet. Der Fehler findet sich nicht einfach ohne letzten Maßstab und ohne letzten Grund vor. Zusammenfassend gilt es festzuhalten: Dem dämonisch Ver­ zweifelten ist bewusst, warum sein Leben misslingt. Es ist dem gelin­ genden zugleich sehr nah und unendlich fern. Die Differenz ist die Doppelbewegung. Der Verzweifelte will sich nicht verlieren, um sich zu gewinnen, sondern er selbst sein. Er will sich selbst konstruieren, anstatt sich selbst als Aufgabe zu verstehen. Er will losgelöst von dem konkreten Menschen, der er ist, von seinen Begabungen und Anlagen, neu beginnen. Das Ergebnis ist dialektisch das Gegenteil des Erwarteten und Erhofften. Er denkt, dass er alles sein könnte, erkennt aber, dass er im Grunde nichts ist. Er kann sich nicht festlegen, sich nicht selbst schaffen. Von der Erfahrung des Negativen kann er nicht abstrahieren, sucht aber keine Hilfe bei Gott, will es selbst ertragen, anstatt getragen zu sein, und es wird unerträglich. Er erkennt seine völlige Abhängigkeit von Gott, ist aber nicht bereit, diese demütig anzunehmen. Leiden gehört wesentlich zum Leben. Das Leben ist nicht das, was übrigbleibt, wenn man davon abstrahiert. Der dämonisch Verzweifelte versteht sein Leiden als Vorzug vor anderen Menschen und missversteht es als das, was ihn als konkreten und besonderen Menschen wesentlich ausmacht. Es ist eine pathologisch verkehrte Gestalt des Gelingens. Sie findet sich als fiktionale Gestalt in den Werken der echten Dichter. In der Welt

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hingegen tritt es unscheinbar auf. Man würde es nicht vermuten. Auf der niedrigsten Stufe der Verzweiflung spielt sich das Leben komplett außen ab, mit zunehmender Reflexion kommt es innen zum Ringen um ein gelingendes Leben mit Gott und mit sich selbst. Kier­ kegaard wählt zur Erläuterung den Mythos des Tantalos. Gelingen als Sich-selbst-Schaffen scheint greifbar nah, wird aber rastlos immerzu verfehlt. Der dämonisch Verzweifelte reißt sich nicht von Gott los, sondern er wendet sich gegen Gott, bleibt also auf Gott bezogen. Das misslingende Leben ist also nicht komplett losgelöst von der Idee gelingenden Lebens, sondern wendet sich explizit gegen sie. Der dämonisch Verzweifelte versteht sich und seine Qual verkehrt, als Beweis gegen die Güte des Ganzen, und protestiert mit ihr gegen das Leben. Metaphorisch versteht ein Schreibfehler nicht, dass seine Korrektur das Eigentliche ausdrücken würde. Er hat nicht den Mut, sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen. Es ist Aufgabe, sich aufzugeben, um zu sich zu kommen. Letzter Maßstab und letzter Grund sind hier immer schon vorausgesetzt.

2.5 Zwischensynthese Der Begriff des Absurden in der Krankheit zum Tode meint, ›dass für Gott alles möglich ist‹. Das Werk geht also mehr von einem theologischen Möglichkeitsbegriff aus. Der Begriff der Disharmonie, der übersetzt ebenfalls ›Absurdität‹ bedeutet, bezeichnet dagegen das Phänomen der Verzweiflung. Das Leben misslingt in der Verzweiflung als Missverhältnis des menschlichen Selbstverhältnisses im Gottesverhältnis. Kierkegaard präsentiert eine Studie gemäß synthesetheoretischer Strukturmo­ mente seines Menschenbildes sowie eine feine Studie der Phänomene aufsteigend nach ihrem Grad an Reflexion. Die zweite Studie reicht von unbewusster Verzweiflung bis zum Dämonischen, vom alltägli­ chen Dahinleben bis zum Punkt, ›sich selbst schaffen zu wollen‹. Dabei sind die zwei Gestalten bewusster Verzweiflung, ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ und ›verzweifelt man selbst sein wollen‹, wechselseitig aufeinander rückführbar. Die unbewusste Verzweiflung ist die gefährlichste Form der Krankheit des Geistes, die dämonische das intensivste Leiden, dem gelingenden Leben zugleich sehr nah und unendlich fern. Mit zunehmendem Reflexionsgrad spielt sich die Ver­ zweiflung im Inneren ab. Unabhängig vom Anlass der Verzweiflung

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verzweifelt der Mensch der Sache nach immer am Selbstverhältnis als Gottesverhältnis. Jeder soziokulturelle Sinnhorizont ist Illusion und Betrug. Das Leben misslingt, wenn der Mensch sich hier selbst verkehrt versteht, als lediglich einer von vielen, eine Zahl, ein Etwas, wenn er in einem abstrakt Allgemeinen, etwa einer sozialen Gruppe (Staat, Kultur, Ethnie) aufgeht. Das misslingende Leben ist häufig sozioökonomisch erfolgreich, es ist nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Ab einem gewissen Grad von Reflexion ist der Weg zurück in das unbewusste Dahinleben abgeschnitten. Der zentrale Begriff des Misslingens ist der Begriff der Verkehrung. Die Welt ist gekennzeichnet durch die Verkehrung normativer Maßstäbe, und die Verkehrung zieht sich in die Sprache. Alle zentralen normativen Begriffe (z.B. Selbst, Möglichkeit, Glück, Leben, Bildung, Person) sind verkehrt besetzt, und dies gipfelt in der Verkehrung des Christ­ lichen. Der vulgäre Begriff von Verzweiflung missversteht das Phä­ nomen, indem er vom Maßstab der Normalität ausgeht. Sprache ist für Kierkegaard eigentlich Gebet. Die zentrale Sphäre des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott, nicht die Intersubjektivität. Auch der Selbstmord ist gegen das Selbst, damit gegen das Gottesverhältnis, und damit wiederum letztlich gegen Gott gerichtet. Ein wesentliches Bild des misslingenden Lebens ist das Bild des lebenden Toten, wobei der geistige Tod und das lediglich biologisch-vitale Leben letztlich auf dasselbe hinauslaufen. Indem das Selbst sich zu sich selbst verhält, verhält es sich – als gesetzt – zugleich zu dem, der das Verhältnis gesetzt hat. Das ist die Konzeption des Werks zum gelingenden Leben. Damit verhält das Selbst sich zu der Wahrheit im Singular. Gelingen ist dabei immer Überwindung von Misslingen, Vernichtung der Möglichkeit der Verzweiflung in jedem Augenblick. Es gilt, durch Vollzug der Doppelbewegung von Bruch und Übernahme des wirklichen Selbst in jedem Augenblick konkret zu werden, der Mensch zu werden, der man in Wahrheit ist, samt Begabungen und Anlagen, in der eigenen je konkreten Situation. Wirklichkeit ist Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit. Die Aufgabe, sich aufzugeben, um sich selbst zu gewinnen, ist dabei nicht risikolos, und es ist normativ geboten, dieses Risiko einzugehen. Der Weg zu einem gelingenden Leben ist dabei weder eine Frage der Entwicklung noch lediglich der richtigen Handlung, sondern bedarf einer Metamorphose der gesamten Person. Das gelingende Leben ist in erster Linie eine Frage der inneren Haltung, kann jedoch in der Welt wie Zeitvergeudung aussehen. Es

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ist kein einmal erreichter Status, immer wieder Abkehr und Rückfall ausgesetzt. Die direkte Mitteilung des normativ Gesollten ist unmög­ lich. Sie würde in der verkehrten Welt als Angriff auf das eigene Glück missverstanden werden, und selbst wenn etwa der Verschlossene der Grund seines Leiden kognitiv nachvollziehen kann, kann er es nicht umsetzen. Thematisch ist das Werk negativistisch, geht vom Primat der Krisis aus. Das misslingende Leben ist die dominierende Perspektive, gegen die das Gelingen sich fassen und in jedem Augenblick neu fassen muss. Exemplarische zentrale Negativbegriffe sind Krankheit, Verzweiflung, Verkehrung, Missverhältnis, Dahinleben, Tod, Selbst­ mord, Sterben, Ohnmacht, Auszehrung, Brand, Leere und Qual. Methodisch zeigt sich für Kierkegaard in der Verzweiflung das Gottesverhältnis des Einzelnen im Modus der Verkehrung. Die Ent­ scheidung des dämonisch Verzweifelten gegen Gott bezeugt sein Verhältnis zu Gott. Der Aufbau der Untersuchung der Studie zur Verzweiflung entspricht dabei einer zentralen These zur Sache: Das Leben gelingt nicht unmittelbar, sondern in der Entdeckung und Überwindung des Misslingens. Kierkegaard geht davon aus, dass Bestimmung nur durch Reflexion des Gegenteils möglich und dass die verkehrte Welt umgekehrt verstehbar ist. Kierkegaards Negativismus macht hier explizite Prämissen: Das Christliche ist der paradigmatische Rahmen für das Gesetzt-Sein des Einzelnen, für das Menschenbild eines Sich-zu-sich-Verhaltens in einem Gottesverhältnis. Alle Beweise Kierkegaards sind zirkulär und nur innerhalb dieses Horizonts kohärent. Das normativ Gebotene müsste sich andernfalls dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlus­ ses aussetzen. Das Christentum als lediglich soziales Phänomen zu verstehen vernichtet an dieser Stelle den sicheren Halt und Sinn­ horizont. Wenn die Krankheit zum Tode den Glauben als sicheres Gegengift gegen die Verzweiflung bezeichnet, so formuliert das Werk dies von einem Metastandpunkt aus, der dem Glauben selbst unzu­ gänglich ist.

3 Todesanalyse: An einem Grabe Im Anschluss an die Analysen zu Furcht und Zittern und der Krankheit zum Tode, in deren Zentrum die Begriffe Absurdität, Sprung und

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Disharmonie (Verzweiflung) sowie die eine ethisch-religiöse Konzep­ tion gelingenden Lebens stand, widmet sich das folgende kürzere dritte Kapitel zu Kierkegaard der nicht-pseudonymen Rede530 An einem Grabe.531 Der für sich betrachtet säkularere Text, in dessen Zentrum aber dennoch die Figur der Doppelbewegung als Grundfigur der Konzeption gelingenden Lebens steht532, thematisiert insbeson­ dere den Übergang vom misslingenden zum gelingenden Leben.533 Kierkegaards Rede An einem Grabe (Ved en Grav) ist der dritte Text der Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845. Er folgt auf die Reden »Anläßlich einer Beichte« und »Anläßlich einer Trauung.« Ziele dieses Kapitels sind also Darstellung und Analyse des Kierkegaardschen Gedankengangs mit Blick auf die Frage nach dem gelingenden Leben und den Übergang von Misslingen zu Gelingen. Er gliedert den Haupttext in zwei Teile: Der erste Teil kommentiert eine verkehrte Grabesrede, die nicht vollmächtige Rede. Der zweite Teil umfasst die eigentliche Rede über die Entscheidung des Todes, die untergliedert ist in Textabschnitte über die entscheidende, nicht bestimmbare und unerklärliche Entscheidung des Todes. Die Analyse folgt diesem Aufbau.

3.1 Zur nicht vollmächtigen Rede Kierkegaard beginnt mit der wiederholten Betonung der Endgültig­ keit des Todes, dem Abbruch von Denken und Sprechen.534 Der Tote gedachte Gottes gedacht, während er lebte, jetzt nicht mehr (vgl. AG 173). Kierkegaard beschreibt dessen Leben als ›ehrenhaft unbemerkt‹, als »einförmig, jedoch nicht leer« (AG 173), ein »biederer Bürger« (AG 174), im eigenen Gewerbe berufstätig, Ehemann und Vater. Es scheint, als ob ein ›normales‹ Leben »in einem geruhigen Tode einen schönen Ausgang gefunden [habe]« (AG 174). Eingeleitet mit einem Eine ausführliche Rekonstruktion des Gedankengangs unternimmt Birkenstock (vgl. Birkenstock (1997) 25–50). Dabei versteht sie die Rede als »direkte Mitteilung« (Birkenstock (1997) 26). 531 Zur systematischen Relevanz des Textes vgl. Rasmussen (2017) 208. Das Thema steht im Zentrum der Philosophie der Moderne (vgl. Theunissen (1991b) 197. 532 Vgl. Theunissen (1991d) 348. 533 Die Arbeit teilt die These H. Schulz’, der zufolge diese Rede die existentialontolo­ gische Todesphilosophie vollständig »in nuce« (H. Schulz (2011) 13) enthält. 534 Die Endgültigkeit des Todes ist nach Rasmussen der vierte Typ des Nihilismus bei Kierkegaard (vgl. Rasmussen (2017) 212 f.). 530

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»Jedoch« (AG 174) beschreibt der Text im folgenden Abschnitt das Gottesverhältnis dieses Mannes. Er gedachte Gott »in Einfalt des Herzens« (AG 174), und Gott kannte ihn besser als jeder andere und werde ihn vermissen (vgl. AG 174). Die Differenz zwischen einem nihilistischen »dahin« (AG 173) und einer positiven Einschät­ zung dieses gewöhnlichen und unauffälligen Lebens ist genau dieses Verhältnis zu Gott. Eine solche Rede, die damit endet, dass Sohn und Ehefrau trauern, Kunden sich seiner erinnern, und das Leben irgendwann weitergeht, nennt Kierkegaard die »nicht vollmächtige Rede« (AG 175). Eigentlich sollte etwas anderes Thema sein: Denn der Tod selbst hat ja seinen Ernst; das Ernste liegt nicht in der Begebenheit, nicht im Äußerlichen: dass da nun wiederum ein Mensch gestorben ist, so wenig wie das Unterscheidende des Ernstes darin liegt, dass es viele Kutschen gewesen sind; ja so wenig wie jene mildere Stimmung, die von dem Toten nichts als Gutes reden will, ernst ist oder im entferntesten dem genugtun könnte, welcher im Ernst seinen eigenen Tod bedächte. Der Tod vermag gerade zu lehren, dass der Ernst im Inneren liegt, im Gedanken, zu lehren, dass es lediglich Sinnentrug ist, wenn man leichtmütig oder schwermütig auf das Äußerliche sieht, oder wenn der Betrachter über dem Gedanken des Todes tiefsinnig vergisst, seines eigenen Todes zu gedenken, ihn zu bedenken. Will man so recht einen Gegenstand des Ernstes nennen, so nennt man den Tod, und den »ernsten Gedanken des Todes« [...] (AG 175).

Die Bedeutung des Todes für das Gelingen des eigenen Lebens liegt nicht in der Registrierung eines weiteren Todesfalls, der Gestaltung der Trauerfeier oder der ›milden Stimmung‹, in der man gut über den Verstorbenen spricht. Sie liegt vielmehr im Bedenken des eigenen Todes als Gegenstand des Ernstes, wie Kierkegaard sagt. Hier liegt eine aktive Rolle des Todes als Lehrer gegen den ›Sinnentrug‹ – Kier­ kegaards Begriff für einen Modus der ideologischen Verkehrung535 –, also als Lehrer auf dem Weg zu einem gelingenden Leben mittels des Abbaus von Falschem und Verkehrung. Die Dimension des Eigentli­ chen wird hier mit Begriffen wie ›tiefsinnig‹, ›Ernst‹, ›Gedanken‹ und ›Innen‹ gegen das oberflächliche äußere Falsche abgegrenzt. Dagegen wird der Tod zum »Scherz« (AG 175), wenn der Einzelne »mit dem Tode nicht unter vier Augen ist und sich nicht selbst mit dem Tod

535

Vgl. dazu ÜW 8 ff.

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zusammendenkt« (AG 176). Das Leben gelingt also dagegen durch ein angemessenes Verhältnis zum Tod.536 In diesem Kontext weist Kierkegaard die berühmte Formel Epi­ kurs zurück, der zufolge der Tod nicht zu fürchten sei, da Selbst und Tod nie zusammen aufträten (vgl. AG 176). Dies sei ein Trick, mit dem der Betrachter sich außerhalb stelle. Der Tod ist also Kierkegaard zufolge etwas, das mich betrifft, hier und jetzt. Aber auch die sozusa­ gen grauenhafte Schilderung des Todes ist nicht ernst, wenn sie »als des Geschlechts Los« (AG 176), also abstrakt als das Charakteristikum der Menschheit oder des Menschen allgemein verstanden und nicht konkret auf das eigene Selbst bezogen wird. Wenn man denkt, dass die Krankheit den Menschen trefft, der Tod aber nicht, da man ja dann tot sei, so betrügt man sich Kierkegaard zufolge leicht selbst. Der Ernst des Lebens ist, richtig verstanden, genau nicht Krankheit oder Leistungen in Beruf oder Familie (vgl. AG 176). »Des Lebens Ernst ist ernst, jedoch es gibt keinen Ernst ohne die Veredelung des Äußerlichen im Bewusstsein, hierin liegt die Möglichkeit der Täuschung; des Todes Ernst trügt nicht, denn nicht der Tod ist das Ernste, sondern der Gedanke an den Tod« (AG 177). Der sprichwörtliche Ernst des Lebens537 birgt also die Gefahr der Täuschung. Dagegen liegt im Gedanken an den eigenen Tod der sichere Maßstab eines gelingenden Lebens, das nicht ideologisch verkehrt ist. Hierauf erläutert Kierkegaard, dass durch eine an diesem Gedan­ ken orientierte Rezeption auch die »nichtvollmächtige Rede […] eine ernste Sache werden [kann]« (AG 177). Sie kann, obwohl sie unzureichend ist, richtig verstanden werden, nämlich dann, wenn der entscheidende Gedanke nicht der Tod des anderen, oder, noch abstrak­ ter, der Todesfall irgendeines Menschen ist, sondern der eigene Tod. Kierkegaard skizziert nun weitere Fälle, in denen der Tod nicht Ernst, sondern »Stimmung« (AG 177) ist, der, wie bereits erläutert, »ein Scherz zugrunde« (AG 175) liege: der Tod des Kindes, eines Armen, eines jungen Menschen, eines eitlen Menschen, eines Freundes oder einer Geliebten (vgl. AG 177). Der Tod, soweit er nicht Gedanke an den eigenen Tod ist, ist Stimmung, sei es auch der Tod des eigenen 536 Wenn Reutlinger aus der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zitiert, man solle in jedem Augenblick des Lebens den Tod denken, und sagt, es sei nicht klar, was dies bezwecken solle (vgl. Reutlinger (2014) 133), so fehlt ihm An einem Grabe als Textgrundlage seiner Interpretation des Todes bei Kierkegaard. 537 Vgl. dazu Theunissen (1982) 111.

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Kindes oder der eigenen Geliebten (vgl. AG 178). Beinahe beiläufig erwähnt Kierkegaard in diesem Zusammenhang, der Tod sei »das einzig Sichere« (AG 177). Diese Gewissheit des ›dass‹ ist hier ein wesentliches Merkmal des Todes. Der Ernst ist, dass du wirklich den Tod denkst, und dass du somit ihn denkst als dein Los, und dass du somit vollziehst, was der Tod ja nicht vermag, dass du bist und der Tod ebenfalls ist. Denn der Tod ist der Lehrmeister des Ernstes, eben daran aber wird seine ernste Unterweisung wiederum erkannt, dass er es dem Einzelnen überlässt, sich selbst aufzusuchen, um alsdann ihn Ernst zu lehren, so wie der Mensch diesen nur durch sich selbst lernt. Der Tod besorgt seine Arbeit im Leben, er läuft nicht wie in der Vorstellung des Furchtsamen umher und wetzt die Sense und schreckt die Weiber und Kinder, als wäre dies Ernst. Nein, er spricht: ich bin da, will jemand von mir lernen, so komme er zu mir (AG 178).

Das Denken des eigenen Todes ist hier das Gegenargument gegen Epikur, weil dadurch werden Tod und Selbst gleichzeitig werden. Kierkegaard wiederholt nun die Metaphorik des Lehrers: Für diesen ist es charakteristisch, den Schüler frei zu lassen. Lernen bedeutet, dass der Schüler zu sich findet. Dass der Mensch zu sich selbst und dadurch zu einem gelingenden Leben findet, ist also die Rolle des Todes im Leben. Wir können von der Gegenwart des Todes im Leben lernen. Es ist ein Angebot, das uns frei steht. Kierkegaard skizziert nun die zentrale Denkfigur am Beispiel eines Jungen, der träumt, ein alter Mann zu sein, auf ein verschwen­ detes Leben zurückblickt, und von dort her am nächsten Morgen ein neues Leben beginnt (vgl. AG 178). Damit skizziert er eine Dop­ pelbewegung von Verlust und Gewinn. Das Leben wird von seinem Verlust her gewonnen, es gelingt von seinem gedachten Ende her: »[...] Solchermaßen wach den Tod zu denken [...] denken: es sei vorüber, mit dem Leben sei alles verloren, um alsdann bei Lebzeiten alles zu gewinnen – das ist ernst« (AG 178).F538 Entscheidend ist auch hier, wie in Furcht und Zittern, dass die Konzeption gelingenden Lebens sich nicht auf das Jenseits, sondern die Zeitlichkeit, das hier und jetzt bezieht. Man ändert sich, macht einen neuen zweiten Anfang vom Ende her. Im ersten Teil der Bewegung wird man »Zeuge seines Wenn Marino hier einwendet, Kierkegaard zeige nicht, dass der Mensch durch das Denken an den Tod glücklicher werde als derjenige, der dies nie tue (vgl. Marino (2011) 155), dann impliziert er einen Glücksbegriff, den Kierkegaard so nicht teilt.

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eigenen Todes, Zeuge beim Schließen des Sarges, Zeuge wie im Tod alles aufhört« (AG 178). Diese zunächst paradoxe Figur wird im Den­ ken realisiert. Im letzten Schritt dieses Abschnitts geht der Autor noch auf den Einwand ein, sterben sei keine große Kunst, da jeder Mensch sterbe (AG 178). Der Unterschied liegt im ›bloßen sterben‹ gegenüber dem »wohl sterben« (AG 178), das »höchste Lebensweisheit« (AG 178) sei. Der den Tod charakterisierende Ernst muss Ernst des Menschen werden. Die Rede am Grab richtet sich daher an den Lebenden (vgl. AG 179). Kierkegaard gibt ihr den Titel: »Die Entscheidung des Todes« (AG 179). Festzuhalten bleibt: Im Zentrum der Grabrede steht nicht der Tote, während die Angehörigen im Anschluss nach Hause gehen, ihr Leben weitergeht wie bisher. Das wäre die nicht vollmächtige Rede. Die Grabrede aber sollte sich an den Lebenden richten. Der Tod ist dabei weder abwesend noch abstrakt, sondern gegenwärtig. Durch das Denken des eigenen Todes wird er zum Lehrmeister. Der Lernprozess bedeutet, durch die Doppelbewegung vom eigenen Tod her zu sich selbst zu finden, damit das Leben hier und jetzt mittels eines sicheren Maßstabs aus der Verkehrung heraus in einem neuen Anlauf gelingen kann. Lernen kann dies der Einzelne letztlich nur frei und durch sich selbst.

3.2 Rede über die Entscheidung des Todes Ziel des folgenden Abschnitts ist die Analyse der Grabrede über die Entscheidung des Todes. Diese ist entscheidend, nicht bestimmbar und unerklärlich. Die Analyse folgt diesen drei Schritten des Primär­ texts. Kierkegaard beschreibt nun einleitend die Bewegung hin zu einem gelingenden Leben passiv als ein »abgekehrt [werden] von aller Geschwätzigkeit und Betriebsamkeit des Lebens, um schweigend Weisheit zu lernen« (AG 179). Das Reden fällt also in die Sphäre des Misslingens, während das oben bereits beschriebene Lernen sich schweigend vollzieht. Kierkegaard führt nun den Todesbegriff mit dem moralischen Grundbegriff der Verantwortung eng: Man lerne, die Verantwortung des Todes zu fürchten (AG 180). Im Denken des eigenen Todes liegt also der Schritt zum Begriff der Verantwortung.

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Den Tod im eigenen Leben zu denken, ist eine explizit »seltene Fähigkeit« (AG 179). Der Mensch bedarf allerdings nicht nur der Fähigkeit, sondern auch der Zeit, um diesen Weg zu gehen. Kierke­ gaard betont wiederholt, dass der gläubige »Einfältige« (AG 180), der aufgrund der Umstände nicht in der Lage ist, dieses reflektierte Leben zu leben, weil er arbeiten muss, weil ihm Zeit und Fähigkeiten fehlten, »Gott ebenso wohlgefällig« (AG 179) ist und dass sich im Gegenteil der eitle Begünstigte selbst ausschließt. Das Ringen um Misslingen und Gelingen ist also voraussetzungsreich: Es bedarf Zeit und Raum. Der Tod lehrt den Menschen, »er habe keine Zeit zu vergeuden« (AG 180), erst recht nicht mit dem Urteil über andere. Gelingendes Leben bedeutet also, vom Tod her539 zu der Einsicht gelangt zu sein, dass Zeit knapp und kostbar ist. Sicher misslingt das Leben, wenn man über die Bedingungen verfügt, es gelingen lassen zu können, diese aber verschwendet. Ob man sein Leben vertan hat oder nicht, wird der Einzelne letztlich aber wohl nur selbst sagen können. Kierkegaard kritisiert den naiven Glauben, mit dem Gedanken an den Tod schnell fertig zu sein und sozusagen das nächste lernen zu wollen. Den Begabten beschäftigt dieser Gedanke sein ganzes Leben, ohne dass er ihn je ganz versteht oder realisiert (vgl. AG 180). Die Idee gelingenden Lebens sei nichts, was man abarbeitet, kein Workshopoder Seminarthema, sondern selbst Aufgabe genug für das Leben. Das Leben misslingt also in der alltäglichen Betriebsamkeit. Es gelingt in der Einsicht, dass die eigene Lebenszeit knapp und kostbar ist, und im Entdecken der je eigenen Verantwortung von dort her.

3.2.1 Entscheidend Die Entscheidung des Todes, so der erste Schritt der nun folgenden ausführlichen Darlegung des Gedankengangs, sei »entscheidend« (AG 180). Dies müsse man ›zuerst‹ sagen. Gegenüber allen anderen Entscheidungen im Leben sei, so Kierkegaard, die Entscheidung des Todes, also das Verhältnis zum Tod und dessen Konsequenz für das Leben, die entscheidende. Der Grund dafür liegt darin, dass der Mensch die Zeit nicht anhalten kann – der Tod schon (vgl. AG 181). Die Zeit ist wesentlich die Zeit des eigenen Lebens. Existieren ist 539 Vgl. Theunissen (1991d) 348. Zur Umkehrung der Zeitrichtung des biologischen durch das biographisch-geistige Leben vgl. Theunissen (1991b) 203, 206 ff.

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zeitlich, und der Tod setzt dem ein Ende. Damit ist der Tod von allem übrigen im Leben absolut verschieden und in dieser Absolutheit gründet letztlich auch die Absolutheit des Maßstabs für gelingendes Leben. Dass der Tod das Ende ist, ist kulturell invariant und damit universale540 Struktur des Lebens, die für jeden Menschen gilt.541 Jede kulturelle Dimension ist zweitrangig, ist, wie Kierkegaard sagt, nicht entscheidend. Jede »Vorstellung« (AG 181) vom Leben ist gleichgültig gegenüber dieser Struktur. Der Tod wechselt nicht die Farbe (vgl. AG 181), er ändert sich nicht im Laufe der Zeit (vgl. AG 182). »[...] Aber die Aufforderung des Ernstes an den Lebenden ist: es zu denken, zu denken, dass es vorüber ist, dass eine Zeit kommt da es vorüber ist« (AG 182). Damit das Leben gelingen kann, ist es normativ geboten, den eigenen Tod zu denken. Begrifflich uneindeutig ist an dieser Stelle, ob dieses Denken Ernst »ist« (AG 178), oder aber, wie hier formuliert, Aufforderung des Ernstes ist. Unbestritten ist es »schwer« (AG 182). Selbst dem Sterbenden sagt man häufig nicht, dass es vorüber ist (vgl. AG 182). Für den Lebenden, so Kierkegaard weiter, ist das Leben »in Gesundheit […], in Jugend, in Glück« (AG 182) Geborgenheit, Trost und Schutz, aber diese Sicherheit ist Trug, falsch, heuchlerisch (vgl. AG 182) – jede Form von Sicherheit ist Illusion und führt in die falsche Richtung. Man schiebt das Eigentliche vor sich her. Es ist, wie Kierkegaard sagt, »Aufschub« (AG 182), und Tod und Aufschub sind Todfeinde (vgl. AG 182). Sich ›im Leben‹ geborgen und sicher zu fühlen kennzeichnet also gerade das misslingende Leben. Man verdrängt die universale Struktur, den Maßstab, der das Leben gelingen lassen kann und verschließt sich vor ihr. Man könnte nun entgegnen, dies sei lediglich eine andere Sicht auf das Leben, aber »der Tod ist der stärkere« (AG 182). Es gibt von dieser Struktur letztlich kein Entrinnen, und so ist es normativ besser, sich gleich mit ihr auseinanderzusetzen, um von dort her das Leben zu erschließen. 540 Birkenstock sieht hier eine Spannung zwischen der Universität des Todes als Maßstab und Kierkegaards doch christlicher Konzeption gelingenden Lebens (vgl. Birkenstock (1997) 27 f., 34). 541 Für einen aktuellen Ansatz, über den Tod als universalem Phänomen Zugang zum Fundamentalen zu erhalten vgl. Ruin (2019) 5 ff. Ruin weist Assmanns Kritik an Kierkegaards und Heideggers Antworten auf den Tod als westlichem Individualismus mit dem Verweis auf Heideggers Begriff des Mitseins mit den Toten zurück (vgl. Ruin (2019) 192 ff.).

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Kierkegaard betont die Absolutheit des Endes. Es gibt keine Dis­ kussion, keine Chance auf einen einzigen Augenblick mehr (vgl. AG 182 f.). Der Abbruch ist radikal. In diesem Kontext problematisiert Kierkegaard die Metaphorik von Nacht und Schlaf, da sie zu mild ist und letztlich den Tod verharmlost.542 Aus der Ungestörtheit des Todes könnte man die Sehnsucht ableiten, aus dem Leben zu dieser Ruhe zu fliehen (vgl. AG 183). Dieses Denken des Todes ist aber »kein Ernst« (AG 183), der Sehnsucht nach dem »Todesschlaf« (AG 184) liegt ein verkehrtes Bild des Todes und damit des Lebens zu Grunde. Man hat »nicht verstanden« (AG 184), dass es den Tod zu fürchten gilt und nicht das Leben mit seinen Schwierigkeiten (AG 184). Der Vorstel­ lung, sich mit dem Tod seiner weltlichen Probleme zu entledigen, ist eine Verkehrung des eigentlich normativ Gesollten, eine »Flucht« (AG 183), deren Grund eine Mischung aus Missverständnis und vor allem Verdrängung zu sein scheint.543 Man denkt auf diese Art einen Ausweg, nicht den Tod. Kierkegaard erläutert weiter, dass wir im Schlaf unsere Kräfte regenerieren, im Tod genau nicht (vgl. AG 184). Schlaf gehört wesent­ lich zum Leben und ist daher eine falsche Metapher. Ebenso ist der Wunsch, »es wäre vorüber« (AG 184) trügerisch. Er denkt das Ende nicht in seinem radikalen Sinn. Linderung bietet genau nicht der Gedanke »dass es vorüber war« (AG 185). Kierkegaards Analyse legt sehr genau offen, dass man sich in diesem Szenario eigentlich als »noch immer lebendig« (AG 185) denkt. Man denkt die Abwesenheit seiner Probleme, aber nicht den Tod. Der Tote denkt nicht, dass es vorüber sei. Der Tote ist tot (vgl. AG 185). Es gilt dagegen, seinen weltlichen Problemen nicht auf diese Weise illusorisch entfliehen zu wollen, sondern durch das Denken des Todes in ein anderes Verhältnis zu ihnen zu gelangen (vgl. AG 185). Der Tod relativiert sie, setzt sie in einen anderen, größeren Kontext, eröffnet die »entscheidende« (AG 180) Perspektive auf das Leben als Ganzes.544 Der Ernst, so Kierkegaard weiter, beschäftigt sich nicht weiter mit der Frage nach der angemessenen Metaphorik. Entscheidend ist die 542 Zur heutigen Verharmlosung des Todes in Medizin, Soziologie und Sozialpsycho­ logie vgl. W. Schulz (1975b) 314. 543 Die Flucht vor dem Tod ist paradigmatisch für die Flucht vor uns selbst (vgl. Pattison (2015) 93. 544 Er ist nicht lediglich »ein Richtpunkt neben anderen« (Reutlinger (2014) 117), sondern der entscheidende.

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Gewissheit, »dass es vorüber ist« (AG 185). Der Tod kommt immer unerklärlich, rechtfertigt sich nicht (vgl. AG 185). Der Mensch ist ihm gegenüber also in gewissem Sinne machtlos. Anknüpfend an die Metaphorik der Nacht formuliert Kierkegaard nun seine zentrale These: nachts können wir nichts tun – aber tagsüber. Die Nacht verweist uns auf den Tag. »Denn der Tod in dem Ernst gibt Lebenskraft wie nichts anderes, er macht wach wie nichts anderes« (AG 185). Dem Tod, grammatisch Subjekt des Satzes, kommt hier eine einzigartige Funktion zu, die Kierkegaard mit der Metaphorik des Aufweckens und Aufwachens beschreibt, die man hier durchaus dekonstruktiv und ideologiekritisch interpretieren kann. Das »heute noch« (AG 185) sagt uns, dass die Zeit knapp ist. Der Tod befreit uns von falschen Vorstellungen vom Leben, etwa von der impliziten Annahme eines ›es geht immer so weiter‹ des alltäglichen Dahinlebens. Von seinem absoluten Gegenteil her, dem Tod, kann das Leben gelingen. In diesem Kontext weist Kierkegaard das gleichgültige »Lasst uns essen und trinken, wir sterben doch morgen« (AG 186) des, wie er sagt, sinnlichen Menschen zurück. Dies impliziere die Vorstellung, wir lebten, um zu essen – wir äßen aber, um zu leben (vgl. AG 186). Kierkegaard impliziert hier die These, dass das Gelingen des Lebens nicht in den Mitteln seiner Erhaltung liegen kann. Auch die Reaktion des tieferen Menschen mit dem Gefühl der »Ohnmacht« (AG 186) weist er hier zurück. Der Autor benutzt dabei zum einen die Metaphorik der Fahrt, zum anderen die des durch den Ernst gespannten Bogens (vgl. AG 186): Der Tod gibt sowohl die Kraft oder das Motiv – das Bewegende – als auch das Ziel eines gelingenden Lebens vor. In ihm liegen Motiv und Maßstab. Für gelingendes Leben ist keine Aufgabe zu gering, keine Zeit zu kurz (vgl. AG 186). Quantität ist hier also kein normatives Kriterium. Das »noch heute« (AG 186) verhilft uns, uns der Aufgabe mit maximaler Kraftanstrengung zu widmen, während uns der Tod zugleich die Nichtigkeit alles menschlichen Tuns im Ganzen vor Augen führt. Der Tod motiviert und relativiert zugleich. Der entscheidende Punkt ist hier, dass man sich nicht verbissen in die Aufgabe steigert, sondern sich immer noch selbst »belächeln« (AG 186) kann. Der folgende Schritt befasst sich mit dem Verhältnis zur Zeit. Kierkegaard illustriert ihre Knappheit mit der Metaphorik ihres Prei­ ses. In der äußeren Welt kann man »teure Zeit« (AG 186), also kostbare, wertvolle Zeit nicht kaufen – in der Welt des Geistes hinge­

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gen schon. Der Tod treibt den Preis der mir zur Verfügung stehenden Zeit in die Höhe, indem er sie als knappes Gut offenbar macht (vgl. AG 186). Die Stunde, der Tag, das Jahr erhalten »unendlichen Wert« (AG 186), genau weil, in der Metaphorik des Marktes, die Nachfrage bleibt, das Angebot aber gegen Null, in Richtung auf das Vorüber, tendiert. Der Wert der Zeit explodiert. Die quantitative Metaphorik des Preises endet damit aber für Kierkegaard auf der Seite der Zeit. Der Stunde, der Tag, das Jahr bekommen durch den Tod den gleichen unendlichen Wert, sind als Zeiträume für Handeln gleichermaßen qualitativ bedeutend. Keine Zeit ist, wie bereits erläutert, »zu kurz« (AG 186), um wertvoll zu sein. Daher ist die Konsequenz auch nicht die »gleichgültige« (AG 186) Akkumulation von Zeit, sondern ihre Nutzung. Das Untätig-Sein, das Träumen, die schwermütige Sehnsucht nach dem Vorüber eines anstrengenden Lebens – all das sind Stim­ mungen (vgl. dazu AG 176 f.). Der Tod ist genau nicht ihre Ursache, sondern er hilft (vgl. AG 187). Der ernste Gedanke an den Tod macht sowohl die Stunde als auch das Leben »bedeutungsvoll« (AG 187), man könnte mit Verweis auf das Englische hier anstelle des Begriffs der Bedeutung auch den Begriff des Sinns verwenden. Der Tod macht das Leben sinnvoll, weil er den Preis der Zeit in die Höhe treibt, weil er mit der Metaphorik des Diebes (vgl. AG 186 f.) ständig die eigene Zeit bedroht. Der Tod schützt den Menschen damit vor der Gleich­ gültigkeit der Zeit und damit der Gleichgültigkeit des Lebens. Anknüpfend an die Metaphorik von Nacht und Tag zeigt Kierkegaard, dass der Tod, dem die Nacht zukommt, am Tag wirkt (vgl. AG 187). Der Tod wirke damit im Leben, im Hier und Jetzt. Das Leben misslingt, indem man wankelmütig dem »Grenzstreit zwischen Leben und Tod« (AG 187) passiv zuschaue. Die hier lediglich implizierte Gegenbegriff zum Wankelmütigen, und damit Begriff der Dimension des gelingenden Lebens, ist der Entschlossene. Dessen Verhältnis zum Tod beschreibt Kierkegaard mittels der Metaphorik der Freundschaft im Superlativ (vgl. AG 187). Der Tod ist in diesem Bild im Leben real545 und präsent. Trotz des »vorüber« (AG 187) ist es nicht gleichgültig, »welches Leben es gewesen [ist]« (AG 187). Der Tod nivelliert genau nicht den Unterschied zwischen misslingendem und gelingendem Leben – im Gegenteil, er ist Maßstab. 545 W. Schulz widerspricht diesem Begriff des Realen (vgl. W. Schulz (1975b) 332), während Theunissen genau diesen Begriff heraushebt (vgl. Theunissen (1991b) 224).

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Der Gedanke des ewigen Lebens – »es ist nicht vorüber« (AG 187) – birgt dagegen die Gefahr, die Zeit als nicht teuer misszuver­ stehen. Das ist ein falsches Ewigkeitsverständnis. Der Ernst des Todes macht aus dem »vielleicht noch heute« (AG 188) des Todes ein »heute noch« (AG 188). Dass in der Differenz zwischen ›vorüber‹ und ›gewe­ sen‹ die Sinnhaftigkeit des Gewesenen bewahrt werde, scheint hier auf theologische Voraussetzungen zurückzugreifen, die den Sinnbe­ griff tragen. Der Tod bietet demnach die entscheidende Perspektive auf das Leben, enthält Maßstab und Motiv für ein gelingendes Leben. Alle übrigen kulturellen Vorstellungen vom Leben sind zweitrangig, jede innerweltliche Sicherheit ist Illusion. Das Leben misslingt im Auf­ schub und im verkehrten Denken des Todes als Fluchtweg vor weltli­ chen Problemen. Zentral für das Denken des eigenen Todes ist die Metaphorik des Aufwachens. Der Tod verweist auf die Kostbarkeit der Zeit, das Leben kann so von seinem Gegenteil her gelingen.

3.2.2 Nicht bestimmbar Nun erörtert Kierkegaard den zweiten zentralen Aspekt, die NichtBestimmbarkeit der Entscheidung des Todes. Der Tod macht alle Menschen gleich, aber diese Gleichheit besteht »in einem Nichts, einem Vernichtetsein« (AG 188). Alle Differenzen, soziale, ökono­ mische, charakterliche usw., werden nivelliert und annulliert. Kier­ kegaard wählt für das metaphorische Reich des Todes das Bild der Leere. Es herrscht Schweigen. Jeder Mensch verstummt (vgl. AG 188). Obwohl der Tod als »nur einer« (AG 188) allen Menschen gegenüberstehe, sei er mächtig genug, alle zu unterwerfen (vgl. AG 188). Die Menschen stehen also der Übermacht des Todes gegenüber. Ihr Gerede verstummt. »[...] Und vergäße der Einzelne sich selbst und fühlte sich sicher im Versteck der Menge: siehe, jeden nimmt der Tod für sich allein und dann wird er stumm« (AG 188). Kierkegaard beschreibt an dieser Schlüsselstelle, an der der Tod wiederum grammatisch Subjekt ist, eine Bewegung des Einzelnen durch den Tod, aus der Verkehrung, der Selbstvergessenheit als lediglich einer von Vielen, aus dem komplet­ ten Aufgegangen-Sein in einer Kultur im ethnologischen Sinn. Der Tod vereinzelt den Menschen und führe ihn damit aus dem Modus

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der Verkehrung zu sich selbst.546 Der Mensch stirbt als Einzelner, jeder für sich. Daher kann er in der Gegenwart des Todes sich selbst nicht mehr ausweichen, findet aus der ideologischen Verkehrung zu dem, der er eigentlich ist. Kierkegaard resümiert, die Entscheidung des Todes sei nicht bestimmbar durch Gleichheit, wenn diese im Vernichtet-Sein bestehe (vgl. AG 189). Die Menschen sind nicht gleich, sie sind nicht mehr. Der Autor beschreibt nun, wie man sage, der Gedanke der Ver­ nichtung aller Verschiedenheit lindere die Müdigkeit von der nie endenden Verschiedenheit (vgl. AG 189). Das Überfordert-Sein durch die Fülle der Welt werde durch den Gedanken ihrer Vernichtung ent­ lastet. Diese, so die Metaphorik, entfache die »Glut« (AG 189) neuer Lebenskraft. Die Fülle der Welt werde so in gewissem Sinn nichtig. Der Tod macht »einen Strich durchs Ganze« (AG 189) und dieser Gedanke, so sage man, entlaste auch den, dem Unrecht widerfahren sei, den vor Hass Ohnmächtigen, den vormals »Verhätschelten« (AG 189) und nun Ungeduldigen, den Verlierer, den Kranken und Einsa­ men (vgl. AG 189 f.) Alle Unterschiede werden nivelliert werden. Kierkegaard weist nun diese Gestalt des Denkens von Entlastung als »Stimmung« (AG 190), als Feigheit »mittels falschen Maßes« (AG 190) zurück. Aufgrund ihres falschen Maßstabs sind diese Thesen zum gelingenden Leben in Wahrheit Gestalten des Misslingens. »Es ist der Schwermut feige Lust sich ins Leere fallen zu lassen« (AG 190), ein Missbrauch der Ohnmacht des Menschen (vgl. AG 190). Man flieht vor dem Leben in Ausreden, weil man es nicht geschafft hat, etwas in seinem Leben zu realisieren. Kierkegaard kritisiert diese Art »Lust an der Vernichtung« (AG 191) als »Täuschung« (AG 191), als Selbsttäuschung. Er wirft an dieser Stelle der Flucht und dem derart misslingenden Leben einen mangelnden Willen vor. Noch schlimmer als krank zu sein sei es, nicht begreifen zu wollen, welches Arztes man bedürfe (vgl. AG 190). Damit geht er davon aus, dass das Angebot zu einem gelingenden Leben, das Ziel und die Kraft es zu erreichen, gegeben sind (vgl. dazu AG 186). »Der Ernst versteht also das gleiche vom Tode, aber er versteht es auf andre Art« (AG 191). Strukturgleich zum vorherigen Unterkapitel ›Entscheidend‹ benutzt Kierkegaard denselben Satz (vgl. AG 185). Er [Bezug: der Ernst] versteht, dass der Tod alle gleich macht; und er hat es bereits verstanden, weil der Ernst ihn gelehrt hat die Gleichheit vor 546

Vgl. dazu Heidegger, SuZ 250.

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Gott zu suchen, in der alle gleich sein können. Und in diesem Streben entdeckt der Ernste eine Verschiedenheit, seine eigene Verschiedenheit nämlich von dem Ziel, das ihm gesetzt ist, und entdeckt, diesem Ziele am fernsten sein würde ein Zustand sein von der Art der Gleichheit, die der Tod hat (AG 191).

Das gelingende Leben versteht also die Gleichheit der Menschen von der Gleichheit vor Gott her und entdeckt im Streben nach dieser seine eigene Verschiedenheit in seinem Ziel oder seiner Aufgabe, von deren Gesetztsein durch Gott Kierkegaard ausgeht. Eine normative oder ideale Idee der Gleichheit verweist auf die eigene Verschiedenheit, die je konkrete und besondere Aufgabe im Leben. Die Realisierung des Besonderen, des konkret normativ Gesollten des je Einzelnen, ist das Realisieren der Gleichheit aller. Vor Gott sind alle – konkreten – Menschen gleich. Das Schaudern »vor dem leeren Raum, vor der Gleichheit des Vernichtetseins« (AG 192), den Kierkegaard hier als naturphilosophi­ sches Motiv auffasst, motiviert den Menschen, sich seine »Verschie­ denheit« (AG 192), »sein Los« (AG 192) zurückzuwünschen. Die aufrichtige Aussicht auf den Tod bestärkt den Wunsch nach dem Leben, und das Leben ist immer nur das je konkrete Leben, mögen die Umstände auch ungerecht oder schwierig sein. Der Vergleich mit der Gleichheit des Todes weist dem Menschen »die wahre Richtung« (AG 192), verweist ihn auf sein Leben und seine Aufgabe. Der Tod hilft, sowohl die »begünstigste« (AG 192) als auch die »härteste Verschiedenheit zu erleben in der demütigen Gleichheit vor Gott« (AG 192). Ob man im Leben Glück oder Pech hatte, ist für dessen Gelingen nicht entscheidend, und man kann es auch nicht ändern, denn man ht nur dieses eine Leben. Der Mensch vollzieht diesen Vergleich »einsam« (AG 192). Die drohende Einsamkeit im Tod führt ihn zu sich als Einzelner im Leben, führt ihn aus der »Gesellschaft« (AG 189) zu sich selbst. Entscheidende theologische Prämisse ist hier das Gesetztsein des konkreten Einzelnen durch Gott, das sowohl die Konkretion seiner von ihm erkennbaren Aufgabe als auch deren normativen Gehalt für ein gelingendes Leben verbürgt. Strukturanalog zum Absatz ›Entscheidend‹ fährt der Text nun fort mit »Nichtwahr, mein Zuhörer, solches hast du selbst erfahren« (AG 192, vgl. dazu AG 187). Durch den ersten Gedanken an den Tod lernt der Mensch »sich selber kennen« (AG 192) und so den Weg zu einem gelingenden Leben. Der ernste Gedanke an den Tod

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hilft dem Menschen, angesichts der Negativität des Leben, erfahren etwa als Leiden oder Schwermut, der Versuchung eines verkehrten Glücksbegriffs nicht nachzugeben (vgl. AG 193). Als gesetzt von Gott kann sich der Mensch in der Frage nach dem gelingenden Leben nur selbst im Weg stehen. Es steht dem Unglücklichen und Enttäuschten offen, sich mit und für andere Menschen zu freuen (vgl. AG 193). Die »strenge Erziehung« (AG 193) durch den Gedanken an den Tod hilft, weltliche Vergleiche zu relativieren. Im Übrigen ist das Glück der Menschen, die ihre kommende Selbstvernichtung verschweigen (vgl. AG 193) oder verdrängen, normativ irrelevant. Sie sind sowohl als Berater als auch als Maßstab disqualifiziert, da eben diese Verdrängung Maßstab misslingenden Lebens ist. Die Entscheidung des Todes sei nicht nur nicht durch Gleichheit, sondern, so fährt Kierkegaard fort, auch nicht durch Ungleichheit bestimmbar (vgl. AG 194). Der Tod nimmt keine Rücksicht auf die Verschiedenheit der Menschen. Das Kind stirbt, während der Alte von Jahr zu Jahr weiterlebt, der Reiche stirbt, während der Arme lebt und nicht weiß, was er morgen essen soll (vgl. AG 194). Der Tod ist somit gewiss und ungewiss (vgl. AG 194) – die Gewissheit des ›dass‹ mit der Ungewissheit547 des ›wann‹.548 Man sage nun, so Kierkegaard weiter, das Nachdenken über diese Nichtbestimmbarkeit wirke lindernd auf den, der müde vom Leben geworden ist. »Bald wundert man sich über den einen Todesfall, bald über den andern« (AG 195). Man sinniere »allgemein« (AG 195) über den Tod, denke darüber nach, welche Art zu sterben am wünschenswertesten sei (vgl. AG 195). Der Tod wird zum Todesfall, und der eigene Tod rückt mehr und mehr in den Hintergrund. Der Mensch vergisst sich selbst (vgl. AG 195). Das Leben misslingt also in einem Verhältnis zum Tod als allgemeinem Todesfall, das nicht das ernste Verhältnis zum eigenen Tod ist.549 Der Einzelne missversteht sich selbst hier als lediglich ein Mensch von vielen, während das Leben genau nicht allgemein, sondern konkret ist. Kierkegaard nutzt hier den Begriff der »Betäubung« (AG 196), der Flucht aus der Wirklichkeit in die Illusion. Man fühlt so das eigentliche Leben nicht mehr, fühlt sich selbst nicht mehr. Und während man derart verkehrt über den Tod und sich selbst denkt, vergeht das Leben (vgl. AG 196). 547 Wesche knüpft hier mit dem für seine Interpretation des gelingenden Lebens bei Kierkegaard zentralen Begriff der Unbestimmtheit an (vgl. Wesche (2003) 111). 548 Vgl. dazu Heidegger, SuZ 258. 549 Vgl. dazu Heidegger, SuZ 252 f.

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Im nächsten Schritt des Gedankengangs führt Kierkegaard aus, lediglich der Ernst könne das Rätsel des Todes lösen. Dabei stellt er dem vergeblichen Versuch des Menschen, das Leben zu über­ schauen, sich zu sorgen und damit sein Leben zu verschwenden, die göttliche Vorsehung entgegen (vgl. AG 196), was offensichtlich die theologische Prämisse impliziert, dass es so etwas wie göttliche Vorsehung gibt. Der Ernst versteht wiederum550 das Gleiche vom Tod wie die Stimmung, aber auf eine andere Art (vgl. AG 196), und damit versteht der Mensch sich selbst. Niemand ist vor dem Tod sicher. Kierkegaard nutzt die Metaphorik des Baumes: Die Axt ist an jeder Wurzel angelegt und jeder Baum wird früher oder später gefällt, egal ob er gute Früchte trägt oder nicht. Daraus folge nun aber nicht, dass es gleichgültig ist, ob er gute Früchte trägt oder nicht. Es bleibe das grammatische Perfekt: Er hat gute Früchte getragen – oder nicht (vgl. AG 196). Aus der Gewissheit und der Ungewissheit des Todes folgt also genau nicht die Nivellierung der Differenz von Gelingen und Misslingen. »Der Ernste betrachtet sich selbst […] er faselt nicht mit allge­ meinem Gerede« (AG 196 f.). Entscheidend ist die Selbstbezüglich­ keit, die Reflexion auf das eigene Leben in der ersten Person Singular, und genau nicht auf das Leben allgemein. Man überlegt, welches Leben man gelebt hat, »falls der Tod heute käme« (AG 197), was seine »Beute« (AG 197) wäre, analog zur Frucht des Baumes. »Die Gewissheit des Todes ist der Ernst, seine Ungewissheit ist der Unterricht, die Einübung des Ernstes; der Ernste ist derjenige, welcher durch die Ungewissheit erzogen wird zu Ernst in Kraft der Gewissheit« (AG 197). Durch die Ungewissheit des Todes lernen wir den Ernst durch die Gewissheit. Die Ungewissheit bietet in jedem Augenblick eine Lerngelegenheit durch Reflexion.551 Kierkegaard lehnt hier einen passiv-instruktiv-rezeptiven Begriff des Lernens ab. Der Mensch lernt durch »bekümmern« (AG 197), dadurch, dass er sich »mit ganzer Seele« (AG 197) etwas widmet. Es ist keine kognitive Operation, kein Reproduzieren-Können, sondern etwas, das das Leben als Ganzes betrifft. Der Tod als Lehrer sagt: »Es ist möglich« (AG 198). An diesem Wort scheitert jede »Bedingung« (AG 198) der Gewissheit des ›dass‹ Vgl. dazu AG 191. Die Ungewissheit ist genau nicht etwas, mit dem man sich lediglich, wie Reutlin­ ger schreibt, »abfinden« (Reutlinger (2014) 117) muss.

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und der Ungewissheit des ›wann‹. Der Tod ist also unbedingt möglich. Genau damit zwingt er den Lernenden, »in sich [zu] gehen« (AG 198) und genau das, dieses ›Innen‹, ist das Ziel dieses Lernprozesses, die Bedingung für ein gelingendes Leben. Und der Lehrer ist »ständig« (AG 198) präsent – es ist sozusagen Kierkegaards Konzept lebenslan­ gen Lernens. Während das Ziel, Ernst kraft Gewissheit, also definitiv ist, ist das Lernen durch die Ungewissheit ein »täglich[er]« (AG 198) Prozess. Dabei hat uns der Tod immer im Blick. Für seine Konzeption gelingenden Lebens unterscheidet Kierke­ gaard nun zwischen zufälliger und wesentlicher Arbeit. Der Wert zufälliger Arbeit bemisst sich am Ergebnis (vgl. AG 199). Das Leben gelingt dagegen in wesentlicher Arbeit, deren normativen Wert oder Sinn man durch den Tod als Abbruch begreift, welcher aber von die­ sem unabhängig ist. Es ist nicht wichtig, »ob die Zeit kurz oder lang gewesen ist« (AG 198 f.), »ob sie [Bezug: die Aufgabe] fertig geworden ist oder nur angefangen ward« (AG 199). Entscheidend sind also nicht Quantität, nicht Resultate, sondern das Angefangen-Haben und das Tun. Als sozusagen Lebensregel hält Kierkegaard hier fest, »[...] jeden Tag zu leben, als wäre es der letzte und zugleich der erste in einem langen Leben; und die Arbeit zu wählen, die nicht davon abhängig ist, ob einem Menschenalter gegönnt wird sie recht zu vollenden, oder nur eine kurze Zeit sie recht begonnen zu haben« (AG 199). Das Leben misslingt also in der Wahl einer unwesentlichen Arbeit anstelle einer wesentlichen, vor allem in der Verwechslung des Zufälligen und letztlich Belanglosen mit dem Wesentlichen. Unklar scheint hier, inwiefern die Arbeit gewählt wird und inwiefern sie gege­ ben ist. Kierkegaard geht jedoch immer von göttlicher Vorsehung aus, nach der der Mensch sich selbst erkennen und seine Arbeit im Sinne der ihm vorbestimmten Aufgabe wählen kann. Nicht das lange Leben ist entscheidend, sondern das ›als ob‹. Anfang und Ende sind dabei in der Gegenwart eines gelingenden Lebens gleichermaßen präsent. Man lebt das lange Leben im Augenblick. Ob es einem vergönnt ist, es in der Zeit zu realisieren, ist von kontingenten Umständen abhängig und für Gelingen unwesentlich. Entscheidend ist, begonnen zu haben. Festzuhalten bleibt: Das Leben misslingt in der Verdrängung der kommenden Vernichtung des Selbst durch den Tod, im Missverständ­ nis des Todes als Todesfall, in der Interpretation der Annullierung aller Differenzen durch den Tod als Entlastung und in der Verwechslung von zufälliger und wesentlicher Arbeit. Der Tod in seiner Doppel­

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struktur von Ungewissheit und Gewissheit552 nivelliert genau nicht die Differenz zwischen misslingendem und gelingendem Leben. Das Gegenteil ist der Fall. Der Einzelne entdeckt seine Verschiedenheit und das ihm gesetzte Ziel. Die Ungewissheit des Todes lehrt den Ernst der Gewissheit. Der Mensch stirbt selbst, jeder für sich. Der Tod als Lehrer führt den Einzelnen aus dem Modus der Verkehrung zu sich selbst, zwingt ihn, in sich zu gehen. Im Denken des eigenen Todes kann er sich nicht mehr ausweichen. Lernen bedeutet hier, sich diesem mit ganzer Seele zu widmen.

3.2.3 Unerklärlich Der dritte Schritt analysiert nun die Erläuterung der Entscheidung des Todes als ›unerklärlich‹. Der Tod erklärt nichts (vgl. AG 199), die Fragen des Menschen bleiben unbeantwortet. Es ist noch nicht einmal möglich, diese zu stellen. Ob wir uns ihn herbeisehnen oder nicht, ist vollkommen indifferent. Der Tod ist wesentlich »Übergang« (AG 199), unwissend über sein Verhältnis (vgl. AG 199). Der Übergang hat etwas Unbegreifliches, sich Entziehendes. Die Erklärung des Unerklärlichen erklärt nicht das Unerklärliche, sondern das Wesen des Erklärenden, zeige dessen Gedankenlosigkeit (vgl. AG 200). »Daher ist ein Zurückhalten mit der Erklärung bereits ein Zeichen für einigen Ernst, der doch versteht, der Tod sei, weil er nichts553 ist, nicht so etwas wie eine wunderliche Inschrift [...]« (AG 200). Der Tod ist Nichts. Sein und Nichts fallen zusammen. Der Tod bedarf keiner »Meinung« (AG 200), also keiner Deutung oder Interpretation. Der Tod ist nichts, aber die Erklärung ist deshalb nicht nichts. Ihr Gegenstand ist die »rückwirkende Kraft« (AG 200) des Todes im Leben.554 Durch diese ist der Tod, als das Nichts, im Leben wirklich – als Lehrer (vgl. AG 200). Kierkegaard nutzt hier also den naturwissenschaftlichen Kraftbegriff als Metapher für die Gegenwart des Todes im Leben. Sie ist unsichtbar, immateriell, aber sie wirkt. Sie hat die Kraft, »ein Leben umzubilden« (AG 200), also die der Bildung. Der Tod ist nichts, aber nicht einfach »alles und gar nichts« (AG 552 Theunissen nennt dies die zwei Seiten des Todesverstehens (vgl. Theunissen (1982) 145). 553 »Intet (SKS 5, 456) D: Nichts. 554 In diesem Sinne ist der vierte Typ des Nihilismus bei Kierkegaard dialektisch (vgl. Rasmussen (2017) 212 f.).

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200). Um Gelingen und Misslingen zu unterscheiden, differenziert Kierkegaard an dieser Stelle zwischen den Begriffen Einfluss und Kraft. Auf das misslingende Leben hat der Tod zwar Einfluss, man hält ihn aber »außerhalb des Lebens« (AG 200), er wirkt nicht als Kraft. Als Beispiel nennt Kierkegaard das »mit dem Gedanken an den Tod« (AG 201) Leben des Heidentums. Man siege so verstanden über den Tod, aber der Tod wirke nicht als bildende Kraft. Den Tod als das »höchste Glück« (AG 201) aufzufassen weist Kierkegaard als kindisch zurück. Man hofft naiv auf den Tod, sowie man naiv auf des Leben hoffte (vgl. AG 201). Den Tod dagegen als das »größte Unglück« (AG 201) aufzufassen weist Kierkegaard als feige zurück. Man fürchtet den Tod, entweder weil man im Leben Glück und Zufall auf seiner Seite hatte, oder weil man Unglück hatte, das Leben fürchtet und den Tod noch mehr (vgl. AG 201). Der Tod ist also weder Glück noch Unglück. Alle übrigen Erklärungen des Todes sind »Lebensanschau­ ung[en]« (AG 202), die die eigentliche Erklärung, die rückwirkende Kraft des Todes im Leben, »nicht verstehen […] wollen« (AG 202). Das misslingende Leben flüchtet vor dem Tod, verdrängt seine bil­ dende Kraft. Kierkegaard ordnet hier auch den Begriff ›Übergang‹ ein, der zuvor noch affirmativ verwendet wurde. Exemplarisch diskutiert Kierkegaard die Ansicht, der Tod sei Verwandlung. Das könne wahr sein, müsse aber richtig verstanden werden: »›Ich habe ein langes Leben vor mir, dreißig Jahre, ja vielleicht vierzig Jahre, und dann kommt dereinst der Tod als eine Verwandlung‹, was mag dann wohl der Lehrer von diesem Schüler denken, der noch nicht einmal die Bestimmung der Ungewissheit begriffen hat« (AG 202). Das Leben misslingt in der Auffassung, eine gewisse Masse an ggf. statistisch berechenbarer, homogener Sukzessionszeit quasi ›vor sich‹ zu haben, über die man verfügen555 und die man verplanen kann, und an deren Ende der Tod als Verwandlung steht. Diese Auffassung hat die Grundstruktur des Lebens, die fundamentale Ungewissheit des ›Wann‹ des radikalen Abbruchs nicht verstanden. Sie hat damit die Zeit nicht verstanden (vgl. dazu AG 199). Das Leben ist kein Optimierungsproblem in diesem Sinne. Kierkegaard unterstellt in diesem Kontext die permanente Gegenwart des Lehrers. Eine andere Birkenstocks Formulierung, der Mensch habe begrenzte Zeit zur Verfügung, ist hier ebenso wie ihr Begriff des ›Lebensprojekts‹ unglücklich gewählt (vgl. Birkenstock (1997) 287). 555

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Variante dieser verkehrten Lebensanschauung ist es, den Tod als Verwandlung, aber als eine Begebenheit unter anderen im Leben zu verstehen. Man hat hier nicht begriffen, was es bedeutet, dass »es vorüber ist« (AG 202). Der Tod ist von den übrigen Begebenheiten, die einem Menschen im Leben zustoßen, radikal verschieden. Der Begriff der Lebensanschauung ist hier, zusammen mit dem Begriff der Meinung und wie auch bereits der Begriff des Heidentums zuvor, ein relativer und kontingenter Begriff, dem der Begriff der wahren Auffassung, der Wahrheit im Singular, entgegensteht. Kierkegaards Konzeption gelingenden Lebens erhebt den Anspruch, wahr zu sein. Im darauffolgenden Abschnitt geht Kierkegaard noch einmal explizit auf den Begriff der ›Meinung‹ ein. Meinungen können rich­ tig oder falsch sein, darüber entscheide der Weise (vgl. AG 202). Entscheidend sei aber, »ob man nun wirklich die Meinung habe, ob sie nicht etwas sei, das man aufsage« (AG 202). Kierkegaard differenziert hier zwischen einer Meinung, die man ›wirklich‹ hat, und einer bloßes Reproduktion des Richtigen. Im folgenden Schritt definiert er das wirklich Haben einer Meinung, als »ob sein Leben sie ausdrücke« (AG 203). Eine Meinung zu vertreten, bedeutet also, sie mit seiner ganzen Person zu leben. Sie zeigt sich im »Handeln« (AG 203), in der Praxis. Was ein Mensch wirklich denkt, zeigt sich also an seinem Leben. Kognitives Verstehen ist vergleichsweise banal gegenüber dem Verwirklichen eines Gedankens im Leben. Das ›Es-ist-vorüber‹ des Todes testet den Menschen, ob er wirklich meint, was er sagt (vgl. AG 203). Der Sinn, oder wie Kierkegaard sagt, die Bedeutung der Uner­ klärlichkeit des Todes ist es, »dem Gedanken des Todes rückwirkende Kraft zu geben, ihn zu einem Ansporn im Leben zu machen« (AG 203). Man könnte sagen, dass für den Schüler der Idee eines gelin­ genden Lebens deren Erklärung in der Unerklärlichkeit liegt. Die Unerklärlichkeit des Todes klärt die Idee gelingenden Lebens und hilft, sie im eigenen Leben zu verwirklichen. Hier gilt es festzuhalten: Der Tod erklärt nichts, ist wesent­ lich Übergang, ist Nichts. Der Tod hat eine rückwirkende Kraft im Leben, seine Unerklärlichkeit klärt auf und bildet. Dies ist die wahre Auffassung vom Tod und vom Leben, der gegenüber alle übrigen Auffassungen lediglich Lebensanschauungen und Meinung sind. Das Leben misslingt in der Auffassung, ein gewisses Maß an homogener Sukzessionszeit vor sich zu haben und über diese verfügen zu können. Es misslingt in der Auffassung, der Tod sei eine Begebenheit unter

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vielen. Eine Meinung zu haben bedeutet, diese mit seinem Leben auszudrücken, und nicht lediglich das Richtige aufzusagen. Die Praxis hat hier Vorrang.

3.2.4 Kierkegaards Resümee Kierkegaard selbst zieht auf den letzten beiden Textseiten der Rede sein Resümee. Die Befürchtung, der Informationsgehalt der Rede sei zu gering, verweist Kierkegaard darauf, dass quantitativ viel zu wissen nicht unbedingt gut sei (vgl. AG 204). Die milderen Perspektiven auf den Tod, z.B. Ruhe oder Schlaf, hätten ihre Berechtigung, aber diese erwerbe man sich, etwa durch ein anstrengendes Leben (vgl. AG 204). Er unterscheidet hier nochmals zwischen dem ›Auswendiglernen‹ (AG 204) und dem Leben selbst. Der junge Mensch dagegen findet im Tod seinen Lehrer, der vielleicht später sein Freund wird (vgl. AG 204). Damit wird hier der junge Mensch zum Adressaten der Rede, und gleichzeitig wird eine mildere Perspektive für denjenigen eröffnet, der gelebt hat, der erlebt hat. Der Lehrer lehrt mit »Erschrecken« (AG 205), und »Strenge« (AG 205), aber seiner Freundschaft kann man »würdig« (AG 205) werden.556 Im letzten Abschnitt baut Kierkegaard noch einmal die Metapho­ rik des Lehrers weiter aus: Dieser sei »durch die Geburt zum Lehrer für das ganze Leben bestellt« (AG 205), bereit, jederzeit den Unterricht zu beginnen »sobald jemand der Ungewissheit die Tür auftut« (AG 205). Das Examen, die »Prüfung des Ernstes« (AG 205), sei für alle gleich schwer, da es sich nach der individuellen »Anlage« (AG 205) richte. Die Konzeption ist egalitaristisch: Qua Geburt hat jeder Mensch Zugang zum Lehrer der Idee gelingenden Lebens, der bereit steht, sobald sich die Tür für das Negative auftut. Jeder hat soviel Unterricht, wie er benötigt, und jedem ist eine individuelle, an seinen Fähigkeit orientierte schwere Prüfung gestellt. Dazu gibt es Hoffnung auf Milde, eines Tages sich als Freund des Lehrers würdig zu erweisen, mit ihm auf Augenhöhe zu sein, von ihm gelernt zu haben, was er zu lehren hat, und dies gelebt zu haben. 556 Entgegen Mooneys Deutung, der Tod könne zum Tanzpartner werden (vgl. Mooney (2011) 134), vermutet diese Arbeit, dass nach Kierkegaard hier eine gewisse Distanz zwischen Lehrer und Schüler bleibt.

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Entscheidend für gelingendes Leben ist das hier metaphorische Auftun einer Tür, den Zugang über das Negative zu entdecken und auszuhalten, mit ihm und von ihm hier zu leben.

3.3 Zwischensynthese Das Leben misslingt im Dahinleben, in der alltäglichen Betriebsam­ keit, im Modus der Verkehrung. Der Mensch verlässt sich hier auf Scheinsicherheiten, denen ein falsches Todesverständnis zu Grunde liegt, während das wahre verdrängt wird. Man hält unwesentliche Arbeit für das Wesentliche im Leben. Dem Irrglauben, über eine Masse von homogener Sukzessionszeit verfügen zu können, liegt ein falsches Verständnis der Zeit und damit des Lebens zu Grunde. Das Leben gelingt dagegen von seinem gedachten Ende her in der Gegenwart des Todes im Leben. Der Einzelne findet durch Vollzug der Doppelbewegung vom Tod her aus der Verkehrung zu sich selbst. In seiner Doppelstruktur von Ungewissheit des ›wann‹ und Gewissheit des ›dass‹ hat der Tod eine rückwirkende Kraft im Leben, welche den Einzelnen zwingt, in sich zu gehen. Der Tod erklärt dabei nichts, ist wesentlich Übergang, wesentlich Nichts. Er enthält den sicheren universalen Maßstab und das Motiv für ein gelingendes Leben, wirkt bildend und aufklärend. Alle übrigen Lebensanschauungen sind zweitrangig. Der Tod verweist den Einzelnen auf die Kostbarkeit der Zeit, die ihm gesetzte Aufgabe und seine eigene Verantwortung. Zentral für den Übergang von misslingendem und gelingendem Leben ist die Metaphorik des Aufwachens. Der Tod macht wach. Der Tod ist Lehrer, sagt jedoch wenig. Lernen kann der Einzelnen nur durch sich selbst, indem er sich mit seiner ganzen Seele der Sache widmet. Die eigene Überzeugung drückt sich dann im eigenen Leben aus, nicht im Auswendiglernen und Aufsagen des Richtigen. Die Rede ist thematisch negativistisch. Thema sind Tod und Sterben, das Negative bietet den Zugang zur Idee gelingenden Lebens. Dazu bildet sie die Grundstruktur der negativistischen Methode ab. Das Leben gelingt von seinem Gegenteil her. Auch wenn die Rede weniger explizit christlich ist als etwa die Krankheit zum Tode, so benutzt sie doch den Begriff des Heidentums. Dazu geht sie von einem gesetzten Ziel im Leben aus, das es zu entdecken gilt, und argumentiert mit dem Gottesbegriff und dem Begriff der Vorsehung. Dahinter stehen theologische Prämissen.

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4 Das Ästhetische I: Entweder-Oder, 1.Teil

4 Das Ästhetische I: Entweder-Oder, 1.Teil Das folgende Kapitel analysiert das Ästhetische in Entweder-Oder I (Enten – Eller. Første del). Ziel ist die Vorbereitung der Analyse der sogenannten Inversionsthese, der zufolge die Position Camus’ dem ästhetischen Stadium bei Kierkegaard entspricht. In diesem Zuge gilt es auch, den Vergleich von Kierkegaard und Camus’ Auf­ fassung von Kunst vorzubereiten. Dabei folgt die Arbeit der in der Kierkegaardforschung weit verbreiteten und sehr plausiblen Position der Exemplarizität der Diapsalmata für die Position des Ästhetikers A557, aus Gründen der Eingrenzung der vergleichenden Arbeit jedoch ohne den Anspruch zu vertreten, diese einzelwissenschaftliche Frage­ stellung hinreichend bearbeiten oder klären zu können. Das Kapitel geht demnach in zwei Schritten vor: Zur Klärung des Kontextes des Werks analysiert es zunächst das Vorwort Victor Eremitas, darauf die Diapsalmata des Ästhetikers A.

4.1 Vorwort des fiktiven Herausgebers Victor Eremita Kierkegaards umfangreiches Werk enthält ein Vorwort des fiktiven Herausgebers Victor Eremita, die Schriften des Ästhetikers A sowie die Briefe von B, des Gerichtsrats Wilhelm558, der A antwortet.559 Das Vorwort beginnt direkt mit einer Problematisierung »des bekannten philosophischen Satzes, dass das Äußere das Innere, das Innere das Äußere sei« (EO 11), der sich auf Hegels Wissenschaft der Logik bezieht. Eremita spricht den Leser auf ein eigenes inneres Geheimnis an, einen Zweifel, und bezeichnet das Hören als ausgezeichneten Zugang zum Inneren (vgl. EO 11). Durch einen Glücksfall sei er in Besitz der Papiere gekommen, die er nun herausgebe (vgl. EO 12): »In diesen Papieren erhielt ich Gelegenheit, einen Einblick in das Leben zweier Menschen zu tun, der meinen Zweifel daran, dass das Innere das Äußere sei, noch bestärkt. Das gilt insonderheit von dem einen der beiden. Sein Äußeres hat mit seinem Inneren in vollkommenem 557 Vgl. Greve (1988) 60. Eine sehr gelungene knappe Rekonstruktion der Position des Ästhetikers bietet Thurnherr (vgl. Thurnherr (2004) 260 ff.). 558 Zur Position des Gerichtsrats vgl. Schwab (2014) 96. 559 Die Position des Gerichtsrats Wilhelm entpuppt sich im Spätwerk Kierkegaards als naiv (vgl. Theunissen / Greve (1979) 31.

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Widerspruch gestanden« (EO 12). Der Text eröffnet hier die Differenz von Außen und Innen, von Oberfläche und Tiefe. Auch von dem zweiten Autor, zu vermuten ist, der erste sei A, der zweite B, gelte das in gewissem Maße. Er fährt nun fort mit einer ausgeschmückten fiktiven Erzählung, wie er sieben Jahre zuvor einen Sekretär kaufte und eines Morgens in einem geheimen Fach diese Papiere fand (vgl. EO 12 ff.). Auch das Äußere des Sekretärs entsprach nicht dem Inneren (vgl. EO 15), auch dieses hatte ein verborgenes Geheimnis. Darauf erläutert Eremita, dass er den Autor der ungeordneten Papiere, die er in ihrer vorgefun­ denen Reihenfolge belässt, A nennt, und den Gerichtsrat Wilhelm, dessen drei Briefe an A den zweiten Teil ausmachen, B (vgl. EO 16). Die losen Zettel A’s werden vom Herausgeber ›Diapsalmata‹ genannt und mit dem Motto ›ad se ipsum‹ versehen an den Anfang der Schriften des Ästhetikers gesetzt. Beides habe er aber auf Zetteln selbst gefunden. Die Aphorismen seien zufällig angeordnet und widersprächen sich, das gehöre aber wesentlich zu deren »Stimmung« (EO 17). Sie zu sortieren, damit die Widersprüche weniger auffie­ len, lohne nicht (vgl. EO 17). Victor Eremita diagnostiziert also ein aphoristisches, nicht widerspruchsfreies Denken, für das der Begriff Stimmung offenbar wichtig ist. Dabei wird Kierkegaard selbst die Aphorismen doch gezielt angeordnet haben. Dass sich A nicht als Verfasser, sondern als Herausgeber des ›Tagebuchs des Verführers‹ ausgibt, bezeichnet Eremita als »Novel­ listenkniff« (EO 18), gegen den er nichts einzuwenden hätte, wenn er nicht seine Stellung verwickelt mache gleich einem »chinesischen Schachtelspiel« (EO 18). Kierkegaard wendet sich also mit Eremita gegen eine Schachtelstruktur, die aber er selbst mit Eremita noch eine Ebene weitertreibt.560 Die vier Ebenen sind: Kierkegaard – Victor Eremita – der Ästhetiker A – der Verführer.561 Zum Tagebuch fügt er die Bemerkung hinzu, es sei, »als hätte A selbst vor seiner Dichtung Angst bekommen« (EO 18) und auch er spüre den »dämonischen Blick« (EO 19) des Verführers, dessen fiktive 560 Schwab erläutert am Beispiel dieser Schachtelstruktur seine Deutung der indi­ rekten Mitteilung als Strukturprinzip: Der Herausgeber kennzeichnet seine Interpre­ tation explizit als Interpretation und überantwortet dem Leser die Entscheidung über die Lebensanschauungen von A und B (vgl. Schwab (2008) 44 ff. 561 Die Pseudonyme dienen nach H. Schulz nicht dazu, Kierkegaards Autorenschaft zu verbergen – sonst wäre er nicht der Herausgeber – sondern dazu, Distanz zwischen Autor und Leser zu schaffen (vgl. H. Schulz (2014) 32).

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4 Das Ästhetische I: Entweder-Oder, 1.Teil

Bemerkung er ausschmückt, sich gleich aber entschuldigt, hier als Herausgeber dem Leser eventuell seine Interpretation aufzudrängen. Kierkegaard fingiert einen Herausgeber, der sich »hinreißen« (EO 19) lässt, weil ihm, Eremita, das Konzept eines fiktives Herausgebers zuwider ist, während er selbst einer ist. Indem Viktor Eremita sich also als fiktiver Herausgeber gegen das Konzept des fiktiven Herausgebers durch A wendet, wendet er sich faktisch argumentativ gegen sich selbst, kritisiert sich selbst. Der Text kritisiert damit sein eigenes Tun, er unterläuft562 sich selbst. Es hilft vielleicht, sich darauf zu besinnen, dass Kierkegaard diese Struktur bewusst einsetzt. In der Frage, ob A der Autor des Tagebuchs ist, über das Eremita noch einmal phantasiert, ist Kierkegaard letztlich der Autor von allem, die Struktur ist methodisch563 bewusst gewählt.564 Der Herausgeber fährt fort, er habe errechnet, dass wegen der Kombination von Wochentagen und Daten das Tagebuch sich auf das Jahr 1834 beziehen müsse. Die Titel der Briefe B’s, deren Reihenfolge klar ist, da sie sich aufeinander beziehen, stammen ebenfalls vom fiktiven Herausgeber (vgl. EO 20). Eremita formuliert gegen B die These, dass es Menschen gebe, die nicht durch Frauen oder Gott gerettet würden, die untergingen (vgl. EO 21). Die Autoren habe er nicht ausfindig machen können, gehe aber davon aus, dass die veröffentlichten Papiere keinen Hinweis auf sie gäben (vgl. EO 22). Der Text konstruiert damit weiter an der Rahmen- und Schachtelstruktur. Indem er das Verfasserhonorar anlegen werde, streitet die Figur Eremita jede Autorenschaft ab. Bei der fortwährenden Beschäftigung mit diesem Papieren ging mir ein Licht darüber auf, dass man ihnen eine neue Seite abgewinnen könne, wenn man sie als einem Menschen zugehörig betrachtete. [...] Es wäre also ein Mensch, der in seinem Leben beide Bewegungen durchlaufen oder beide Bewegungen überdacht hätte (EO 23 f., Hervorhebung nur in der Übersetzung).

Der pseudonyme Herausgeber schlägt damit die Interpretationsop­ tion vor, die Schriften als Bewegung eines Menschen zu lesen, gegen

Vgl. Schwab (2012) 17. Das Experimentelle bei Kierkegaard ist immer teleologisch (vgl. Theunissen (1982) 90). 564 Zur Debatte um eine säkulare gegenüber einer religiösen Interpretation von Ent­ weder-Oder vgl. Tarassenko (2015) 153 ff. 562

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die zwar einiges spreche, die aber produktiv sei.565 A’s Papiere ent­ hielten »vielfältige Ansätze zu einer ästhetischen Lebensanschauung« (EO 24), die sich per se nicht zusammenhängend darstellen ließen, B’s Schriften enhielten die einer ethischen Lebensanschauung. Der Text führt damit die zentralen Begriffe der ›Lebensanschauung‹, des ›Ästhetischen‹, des ›Ethischen‹ sowie der Idee einer ›Stadienlehre‹ eines Menschen ein. Er schlägt explizit diese Interpretation vor, wobei der Leser des Werks Kierkegaards weiß, dass A und B als zwei Men­ schen immer schon Fiktion sind. Dazu habe Eremita den Titel der Schrift gewählt und stelle dem Leser die Frage, ob am Ende A zu B’s oder aber vielleicht auch B zu A’s Meinung übergegangen sei (vgl. EO 24). Dabei betrachtet er es als ein »Glück« (EO 24), dass der Ausgang nicht vom Text beantwortet wird und in diesem Sinne offen ist. »Die Anschauungen stehen einander gegenüber« (EO 24 f.). Mit A werde man sowohl das Lesen als auch das Nichtlesen des Werks bereuen. B, so schließt Eremita, würde in Entweder-Oder einiges finden, was der Leser nicht wissen dürfe, anderes, was ihm helfe. Er solle Ersteres vergessen (vgl. EO 25). A schließt also mit einem Negativdilemma, B zwar etwas bevormundend, aber hoffnungsvoll.566 Aus dem Vorwort festzuhalten ist die Schachtelstruktur, mit der der Text sich selbst unterläuft, sowie die vorgeschlagene Interpreta­ tionsoption als Bewegung eines Menschen. Die Positionen stehen sich offen gegenüber. Die ästhetische Lebensanschauung A’s lasse sich nicht zusammenhängend darstellen, jedoch sei ihre Stimmung entscheidend. Diese soll im folgenden zweiten Schritt anhand der Analyse der ›Diapsalmata‹ erarbeitet werden.

4.2 Diapsalmata Die ›Diapsalmata‹, übersetzt Zwischenspiel oder Kehrreim, bilden den ersten Teil der Papiere des Ästhetikers A. Sie beginnen mit 565 Nach Greve liegt das Ziel der frühen pseudonymen Werke Kierkegaards darin, den Weg zum Religiösen gedanklich-argumentativ zu markieren, an dessen Ende Letzteres positiv aufscheine (vgl. Greve (1990) 23). 566 Zahlreiche Forschungsbeträge folgen in ihrer Interpretation des Werks der Inter­ pretation des Ästhetikers durch den Ethiker (vgl. etwa Reichenbach (1976) 224, A. Pieper (2000) 62). Nach Greve folgen sie damit einer Fehlinterpretation (vgl. Greve (1988) 60) und unterschätzen die Komplexität des Werks.

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dem lateinischen Zitat ›ad se ipsum‹, an sich selbst – dem Titel der Selbstbetrachtungen Marc Aurels – sowie einem französischen Gedicht von Paul Pelisson, das übersetzt lautet: »Größe, Wissen, Ruf, Freundschaft, Vergnügen und Gut, alles ist nur Wind, nur Rausch, besser gesagt, alles ist nichts«567 (EO 27). Damit formuliert bereits die Überschrift eine zentrale These: Es gehe um eine Selbstbetrachtung des Verfassers A, der eine Reihe traditioneller Werte als nichts, als Nichts erachte. Es geht um die Stimmung einer nihilistischen Selbstbetrachtung.568 Darauf folgen insgesamt 90 Aphorismen auf 29 Seiten (EO 27 – 55), deren Stimmung und das für ihre »Bewegung« (EO 23) Charakteristische im Folgenden herausgestellt werden soll. Die Analyse der unzusammenhängenden Darstellung der Position A’s (vgl. EO 24) legt Schwerpunkte dort, wo es der Sache nach vielversprechend erscheint. Aphorismus 1 vertritt die These, dass Dichter von den Menschen missverstanden werden. Sie drücken das Negative der »tiefen Qual in seinem Herzen« (EO 27) als »Schrei« (EO 27) aus, werden aber als »schöne Musik« (EO 27) gehört, interpretiert und rezipiert. Kunst drückt also das in der Tiefe verborgene Negative aus, wird aber in der Regel missverstanden. Der Künstler ist wesenhaft unglücklich, er leidet. Aphorismus 3 (vgl. EO 28) differenziert zwischen dem Menschen als potentiellem Vernunftwesen und dem Faktischen, des­ sen Diagnose negativ ist. Der Mensch kann etwas werden, kann das werden, was er nach klassischer Definition eigentlich ist, verfehlt dies im Regelfall aber, realisiert es nicht. Das misslingende Leben ist also nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Der folgende Aphorismus 4 kritisiert, dass Menschen in der Regel nicht denken (vgl. EO 28). Der Alltagsmensch lebt also dahin, ohne im eigentlichen Sinne zu denken, er entscheidet, ohne bewusst zu entscheiden. Aphorismus 5 summiert die Stimmung des Ästhe­ tischen auf das ›Gar nichts Mögen‹ (vgl. EO 28). Der Ästhetiker mag nicht handeln, doch auch Nichtstun ist eine Handlung. Aphoris­ mus 6 beschreibt am Bild der Befruchtung sterbender Insekten die Gegenwart des Todes im Leben. Auch im Augenblick der Freude als des Positiven ist das Negative stets gegenwärtig (vgl. EO 28). Die Gegenwart des Todes im Leben fungiert hier genau nicht als Motor für ein gelingendes Leben. Vgl. EO Endnote des Herausgebers. Diese ist nach Theunissen / Greve jedoch immer schon auf das Religiöse hin ausgerichtet (vgl. Theunissen / Greve (1979) 20). 567

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Der achte Aphorismus beschreibt eine menschliche Struktur des Besitzens des jeweils Begehrten durch den Gegensatz. Der Melancho­ lische habe Sinn für das Komische, der Zweifelnde für das Religiöse, und man erlange erst durch die Sünde die Seligkeit (vgl. EO 29). Diese Ausführungen entsprechen einer dialektischen Grundannahme Kierkegaards. Der Weg zum gelingenden Leben geht durch das Miss­ lingen. Das gilt offenbar für den Lebensweg des Einzelnen wie auch für die methodische Konzeption des Werks, an dessen Anfang wohl genau aus diesem Grund die Diapsalmata stehen. Kierkegaard will auf ihre Gegenposition hinaus. Er verortet im Ästhetisch-Negativen den ›Sinn für‹ oder das ›Durch‹ zum Ethisch-Religiös-Positiven, basiert diese Theorie aber auf implizite theologische Prämissen, dem Bezugsrahmen des Werks.569 In Aphorismus 9 bezeichnet der Ästhetiker die Schwermut als seine treueste Geliebte (vgl. EO 29). Die Stimmung des Ästheti­ schen ist schwermutig, melancholisch. Der Ästhetiker beantwortet die Liebe der Schwermut (Genitivus Subjectivus) mit Gegenliebe. Aphorismus 10 kritisiert ein »Räsonnements-Geschwätz« (EO 29) als ein unendliches Gerede, das zur Debatte keinen sachlich gehaltvollen Beitrag leiste, sie nicht vorwärtsbringe. A wendet sich hier gegen akademische Philosophie und den theoretischen Diskurs seiner Zeit. Der folgende Aphorismus 11 skizziert ironisch ein negatives Ende des Lebens. Man realisiert seinen Jungendtraum, indem man Patient des »Narrenhaus[es]« (EO 29) wird, das man selbst baute. Das Ende des Lebens wird schonungslos negativ dargestellt, mit der Betonung auf Krankheit und dem unweigerlichen Verlust geistiger Fähigkeiten. Aphorismus 12 verortet mit Bezug auf einen englischen Kinder­ arzt im Lachen das Weinen. A formuliert im Konjunktiv: Was, wenn Lachen eigentlich Weinen wäre (vgl. EO 29), wenn wir also das Positive verkehrt verstehen und es in Wahrheit, unter der Oberfläche, das Negative ist. Der Ästhetiker sieht also das Negative unter der Oberfläche. Er sieht, wie er im darauffolgenden Aphorismus 13 erläu­ tert, den Menschen allein in der Welt und empfindet dabei Schmerz (vgl. EO 30). A hat Zugang zur faktischen Einsamkeit des Anderen und leidet, auch wenn diese Person selbst dies nicht fühlt. A fühlt sich »wie ein Belagerter« (vgl. EO 30, Aph. 14), eingeschlossen. Er erlebt seinen Handlungsspielraum als begrenzt, sich als zum Nichtstun verurteilt. Er weint, um keinen Schaden zu nehmen (vgl. EO 30). 569

Vgl. dazu Hühn (2009) 220 f.

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Das In-der-Welt-Sein wird in einem grundlegenden Sinne als negativ erfahren, als beengt, begrenzt, zum Stillstand verdammt. Nach der Erfahrung von Qual, Tod, Melancholie, Schwermut, Verlust, Weinen und Schmerz fügt A in Aphorismus 15 auch den Begriff Kummer in die Reihe der Negativbegriffe ein, die seine Stimmung beschreiben. Er fasst den Kummer als sein Zuhause (vgl. EO 15). Aphorismus 16 greift die Figur der Handlungsunfähigkeit von Aphorismus 14 auf, diesmal mit dem Bild der Schachfigur, mit der man nicht ziehen kann (vgl. EO 30). Damit liegt ihr Grund sowohl in der äußeren Situation als auch im eigenen Wesen oder Können. Treffen diese beiden zusammen, sind alle Optionen genommen. In Aphorismus 17 kritisiert A mit Blick auf das Stück ›Aladdin‹, dass sich niemand mehr traue zu wünschen. Dabei arbeitet er mit einer Engführung der Begriffe ›Erziehung‹ und ›Abrichtung‹ (vgl. EO 31). Der Ästhetiker kritisiert also Erziehungs- und, man könnte wohl im weiteren Sinne sagen, Sozialisations- und Enkulturationsprozesse als repressiv, als negativ. Diese Prozesse sind dahingehend verkehrt, dass man zum »Säugling« (EO 31) erzogen werde. Dem Menschen, dem als Ebenbild Gottes eigentlich die »Kommandostimme« (EO 30) zukomme, werde diese durch gesellschaftliche Prozesse wieder genommen. Apohorismus 18 setzt dieses Bild des Verkümmertseins mit linguistischer Metaphorik fort. Er sei »wie ein Scheva« (EO 31), während er also eigentlich wie ein Vokal sein solle, fühle er sich wie ein »Buchstabe, der in der verkehrten Zeile steht« (EO 31). Er charakteri­ siert sich mit den Substantiven ›Unglück‹, ›Sorgen‹ und ›Kummer‹. Der Ästhetiker hat also ein Bewusstsein davon, das zeigt sowohl der Aladdin-Vergleich als auch das linguistische Bild, dass er nicht der ist, der er sein sollte. Auch das Bild des Buchstabens suggeriert dabei, dass es einen richtigen Platz gäbe. A beschreibt sich hier als im verkehrten Modus eines Seinsollenden. Und dass er sich in diesem befindet, ist auch ein Produkt von sozialen Umständen. Er fühlt sich wesentlich negativ und verkehrt in der Welt. Ein Zuhause bietet ihm nicht die Welt, sondern das Negative selbst. Ein gelingendes Weltverhältnis ist hier aber offen mitgedacht, in den Gegenmetaphern ›Kommando‹, ›Erwachsener‹, ›Vokal‹ und ›in der richtigen Zeile‹. Diese sind zumindest denkbar – impliziert. In Aphorismus 19 äußert sich A positiv über ein Begehren jen­ seits »kalter Wahrscheinlichkeitsberechnungen« (EO 31), das begehre, was der andere auch nicht besitze. Dem Ästhetiker fehlt etwas jenseits des Alltäglichen. Aphorismus 20 handelt von einer

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gelblichen Farbmischung, die A als Kind mochte, die er aber in der Welt nicht wiederfindet, bzw. zu grell. Nur in den Begegnung mit Schwachsinnigen und Gescheiterten, mit Menschen, die sich in der Welt fremd fühlten, stoße er gelegentlich auf sie. A verallgemeinert die Metaphorik auf den »Glanz« (EO 32) des Lebens der Kindheit (vgl. EO 31 f.). Der Ästhetiker erinnert sich also an ein Positives seiner Kindheit, dem er als Erwachsener in der Welt nur noch in pervertierter Form begegnet, und dessen Spuren – Spuren eines ursprünglich gelingenden Verhältnisses – er bei denjenigen ausmacht, die sich in der Welt nicht zurechtfinden, die als krank und gescheitert gelten und dies auch fühlen. A verortet in der verkehrten Welt, in dem für die Welt Kranken, Spuren des eigentlich Gesunden. In Aphorismus 22 schreibt A sich selbst den Mut zu, an allem zu zweifeln und zu kämpfen, nicht aber den Mut, etwas zu erkennen (vgl. EO 32). Das Ästhetische kennzeichnen Zweifel und Kampf, nicht aber Erkenntnis, die positiv konnotiert ist und deren Fehlen als ein Defizit an Mut interpretiert wird. Damit behauptet A hier genau nicht die Unmöglichkeit von Erkenntnis. Aphorismus 23 beschreibt die Unmöglichkeit, sich auszudrücken. A beschreibt sich selbst als geplagt von »inhaltslosen […] qualvollen Wehen« (EO 32 f.). Der Dichter muss sprechen, und er leidet daran, dass er sprechen muss, aber unfä­ hig ist auszudrücken, was er ausdrücken will. Das Problem verortet er im Denken, metaphorisch im »Zungenband des Geistes« (EO 33). Es gelingt ihm nicht, den Gedanken klar und verständlich zu fassen. Der folgende Aphorismus 24 beschreibt die Stimmung des Ästhetischen mittels einer Spinnenmetaphorik: Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt aus sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie vor sich stets einen leeren Raum, in dem sie nirgends Fuß findet, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrtes und grauenhaft, nicht auszuhalten (EO 33, Hervorhebung JA).

Der Ästhetiker hatte ursprünglich einen festen Punkt570 oder Aus­ gangspunkt, fühlt sich nun aber in die vor ihm liegende Leere,

570 Rapic benennt diesen Aphorismus als zentral für das Selbstverständnis des Ästhe­ tikers, interpretiert den festen Punkt jedoch als das kantische Moralprinzip (vgl. Rapic (2007) 201 f.).

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Haltlosigkeit oder Bodenlosigkeit stürzen. Das Motiv der Bewegung fasst er mit dem Begriff der Konsequenz. Konsequenz und aus ihr resultierende Erfahrung des Negativen kennzeichnen also das Ästhetische. Der zentrale, das Leben kennzeichnende Begriff ist der Begriff der Verkehrung. Die Spinne im Bild zappelt: Der Ästhetiker sucht beständig weiter festen Grund, und in dieser Suche liegt eine Konsequenz, aber er findet diesen Grund nicht. Genau das ist das Problem.571 Er kann sich, um das Bild weiterzudenken, aber auch nicht einfach fallen lassen, weil er ahnt aufzuschlagen. Seine Bewegung ist eine Art kontrollierte Abseilbewegung, die den Grund auszumachen versucht, diesen aber nicht findet. Diese Erfahrung ist eigentlich menschlich »nicht auszuhalten« (EO 33), aber irgendwie hält er sie trotzdem aus. Aphorismus 26 erweitert diese Betrachtung um den Begriff der Sinnlosigkeit. Mittels der Metapher, ein böser Geist habe ihm eine Brille aufgesetzt, bei der ein Glas vergrößere, ein Glas verkleinere (vgl. EO 33), räumt A in diesem Aphorismus die Perspektivität der eigenen Position ein, die Möglichkeit, dass nicht die Welt verkehrt ist, sondern die eigene Perspektive. Aphorismus 27 nennt den Zweifler einen Gepeitschten, der sich nach Peitschenschlägen wie ein Kreisel auf der Spitze halte (EO 33 f.). Die Metapher veranschaulicht das Ästhetische als eine leidende Bewegung auf der Stelle, vom Leiden angetrieben, die jedoch dieser Qual bedarf, um nicht völlig zu kollabieren. Das Drehen um sich selbst, vielleicht um dieselben Fragen, verleiht A eine Stabilität, die aber gleichzeitig ein Vorwärtskommen ausschließt. Es ist ein frucht­ loses Unterfangen, das aber gleichzeitig, anknüpfend an den Begriff der Konsequenz, einen Abbruch ausschließt. Das Kreiselbild bietet vielleicht die Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Spinnen­ metaphorik: Es wird so weiter gehen. Thema des Aphorismus 28 ist die Lächerlichkeit des »Geschäfts­ mannes« (EO 34), der es eilig hat, der keine Zeit hat, der funk­ tioniert. Die rhetorische Frage »Was richten sie schon aus, diese geschäftigen Eilighaber?« (EO 34) verrät: Diese allzu beschäftigten Menschen tun in Wahrheit, mit Blick auf die eigentliche Dimension des Lebens, nichts. Der Ästhetiker sieht in der beschleunigten Berufsund Geschäftswelt den Nihilismus. Im folgenden Aphorismus 29 beschreibt sich A dann selbst als ungeduldig und »in größter Eile 571

Hackel stützt die hier vorgeschlagene Interpretation (vgl. Hackel (2011) 396 f.).

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durchs Leben stürz[end]« (EO 34), also mit denselben nihilistischen Prädikaten. Auch er hat keine Zeit. Gleichzeitig aller Dinge überdrüs­ sig zu sein und Hunger zu haben (vgl. EO 34) beschreibt eine Diskre­ panz zwischen Gesuchtem und Gebotenem. Seine Erwartungen und Fragen bleiben von der Welt unbeantwortet. In Aphorismus 30 geht es um A’s Unmöglichkeit, Gründe angeben zu können (vgl. EO 34). Das Fehlen des Grundes im mehrdeutigen Sinn von Fundament und Rechtfertigung war bereits Motiv der Spinnenmetaphorik. Aphoris­ mus 32 »Das Leben ist mir bitterer Trank geworden« (EO 35) zeigt mit dieser Metapher den Bruch A’s mit dem Leben. Das Leben ist beschwerlich, es ist Last geworden. »Niemand kehrt von den Toten zurück, niemand ist anders denn weinend in die Welt hineingegangen; niemand fragt einen, wann man hinein, niemand, wann man hinaus will« (EO 35). Dieser Aphorismus (Nummer 33) skizziert das sich ungefragt in der Welt Vorfinden sowie die radikal endliche Dimension des Lebens. Die Bestimmtheit des ›dass‹ des Todes bei gleichzeitiger Unbestimmtheit des ›wann‹ kennzeichnet es. Man könnte hinzufügen, dass nicht nur das ›wann‹ sondern auch das ›ob‹ des in die Welt Kommens ungefragt geschah. Im Aphorismus 34 beschreibt A, im Anschluss an die in Aphorismus 33 skizzierte zeitliche Dimension des Lebens, das Stillstehen der Zeit im eigenen Leben. A lebt in diesem Sinne nicht. Grund ist das Zurückfliegen der Pläne auf ihn (vgl. EO 35). Der Ästhetiker entwirft lediglich Pläne, ohne sich für eine dieser Möglichkeiten entscheiden und sie in der Welt realisieren zu können. Gleich den hyperaktiven Geschäftsleuten (vgl. EO 34) tut er nichts. »Wenn ich morgens aufstehe, gehe ich gleich wieder ins Bett. Am wohlsten befinde ich mich am Abend, in dem Augenblick, da ich das Licht lösche, die Decke über den Kopf ziehe« (EO 35). Aphorismus 35 ergänzt das Bild des Nicht-Leben-Könnens. A ist unfähig, etwas in der Welt zu realisieren – genau weil es keinen Grund gibt (vgl. EO 33 f., Aph. 24 und 30). Er tauge »zu nichts oder zu allem Möglichen« (EO 35 Aph. 36). Alles Mögliche und Nichts läuft auf dasselbe hinaus. Der Ästhetiker kann seine Aufgabe nicht wählen oder nicht erkennen. Seine Begabungen sind uneindeutig. Es gibt nichts zu tun im Sinne eines (Auf-)Gegebenen. Aphorismus 37 führt diesen Gedanken fort: Der Ästhetiker ist sich selbst ein Rätsel. Zur Dimension einer göttli­ chen Vorsehung, Bestimmung oder Aufgabe hat er keinen Zugang (vgl. EO 36). Seine Wünsche sind »absonderlich und ungeduldig« (EO 36). Als Beispiel führt er an, in diesem Augenblick sein Erstgeburts­

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recht für einen Teller Buchweizengrütze herzugeben. Er entscheidet entsprechend seiner »momentanen Leidenschaft« (EO 36), ohne dass die Kohärenz einer Person erkennbar wäre, geprägt hier durch positive Erinnerungen an seine Kindheit. Der Wille des Ästhetikers macht für uns keinen Sinn, er hat etwas Unmenschliches. Analog zum Märchen des Zauberers Virgilius beschreibt sich A als jemand, der ungeduldig zu früh »in den Kessel des Lebens und der geschichtlichen Entwick­ lung« (EO 36 Aph. 39) geblickt hat. Seiner Selbsteinschätzung nach weiß A zu viel, weiß etwas über das Leben, das er nicht hätte wissen sollen. Aphorismus 40 polemisiert gegen die Predigt Jesper Mortens, man »erblicke in den Wolken eine hilfreiche Hand« (EO 36). A habe »unter freiem Himmel« (EO 36) noch nie etwas Derartiges bemerkt, und als er einmal etwas gesehen habe, habe es sich als Wasserhose herausgestellt. Für den Gedanken von so etwas wie göttlichem Beistand oder Hilfe hat A nur Spott übrig, skizziert seine Position radikal atheistisch. In Aphorismus 41 diagnostiziert A in seiner Zeit einen Mangel an Leidenschaft, ein kaufmännisches Denken und Pflichterfüllen, gegenüber dem die Charaktere Shakespeares und des Alten Testa­ ments »Menschen sind« (EO 37). Er schreibt also das Prädikat des in diesem Sinne Unmenschlichen den Menschen seiner Zeit zu. In seiner Zeit sündige man auch nicht wirklich, sondern beschneide die Münze ein klein wenig (vgl. EO 37). A skizziert einen wohl berechnenden Versuch, sich bequem und möglichst risikolos durchs Leben zu mogeln. Gemäß Aphorismus 42 besteht seine Zeit zur Hälfte aus Schlafen und zur Hälfte aus Träumen, wobei dem Schlaf ein höherer Wert zukomme (vgl. EO 37 f.). A nimmt hier wieder das Motiv des Nicht-Handelns auf, der Passivität, der Phantasie ohne Realisierung. Das Resultat meines Lebens wird gar nichts sein, eine Stimmung, eine einzelne Farbe. Mein Resultat wird Ähnlichkeit haben mit dem Gemälde jenes Künstlers, der den Durchgang der Juden durch das Rote Meer malen sollte und zu dem Ende die ganze Wand rot anstrich, indem er erklärte, die Juden seien schon hindurchgegangen und die Ägypter ertrunken (EO 38).

Das Leben des Ästhetikers führt zu nichts. Synonym zu ›nichts‹ ist hier der Begriff der Stimmung. Dahinter steht die durch die Erzählung angedeutete Theorie, dass letztlich alles zu nichts führt, dass kein Augenblick es wert ist, festgehalten zu werden. Das ›vorbei‹ kenn­ zeichnet das Leben. Aphorismus 45 polemisiert gegen den Begriff der

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Menschenwürde mit dem Beispiel des Vogels, der aus Respekt vor der menschlichen Gestalt von der Vogelscheuche ablasse (vgl. EO 45). Der Begriff der Würde des Einzelnen ist für A problematisch. »Der beste Beweis, der sich für die Jämmerlichkeit des Daseins führen lässt, ist der, den man aus der Betrachtung seiner Herrlichkeit herleitet« (EO 38). Der Ästhetiker vertritt in diesem Aphorismus (Nummer 47) die These der Jämmerlichkeit, der Negativität des Lebens und beansprucht mit den mathematischen Begrifflichkeiten ›Beweis‹ und ›Herleitung‹, diese These auch begründen zu können. A behauptet hier also die Begründbarkeit der Negativität aus der Posi­ tivität. Jedes Positive über das Leben impliziert also eine Kehrseite, die das wahre Gesicht oder die Wahrheit über das Leben aussagt und die sich an der positiven Seite bereits aufzeigen lässt. Die tief pessimistische Position sieht im Positiven das Negative. Das Adverb ›beste‹ fügt hinzu, dass es noch andere Wege gibt, die Negativität des Lebens aufzuzeigen. Aphorismus 48 beschreibt mittels des Beispiels von Zwerg und Prinzessin das Genussstreben der Menschen als ein am Genuss vorbei Hasten. Der Aphorismus greift das Bild der Eile aus Aphorismus 28 wieder auf. In seinem beschleunigten Streben nach Genuss oder Lust verfehlt der moderne Mensch sein Ziel. Das Ergebnis ist nicht, was er sich erhofft oder versprochen hatte, der Grund dafür ist das »zu sehr« (EO 38), das ›zu schnell‹. Er verliert sein Ziel aus dem Blick. Die Bewegung, die einmal Mittel zur Zielerreichung war, habe sich ver­ selbständigt. In den Diapsalmata bietet die passiv-handlungsunfähige Position des Ästhetikers aber keinen sinnvollen Gegenentwurf gegen Beschleunigung und Hyperaktivität des modernen Menschen. Beide sind nihilistisch, ohne »Resultat« (EO 38) – beides führt zu nichts und ist in sich sinnlos. In Aphorismus 49 beschreibt der Ästhetiker die Schwere sei­ ner Seele, die keinen Gedanken tragen könne, also das Gefühl des Nichtgetragenseins. »Über meinem inneren Wesen brütet eine Beklemmung, eine Angst, die ein Erdbeben ahnt« (EO 39). Das Zitat beschreibt zum ersten Mal in den Diapsalmata die Grundstimmung A’s mit dem Schlüsselbegriff der Angst, hier verbunden mit der Metaphorik der Ahnung eines Erdbebens. A ahnt, dass die das Leben tragende Tiefenschicht, der Grund in diesem Sinne, nicht fest ist. Charakteristisch für ein Erdbeben ist, um die Metapher weiter zu denken, dass die tektonischen Platten stets in Bewegung sind und wir

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nur Beben ab einer gewissen Stärke wahrnehmen. Das Gefühl des Festen ist immer Illusion. Wie ist das Leben so leer und bedeutungslos! – Man begräbt einen Menschen; man gibt ihm das Geleit, man wirft drei Spaten Erde auf ihn; man fährt hinaus in der Kutsche, man fährt heim in der Kutsche; man tröstet sich damit, dass noch ein langes Leben vor einem liege. Wie lange wären wohl 7 x 10 Jahre? Warum macht man es nicht auf einmal ab, warum bleibt man nicht draußen und steigt mit ihm hinunter ins Grab und zieht das Los, um zu bestimmen, wen das Unglück treffen soll, der letzte Lebende zu sein, der die letzten drei Spaten Erde auf die Toten wirft (EO 39)?

Thema dieses Aphorismus 50 ist eine Tiefe Sinnlosigkeit des Lebens angesichts der Endgültigkeit seines Endes. Der Begriff der Leere ist hier der zweite zentrale Begriff. Selbst der Gedanke, ein 70-jähriges Leben sei lang, sei Illusion. Im Grunde ist der Mensch unmittelbar mit dem Tod konfrontiert. A formuliert nun, es wäre besser, gleich begraben zu werden als weiter zu leben, schlägt vor auszulosen wer weiter leben müsse. Das Leben, so wie es sich uns zeigt, mache keinen Sinn, ist es nicht wert gelebt zu werden. Aphorismus 51 schließt hier an: Schönheit schwinde »wie ein Traum« (EO 39), sie ist aufgrund ihrer Vergänglichkeit nicht mehr wert als eine Illusion. Aphorismus 52 verwendet zum ersten und einzigen Mal in den Diapsalmata den für das Ästhetische bei Kierkegaard ebenso zentralen Begriff der Langweile. A ist gelangweilt vom Schicksal, es gebe »immer nur dasselbe« (EO 39). Er sehnt sich nach dem Tod, der dagegen nichts verspreche und alles halte (vgl. EO 39). Der Gegensatz impliziert, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Der folgende längere Aphorismus 53 beschreibt für Augenblicke aus dem Lärm hervortauchende Gegentöne eines armen Künstlerpaares (vgl. EO 40) und damit so etwas wie eine positive Augenblickserfahrung der Musik inmitten des Negativen. In Aphorismus 54 macht A eine Analogie zwischen brennenden Theaterkulissen, die die Zuschauer für inszeniert und den Bericht darüber für einen Witz halten, und dem Zugrundegehen der Welt (vgl. EO 41). Dies impliziert zunächst einmal die Diagnose des Untergangs. Die Menschen verstehen diese nicht, sie verstehen den Ernst der Lage nicht, und man kann es ihnen auch nicht vermitteln. Die Form der direkten Mitteilung wird im gegebenen Kontext nicht verstanden, nicht ernst genommen, weil dieser nicht ernst ist. Der Alltagsmensch versteht nicht, wie ihm geschieht, auch wenn man es ihm sagt. Er

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glaubt sich zu amüsieren, glaubt, es gehe ihm gut. Diese Verkehrungs­ struktur ist nicht direkt auflösbar. A diagnostiziert also eine kulturelle Situation, in der ein Bruch, ein Abbruch vonnöten wäre, weil Gefahr droht, aber dieser Bruch gelingt nicht, seine Notwendigkeit wird nicht verstanden, jedes Alarmsignal wird in das Gewöhnliche integriert. Aphorismus 55 stellt direkt die Frage nach dem Sinn des Lebens: »Was ist überhaupt der Sinn des Lebens« (EO 41)? Zur Antwort differenziert A nun, wie er sagt »zwei große Klassen von Menschen« (EO 41). Die erste Gruppe müsse arbeiten, um zu leben, die zweite habe es nicht nötig. Die Differenz ist also sozioökonomisch. »Aber dass man arbeitet, um zu leben, kann ja nicht der Sinn des Lebens sein, da es doch ein Widerspruch ist, dass das fortgesetzte Schaffen der Bedingungen die Antwort sei auf die Frage nach dem Sinn dessen, was durch jenes bedingt sein soll« (EO 41). Dieses Argument spricht der ersten Gruppe ein sinnvolles Leben ab, genauer gesagt kann allein in der Produktion und Reproduktion der Bedingungen zur Erhaltung des Lebens kein Sinn liegen, da es eben nur die Bedingun­ gen sind, um leben zu können. Das gilt auch für Kinder. Dass wir und zukünftige Generationen leben können, beantwortet genau nicht die Frage, was wir tun sollen und warum. Jede These, dass die Erhaltung des Lebens der Sinn des Lebens sei, ist also nihilistisch. A spricht darauf auch der zweiten Gruppe den Sinn ab, allerdings ohne dies weiter zu erläutern. Die übrigen zehren die Bedingungen auf (vgl. EO 41). Sie konsumieren, lebten auf Kosten der ersten Gruppe, die diese Bedingungen erwirtschaftet. Der Sinnbegriff, den A diesem Tun zuschreibt, meint eher ›Funktion‹. Der letzte Satz des Aphorismus lehnt die These ab, der Sinn des Lebens sei das Sterben. Diese sei widersprüchlich (vgl. EO 41). Damit lehnt der Aphorismus drei gängige, relativ naive Antworten auf die Sinnfrage ab. Es fehlt eine übergreifende Struktur, die das von A hier beschriebene Ganze in einen Sinnzusammenhang einbettet. In Aphorismus 57 schreibt der Ästhetiker, er sei nicht Herr seines Lebens, sondern bloß ein Faden in einem großen Gewebe (vgl. EO 41). Man könnte dies als eine Ohnmachtserfahrung, einen Mangel an Spielraum interpretieren. Er spinne nicht, könne den Faden jedoch abschneiden (vgl. EO 41). A verortet also hier die Freiheit in der Möglichkeit des Selbstmords. Das In-die-Welt-Kommen und das In-der-Welt-Handeln scheinen uns entzogen. Die Idee der Freiheit konkretisiert sich dagegen in der Idee des Selbstmords, im Neinsagen zum Leben.

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In Aphorismus 59 bezeichnet es der Ästhetiker als seine schein­ bare Bestimmung, »alle möglichen Stimmungen zu durchleiden, Erfahrungen in alle Richtungen zu machen« (EO 41). Das Substantiv Stimmung wird hier im Plural gebraucht, die Stimmung des Ästheti­ schen ist also entweder nicht auf eine Stimmung reduzierbar oder Ergebnis des Durchlebens einer Vielzahl davon. A vergleicht sich mit einem Kind, das draußen mitten im Meer schwimmen lernen soll, einen Gurt trage, aber die Stange, die es halten soll, nicht sehe (vgl. EO 42). Das offene Meer ist ein äußerst ungeeigneter Ort, schwimmen zu lernen. Der Metaphorik folgend fehlt dem Menschen Raum zur Übung. Er ist sofort mit dem Ernst der Lage konfrontiert, der Aufgabe als Ganzen, dem Kampf um Leben und Tod. Dazu greift das Bild das Gefühl der Haltlosigkeit wieder auf. Der Mensch bedarf in seiner Lage eines festen Halts und die Voraussetzungen scheinen teilweise gegeben, aber er sieht diesen Halt nicht und lebt in dem Gefühl, ihn nicht zu sehen. Das Leben »ist eine schreckliche Art, Erfahrungen zu machen« (EO 42). Auf die Pluralität von Erfahrungen folgt also nun doch wieder ein Bild, in dem A diese Erfahrungen im Plural macht. Die Erfahrungen scheinen doch konkretisierbar und eingrenzbar zu sein – vielleicht als ein die Einzelerfahrungen übergreifender Erfahrungshorizont. Aphorismus 60 skizziert das Bild der Ewigkeit als Gegensatz von der ewigen Wiederholung des Falschen, der Wiederholung von 6 + 7 = 14, und einer »üppigen weiblichen Schönheit in einem Harem« (EO 42).572 Laut A ist die Wiederholung des Falschen das adäquate Bild des Ewigen, die Haremsdame hingegen das illusorische. »Was die Philosophen über die Wirklichkeit sagen, ist oft so irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schild liest: Wäschemangel. Würde man mit seiner Wäsche kommen, um sie mangeln zu lassen, so wäre man angeführt; denn das Schild steht dort nur zum Verkauf« (EO 42). Der Ästhetiker kritisiert in Aphorismus 61 das Verhältnis der akademischen Philosophie (seiner Zeit) zur Wirklichkeit. Es geht dort nicht um die Wirklichkeit, und der Begriff des Wirklichen in der Philosophie ist irreführend, verkehrt.573 Die Metapher des Trödlers suggeriert darüber hinaus noch eine ökonomi­ sche Dimension: Man ist in der Akademie Händler oder Verwalter der Die Differenz der deutschen Übersetzung zwischen Abbild und Sinnbild der Ewigkeit findet sich im Original als Bild von der Ewigkeit und Bild über die Ewigkeit, »et Billede af Evigheden [...] et Billede paa Evigheden« (SKS 2, 41). 573 Zur Hegelkritik Kierkegaards vgl. Hühn (2009) 169. 572

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großen Fragen, aber man tut im eigentlichen Sinne nicht, was darauf steht. Philosophie ist ein Geschäftsfeld geworden, ein Beruf wie jener andere. Für den Suchenden ist das Etikett irreführend. Aphorismus 62 thematisiert die Gefahr der Erinnerung, die reichlicher sättige. In der Erinnerung an ein Lebensverhältnis ist die­ ses jedoch vorüber. »Sie [Bezug: die Erinnerung] hat eine Sicherheit, wie keine Wirklichkeit sie besitzt« (EO 42). Die Wirklichkeit ist also unsicher, sie lässt uns unzufrieden zurück. Die Erinnerung ist nicht die Wirklichkeit, sondern eine nostalgische Erinnerung, die die Illusion von Zufriedenheit suggeriert. Im folgenden Aphorismus 63 ist der Begriff des Grundes im Sinne des Motivs zentral. A erklärt, er solle Tagebuch führen, weil er die Gründe der »entscheidenden Schritte« (EO 43) in seinem Leben vergessen habe. Er fragt sich, warum er seine Stellung als Hilfslehrer gekündigt habe, da diese doch etwas für ihn wäre, und erinnere sich, dass er sie aufgegeben habe, weil er dafür geeignet war und es für ihn dort »alles zu verlieren und nichts zu gewinnen« (EO 43) gab. Statt dessen habe er eine ungeeignete Stelle gesucht. Zentral ist hier die Abwesenheit der Gründe wichtiger Lebensentscheidungen, die als Vergessen dargestellt werden. Der Erinnerung gelingt nur eine absurde Logik, hinter der sich maximal eine Angst zu scheitern als nachvollziehbarer Gedanke verbirgt. A skizziert den Grund selbst als stimmungsabhängig, als nicht (nur) rational. Aphorismus 64 vergleicht die Vergeblichkeit, durch Rufen und Schreien etwas an seinem Schicksal ändern zu können, mit dem Ruf eines Kindes nach einem guten Stück Fleisch, den der Kellner kaum hört und nicht beachtet. Und selbst wenn der Ruf sogar bis in die Küche vorgedrungen wäre, so gäbe es vielleicht kein gutes Stück (vgl. EO 44 f.). Die Hoffnungen des Menschen, über das hinauszukommen, was er vorfindet, sind also vergeblich. Niemand hört ihn, und womög­ lich gibt es das vorgestellte Positive gar nicht. »Jetzt rufe ich nicht mehr« (EO 45). Konsequenz der Erfahrung der Vergeblichkeit ist Resignation. In Aphorismus 66 äußert A seine Liebe zur Trauer und zum Schweigen der Stille der Nacht (vgl. EO 44), seine Verbundenheit mit dem Negativen und Dunklen, das er vorfindet, dessen Überwin­ dung Illusion ist (vgl. dazu EO 43 f. Aph. 64), dessen nostalgische Verklärung droht (vgl. dazu EO 42 Aph. 62). In Aphorismus 67 macht A eine Analogie zu Parmenikus, der die Fähigkeit zu lachen verlor, sie beim Anblick eines »unförmlichen Klotzes« (EO 44) als Bild einer Göttin wiedergewann:

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[...] als ich älter wurde, als ich die Augen aufschlug und die Wirklich­ keit betrachtete, da musste ich lachen und habe seitdem nicht damit aufgehört. Ich sah, dass es der Sinn des Lebens ist, einen Broterwerb zu finden, und sein Ziel, Justizrat zu werden; dass es die reiche Lust der Liebe ist, ein wohlhabendes Mädchen zu heiraten; dass es der Freundschaft Seligkeit ist, einander in Geldverlegenheiten auszuhel­ fen; dass Weisheit ist, was die meisten darunter verstehen; und dass Begeisterung ist, eine Rede zu halten; dass Mut ist, eine Geldstrafe von 100 Talern zu riskieren; dass Herzlichkeit ist, nach dem Mittagessen »Wohl bekomm’s!« zu sagen; dass Gottesfurcht ist, einmal im Jahr zum Abendmahl zu gehen. Das sah ich, und ich lachte (EO 44).

Im Zentrum stehen hier die Begriffe ›Sinn‹ (vgl. dazu EO 41 Aph. 55) und ›Wirklichkeit‹ (vgl. dazu EO 42 ff. Aph. 61 ff.). A entwickelt hier – man könnte es eine Phänomenologie des Nihilismus nennen – die These der Sinnleere der Wirklichkeit anhand von Beschreibungen der Perversionen von Beruf, Liebe, Freundschaft, Bildung, Tugenden, Mitmenschlichkeit und Religiosität.574 Das alltägliche Dahinleben der Mehrheit, risikolos, verheiratet und erfolgreich, sozial gut integriert, ist vom Standpunkt des Ästhetischen aus analog zum Bild der Göttin eine Deformation, eine Perversion des eigentlich Erwarteten. Es ist bodenlos nihilistisch und lächerlich, das Gegenteil unserer Sinner­ wartungen. Auch für den Ästhetiker ist die Perversion des Religiösen hier der Sache nach zentral: Weil die tragende Tiefenschicht fehlt, ist alles ohne Sinn. Das Lachen A’s gibt die Lächerlichkeit der Illusion preis, halbbewusst zu glauben, im alltäglichen Dahinleben ein sinn­ volles und gelingendes Leben gefunden zu haben, und markiert zugleich ein überlegenes Lachen des höheren Standpunkts, der diese Wirklichkeit durchschaut. Zu fragen bleibt, ob die pervertierten Werte im Hintergrund hier durch den Ästhetiker ex-negativo positiv besetzt sind, und was das für seine Position bedeutet, die drei Aphorismen davor andeutete, dass es das Positive, metaphorisch das gute Stück Fleisch, vielleicht gar nicht gibt (vgl. EO 44 Aph. 64). A’s Konzeption ist nicht widerspruchsfrei – und nimmt dies auch nicht für sich in Anspruch. Aphorismus 68 macht eine Analogie zur Fessel des mythologi­ schen Fenris-Wolfs, die harmlos aussah, aber magisch war, hergestellt aus Paradoxa, aus dem Lärm der »Pfoten der Katze […], aus dem Bart von Frauen, aus den Wurzeln der Felsen, aus dem Gras des Bären, aus 574 Das Werk vollzieht hier den vollständigen Bruch mit der familiären und gesell­ schaftlichen Wirklichkeit (vgl. Theunissen / Greve (1979) 25).

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dem Atem der Fische und dem Speichel der Vögel« (EO 45). A zieht nun von dort her die Analogie zu seinen Fesseln »aus dunklen Ein­ bildungen, aus ängstigenden Träumen, aus unruhigen Gedanken, aus bangen Ahnungen, aus unerklärlichen Ängsten« (EO 45), die analog zum Mythos weich, aber »unerreichbar« (EO 45) seien. Der Ästheti­ ker beschreibt sich hier als gefesselt durch das Negative, als hand­ lungsunfähig. Von außen betrachtet sieht es nicht nach einem großen Problem aus, ist aber unüberwindbar. Die Analogie liegt zum einen im Paradox als Ursprung der Fesseln. Zum anderen aber auch darin, dass die Fesseln nur weich aussehen, in der Tat aber unzerreißbar sind. Die Überwindbarkeit ist oberflächliche Illusion, und wenn man den theoretischen Hintergrund kennt, im Mythos der Zauber, in der Ana­ logie die Argumente für den Nihilismus, dann ist Unüberwindbarkeit durchaus verstehbar und rational einsehbar. Das Fehlen des Grundes erklärt unerklärliche Ängste und die Erfahrung des Negativen (vgl. EO 33 ff.). In Aphorismus 69 erzählt A ironisch, wie er in der Schulzeit und zur Aufnahmeprüfung der Universität sehr gut bewertete theologi­ sche Aufsätze schrieb, etwa einen Beweis über die Unsterblichkeit der Seele, und nun mit 25 Jahren keinen Beweis mehr führen könne. Man solle diese Aufsätze besser aufbewahren (vgl. EO 45 f.). Zum einen skizziert er hier den Weg der Bildung als ein Immer-weniger-zu-wis­ sen-Glauben, zum anderen sind die Bewertungsmaßstäbe der Bil­ dungsinstitutionen in diesem Sinne nichts wert. Sie tun nicht, was sie vorgeben zu tun (vgl. dazu EO 42 Aph 61). Zur Erkenntnis der Wahrheit bin ich vielleicht gekommen; zur Selig­ keit freilich nicht. Was soll ich tun? In der Welt wirken, antworten die Menschen. Sollte ich denn der Welt meinen Kummer mitteilen, noch einen Beitrag liefern zum Beweis dafür, wie traurig und erbärmlich alles ist, vielleicht einen neuen Flecken am Menschenleben entdecken, der bislang noch unbemerkt geblieben war? Ich könnte dann den seltenen Lohn ernten, berühmt zu werden, gleich jenem Mann, der die Flecken im Jupiter entdeckte. Ich ziehe es jedoch vor zu schweigen (EO 46).

Dieser Aphorismus 70 beansprucht zum ersten und einzigen Mal in den Diapsalmata den Begriff der Wahrheit im Singular für die Position des Ästhetischen. Zunächst scheint dieser Begriff durch das Adverb ›vielleicht‹ eingeschränkt zu werden, wird dann aber durch das Substantiv ›Beweis‹ bekräftigt. Die Wahrheit ist negativ. Sie ist

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traurig und erbärmlich, macht nicht selig. Die Frage ›Was soll ich tun?‹ zeigt darüber hinaus, dass mit der Entdeckung der Wahrheit über das Leben diese kantische Frage575 noch nicht beantwortet ist. A zufolge ist die Mitteilung der negativen Wahrheit ebenso sinnlos, die Klärung ihrer Detailfragen unbedeutend. Daher fällt er die Entscheidung zu schweigen – und schreibt doch dieses Fragment, das Kierkegaard zwei Erzählebenen höher veröffentlicht. »Mein Leben gleicht einer ewigen Nacht; wenn ich einst sterbe, so kann ich mit Achilles sagen: Du bist vollbracht, Nachtwache meines Daseins« (EO 46). Dieser Aphorismus (Nummer 72) nutzt für das Leben die Metapher von Nacht und Nachtwache. Der Mensch ist wach, bei klarem Bewusstsein, aber es gibt nichts zu erkennen. Wäre er gesund oder die Dinge in geregelten Bahnen, würde er vielleicht schlafen. Er lebt jedoch im Zustand der Alarmbereitschaft, vergleichbar mit der Ahnung des Erdbebens (vgl. EO 39 Aph. 49). Es ist ruhig, es passiert nichts, aber er kann trotzdem nicht entspannt und gelassen sein. Mit den Worten »Mein Leben ist völlig sinnlos« (EO 46) beginnt Aphorismus 73. Der Begriff der Sinnlosigkeit kommt hier nach Apho­ rismus 33 zum zweiten Mal vor (vgl. EO 33). Zur Erläuterung ver­ gleicht A die, wie er sagt, Epochen seines Lebens mit dem deutschen Homonym ›Schnur‹ im Wörterbuch, das sowohl Bindfaden als auch Schwiegertochter bedeutet, und noch weitere Bedeutungen wären dem Argument nach passend. Das Problem des Ästhetikers ist also, das seinem Leben keine eindeutige Bedeutung zukommt, dass sein Sinn mehrdeutig, interpretierbar, Kontext-relativ, aber eben nicht absolut klar ist. Kontextrelativität und Sinnlosigkeit sind demnach A zufolge dasselbe. In Aphorismus 74 vergleicht A sein Denken mit der Tätigkeit eines Trüffelschweins, das für andere etwas aufwühle, aber selbst keine Freude darin finde (vgl. EO 47). Es liegt also schon eine Qualität im Denken A’s, aber es führt für ihn zu keinen positiven Ergebnis. »Vergebens widerstrebe ich. Mein Fuß gleitet. Mein Leben wird dennoch eine Dichter-Existenz. Lässt sich etwas Unglücklicheres denken? Ich bin ausersehen; das Schicksal lacht über mich, wenn es mir plötzlich zeigt, wie alles, was ich dagegen tue, Moment eines solchen Daseins wird« (EO 47). In Aphorismus 75 beschreibt A sich als eine ›Dichter-Existenz‹ wider Willen, wobei gerade sein 575

Vgl. Kant, Logik 448.

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Versuch, dem Ästhetischen zu entkommen, Teil dessen wird, es am Ende sogar ausmacht. Der Dichter will nicht Dichter sein und ist deshalb Dichter. Die Selbstbezeichnung als Dichter erfolgt hier zum zweiten Mal nach dem eröffnenden Aphorismus 1 (vgl. EO 27). Zum Missverstanden-Werden kommt also noch die Unfreiwilligkeit dazu. Er kann nicht anders, aber er will anders, und gerade, dass er anderes will, schlägt um in sein Gegenteil. Aphorismus 76 sagt, es gebe doch einen Beweis für das Dasein Gottes, und nimmt damit Bezug auf Aphorismus 69 (vgl. EO 45). Dafür zitiert er auf Griechisch die Ritter des Aristophanes. Der ent­ scheidende Satz ist hier »Weil mich die Götter hassen!« (EO 47)576. Sicher ironisch gemeint ist dies hier eine Art negativer Gottesbeweis. Der Hass der Götter, ihre Präsenz im Modus des Negativen, wird zu ihrem Beweis. Zentrale Begriffe des Aphorismus 77 sind Langeweile, Leere, Tod und Zweifel. A bezeichnet die Langeweile als den stärksten und höchsten Ausdruck, die Leere als das, was er sehe, wovon er lebe worin er sich bewege (vgl. EO 47 ff.). Damit rücken die Begriffe Langeweile und Leere an die Stelle metaphysischer Begriffe wie etwa ›Prinzip‹ und ›Welt‹. Als Grund des Leidens des Ästhetikers wird hier ausdrücklich die Langweile benannt und nicht der Schmerz. Der Schmerz wird, mittels der Mythen von Prometheus und Loki, als harmloser gegen­ über dieser Langeweile benannt. Die These ist, dass das Leiden an der Frage nach dem Sinn des Lebens das schlimmste Leiden des Menschen ist, schlimmer als der physische Schmerz. Das Leben werde zum ›Sterben des Todes‹ (vgl. EO 48)577, Leben ist Sterben geworden. Jeder Glaube werde vom Zweifel zerfressen. Der Ästhetiker stellt hier den religiösen Glauben, der Berge versetzt, der jede Prüfung besteht, der das Endliche und Unendliche verbindet (vgl. EO 48), explizit als Gegenposition dar. Der Glauben wäre der Weg zur Welt und zum Leben, aber der tiefere Zweifel des Ästhetikers mache diesen unmög­ lich und verursacht sein Leiden. In Aphorismus 78 wundert sich A über seine Angst sowohl vor dem Weiterleben als auch vor dem Verlust des Lebens und fragt, ob ihm der Mut zum Selbstmord durch Erschießen fehle (vgl. EO 48). Das ist einmal die Äußerung, dass etwas im derart leidenden Übersetzung in den Endnoten des Herausgebers. »Jeg døer Døden« (SKS 2, 46) D: Ich sterbe den Tod. Die Formulierung findet sich auch in der Krankheit zum Tode und wird dort erläutert als ein Durchleben des Sterbens (vgl. KT 37). 576

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Menschen noch am Leben hängt, und dazu die Frage, ob Selbstmord konsequent und Weiterleben nur eine Frage fehlenden Mutes sei, oder ob, so die implizite Gegenposition, Weiterleben mutig und konsequent ist. Der Ästhetiker nennt hier den Tod durch Zufall als Ausweg (vgl. EO 48). Offenbar gibt es für ihn keinen anderen Ausweg. Für den Zweifler ist auch die Frage nach dem Selbstmord unlösbar, da dieser eine Handlung, eine Entscheidung wäre. Dazu ist er aber nicht fähig (vgl. dazu EO 30, 38, 45). Deshalb lebt er das Sterben. Aphorismus 78 polemisiert über die Tautologie als höchstes Prinzip (vgl. EO 48 f.), auf Fichtes ersten Grundsatz der Wissen­ schaftslehre und die akademische Philosophie seiner Zeit anspielend. In Aphorismus 80 bezeichnet A sich als unproportioniert mit zu kur­ zen Vorderbeinen (vgl. EO 49), also als Tier statt als Mensch. Er bezeichnet sich als Hase aus Neu-Holland, also als Känguru, der mit ungeheuren Sprüngen Freunde entsetze (vgl. EO 49). Die Analogie ist hier, dass A zu keiner ›normalen‹ sozialen Beziehung fähig ist, zu kräftig, fremd und eigenartig ist. Aphorismus 81 ist der längste Aphorismus der Diapsalmata, mit ›Entweder-Oder‹ betitelt, also dem Titel des Werks, dazu dem Untertitel »Ein ekstatischer Vortrag« (EO 49). Er beginnt mit einer Darstellung der Ausweglosigkeit, die »aller Lebensweisheiten Inbe­ griff« (EO 50) sei: Ob man heirate oder nicht, man werde beides bereuen, ebenso ob man über die Dummheiten der Welt lache oder weine, einem Mädchen traue oder nicht, sich erhänge oder nicht (vgl. EO 49). Er betrachte nicht wie nach Spinoza alles nach ewiger Art, sondern sei nach ewiger Art (vgl. EO 50). Darauf folgt die These, die wahre Ewigkeit liege im Entweder-Oder und falle somit in die Sukzessionszeit (vgl. EO 50). Im dann folgenden Abschnitt polemisiert der Ästhetiker mit einem Grundsatz, von dem er nicht ausgehe, als negativer Ausdruck seines Grundsatzes, der sich selbst begreife, gegen die Hegelsche Dialektik, mit dem Verweis darauf, dass jemand, der denke, an der skizzierten Gedankenbewegung sei etwas dran, nicht für Philosophie geeignet sei (vgl. EO 50). Gegen Hegel gerichtet ist auch die These, das Schwierige der Philosophie sei nicht das Anfangen, sondern das Aufhören (vgl. EO 51). Da A nicht von dem Grundsatz ausgegangen ist, kann er aufhören. Spekulativ habe er aber schon als er anfing aufgehört. A präsentiert hier das Ästhetische als eine Position, die sich in hohem Maße polemisch gegen die Position Hegels versteht. Dabei ist das Entweder-Oder, die Entscheidung des

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Einzelnen, Kernthese gegen Hegel, dem zufolge es in der Geschichte kein Entweder-Oder gebe.578 In Aphorismus 82 fragt A, warum er nicht in Nyboder geboren und warum er nicht als kleines Kind gestorben sei (vgl. EO 51 f.). Der Ästhetiker macht damit seine eigene Biographie hypothetisch, fragt, warum er der konkrete Mensch ist, der er ist, und nicht ein anderer, warum geschehen ist, was geschehen ist, und nicht etwas anderes. Er glaubt, derart von sich als konkretem Menschen abstrahieren zu kön­ nen. In Aphorismus 83 stellt der Ästhetiker dar, wie er niemals froh gewesen sei, aber glücklich scheine und die ihn beneidenden Menschen verachte (vgl. EO 51). Er täusche Glück, das Beleidigen und die Verschlossenheit lediglich vor. »Wenn nämlich die guten Menschen mich dahin bringen könnten, wirklich Unrecht zu haben, wirklich Unrecht zu tun, ja, dann hätte ich verloren« (EO 52). Der Ästhetiker fürchtet, gegenüber den Menschen, denen er sich aufgrund seiner Position überlegen fühlt und die er verachtet, im Unrecht zu sein. Er verstellt sich ihnen gegenüber, um das Risiko, eines Besseren belehrt zu werden, nicht eingehen zu müssen. Er möchte um jeden Preis Recht behalten.579 Anspielend auf die zehnte Plage im Buch Mose, den Tod der Erstgeborenen in Ägypten, beschreibt sich der Ästhetiker in Aphorismus 84 als immer mit einem Würgeengel neben sich (vgl. EO 52), also in der Gegenwart des Todes. Als Auserwählte bezeichnet er jedoch nicht die, die verschont werden, sondern die, bei denen der Tod eintritt (vgl. EO 52). A lebt mit Sehnsucht nach dem Tod. In Aphorismus 85 beschreibt A sich als »matt und kraftlos« (EO 52). Er habe alle Illusionen verloren, Wein, Lust und Freude helfen nicht mehr (vgl. EO 52 f.). Er ist einsam und erkennt, dass er es immer schon gewesen ist. Den Grund verortet A, erkennbar durch den Par­ allelismus der Formulierung »Meine Seele« (EO 52 f.), im Verlust der Möglichkeit – der Leidenschaft der Möglichkeit. Der Ästhetiker war also einmal von der Leidenschaft der Möglichkeit ergriffen, erkenne jetzt aber, dass es Illusion gewesen ist und hat damit alle Lebensen­ ergie verloren. Er glaubte zu wissen, was Möglichkeit bedeutet, aber diese Position hat sich als Illusion herausgestellt. Ohne einen Begriff Vgl. Hegel, GW 114. Dies entspricht der dämonischen Verzweiflung in der Krankheit zum Tode (vgl. KT 105 f.). 578

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von Möglichkeit hilft das utilitaristisch Gute nicht gegen die Leere. Dem Ästhetiker fehlt hier genau der theologische Begriff von Mög­ lichkeit aus Furcht und Zittern und Der Krankheit zum Tode. Sein eige­ ner stellt sich als Illusion heraus. »Wo die Strahlen der Sonne nicht hindringen, da dringen doch die Töne hin. Mein Zimmer ist dunkel und düster, eine hohe Mauer hält das Licht des Tages beinahe fern« (EO 53). Der Ästhetiker beschreibt sich in Aphorismus 86 in der Dunkelheit, getrennt durch eine Mauer von der Sonne, seit dem platonischen Höhlengleichnis in der Philosophiegeschichte Symbol für die Idee der Ideen. A führt diese Metaphorik jedoch weiter aus: Licht dringt nicht hindurch, aber Musik, ein Menuett aus Mozarts Oper Don Giovanni. Musik bereitet ihm Freude. Während der Apotheker, das Mädchen und der Stallknecht ihren routinemäßigen Arbeiten nachgehen, erfreue sich A in seiner Dunkelheit an dieser Musik, die er als an ihn gerichtet interpretiert (vgl. EO 53). Damit ist gegen den vorangegangenen Aphorismus 85 hier der Begriff ›Freude‹ positiv besetzt, etwa im Sinne von Entlastung. Mein Leid ist meine Ritterburg, die einem Adlerhorste gleich hoch oben auf der Berge Gipfel in den Wolken liegt; keiner kann sie erstür­ men. Von ihr fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und packe meine Beute; aber ich bleibe dort unten nicht, meine Beute bring ich heim, und diese Beute ist ein Bild, das ich hineinwebe in die Tapeten auf meinem Schloss. Dort lebe ich wie ein Toter. Alles Erlebte tauche ich hinab in die Taufe des Vergessens zur Ewigkeit der Erinnerung. Alles Endliche und Zufällige ist vergessen und ausgelöscht (EO 54).

Zentral in diesem Aphorismus 88 ist der Begriff des Leids. Dieses wird metaphorisch gefasst als Ritterburg, diese Metapher noch einmal metaphorisch als Adlerhorst. Das Leben als einsamer Raubvogel ist also die Metapher der Metapher, die den Aspekt der Höhe über der Wirklichkeit noch einmal stärker betont. Der Ästhetiker ist einsam in der Höhe, die Menschen und die Wirklichkeit sind weit unter ihm. Seine Beute sind Bilder, die er wieder vergisst. Das Leben des Ästhe­ tikers ist das Leben eines lebenden Toten ohne Bezug zur Welt oder zu Gott. Seine Festung ist gesichert. Er will diese Situation erhalten (vgl. dazu EO 51 f. Aph. 83). Wenn er als alter Mann einem Kind von den Bildern erzählt, so kennt dieses sie schon (vgl. EO 54). In diesem Sinn hat er einem Kind nichts zu sagen. Aphorismus 89 skizziert auf den ersten Blick ein Gegenbild zu Aphorismus 86, einen vom Sonnenschein erfüllten Raum mit

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offenem Fenster, Lerchengesang und dem Fenster eines hübschen Mädchens. A erinnert sich an seine Jugend und seine erste Liebe, betrachtet beide jedoch aus heutiger Sicht als Traum und deren Inhalt. Er sehnt sich nur nach dieser Sehnsucht (vgl. EO 54). Die Sehnsucht des Ästhetikers hat also allen Gehalt verloren, geblieben ist die Sehnsucht nach der Sehnsucht. Jeder Gehalt hat sich als Illusion, als naiv erwiesen. Er kann noch nicht einmal etwas träumen und träumt paradoxerweise davon, Träume zu haben. Die Position deckt sich mit dem in Aphorismus 85 dargestellten Verlust des Möglichen. Im abschließenden Aphorismus 90 stellt A dar, dass er sich im siebenten Himmel nicht Jugend, Schönheit, Macht oder eine Frau wünsche, sondern immer die Lacher auf seiner Seite zu haben. Die Götter lachen, und er interpretiert dies als ihre Zustimmung (EO 54 f.). A schlägt also alles aus, was weltlich als Glück gilt, und hinter­ geht mit seiner ironischen Interpretation den Spott der Götter, zieht die Götter auf seine Seite, interpretiert ihr Einverständnis. Gegenpo­ sition zum Ästhetischen ist hier im letzten Satz das »Ernsthafte« (EO 55).

4.3 Zwischensynthese Laut dem fiktiven Herausgeber Victor Eremita sind die Diapsalmata aphoristisch, nicht widerspruchsfrei, und das begriffliche Sortieren lohne nicht. Dennoch soll hier der Versuch einer Synthese des soeben Analysierten versucht werden. Das zentrale Motiv der Diapsalmata ist die Diagnose der Bodenlosigkeit, das Fehlen eines tiefen Grundes, das mit verschiedenen Metaphern erfasst wird, etwa der Spinne oder der Ahnung des Erdbebens, verbunden mit einer Diskrepanz zwischen Erwartung und Gebotenem. Konsequenzen dieser Diagnose sind erlebte Sinnlosigkeit, eine durch die Fessel- oder die Schachmetapher ausgedrückte Handlungsunfähigkeit, und die Kritik derer, die im Alltag dahinleben und dieses Problem nicht sehen. Seine Einsicht führt A dagegen zur Frage nach der Konsequenz des Selbstmords. Dabei weist er Facetten des Dämonischen auf: Er glaubt von sich selbst und seinem konkreten Leben abstrahieren zu können, und er will um jeden Preis Recht behalten. Er erkennt die Grenzen seines Begriffs des Möglichen, ihm fehlt der in Furcht und Zittern und der Krankheit zum Tode skizzierte theologische Begriff von Möglichkeit. A diagnostiziert die Gegenwart des Todes im Leben, kann diese Einsicht

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jedoch nicht, wie Kierkegaard in An einem Grabe, in einen Motor für ein gelingendes Leben umwandeln. Die Diapsalmata sind thematisch negativistisch und deuten zudem in der Beschreibung des Faktischen als verkehrtem Modus eines Seinsollenden die methodisch-negativis­ tische Grundfigur an. Der religiöse Glaube wäre die Antwort auf das Leiden des Ästhetikers, ist für ihn jedoch unerreichbar und nur im irrealen Konjunktiv formulierbar. Dagegen findet er Entlastung in der Musik.

5 Das Ästhetische II: Die Wiederholung Die Figur der Wiederholung ist nicht Thema dieser Arbeit. Diese wird in Kierkegaards 1843 unter dem Pseudonym Constantin Constantius veröffentlichtem Werk Die Wiederholung (Gjentagelsen) erläutert und am Beispiel eines jungen Mannes demonstriert. Der zweite Teil des Werks besteht aus insgesamt acht Briefen eben dieses jungen Mannes sowie einem abschließenden Brief von Constantius an den Leser. Die Analyse beschränkt sich hier auf diesen zweiten Teil. Ziel dieses Kapitels ist es, mittels ausgewählter Briefe die Textgrundlage zum Ästhetischen bei Kierkegaard um ein zweites Werk neben den Diapsalmata aus Entweder-Oder zu erweitern. In den Briefen des jun­ gen Mannes finden sich einige der Sache nach zentrale Passagen.580 Dazu ist der abschließende Brief des pseudonymen Autors Constan­ tius an den Leser äußerst aufschlussreich über den religiösen »Unter­ grund« (WH 438) oder »Hintergrund« (WH 438) der Untersuchung und wird daher in die Textgrundlage der Arbeit eingeschlossen, bevor dieses Thema im darauffolgenden abschließenden Kapitel des Teils zu Kierkegaard zur Schrift Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller ausführlich betrachtet wird. Das Kapitel zur Wiederholung geht dem­ nach in zwei Schritten vor: Es analysiert im ersten Schritt ausgewählte Passagen aus den Briefen des jungen Mannes, im zweiten Schritt den abschließenden Brief von Constantin Constantius.

5.1 Briefe eines jungen Mannes Im ersten Brief, datiert auf den 15. August, ruft der junge Mann sich Constantin Constantius selbst als »der mit der unglücklichen Liebe« 580

Vgl. dazu Schwab (2008) 38 ff.

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(WH 397) in Erinnerung. Mit Constantius zu sprechen sei für ihn, »als spräche man mit sich selber oder mit einer Idee« (WH 398), jemandem, der »nur Idee, nicht Mensch« (WH 399) sei. Bemerkens­ wert in diesem Brief ist der Wunsch des jungen Mannes, zu vergessen, seinen Namen loszuwerden, also nicht er selbst, statt dessen eine »Nummer« (WH 406) zu sein. Der zweite Brief vom 19. September bezieht sich direkt auf den den ersten Teil des Werks abschließenden Beschluss des jungen Man­ nes, bei Hiob Hilfe zu suchen. Er fragt Hiob, ob dieser, »als das ganze Dasein über [ihm] zusammenstürzte und wie Scherben um [ihn] her­ umlag« (WH 407), nicht mehr gesagt habe als »der Herr hat’s gege­ ben, der Herr hat’s genommen« (WH 408), was für den jungen Mann lediglich eine Phrase zu sein scheint, vergleichbar mit »Prosit« (WH 408). Er identifiziert sich mit diesem Zusammenbruch des Daseins, nach welchem das eigene Leben wie ein Scherbenhaufen vor einem liegt. Was einmal ganz war, ist irreparabel zerstört. Der junge Mann beschreibt dies weiter mit dem Begriffen ›als alles zerbrach‹, ›Leid‹, ›Angst‹, ›Schrei‹, ›Qual‹, ›Not‹, ›Zerrissenheit‹, ›Bitternis‹ (vgl. WH 408) – er beschreibt also einen Einbruch des Negativen in das Leben, der den Einzelnen derart zurücklässt. Der junge Mann fragt, ob in seiner Zeit die Gottesfurcht so groß geworden sei, dass man nicht mehr mit Gott hadere, oder aber »die Furcht und die Feigheit« (WH 408). Die Antwort ist: Letztere. Die Menschen wagen es nicht mehr, angesichts des Negativen zu klagen (vgl. WH 409). Die Antwort Gottes, der Donner, zerschmettere den Menschen, sei aber »[...] herr­ licher als der Stadtklatsch und das Gerede von der Gerechtigkeit und Lenkung sind, von menschlicher Weisheit erfunden, von alten Wei­ bern und Halbmännern ausgestreut« (WH 409). Angesichts der Ein­ bruchserfahrung des Negativen und des Zusammenbruchs des bis­ herigen Daseins sind alle menschlichen Konstrukte nichts wert. Das ist alles nur Gerede. Nur Gott kann helfen. Der junge Mann möchte sich Hiob anschließen. Er beschreibt sich ebenso als Trauernden, der »alles verloren« (WH 409) habe, »die Ehre und den Stolz […] und damit die Lebenskraft und den Sinn« (WH 409). Der Begriff ›Sinn‹ und die Problematik des Sinnverlusts sind für das Ästhetische bei Kierkegaard zentral.581

581 Der Zusammenbruch des Sinnganzen ist nach Rasmussen der dritte Typ des Nihi­ lismus bei Kierkegaard (vgl. Rasmussen (2017) 211 f.).

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Der dritte Brief, datiert auf den 11. Oktober, beginnt mit einer für die Analyse zentralen Passage: Mein Leben ist bis zum Äußersten gebracht; ich ekele mich vor dem Dasein, es ist geschmacklos ohne Salz und Sinn. Wenn ich hungriger als Pierrot wäre, gelüstete es mich dennoch nicht danach, jene Erklä­ rungen zu fressen, welche die Menschen anbieten. Man steckt den Finger in die Erde um zu riechen, in welchem Land man sich befindet, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was will das besagen: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich in das Ganze hineingenarrt und lässt mich nun dort stehen? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum bin ich nicht gefragt worden, nicht mit Bräuchen und Regeln bekannt gemacht worden, sondern ins Glied gesteckt, als sei ich von einem Seelenverkooper gekauft? Wie bin ich Interessent582 jener großen Entreprise geworden, die man Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Interessent sein? Ist das nicht freigestellt? Und soll ich es notwendig sein, wo ist denn der Verhandlungsleiter, ich habe eine Bemerkung zu machen? Gibt es keinen Verhandlungsleiter? Wo soll ich mich mit meiner Klage hinwenden? Das Dasein ist ja eine Debatte, darf ich darum bitten, dass meine Betrachtung in Erwägung gezogen wird? Soll man das Dasein nehmen als was es ist, wäre es dann nicht am besten, dass man zu wissen bekäme, wie es ist (WH 410)?

Der junge Mann beschreibt seine Stimmung als Ekel vor dem Dasein, als Erfahrung der Sinnlosigkeit. Zweimal verwendet er die Metapho­ rik des fehlenden Geschmacks für die Erfahrung des Nihilismus. Er beschreibt einen Zustand der Orientierungslosigkeit, die Fremdheit der Welt und des eigenen Ichs. Er findet sich in der Welt ungefragt vor und hat das Gefühl, betrogen worden zu sein. Das Sich-Vorfinden spezifiziert er als das Gefühl, in einen Apparat eingegliedert worden zu sein. Er wurde weder gefragt noch eingeführt, sondern findet sich jetzt darin. Um dies zu begreifen, nutzt er eine Metapher von Men­ schenhandel und Sklaverei, sowie weitere ökonomische Metaphern des Zwangs und der Rechtlosigkeit. Er steht dem ›Ganzen‹ und sich selbst unbegreiflich gegenüber, alle Erklärungen der Menschen sind wertlos und er weigert sich diese anzunehmen. Im nächsten Schritt wehrt er sich mit Bezug auf die Handlung des ersten Teils gegen den Vorwurf des Betrugs, da sich und das Mäd­ chen unglücklich gemacht zu haben niemandem genutzt habe (vgl. 582

»Interessent« (SKS 4, 68) D auch: Teil, Betroffener.

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WH 410 f.). Bemerkenswert ist dabei die Relativierung der Pathologie des Wahnsinns: »Oder bin ich vielleicht verrückt? Dann wäre es wohl das beste, mich einzusperren, denn die menschliche Feigheit fürchtet sich insbesondere vor den Erklärungen der Wahnsinnigen und der Sterbenden« (WH 412). Dahinter verbirgt sich die Furcht der Gesell­ schaft vor Erklärungen, die man durch Pathologisierung aus dem Dis­ kurs verdrängt. Wahnsinnige und Sterbende haben etwas zu sagen, das mit der Normalität inkompatibel ist und ihr gefährlich wird. Die Wahrheit ist dunkler als die ideologische gesellschaftliche Oberfläche und die Position des Ästhetischen bei Kierkegaard sieht dies. Der junge Mann erläutert, dass man Dichter werde (vgl. WH 413), dass die ästhetische Lebensform also etwas ist, das dem Menschen wider­ fährt, das nicht in seiner Macht steht, um das er nicht gebeten hat. Wie der Ästhetiker A in Entweder-Oder hat auch der junge Mann in der Wiederholung keinen Namen. Das Ästhetische umfasst das Gefühl des Unverstandenseins. Niemand kann ihn verstehen, er kann mittels der Sprache mit niemandem kommunizieren, im Geschriebenen jedoch seine Position metaphorisch skizzieren. Der Nihilismus ist das namenlose Leiden. Der junge Mann leidet offenbar sowohl an dem Verlust der gesellschaftlichen »Ehre« (WH 413), der »bürgerlichen Achtung« (WH 412), die ihren Grund in der Nichtheirat des Mäd­ chens hat, als auch unter seiner Dichterexistenz, die durch die Liebe zu ihr inspiriert ist (vgl. WH 412). Gegenstand des vierten Briefes vom 15. November ist wiederum das Verhältnis des jungen Mannes zum Buch Hiob. Er differenziert zwischen Lesen mit dem Auge und Lesen mit dem »Auge des Her­ zens« (WH 414). Verstehen ist nicht Informationsverarbeitung, son­ dern Betroffensein. Das Sinnproblem des Ästhetikers betrifft die Ebene der Grundbedürfnisse wie »Nahrung und Kleidung und Medi­ zin« (WH 415). Sein »Herz« (WH 415), seine »Seele« (WH 415) sei krank und das Buch des Alten Testaments »wie ein Heilpflaster aus Gottes Hand« (WH 415). Die »Leidenschaft des Schmerzes« (WH 415) Hiobs, die Erfahrung des Negativen, ist für ihn das Menschliche. Der Begriff des Schmerzes ergänzt damit die zuvor genannten Nega­ tivbegriffe (vgl. WH 408). Der junge Mann beschreibt sein Lesen des Buchs Hiobs als ekstatisch (vgl. WH 416), dann ergreift ihn wieder »eine unnennbare Angst vor der Welt und dem Leben und den Men­ schen« (WH 417). Der junge Mann und seine Stimmung der Angst sind namenlos. Gegenstand der Angst ist alles und nichts. Er fühlt sich wie in einer Ruine (vgl. WH 416), also in einem Lebensraum, der

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5 Das Ästhetische II: Die Wiederholung

keiner mehr ist. Die Welt ist zusammengebrochen, Ruine geworden, und er bleibt ängstlich zurück. Er identifiziert sich mit Hiobs »Schwei­ gen, [...das] alle Schrecken wie ein Geheimnis [birgt]« (WH 417) und »Schreien« (WH 417), ängstige sich davor, noch mehr zu erfahren und dadurch zu erkranken (vgl. WH 417). Der Text nutzt hier also eine Analogie der schmerzvollen und beängstigenden Erfahrung der Sinn­ losigkeit zum Leiblich-Physischen, zu Grundbedürfnissen des Lebens und dem Begriff der Krankheit. Der fünfte Brief vom 14. Dezember verortet den Kern der Erzäh­ lung Hiobs darin, dass Hiob Recht habe (vgl. WH 417). »Darin liegt das Große bei Hiob, dass die Freiheit der Leidenschaft583 bei ihm nicht erstickt oder in einem verkehrten Ausdruck beruhigt wird« (WH 418). Die Freiheit Hiobs wird also nicht erstickt, nicht verdrängt, und auch nicht auf weltlich-verkehrte Weise beruhigt. Alle menschlichen Erklä­ rungen und Argumentationsgänge sind wertlos (vgl. WH 418, vgl. dazu WH 410), entsprängen einem Modus der Verkehrung. Es gehört Kraft dazu, »einen Gedanken durchzuführen, wenn ihm die Gedanken der Welt immerfort entgegen waren« (WH 418). Hiob behauptet als Einzelner gegen die Verkehrung der Vielen, die diese Überzeugung ersticken wollen, im Recht zu sein. Im Unterschied dazu glaubt der Dämonische, gegen Gott im Recht zu sein (vgl. WH 418). Hiob steht damit auf der Seite Gottes, und, wenn es sein muss, gegen die Men­ schen. Hiob glaubt »Gott werde schon alles erklären können« (WH 419). »Seine Behauptung ist wie ein Passierschein, mit dem er die Welt und die Menschen verlässt« (WH 419 f.) Seine Versuche, seine Freunde zu überzeugen, sind vergeblich (vgl. WH 420). Der Versuch, intersubjektiv zu kommunizieren, dass er Recht habe, scheitert. Die Erklärung der Geschichte Hiobs lautet: »Das ganze ist eine Prüfung«584 (WH 420). Dabei gehe es nicht allgemein um »des Menschen Verhältnis zu Gott« (WH 420), sondern um das Individuum. Daher sei diese Prüfung auch nicht Gegenstand der »Wissenschaft« (WH 420), Kierkegaards Begriff für die hegelianische Hauptströmung der theoretischen Philosophie seiner Zeit. Eine der­ artige Wissenschaft vom Einzelnen sei unmöglich (vgl. WH 420). In diesem Zusammenhang kritisiert er die Menschen, die die Erzählung Hiobs lediglich eine halbe Stunde läsen, gleich dem »Resultat der Eile«

583 584

»Frihedens Lidenskab« (SKS 4, 75); D: die Leidenschaft der Freiheit. Zum Begriff der Prüfung vgl. FZ 314.

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(WH 421) der ›philosophischen Lehrlinge‹. Der eilige akademische Betrieb hat keine Vorstellung vom Leben des Geistes. Der Größe Hiobs nun beruhe darin, »dass die Grenzstreitigkei­ ten des Glaubens in ihm ausgekämpft sind« (WH 421).585 Hiob glaubt. Darin ist er Vorbild. »Jene Kategorie: Prüfung ist weder eine ästhetische, ethische, noch dogmatische. Sie ist völlig transzendent [...] und versetzt den Menschen in ein rein persönliches Gegensatz­ verhältnis zu Gott, in ein solches Verhältnis, dass er sich nicht an einer Erklärung aus zweiter Hand genügen lassen kann« (WH 421). Diese Konzeption gelingenden Lebens spielt sich zwischen Gott und dem Einzelnen ab, jenseits von Ästhetischem, Ethischem und dogmatischer Theologie. Das Ethisch-Religiöse ist in dem Sinne nicht dogmatisch, dass niemand es einfach direkt sagen kann. Jeder muss es selbst erfahren, selbst erkämpfen. Kierkegaard benutzt hier die Begriffe »Weltbewusstsein« (WH22) und »Weltanschauung« (WH 422) positiv, als eine Art Durchschauen der Welt. Wer die Welt durchschaue, wie Hiob, der habe »einen besonders langen Umweg vor sich« (WH 422), »unter ungeheuren Schmerzen« (WH 422). Das Leben gelingt nicht einfach, nicht naiv unmittelbar. Der Umweg ist für gelingendes Leben auf höherem Reflexionsniveau konstitutiv. Das ethisch-religiöse Leben streicht dabei die Wirklichkeit nicht durch, sondern muss »in der Zeit« (WH 422) realisiert werden. Der junge Mann identifiziert sich also nicht lediglich mit Hiobs Erfahrung des Negativen, wie im zweiten Brief skizziert, sondern bewundert mit der in diesem späteren Brief in der biblischen Erzählung ausgedrückten religiösen Konzeption gelingenden Lebens. Der Begriff ›Schmerz‹ ist hier der entscheidende, das Gottesverhältnis des Einzelnen kennzeichnende Begriff. Mit der Metaphorik eines vergangenen Sturms und Gewitters beschreibt der junge Mann zu Beginn des sechsten Briefs vom 13. Januar die »Wie­ derholung« (WH 423, Hervorhebung SK). Hiob habe wieder zu Gott gefunden, habe nun alles zweifach bekommen (vgl. WH 422 f.). Scheinbar paradoxerweise bekam Hiob dadurch Recht, »dass er vor Gott unrecht bekam« (WH 423, Hervorhebung SK). Im siebten Brief vom 17. Februar beschreibt der junge Mann sich selbst als auf das Gewitter wartend. Auf den Brief vom 17. Februar folgt ein Zwischen­ text des fiktiven Autos Constantin Constantius. Er sagt, der junge Mann befinde sich in einem »vollständigen Missverständnis« (WH 585

Zum Begriff des Kampfes vgl. FZ 207, KT 62, KT 90.

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5 Das Ästhetische II: Die Wiederholung

426). Er solle nicht auf das Gewitter warten, sondern selbst umkehren. Er glaubt nicht die Gewitter-Theorie des jungen Mannes, sondern schlägt dagegen die Idee vor als sicheren »Maßstab« (WH 429), als »Regulativ für [das] Leben« (WH 429). Der junge Mann hätte seinem Rat folgen, die Idealität der Verliebtheit behalten sollen (vgl. WH 429). Den achten und letzten Brief, datiert auf den 31. Mai, beginnt der junge Mann mit dem Verweis auf die Hochzeit des Mädchens mit jemanden anderem. Er ist plötzlich, »wie von einem Schlag gerührt […] wieder [er] selbst«. Der junge Mann zeichnet eine Doppelbewe­ gung des Verlierens und Wiedergewinnens des Lebens im Inneren nach (vgl. WH 431). Er beschreibt seine Seele, »welche in der Ein­ samkeit der Verzweiflung hockte« (WH 432), als gerettet. Der Gegen­ begriff zum Wieder-er-selbst-Sein ist damit neben Angst und Zer­ splitterung der Begriff der Verzweiflung. Die abschließende Metapher ist die der Welle: Die Bewegung zog ihn in den Abgrund, in »Lebens­ gefahr« (WH 432), und die gleiche Bewegung schleuderte ihn wieder in die Höhe hinaus. Gelingendes Leben, Not, Lebensgefahr, Risiko und das Negative sind hier in einem Bild zu einem dynamischen Gan­ zen vereint.

5.2 Brief von Constantin Constantius an den Leser Die Wiederholung schließt mit einem auf den August 1843 datierten Brief des pseudonymen Autors Constantin Constantius an den Leser, der den zweiten Teil der Briefe bildet. Constantius adressiert nicht alle Leser, sondern den konkreten Einzelnen (vgl. WH 432), wo bei er noch einmal zwischen dem eigentlichen und dem uneigentli­ chen Leser unterscheidet (vgl. WH 433). Thema des Buches sei die Ausnahme, die sich gegen das Allgemeine »durchkämpft und als berechtigt behauptet« (WH 434), eine Bewegung, »ebenso schwierig, wie einen Mann tot zu schlagen und ihn leben zu lassen« (WH 435), also eine Doppelbewegung aus Verlieren und Gewinnen. Constantius charakterisiert die Ausnahme negativ, mit den Begriffen »Aufsässig­ keit und Trotz, […] Schwäche und Kränklichkeit« (WH 435). Die Bewegung ist nun, dass die Ausnahme, indem sie die Not durchleidet, sich selbst »durchdenkt« (WH 435), »durchwirkt« (WH 435), »erklärt« (WH 435), darin das Allgemeine denkt, wirkt, erklärt. »Die berechtigte Ausnahme ist im Allgemeinen versöhnt« (WH

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435), in ihr zeigt sich das Allgemeine. Constantius erläutert diese Bewegung am Beispiel des Dichters, »der den Übergang […] zu den religiösen Ausnahmen [bildet]« (WH 436). Die Wiederholung konzipiert also das Ästhetische als Übergang zum Religiösen. Damit gibt er den Briefen des jungen Mannes den Status des Fiktiven. Der Dichter ist eine Ausnahme (vgl. WH 436). Eines Dichters Leben hebt im Streit mit dem ganzen Dasein an, es gilt, eine Beruhigung oder eine Berechtigung zu finden; denn in jenem ersten Streit muss er immer verlieren, und will er sofort siegen, dann ist er nicht berechtigt. Mein Dichter findet nun eine Berechtigung, eben dadurch, dass er das Dasein in einem Augenblick absolviert, als er sich gleich sich gleichsam selber zunichte machen will. Seine Seele gewinnt nun einen religiösen Anklang. Dies ist, was ihn eigentlich trägt, obgleich es nie zum Durchbruch gelangt (WH 437).

Das Ästhetische liegt im Streit mit dem Ganzen. Es findet seine Berechtigung durch ein religiöses Getragensein unter der Oberfläche, das sich selbst nicht als ein solches zeigt. Seine Freude ist religiös »fundiert« (WH 437), auch wenn er sie nicht als solche versteht. Beruhigung zu suchen ist dagegen vergeblich. Der produktive Dichter werde »von etwas unaussprechlich Religiösem getragen« (WH 438), »das Religiöse geht zugrunde: bleibt als unaussprechlicher Unter­ grund« (WH 438). Ein tieferer religiöser Mensch wird nicht Dichter (vgl. WH 438), »sondern reiner Ernst« (WH 438), die Endlichkeit wird ihm gleichgültig (vgl. WH 439). Hinter oder je nach Metaphorik unter dem produktiven ästhe­ tischen Menschen steht demnach ein unaussprechliches religiöses Fundament, das ihn trägt. Costantius denkt also das Ganze als von einem religiösen Untergrund getragen und die Frage ist nur, inwieweit der Einzelne sich selbst als derart Getragenen (wieder)erkennt. Das Ästhetische ist immer schon vor diesem Hintergrund konzipiert. Der tiefere, religiöse Mensch »versteht mit religiöser Furcht und Zittern, aber auch mit Glauben und Vertrauen« (WH 439). Constantius spielt hier auf Furcht und Zittern an, wo Gott in der Tat »das Absonderliche« (WH 439) von Abraham verlangt. Er beschreibt das gelingende religiöse Leben, das dem ästhetischen überlegen ist, sich aber wie gesagt in demselben übergreifenden Horizont abspielt, als ein in sich Ruhen (vgl. WH 439) Zuletzt nennt der fiktive Autor als negativen Gegenbegriff zum Dichter den »trivialen Menschen« (WH 440), dessen Leben sich jen­

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6 Das christliche Selbstverständnis: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller

seits der hier verhandelten Fragen nach gelingendem Leben ›abspielt‹, aber als ein misslingendes, da es sich in demselben Horizont bewegt. Der produktive – handlungsfähige – Dichter586 versteht sich also ver­ kehrt. Sein Schaffen wird von einer religiösen Tiefenschicht getragen.

5.3 Zwischensynthese Thematisch negativistisch beschreibt der junge Mann mit einer Fülle von Negativbegriffen einen Ekel vor dem Dasein, eine Fremdheit der Welt und des eigenen Ichs, zum einen erlebt als fundamentale Orientierungslosigkeit, zum anderen als Eingegliedert-Sein in einen sozio-ökonomischen Kontext, in dem er sich ungefragt vorfindet. Nie­ mand kann ihn verstehen, alle Erklärungen der Menschen sind wert­ los. Zentrale Begriffe sind Krankheit und Schmerz. Der junge Mann findet Trost in der religiösen Erzählung des Hiob, der paradoxerweise dadurch Recht bekam, dass er Unrecht bekam. Der pseudonyme Autor Constantin Constantius kritisiert dagegen die Interpretation der Doppelbewegung von Verlust und Gewinn durch den jungen Mann und damit dessen Verständnis der Figur der Wiederholung, und dessen Selbstverständnis. Der produktive, ästhetische Mensch sei von einem unaussprechlichen religiösen Untergrund getragen. Das Ästhetische ist immer Übergang zum Religiösen.

6 Das christliche Selbstverständnis: Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller Anknüpfend an den abschließenden Gedanken aus der Wiederholung zielt das letzte Kapitel des Kierkegaardteils darauf ab, den religiöschristlichen Horizont des Gesamtwerks Kierkegaards zu erschließen. Als Textgrundlage dient dazu die kurze, nicht-pseudonym veröffent­ lichte Schrift Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (Om min Forfatter-Virksomhed) aus dem Jahr 1851, in der Kierkegaard seine eigene retrospektive Interpretation seines Gesamtwerks knapp und

586

Zum handlungsunfähigen Dichter vgl. EO 30.

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übersichtlich darstellt.587 Die Schrift besteht aus zwei Teilen: Der erste, auf März 1849 datierte trägt den Titel ›Die Rechenschaft‹, der zweite ist ein auf November 1850 datiertes Beiblatt mit dem Titel ›Meine Stellung als religiöser Schriftsteller in der »Christenheit« und meine Taktik‹. Die Analyse folgt in zwei Schritten dieser Einteilung des Textes.

6.1 Die Rechenschaft Ziel des folgenden Unterkapitels ist also Darstellung und Analyse des ersten Teils der Schrift ›Die Rechenschaft‹. Der Text ist durch Absätze in drei Teile gegliedert. Kierkegaard beginnt den ersten Textteil mit einer kurzen Bemerkung, dass er denen danke, die ihm ihre Anerkennung zeigten, und dass Unerkenntlichkeit nicht ihn angehe, sondern Problem derer sei, die sich ihm gegenüber so zeigten (vgl. ÜW 3). Darauf folgt direkt eine zentrale These zur Sache: Die Bewegung, welche das schriftstellerische Werk beschreibt, ist: vom »Dichter« – vom Ästhetischen, vom »Philosophen« – vom Spekulati­ ven, zur Andeutung der allerinnersten Bestimmung im Christlichen: vom pseudonymen »Entweder Oder« durch die »Abschließende Nach­ schrift« mit meinen Namen als Herausgeber zu den »Reden beim Altargang am Freitag«, […] (ÜW 4).

Diese erste Selbstinterpretation lässt doch wenig Interpretationsspiel­ raum. Kierkegaard versteht sich selbst als christlichen Schriftsteller und sein Werk als Bewegung vom Ästhetischen (EO) und vom Spekulativen (AUN) zu den Reden. Zentral dabei ist der Begriff der Andeutung des Christlichen. Dass die Pseudonymen Schriften den Ausgang bieten, ergänzt er in einer Fußnote: Während die frühen Pseudonyme sich unterhalb der erbaulichen Schriftstellerei bewegen, bewegt sich das späte Pseudonym Anti-Climacus – d.h. Die Krankheit zum Tode und Einübung in das Christentum – sozusagen auf dem 587 Gemäß Theunissen / Greve bietet Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller eine kürzere, weniger persönliche Fassung der Gedankengangs der Schrift Der Gesichts­ punkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Diese Arbeit grenzt so die Textgrundlage ein und folgt der Deutung dieser Schrift als Kierkegaards »abschließendes Wort zu Methode und Absicht« (Theunissen / Greve (1979) 52). Die philosophische und theologische Kierkegaard-Rezeption des 20. Jahrhunderts hat sich weitgehend an Kierkegaards Selbstdeutung orientiert (vgl. Rapic (2007) 32).

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Zielniveau. »Es wird ein Höheres aufgewiesen« (ÜW 4 Fußnote). Die Krankheit zum Tode deutet damit das Christliche an und entspricht der Position Kierkegaards, dem Ziel des Gesamtwerks. ›Aufweisen‹ ist hier das zweite Verb, das die Funktion des Textes spezifiziert. Die Funktion der Pseudonymität des Spätwerks liegt Kierkegaard zufolge allein darin zu betonen, dass der Mensch Søren Kierkegaard selbst dieser normativen Idee eines gelingenden Lebens nicht gerecht wird und dies auch nicht behauptet. Er macht »auf das Religiöse, das Christliche [aufmerksam] – jedoch ohne Vollmacht« (ÜW 4 Fußnote). Die Begriffe des eigentlich Religiösen und des Christlichen sind synonym, das ›Aufmerksam-Machen‹588 auf das Christliche das dritte sein Werk charakterisierendes Verb. Für die Zwei kleinen ethisch-religiösen Abhandlungen wählt Kierkegaard in dieser Fußnote die bemerkenswerte Metaphorik der Seemarke: Sie bieten Orientie­ rung, aber man solle Abstand halten. »Diese Bewegung ist [...] in einem einzigen Atemzug [...] zurück­ gelegt oder beschrieben worden, so dass das schriftstellerische Werk, in seiner Ganzheit betrachtet, religiös ist vom Anfang bis zum Ende, etwas, was jeder, der sehen kann, auch sehen muss, wenn er sehen will« (ÜW 4 f., Hervorhebung SK).589 Kierkegaard untermauert mit diesem Zitat die These der religiösen Schriftstellerei als Schlüssel zur Interpretation seines Gesamtwerks590, die derart eindeutig sei, dass er jeder alternativen Interpretation unterstellt, die eigentliche Absicht des Werks nicht sehen zu wollen. Sein Gesamtwerk zielt591 auf das Christliche.592 Dazu nutzt er die Analogie des Naturkundigen, der »an der Kreuzung der Fäden« (ÜW 5) die Gesamtintention erkennt.

Das Ziel Kierkegaards liege, so Greve, darin, »den Leser an einen Punkt zu führen, an dem er der Konfrontation mit dem Christentum nicht mehr ausweichen kann« (Greve (1990) 22). 589 Ziel der indirekten Mitteilung ist die »Entbergung [der] in der Moderne bis zur Unkenntlichkeit verkehrten Gottesbeziehung« (Hühn (2009) 221). 590 Gemäß H. Schulz formuliert das Werk Kierkegaard eine Frage, die Frage nach dem sinnerfüllten Leben, und eine Antwort: das Christliche. Die verschiedenen Werke stellen diese Frage in verschiedenen Fassungen. Die Form der indirekten Mitteilung folgt dabei aus Kierkegaards Verständnis vom Wesen des Christlichen (vgl. H. Schulz (2014) 10 ff., 30 f.). 591 Eine philosophische Rezeption, die das theologische Ziel beseitige, verzichte, so Theunissen, damit auf Kierkegaard (vgl. Theunissen (1979) 506). 592 Die Hauptströmungen der Kierkegaardforschung schließen sich dieser Selbstin­ terpretation des Dänen an (vgl. dazu A. Pieper (2000) 32). 588

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Kierkegaard skizziert dabei die »christliche Bewegung« (ÜW 5) als quasi umgekehrt: »Das ist, in der ›Christenheit‹, christlich die Bewegung der Reflexion; man reflektiert sich nicht ins Christen­ tum hinein, sondern man reflektiert sich aus dem Andern heraus und wird, einfältiger [JA d.h. einzelner vgl. ÜW 9] und einfältiger, Christ« (ÜW 5, Hervorhebung SK). Die Konzeption des gelingenden Lebens geht nicht vom Einzelnen, oder, was im Horizont theologischanthropologischer Prämissen auf dasselbe hinausläuft, vom normativ Gesollten aus, sondern von dessen Gegenteil. Man reflektiert sich nicht (direkt) in das Gesollte hinein, sondern man reflektiert sich aus dem Verkehrten und Falschen heraus und auf diesem Wege in das Richtige hinein, von der Christenheit als verkehrte Ideologie der Zeit ins Christentum.593 Der begabtere Geist brauche mehr Zeit (vgl. ÜW 5). Es gibt bei Kierkegaard eindeutig einen »Weg« (ÜW 5) und einen zu erreichenden »Punkt« (ÜW 5). Als Ergebnis der Analyse des ersten Textteils lässt sich also festhalten, dass, während das Werk Kierkegaards das Christliche lediglich andeutet, die Tatsache, dass das Werk als Ganzes auf das Christliche zielt, für Kierkegaard eindeutig ist. Die Weg zum normativ Gesollten ist die Reflexion (aus) dessen Verkehrung. Im zweiten Textabschnitt der ›Rechenschaft‹ führt Kierkegaard den Gedankengang zur Methode seines Werks aus: Aber so wie das was mitgeteilt worden (der Gedanke des Religiösen) ganz und gar in die Reflexion hineingesetzt und wieder aus der Reflexion zurückgenommen worden ist: so ist auch die Mitteilung ent­ scheidend durch Reflexion gekennzeichnet gewesen, oder es ist auch diejenige Art der Mitteilung gebraucht worden, welche der Reflexion eignet (ÜW 5).

Es gibt für Kierkegaard also das Mitgeteilte als Gehalt der Mitteilung. Es gibt nicht lediglich eine Methode.594 Dieser Gehalt ist das Christ­ liche. Der Form der Mitteilung entspricht nun der soeben skizzierten christlichen Reflexionsbewegung, ist also durch die Sache, das ChristWerden in der Christenheit, bestimmt. Sache und Methode sind 593 Durch den Gegensatz zwischen Christenheit und Christentum liegt die gefähr­ lichste Täuschung darin, im Glauben, man stehe auf der richtigen Seite, auf der falschen zu stehen (vgl. Theunissen / Greve (1979) 42). 594 Theunissen schreibt, die Mitteilungsform sei wichtig, der Inhalt wichtiger (vgl. Theunissen (1996) 16). Die indirekte Mitteilung meint ein indirektes »den Anderen in sein Gottesverhältnis hinein[...]rufen« (Theunissen (1982) 81).

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wesentlich von Kierkegaards theologisch-existenzphilosophischem Bild des Menschen als reflexivem Selbstverhältnis bestimmt. Der Einzelne verhält sich zu sich, kann sich ändern und soll sich als der Einzelne vor Gott, der er ist, erkennen. Kierkegaard unterscheidet dafür zwei Methoden der Mitteilung: »Unmittelbare Mitteilung« ist: unmittelbar das Wahre mitteilen. »Mit­ teilung in Reflexion« ist: hineintäuschen in das Wahre; aber weil die Bewegung ist hinkommen zum Einfältigen, muss die Mitteilung doch einmal, früher oder später, bei der unmittelbaren Mitteilung enden. Der Anfang wurde, maieutisch, gemacht mit ästhetischer Her­ vorbringung, und die gesamte pseudonyme Schriftstellerei ist solch ein Maieutisches (ÜW 6).

Kierkegaards gesamte pseudonyme Schriftstellerei595, mit Ausnahme der späten Anti-Climacus-Schriften, ist demnach nicht-unmittelbare, also indirekte, Mitteilung596 der Problemlage und Aufgabe der Refle­ xion aus dem Falschen heraus entsprechend, mit dem Ziel der Hin­ eintäuschung597 des Einzelnen598 ist das Wahre599, in das Christli­ che.600 Letztlich, so die These hier, muss die Mitteilung aber ab einen bestimmten Punkt doch unmittelbar, direkt sein. Direkte und

595 Das pseudonyme Werk hat eine »religiös motivierte maieutische Absicht« (Theu­ nissen / Greve (1979) 39). 596 Wesche interpretiert die indirekte Mitteilung aus Umsetzung des Grundverfah­ rens, Lebensverständigung im Ausgang von Unbestimmtheit zu führen (vgl. Wesche (2003) 171) und damit im Kontext seiner Gesamtinterpretation des Werks. 597 Viertbauer deutet die indirekte Mitteilung als Kohärenzargument für die theisti­ sche Interpretation des Daseins (vgl. Viertbauer 100 Fußnote 63). 598 Die Arbeit teilt hier die These Schwabs, der zufolge der Grund der Methode der indirekten Mitteilung in Kierkegaards Begriff von Wirklichkeit als Existenzvollzug des Einzelnen zu verorten ist. Schwab präzisiert dies mit dem Verweis auf die in der Nachschrift erläuterte Doppelreflexion der Innerlichkeit (vgl. Schwab (2008) 42, 51). Die Gegenthese zur am Beispiel der Schachtelstruktur von Entweder-Oder explizierten offenen Interpretation Schwabs lautet, dass der Ästhetiker A und der Ethiker aus christlicher Sicht beide verzweifelt sind, das Christliche als Negativfolien aufzeigen und auf dieses hin zu überwinden sind. Schwab wendet sich explizit gegen diese »unzweideutige« (Schwab (2012) 34) Interpretation. Die Pointe der indirekten Mit­ teilung sei, dass diese selbst nicht direkt mitteilbar ist (vgl. Schwab (2012) 11 ff.). 599 Das Religiöse ist das Ziel, die indirekte Mitteilung die dazu nötige Form der Mit­ teilung (vgl. Deuser (1985) 149 f.). 600 Zur These des richtigen, christlichen, Selbstverständnisses als Ziel der indirekten Mitteilung vgl. Hackel (2011) 389.

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indirekte Mitteilung teilen also denselben Gehalt601 mit, richten sich lediglich an Leser an unterschiedlichen Punkten des Selbstreflexions­ prozesses des je Einzelnen.602 Die Fußnote dazu erläutert den Beginn im Ästhetischen damit, dass »darin vielleicht die meisten ihr Leben haben« (ÜW 6 Fußnote 1). Der Einzelne ist dabei immer Subjekt des Prozesses. Er »entschließt« sich mitzugehen und stehe dann »plötzlich mitten in den entschei­ denden Bestimmungen des Christlichen [...], dazu veranlasst zum mindesten aufmerksam zu werden« (ÜW 6 Fußnote 1). Kierkegaard holt den Menschen also im Ästhetischen ab, und dieses bewegt ihn dazu, sich selbst für einen Weg zu entscheiden, der ihn plötzlich mit dem Christlichen konfrontiert. Aus freien Stücken entschließt er sich also zu einer Erfahrung, einem Prozess oder Gang, an dessen Ende er dem Christlichen nicht ausweichen kann und so auf das eigentlich Christliche zumindest einmal aufmerksam wird. Das ist die indirekte Mitteilung des Religiösen, wobei, wie Kierkegaard sagt, das Maieutische603 im Verhältnis von Anfang beim Ästhetischen und religiösem Ziel liege (ÜB 6 Fußnote 1). Kierkegaards Begriff von ›aufmerksam-machen‹ enthält also ein Moment des Plötzlichen, des Einbruchs. Man bekommt nicht lediglich etwas genannt, sondern erlebt etwas, wird mit etwas konfrontiert, dem man sich in diesem Augenblick nicht entziehen kann. Die Tatsache, dass Zwei erbauliche Reden 1843 gleichzeitig mit Entweder-Oder ohne Pseudonym erschienen, ist für Kierkegaard Beleg dafür, dass das Religiöse, in der direkten Mitteilung von Beginn präsent, immer auch Ziel der indirekten Mitteilung gewesen ist. Das in Entweder-Oder angedeutete war »gleichzeitig« (ÜW 6) immer präsent. In einer Fußnote wehrt sich der Autor ausdrücklich gegen die Interpretation, er sei erst im Spätwerk zum Religiösen gekommen, da ihm mit dem Alter die für die ästhetische Schriftstellerei nötigen »Kräfte der Jugend« (ÜW 6 Fußnote 2) ausgegangen seien. Die Gleichzeitigkeit von ästhetischer und religiöser Schriftstellerei ist Poole sieht dagegen genau in der Vielstimmigkeit der Pseudonyme, ohne dass eine letzte Bedeutung auszumachen ist, das Postmoderne bei Kierkegaard (vgl. Poole (1998) 48). 602 Nach Berthold gibt es einen theologischen Ur-Text hinter dem Text, den der Leser entziffern möge (vgl. Berthold (2013b) 148 ff.). 603 Bei Kierkegaard fallen das Sokratische und das Appellative zusammen. Das sokratische Fragen ist die dem Menschen angemessene appellative Methode (vgl. Theunissen (1979) 497). 601

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für ihn Beleg für die Interpretation des religiösen Ziels des Ganzen, da er 1843 nicht älter sein konnte als er selbst (ÜW 6 Fußnote 2). Da sozusagen das Höherwertige immer schon präsent gewesen sei, müsse, mit Blick auf das Gesamtwerk, auch das »Niedriger[e]« (ÜW 4 Fußnote) von diesem her interpretiert werden. Das ist das Argument, das Kierkegaard für sich als religiösen Schriftsteller von Beginn an vorbringt. Er belegt dies weiter mit dem Hinweis auf die Kontinuität der Gleichzeitigkeit von Reden und pseudonymen Werken bis zur Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, die dann das »Frag­ mal« (ÜW 6) »des gesamten schriftstellerischen Werks [expliziert]: ›ein Christ werden‹„ (ÜW 6). Das ist die Kernthese Kierkegaards zu Problem, Aufgabe und Gegenstand des Werks, sowohl des Direkten als auch des Indirekten.604 In der hochinteressanten Fußnote zu dieser zentralen Stelle des Gedankengangs spezifiziert Kierkegaard nun die Problemlage und die sich aus dieser ergebenden methodischen Konsequenzen: Die Lage (in der »Christenheit«, wo man also Christ ist- ein Christ werden) die Lage, welche, was jeder Dialektiker sieht, alles in Reflexion hineinsetzt, macht zugleich ein mittelbares Verfahren605 nötig, weil die Aufgabe hier sein muss vorzugehen in Richtung wider den Sinnestrug: dass man sich Christ nennt, vielleicht sich einbildet es zu sein, ohne dass man es ist. Der, wer das Fragmal606 anbrachte, bestimmte sich daher nicht unmittelbar dahin, dass er Christ sei, die anderen nicht, nein, umgekehrt, er stellt in Abrede, dass er es ist und gestehe es den anderen zu. Das tut Joh. Climacus. – Im Verhältnis zur reinen Empfänglichkeit, dem leeren Gefäße gleich, das gefüllt werden soll, ist die unmittelbare Mitteilung an ihrem Platz; wo indes Sinnestrug im Spiele ist, also etwas, das erst einmal fort muss, da ist unmittelbare Mitteilung nicht an rechter Stelle (ÜW 6 Fußnote 3).

Die Problemstellung eines gelingenden Lebens lautet also nicht ein­ fach, ein Christ zu werden, sondern in der Christenheit Christ zu werden. Der Einzelne beginnt nicht bei Null gleich einem »leeren Gefäße« (ÜW 6 Fußnote 3) oder an einem positiven Ausgangspunkt, sondern befindet sich in der Christenheit als ideologische Verkehrung Entweder-Oder und Furcht und Zittern zeigen den Weg vom Ästhetischen zum Christwerden, die Nachschrift den Weg von der spekulativen Systemphilosophie zum Christwerden (vgl. Theunissen / Greve (1979) 33 f.). 605 »en indirecte metode« (SKS 13, 14) D: eine indirekte Methode. 606 »Problemet« (SKS 13, 14) D: das Problem. 604

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des normativ Gesollten. In dieser Verkehrung sind zentrale normative Begriffe, u.a. der Begriff des Christlichen selbst, falsch besetzt. Der Einzelne lebt in einem falschen Bewusstsein, hält sein misslingendes Leben für ein gelingendes, das Falsche für das Richtige. In diesem Zustand kann man dem Menschen das Seinsollende nicht direkt sagen, da er weder aufnahmebereit noch -fähig ist und durch die tiefe ideologische Verkehrung der Sprache die Begriffe des eigentlich Gesollten nicht verstehen kann, so dass ein anderer Weg gefunden werden muss. Daher müsse man, so Kierkegaard, indirekt vorgehen, und sich selbst dabei sokratisch-mäieutisch das wahre Wissen in Abrede stellen. Es gibt etwas, »das erst einmal fort muss« (ÜW 6 Fußnote 3). Der Weg zum gelingenden Leben führt daher über den Abbau von Falschem mittels der Methode der indirekten Mitteilung, beginnend in einem ›Stadium‹, in dem der Mensch zur direkten Mitteilung des Wahren keinen Zugang hat. Der ›Ist-Zustand‹ muss zunächst also fraglich, indirekt problematisiert und dadurch problematisch werden, bevor ein Übergang zum ›Soll‹ gelingen kann. Das gelingende Leben beginnt also im Falschen, das sich in der Reflexion als Verkehrung eines Gesollten zeigt und so den Zugang zu diesem bietet. Die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift bildet für Kierkegaard den »Mittelpunkt« (ÜW 7) seines Schaffens. Nach ihr ist das »Aufschimmern« (ÜW 7) abgeschlossen, und es beginnt die direkte Mitteilung. Strukturanalog zu den mit Entweder-Oder zeitgleich erschienenen Reden fällt auch in diese Zeit »ein kleiner ästhetischer Artikel« (ÜW 7). Umfang der Schriften vor und nach der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift seien etwa gleich groß, die Schaffensperioden etwa gleich lang. Das Ästhetische sei ist immer schon das, wovon man fort-, das Christliche das, wohin man gelangen sollte (vgl. ÜW 7). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der normative Gehalt der Konzeption des gelingenden Lebens ist das Christliche, ihr Prob­ lem liegt darin, aus dessen ideologischer Verkehrung heraus ein Christ zu werden. Daraus folgt die Methode der indirekten Mitteilung: Der ›Lehrer‹ nimmt sein eigenes Wissen zurück und lässt den Einzelnen sich ausgehend vom Ästhetischen für einen Weg entscheiden, der ihn an einem Punkt plötzlich mit dem normativ Gesollten konfrontieren wird, so dass er auf dieses zumindest aufmerksam wird. Die Methode bietet also dem falschen Bewusstsein einen Zugang zum Religiösen, welches letztendlich aber doch auch direkt mitteilbar ist.

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Im dritten Textteil der ›Rechenschaft‹ beschreibt Kierkegaard die Bewegung seines schriftstellerischen Werks als »die der Reflexion« (ÜW 7) – von der Menge zum Einzelnen: »[...]; und die Bewegung war, maieutisch, die ›Menge‹ abzuschütteln, um ›den Einzelnen‹ zu fassen zu bekommen, den Einzelnen in religiösem Sinn« (ÜW 8). Die Reflexionsbewegung liegt also darin, eine große Leserschaft zu gewinnen – Entweder-Oder war überaus erfolgreich – um dann von der Menge her den Einzelnen zu greifen. Der Einzelne entdeckt sich in dieser Bewegung selbst als nicht lediglich einer von vielen, nicht lediglich ein Mensch mehr. Er wird an dieser Stelle explizit religiös verstanden, also im Horizont theologisch-anthropologischer Voraussetzungen. Der Bewegung von der Menge607 zum Einzelnen ist die Bewegung vom Falschen oder Verkehrten zum Wahren. Der Schriftsteller, so Kierkegaard in der Fußnote dazu, macht es sich dabei selbst nicht leicht. Er arbeitet nicht für seinen eigenen Vorteil und damit so verstanden gegen sich selbst. Es wäre einfacher und überaus erfolgreicher, »den Sinnentrug zu unterstützen« (ÜW 8 Fußnote 1), sich also lediglich innerhalb der herrschenden Ideologie zu bewegen. [...]; das Dialektische ist das Umgekehrte: beim Arbeiten sich selbst entgegenzuarbeiten, eine Verdopplung, welche der »Ernst« ist, gleich dem Druck auf den Pflug, welcher die Tiefe der Furche bestimmt, indes das unmittelbare Streben ein glattes Gleiten ist, welches leichter von der Hand geht und zugleich weit weit dankbarerer ist, d.h. weltlicher und gleichartiger ist (ÜW 8 Fußnote).

Anstatt über die Oberfläche zu gleiten, pflügt er metaphorisch durch die Wirklichkeit und kehrt die verkehrten Dinge um. Das Dialekti­ sche, der Gegenbegriff zum Unmittelbaren, entspricht dabei meta­ phorisch dem Druck, den man auf den Pflug gibt. In gewisser Hinsicht arbeitet man gegen sich selbst608, wenn man Druck gibt und es sich dadurch selbst schwerer macht. Die herrschende Verkehrung for­

Jedes Kollektiv, auch das Religiöse oder religiös Erscheinende, ist bei Kierkegaard nur die Menge (vgl. Hoffmann (2011) 332). Adorno kritisiert an diesem Punkt, dass es für kollektiven Widerstand in der Konzeption Kierkegaards keinen Raum gibt (vgl. Adorno, KdÄ 304). 608 Der Lehrer nimmt sich zurück, lässt den Schüler frei, sich durch diese Anerken­ nung seiner Einzigartigkeit selbst zu entdecken (vgl. Hühn (2009) 209). 607

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dert, gegen die eigenen unmittelbaren Interessen zu arbeiten.609 Der eigentliche Maßstab des Erfolgs ist nicht weltlich. Charakteristisch für das Falsche ist in diesem Zitat das ›Gleichartige‹ als Gegenbegriff zum Besonderen der eigentlichen Wirklichkeit. Im nächsten Schritt stellt Kierkegaard die ›Kategorie jedes Ein­ zelnen‹ als Kernbegriff in das Zentrum seines Werks: Die Bewegung ist hier wiederum: hinkommen zum Einfältigen, die Bewegung ist: fort vom Publikum zum »Einzelnen«. Religiös gibt es nämlich kein Publikum, sondern nur Einzelne; denn das Religiöse ist der Ernst, und der Ernst ist: der Einzelne, jedoch so, dass der Mensch, unbedingt jeder Mensch, der Einzelne sein kann, ja sein soll, so wie er es ja ist (ÜW 9, Hervorhebung JA).

Mit dem Verb »gibt« (ÜW 9) macht Kierkegaard hier eine theolo­ gisch-anthropologische und zugleich ontologische, eine onto-theolo­ gische, Aussage über die Wirklichkeit, die durchaus radikal ist: Es gibt nicht ›viele davon‹. Es gibt nur den Einzelnen. Das hier explizit als solches benannte normativ Gesollte eines gelingenden Lebens ist damit, dass der Mensch sein soll, wer er in Wahrheit ist: ein einzelner Mensch – vor Gott. In der Fußnote dazu benennt Kierkegaard einen Positivbegriff für ›viele Menschen‹, vielleicht seinen einzigen: Den der religiösen »Gemeinde« (ÜW 9 Fußnote 2). Das Leben kann also als Einzelner in Gemeinschaft gelingen, in der Gemeinde, in der jeder Einzelne vor Gott ein Einzelner ist. Es gibt also bei Kierkegaard durchaus die Struktur, ein Einzelner und zugleich Teil einer Gemeinschaft zu sein. Nur ist diese Struktur an sich betrachtet hochgefährlich. Die »politischen« (ÜW 9 Fußnote 2) Begriffe »Publikum, Menge, das Numerische« (ÜW 9 Fußnote 2) sind allesamt Negativbegriffe des misslingenden Lebens und der Verkehrung. Die Gesellschaft sieht den Einzelnen lediglich als eine Zahl, und sein Leben misslingt, insofern dieser sich auch selbst so versteht. In beeindruckender Weise vertraut Kierkegaard auf die Richtig­ keit seines Gedankengangs gegen die ganze Welt und glaubt an »den Einzelmenschen« (ÜW 9). Jeder Mensch, so sein doch durchaus posi­ tives Menschenbild, sei gut und liebenswert, »wo man [ihn] einzeln zu fassen bekommt« (ÜW 9 f.), wo er sich nicht als Teil der Masse seiner Verantwortung entledige (vgl. ÜW 9). Das misslingende Leben Kierkegaard will vermeiden, dass der Einzelne ihn bewundert und dabei sich selbst vergisst (vgl. Theunissen (1982) 85).

609

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lebt also derjenige, der sich selbst als Teil der Masse versteht, der ein­ fach mitmacht und sich in der Masse aufgehend nicht individuell ver­ antwortlich fühlt, der seine individuelle Verantwortung nicht reflek­ tieren kann. Das Leben gelingt dagegen in »Verantwortung und Reue« (ÜW 9) als Einzelner vor Gott. Auf diese Art verstehe ich das Ganze jetzt; von Anbeginn an habe ich es so nicht überschauen können, was zugleich meine eigene Entwicklung gewesen ist [...]: wie unendlich viel mehr die Weltlenkung für mich getan hat, als ich irgend erwartet habe, habe erwarten können, habe erwarten dürfen (ÜW 10).

In diesem letzten Gedankenschritt der ›Rechenschaft‹ erläutert Kier­ kegaard die Perspektive der Schrift: Im Nachhinein, datiert auf März 1849, versteht er das Ganze als Wirken der göttlichen Vorsehung. Auch sein persönliches »inwendiges Leben« (ÜW 10) ist damit in einem sinnhaften Gesamtzusammenhang aufgehoben. So versteht er sich selbst und so möchte er verstanden werden. »›Ohne Vollmacht‹ aufmerksam zu machen auf das Religiöse, das Christliche, das ist die Kategorie für meine gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller, als ein Ganzes betrachtet« (ÜW 10). Dieses Zitat ist eindeutig: Aufmerksam-Machen ist der Schlüsselbegriff der Mit­ teilung und das Christliche ist als ihr Gehalt mit dem Begriff des Religiösen synonym. Kierkegaard selbst veröffentlicht pseudonym, zunächst methodisch indirekt, später, um zu betonen, dass er selbst der Idee eines gelingenden Lebens nicht gerecht werde. Für Kierke­ gaard, so der letzte Aspekt, ist damit der Selbsterkenntnisprozess abgeschlossen (vgl. ÜW 10). Festzuhalten bleibt: Die Bewegung des schriftstellerischen Werks ist eine Reflexionsbewegung von der Menge zum Einzelnen. Inmitten der Verkehrung ist der Autor gezwungen, gegen seine unmittelbaren Interessen zu arbeiten und nicht den bequemen Weg zu wählen. ›Es gibt nur den Einzelnen‹ ist Kierkegaards explizit christ­ lich-religiös eingebettete These über die Wirklichkeit, die von dort her das normative Sollen impliziert, in Verantwortung als Einzelner vor Gott zu sein. In der Gemeinde gibt es aber doch eine positive Form der Gemeinschaft der Einzelnen. Kierkegaard selbst interpretiert sein Werk innerhalb eines christlichen-theistischen Paradigmas. Nach dem Zusammenbruch der Metaphysik und des Christen­ tums – aus heutiger Sicht – mit Kierkegaard auf Augenhöhe zu diskutieren, wird dessen Selbstverständnis und dem Kontext seines

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Werks damit nicht gerecht. Themen und Strukturen, etwa themati­ scher und methodischer Negativismus, spielen sich innerhalb einer »Klammer«610 mit christlichem Vorzeichen ab, und diese Klammer ist auch zu benennen. Von dort her können dann strukturelle Parallelen zum Negativismus des 20. Jahrhunderts gesucht werden.

6.2 Stellung und Taktik des religiösen Schriftstellers in der Christenheit Der zweite Schritt des Kapitels zum christlichen Selbstverständnis Kierkegaards widmet sich nun der Analyse des zweiten Teils der Schrift Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, einem auf November 1850 datierten Beiblatt mit dem Titel ›Meine Stellung als religiöser Schriftsteller in der »Christenheit« und meine Taktik‹. Das Beiblatt ist unterteilt in den etwa einseitigen Abschnitt mit der Überschrift ›1. Meine Stellung‹ und den übrigen längeren Abschnitt, der mit ›2. Meine Taktik‹ betitelt ist. Im ersten Abschnitt des Beiblatts stellt Kierkegaard heraus, dass er niemals sich selbst als wahren Christen und andere als Nicht-Chris­ ten bezeichnet habe. Er erkenne seine eigene Unvollkommenheit, aber er wisse, was das Christentum sei, und das zu wissen sei doch für jeden Menschen interessant, ob »Christ oder Nicht-Christ« (ÜW 11), der beabsichtigte, das Christentum anzunehmen oder aufzugeben. Als Begründung führt er an, dass sich das Pseudonym Johannes Climacus nicht als Christ bezeichne, den anderen aber schon, und das Pseudonym Anti-Climacus mittels eines Dichterischen und Dialekti­ schen, also nicht als Søren Kierkegaard, »den ganzen Sinnentrug zu zerstören strebt« (ÜW 11). Dagegen benennt er sein Ziel wie folgt: »[...] Denn es beschäftigt mich unendlich, dass die Forderung der Idealität am wenigsten gehört werde. Aber das ist doch wiederum die größtmögliche Ferne vom Richten anderer« (ÜW 12). Zu »wissen« (ÜW 11), was das Christentum ist, einschließlich der Problematik der philosophischen Frage nach einem gelingenden Leben und dem Faktum des Misslingens im Modus der Verkehrung scheine in der Tat für »jeden Menschen« (ÜW 11) relevant zu sein. Kierkegaard mag niemanden richten, jedoch impliziert die paradig­ menbedingte Dichotomie zwischen Christen und Nichtchristen ein 610

Hühn (2009) 225.

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klares Werturteil. Man nimmt das Christentum an oder lehnt es ab. Ein drittes gibt es nicht. Diese Entscheidung ist, für Kierkegaard, nicht nur einmal in einen kulturrelativen Kontext eingebettet, sondern absolut und nur als solche in ihrer Tragweite zu verstehen. Es geht um Leben und Tod, um die Wahrheit, die das Leben gelingen lassen kann. Im Diskurs, oder didaktisch-methodisch, ist die Position eines sich selbst zurücknehmenden Lehrers, der das gelingende Leben nicht für sich selbst beansprucht, sondern lediglich weiß, was es ist, und darauf zielt, dass es zumindest gehört wird, dass die ideologische Verkehrung des Bestehenden brüchig wird, eine starke Position. Es ist nicht Aufgabe des Lehrers, den Anderen zur Wahrheit zu drängen, sondern, sie ihn entdecken zu lassen, ihn zumindest ein Mal ihr begegnen zu lassen. Ändern kann er sich nur selbst. Zu Beginn des zweiten Abschnitt skizziert Kierkegaard seine ›Taktik‹ wie folgt: »[...] Alle Mittel anwenden, um so viele wie möglich, möglichst alle dahin zu bringen, dass sie aufs Christentum eingehen – aber dann es nicht so genau damit nehmen, ob nun das, darauf einzugehen sie bewogen wurden, ob das wirklich Christentum war« (ÜW 12). Die Verben sind in diesem Satz ›dahin bringen‹ und ›dazu bewegen‹. Jeder soll dahin geführt werden, dem Christentum zu begegnen, sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Dass das normativ Gesollte als das Christliche benannt wird, also als das, was es ist, ist für Kierkegaard dabei zweitrangig. Ziel ist die Gewinnung von »Klarheit« (ÜW 12) über das Gesollte, unabhängig davon, ob es jemand umsetzen wird (vgl. ÜW 12). Der Einzelne soll also wissen, was das Christliche ist, dann entscheidet er sich dafür – oder auch nicht. Die Entscheidung für oder gegen das gelingende Leben trifft jeder für sich. Dabei ist das Christliche für Kierkegaard explizit nicht rechtfertigungsbedürftig (vgl. ÜW 12). Im nächsten Schritt skizziert er das Christentum als ebenso streng wie milde. Der »unendlichen Forderung« (ÜW 12) entspreche die »Gnade […],zu welcher dann der Einzelne, jeder im besonderen, hinfliehen kann, gleich wie er es tut« (ÜW 12). Der Glaube, die Entscheidung für das gelingende Leben und ihre Umsetzung, sind für Kierkegaard also hoch individuell. Die Forderung bleibt jedoch bestehen: Sie werde genau nicht den Forderungen des »praktischen Lebens« (ÜW 13) angepasst, »verendlicht« (ÜW 13) und schließlich fallen gelassen. Das Leben gelingt also nur im Verhältnis zu einer normativen Forderung, als deren Realisierung, die genau nicht durch die Umstände angepasst wird oder bezogen auf diese relativierbar ist.

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Es gehe nicht darum, so Kierkegaard weiter, den Einzelnen zu überfordern, aber darum, dazu beizutragen, dass mehr Wahrheit in unsere unvollkommenen Existenzen gebracht werde. Diese Wahrheit charakterisiert er grob als »ein ethisch oder ethisch-religiöser Cha­ rakter, weltlicher Klugheit entsagen, für die Wahrheit leiden« (ÜW 13) Wollen. Die Begriffe ›ethisch‹ und ›ethisch-religiös‹ laufen hier augenscheinlich auf dasselbe hinaus, das normativ Gesollte ist das Christliche als das ethisch-Religiöse. Dazu charakterisiert ›weltliche Klugheit‹ das misslingende Leben, während das gelingende Leben durch Leiden gekennzeichnet ist, genauer gesagt durch die Bereit­ schaft, für den Gegenbegriff zu dieser Klugheit, der Wahrheit, leiden zu wollen. Kierkegaard stellt sich gegen Bestrebungen und Tendenzen der Gesellschaft, sich auf das »Leichtere und Niedere« (ÜW 13) zu beschränken, »das Niedere auf den Platz des Höheren [zu] stellen« (ÜW 13) und letzteres zu »wahrem Ernst« (ÜW 13), ersteres zu Phantasie und »lächerlicher Übertreibung« (ÜW 13) zu erklären. Der Autor beschreibt damit einen Mechanismus der verkehrten Gesell­ schaft, der Christenheit, das misslingende Leben an die Stelle des gelingenden Leben zu setzen, indem das normativ Gesollte gegen die Erfordernisse des »praktischen Lebens« (ÜW 13) ausgespielt und für ideal im Sinne von unrealistisch und Lebensfern erklärt wird. Hier wird das Bestehende dem Gesollten vorgezogen und am Ende zu diesem erklärt. Das Leben misslingt also, wenn man etwa »Luther« (ÜW 13) in dem Sinne als einen besonderen oder außergewöhnliches Menschen versteht, dass man selbst ihm gegenüber ein gewöhnlicher Fall, lediglich einer von vielen ist, und dass damit die normativen Forderungen für einen selbst nicht gelten. Anstatt das Gesollte für sich zu übersetzen, unterläuft man es und verkehrt es, versteht das Alltägliche und die Sachzwänge der verkehrten Welt als den absoluten Sollensanspruch an sich selbst. Das eigentlich Gesollte wird so ›unrea­ listisch‹, nicht im Sinne einer unendlichen Forderung, sondern im Sinne einer Fiktion, etwas, das man Kindern erzählt, bevor der ›Ernst des Lebens‹ beginnt. Die ideologisch verkehrte Gesellschaft besetzt mit dieser Redensart im Übrigen auch den Ernstbegriff für sich. Das gelingende Leben ist nie leicht. Es ist leichter, einfach mitzumachen, dem Druck der Gesellschaft und ihrer Sachzwänge nachzugeben. Darauf erläutert Kierkegaard, dass angesichts seines Ziels und den in der Gesellschaft wirkenden Mechanismen die Pseudonymität seiner Schriften methodisch notwendig gewesen sei – als »fromme

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Satire« (ÜW 14), wie er es nennt. Diese setze den »Stachel der Wahrheit« (ÜW 14) so milde wie möglich ein. Wäre er »ein star­ ker ethisch-religiöser Charakter« (ÜW 14), so würde er bei seinen Mitmenschen auf nichts als Widerstand stoßen. Als Dichter aber gelinge es ihm, »Eingang« (ÜW 14) bei den Menschen zu finden. Die Pseudonymität, die das Gesollte des Christentums nicht in all seiner Härte direkt formuliert, schafft also genau dadurch den Menschen in der Verkehrung der Christenheit Zugang zu diesem. Wenn man die Wahrheit direkt ausspricht, stößt man in der Wirklich­ keit nur auf Widerstand. Das ist nicht moralisch falsch, aber es ist ungeschickt, wenn man Veränderungsprozesse anregen möchte. Es geht also um die indirekte Vermittlung eines christlich verstandenen »ethisch-religiösen« (ÜW 14) Gesollten als der »Wahrheit« (ÜW 14) im Singular.611 Die Konsequenz aus diesen Überlegungen für den politischen Raum ist genau nicht, die Opposition zu unterstützen und eine neue Regierung zu fordern, sondern den normativen Maßstab als »Korrektiv« (ÜW 14) zu benennen. »Im Verhältnis zu einem ›Bestehenden‹ hab ich – folgerichtig, da ja mein Besteck gewesen ist ›der Einzelne‹ [...] wider das Numerische, die Menge u.dgl. – jederzeit das Gegenteil von Angreifen getan« (ÜW 14). Dieser normative Maßstab ist also der Einzelne, immer theologisch-anthropologisch gedacht, das Falsche ist das Numerische, der Mensch als bloße Nummer. In diesem Maßstab liegt begründet, dass es gegen das Falsche keine neue oppositionelle Massenbewegung geben kann, weil diese per se das Gesollte verfehlt. Im politischen Diskus gilt es also, für den Einzelnen Partei zu ergreifen gegen jede Denkweise, für die Menschen lediglich ›viele‹ sind, für die es nur Hunderttausende, Millionen und Milliarden gibt. Es gibt nur den Einzelnen (vgl. ÜW 9). Wer indessen regiert, ist weniger bedeutend. Regieren solle, wer »dazu bestellt« (ÜW 14) wurde. In Bezug auf das »kirchlich Bestehende« (ÜW 15) erläutert Kier­ kegaard dessen Rezeption seines Werks Einübung im Christentum, das von den kirchlichen Institutionen als »Stützpunkt für ein Bestehen­ des« (ÜW 15) verstanden worden sei, wenngleich Kierkegaard dies selbst nicht direkt gesagt habe: Dass das Buch (ohne Vorwort des Herausgebers, das ein Ding für sich ist) eine Verteidigung des Bestehenden ist, kann unmittelbar nicht 611 Nach Löwith ist es das Ziel Kierkegaards, mittels der indirekten Mitteilung das Christentum in die Christenheit wieder einführen zu wollen (vgl. Löwith (1979) 541).

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gesagt werden, da die Mitteilung doppelt reflektiert ist; sie kann ja auch gerade das Gegenteil sein oder als solches verstanden werden. Ich sage darum unmittelbar nur, dass ein Bestehendes, das sich selbst versteht, es so verstehen muss; alle doppelt reflektierten Mitteilungen machen einander entgegengesetzte Verständnisse gleich möglich, sodass der Urteilende darin offenbar wird, wie er urteilt (ÜW 15 Fußnote).

Doppelt reflektiert bedeutet hier, dass dieses Werk Kierkegaards prinzipiell offen ist, so dass die Interpretation zeigt, wie der Interpret denkt. Es wird in der Rezeption der Einübung also offenbar, wie bestehende kirchliche Institutionen sich selbst verstehen. Die Frage ist nun, wie genau sich die doppelt reflektierte Mitteilung zur religiösen Mitteilungsabsicht verhält. Es ist zu vermuten, dass der christliche Kontext der religiösen Absicht derjenige ist, in den das Ganze noch einmal eingebettet ist, dass also nicht die doppelt reflektierte Mittei­ lung den Zugang zum Werk Kierkegaards bietet. Der nun folgende Abschnitt wird diese Interpretation bestätigen. Im abschließenden Abschnitt, in der sich Kierkegaard zu den Verhältnissen nach 1848 äußert, macht er jede Interpretation seines Werks als prinzipiell offen noch einmal zunichte. Allein auf weltliche Klugheit zu vertrauen sei gerade ein Mangel an Stärke (vgl. ÜW 16). Noch nie sind das Geschlecht und die Einzelnen in ihm (der Befehlende – der Gehorchende; der Vorgesetzte – der Unterstellte; der Lehrer – der Lehrling usw.) so wie in diesem Jahrhundert entblößt gewesen, wenn man so will, aller Geniertheit dadurch, dass etwas unbedingt fest steht und feste stehen soll; noch nie haben sich sowohl die Meinungen (die allerverschiedenartigsten, auf den mannigfaltigsten Gebieten) so in »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« ungeniert und glücklich gefühlt unter dem Freibrief »bis zu einem bestimmten Maß« und nie wird das Geschlecht wohl so tief zu spüren bekommen, dass es selbst und jeder Einzelne in ihm des bedürfe, dass etwas unbedingt fest steht und stehen soll, des bedürfe, was Gottheit, die liebende in der Liebe, erdachte, des Unbedingten, an dessen Stelle der Mensch, der gescheite zu eignem Verderben, sich selber bewundernd das bewunderte »bis zu einem gewissen Maß« setzte. Heiße den Seemann ohne Ballast zu segeln – er segelt um; lass das Geschlecht, lass jeden Einzelnen in ihm versuchen ohne das Unbedingte zu bestehen: es ist und bleibt ein Stru­ del. Es kann auf längere oder kürzere Zeit, auf ein Stück des Weges anders scheinen, dass es nämlich Festigkeit und Sicherheit sei: im Grunde ist und bleibt es Strudel, selbst die größten Ereignisse und das anstrengendste Leben bleiben dennoch Strudel oder etwas wie Nähen ohne festgemachtes Ende – bis das Ende wieder festgemacht wird

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dadurch, dass das Unbedingte angebracht wird, oder dadurch, dass der Einzelne, ob auch auf noch so großen Abstand, doch zu einem Unbe­ dingten sich verhält. Bloß im Unbedingten leben, bloß das Unbedingte einatmen, das kann der Mensch nicht, er kommt um gleich dem Fisch, der in der Luft leben soll; aber andererseits, ohne sich zum Unbeding­ ten zu verhalten kann ein Mensch im tieferen Sinn auch nicht »leben«, er haucht aus, das heißt, er fährt vielleicht fort zu leben, aber ohne des Geistes Hauch (ÜW 16 f., Hervorhebung JA).

Kierkegaard skizziert hier eine Säkularisierungsbewegung im Tempus Perfekt, in der der Mensch selbst mitsamt seines unbestimmten Maßstabs ›bis zu einem bestimmten Maß‹, bei dem das zu Definie­ rende in der Definition wiederkehrt, sich selbst an die Stelle des Unbedingten als des hier explizit theologischen Maßstabs gesetzt hat. Und der Mensch fühlt sich dabei, dass nichts unbedingt feststeht, noch feststehen soll, glücklich. Im zweiten Schritt stellt Kierkegaard im Tempus Futur dar, welche Folgen das haben wird: Der Mensch wird die Konsequenzen zu spüren bekommen, und es wird im Verderben enden. Dazu benutzt er zwei Metaphern: Das Segeln ohne Ballast und das Nähen ohne festes Ende. Beiden Metaphern ist gemein, dass es, wie er auch erläutert, für eine Zeit gut gehen mag und so aussieht, als ob es funktioniert, aber es wird in einer Katastrophe enden. Wenn es stürmischer bzw. komplexer wird, fehlt jegliche Stabilität und die Gebilde fallen zusam­ men. Festigkeit und Sicherheit werden sich als Illusion herausstellen. Das Vorhaben als Ganzes kann auf diese Weise nichts werden, ist zum Scheitern verurteilt.612 Auf der Ebene der Metaphorik könnte man einwenden, dass ein modernes Boot durchaus ohne Ballast, allein durch Konstruktion und die Hebelwirkung des Eigengewichts des Seglers segeln kann. Das ist aber kein Boot, auf dem man leben kann. Gewichtiger scheint der Einwand, dass man sehr wohl in einem Zug stricken kann. Oder auf dem Planeten Erde. Es genügt ein Punkt, der relativ zum Strickenden und dessen relativem Horizont, aber nicht absolut fest ist. Diese Metapher sagt damit genau nicht, was Kierkegaard meint. Kierkegaard geht hier nämlich davon aus, dass der Mensch einen absolut festen Halt, »Festigkeit« (ÜW 16), das »Unbedingte« (ÜW Wenn Park gegen Kierkegaard von einem »(relativ) glücklichen Leben« (Park (2019) 163, Klammer im Original) in säkularen modernen Gesellschaften spricht, verkennt er die Problemlage des Menschen, oder teilt die existenzphilosophische Diagnose zumindest nicht. 612

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16), »Gott« (ÜW 16), einen »Grund« (ÜW 16) und damit verbunden einen absoluten Maßstab benötigt. Diese Annahme Kierkegaards scheint in der Tat durch die Frage des Menschen nach der »Wahr­ heit« (ÜW 14) bestätigt zu werden. Ein fester metaphysischer Grund scheint notwendig zu sein. Daher wäre es umso problematischer, falls es diesen nicht geben sollte. Das Leben gelingt hier explizit, indem der Einzelne »zu einem Unbedingten sich verhält« (ÜW 16). Bemerkenswert ist in diesem Kontext der Begriff »Abstand« (ÜW 16). Das Verhältnis zum Unbe­ dingten kann auf Abstand sein, entscheidend ist das Verhältnis. Es kann sehr individuell sein. Es gibt keinen vorgegebenen Abstand, kein vorgegebenes Rezept. Das Leben misslingt, wenn der Mensch sich und seine eigene Maßstäbe an die Stelle des Unbedingten setzt. Ohne Verhältnis zum christlichen Absoluten lebe man »vielleicht« (ÜW 17) weiter, aber es ist nicht das eigentliche Leben, nicht das Leben des Geistes. Die dritte Metapher des Abschnitts, die des Fisches, besagt, dass der Mensch nicht ausschließlich im Verhältnis zum Unbedingten leben kann. Wir brauchen die Welt, die Wirklichkeit, um zu atmen, etwa weil wir auch leibliche Wesen sind. Für ein reines Verhältnis zum Absoluten sind wir nicht geschaffen. Vielmehr müssen wir uns immer auch zum Absoluten verhalten. Diese Arbeit vermutet, dass sich diese Textpassage auf der Ebene bewegt, um die es Kierkegaard der Sache nach geht. Sein Werk wäre damit genau nicht doppelt reflektiert und offen (vgl. ÜW 15), sondern es kreiste um das Aufmerksam-Machen auf das Christliche in der Christenheit (vgl. ÜW 6). In den abschließenden Zeilen benennt Kierkegaard seinen »Gegenstand« (ÜW 17) und sein »Streben« (ÜW 17) noch einmal explizit als das Religiöse, das für ihn gleichbedeu­ tend mit dem Christlichen ist. Das Leben gelingt als Verhältnis des Einzelnen zum Unbedingten. Es misslingt in der »Tyrannei […] der großen Zahl« (ÜW 17), als das Numerische – als bloßes Mitmachen, verantwortungslos und geistlos einer von vielen zu sein, von anderen als lediglich einer von vielen gesehen zu werden und sich selbst so zu sehen. In einem anderen Menschen eine unbedingte Autorität zu sehen, sei kindisch (vgl. ÜW 17). Damit kann folgendes festgehalten werden: Kierkegaard geht von einer fundamentalen Dichotomie zwischen Christen und Nicht­ christen und einem qualitativen Vorzug des Christentums gegen über allen anderen sozialen Gruppen aus. Diese paradigmatischen

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Annahmen liefern als ethisch-religiöse Wahrheit einen normativen Maßstab – den des einzelnen Menschen gegen das Numerische. Da die direkte Mitteilung des Christlichen in der Wirklichkeit nur auf Widerstand stoßen wird, wählt Kierkegaard Dichtung und pseud­ onymes Schreiben als Methode der indirekten Mitteilung, um dem einzelnen, in der Verkehrung lebenden Menschen einen Zugang zum Wahren zu schaffen. Der Lehrer nimmt sich dabei selbst zurück, lässt das Ideologische brüchig werden und den Einzelnen für sich das Wahre entdecken, auf es aufmerksam werden, ihm begegnen. In der verkehrten Gesellschaft werden Sachzwänge gegen das normativ Geforderte ausgespielt, womit es zur unerreichbaren Illusion erklärt und Konformität mit ersteren für es ausgegeben. Politisch kann das Prinzip des Einzelnen keine oppositionelle Massenbewegung gegen das Bestehende fordern, sondern das Aufmerksam–Machen auf den Maßstab gegenüber denjenigen, die nur noch von Zahlen sprechen, wenn es um Menschen geht. Das Leben misslingt im Versuch des Menschen, sich selbst und seine Maßstäbe an die Stelle des Unbeding­ ten zu setzten. Der Versuch ist zum Scheitern verurteilt und wird in einer Katastrophe enden. Es gelingt als Verhältnis des Einzelnen, der sich, wenn auch auf Abstand, immer auch zum Unbedingten verhält. Kierkegaard geht davon aus, dass der Mensch eines festen Grundes bedarf, und verortet diesen im Christlichen. Kierkegaards Werk ist insgesamt im Kern als indirekte Mitteilung des Christlichen in der Christenheit, und nicht als doppelt reflektierte, offene indirekte Mitteilung zu verstehen.

6.3 Zwischensynthese Das Leben misslingt also im Modus der ideologischen Verkehrung, in dem die jeweilige Gesellschaft ihre Sachzwänge an die Stelle des Gesollten setzt und Misslingen für das Gelingen ausgibt. Das Aufgabe eines gelingenden Lebens liegt demnach darin, aus diesem Modus der Verkehrung heraus in ein eigentliches Verhältnis zum festen Grund von Existenz zu gelangen und ein Christ zu werden. Die Methode der indirekten Mitteilung ist gemäß dieser Aufgabe gewählt, weil die direkte Mitteilung des normativ Gesollten im ver­ kehrten Kontext nicht verstanden werden würde. Ziel ist es, den Einzelnen an den Punkt zu führen, wo die herrschende Ideologie für ihn brüchig wird. Methodisch negativistisch bietet die Reflexion

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aus dem Falschen heraus, die Reflexion der Verkehrung, Zugang zum Gesollten. Dessen Gehalt ist dabei nicht prinzipiell offen im Sinne einer doppelten Reflektiertheit, sondern es ist das Christliche. Es gibt nur den Einzelnen, und der Einzelne soll sein. Aufgrund dieses christlich-paradigmatischen Horizonts ist die Kierkegaardsche Konzeption, so wird das folgende Kapitel zeigen, für einen Vergleich mit Albert Camus in erster Linie strukturell interessant.

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Und das alles ›für nichts‹, nur um zu wiederholen ... (MS 149)

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III Vergleich

Ziel des abschließenden dritten Hauptkapitels der Arbeit ist der Vergleich der Konzeptionen Camus’ und Kierkegaards vor dem Hin­ tergrund der Ergebnisse der ersten beiden Kapitel. Das Vergleichska­ pitel besteht aus fünf Unterkapiteln: Analog zur zentralen These zur Sache geht es von der Beschreibung beider Denker des misslingenden Lebens aus, um über die aufklärerische Funktion des Todes zur Idee gelingenden Lebens zu gelangen. Die Arbeit reflektiert das metho­ disch-negativistische Vorgehen beider Denker und schließt mit der Diskussion der Ergebnisse.

1 Das misslingende Leben Das erste Unterkapitel fragt nach dem Gemeinsamen in den Analysen des misslingenden Lebens beider Denker und geht dazu in vier Schritten vor: Von der Diagnose des Absurden und der zentralen Metaphorik des Fehlen des Grundes bei Camus her wird die Parallele zu Kierkegaard gesucht. Der zweite Schritt analysiert das Begriffsund Metaphernfeld der resultierenden Erfahrung des Negativen bei beiden Denkern, der dritte Schritt die Kritik des Alltagslebens als eines unbewussten Leidens. Besonders letztere Diagnose forciert die Frage nach dem Maßstab beider Denker. Der vierte Schritt zeigt, dass bei Kierkegaard immer eine christliche Tiefenschicht als Maßstab fungiert, und daher seine Diagnose der – mit Camus gesprochen – Absurdität allenfalls eine relative ist, während bei Camus genau das Fehlen dieses Maßstabs als Maßstab der Diagnose absoluter Absur­ dität fungiert. Die Parallelen zu Kierkegaard können also lediglich struktureller Natur sein.

1.1 Das Fehlen jedes tiefen Grundes zu leben Das Grundproblem Camus’ ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Grund-Problem, und doch ist der Begriff ›Grund‹ gleich wieder

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metaphorisch. Camus diagnostiziert das »Fehlen jedes tiefen Grundes zu leben« (MS 14). Es fehlt ein Prinzip, ein Fundament oder ein Horizont, der dem Menschen das Ganze begreiflich macht, der Werte begründet, die das Leben als sinnvoll erkennbar machen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich der Mensch und dem Menschen notwendig, bleibt aber unbeantwortet. Dadurch kommt es zum Bruch zwischen Mensch und Welt. Das Verhältnis von Mensch und Welt, von Bedürfnis und Gebotenem, von Frage und Schweigen, ist disso­ nant, lateinisch ›absurd‹. »Absurd aber ist der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird« (MS 33). Die absurde Haltung ist »sich ihrer Grundlosigkeit bewusst« (MS 133). Der Begriff des Grundes und dessen Fehlen ist auch bei Kierke­ gaard zentral. In der Krankheit zum Tode »gründet« (KT 33) das Selbst sich in der Macht, die es gesetzt hat, oder es ist »im Grunde« (KT 69) verzweifelt. Für das trotzige Sich-selbst-schaffen-Wollen gilt: »Im Grunde liegt auch das Ganze im Nichts« (KT 102), weil der Mensch sich so doch »im letzten Grunde« (KT 102) ein Rätsel bleibt, ihm dasjenige fehlt, was sein Leben tragen und ihm einen Sinn geben könnte. Camus’ These, Kierkegaard habe das Absurde entdeckt (vgl. MS 38), bezieht sich aber insbesondere auf die Passage der »bodenlosen Leere« (FZ 191, vgl. dazu MS 57) in Furcht und Zittern, angesichts derer die Menschheit eine sinnlose Abfolge von Generationen wäre. Diese Passage ist jedoch in der pseudonym verfassten de SilentoSchrift im Irrealis verfasst, der die Darstellung der Geschöpflichkeit des Menschen im Indikativ gegenübersteht. Camus’ These ist, dass Kierkegaard diese Bodenlosigkeit in seinem Sinne des Absurden im Indikativ entdeckt hat. Eine zweite Passage in Furcht und Zittern findet sich in der Faust­ interpretation, der zufolge Faust vermag, »das Dasein unter ihren Füßen wankend zu machen« (FZ 307). Die Metaphorik impliziert auch hier, dass das Leben festen Grund oder Boden unter den Füßen braucht und nicht solchen, der nur illusorisch fest ist, faktisch aber nicht. Eine dritte findet sich in der Beschreibung der dämonischen Natur am Beispiel Glosters aus Shakespeares Richard III., der sich »von Grund auf« (FZ 303) im Paradox befinde. Die Thematik von Grund und Boden, Grundlosigkeit und Boden­ losigkeit ist dazu zentral in Kierkegaards Ästhetischen Schriften. Sie findet sich in den Diapsalmata aus Entweder-Oder, die die Stim­

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mung des Ästhetischen beschreiben, an mindestens drei Stellen, dazu auch in den Briefen des jungen Mannes in der Wiederholung. Die Schlüsselmetapher613 der Spinne beschreibt den fortwährend vergeblichen Versuch, im leeren Raum Fuß zu fassen (vgl. EO 33). Analog zu Camus ist hier der Prozess des Fragens nach Grund und der fortwährenden Enttäuschung kontinuierlich und nicht unaufgebbar. Die zweite Metaphorik ist die Ahnung des Erdbebens (vgl. EO 39), also die Ahnung, dass jeder scheinbar feste Grund Illusion ist, dass – um die Metaphorik weiter zu denken – der Grund faktisch immer in tektonischer Bewegung ist und der Mensch im Alltag unfähig ist, den feinen Unterschied zwischen festem Grund und der Illusion von festem Grund wahrzunehmen. Entsprechend zu Camus gibt es hier eine Differenz zwischen dem Fühlen der Bodenlosigkeit, dem Wissen um die Bodenlosigkeit, und dem Faktum, dass dies so ist. Im Alltag mag ein ›als ob‹ funktionieren, aber die Katastrophe, die den Nichtahneneden trifft, ist dann umso verheerender. Das dritte Bild der Bodenlosigkeit der Diapsalmata ist das Kind, dass im offenen Meer schwimmen lernen soll und die Stange, die es halten soll, nicht sieht (vgl. EO 42). Wie die sich abseilende Spinne, so ist auch im offenen Meer das Tasten nach festem Grund vergeblich. Gemäß der Struktur des Absurden bei Camus passen auch Erwartung und Bedürfnisse des Nichtschwimmers nicht zusammen, und selbst die Stange, Hilfskon­ struktion, um überhaupt in dieser Situation überleben zu können, ist unsicher. Der Nichtschwimmer kann nicht anders, als festen Grund zu wollen.614 Eine ähnliche Metaphorik von Meer und im weiteren Sinne der Naturkatastrophe für das Bodenlose bietet das Bild des Schiffs, das ohne Ballast segelt, in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (vgl. ÜW 16). Diesmal ist es das Schiff, dem der feste Grund fehlt. Genau wie bei tektonischen Plattenverschiebung kann das instabile Segeln im Alltag funktionieren, bei schönem Wetter, aber Sturm und Naturkatastrophe zeigen die Wahrheit über die Illusion von Festigkeit. »Im Grunde« (ÜW 16) fehlt etwas, das bildlich dem Fehlen des Grundes bei Camus entspricht. Kierkegaard selbst löst an dieser Stelle die Metaphorik auf: Es fehlt das Verhältnis »zu einem Unbedingten« (ÜW 16), was dem Verhältnis zu einem Anderen in der Vgl. Rapic (2007) 201. Hackel interpretiert an dieser Stelle den Ästhetiker A als nach Außen ästhetisch, nach Innen aber dämonisch verzweifelt, und führt darüber Entweder-Oder und die Krankheit zum Tode eng (vgl. Hackel (2011) 396 f.). 613

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Krankheit zum Tode (vgl. KT 32) als Alternativszenario zum Fehlen des Grundes entspricht. Man könnte auch die Metapher des ›Finger in das Dasein Ste­ ckens‹ aus der Wiederholung (vgl. WH 410) in diesem Kontext interpretieren615, was ein Zurückdenken der Metaphorik fordert, die Kierkegaard selbst dem Schmecken der Erde entleiht. Im Schmecken des Nichts liegt, wie beim Absurden Camus’, ein Verhältnis von Erwartung und Enttäuschung. Das Dasein schmeckt nach nichts, analog der Erde, die eigentlich metaphorisch tragender fester Grund sein sollte, aber den Erwartungen nicht entspricht. Das Bild des Fehlens eines tiefen Grundes, aus dem bei Camus die Absurdität des Verhältnisses zwischen Menschen und Welt folgt, findet sich also auch in den Werken Kierkegaards. Camus unterscheidet zwischen zwei zentralen Zugangsweisen, dem »Gefühl« (MS 14) und dem »Erkennen« (MS 22) des Absurden. Der Erfahrung des Absurden wird sich das hierauf folgende Kapitel ausführlich widmen. Hier geht es zunächst darum, die theoretischen Grundlagen des Fehlens des tiefen Grundes zu klären. Der Grund für das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben ist das Scheitern der Meta­ physik.616 Die klassische Metaphysik, etwa in ihrer – man könnte sagen – vollendeten Fassung als das Hegelsche System, welches sei­ nem eigenen Anspruch617 gerecht würde, würde über genau den »Grund und Boden«618 aufklären, der das Verhältnis von Mensch und Welt harmonisieren würde. Metaphysik, »als Wissenschaft oder als System«619 würde wirklich wahres »Wissen«620 ausweisen. Dass die­ ses Projekt gescheitert621 ist, ist selbstverständlich eine gewaltige

615 Zur Engführung von Konzeptionen misslingenden Lebens aus Entweder-Oder, der Wiederholung und der Krankheit zum Tode im Horizont von Kierkegaards Diskussion der romantischen Ironie als scheiternder Existenzform vgl. Schwab (2008) 38 f. 616 Jedes theoretische Apriori ist nachträglich gegenüber der Wirklichkeit als Exis­ tenzvollzug des Einzelnen (vgl. Hühn (2009) 205 f.). 617 Die These ist, dass die Metaphysik sich hier maßlos überschätzt (vgl. A. Pieper (2014) 91). Der Wirklichkeitsbegriff der Vernunftphilosophie ist für Kierkegaard in letzter Hinsicht Selbsttäuschung (vgl. Hühn (2004) 101). 618 Hegel, PhG 29. 619 Hegel, PhG 27, Hervorhebung GWFH. 620 Hegel, PhG 27. 621 Das Zeitalter der Metaphysik gehört nach W. Schulz der Vergangenheit an (vgl. W. Schulz (1975a) 323).

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These622, die auch heute noch auf heftigen Widerstand stößt, der Camus aber gerade einmal drei Seiten seiner Untersuchung widmet (vgl. MS 27 ff.). Jeder Behauptung von Prinzip oder Einheit623, so die zentrale These, stehe der sie Behauptende aber in seinem Anderssein gegenüber. Dies ist selbstverständlich eine sehr vereinfachte Darstel­ lung, und es nicht Aufgabe dieser Arbeit, sie an der Geschichte der Metaphysik zu prüfen. Die Arbeit geht sie mit, um mit Camus weiter zu denken, der aus dieser Darstellung die Geschichte der Metaphysik als Geschichte der zunehmenden Einsicht in ihr Scheitern interpre­ tiert (vgl. MS 31). Es ist ebenfalls nicht Thema dieser Arbeit, Kierkegaards Ausein­ andersetzung mit Hegel zu prüfen.624 Ähnlich wie Camus beschreibt Kierkegaard die Position des Systemarchitekten als außerhalb des Systems, nicht wie Camus durch den Akt des Behauptens, sondern mit Blick auf dessen »persönliches Leben« (KT 68). Was Kierkegaard und Camus darüber hinaus verbindet, ist zumindest eine bemerkenswerte Sicherheit, mit der sie vom Scheitern dieses Projekts ausgehen, deren Grad doch ihre eigene Auseinandersetzung mit der Sache weit übersteigt. Kierkegaard spricht polemisch von »Heinzelmännchen und Kobolden« (BA 450 Fußnote 1), die die logische Bewegung voran­ treiben, vermutlich ohne selbst die Wissenschaft der Logik gründlich studiert zu haben. In ähnlicher Weise polemisiert auch der Ästhetiker in Entweder-Oder gegen die Dialektik Hegels (vgl. EO 50).625 Auch Camus geht in einer Weise von einem – man könnte sagen – Forschungsstand seiner Zeit aus (vgl. MS 35), wie das eigentlich in der Philosophie nicht möglich ist, da es keine Autorität gibt, die die Richtigkeit dieser Diagnose verbürgen könnte. Dem Gedankengang 622 Zur These des Scheiterns von Metaphysik, Naturphilosophie und Transzendental­ philosophie vgl. Wesche (2015) 68. 623 Das philosophische Problem der Einheit stellt sich dagegen für Camus selbst nicht im metaphysisch-spekulativen, sondern in einem ethisch-existentiellen Sinne (vgl. A. Pieper (1984) 64). 624 Adorno etwa resümiert, »philosophisch« (Adorno, KdÄ 311) falle Kierkegaard hinter Hegel zurück, habe die Dialektik nicht verstanden (vgl. Adorno, KdÄ 306). Zur Hegelkritik Kierkegaards vgl. auch Hühn (2009) 89 ff. 625 Pattison fasst Kierkegaards Hegelkritik wie folgt zusammen: Es gibt keine logische Bewegung, Hegel beginnt mit nichts, abstrahiert von der Wirklichkeit und vergisst dabei sich selbst (vgl. Pattison (2015) 83). Für Theunissen sind folgende Aspekte zentral: Es gibt keine logische Bewegung, die Identität von Denken und Sein ist nur gedacht, universale Vermittlung geht auf Kosten des Vorlaufens, Glaube ist mehr als nur Gefühl (vgl. Theunissen (1996) 10).

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des Mythos des Sisyphos müsste eine eigene gründlichere Diagnose des Scheiterns der Metaphysik voraus gehen, nicht lediglich der Ausgang vom Denken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Interaktion mit Denkern im Paris der 1940er. Camus stützt sich hier unter anderem auf Kierkegaard, dieser wiederum selbst auf die Hegelkritik des späten Schelling. Camus interpretiert nun die gesamte Metaphysikgeschichte als »Beweis« (MS 34) für das Fragen und das Bedürfnis des Menschen und damit für die für das Absurde konstitutive Seite. 100 Jahre nach Kierkegaard bietet sich ihm zudem ein Blick auf die modernen Einzelwissenschaften626, die er in bemerkenswerter Weise in dieses Bild integriert (vgl. MS 31).627 Zum einen verliert die Wissenschaft durch ihren hypothetischen Charakter das ursprüngli­ che Ziel sicheren Wissens, zum anderen durch die Notwendigkeit von Metaphern ihr eigenes Ziel der Klarheit und Exaktheit. In der heutigen Zeit, also weitere gut 75 Jahre später, ist die Diagnose von Hypothesenhaftigkeit und Metaphorik immer noch korrekt und hat sich sogar weiter verschärft. In Zeiten von Paradigmen und Forschungsprogrammen nach Kuhn und Lakatos628 ist ein Fortschritt durch Falsifikation von Hypothesen im Sinne Poppers nicht mehr ausweisbar. In der Diskussion etwa um Gedankenexperimente629 in der Wissenschaftstheorie, präziser gesagt in der Wissenschaftswis­ senschaft, zeigt sich, dass Metaphorik nicht lediglich Darstellung exakten Wissens ist, sondern untrennbar zum Wissenschaftsprozess selbst gehört. Camus’ Fazit »[...] nie werde ich wirklich etwas wissen« (MS 31) ist aktueller denn je, seine Implikation, die Grundstruktur des Absurden, wird jedoch weder von den Wissenschaften noch von der Wissenschaftstheorie in gleicher Weise mit reflektiert. »Am Ende […] hört auch die Wissenschaft auf, Vorschläge zu machen« (MS 125), die das Leben erklären oder seine Paradoxien auflösen könnten, und Camus sieht sich in dieser Resignation der Einzelwissenschaften bestätigt. Auch Kierkegaard sähe in den an den Naturwissenschaf­ ten orientierten Einzelwissenschaften, die den einzelnen Menschen Die Einzelwissenschaften als solche verstellen den Blick auf das Wesentliche (vgl. Theunissen (1979) 497). 627 Zur These der negativen Abhängigkeit des Existenzbegriffs vom modernen Naturbegriff vgl. Löwith (1979 551). 628 Für eine Darstellung der Hauptströmungen der (analytischen) Wissenschafts­ theorie vgl. Hecking (1996) 22 ff. 629 Vgl. Helms (2018) 33 ff. 626

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auf ein ›n‹ einer Grundgesamtheit reduzieren, seine Diagnosen sicher bestätigt. Damit wäre nicht nur das kantische Projekt einer Metaphysik, »die den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe«630 gescheitert. Auch die »Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft«631 sind keine Vorbilder mehr für sicheres Wissen auch auf dem Feld der Metaphysik, dem keine »Irrtümer zum Grunde«632 liegen. Weder ist »Metaphysik [...] als Wissenschaft«633 möglich, noch scheint Wissen­ schaft in diesem Sinne als Wissenschaft möglich.634 Am Ende bleiben für Camus das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben, das eigene Selbst, die Welt und die Sterblichkeit als Gewiss­ heiten (vgl. MS 29 ff.). Das Selbst ist introspektiv sicher, aber unde­ finierbar, die Welt ertastbar, aber unbegreiflich, die eigene Sterblich­ keit uns gewiss.635 Auch für Kierkegaard sind diese ›Tatsachen‹ gewiss. Das menschliche Selbst, die Realität der Welt und die Zeit­ lichkeit des Menschen als Endlichkeit werden nicht ernsthaft in Zwei­ fel gezogen. Der wahre Zweifel ist schlimmer, denn er betrifft den Sinn dieses Lebens. Bemerkenswerterweise betrifft der Zweifel nicht die intersubjek­ tive Moral. Diese Schlussfolgerung findet Camus »lächerlich« (MS 91). Auch bei Kierkegaard verfügt der gottlose verzweifelte Heide über die Vorstellung des »Pflichtverhältnisses zu anderes Menschen« (KT 72). Das primäre Problem ist nicht Gerechtigkeit, das Problem ist Sinn. Camus formuliert die Frage nach dem Sinn des Lebens radikal aus der Frage nach der Folgerichtigkeit des Selbstmords636 aus der Einsicht in das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben und der daraus folgenden absurden Grundstruktur des Lebens. Auch bei Kierkegaard führt die Reflexion zur Frage nach dem Selbstmord, auf der hohen Reflexionsebene des Verschlossenen in der Krankheit zum Tode, dessen Flucht zurück in die Welt nicht mehr gelingen kann (vgl. KT 98), sowie auf der Ebene des Ästhetikers in Entweder-Oder, der Kant, KrV 15. Kant, KrV 21. 632 Kant, KrV 5, Hervorhebung JA. 633 Kant, Prolegomena IX. 634 Das »Sein des Seienden als Geordnetheit« (Figal (1984) 20), das Figal noch bei Kierkegaard auszumachen versucht, ist damit nicht mehr auszumachen. 635 Heidegger zeigt, dass das Wissen um die eigene Sterblichkeit kein Induktions­ schluss ist (vgl. Heidegger, SuZ 257). Für die Gegenthese vgl. Müller-Lauter (1975) 125 f. 636 Vgl. Hengelbrock (1984) 44. 630

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fragt, ob ihm lediglich der Mut zum Selbstmord fehle (vgl. EO 48), der sich also die Camus’sche Frage nach der Konsequenz des Selbstmord ebenfalls stellt. Für Camus und Kierkegaard ist der Selbstmord nicht trivial pathologisch, sondern bringt aus Freiheit gerade das Problem auf den Punkt (vgl. MS 14). In der Möglichkeit des radikalen Nein-Sagens zum Leben, dem metaphorischen Abschneiden des Fadens bei Kierke­ gaard (vgl. EO 41), zeigt sich vielmehr die Freiheit. Durch das dissonante Verhältnis von Mensch und Welt tut sich dem Menschen ein Abgrund637 auf. Es ist also, metaphorisch gesprochen, metaphysisch Nacht (vgl. MS 57, 87). Nach dem Zusam­ menbruch der Metaphysik fehlt der Grund, fehlt die Idee der Ideen, die seit Platon durch die Sonne symbolisiert wurde. Diese metaphysische Diagnose interessiert nicht in erster Linie als theoretisches Problem der fehlenden Fundierung der Wissenschaft(en), sondern in ihrer Implikation für das Leben des einzelnen Menschen.

1.2 Die Erfahrung des Negativen Der zweite Schritt des Unterkapitels zum misslingenden Leben geht der Beschreibung der Erfahrung des Negativen sowie den mit dieser Erfahrung verknüpften Begriffs- und Metaphernfeldern beide Denker nach, welche auf die zuvor beschriebenen Erfahrung der Bodenlosig­ keit und die Einsicht in sie folgt. Camus selbst führt explizit seinen Begriff des Absurden mit Kierkegaards Begriff der Verzweiflung eng (vgl. MS 56). Damit steht Kierkegaards Krankheit zum Tode im Zentrum des nun versuchten Vergleichs der Phänomenbeschreibun­ gen und -analysen des Negativen, wird aber durch weitere Werke Kierkegaards ergänzt werden.638 Das Absurde und die Verzweiflung sind keine abstrakten theo­ retischen Erkenntnisse, sie betreffen den Menschen. Kierkegaard beschreibt, wie im zweiten Hauptkapitel ausführlich dargestellt, die bewusste Verzweiflung in zwei Figuren, dem schwachen ›verzweifelt 637 Abgrund meint nach Heidegger die Abwesenheit des Grundes (vgl. Heidegger, Beiträge 379). 638 Rasmussen unterscheidet vier Typen des Nihilismus bei Kierkegaard: Das SichVerwechseln mit der Menschheit, den wissenschaftlichen Nihilismus, den Zusam­ menbruch des Sinnganzen und die Negativität der Endgültigkeit des Todes (vgl. Ras­ mussen (2017) 210 ff.).

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nicht man selbst sein Wollen‹ (KT 76 ff.) und dem trotzigen ›verzwei­ felt man selbst sein Wollen‹ (KT 99 ff.). Er stellt dar, wie auf der nied­ rigsten Reflexionsstufe dem Einzelnen etwas von außen zustößt, etwa ein Schicksalsschlag, der ihn zur Reflexion zwingt und verzweifeln lässt (vgl. KT 79). Die Selbstzuschreibung der Verzweiflung als Ver­ zweiflung ist korrekt, aber verkehrt gemeint, da es kein Bewusstsein vom Fehlen eines tiefen Grundes zu leben gibt. Man wurde aus der Bahn geworfen und sieht die Lösung darin, wieder auf diese Bahn der soziokulturell vorgezeichneten Lebenswege zu gelangen. Auf höherer Reflexionsstufe verzweifelt man ohne einen derartigen äußeren Anlass allein durch die Fähigkeit der Reflexion. Kierkegaard beschreibt hier einen »Absonderungsakt« (KT 83), in dem es entspre­ chend dem Reflexionsvermögen des Einzelnen zum graduellen Bruch zwischen Mensch und Welt kommt. Diese Verzweiflung kann sich zur Verschlossenheit potenzieren und zum Selbstmord führen (vgl. KT 84 ff.). Camus setzt sozusagen gleich auf der nach Kierkegaard höheren Reflexionsebene an, weshalb er vom Selbstmordproblem ausgeht. Das Absurde springt den Menschen an (vgl. MS 20). Dies kann im eigenen alltäglichen Dahinleben geschehen, in der bloßen Betrach­ tung der Welt, des Anderen, und des eigenen Selbst (vgl. MS 23 ff.). Camus beschreibt hier, was Kierkegaard mit Absonderungsakt meint, und wählt selbst, später im Werk, den Begriff des »Bruchs« (MS 70). Auf niedriger Reflexionsebene zeigt sich bei Camus das Absurde als ein leiblich-affektives Aufbegehren gegen das Dahinleben in der Zeit (vgl. MS 23 f.). Im Unterschied zu Kierkegaard zeigt sich hier aber das Absurde als das Absurde. Etwa 100 Jahre nach Kierkegaard kann Camus dahingehend über seinen Vorgänger hinausgehen, dass sich das Absurde nicht nur im Alltäglichen, in »Büro oder Fabrik« (MS 22), sondern auch im Extrem, in den technisierten Kriegen im »Maschinenzeitalter« (MS 112) zeigt. Alltag und Extrem, bürgerlichkapitalistische Normalität und das Massensterben, deuten auf das­ selbe Phänomen. Camus und Kierkegaard beschreiben, dass der Mensch die Welt nicht mehr versteht (vgl. MS 24). Charakteristisch für beide Beschrei­ bungen ist die temporale Struktur dieser Einbruchserfahrung, von einem Augenblick auf den anderen. Er vollzieht sich »plötzlich« (MS 14), »blitzartig« (KT 42). Dieses Sprunghafte ist bei Kierkegaard Grundstruktur der Wirklichkeit: »Die Geschichte des individuellen Lebens verläuft in einer Bewegung von Zustand zu Zustand. Jeder

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Zustand wird durch einen Sprung gesetzt« (BA 577). Dabei ist der Augenblick »Übergangskategorie schlechthin« (BA 538 ff. Fußnote 2). Nicht nur die Konfrontation mit dem Negativen, auch die Kon­ frontation mit dem Christlichen bei Kierkegaard vollzieht sich glei­ chermaßen »plötzlich« (ÜW 6 Fußnote 1), »wie von einem Schlag« (WH 430) glättet sich der Bruch, und der Mensch wird wieder er selbst. Obwohl bei Camus der theoretische Hintergrund dieser Über­ legungen gänzlich fehlt, so arbeitet er dennoch mit den gleichen Strukturen und Figuren. Dies gilt ebenfalls nicht lediglich für die reine Negativseite der Analysen. Auch für Camus’ Glücksinterpretation des Sisyphos sind »Augenblick« (MS 160) und das »Plötzliche« (MS 159) von zentraler Bedeutung. Gemeinsam ist beiden Denkern auch, dass sich in der Einbruch­ serfahrung etwas als dasjenige zeigt, was es in Wahrheit immer schon gewesen ist. Das Ereignis oder der Reflexionsschritt bei Kierkegaard führt zwar zur Selbstzuschreibung von Verzweiflung, der Einzelne verzweifelt aber nicht in diesem Augenblick, sondern es wird lediglich offenbar, dass er immer schon verzweifelt gewesen ist (vgl. KT 45, KT 69). Camus formuliert den gleichen Gedanken metaphorisch mit dem Einsturz von Kulissen (vgl. MS 22), die als sich Kulissen zeigen (vgl. MS 24). Das Absurde ist also nicht das Neue, sondern der Einbruch des Absurden zeigt, was immer schon gewesen ist, was bisher lediglich »verstellt« (MS 24) gewesen ist und sich nun als dasjenige zeigt, was es in Wahrheit ist. Das Leben bei Kierkegaard ist immer schon Verzweiflung, das Verhältnis Mensch – Welt bei Camus immer schon absurd gewesen. Kierkegaard und Camus beschreiben beide die Einsicht in das in Camus’ Sinne Absurde, in die Verzweiflung bei Kierkegaard, aus der Unmittelbarkeit639 heraus mit der Übergangsmetaphorik des Aufwachens. Im Mythos des Sisyphos ist das Aufwachen noch ein Prozess des Gewecktwerdens durch die Warum-Frage, worauf hin das Bewusstsein zurückfällt oder »endgültig« (MS 23) erwacht. Kier­ kegaard benutzt dieselbe Metaphorik in der Krankheit zum Tode, wenn er von der »Möglichkeit als Erweckung aus Geistlosigkeit spricht« (KT 66). Auch hier ist es ein zunächst passiver Prozess des Er- oder Gewecktwerdens. Das Bild findet sich ebenfalls an einer Schlüsselstelle der Rede An einem Grabe, in der es der Tod ist, der 639 Die Unmittelbarkeit ist bei Kierkegaard nicht das erste, sondern sündentheolo­ gisch immer schon Akt der Freiheit (vgl. Theunissen (1979) 506).

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wach macht (vgl. AG 185). Dies zeigt bereits an, dass in der Gestalt des Aufweckens die Begriffe Absurdität, Möglichkeit und Tod in einem Verhältnis stehen, was später noch im Vergleich der Autoren erläutert werden wird. Kierkegaard beschreibt dieselbe Figur, die Camus »Rückkehr« (MS 23) nennt, als ein »Zurückschrecken« (KT 83) des reflektierenden Bewusstseins zurück in die Unmittelbarkeit. Diese Abkehr von oder Verdrängung von einmal Erkanntem ist dabei nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Je mehr Reflexion, desto seltener ist sie in der Welt, und es »springen die meisten bald wieder ab« (KT 86). Thema ist also ein metaphysischer Nachtzustand, dessen sich der Einzelne plötzlich bewusst wird und sich gleichzeitig bewusst wird, dass er sich immer schon in diesem Zustand befunden hat. Es gilt nun darzustel­ len, wie die beiden Denker das Erleben dieses Zustandes skizzieren: Bereits im Vorwort beschreibt Camus sein Hauptwerk als »Beschreibung eines geistigen Gebrechens im Reinzustand« (MS 10), nutzt also die Metaphorik der Krankheit.640 Den Begriff der Krankheit des Geistes benutzt Camus selbst im Weiteren genau noch ein einziges Mal (vgl. MS 125), nimmt aber, wie schon erläutert, explizit auf diesen Begriff bei Kierkegaard Bezug. Für Kierkegaards Krankheit zum Tode ist der Begriff der Krankheit offensichtlich der titelgebende Schlüsselbegriff, der, wie bei Camus, auch explizit in der Formel »Krankheit des Geistes« (KT 42) verwendet wird. Sub­ jektiver und objektiver Genitiv öffnen hier prinzipiell eine doppelte Interpretationsmöglichkeit: Das Reflektieren ist erkrankt, oder das Reflektieren ist die Krankheit. Während Camus bereits im Vorwort vom geistigen Gebrechen spricht, spricht Kierkegaard auf seiner ersten Seite von der damit ver­ bundenen Metaphorik von Arzt und Patient (KT 25), die er im Kapitel B des ersten Abschnitts ausführlich ausbaut. Der Patient ist Lateinisch der Leidende. Mit der Wahl der Metaphorik rücken beide Denker also bereits den Begriff des Leidens in das Zentrum der Untersuchung. Bei Camus kann die Erkenntnis der Nutzlosigkeit innerweltlichen Lei­ dens zur Entdeckung des Absurden führen oder beitragen (vgl. MS 14), auf welcher dann die »künftigen Leiden« (MS 124) an der Absur­ dität der Existenz selbst folgen. Auch Kierkegaard differenziert zwi­ schen einem innerweltlichen Leiden, das alle möglichen Ursachen haben kann (vgl. KT 28, KT 44). Er bezeichnet dieses unreflektierte 640

Zur Parallele des Begriffs der Krankheit vgl. Reichenbach (1976) 230.

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Leiden auch als ein »bloßes Leiden« (KT 78) gegenüber dem »Leiden des Selbst« (KT 83), das die Verzweiflung als Krankheit des Geistes ausmacht. Zentral wird der Begriff dann in der Beschreibung des »leidenden« (KT 103, Hervorhebung SK), verzweifelten Selbst, das trotzig es selbst sein will. Der Gottes bedürftige Mensch zieht es vor, im äußersten Leiden er selbst zu sein (vgl. KT 104). Der Begriff des Leidens ist zudem einer der Schlüsselbegriffe des Ästhetischen bei Kierkegaard, zentral bereits im ersten Aphorismus der Diapsalmata, in dem der Ästhetiker die Leiden des Dichters beschreibt, die vom Rezipienten nicht verstanden werden (vgl. EO 27). Sein Leben ist ein »Durchleiden« (EO 51), vergleichbar mit dem bereits zitierten Kind im Meer. Das Leiden und das Bodenlose werden hier eng geführt. Grund des Leidens ist das Grundlose. Ebenso zentral ist der Begriff des Leidens in der Hiob-Interpretation in der Wiederholung (vgl. WH 408) und in der Abraham-Interpretation in Furcht und Zittern (vgl. FZ 311 ff.). Bereits in Furcht und Zittern ist es dabei der Begriff der Qual, der das dämonische Leiden genauer beschreibt (vgl. FZ 292). Im gleichen Sinn ist auch bei Anti-Climacus die dämonische Verzweiflung ein »mit allen Qualen der Hölle« (KT 104) man selbst sein Wollen. Jedoch ist der Begriff in Kierkegaards Hauptwerk nicht auf die höchste Refle­ xionsstufe beschränkt, sondern wird zum Schlüsselbegriff der bewussten Verzweiflung überhaupt (vgl. KT 37 ff.), der gegenüber die unbewusste Verzweiflung ein Sonderfall ist (vgl. KT 41). Das bereits zitierte Leiden des Ästhetikers wird ebenfalls als qualvoll beschrieben (vgl. EO 27). Auch Camus beschreibt eine permanente Gegenwart der Qual. Es taucht gewiss eine neue auf, wo eine verschwinde (vgl. MS 124). Sie treibt sowohl den Künstler als auch den Philosophen (vgl. MS 126). In der Sisyphos-Interpretation ist der Begriff Qual doppelt besetzt, einmal in der körperlichen Qual der Aufgabe (vgl. MS 157), und dazu in der geistigen Qual der bewussten Einsicht in ihre Absur­ dität (vgl. MS 158). Kierkegaard spezifiziert nun wiederum in der Darstellung der Verzweiflung bemerkenswerterweise in zwei Passagen den Wider­ spruch als das Qualvolle, genauer spezifiziert als den Widerspruch, sich selbst nicht loswerden zu können, zunächst formuliert als »zu sterben und doch nicht zu sterben« (KT 37) und darauf als »dass die Verzweiflung nicht sein Selbst verzehren kann« (KT 41). Der Mensch kann sein Sich-zu-sich-Verhalten in einem Gottesverhältnis

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nicht hintergehen. Versucht er es, wird er zum lebenden Toten.641 Bei Camus ist ebenfalls »Widerspruch« (MS 40) der Grund des qualvol­ len Leidens, aber er entsteht genau nicht durch das Verhältnis zu Gott, sondern durch das Verhältnis zur Welt. »Es ist meine Sehnsucht nach der Einheit, dieses zersplitterte Universum und der Widerspruch, der beide verbindet« (MS 67). Der »Widerspruch der conditio humana« (MS 54) ist das Absurde selbst. In Kierkegaards Furcht und Zittern meint Widerspruch nicht das Absurde, weder in Kierkegaards noch in Camus’ Sinn des Begriffs, sondern den Widerspruch zwischen ethisch und religiös Gebotenem in der Interpretation des Abrahamsopfers. Furcht und Zittern verortet nun im Widerspruch die Angst (FZ 205). Bei Camus gibt es eine ähnliche Relation zwischen den Begriffen »Gegensatz, Widerspruch, Angst oder Ohnmacht« (MS 35). Der Mensch ist nicht mit Kohärenz konfrontiert, sondern mit Dissonanz, und diese, als Widerspruch, ist Grund von Angst.642 Camus nutzt den Begriff ›Angst‹ relativ selten, aber dennoch an systematisch entscheidenden Stellen. So grenzt er die »Melancholie Plotins« (MS 66) von der »modernen Angst« (MS 66) ab, macht den Begriff also charakteristisch für die Erfahrung der Moderne als Erfahrung des Absurden. In seiner Interpretation von Sein und Zeit ist für ihn Angst als »Klima des klarsehenden Menschen« (MS 36) ein entscheidender Punkt, der ihn Heidegger in die Reihe der Philosophen stellen lässt, die das Klima des Absurden beschreiben. Es ist im Anschluss an das Getriebensein durch die Qual auch »dieselbe Angst« (MS 128), die den Philosophen und den Künstler verbindet. Angst charakterisiert also die Erfahrung des Absurden. Dazu verwendet er den Begriff, wenn er Kierkegaard Befangenheit durch Angst vorwirft (vgl. MS 65), weshalb dieser, so Camus’ Interpretation, in das Religiöse flüchte. Kierkegaard widmet dem Begriff Angst ein ganzes Werk, auf das Camus überraschenderweise nur an einer, maximal an zwei Stellen, indirekt Bezug nimmt643, es aber nicht explizit rezipiert.644 Im sün­ dentheologischen Ausgang der Adamsinterpretation liegt in diesem Werk Kierkegaards die Angst in der »Möglichkeit der Freiheit« (BA Zum Bild des lebenden Toten vgl. auch EO 48. Zur These der Engführung der Begriffe ›Angst‹ bei Kierkegaard und ›Absurdität‹ bei Camus vgl. Whistler (2018) 53. 643 Vgl. MS Endnoten 105 und 116 des Herausgebers. 644 Vgl. Stan (2011) 74 f. 641

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491), die Adam durch das Verbot Gottes, das er nicht versteht, ent­ deckt. Angst ist der »Schwindel der Freiheit« (BA 512), ihr Gegenstand ist »Nichts« (BA 513). In der Verwirklichung einer Möglichkeit »geht die Möglichkeit nebenher als ein Nichts« (BA 498), also diejenige, die nicht realisiert wurde, aber hätte realisiert werden können und in diesem Sinne zu Freiheit und Verantwortung des Einzelnen gehört. »Angst […] ist die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit« (BA 488). Camus rezipiert diesen theoretischen Zug von Freiheit, Wirklichkeit und Möglichkeit nicht, hätte hier aber in seinem Sinne positiv anknüpfen können.645 Lediglich an einer Stelle fasst er das Absurde als Denken von »nichts« (MS 22). Der Angstbegriff Heideggers, an den Camus hier affirmativ anknüpft, findet sich ebenfalls der Passage der Krankheit zum Tode zur Allgemeinheit der Krankheit: Angst ist »Angst vor nichts« (KT 46). Kierkegaard benutzt an dieser Stelle die Begriffe Angst und Verzweiflung weitestgehend synonym. Angst ist Angst »vor einem Unbekannten etwas […] vor einer Möglichkeit des Daseins […] vor sich selbst […,] ihm selbst unerklärlich« (KT 42). Die Verzweiflung zeigt sich also plötzlich als Angst vor Möglichkeit, Selbst und Nichts, was dasselbe ist, da das Selbst, wie bereits erläutert, Möglichkeiten verwirklicht und damit alle übrigen nichtet. Verzweiflung ist »Refle­ xion des Nichts« (KT 47). Gegen die These des synonymen Gebrauchs spricht jedoch Kierkegaards eigene Analogie von Angst und Verzweif­ lung bezüglich der Geistlosigkeit (vgl. KT 69). Es bleibt zu vermuten, dass der Text diesbezüglich nicht durchgehend begrifflich kohärent ist. Die unerklärliche Angst ist auch zentral für diese Stimmung des Ästhetikers. Sie fesselt ihn, macht ihn handlungsunfähig (vgl. EO 45). Das Gefühl der Angst charakterisiert auch die bereits zitierte Ahnung des Erdbebens (vgl. EO 39), ist also direkt mit der ästhetischen Metaphorik der Abwesenheit des festen Grundes verknüpft. A hat sowohl Angst vor dem Weiterleben als auch vor dem Verlust des Lebens (vgl. EO 48), also, und da trifft er sich mit Camus und den übrigen Schriften Kierkegaards, Angst vor dem Leben – Angst vor dem, was das Leben wesentlich ausmacht. Nicht nur in Kierkegaards Adam-Interpretation, auch in der Hiob-Interpretation (vgl. WH 408), in der Interpretation Abrahams Sartre knüpft hier an Kierkegaard an: »[D]er Mensch ist das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt« (Sartre, SN 83). »In der Angst ängstigt sich die Freiheit vor sich selbst« (Sartre, SN 102). Angst vor Freiheit und Angst vor Nichts »implizieren einander« (Sartre, SN 91).

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(vgl. FZ 202) und in der Interpretation Marias (vgl. FZ 250) ist der Begriff Angst der zentrale Negativbegriff. In letzterer werden die Begriffe Not, Angst, Paradox und Qual eng geführt. Zentral ist in den Interpretationen von Furcht und Zittern das Herausgefallensein aus dem Allgemeinen und das Nicht-mehr-kommunizieren-Können. Abraham kann nicht sagen, was Gott ihm befohlen, Maria nicht, was der Engel zur ihr gesagt hat. Sie kennen ihre Aufgabe, aber niemand kann oder könnte sie verstehen. Dieses »aus dem Allgemeinen herausgenommen worden zu sein« (FZ 303) und »sich von Grund auf im Paradox« befinden (FZ 303) aus Furcht und Zittern kann man von seiner Struktur her für das Absurde bei Camus fruchtbar machen. Das Ethische, formuliert in der Frage: »warum drückst du nicht das Allgemeine aus und verheiratest dich [?]« (FZ 303) bietet für den Menschen im Absurden oder im Paradox – Camus benutzt diesen Begriff auch im Sinne des Absurden (vgl. MS 175) – keine Antwort auf das Leben mehr. Der »Rahmen« (MS 14) in dem dies einmal sinnvoll erschien, fehlt nun. Camus benutzt den Begriff des »Exils« (MS 14, auch MS 120). Man hat die ehemals vertraute Umgebung, die vertraute Welt, den Horizont, in dem Handlungen einen Sinn machten, verloren. Man ist »fremd« (MS 14) geworden – nicht umsonst der Titel von Camus’ berühmtestem Roman. In Furcht und Zittern benutzt Kierkegaard genau diese Begriff­ lichkeit, »ein Fremder und Ausländer« (FZ 230, vgl. auch FZ 219) für den Ritter der Resignation, der lediglich einen Teil der Doppelbewe­ gung vollziehen kann. Bei Camus wird nicht nur die Welt, sondern auch der Andere, und letztlich der Mensch sich selbst fremd (vgl. MS 24 f.). Diese Fremdheit der Welt und des eigenen Ichs kennzeichnet die Selbstbeschreibung der fundamentalen Orientierungslosigkeit des jungen Mannes in der Wiederholung (vgl. WH 410).646 Er findet sich ungefragt als er selbst in der Welt vor, und es gibt keine Antworten und keinen Verantwortlichen. Das Ganze ist unbegreiflich. In den Diapsalmata impliziert die Metaphorik des Kängurus, des Hasen aus Neu-Holland (vgl. EO 49), das Fremde, insbesondere auch die Fremd­ heit der anderen, mit denen der Ästhetiker nicht sozial interagieren kann. Ebenso beschreibt A das spezifisch ungefragte sich Vorfinden in der Welt. Wie Camus (vgl. MS 25) verknüpft der Ästhetiker diese 646 Das Moderne bei Kierkegaard, so Löwith, ist dieser Begriff der Fremde. Die Welt ist weder Kosmos noch Schöpfung (vgl. Löwith (1979) 550).

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Erfahrung direkt mit der Gewissheit des Todes, dessen Eintritt aber wiederum ungewiss und ungefragt ist. Wir erleben das Leben als fremd und radikal endlich, »niemand kehrt von den Toten zurück« (EO 35). Auch Kierkegaards Genie-Interpretation in Furcht und Zittern schließt hier an: Das Genie ist, durch seine Natur oder äußere Umstände, in ursprünglicher Weise »im Verhältnis zum Allgemeinen desorientiert« (FZ 304), so dass der Weg in dieses Zurück unmöglich ist. Als Alternativen skizziert der Text hier Beruhigung, entweder durch das Dämonische oder durch den Vollzug der Resignationsbewe­ gung. Mit dem Verlust des Rahmens, des Horizonts, des Bezugssys­ tems verliert das Leben seinen Sinn. Camus beginnt sein Hauptwerk mit der Erfahrung von »Sinnlosigkeit« (MS 14) und endet mit dem vielleicht klassischen Bild der Sinnlosigkeit – Sisyphos (vgl. MS 155 ff.) – welches er natürlich am Schluss des Werks vor dem Hin­ tergrund seiner Konzeption interpretiert. Die klassische »Werteskala« (MS 80), die den »Sinn des Lebens« (MS 80) verbürgte, oder einen Gott, der dem Leben einen Sinn gäbe (vgl. MS 90), sind jedoch unwiederbringlich verloren. Sie bleiben nur noch in nostalgischer Erinnerung. Damit muss der Einzelnen sich mit Blick auf sein Leben als Ganzes eingestehen, dass das alles letztlich keinen Sinn macht (vgl. MS 151). Bei Kierkegaard ist es in erster Linie das Ästhetische, in dem die Erfahrung von Sinnlosigkeit explizit wird: »Mein Leben ist völlig sinnlos« (EO 46). Dabei ist diese Diagnose explizit nicht auf das eigene melancholische Leiden beschränkt, sondern gilt für das Leben an sich, in dem man entweder arbeiten muss oder es nicht nötig hat, aber in keiner dieser Existenzweisen ein Sinn auszumachen ist (vgl. EO 41). Dabei zeigt sich die Sinnlosigkeit des Ästhetikers beson­ ders angesichts der Endlichkeit des Lebens (vgl. EO 39). Auch für den jungen Mann in der Wiederholung ist das Leben »ohne Sinn« (WH 410). Die eben zitierte Stelle – »Wie ist das Leben so leer und bedeu­ tungslos!« (EO 39) – zeigt darüber hinaus die enge Verknüpfung der Erfahrung der Sinnlosigkeit des Ästhetikers zum Begriff der Leere. In der zentralen Metaphorik der Spinne wird der »leere Raum« (EO 33), in dem metaphorisch nirgends Fuß zu fassen sei, zweimal wiederholt. Wenige Seiten später wird der Begriff dann zum zentralen Begriff der Wirklichkeit. Leere ist das einzige, was A sieht, worin er sich bewegt und wovon er lebt (vgl. EO 48). Das Leiden an der Leere ist dabei tiefer

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als jeder Schmerz. Der Begriff Leere kennzeichnet darüber hinaus sowohl die Verzweiflung in der Krankheit zum Tode (vgl. KT 40) als auch das hypothetische Bodenlose in Furcht und Zittern. An letzterer Stelle findet sich der Begriff sowohl als Substantiv als auch als Adjek­ tiv und zeigt darin den Zusammenhang auf, den Camus als Fehlen eines tiefen Grundes und Erfahrung des Absurden benennen würde. Genau durch die »bodenlose Leere […] wäre dann das Leben« (FZ 191) »leer« (FZ 191). Bei Camus selbst ist die Erfahrung des Absurden der Zustand, »in dem die Leere beredt wird« (MS 22). Der Begriff hat also eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie bei Kierkegaard, wird auch in der Passage, in der Camus sein eigenes Denken als negatives Denken identifiziert, noch einmal explizit benannt (vgl. MS 147). Camus führt in seiner Darstellung des Absurden die Erfahrung von Leere eng mit der Erfahrung von Zerrissenheit (vgl. MS 22) und Entzweiung (vgl. MS 50, vgl. auch MS 130), womit er sich schon sehr nah an seiner Fassung des Absurden als Verhältnis von Mensch und Welt bewegt. Der Begriff der Zerrissenheit findet sich im hier untersuchten Werk Kierkegaards lediglich in den Ausführungen des jungen Mannes zu Hiob in der Wiederholung (vgl. WH 408). Eine größere Schnittmenge scheint in der Wiederholung der häufig zitierte Ekel »vor dem Dasein« (WH 410) zu bieten. Camus zitiert diesen Begriff, der deutsche Titel von Sartres berühmtem Roman, affirmativ und in seinem Sinne: »Dieser ›Ekel‹ […] ist das Absurde« (MS 25). Dabei benennt er die Quelle nicht persönlich, sondern nennt ihn »einen Autor unserer Tage« (MS 25). Hier ist jedoch zu beachten, dass, während Kierkegaard tatsächlich das flektierte Verb sich ekeln647 verwendet, Camus den französischen Begriff »nausée«648 benutzt, den man besser mit Übelkeit übersetzt, und dessen ursprüngliche Bedeutung unter anderem die Seekrankheit meint. Camus und Sartre nutzen also hier eine im weiteren Sinne aus der Nautik stammende Metaphorik für das Absurde, die sich bei Kierkegaard so nicht findet, während sich dagegen Kierkegaards ursprünglicher Begriff des Ekels nicht in der Form bei den französischen Autoren findet, in der er später in ihrer deutschen Rezeption als gemeinsamer Punkt interpretiert wurde. Wichtiger ist hier also die Schnittmenge der Begriffe Camus’ und Sartres, weniger die mit Kierkegaard.

647 648

»væmmes« (SKS 4, 68). Vgl. MS frz. 31.

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Darüber hinaus fällt aber in dieser Passage aus Kierkegaards Wiederholung die zweifache Metaphorik der Sinneswahrnehmung auf. Das Dasein ist geschmacklos und riecht nach nichts (vgl. WH 410). In der Passage zu Hiob ist dagegen von »Bitternis« (WH 408) die Rede. Diese Geschmacksmetapher findet sich auch in der Beschreibung der Stimmung des Ästhetikers A: »Das Leben ist mir bitterer Trank geworden« (EO 35). Es ist also nicht geschmacklos, was man auch als neutral fehlinterpretieren könnte, es schmeckt bitter, negativ gemeint. Camus benutzt diese Metaphorik des Bitteren mehrfach, zur Beschreibung des Ortes derer, die das Absurde erkannt haben (vgl. MS 40), zur Gewissheit über den Tod Gottes (vgl. MS 90) und des Gefühls Don Juans (vgl. MS 100). Dabei ist es bitter, »Recht gehabt« (MS 100) zu haben, der Tod Gottes ist »bittere Feststellung« (MS 90), der Ort des absurden Denkens »bitter und privilegiert« (MS 40). Camus nutzt also den Begriff der bitteren Wahrheit, führt über diese Metapher das Absurde als das Negative eng mit dem Begriff des Wahren. Dass dem Negativen Wahrheit zukomme, findet sich übergreifend in den Werken Kierkegaards. Der Ästhetiker A sagt, er sei, vielleicht, zu der Wahrheit gekommen. Diese besagt »wie traurig und erbärmlich alles ist« (EO 46). Auch in der Wiederholung ist die Negativität des Lebens eindeutig (vgl. WH 427). In der Abraham-Interpretation in Furcht und Zittern ist die Erfahrung des Negativen die einzige Rechtfertigung – »Berechtigung (FZ 312) – die bleibt, wenn intersubjektive Kommunikation unmög­ lich ist.649 Sie bietet Abraham quasi-religiöse Vergewisserung, auf dem richtigen Weg zu sein (vgl. FZ 312). Auch der ersten Teil der Krankheit zum Tode endet damit, dass »Leiden« (KT 104 Fußnote), »Not« (KT 103), ›Schmerz‹ (vgl. KT 103) und »Qual« (KT 104) für den konkreten Menschen letztlich unhintergehbar sind. Das Leben ist genau nicht, was übrigbleibt, wenn man vom Negativen abstrahiert, sondern dies ist das je konkrete Leben. Dabei ist das Leiden in Camus’ Sisyphos-Interpretation letztlich »unsagbar« (MS 156), jenseits von intersubjektiver Kommunikation und Sprache. Camus selbst spitzt seine Position auf den Begriff des »mensch­ lichen Schmerzes« (MS 152) zu, der für ihn die tiefste Schicht der Erfahrung des Negativen bildet. Dieser Begriff ist für ihn gleichzeitig der zentrale Begriff seiner Kierkegaard-Interpretation (vgl. MS 38). Der Sache nach ist es aber unklar, ob der Begriff des Schmerzes 649

Vgl. dazu H. Schulz (2014) 14.

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wirklich die größte »Tiefe« (MS 152) ausdrückt. Zu verweisen ist hier auf die bereits zitierte Aussage des Ästhetikers »Nicht einmal Schmerz leide ich« (EO 48), für den die Leere noch gewichtiger ist als der Schmerz. Der Sache nach ist es wichtig zu betonen, dass Camus den bei Kierkegaard zentralen Negativbegriff der Verkehrung (vgl. EO 31, EO 33, vgl. etwa KT 108) nicht für das Absurde verwendet, weil das Absurde bei Camus nicht Verkehrung eines Gesollten ist. Die zu Kierkegaard analogen Verkehrungsstrukturen werden dagegen im folgenden Kapitel zum Alltag aufgezeigt. Kierkegaard benutzt an genau einer Stelle in der Krankheit zum Tode den Begriff der »Disharmonie« (KT 42) für die Verzweiflung650, mit der Camus seinen Begriff des Absurden eng führt (vgl. MS 56). Da Disharmonie latinisiert Absurdität ist, ist das die einzige Stelle, in der Kierkegaard den Begriff des Absurden für die Krankheit des Geis­ tes benutzt. Im übrigen Werk nutzt Kierkegaard den Begriff des Absurden651 in der Form des Glaubens ›in Kraft des Absurden‹, sowohl in der Krankheit zum Tode (vgl. KT 104) als auch in Furcht und Zittern (vgl. FZ 212). Gegenstand des Glaubens ist in beiden Werken »dass für Gott alles möglich ist« (KT 61), anders formuliert »dass bei Gott alle Dinge möglich sind« (FZ 226) – denn »dass alles möglich ist, ist Gott« (KT 64). Der Glaube entspricht dabei in seiner Struktur dem kontrafaktischen Beispiel des Agamemnon aus Furcht und Zit­ tern, auf das die übrigen Beispiele, Abraham und der junge Mann und die Prinzessin, ihrer Struktur nach reduzierbar sind, denn Kierkegaard benutzt eben dieses Beispiel, um die vorherigen zu erläutern (vgl. FZ 242 f.). Es ist leicht einzusehen, dass es absurd ist, dass für Gott alles möglich ist. Aber es ist nicht verstehbar, dass man es glauben kann, und darum glaubt man kraft des Absurden. Es ist also absurd, das 650 Turchin differenziert nicht zwischen den verschiedenen Absurditätsbegriffen im Werk (vgl. Turchin (2013) 5). 651 Stewarts Deutung, Camus erweitere Kierkegaards Analyse des Absurden aus ihrem ursprünglichen religiösen Kontext als Glaube kraft des Absurden zu einer existentiellen Aussage über die Absurdität der sinnlosen Welt (vgl. Stewart (2009) 441), ist hier wenig überzeugend. Gleiches gilt für Pooles Fassung, Camus übersetze Kierkegaards Problem des Absurden in die säkulare Welt (vgl. Poole (1998) 56). Die Arbeit teilt hier die These Richters, der zufolge die Richtungen der Existenz­ philosophie sich im Begriff des Absurden zu treffen und ihren Vergleichspunkt zu haben scheinen, sich bei genauerer Betrachtung jedoch gerade in diesem Begriff unterscheiden (vgl. Richter (1959) 116).

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Absurde zu glauben, und dies gelingt kraft des Absurden. Die Begriffe des Absurden und des Paradox verwendet Kierkegaard nicht durch­ gehend eindeutig. Einmal ist der Glaube an das Absurde paradox (vgl. FZ 227), dann wiederum ist das Paradox paradox, weil es absurd ist (vgl. PB 65). Da Kierkegaard an einer Stelle die Begriffe eindeutig synonym verwendet (vgl. FZ 240), folgt die Arbeit dieser Deutung. Der Absurdität des Glaubens liegt dabei immer das Grundparadox oder die Grundabsurdität zu Grunde, »dass Gott in menschlicher Gestalt gewesen ist« (PB 122). Mit dem historischen Faktum der Menschwerdung Gottes ist das Absurde in das Christliche einge­ schrieben.652 Kierkegaard erläutert dazu in den Philosophischen Bro­ samen: »Wir sagen nicht, dass er [Bezug: der Lernende] das Paradox verstehen solle, sondern nur verstehen solle, dass dies das Paradox ist« (FZ 72).F653 Diese Struktur haben nur wiederum das hier explizit christliche Paradox oder Absurde Kierkegaards und das Absurde Camus’ gemeinsam: Wir können das Absurde nicht verstehen, aber wir können sehr wohl verstehen, dass es absurd ist (vgl. dazu MS 72). Diese Einsicht ist die Einsicht Camus’. Für Kierkegaard ist sie, bezogen auf die Absurdität des Glaubens, nur der erste Schritt, dem der Vollzug der Doppelbewegung folgen muss. Festzuhalten ist, dass Kierkegaard und Camus ein nahezu glei­ ches Begriffs- und Metaphernfeld654 für die Erfahrung des Negativen benutzen.655 Der Einbruch des Negativen zeigt, was in Wahrheit immer schon gewesen ist. Bevor im abschließenden Unterkapitel erläutert werden wird, dass Kierkegaard und Camus diese Nega­ tivphänomene mit unterschiedlichen Maßstäben und letztlich in völlig verschiedenen Interpretationshorizonten deuten, soll zunächst die Kritik des Alltags als verdeckte Krankheit des Geistes als das an Begriffs- und Metaphernfeld anschließende Gemeinsame beider Autoren aufgezeigt werden.

Vgl. dazu Richter (1959) 117. Turchin spricht hier von einer Maximierung des Sinns des Absurden (vgl. Turchin (2013) 7). 654 Die Untersuchung orientiert sich hier methodisch an der Skizze Hühns eines gemeinsamen Feldes von Begriffen und Metaphern bei Kierkegaard und Schelling (vgl. Hühn (2004) 151 ff.). 655 Nach Löwith kennzeichnen »Phänomene der Negativität« (Löwith (1979) 545) die Stimmung des modernen Menschen, der den »Rückhalt« (Löwith (1979) 544) verloren hat. 652

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1.3 Alltäglichkeit als Verzweiflung Die Deutung der Erfahrung des Negativen als Wahrheit über dasje­ nige, was immer schon Absurdität bei Camus bzw. Verzweiflung bei Kierkegaard gewesen ist, impliziert eine mächtige These, die nun im dritten Schritt dieses Kapitels entfaltet werden soll: Die Krankheit des Geistes zeigt sich nicht nur bewusst in der Erfahrung des Negativen innerhalb des oben skizzierten Begriffsfelds. Sie zeigt sich dem Fachmann auch in einer unbewusste656 oder halbbewussten Form in dem, was man Alltag oder das alltägliche Leben nennt. Alltag ist also ein Negativbegriff, der zu den Phänomenen von Absurdität und Verzweiflung dazugehört. Der Grund ist im Anschluss an Camus die Absurdität des Verhältnisses von Mensch und Welt – das Fehlen eines tiefen Grundes zu leben. Camus betont seine These der unbewussten Absurdität direkt im Anschluss an die Schlüsselstelle seiner Sisyphos-Interpretation, der Deutung der Pause. Das Schicksal des Arbeiters sei »genauso absurd« (MS 157), tragisch aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen dieser sich dessen bewusst sei. Entscheidend ist hier das Adverb ›genauso‹. Es gibt keine Differenz zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit hinsichtlich des Grades der Absurdität des Lebens. Parallel knüpft Kierkegaard für seine These der unbewussten Verzweiflung in der Krankheit zum Tode direkt an den zentralen Begriff der Krankheit und die Metapher des Arztes und Fachmann für die Krankheit des Geistes an. Es gibt hier eine entscheidende Differenz zwischen Fühlen und Sein. Es gibt Menschen, die sich krank fühlen, aber gesund sind, und es gibt Menschen, die sich gesund fühlen, aber krank sind. Gäbe es diese Differenz nicht, so brauchte man keine ärztlichen Diagnosen (vgl. KT 44). Kierkegaard nennt die unwissende Verzweiflung eine »Art Verzweiflung« (KT 41), es ist also ein Typus, eine Gestalt der Krankheit. Eine ähnliche Figur findet sich bei Kierke­ gaard auch in den Diapsalmata von Entweder-Oder, angelehnt an das Beispiel eines Kinderarztes, der im Lachen das entstehende Weinen sieht (vgl. EO 29). Der Fachmann sieht auch hier in dem, was zunächst als das Positive erscheint, das Negative, das es eigentlich ist. Während Die Arbeit teilt hier nicht die Kritik Theunissens an dieser Form (vgl. Theunissen (1993) 75 Fußnote 29), sondern folgt an diesem Punkt Kierkegaard und Camus. Zu fragen bleibt jedoch, inwiefern es in jeder Form der unbewussten Verzweiflung ein minimales bewusstes Wollen des Falschen gibt (vgl. dazu Grøn (1994) 30). 656

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also in gewöhnlichen Betrachtungen, Kierkegaard nennt sie allgemein oder vulgär, Gesundheit der Regelfall und Krankheit die Ausnahme ist (vgl. KT 43), so ist bei Kierkegaard und Camus die Krankheit des Geistes der Regelfall und geistige Gesundheit die seltene Ausnahme, von der noch nicht einmal sicher ist, dass es sie in der Welt überhaupt gibt. Die Konsequenz ist, dass es »Millionen« (KT 43), Milliarden von Menschen gibt, die verzweifelt sind, und die noch nicht einmal wissen, dass sie es sind. Ihre Verzweiflung verbirgt sich unter der Oberfläche von Alltäglichkeit, Normalität657 und Gesundheit. Aus der Tatsache, dass bei Camus das Verhältnis von Geist und Welt das Absurde konstituiert, ergibt sich bereits, dass es für den Menschen keine innerweltliche Hilfe geben kann. Auch der Arzt ist ein Alltagsmensch, an dessen Handeln sich das Absurde zeigt, »man fragt sich, warum er lebt« (MS 25). Camus impliziert diesen Aspekt lediglich, er wird vielleicht etwas konkreter, wenn er sagt, dass auch die Wissenschaft angesichts der Paradoxa aufhört, Vorschläge zu machen (vgl. MS 125). Jedes Angebot, das Hilfe verspricht, ist für Camus Aufforderung zum Sprung in das Falsche. Kierkegaard baut diesen Aspekt ausführlich aus: Ist der vulgäre Begriff von Verzweiflung »oberflächlich« (vgl. KT 43), so ist es folglich auch die vulgäre Therapie, da hinter dem, was in der Alltagswelt Ver­ zweiflung genannt wird, sich das verbirgt, was in Wahrheit Verzweif­ lung ist. Jeder Ansatz mit »psychologischer Einsicht« (KT 75) ohne Bewusstsein von der eigentlichen Tiefendimension des Problems und ohne deren Reflexion führt maximal, wenn die Reflexion nicht zu weit fortgeschritten ist, wieder zurück in das alltägliche Leben, das ja Verzweiflung ist. Jede »Hilfe von außen« (KT 80) führt maximal wieder in die unbewusste Verzweiflung. Das gilt also für jeden Ansatz von psychologischen Mechanismen und biologistischem Menschen­ bild (vgl. KT 88). Furcht und Zittern beschreibt in diesem Kontext die »Tiergartengesellschaft« (FZ 270), Menschen, die »einander unter die Arme [greifen]« (FZ 270), also glauben, sich wechselseitig helfen zu können, ohne auch nur im Ansatz Wesen und Dimension des Problem verstanden zu haben. Man versucht, »den Zweifel [zu] heilen […], ohne ihn zu kennen« (FZ 310). Es ist also Krankheit des Geistes zu glauben, innerweltlich helfen oder innerweltlich Hilfe finden zu können. Auf der Ebene der unbewussten Verzweiflung ist also die 657 Es ist die Entlarvung der Verzweiflung mitten im normalen Leben (vgl. Hoffmann (2011) 340).

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Hilfe anderer immer falsch. Sowohl Diagnose als auch Therapie sind verkehrt. Auf höherer Reflexionsstufe kann der andere dagegen durchaus helfen: Bei Kierkegaard ist es das »sich einem einzigen Men­ schen [Öffnen]« (KT 98) des Verschlossenen, das ihn vom Selbstmord abhält. Bei Camus sind es die »menschlichen Beziehungen« (MS 116), die das Bewusstsein der Negativität teilen. Camus beschreibt die zeittheoretische Struktur der Alltäglichkeit als unbewusster Verzweiflung. Man lebt »auf die Zukunft hin« (MS 23), »situiert […] sich im Verhältnis zur Zeit« (MS 23) als »an einem bestimmten Punkt in ihr« (MS 24). Man fasst also die Zeit als prin­ zipiell homogene Sukzessionszeit der mathematisierten Physik auf und verortet sich »an einem bestimmten Punkt« (MS 24), dem Jetzt­ punkt, von dem aus man auf die Zukunft hin lebt. Man ist »dreißig Jahre alt« (MS 23) und nimmt an, über die zukünftige Zeit, etwa ent­ sprechend der statistischen Lebenserwartung, verfügen und diese verplanen zu können. Als zeittheoretischer Gegenbegriff zum »Augenblick« (MS 157) ist die Gegenwart Jetztpunkt, sie wird zum mathematischen Grenzfall, an dem der Mathematiker sich, wie Kier­ kegaard sagt, »mit unendlich winzigen Minimalgrößen« (BA 474) behilft. Die Zukunft ist die Verlängerung der Vergangenheit auf der Zeitachse: »Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus« (MS 22 f.). Es ist immer das­ selbe. »Er gehört der Zeit« (MS 24). Verwoben mit diesem Zeitver­ ständnis sind »vier Stunden Büro oder Fabrik« (MS 22), Pause und »vier [weitere] Stunden Arbeit« (MS 22). Das Produktionssystem gibt den Takt vor, nach dem »Aufstehen, […] Essen [und] Schlafen« (MS 22) getaktet sind. Camus schließt damit der Sache nach an das Zeitdenken Kier­ kegaards, etwa aus dem Begriff Angst an, ohne jedoch darauf explizit hinzuweisen oder dies ausführlicher zu diskutieren. Kierkegaard dis­ kutiert im Begriff Angst ausführlich die Theorie der Zeit als »unend­ liche Sukzession« (BA 542). Wenn dadurch aber Gegenwart das »unendliche Verschwinden ist« (BA 544), so fehlt der »Haltepunkt« (BA 543), von dem aus man Vergangenheit und Zukunft denken könnte. Die Zeit wird so zum »inhaltslosen Nichts« (BA 543). »Der Augenblick bezeichnet [dagegen] das Gegenwärtige« (BA 544), in dem Ewigkeit und Zeit sich in der Zeit berühren (vgl. BA 545). Ein­ gebettet in einen theologischen Kontext, den der Begriff des Ewigen anzeigt, ist sich Kierkegaard sehr wohl bewusst, dass der Begriff des Augenblicks ein »bildlicher Ausdruck« (BA 545) ist. Höchst bemer­

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kenswert ist, dass er ihn mit einem »Bild dafür, was das bildliche Wort bedeutet« (BA 545), erläutert: Ingeborg schaut über das Meer. Kier­ kegaard sieht, dass an diesem Punkt das Metaphorische nicht weiter greifbar, sondern lediglich noch einmal metaphorisch erläuterbar ist. In den Philosophischen Brosamen erläutert er ausführlicher, dass es ohne das Paradox des Augenblicks keine wahrhafte Veränderung, kein Neues, keine Entscheidung und kein Lernen gibt (vgl. PB 71 ff.). Der Begriff der Zeit als Sukzession der Zeit fällt in Kierkegaards Krankheit zum Tode dagegen lediglich ein Mal, wenn Kierkegaard das Dahinleben des Verschlossenen auf einer der höchsten Stufen der Verzweiflung beschreibt (vgl. KT 96). In seinem Hauptwerk ist es in erster Linie der Begriff des Dahinleben658, der das Leben in der Sukzessionszeit beschreibt (vgl. dazu KT 48, KT 54, KT 57, KT 96). Dieses ›dahin‹ ist ein in diesem Sinne temporaler Begriff, das Adverb ›hin‹ entspricht dem »hin« (MS 23) bei Camus. Beide Denker beschreiben damit Menschen, die sich in dieser unbewussten Sicht auf sich selbst und die Zeit nicht wirklich ändern können, nichts Wesent­ liches lernen, und die ›keine Zeit haben‹. Heidegger erläutert in Sein und Zeit genau diesen Zusammenhang zwischen der Sukzessionszeit, die er vulgäre Zeit nennt, und der Selbstzuschreibung, keine Zeit zu haben.659 Der zeittheoretische Analyse der Sukessionzeit führt damit direkt zum Phänomen der Betriebsamkeit, des unendlichen Beschäf­ tigtseins der modernen Berufswelt, die dem Alltag wie gezeigt den Takt vorgibt. Bei Camus spiegelt sich in der »Sinnlosigkeit der täglichen Betriebsamkeit« (MS 14), in »Büro oder Fabrik« (MS 22) das Absurde. Der Einzelne ist Ingenieur oder Beamtenanwärter, er kalkuliert seine Pension (vgl. MS 76 f.). Camus betont hier gerade das risikolose, das auf die Zukunft als Ruhestand hin ausgerichtete tagtägliche Dahinle­ ben im Beruf. »Arbeit und Betriebsamkeit« (MS 92) sind dabei Nega­ tivbegriffe, die mit der »Hoffnung« (MS 92) des Einzelnen spielen, die ihm mit der Hoffnung auf die Pension die Illusion von Hoffnung in einem viel breiteren, letztlich quasi metaphysischen Sinn sugge­ rieren. Auch Ästhetiker A in Entweder-Oder kritisiert das Beamten­ tum, die Auffassung, der Broterwerb mit dem Ziel Justizrat sei der Sinn des Lebens (vgl. EO 44). Dass die Arbeit für Geld, die lediglich 658 Während das Leben auch dadurch misslingen kann, dass man sich in Möglichkei­ ten verliert, so ist doch dieser Begriff für das misslingende Leben bei Kierkegaard zentral (vgl. dazu Theunissen (1979) 508). 659 Vgl. Heidegger, SuZ 410.

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das Weiterleben sichert, nicht der Sinn des Lebens sein kann, zeigt er überzeugend (vgl. EO 41). Dabei greift er genau den Berufsstand an, von dessen Qualität der Gerichtsrat Wilhelm ihn im zweiten Teil des Werks zu überzeugen versucht (vgl. EO 525 ff.). Furcht und Zittern greift besonders die Beamten des Universitätsbetriebs an, die eine Semesterwochenstunde zweifeln und darüber hinaus Menschen wie jeder andere sind (vgl. FZ 308), die aus der Welt des Geistes ein »Geschäft« (FZ 248) machen, bequem und scheinbar weit weg von den »Erschütterungen des Daseins« (FZ 247) leben und über Dinge urteilen, die sie nicht einmal im Ansatz im eigentlichen Sinne verste­ hen, da sie nicht existentiell betroffen, sondern Philologen sind. Die Krankheit zum Tode kritisiert besonders die Kirchenbeamten, die eigentlich gar nicht wissen, worüber sie da reden (vgl. KT 95), die den Beruf des Pfarrers wählen als wäre es ein Beruf wie jeder andere. Neben dieser massiven Kritik des bequemen und risikolosen Beam­ tendaseins kritisiert Anti-Climacus auch das »geschäftig […] [und] beschäftigt [-Sein]« (KT 48) im Allgemeinen als Grundstruktur des Dahinlebens. Es ist »rastlos oder unwirksam« (KT 49), man hat unglaublich viel zu tun und es führt im eigentlichen Sinne zu nichts. Die gleiche Figur, dass »diese geschäftigen Eilighaber« (EO 34) am Ende nichts Wesentliches tun, findet sich auch in den Diapsalmata, wobei A gerade die Berufswelt in ihrer beschleunigten Gestalt kriti­ siert. In der ›Wechselwirtschaft‹ in Entweder-Oder warnt der Ästhe­ tiker A davor, mit der Teilhabe an der Berufswelt ein »Dutzend­ mensch« (EO 346), also lediglich einer von vielen zu werden und nicht er selbst zu werden. Auch die Krankheit zum Tode interpretiert »Arbeit und Beschäftigung als Zerstreuungsmittel« (KT 74) gegen die aufkei­ mende Reflexion über sich selbst. Man flieht vor sich selbst in den Beruf, in »wie es heißt, das wirkliche, das tätige Leben« (KT 85). Man ist im wahrsten Sinne des Wortes mit allem und nichts »beschäftigt« (KT 54, auch KT 57), tut unglaublich viel, aber nichts Wesentliches. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man nun »Bierzapfer oder Staatsminister ist« (KT 65). Dieselbe Figur der letztlichen Gleichgül­ tigkeit der beruflichen Stellung findet sich auch in Am Grabe. Die »höchsten Stellungen« (AG 176), vergleichbar also mit dem Staats­ minister der Krankheit zum Tode, sagen noch nichts über gelingendes Leben aus. Ebenso benutzt Kierkegaard in der Rede den auch von Camus verwendeten Begriff der »Betriebsamkeit« (AG 180) in dem­ selben Sinne wie in seinem Hauptwerk von 1849, als eine Flucht vor der Veränderung, die normativ geboten wäre. Der Verschlossene ist

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nun wieder »ein ungewöhnlich tüchtiger Beamter« (KT 95), womit dieser Berufsstand doch besonders im Fokus der Kritik steht. Wichtig ist in diesem Kontext noch die Differenz zwischen wesentlicher und zufälliger Arbeit in Am Grabe (vgl. AG 199). Der Alltagsmensch ver­ liert sich selbst in ergebnisorientierter zufälliger Arbeit und verliert damit das Wesentliche aus dem Blick. Sowohl Kierkegaard als auch Camus kritisieren also das Dahinleben als falsche Hoffnung auf eine bequemes, risikoloses Dasein und eine Flucht vor den eigentlichen Fragen und Aufgaben des Lebens. Das alltägliche Dahinleben in der chronologischen Zeit ist dazu gekennzeichnet durch die bürgerliche Familie, also eine Beziehung von einem Mann und einer Frau mit Kindern660 Camus beschreibt den angepassten Familienvater, der sich um die Zukunft seiner Kinder, im Text seiner Söhne, sorgt (vgl. MS 76). Furcht und Zittern beschreibt das Familienleben als höchsten Ausdruck des Ethischen, das gerade hier auf das Religiöse hin zu überwinden ist. Auch der Gerichtsrat Wilhelm in Entweder-Oder 2 ist selbstverständlich verheiratet und versucht gerade, den Ästhetiker A von diesem Wert zu überzeugen (vgl. EO 525 ff.). Dieser durchschaut dagegen die Ehe als Perversion der »Lust der Liebe« (EO 44), wenn es darum geht, »ein wohlhaben­ des Mädchen zu heiraten« (EO 44), wenn also hinter Ehe und Familie noch einmal das Ökonomische steht. In der ›Wechselwirtschaft‹ plä­ diert der Ästhetiker gegen die Ehe. Man gerate »in eine höchst fatale Kontinuität mit Sitte und Brauch« (EO 345), mit Frau und Kindern sei man verloren (vgl. EO 345). Dazu interpretieren sowohl Camus (vgl. MS 93 ff.) als auch der Ästhetiker A (vgl. EO 57 ff.) den Don-JuanMythos im Sinne ihrer jeweiligen Konzeption, also gerade den Gegen­ entwurf zu Ehe, Treue und Familie. Auch in Furcht und Zittern gilt den Alltagsmenschen die reiche Brauerswitwe als gute Partie (vgl. FZ 220), ist die Ehe also eine ökonomische Kalkulation, in der der Partner prinzipiell äquivalent mit anderen Partnern ist. In der Krankheit zum Tode liegt dagegen der Fokus nicht auf dieser ökonomischen Kritik, die ›glückliche Familie‹ an sich wird Teil des Lebens als Krankheit des Geistes. Der Verzweifelte, der die Flucht vor sich selbst nach außen und zur Welt antritt, ist gerade »seit mehreren Jahren schon glücklich verheiratet« (KT 85), dabei auch »Vater« (KT 85). Man kann in der 660 Damit bewegt sich der Alltag innerhalb des von der Hegelschen Rechtsphiloso­ phie als »unmittelbare Substantialität des Geistes« (Hegel, GPR 170) ausgewiese­ nen Rahmens.

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Welt »heiraten, Kinder zeugen« (KT 54) ohne dass es auffällt, dass man kein Selbst hat. Der verschlossen Dahinlebende ist »ein respek­ tabler Vater […], sehr liebenswürdig zu seiner Frau, die Fürsorge selbst gegen seine Kinder« (KT 95), gerade weil er schwach und ver­ zweifelt ist (vgl. KT 96). Auch in der Rede Am Grabe ist die Tatsache, dass »man vielleicht viele Kinder hat« (AG 176) nicht das, was nach Kierkegaard den Ernst des Lebens ausmacht. Ehe und Familie sind also bei Camus und Kierkegaard weder notwendiger noch hinrei­ chender Indikator für ein gelingendes Leben, fügen sich dagegen nahtlos in das alltägliche Dahinleben als Gestalt des unbewussten Absurden oder der unbewussten Verzweiflung ein. Gerade weil man verzweifelt ist, kann man darin aufgehen, Ehemann und Vater zu sein, ist man vielleicht gerade deshalb gut darin.661 Dass für Kierkegaard selbst biographisch die Entscheidung gegen Verlobung und Ehe gleichzeitig die Entscheidung für die eigene Berufung als Schriftsteller war, mag Kierkegaards Wahl der Beispiele durchaus beeinflussen, ist aber der Sache nach hier kein Argument. Neben Beruf und Familie ist man kulturell interessiert, geht in seiner Freizeit dem nach, was man Hochkultur nennt. Sowohl Camus als auch der Ästhetiker A beschreiben beide den Kulturliebhaber, der gar nicht versteht, worum es eigentlich geht. Bei Camus ist es der theaterbesuchende Alltagsmensch, der im Theater nur Poesie aufnimmt, ohne Bitterkeit zu erleiden (vgl. MS 102). In EntwederOder ist es der Rezensent, der in den Schreien des Dichters süße Musik hört (vgl. EO 27). In beiden Fällen ist die Rezeption selektiv und auf das Positive gerichtet, während sie das darunter liegende Negative überhört, verdrängt, selbst nicht davon betroffen ist. Damit stabilisiert der Kunstbetrieb das alltägliche Dahinleben anstatt, wie es nach Camus sein sollte, diesem das Absurde indirekt aufzuzeigen und darauf hinzuwirken, es zu befreien (vgl. MS 128). Man interes­ siert sich also für Kunst, insofern und bis dort, wo man das eigene Leben bestätigt sieht. Kunst erfüllt die Rolle der Unterhaltung und der sozialen Distinktion. Sobald man jedoch mit der eigentlichen Dimension des Geistes konfrontiert ist, versucht man diese, wie es in Furcht und Zittern heißt, »feig […] in sich selbst […,] neidisch bei anderen zu ersticken« (vgl. FZ 298). Das Verb ›ersticken‹ ist auch das entscheidende Verb in Camus’ Interpretation des Man in Heideggers 661 Kierkegaard deckt die geistige Leere der sozialen Rollen auf (vgl. Hannay (1994) 20).

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Sein und Zeit. Der Durchschnittmensch versuche den Überdruss »in sich zu unterdrücken und zu ersticken« (MS 36), wobei Überdruss zuvor den Punkt des Übergangs zur Entdeckung des Absurden mar­ kierte (vgl. MS 23). Der selektiven Rezeption von Kunst durch den Alltagsmenschen entspricht also eine aktive Verdrängungsleistung der Negativität des Lebens. In Furcht und Zittern ist es ein Lachen, ein »Gelächter« (FZ 298), das die Angst übertönt. Die Menschen lachen und haben dabei vergessen, dass sie über sich selbst lachen (vgl. FZ 297), dass ihr Leben lächerlich ist. Genau dieses Lachen über die Lächerlichkeit des alltäg­ lichen Dahinlebens findet sich in Aphorismus 67 der Diapsalmata von Entweder-Oder (vgl. EO 67). Bei Camus findet sich in diesem Kontext nicht der Begriff des Lachens, wohl aber der Begriff des Lächerlichen. Dem Blick für das Absurde zeigt sich »das Lächerliche dieser [Bezug: alltäglichen] Gewohnheiten« (vgl. MS 14). Daneben gebraucht Camus den Begriff des Lächerlichen in erster Linie für die Vernunftphilosophie (vgl. MS 28, 32). Den Begriff des Lachens reser­ viert Camus dagegen affirmativ für seine Don-Juan-Interpretation, als lachende Wiederholung der Struktur des Absurden. Der entscheidende Begriff bei Kierkegaard zur Verdrängung durch den sozialen Kontext ist das »Gerede« (KT 61, auch AG 188, AG 197). Wir sind umgeben von »Geräusch und Lärm« (FZ 270), dem »Lärm der Weltlicheit« (KT 49), der die eigentliche Tiefendimension des Lebens zu übertönen versucht, sowie einer Fülle von Lebensweis­ heiten, Sprichwörtern und Klugheitsregeln (vgl. KT 56, FZ 298), die alle nichts wert sind. Das Gerede über Lebensphasen und darüber, was diese angeblich mit sich bringen, ist nur Gerede (vgl. KT 61), die trivialen »Papageienweisheiten« (KT 65) reduzieren den Horizont des Möglichen auf das Alltägliche (vgl. KT 65). Das alltägliche Dahinleben ist gekennzeichnet von der »Geschwätzigkeit« (KT 95) derer, die kei­ nen Augenblick Ruhe ertragen können, weil dieser sie potenziell mit sich selbst konfrontieren würde. »Geschwätzigkeit« (AG 180) ist auch in Am Grabe der Gegenbegriff zum Schweigen, in dem sich wirkliche Einsicht vollzieht. In Furcht und Zittern zieht Kierkegaard die feine Differenz zwischen dem Reden über ›große Männer‹, das sachlogisch völlig korrekt sein kann, aber trotzdem bloß Gerede ist, wenn es diejenigen selbst nicht betrifft (vgl. FZ 222). Diese letzte Figur findet sich ebenfalls bei Camus: Man sage gelegentlich, »dass nichts Sinn habe« (MS 76), meint aber nicht das Absurde, sondern bewegt sich sprachlich voll und ganz innerhalb des alltäglichen Rahmens. Man

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meint es nicht ernst. Auch darüber hinaus leben wir mit Einsichten, die eigentlich »unser ganzes Leben erschüttern müssten« (MS 29) – aber sie tun es nicht, weil wir verdrängen. Wir verdrängen nicht die theoretischen Einsichten, sondern wir verdrängen, dass sie uns selbst betreffen. Insgesamt muss man jedoch festhalten, dass Camus zwar »die Welt des anonymen ›man‹„ (MS 70) benennt, dass der Begriff des Geredes, insbesondere in seiner Funktion als Beschränkung des Horizonts des Möglichen, bei ihm jedoch unterbelichtet bleibt. Sein Augenmerk liegt nicht auf der Sprache des Alltags, ganz im Gegensatz zu den beeindruckenden Phänomenbeschreibungen Kierkegaards. Liegt Camus’ Fokus nicht auf der Sprache, so hat er doch einen Begriff von »Umwelt« (MS 77), von »Umgebung« (MS 77), mit dem er entscheidende Aspekte einholt und sich in der Nähe Kierkegaards bewegt: Der Alltagsmensch lebt in seiner Umwelt von einer »Illusion« (MS 77). Man könnte anstelle von Camus’ Begriff der Umwelt oder Umgebung auch von einem jeweiligen soziokulturellen662 Kontext oder -Sinnhorizont sprechen, auch von einer Ideologie. In seiner Kafka-Interpretation benutzt Camus auch den Begriff des »alltägli­ chen Rahmens der Gesellschaft« (MS 169), wobei »Rahmen« (MS 14) wiederum genau dasjenige bezeichnet, was mit der Einsicht in das Absurde kollabiert. Gleiches gilt für den Begriff »Kulisse« (MS 179, MS 22). In diesem jeweiligen Kontext lebt der Alltagsmensch, »als wäre er frei« (MS 76), »als hätte alles einen Sinn« (MS 76), während das, was er für ein freies und sinnvolles Leben erachtet, faktisch ein an diesen Kontext angepasstes Leben ist. Zu den ideologisch verkehrten Begriffen von Freiheit und Sinn kommen die Begriffe von Normalität und Gesundheit (vgl. MS 173). Letztlich basiert dieses Gesellschafts­ system auf Illusion, es betrügt den Einzelnen, während es an seiner eigenen Stabilität und Reproduktion interessiert ist. Camus benutzt dazu die Metapher des Schlafs (vgl. MS 22). Der Einzelne lebt in einer Illusion von Bewusstsein, Wahrheit und Wirklichkeit, hält das Falsche für das Wahre und ist unfähig, über diesen Zustand zu reflektieren. An den Begriff des Normalen schließt der Ethiker Wilhelm in Entweder-Oder an. Ethisch zu existieren bedeutet hier »der normale Mensch zu werden« (EO 828).F663 Die Analyse des soziokulturellen

662 Der Mensch kann sich nach Camus genau nicht auf derart relative Sinnansprüche beschränken (vgl. A. Pieper (1984) 65). 663 Vgl. dazu Schwab (2014) 96.

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Kontexts664 als Betrug ist vielleicht der Schwerpunkt von Kierke­ gaards Krankheit zum Tode. Wie auch für Marx ist für Kierkegaard im Anschluss an Hegel das Unmittelbare immer das Falsche (vgl. KT 46). Kierkegaard diagnostiziert Angst und Verzweiflung hinter der eigenen Einbildung von Ruhe und Sicherheit (vgl. KT 45) – die also lediglich Einbildung sind. »Sicherheit« (KT 48) und »Zufriedenheit mit dem Leben« (KT 48) sind lediglich »sogenannt« (KT 48), faktisch ist es Betrug (vgl. KT 48). Wir leben »betrogen von den Freuden des Lebens« (KT 48) dahin, wobei das Betrügerische genau das »wie es sich [Gehört]« (KT 56) des jeweiligen soziokulturellen Kontextes ist.665 Man gründet sein Leben auf etwas abstrakt Allgemeines wie einen Staat oder eine Nation (vgl. KT 71), lebt in Gesellschaft mit anderen, wäre in Holland ein Holländer (vgl. KT 85), und lässt sich so »sein ›Selbst‹ von ›den anderen‹ abluchsen« (KT 56), man wird betro­ gen und lässt sich betrügen, ist Objekt und zugleich Subjekt dieses Prozesses. Man imitiert die anderen (vgl. KT 80), man macht einfach mit. Es ist ein »Einlullen der Gesellschaft« (KT 96), die uns beruhigt wie kleine Kinder und uns in einen Zustand analog zum »Schlaf« (KT 95) führt, und damit zum Gegenteil dessen, was wir tun sollten. Das Mitmachen »geschieht […] sehr leicht« (KT 89), »mit den Jahren« (KT 89) wie von selbst. Kierkegaard ist sehr skeptisch gegenüber der Idee eines quasi-automatischen Prozesses menschlicher Entwicklung, der »ohne weiteres mit den Jahren kommt« (KT 88). Dieser Prozess führt in die Verzweiflung hinein. Nur das geschieht wie von selbst. Furcht und Zittern betont an dieser Stelle noch das Vergessen. In »Gemein­ schaft mit anderen« (FZ 297) vergisst man leicht. In dem jeweiligen soziokulturellen Kontext gibt es einen »Missbrauch der Sprache« (KT 78). Alle normativ besetzten Begriffe – Selbst, Verzweiflung, Gesund­ heit, Glück, Christ, Bildung, Leben, Mensch, Wirklichkeit, Maßstab, Wahrheit – sind von diesem Kontext »in seiner Sprache« (KT 85) besetzt und damit falsch besetzt. Die Verzweiflung spricht ihre eigene Sprache, oder besser gesagt: sie hintergeht die Sprache. Von der »Wahrheit« (KT 67) hat man sich lange verabschiedet. Man bildet sich ein, über einen Begriff von »Möglichkeit« (KT 66) zu verfügen, bildet 664 In diesen wird man hineingeboren, -sozialisiert und -bürokratisiert (vgl. Theunis­ sen / Greve (1979) 38. 665 Die Einsicht in die historische Bedingtheit dieser Werte und Normen führt nach Hackel zum theoretischen Primat der Krankheit zum Tode gegenüber dem ethischen Stadium bei Kierkegaard (vgl. dazu Hackel (2011) 394).

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sich ein, Herr zu sein (vgl. KT 66), während man faktisch »Sklave der Geistlosigkeit« (KT 66) ist. Camus nutzt den gleichen Begriff des »Sklaven seiner Freiheit« (MS 77) für den Alltagsmenschen. Dasjenige, was er fälschlicherweise als Freiheit versteht, versklavt ihn. In der Wiederholung baut der junge Mann diese Metapher aus, wenn er sich beschreibt als »als sei ich von einem Seelenverkooper gekauft« (WH 410). Sein Ekel vor dem Dasein richtet sich, unter anderem, gegen die Einsicht, faktisch versklavt worden zu sein. Kultur und Gesellschaft sind eine Zwangsveranstaltung. Mit dem Partizip »hineingenarrt« (WH 410) erhebt auch der Protagonist dieses Werks den Vorwurf, getäuscht worden zu sein. Anti-Climacus spricht von einer »Verzauberung durch den Sinnesbetrug« (KT 69).666 Letzterer Begriff wird zu Kierkegaard zentralem Begriff für Ideologie, er findet sich sowohl in Am Grabe (vgl. AG 185) als auch in Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (vgl. ÜW 8). Erstere Schrift besetzt auch den Begriff der »Gesellschaft« (AG 189) negativ, letzte erläu­ tert den Mechanismus, mit welchem diese scheinbare Sachzwänge gegen die normative Dimension ausspielt, sie als unrealistisch und lebensfern erklärt (vgl. ÜW 13). Damit ist, wie in der Krankheit zum Tode, vielleicht die fundamentale Verkehrung des jeweiligen soziokulturellen Kontextes die Verkehrung des Begriffs des Lebens. Der Ästhetiker A beschreibt die Gesellschaft als Perversion von Beruf, Liebe, Freundschaft, Bildung, Tugenden, Mitmenschlichkeit und Religiosität (vgl. EO 44). Man mogelt sich durchs Leben, hofft, dass man »davonkommt« (FZ 297), dass es gelingt, irgendwie »durch das Leben zu schlüpfen« (KT 47) und dem, worum es eigentlich geht und was man meist, zumindest in Augenblicken, doch irgendwo ahnt, halbbewusst aus dem Weg zu gehen. Camus reiht die »Illusionen des Alltags« (MS 119) letztlich ein in die Spielarten des Sprungs, neben Religiosität, religiöser Existenzphilosophie und Vernunftphilosophie. Die Alltagswelt gibt dem Menschen einen falschen ›Grund‹ von Exis­ tenz, eine Scheinsicherheit, die auf Irrtum und Mangel an Reflexion beruht und jederzeit beginnen kann zu »wanken« (KT 69, auch FZ 307). Dabei sind es bei Camus genau diese Spielarten des Sprungs, die zentrale Begriffe – Wert, Wahrheit, Vernunft, Metaphysik, Ideal, das Heilige – verkehrt besetzen. Camus kritisiert diese Begriffe in diesen Theoriekontexten, um sie später in seiner eigenen Konzeption wieder einzuholen. 666

Zum Begriff der Verzauberung vgl. Heidegger, Beiträge 124.

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Kennzeichnend für das alltägliche Leben ist dazu das Berech­ nende. Der Alltagsmensch in Camus’ Darstellung »wägt seine Chan­ cen« (MS 76). Er »rechnet« (MS 76). Die »menschliche Berechnung« (FZ 212) ist in Furcht und Zittern der zentrale Gegenbegriff zum ethisch-religiösen Leben als Doppelbewegung des Glaubens. Es kennzeichnet den beschränkten Möglichkeitshorizont menschlicher Vorstellung im Unterschied zum Gottesbegriff. Der Alltagsmensch minimiert sein Risiko durch Streuung, anstatt »den ganzen Lebensin­ halt und die Bedeutung der Wirklichkeit in einen einzigen Wunsch zu konzentrieren« (FZ 221). Dadurch fehlt ihm die Konzentration auf das Wesentliche, und er kann es nicht realisieren. Glaube dagegen ist frei von »menschlicher Berechnung« (FZ 315). Auch die Krankheit zum Tode beschreibt das kluge Berechnen des alltäglichen Lebens (vgl. KT 57, 74). »Nicht-Wagen« (KT 56) gilt als klug. Man vertraut auf dasjenige, das »leichter und sicher« (KT 56), »bequem« (KT 56) ist. Der Begriff von Möglichkeit, über den der Alltagsmensch verfügt, ist »gefangen im Käfig der Wahrscheinlichkeit« (KT 66), welche wiede­ rum auf Alltagserfahrungen beruht. Mit diesem Möglichkeitsbegriff ist folglich der Horizont des Alltäglichen nicht zu durchbrechen. Man verliert seine Seele an die italienische Buchhaltung (vgl. FZ 216). Bemerkenswerterweise ist der Gegenbegriff des Ästhetikers gegen das kaufmännische Denken, »ordentlich Buch führen« (EO 37) der Begriff des »Menschen« (EO 37). Das auf Wahrscheinlichkeitsrech­ nung basierte Leben samt seines beschränkten Möglichkeitsbegriffs hat also etwas zutiefst Unmenschliches. Das Unmenschliche des Alltagslebens zeigt sich in diversen Metaphern beider Denker. Camus beschreibt das Leben wiederholt als ›mechanisch‹ (vgl. MS 23, MS 25), also als Trivialmaschine, mit einem Gegenbegriff zum Lebendigen. Der Autor spricht hier explizit von der »Unmenschlichkeit des Menschen« (MS 25). Kierkegaard benutzt dieselbe Metapher im Begriff Angst. Es gibt Menschen, die »eine Sprechmaschine geworden« (BA 555) sind. Sie reden und verstehen nicht im eigentlichen Sinne, sondern dies läuft quasi mechanisch ab. Dabei können sie »wörtlich dasselbe sagen« (BA 555) wie jemand, der versteht. Daneben benutzt Kierkegaard Imitationsmetaphern des Affen (KT 56), des Papageis (KT 65), beschreibt die dahinlebenden Menschen als »Gesellschaftsvögel« (KT 95), als »Frösche im Sumpf des Lebens« (FZ 219), die lediglich »quaken« (FZ 220), also auch nicht im eigentliche Sinne menschlich kommunizieren. Wird der Alltagsmensch aus der Bahn geworfen, so stellt er sich tot, gleich

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»gewissen niederen Tierarten« (KT 80). Ohne Gebet ist der Mensch »ebenso stumm wie das Tier« (KT 65), dem nicht-religiösen Leben fehlt also das für den Menschen wesentliche Merkmal der Sprache. Der Alltagsmensch ist also in seinem Verhalten für Camus und Kierkegaard näher an der Maschine oder am Tier als am Menschen. Aufgrund der ideologischen Verkehrung der alltäglichen Welt sind soziale Anerkennung und Erfolg Indikatoren des Falschen. Der Alltagsmensch wird in seinem Umfeld »gepriesen von anderen, geehrt und angesehen« (KT 57, vgl. auch KT 54). Vielleicht wird er »sogar ein großer Mann« (KT 85), »vielleicht sogar in der Historie genannt« (KT 57). Es sind eben diejenigen erfolgreich, die »den Sinnentrug zu unterstützen« (UW 8). Dabei muss es diesen nicht unbedingt bewusst sein. Als Politiker, Lehrer, Dozent oder Künstler kann man die herrschende Ideologie unterstützen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Man kann sogar vom Gegenteil überzeugt sein und sich auf der richtigen Seite wähnen. Camus’ Beispiel ist hier der Künstler, etwa der Romancier, der glaubt Künstler zu sein, faktisch aber eine »Weltsicht« (MS 132) schafft, die erklärt und das Absurde weiter verdeckt, anstatt, wie es Aufgabe der Kunst wäre, es indirekt anzudeuten. Auch trifft in der Welt gerade das körperlich gesunde, das bio­ logisch-vitale, scheinbar fruchtbare und produktive Leben auf Aner­ kennung. Kierkegaard entlarvt biologisch-vitales »vor Gesundheit [Blühen]« (KT 70) als trügerische Gestalt der Krankheit des Geistes. Es ist für ihn die Kehrseite der Medaille des bloß »vegetativen Lebens« (KT 70). Beides läuft auf dasselbe hinaus. Bei Camus hält der Alltag den Einzelnen vom »sterilen Denken« (MS 92) fern. Auch hier ist implizit das fertile, das vitale Leben das Falsche. In seiner AbrahamInterpretation stellt Kierkegaard in Furcht und Zittern das sozial höchst Unproduktive, sogar Kontraproduktive Abrahams heraus. »Es ist ein rein privates Unternehmen« (FZ 243). Die Gesellschaft setzt dagegen das misslingende Leben, das verdeckt absurd bzw. verzwei­ felt ist, an die Stelle des gelingenden- (vgl. ÜW 13), und honoriert es entsprechend. Camus und Kierkegaard geben beide den Glücksbegriffs an den Alltag auf – Glück ist also Teil der Sphäre der Krankheit des Geistes – um ihn dann jeweils doch in einem letzten Schritt wieder zu versuchen normativ einzuholen, und falsches von wahrem Glück zu unterschie­ den. Camus beschreibt hier den gut gelaunten Alltagsmenschen (vgl. MS 77), der Geld verdienen will, um glücklich zu sein (vgl. MS 134). ›Glück‹ gehört damit der Sphäre des Falschen an, an das sich der

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bewusste Mensch nur noch nostalgisch erinnert. Der Ruf des Glücks macht ihn traurig (vgl. MS 158), »irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben« (MS 158) ist gerade die Versuchung des Illusorischen. »Glück des Geistes« (MS 28) ist dagegen unerreichbar, denn es bestände in der Entdeckung des Einen, des metaphysischen Prinzips. Die Figur des Glücks als der Versuchung durch das Falsche findet sich auch in Kierkegaards Am Grabe (vgl. AG 193). Was die Menschen ›Glück‹ nennen, ist lediglich die trügerische Sicherheit des alltäglichen Lebens, in Wahrheit aber »Aufschub« (AG 182) und »Flucht« (AG 183). Auch die Krankheit zum Tode gibt den Glücksbegriff explizit auf: »Glück ist keine Bestimmung des Geistes« (KT 46). In dem, was wir im Alltag Glück nennen, »tief drinnen im Glück« (KT 46), verbirgt sich die Verzweiflung. Was man gemeinhin unter »Glück in der Welt« (KT 56) versteht, meint nichts weiter als durchs Leben zu schlüpfen. Glück und Unglück sind Begriffe der unreflektierten Alltagswelt (vgl. KT 79), sie spielen für die Frage nach einem gelingenden Leben keine Rolle (vgl. KT 49). Glück ist lediglich Einbildung (vgl. KT 67). Auch die Faustinterpretation in Furcht und Zittern schließt sich dieser Deutung an. Das Glück der Menschen beruht auf einem Mangel an Reflexion (vgl. FZ 307). Für den Ästhetiker ist dagegen gerade der Begriff des Unglücks für das Leben zentral (vgl. EO 39). In Furcht und Zittern ist es aber gerade Johannes de Silentio, der sich selbst als »froh und zufrieden« (FZ 210), im Vergleich zu Abraham aber als »unglücklich« (FZ 210) bezeichnet. Hier ist das ethisch-religiöse Leben »jeden Augenblick kraft des Absurden froh und glücklich« (FZ 231), ihm kommt also ein Glücksbegriff zu, der nicht derjenige der Alltagswelt ist. Auch die Krankheit zum Tode beschreibt den unreflektierten Alltagsmenschen als »vermeintlich glücklich […] im Lichte der Wahrheit betrachtet [jedoch] unglück­ lich« (KT 67), nennt also das Glück des Alltags Unglück und stellt diesem ein wahres Glück gegenüber. Affirmativ gebraucht wird hier der Begriff jedoch kaum, lediglich wenn Kierkegaard schreibt, es sei »wahres Gottesglück« (KT 47), sich der eigenen Verzweiflung bewusst zu werden. Auch Camus führt letztlich die Begriffe »Glück und Absurdität« (MS 159) eng und verwendet den Begriff »metaphy­ sisches Glück« (MS 123) affirmativ für seine Konzeption, die auf die Interpretation des Sisyphos als »glücklich« (MS 160) hinausläuft. In der Interpretation des Don-Juan-Mythos wird für den absurden Menschen sogar »das Glück spürbar« (MS 94). Bemerkenswert ist dabei, dass Camus und insbesondere Kierkegaard, der diese Aspekte

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reflektierter betrachtet, nicht, wie im Falle der Begriffe ›Selbst‹ oder ›Verzweiflung‹, auf eine Verkehrung des Glücksbegriffs in der Alltags­ sprache hinweisen, sondern diesen Begriff explizit aufgeben, um ihn dann doch wieder einzuholen. Die Alltagswelt ist gekennzeichnet durch Religiosität, aber nicht in einem theologischen, sondern in einem soziokulturellen Sinne. Man ist Christ »ganz im gleichen Sinne wie [… man] in Holland Holländer« wäre (KT 85, Hervorhebung JA). Das Christliche ist »Sitte und Brauch geworden wie so vieles andere« (KT 141, Hervorhebung JA). Kierkegaard differenziert hier explizit zwischen zwei Religions­ begriffen, wobei der alltägliche in keinem, genauer gesagt in einem verkehrten Verhältnis zur Wahrheit steht. Der auf niedrigem Reflexi­ onsniveau Verzweifelte geht »jeden Sonntag in die Kirche« (KT 81) und wird vom Pfarrer verstanden (vgl. KT 81), genau weil der Pfarrer sich auf demselben Niveau befindet und seine eigene Verzweiflung nicht als das erkennen kann, was sie ist. Der Verschlossene, der auf hohem Reflexionsniveau verzweifelt ist, sich aber im Alltag nichts anmerken lässt, geht dagegen »sehr selten« (KT 95) in die Kirche, weil er zu durchschauen beginnt, dass die Pfarrer in der Regel nicht wissen, wovon sie reden. Die Alltagsmenschen werden »von den Geistlichen in ihrer Seligkeits-Angelegenheit beruhigt« (KT 87), Reli­ gion vollzieht also dieselbe ideologische, beruhigende Funktion wie die übrigen Akteure und Institutionen der Gesellschaft.667 ›Pfarrer‹ ist ein Beruf wie jeder andere (vgl. KT 141), es genügt, »ein Examen gemacht zu haben« (KT 140). Auch Furcht und Zittern kritisiert die Idee der Kirche, die »qualitativ nicht von der des Staates verschieden ist« (FZ 263). Es ist eine Gesellschafts- und Vergesellschaftungsinsti­ tution. In ihr predigen Kirchenbeamte, die die Erzählung Abrahams völlig kalt lässt, und der Einzelne kommt nach Hause und hat nichts verstanden (vgl. FZ 203). Der »kirchliche Held« (FZ 263), der voll in diesem institutionellen Kontext aufgeht, drückt in seinem Leben das Allgemeine aus (vgl. FZ 263). Während Furcht und Zittern in einer Linie mit der Krankheit zum Tode denjenigen kritisiert, für den Reli­ giosität bedeutet, jeden Sonntag in dir Kirche zu gehen (vgl. FZ 216), kritisiert der Ästhetiker A sozusagen die nächste Stufe: denjenigen, der »einmal im Jahr zum Abendmahl« (EO 44) geht. Kierkegaards Begriff der faktischen soziokulturellen Religiosität seiner Zeit ist die 667 Das Absolute wird, so Thurnher, benutzt, um die relativen Zwecke der bürgerli­ chen Welt zu verabsolutieren (vgl. Thurnher (2003) 135).

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»Christenheit« (KT 81, 85, ÜW 5) als Verkehrung des Christentums (vgl. ÜW 5). Die Pointe668 bei Kierkegaard ist, dass Ideologie und normativer Maßstab, Christenheit und Christentum, das Christliche für sich beanspruchen. Das Christliche ist Maßstab für seine Ver­ kehrung. Die Ideologie, Kierkegaards Begriff ist der Sinnentrug, ist demnach dem Wortlaut nach richtig, der Sache nach aber falsch. Man versteht nicht, worüber man da redet. Wie Kierkegaard identifiziert auch Camus die Institution Kirche als die Gegenseite, die also einem gelingenden Leben entgegen steht: »Alle Kirchen sind gegen uns« (MS 116, vgl. auch MS 108). Dazu benutzt Camus ebenfalls die Figur der Verharmlosung der Wahrheit über das Leben durch die Kirchen mit ihren schön angelegten Friedhöfen, die uns mit ihren »Blumen und Vögeln« (MS 117) beruhigen. Bei Camus fällt jedoch die Kierkegaardsche Differenz zwischen Christentum und Christenheit, zwischen normativem Gehalt und dessen ideologischer Verkehrung. Religion ist für Camus per se falsch. Kierkegaard beschreibt weiterhin die unbewusste Verzweiflung als ein vollkommenes Aufgehen669 des Menschen in der Alltagswelt. Die ethische Existenz in Entweder-Oder meint, »sich selbst in das allgemeine Individuum zu verwandeln« (vgl. EO 828). Während B aber noch meint, dabei seine »Zufälligkeit« (EO 829), seine Indivi­ dualität bewahren zu können, wird diese Vorstellung in späteren Werken als Ideologie entlarvt. Er wurde »eine Zahl […], ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr in diesem ewigen Einerlei« (KT 55). Aus dem Individuum wird das quantitative Abstraktum einer Zahl. Kierkegaard benutzt auch das Substantiv »eine Nummer« (KT 56). Es gibt viele davon, und er ist einer davon. Der Mensch wird Wiederholung im schlechten Sinne. Er wird »eine Nachäffung« (KT 56), also eine Imitation von etwas, »inmitten der Menge« (KT 56). Der einzelne Mensch wird von der Menge ununterscheidbar, er wird durch das ›einer von ihnen Sein‹ vollkommen und hinreichend bestimmt. Er wird lediglich ein Takt in einem Musikstück, verschwendet wie beim Pyramidenbau (vgl. KT 53). Der Mensch ist kein Exemplar 668 Vgl. dazu Deuser (1980 215): Der »Clou« der Kierkegaard’schen Ideologiekri­ tik ist, dass der Maßstab der Ideologiekritik von den kritisierten Akteuren selbst bejaht wird. 669 Adorno schreibt, Kierkegaard habe als erster »das Phänomen der Neutralisie­ rung« (Adorno, KdÄ 316) entdeckt. Adorno selbst deutet diese jedoch primär in einem gesellschaftspolitischen Kontext.

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einer Art (vgl. BA 512), aber er wird zu einem gemacht, als ob er eines wäre. Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller bringt dieses Phänomen auf die Begrifflichkeiten »Publikum, Menge, [das] Nume­ rische« (ÜW 9 Fußnote 2). Der Einzelne geht also völlig in der Sphäre des Öffentlichen (lat. publicus) und des Allgemeinen auf. Er wird Ausdruck des Allgemeinen (vgl. FZ 303). Das Individuelle, das Besondere, das Konkrete, das Differente, das Nichtidentische verschwindet, wird nivelliert, annulliert.670 Die Bewegung ist reduk­ tionistisch, quantitativ und dominiert vom Denken in Äquivalenzen. Es gibt viele davon, die alle gleich und prinzipiell austauschbar sind. Sie sind prinzipiell verrechenbar, man kann einfach den nächsten nehmen. Camus deutet dieses Phänomen in seiner Beschreibung des angepassten Alltagslebens an, vollends deutlich wird es allerdings erst in seiner Beschreibung des Extrems des Massensterbens in den Weltkriegen. In den Massengräbern zeigt sich diese Logik. Das Grab wird zur »namenlosen Grube« (MS 117). »Die Welt zermalmt es [Bezug: das Individuum]« (MS 114). In der Krankheit zum Tode beschreibt Kierkegaard die Möglich­ keit, beim Blick in den Spiegel »nicht sich selbst, sondern nur einen Menschen« (KT 60, Hervorhebung SK) zu sehen. Das Individuelle wird nivelliert, der Einzelne wird zu einem von vielen gemacht, mit dem Ergebnis, dass er sich selbst nur noch als einer von vielen versteht, dass er auf einer ganz basalen Ebene jeglichen Bezug zu sich verloren hat. Camus nutzt diese Figur, allerdings in der Phase der Entdeckung des Absurden. Man begegnet einem Fremden im Spiegel (vgl. MS 25). Der Alltagsmensch weiß dagegen nicht, dass der Mensch im Spiegel nicht er selbst ist, sondern eine pervertierte Form seines Lebens. Während Camus den Prozess des Zermalmens beschreibt (vgl. MS 114), arbeitet Kierkegaard mit der feineren Metapher des Schlei­ fens in doppelter Gestalt. Einmal beschreibt er den Menschen als »abgeschliffen wie ein Kieselstein« (KT 56). Das Schleifende ist also das Wasser, es ist überall um ihn herum, und dazu schleifen die Steine sich gegenseitig. Es ist eine Metaphorik für einen umfassen­ den Sozialisations- und Enkulturationsprozess. Die Verwendung von »zugeschliffen« (KT 55) als Gegenbegriff zu »abgeschliffen« (KT 55) meint dagegen einen handwerklichen, zielgerichteten Prozess, und ist 670 Daher beschreibt Adorno das Vernichtungslager als die absolute Integration (vgl. Adorno, ND 353).

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somit eher Metapher für Bildung, für ein institutionalisiertes Gesche­ hen. Die These ist also, dass Bildungsprozesse und -institutionen den soziokulturellen Integrationsprozess von Individuen, der auf deren Auflösung im Allgemeinen hinarbeitet, unterstützen.671 Die zweite, zumindest implizit repressive Bildungsmetapher der Krankheit zum Tode ist die der Münzprägung (vgl. KT 56), ein Veränderungspro­ zess durch massive Gewalteinwirkung, die heute immer noch zum soziologischen Standardvokabular gehört. In Entweder-Oder führt der Ästhetiker die Begriffe Erziehung und Abrichtung eng (vgl. EO 31). Erziehungsprozesse werden dem Menschen nicht gerecht. Man richtet ihn ab wie ein Tier, wodurch er sich wieder in Richtung des Verhaltens eines Säuglings bewegt (vgl. EO 31). A impliziert also, dass man einen abhängigen und hilflosen Menschen schafft. Der höchste philosophi­ sche Begriff der »Weisheit« (EO 44) wird zu dem pervertiert »was die meisten darunter verstehen« (EO 44). Die Beurteilungsmaßstäbe der Bildungsinstitutionen sind nichts wert (vgl. EO 45). Der junge Mann in der Wiederholung beklagt, »ins Glied gesteckt« (WH 410) anstatt »mit Bräuchen und Regeln bekannt gemacht worden« (WH 410) zu sein, fügt also dem bereits genannten repressiven Vokabular noch den Begriff der Eingliederung hinzu. Bildung ist also nicht, was Bildung sein sollte, sondern ein repressives Unterfangen, das den Einzelnen im soziokulturellen Ganzen aufgehen lässt. Bei Camus ist leider dieser gesamte Problembereich der Perversion von Bildung als reine Enkulturation unterbelichtet. Er betrachtet lediglich, wie der Mensch da hinausfinden kann, nicht, wie Kierkegaard, detaillierter, wie er von klein auf hineingerät. Das Kind oder der heranwachsende und in die Alltagswelt hineinwachsende Mensch kommen im Mythos des Sisyphos nicht vor. Kierkegaard und Camus beschreiben beide das Aufgehen im Dahinleben in der Alltagswelt mit ihren Facetten als unbewusste Form der Krankheit des Geistes. Die bewusste Verzweiflung, das bewusste Leiden an der Negativität des Lebens ist als »Verzweiflung intensiver« (KT 69), gerade deshalb aber »der Heilung näher« (KT 93). Der unbewusst Verzweifelte dagegen erkennt die eigene Notsituation, er erkennt den Ernst der Lage nicht. Seine Verzweiflung kann »die

Kierkegaard kritisiert hier die Destruktion der Individualität (vgl. Deuser (1985) 94).

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gefährlichste Form der Verzweiflung sein« (KT 70).672 Sie ist »das größte Unglück« (KT 47) und doppelt negativ: »Die Verzweiflung selbst ist eine Negativität, die Unwissenheit darum eine neue Nega­ tivität« (KT 69). Während Kierkegaard dem Alltagsleben absolut nichts Positives abgewinnen kann, ist es für Camus gleichermaßen absurd und krank, aber Camus’ Interesse gilt in erster Linie den Augenblicken des Einbruchs des Negativen und des Bewusstseins (vgl. MS 22). Hier differenziert Camus zwischen absurd und tragisch. Absurd sind sowohl unbewusste als auch bewusste Verzweiflung, tragisch jedoch nur die bewusste, die des Alltagsmenschen nur in dessen Augenblicken des Bewusstseins (vgl. MS 157). Kierkegaard betont, dass diese Art der alltäglichen Verzweiflung eben nur eine »Art Unschuld« (KT 67) ist, weil sie so unreflektiert ist, aber dennoch nicht Unschuld. Letztlich »lässt« (KT 56) der Einzelne hier etwas mit sich machen, und dieses ›Lassen‹ ist Aktivität, für die er voll verantwortlich ist. Er vergisst sein Selbst, schätzt dieses Leben als bequemer ein, wagt nicht sich zu verändern (vgl. KT 56) – allesamt Verben der Aktivität und der Versäumnis. Gemäß einer letztlich sündentheologischen Figur ist der Mensch »durch eigene Schuld« (PB 59) die Unwahrheit. Er ist da hineingeraten, aber dennoch voll verantwortlich, weil er es zugelassen hat und in jedem Augenblick neu zulässt. Auch bei Camus ist die »Hingabe an die Illusionen des Alltags« (MS 119) als Figur der Flucht (vgl. MS 42) letztlich Aktivität und in der Verantwortung des Einzelnen. Kierkegaard und Camus diagnostizieren also eine unbewusste Verzweiflung unter der Oberfläche des alltäglichen Dahinlebens in der chronologischen Zeit. Die ideologisch verkehrte Gesellschaft reduziert den Horizont des Möglichen auf das Alltägliche. Die Sicher­ heit, die sie anbietet, ist trügerisch und letztlich Illusion. Dabei ist gerade das scheinbar gelingende Leben, Vitalität, Gesundheit, Bequemlichkeit, soziokultureller Erfolg, Beruf in Familie – gerade dieses Leben ist doppelt negative Gestalt der Krankheit des Geistes.

1.4 Relative Disharmonie und absolute Absurdität Der vierte und abschließende Schritt des ersten Unterkapitels des Vergleichskapitels fragt nun nach dem jeweiligen Maßstab der Deu­ 672 Die Figur entspricht der »Not der Notlosigkeit« (Heidegger, Beiträge 119) als gerade höchster Form der Not.

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tung des Begriffs- und Metaphernfeldes der Erfahrung des Negativen und der Diagnose der Alltäglichkeit als Verzweiflung, und verortet genau an dieser Stelle die fundamentale Differenz der Konzeptionen Kierkegaards und Camus. Kierkegaards Maßstab, das »Korrektiv […] im Verhältnis zu einem ›Bestehenden‹„ ist zunächst einmal »der Einzelne« (ÜW 14).673 Dies ist der entscheidende normative und anthropologische Begriff.674 Der einzelne Mensch ist nicht einer von vielen. Die Menschen lassen sich nicht in einem »Gattungsbegriff« (KT 162 Fußnote 1) oder einem Begriff von »Gesellschaft« (KT 162 Fußnote 1) zusammenfassen, sondern jeder ist ein individueller Einzelner, ein Selbst. Daher, so heißt es im Begriff Angst, könne auch keine Wissenschaft sagen, was ein Selbst sei, »obwohl unzählige Millionen solcher Selbste gelebt haben« (BA 534), es sei denn, sie sage es »ganz allgemein« (BA 534). In der Verallgemeinerung geht das Besondere, in der Abstraktion das Konkrete verloren, aber der Mensch ist eben genau dieses Konkrete. Jeder Mensch ist die Ausnahme. Dass der Einzelne in diesem Sinne höher ist als das Allgemeine (vgl. FZ 238), ist in gewissem Sinne paradox. Der Mensch ist also »als ein Selbst angelegt« (KT 55). Kierkegaard definiert dieses Selbst als Selbstverhältnis, als ein Verhältnis, das sich zu sich verhält.675 Das Selbst ist, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält (vgl. KT 31) und damit wesentlich frei. »Das Selbst ist Freiheit« (KT 50). Im Sich-zu-sich-Verhalten sind Subjekt und Objekt im Selbst identisch. Kierkegaards Existenzbegriff entspricht damit in seiner reflexiven Struktur der Identität von Subjekt und Objekt, einer Grundfigur des Deutschen Idealismus. Der Einzelne ist kein Subjekt, erst recht kein Objekt, mit der Eigenschaft oder Fähigkeit, frei zu sein. Er ist dieses Sich-zu-sich-Verhalten, er ist frei.676 Auch für Camus ist der Begriff des »Individuums« (MS 111) ein zentraler und normativ positiv besetzter Begriff im »Maschinenalter« (MS 112). Der Autor steht dabei jedem Versuch der Vermittlung eines »Gleichgewichts« (MS 112) zwischen Individuum und Gesellschaft skeptisch gegenüber, weil sich das Individuum letztlich immer in einer 673 Theunissen bezeichnet den Einzelnen als das »Prinzip« (Theunissen (1982) 121) der Verwirklichung des Menschseins. 674 Vgl. A. Pieper (2000) 37. 675 Der Mensch verhält sich nicht einfach (vgl. Söderquist (2015) 85). 676 Vgl. dazu auch Sartre SN 84.

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Ideologie, »einer hartnäckigen Verwirrung« (MS 112) verfängt und unter die Räder gerät. Camus’ Beispiele – Don Juan, der Schauspieler, der Eroberer, Sisyphos677 – sind Beispiele Einzelner. In der abschlie­ ßenden Szenerie des Sisyphos gibt es nur einen einzigen Menschen. Wie für Kierkegaard ist auch für Camus der Begriff der Freiheit zentral. Diese ist kein Problem der theoretischen Philosophie, nicht »Freiheit an sich« (MS 75), sondern die je »eigene Freiheit« (MS 75). Camus tritt dabei mit dem Anspruch auf, das am besten begründete Urteil über das Individuum zu formulieren (MS 111). Diesen löst er nicht ein. Im Gegensatz zu Kierkegaard legt er keinen differenzierten Begriff der ›Existenz‹ oder des ›Selbst‹ vor, seine Anthropologie ist in theoretischer Hinsicht offen, er setzt seine Überlegungen nicht in das Verhältnis zur Tradition. Jenseits seiner introspektiven Sicherheit in der Perspektive der ersten Person Singular ist das einzige Prädikat des Selbst, Camus spricht vom »Ich« (MS 30), seine Undefinierbarkeit (vgl. MS 30). Die Undefinierbarkeit des Menschen ist seine Defini­ tion678 Camus’ Anthropologie des Einzelnen ist rein negativ. Der ›konkrete Mensch‹ meint bei Kierkegaard etwa die indivi­ duellen Begabungen und Anlagen in ihrer Konkretion in den jewei­ ligen Verhältnissen (vgl. KT 100). Camus spricht von dem Herz in sich, von Erziehung und Herkunft, von Charaktereigenschaften wie Leidenschaft oder Zurückhaltung (vgl. MS 30), aber auch von der Unmöglichkeit, sich von seiner Zeit zu trennen (vgl. MS 112), macht also das Geschichtliche des Daseins stark. Diese Merkmale kann man auflisten, kommt aber dennoch zu keiner Definition des Menschen, genau weil er sich nicht lediglich verhält, sondern sich noch einmal zu sich verhält. Der Mensch kann sich nicht loswerden, weder seine Individualität noch seine Freiheit. Auch absolute Passivität oder Selbstmord sind ein Verhältnis zu sich. Kierkegaards Bild des Menschen als Selbstverhältnis ist ein theo­ logisches.679 Das »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, [ist] durch ein Anderes gesetzt« (KT 31), es ist ein »abgeleitetes, gesetztes Ver­ hältnis« (KT 32), immer in einem »Verhältnis zu der Macht […], die es 677 A. Pieper schreibt, wenn Sisyphos sich umdrehte, sähe er andere Menschen, die ebenfalls ihren Stein wälzen (vgl. A. Pieper (1984) 124). Das ist insofern richtig, als die Erfahrung des Negativen bei Camus immer auch die Brücke zum anderen ist, in einem wichtigen Sinne aber auch falsch. Im Mythos ist Sisyphos allein. 678 Diese Deutung geht damit über die These Schlettes, bei Camus gebe es kein definiertes Menschenbild (vgl. Schlette (2000) 14), hinaus. 679 Vgl. Theunissen (1991a) 36 f., vgl. Hannay (1994) 7.

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setzte« (KT 33). Dies sei, so Kierkegaard, »als Formel vorausgesetzt« (KT 75). Gegenbegriffe zum Gesetzt-Sein sind das »sich […] selbst gesetzt haben« (KT 31) gemäß der klassischen causa-sui-Figur680 und das Sich-ungefragt-Vorfinden in der Welt als reine Faktizität. Kierkegaard versteht den Menschen dagegen als »seelisch-leibliche Synthese, mit der Anlage, Geist zu sein« (KT 68) aus der Hand Gottes entlassen (vgl. KT 35). Daher ist der »Maßstab« »ethisch-religiös« (KT 71). Gott ist »Maßstab« (KT 112) des Selbst. Kierkegaard gründet also in einer theologischen Anthropologie einen theologisch-norma­ tiven Maßstab, an dem sich bemisst, was Verzweiflung681 ist und was nicht682 Verzweiflung ist Missverhältnis in einem Verhältnis. Konsequenterweise wissen folglich die Heiden gar nicht, was ein menschliches Selbst ist (vgl. KT 72).F683 Die Perspektive, der zufolge es kein Publikum, sondern nur Einzelne gibt, ist »religiös« (ÜW 9). Für Gott gibt es keine Menschenmenge, »sondern nur Einzelne« (KT 166 Fußnote 1). Der zeittheoretische theologische Begriff, als Gegenbegriff zur homogenen Sukzessionszeit der Physik, ist dabei der Begriff des Ewi­ gen. Gegenwart wird im Augenblick als das Ewige in der Zeit, das in seiner Denkfigur der Menschwerdung Gottes entspricht, theologisch gedacht (vgl. BA 544). Dabei ist das Theologische eine Voraussetzung. Kierkegaards »Beweis« (KT 42) des Ewigen ist zirkulär: Er beweist das Ewige im Menschen am Phänomen der Verzweiflung, und darauf die Deutung des Negativphänomens als Verzweiflung durch das Ewige im Menschen. Das Selbstverhältnis im Gottesverhältnis ist bei diesen Beweisen immer schon vorausgesetzt. Der zentrale Begriff des Gesetztseins findet sich auch in Furcht und Zittern, hier als ein Gesetztsein des Einzelnen in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten (vgl. FZ 287 f.). Gegenbegriff zur hypothetischen Bodenlosigkeit der Existenz ist die Geschöpflichkeit des Menschen (vgl. FZ 191). Auch der Begriff ›Geist‹, der in der Faustinterpretation des Werks das Dasein trägt (vgl. FZ 306), ist ein theologischer Begriff. Diese Figur Vgl. dazu Fichte, GWL 16. Wesche differenziert zwischen der Phänomenbeschreibung und der Theologie Kierkegaards (vgl. Wesche (2003) 132), diese Sphären sind jedoch verwoben. Die Beschreibung der Phänomene ist im Grunde theologisch. 682 Auch jeder Begriff von Ontologie bei Kierkegaard (vgl. Schäfer (1971) 428 ff.) ist letztlich in diesem Sinne theologisch. 683 Die »Prämisse« (Theunissen (1991d) 353) Kierkegaards ist, dass es zwei Formen der Verzweiflung gibt, und nicht lediglich eine. 680 681

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des Getragenseins findet sich auch im abschließenden Brief des pseud­ onymen Autors der Wiederholung, Constantin Constantinus, an den Leser: Der Mensch wird »von etwas unaussprechlich Religiösem getragen« (WH 438), »das Religiöse […] bleibt als unaussprechlicher Untergrund« (WH 438). Kierkegaard geht also davon aus, dass der zitierte tiefe Grund, dessen Fehlen Camus diagnostiziert, genau nicht fehlt. Es gibt ihn, er ist Grund von Existenz, und er ist wesenhaft reli­ giös. Das Normative als das Ethisch-Religiöse bei Kierkegaard ist genau nicht offen für philosophische Interpretationen oder kulturelle Konzepte, sondern explizit christlich.684 Einleitung und Vorwort der Krankheit zum Tode benennen den Begriff des Christlichen insgesamt 34mal. Der Text räumt mehrfach explizit seine Perspektivität als christlich ein (vgl. KT 25 ff.), geht aber davon aus, dass diese Perspek­ tive wahr, die Wahrheit im Singular ist.685 Folglich gibt es Christen und Heiden, wahr und falsch: »Er [Bezug: der Heide] kennt nicht den wahren Gott« (KT 29). »Und auf jeden Fall« (KT 42) ist jeder Mensch, der nicht ein wahrer Christ ist, verzweifelt (vgl. KT 42). Daran zweifelt Kierkegaard nicht. Es ist auch gerade das in sich paradoxe Faktum der Menschwerdung Gottes686, das das Paradoxe der Existenz als des nicht-verallgemeinerbaren Einzelnen in gewisser Weise rechtfertigt. Durch das Christliche ist das Paradoxe kein Problem, das es theore­ tisch zu überwinden gilt, sondern letztlich unhintergehbar. In Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller erläutert Kierkegaard, dass die Krankheit zum Tode das Ziel687 seines Gesamtwerks qua direkter Mit­ teilung expliziert. Das Pseudonym Anti-Climacus diene lediglich der Klarstellung, dass der Autor Søren Kierkegaard selbst nicht bean­ sprucht, den normativen Anspruch der Konzeption in seinem Leben realisiert zu haben und von dort aus zu sprechen (vgl. ÜW 6). Das »schriftstellerische Werk [ist], in seiner Ganzheit betrachtet, religiös […] vom Anfang bis zum Ende« (ÜW 6). Dabei werde sein Ziel, »ein Christ werden« (ÜW 6), bereits in der Abschließenden unwissen­ 684 Vgl. dazu Löwith (1979) 541 f., Stan (2011) 65, A. Pieper (2000) 32, H. Schulz (2014) 11. 685 Adorno kritisiert Interpretationen, die sich etwas aus dem Werk Kierkegaards herausnehmen wollen, ohne das Christliche zu teilen, »als ob so einfach das eine ohne das andere sich haben ließe« (Adorno, KdÄ 301). 686 Vgl. Hühn (2009) 216. 687 Theunissen schreibt, die philosophische Kierkegaard-Rezeption, die das theologi­ sche Ziel beseitige, verzichte damit auf Kierkegaard (vgl. Theuinissen (1979) 506).

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schaftlichen Nachschrift 1846 expliziert (vgl. ÜW 6). Gegen die Inter­ pretation seines Werks als eine vorchristliche und eine christliche Phase führt Kierkegaard dabei selbst an, dass Entweder-Oder und religiöse Erbauliche Reden gleichzeitig entstanden sind (vgl. ÜW 6).688 Eine Gegeninterpretation, die Kierkegaard anders, besser oder produktiver auslegen möchte, müsste sich an zahlreichen Textstellen zwangsläufig gegen den Wortlaut des Textes wenden. In den Philosophischen Brosamen689 beschreibt Kierkegaard das Christliche als »auf ein Paradox gebaut […] menschlich gesprochen, auf den Abgrund gebaut« (PB 115) und damit »kraft eines Paradoxes […] in der Schwebe« (PB 116). Sein Gegenbeispiel ist hier die Stadt Venedig, die nur scheinbar auf dem Meer schwebt, in Wahrheit aber auf dem Meeresgrund steht, und irgendwann werden die Balken faulen und die Stadt versinkt. Diese Arbeit vertritt dagegen die These, dass hier gegen Kierkegaards Selbstverständnis seine Konzeption des Christlichen doch in wichtiger Hinsicht dem Bau Venedigs entspricht. Aus der Innenperspektive des Christen ist sie in der Schwebe, aus der Außenperspektive fußt sie jedoch auf Voraussetzungen, die potenziell wegbrechen können. Die Wahrheit Kierkegaards ist paradigmenrela­ tiv, das Christliche lediglich aus der Innenperspektive paradoxal wahr, aus der Außenperspektive paradigmenrelativ.690 Das Christliche ist der paradigmatische Rahmen aller Werke.691 Es bietet den Horizont für die Interpretation der Negativphänomene als Verzweiflung, als Missverhältnis in einem immer schon gedachten Gottesverhältnis.692 Der Rahmen schließt auch die ästhetischen Schriften wie den ersten Teil von Entweder-Oder oder der Wiederholung ein. Damit ist die Verzweiflung des Ästhetikers und des jungen Mannes die Einsicht in eine relative Disharmonie, oder mit Camus gesprochen, deren Einsicht

Die Erbaulichen Reden gehen von Gott, Ewigkeit und Vorsehung im christlichen Sinne aus (vgl. EG 11 ff.). 689 Christus ist hier nicht Geschichte, sondern wirklich im Sinne von gegenwärtig und gleichzeitig. Christus ist die ›wirklichste Wirklichkeit‹ (vgl. Theunissen (1982) 36, 129). 690 Mit seinem Begriff des Unstrittigen (vgl. Deuser (1980) 24 f.) bewegt Deuser selbst sich innerhalb dieses Rahmens. 691 Sagi schreibt, Kierkegaard habe keine philosophische Methode, sondern eine reli­ giös-theologische Infrastruktur (vgl. Sagi (2001) 185 f.). Dagegen ist nach Schwab die Methode Kierkegaards der Kern des Werks (vgl. Schwab (2012) 1 ff.). 692 Kierkegaards Deutung des Verzweiflungsphänomens setzt das Christentum vor­ aus (vgl. Grøn (1994) 37). 688

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in das Absurde die Einsicht in eine relative Absurdität.693 Kierkegaard geht immer noch von einem zentrierten694 Weltbild aus.695 Das Christ­ liche ist immer noch »Zentrum.«696 Damit gilt für Kierkegaard697, was für Fichte, Schelling698 und Hegel699 gilt: Die Philosophie bewegt sich hier innerhalb eines christlichen Rahmens700, es gibt immer noch eine Tiefenschicht hinter jeder Frage, die das Ganze noch einmal trägt.701 Genau aus diesem Grund ist der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses von Seiten der analytischen Philosophie an Kierkegaard haltlos. Kierkegaard schließt nicht auf ein normatives Sollen, sondern bewegt sich immer schon in dessen Horizont. Jeder Schluss auf ein normatives Sollen ist zirkulär.702 Kierkegaard bewegt sich damit an diesem Punkt immer noch im Rahmen »der Metaphysik [… als] Ontotheologie«703, mit der er selbstverständlich an zahlreichen anderen Punkten, vor allem hinsichtlich des Systembegriffs, aber auch hinsichtlich des Ethikbegriffs, bricht. Das macht ihn zu einem Denker 693 Manfred Beyer benutzte diesen Begriff in einer Bochumer Vorlesung zu Shake­ speares Tragödien. 694 Das Christliche ist das in der klassischen Kompassmetapher magnetische »Kraft­ zentrum« (A. Pieper (2000) 136). 695 Dabei teilt Kierkegaard genau nicht die von Birkenstock gemachte Differenz zwi­ schen christlichem und universalem Anspruch (vgl. Birkenstock (1997) 282 ff.). 696 Derrida, Struktur 423. 697 Kierkegaards Philosophie ist, als Konsequenz aus dem Selbstverständnis Hegels und Schellings, theologisch auf dem Boden des Christentums fundiert (vgl. Theunis­ sen (1996) 23). 698 W. Schulz schreibt über das Spätwerk Schellings: »Es ist dies wohl die letzte große Philosophie, die die Grundlehren des Christentums zu Begriffe zu bringen sucht« (Schulz (1975a) 21). 699 Das Christliche ist »Dreh- und Angelpunkt« (Hühn (2009) 213) von Hegels Denken insgesamt. Gemäß rechtshegelianischer Interpretation ist der Standpunkt hinter dem Sein als Maßstab bei Hegel das Christliche (vgl. Theunissen (1983) 50 ff.). 700 Der Versuch, das christliche Paradigma Kierkegaards ›philosophisch‹ auf das aris­ totelische Paradigma des Kosmos zurückzuführen (vgl. Figal (1984) 19 ff.) überzeugt nicht. 701 Das Paradigma ist damit umfassend. Eine Gegenposition vertritt etwa Kodalle (vgl. Kodalle (1996) 388). Auch nach Schwab gibt es bei Kierkegaard genau keine »tragende Sphäre« (vgl. Schwab (2014) 100). 702 Vgl. dazu Theunissen (1991a 28). Die Arbeit folgt damit nicht der These Hackels, Kierkegaard argumentiere philosophisch für das Religiöse (vgl. Hackel (2011) 400 Fußnote 47). Damit lehnt sie auch die Interpretation, der dämonisch Verzweifelte verweigere den Schluss vom Bedürfnis auf die Realität des Absoluten (vgl. Hackel (2011) 401), ab. 703 Derrida, Struktur 425.

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des Übergangs vom Idealismus zur Moderne. Damit gibt es bei Kierkegaard keinen normativen Gehalt, der ohne weiteres philoso­ phisch übertragbar oder verallgemeinerbar wäre704, da das Normative letztlich daran gebunden ist, ›dass Gott Mensch geworden‹ ist und aus diesem Kontext gelöst seine rechtfertigende Kraft verliert.705 Auch »das tiefe Humane« (FZ 271) bei Kierkegaard ist theologisch gedacht und keine Chiffre für das philosophisch Normative, die man über den Text hinaus für dessen Auslegung öffnen könnte. Das wäre philosophisch wünschenswert, aber so ist der Text nicht konzipiert. Ein philosophischer, normativ gehaltvoller Begriff des Humanen wäre rein philosophisch zu zeigen, ohne eine theologische Anthropo­ logie im Hintergrund.706 Folglich gilt auch ein christlich fundiertes universalistisch-humanistisches Selbstverständnis nur innerhalb und aus Sicht des Paradigmas universal, universal gesehen gilt sein nor­ mativer Anspruch aber nur paradigmenrelativ, sein Universalismus ist partikularistisch.707 Wie bereits erläutert ist das christlich-Religiöse bei Kierkegaard auch nicht theologisch verallgemeinerbar. Das Normative gilt nicht für jede Religion, sondern genau für eine. Das Zentrum ist per Defini­ tion das einzige.708 Es ist das einzige, weil es die Wahrheit im Singular für sich beansprucht. Sollte sich eine andere Religion als die wahre erweisen, was innerhalb des Paradigmas unvorstellbar erscheint, so gilt es neu zu denken. Es gibt auch keinen wie auch immer gedachten Kulturbegriff, humanistisch oder ethnologisch, der bei Kierkegaard noch einmal oberhalb des Theologischen zu verorten wäre. Der Autor

704 Birkenstock schlägt vor, Prämissen aufzudecken, aber den Ausblick nicht vor­ schnell zu verstellen. Die Arbeit teilt an dieser Stelle nicht ihren Begriff des »Metho­ denproblems« (Birkenstock (1997) 18). Die Prämissen sind grundlegend. 705 Auch die Begriffe ›Wert‹ und ›Würde‹ der Interpretation von An einem Grabe durch Rasmussen (vgl. Rasmussen (2017) 213) werden so noch einmal christlich fun­ diert. 706 Das Christliche ist nur innerhalb dieses Rahmens »[...] der humanen Realitäts­ erfahrung unaufhebbar eingeschrieben [...]« (Deuser (1985) 21). [Deuser übersetzt hier frei Hannay (vgl. Hannay (1982) 334 f.).]. 707 Birkenstocks Unterscheidung zwischen dem Universalen und dem Christlichen bei Kierkegaard (vgl. Birkenstock 1997 27 f., 282 ff.) überzeugt nicht. Für Kierkegaard ist das Christliche das Universale. 708 Vgl. Derrida Struktur 423.

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wehrt sich explizit gegen das Christliche im soziokulturellen »Sinne« (KT 85). Dies ist Gestalt der Verzweiflung.709 Der Begriff des Paradigmas wirkt vielleicht unangemessen, da er als Schlüsselbegriff der Wissenschaftstheorie Thomas S. Kuhns dem philosophischen Leser suggeriert, dass die Soziologie nun Erste Phi­ losophie werde. 710 Ein alternativer Begriff wäre Derridas Begriff des Zentrums, oder auch der Verweis auf theologisch-anthropologische Voraussetzungen.711 In gewisser Hinsicht ist das sicher ein Bruch mit dem Denken Kierkegaards, ein Blick von außen auf sein Denken, aber es scheint ein Blick zu sein, der der Sache nach gerechtfertigt ist, und ohne den wir Kierkegaard in der Philosophie nicht mehr verstehen können und er uns, wie in der Lesart Camus’, in das Irrationale ent­ gleitet. Im Horizont des Denkens der vergangenen 150 Jahre nach Kierkegaard ist unser Blick ein anderer. Die Gleichzeitigkeit, in der Kierkegaard sich selbst mit dem Paradox des Christlichen sah (vgl. PB 123 ff.), können wir712 nicht mehr sinnvoll behaupten. Sein Zentrum ist relativiert worden. Daher, so die These, gilt unser philosophisches Interesse in erster Linie den Strukturen und Figuren Kierkegaards jenseits ihres paradigmenrelativen normativen Gehalts. Albert Camus vertritt im Gegensatz zur Christen-HeidenDichotomie Kierkegaards einen explizit pluralistischen Religionsbe­ griff, nach dem eine Vielzahl von »Religionen [und] Propheten« (MS 71) prinzipiell gleichwertig sind. Sie alle sind Aufforderung zum Sprung in das Falsche, zur, nach Camus, falschen Konsequenz aus 709 Söderquist verortet die Differenz zwischen Kierkegaard und den übrigen Exis­ tenzphilosphen in dem göttlichen Anderen, schlägt jedoch mit Pattison (1997) die Interpretation des ›vor Gott‹ als regulatives Prinzip vor (vgl. Söderquist (2015) 92). Diese »nicht-ontologische Lesart« (Pattison (1997) 71), die Aufgabe einer faktischen und metaphysischen Basis, wird an dieser Stelle jedoch der Position Kierkegaards nicht gerecht. 710 Vgl. Kuhn (1997) 188 ff.). Es scheint, dass Kuhn gegen die These einer Soziologie als erster Philosophie kein Gegenargument hat, und letztlich selbst nicht Wissen­ schaftsphilosophie, sondern Wissenschaftswissenschaft betreibt. 711 Hühn nutzt folgende Formulierungen, um den Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses bei Kierkegaard mit Verweis auf das christliche Zentrum seines Denkens zurückzuweisen: nicht wertneutral, eingebettet, Bezugssystem, Paradigma, Grund­ lage, Bezugsfeld, kontextuell, Hintergrund, Theoriekontext, Vorzeichen vor der Klam­ mer, im Vorfeld, evaluativ, vorgängig, immer schon, Maßstab, nicht in Frage gestellt, Bezugsgröße, von Vornherein, Index, Warte, strukturell, grundlegend (vgl. Hühn (2009) 222 ff.). 712 Nach Trawny sind wir nicht mehr das ›wir‹ Hegels oder Schellings (vgl. Trawny (2002) 29).

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der Entdeckung des Absurden (vgl. MS 71). Camus deutet Religion als ein anthropologisches Phänomen der Sehnsucht des Menschen nach Einheit und Sinn, und des verkehrten Umgangs mit diesem (vgl. MS 179). Religion bietet die passende Antwort, aber die falsche. Im Streben nach der religiösen Antwort verortet Camus, wie im Streben nach einem metaphysischen System, ein Zeugnis für das Sinnverlan­ gen des Menschen als eine konstitutive Seite des Absurden. Religion begeht den Fehler, dass sie das Absurde einseitig verabsolutiert und das ursprünglich innerweltliche Absurde zu Gott macht (vgl. MS 54). Weder Religiosität allgemein noch das Christentum im Besonderen sind für Camus eine gangbare Option, sondern in den Bereich des irrealen Konjunktiv gefallen. Gott wäre die Lösung des absurden Verhältnisses von Mensch und Welt, ist sie aber nicht. Camus würde sofort für Gott entscheiden, wenn dies eine Option wäre: »Die Wahl wäre nicht schwer. Aber es gibt keine Wahl« (MS 90). Gegen die Wahrheit der Menschwerdung Gottes bei Kierkegaard stellt Camus die These, es gebe »Wahrheiten, aber keine Wahrheit« (MS 30). Die Konsequenz aus Diagnose und Anerkennung eines Pluralismus von Wahrheiten ist auf einer Reflexionsebene darüber, dass daraus folgt, dass es keine Wahrheit gibt. Camus denkt an diesem Punkt einen Schritt weiter, und zwar gemäß folgender Figur: »Man gibt ihm zur Antwort, nichts sei gewiss. Aber das ist immer­ hin eine Gewissheit« (MS 72). Die hier formulierte Gewissheit der Ungewissheit bildet die argumentative Grundfigur Camus’ ab. ›Es gibt viele Wahrheiten‹713 bedeutet, dass es keine Wahrheit gibt, aber ›dass es keine Wahrheit gibt‹ ist dann, eine weitere Reflexionsebene höher714, die Wahrheit im Singular. Die These dieser Arbeit ist, dass diese Position nur scheinbar paradox, jedoch widerspruchsfrei formulierbar ist, wenn man die Reflexionsebenen differenziert. Aus ›viele‹ folgt ›keine‹, aus ›keine‹ folgt ›eine‹. Die Figur der Gewissheit der Ungewissheit entspricht dabei der oben bereits verwendeten Figur der Definitionslosigkeit des Menschen als seine Definition. Auf der höchsten Ebene arbeitet Camus mit dem klassisch-metaphysischen Begriff ›der Wahrheit‹ im Singular, der gemäß diesem Gedanken­ gangs nicht hintergehbar ist. Die »Ausgangsbehauptung« (MS 59) ist, dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur Wahrheiten (vgl. MS 59). 714 Die Arbeit teilt hier nicht diese These Hüschs, Camus habe keine »höhere« (Hüsch (2014b) 62) Perspektive.

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Camus steht dabei dem Metaphysikbegriff zunächst kritisch gegenüber. Er diagnostiziert die Geschichte der Metaphysik als zunehmende Einsicht in ihr Scheitern (vgl. MS 30) und stellt seine eigene Position der Einsicht in das Absurde als dessen Konsequenz provisorisch an das Ende dieser Geschichte. Camus lehnt jede Meta­ physik, die Trost bietet – als eine solche interpretiert er Husserls Phänomenologie (vgl. MS 63) – oder fruchtbar zu sein scheint, radikal ab (vgl. MS 177). Es gibt keine »Wertskala« (MS 80), die uns den »Sinn des Lebens« (MS 80) entdecken lässt. Wissen ist rein negativ: Es ist das Wissen darum, dass alle angeblichen Sinnhorizonte Illusion sind (vgl. MS 119), es ist das Wissen um das Absurde. ›Bitter‹ und ›privilegiert‹ (vgl. MS 40), ›wahr‹ und ›negativ‹ fallen zusammen, ›wahr‹ und ›sinnvoll‹ fallen dafür auseinander. Das ist der Preis der Wahrheit des Negativen. Camus benutzt den Metaphysikbegriff an drei Stellen im Text affirmativ für seine eigene Konzeption (vgl. MS 45, 56, 74). Das Absurde selbst ist rein negative erste metaphysische Wahrheit. ›Dass das Verhältnis von Mensch und Welt absurd ist‹ ist die Wahrheit im Singular. Die Pointe715 Camus’ ist diese Affirmation des Metaphysikbegriffs für die eigene metaphysik-kritische oder postmetaphysische Position. Diese ist, an diesem Punkt, immer noch metaphysisch. Die implizite These Camus’ ist, dass die Metaphysik in diesem Punkt unhintergehbar ist, weil das Fragen des Menschen in einem ganz basalen Sinn unhintergehbar ist. Der Mensch fragt »Warum[?]« (MS 23), er verlangt in seinem »tiefsten Innern« (MS 33) nach Klarheit, und er bleibt in dieser Fragehaltung, auch wenn seine Fragen unbeantwortet bleiben. ›Dass es keine Antwort gibt‹, ist dann die Antwort, und das fortwährende Fragen konstituiert das Absurde. Camus’ normativer Maßstab ist damit das Fehlen des Maßstabs.716 Die Bodenlosigkeit, das Fehlen jener Tiefenschicht, die bei Kierkegaard das christlich-Religiöse ist, wird so selbst zur tiefsten Schicht der Konzeption.717 Das nicht überwindbare Negative des Diesen Begriff benutzt Thurnherr (2004) 267. Wenn Theunissen sagt, Adorno sei zu einem Übergang in die Metaphysik genö­ tigt, weil die negativistische Geschichtsphilosophie keinen sicheren Maßstab auswei­ sen könne (vgl. Theunissen (1983) 57 f.), so stellt sich die Frage, ob nicht die von Camus aufgezeigte Begründungsfigur eine Alternative zu dem sein könnte, was Theu­ nissen in diesem Kontext den vulgären Nihilismus nennt (vgl. Theunissen (1983) 59 f.). 717 Esslin nennt das Absurde komparativ eine »tiefere Schicht« (Esslin (2001) 401), Hengelbrock identifiziert es als »fundamental« (Hengelbrock (1984) 50). 715

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Absurden ist der eine Punkt, an dem (sich) der Mensch »festhalten« (45) kann. Dass es keinen festen Halt gibt, soll Halt geben. Das Absurde selbst718 wird damit Grund von Existenz, tritt struk­ turell an die Stelle des Anderen719 bei Kierkegaard (vgl. KT 32).720 Auf den ersten Blick rückt dies Camus wieder ganz nah an Kierkegaard, die Konzeptionen eines absurden Anderen als Existenzgrund sind im Wortlaut gleich. Jedoch ist damit im jeweiligen Kontext der Konzep­ tionen etwas völlig Verschiedenes gemeint. Camus’ Negativismus hat dabei implizit den Anspruch, Kierkegaards eigenen Anspruch einer »konsequent durchgeführten Grundanschauung« (KT 42) »im Lichte der Wahrheit« (KT 67) einzulösen. Die Wahrheit ist jedoch nicht die des Christentums, sondern die des Absurden im Sinne Camus’, dessen Metaphysik »skeptisch« (MS 74) ist. Der Gedankengang rückt Camus ebenso scheinbar in die Nähe Schellings, den die Frage nach dem Grund vor dem Grund über Ver­ suche des Urgrunds und des Ungrunds zur gleichen argumentativen Figur der Prädikatlosigkeit als Prädikat führen, die nicht Nichts ist.721 Aber auch Schelling bewegt sich, wie bereits gesagt, im Gegensatz zu Camus noch innerhalb des christlichen Paradigmas, das den Grund des Grundes noch einmal einbettet. Insofern bestehen auch hier Parallelen lediglich auf der Ebene der Strukturen und Figuren. Dem Gesetzt-Sein des Einzelnen bei Kierkegaard steht damit die reine Faktizität des Daseins gegenüber. Das Andere als Gottesvor­ stellung, das das Selbst gesetzt hat, fällt. Der Mensch findet sich einfach vor, ist grundlos da. Er ist nicht Geschöpf eines Schöpfers. Die Antwort auf die Schelling’sche Frage, ob Camus damit »das Band der Kreatürlichkeit vernichtet«722 hat, lautet nur dann ›Ja‹, wenn man sich innerhalb des Paradigmas Schellings und auch Kierkegaards bewegt, das Camus aber nicht teilt. Damit lautet die Antwort Camus’: ›Nein‹. Dieses christliche Band ist immer schon Illusion gewesen. Das wahre »Band« (MS 33), Camus nutzt diesen Begriff selbst, ist das Absurde.

718 Grund von Existenz ist nicht die »menschliche Natur« (A. Pieper (1984) 138), sondern das Absurde. 719 Reichenbach sieht hier die Differenz der Konzeptionen in Gott als Grund von Existenz (vgl. Reichenbach (1976) 239), nicht jedoch die strukturelle Parallele. 720 Es ist nicht, wie Schaub meint, der Mensch, der an die Stelle Gottes tritt (vgl. Schaub (1968) 72). 721 Vgl. Schelling, Freiheitsschrift 78. 722 Schelling, Freiheitsschrift 62.

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Der christlichen Anthropologie723 der Geschöpflichkeit steht das Menschenbild des absurden Menschen gegenüber (vgl. MS 52).724 Das Absurde ist wesentlich geworden, es ist kennzeichnet die »conditio humana« (MS 54). Der theologisch-anthropologischen Konzeption Kierkegaards aus der Mitte des 19. Jahrhunderts steht damit eine skeptisch-metaphysische, philosophisch-anthropologische Konzep­ tion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gegenüber, die sich nicht ›von Grund auf‹, sondern ›grundlegend‹, unterscheidet.725 Auf der einen Seite steht ein paradoxales, aber letztlich doch immer noch zentriertes christliches Weltbild, auf der anderen Seite das dezentrierte Weltbild des Absurden.726 Auch die »absolute Absurdität«727 (MS 136, Hervorhebung JA) Camus’, er benutzt diesen Begriff explizit, unterscheidet sich in diesem Sinne von der, mit Camus gesprochen, relativen Absurdität des Ästhetikers oder des Dämonischen. Beide schlagen das wahre Angebot des Christlichen aus, sind methodisch eingesetzt, um dieses anzudeuten. Der absurde Mensch dagegen durchschaut dieses Angebot als Illusion. Im Wortlaut mag seine These der These des Ästhetikers oder des dämonisch Verzweifelten gleichen. Die paradigmatische Differenz besteht darin, dass er Recht hat, während der dämonisch Verzweifelte Recht haben will (vgl. KT 106), aber nicht hat. Mit seinem theologischen Rahmen fällt auch der Begriff der »Ewigkeit« (MS 50), der für Camus wie für Heidegger und Sartre728 keinen Sinn mehr macht. Zeitlichkeit ist radikal immanent und endlich (vgl. MS 89), Augenblick nicht das Kierkegaardsche Ewige in der Zeit, sondern im Bewusstsein des Absurden (MS 157, vgl. auch 723 Die These, Kierkegaards existentieller Individualismus sei »problemlos« (Kann / Victor (2017) 212) auf Camus übertragbar, teilt diese Arbeit nicht. 724 Löwith stellt in dieser Debatte Kierkegaards Begriff des Christentums einen Naturbegriff, den Menschen als Naturgeschöpf, gegenüber (vgl. Löwith (1979) 551) und scheint im Vertrauen auf diesen Naturbegriff die Position Camus’ nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen. 725 Die Arbeit teilt damit nicht die These Deusers, der zufolge dasjenige, das Werte und Sinn garantiere, unaufgebbar sei (vgl. Deuser (1980) 12 f.). 726 Jankes Vorwurf, Camus sei für den »Anspruch des wahrhaft Absurden« (Janke (1982) 86) bei Kierkegaard verschlossen, ist damit zu entgegnen, dass dieser für Camus nicht der Anspruch des wahrhaft Absurden ist. Ebenso ignoriert Camus in der Tat die »grounds« (Stan (2011) 80) der Position Kierkegaards, jedoch genau, weil er sie nicht teilt. 727 Zur These der Relativität des Absurden bei Camus vgl. Kann (2013) 56. 728 Vgl. Theunissen / Greve (1979) 68.

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MS 84). Ohne das Getragensein durch das Religiöse muss der Mensch das »Gewicht seines eigenen Lebens […] allein tragen« (MS 74).729 Kierkegaards Konzeption des misslingenden Lebens als Flucht lässt sich damit auf die negativistische Formel bringen, dass der von Gott gesetzte Mensch nicht sein will, wer in Wahrheit ist.730 Die Kon­ zeption Camus ist strukturgleich: Der absurde Mensch will nicht sein, wer er in Wahrheit ist. Beide beschrieben den modernen Menschen als Flucht vor sich selbst, während sie dieses Selbst in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Hintergrundannahmen fassen. Ein kurzer Exkurs zu Derrida soll diese Bewertung von zentrier­ tem Weltbild Kierkegaards und dezentriertem Weltbild Camus’ theo­ retisch einordnen. Derrida beschreibt einen Zirkel731, in dem jeder Diskurs der Dezentrierung gefangen sei: Ausgehend von den sprach­ philosophischen Überlegungen Ferdinand de Saussures, demzufolge Sprache ein reines »System von Differenzen«732 ohne »zentrales, originäres oder transzendentales Signifikat«733 sei, verfügen wir über keine Sprache jenseits der Geschichte der Metaphysik, was sogar diese Zeichentheorie selbst einschließe.734 Diese Arbeit vermutet hier, das Camus diesen Zirkel bricht und mit der Wahrheit des Absur­ den die gegenüber dem postmodernen oder poststrukturalistischen dezentrierenden Denken die noch einmal höhere735 Reflexionsebene einnimmt.736 Derrida weist als Konsequenz dieses Zirkels aus, dass Heidegger Nietzsche zum letzten Metaphysiker erklärt, und dass derselbe Vorwurf auch Heidegger selbst trifft.737 Auch die Analyse dieser Arbeit ist zu diesem Schluss gekommen, dass das Denken Camus’ in wichtiger Hinsicht immer noch metaphysisch ist. Dennoch 729 In ihrer Monografie zu Camus argumentiert A. Pieper abschließend für Jesus Christus als Maßstab und schlägt ihre Interpretation von Kierkegaards Philosophi­ schen Brosamen als eine für Camus akzeptable Gottesidee vor (vgl. A. Pieper (1984) 188 ff.). Kierkegaards Werk macht jedoch Prämissen, die Camus nicht teilt. 730 Theunissen nennt dies den existentialdialektischen Grundsatz Kierkegaards (vgl. Theunissen (1993) 18). 731 Vgl. Derrida, Struktur 425. 732 Derrida, Struktur 424. 733 Derrida, Struktur 424. 734 Vgl. Derrida, Struktur 425. 735 Für Hüsch fällt Camus hinter diese Positionen zurück (vgl. Hüsch (2014b) 69). 736 Vgl. zu dieser These Hengelbrock (1987 63 ff.). Diese Arbeit verortet die Position Camus’ noch einmal eine Ebene über der Stufe »nach Derrida« (Poole (1998) 49), auf die Poole Kierkegaard zu heben versucht. 737 Vgl. Derrida, Struktur 426.

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vertritt sie die These, dass die Pointe Camus’ des rein negativen Grundes von Existenz über Derrida, und insbesondere über dessen positive Sicht der Ethnologie als Konsequenz der Dezentrierung, hinausgeht.738 Damit ist dies ein Plädoyer für die erste, konservativere der zwei »Interpretationen«739, den Traum, »eine Wahrheit […] entziffern [zu können]»740. Es scheint doch unmöglich, hinter diese Frage zurück zu gelangen.741 Jede These vom Ende der Philosophie ist eine philosophische These. Ethnologie dagegen kann auch Ethnologie der jeweiligen Alltagswelt sein und weit hinter Kierkegaard und Camus zurückfallen. Dabei teilt diese Arbeit die These Derridas, der zufolge es not­ wendig geworden sei zu denken, »dass es kein Zentrum gibt«742 – gerade weil das Zentrum per definitionem das einzige ist743, wir jedoch eine ganze Reihe von Zentren ausmachen können, und uns dadurch eine Reflexionsebene über dem Streit um das wahre Zentrum bewegen. Dabei stellt sich die Frage, ob im Diskurs um das zentrierte und dezentrierte Weltbild, der für das Verhältnis von Kierkegaard und Camus zentral ist, vielleicht die Metaphorik des Zentrums irreführend sein könnte. Könnte es nicht viele geben, denen diese »Funktion«744 zukommt? Bedeuten viele Religionen, dass es viele Absoluta gibt und damit keins? Kann die Wahrheit zugleich Singular und Plural sein? Die Frage nach der angemessenen Interpretation des Faktums des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus ist sicher nicht im Rah­ men dieser Untersuchung endgültig zu klären. Dennoch erscheinen in diesem Kontext mindestens zwei Überlegungen wichtig: Man könnte mit Kierkegaard für die Nichtverallgemeinerbarkeit des Einzelnen argumentieren. Vielleicht ist eine Religion nicht eine von vielen und es gibt keinen allgemeinen Gattungsbegriff von Reli­ gion, genau wie es keinen allgemeinen Gattungsbegriff Mensch gibt, bzw. dieser den konkreten Menschen immer verfehlt. Ein zweiter Ausweg scheint der Weg in die Hegelsche Logik zu sein: In der berühmten Anfangspassage der Wissenschaft der Logik zeigt Hegel, Vgl. Derrida, Struktur 427 ff. Derrida, Struktur 441. 740 Derrida, Struktur 441. 741 Ohne den Horizont der Wahrheit erübrigen sich alle Diskurse (vgl. Hengelbrock (1984) 149). 742 Derrida, Struktur 424. 743 Vgl. Derrida, Struktur 423. 744 Derrida, Struktur 424. 738

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dass das Sein und das Nichts »überhaupt dasselbe«745 sind, und sie sind nicht dasselbe, denn sie sind ja das Sein und das Nichts. Etwas kann dasselbe und nicht dasselbe sein, Identität und Differenz fallen zusammen. Diese höhere Form der Logik746 ist zumindest näher erläuterungsbedürftig. Wichtig ist aber, wie erläutert, dass Kierke­ gaard und Hegel sich mit ihren Überlegungen innerhalb des Rahmens eines christlich zentrierten Weltbildes bewegen. Dass das Problem der vielen Zentren auflösbar ist, wenn man immer noch ein besonderes Zentrum in der Hinterhand hat, bestreitet diese Arbeit nicht. Sie fragt jenseits dessen und tendiert zu Camus’ Konsequenz aus dem Faktum des religiösen Pluralismus und des menschlichen Bedürfnisses nach Religion. Entweder Jesus ist am dritten Tage auferstanden, oder er ist es eben nicht. Entweder Arabisch ist die göttliche Sprache, oder es ist es eben nicht. Die Antwort scheint nicht ja und nein sein zu können, es sei den inner-paradigmatisch ja und außer-paradigmatisch nein. Ein weiterer Einwand mit Kierkegaard könnte sein, dass die Diskussion in ihrer Abstraktheit das konkrete Individuum aus dem Blick verliert. Gibt es die jeweils eigene Religion, den jeweils eigenen religiösen Rahmen des Individuums? Auch diese These scheint nicht überzeugend. Zum einen sind wir mit dem Faktum konfrontiert, dass sich Kulturräume ständig verschieben. Das Christentum hat seinen (geographischen) Ursprung nicht in Europa, sondern in Asien. Man könnte also mit dem gleichen Argument für eine Rückkehr zu den vorchristlichen europäischen Religionen argumentieren. In der heutigen globalisierten Welt scheinen die Sinnangebote der Weltreli­ gionen gleichermaßen verfügbar und prinzipiell gleichwertig zu sein. Die ökonomisch-technische Metaphorik ist hier bewusst gewählt. Dazu ist es ja gerade die Conversio, das Sich-Abwenden von dem, in das man irgendwie hineingeraten ist, und der Neubeginn, die die eigentliche Religiosität bei Kierkegaard ausmachen. Man könnte also mit dieser Figur genauso in der Christenheit für den Islam und in der islamischen Welt für das Christentum argumentieren.747 Die Problematik scheint also, selbst wenn man sie mit Kierkegaard weiterdenkt, nicht pro Kierkegaard auflösbar zu sein, es sei denn, man setzt ein Zentrum absolut, etwa die Menschwerdung Gottes. Hegel, WL 83. Dies ist die Deutung Claudia Bickmanns in einem Kölner Hauptseminar zur Wissenschaft der Logik. 747 Der Islam als Möglichkeit der religiösen Zuflucht existiert für Camus nicht (vgl. Guérin (2013) 342). 745

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Überzeugender scheint die Konsequenz Camus’, dass der Menschen aus den Paradigmen, aus den zentrierten Strukturen, herausgefallen ist und das Absurde als seinen Grund entdeckt. Damit geht die Ver­ mutung einher, dass jede funktionale Interpretation eines normativen Rahmens nicht lediglich dekonstruktiv, sondern destruktiv ist. Eine bemerkenswerte Frage ist, ob die Position Camus’, inso­ fern sie in einem gewissen Sinn metaphysisch ist, auch religiös ist. Camus wehrt sich explizit gegen die Interpretation seines Denkens als negative Theologie, welche die Anwesenheit Gottes im Modus seiner Abwesenheit748 ausweist.749 Die These »Das Absurde, der metaphy­ sische Zustand des bewussten Menschen, führt nicht zu Gott« (MS 56) ergänzt er um die Fußnote »Ich habe nicht gesagt, ›schließt Gott aus‹, was immer noch bestätigen hieße« (MS 56 Fußnote), genau um der Interpretation als Gottesverhältnis im Modus der Verkehrung entgegenzutreten.750 Gleiches gilt für seine Interpretation des letz­ ten Versuchs des Landvermessers Josef K. in Kafkas Schloss »Gott vermittels dessen zu finden, das ihn leugnet […] hinter den leeren, hässlichen Gesichtern seiner Gleichgültigkeit, seiner Ungerechtigkeit und seines Hasses« (MS 175). Negative Theologie bedeutet für Camus Sprung, es ist der letzte theoretische Fluchtweg des verzweifelten Menschen, der sich das wahre Ausmaß seiner Verzweiflung als absolute Absurdität nicht eingestehen will. Die negativ-theologische paradoxale »Vermessung einer flächenlosen Göttlichkeit« (MS 177) ist selbstverleugnend. Auch die Deutung Kierkegaards, im Trotz das höchste Gottesver­ hältnis zu verorten, lässt sich nicht einfach auf Camus anwenden, da sie innerhalb eines Horizonts formuliert ist, außerhalb dessen Camus sich bewegt. Dieser bejaht die Frage, ob man ganz aus dem paradigma­ tischen Rahmen herausfallen kann. Der entsprechende Einwand der am achten Tropos der pyrrhonischen Skepsis ausgerichteten Dialektik Vgl. Theunissen (1991a) 40. Negative Theologie meint hier mit Deuser die reale Erfahrung des Gegenteils des Theologischen (vgl. Deuser (1980) 13). 750 An diesem Punkt dreht sich jede Interpretation Camus’ mittels eines »Struktur­ modells einer Wiederkehr des Verdrängten« (Hühn (2009) 236), das in Camus’ Bruch mit der ontotheologischen Tradition ihre Affirmation sieht, im Kreis, und ist, nach Camus, selbst rechtfertigungsbedürftig. Die Stärke dieses Modells ist seine Bewäh­ rung in seiner Diskreditierung, die offene Frage sein philosophischer Wahrheitsgehalt (vgl. Hühn (2009) 240, 242). Das Modell setzt voraus, dass man immer schon Annahmen teilt, die für es selbst »gar nicht mehr zur Disposition [stehen]« (Hühn (2009) 241). 748

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Hegels gegen Camus würde lauten, dass Camus’ atheistische Konzep­ tion ohne das Theistische, das sie verneint, leer wäre, und somit einseitig sei. Dagegen bewegt sich dieser Vorwurf selbst wiederum jedoch innerhalb eines christlichen Horizonts, dem Camus wiederum einseitige Verabsolutierung vorwirft. Camus selbst schreibt, mit dem Aufdecken der Unmöglichkeit der Einheit habe »das Denken seine letzte Grenze erreicht« (MS 18). Die hier diskutierte Problematik scheint sich in der Tat an der Grenze des Denkens zu bewegen und diese auszuloten. Camus hält an einer metaphysischen Frage nach dem Sinn des Lebens fest und daran, wohin ihn diese Frage führt. Vielleicht ist es gerade das, was Religio­ sität auf der Höhe der Zeit im 20. und 21. Jahrhundert bedeutet751, die die Kierkegaardsche christliche Gleichzeitigkeit verloren hat. Es ist das Denken, das aus Metaphysik und Religion geworden ist752 und vielleicht das metaphysisch-religiöse Denken unserer Zeit. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Position Camus’, die letztlich ihre eigene »Evidenz« (MS 67) und Konsequenz behauptet, Prämissen macht, die nicht unproblematisch sind. Die vielleicht bedeutendste Voraussetzung Camus’ ist, dass die Wahrheit ein Wert ist, der auch den Übergang von ihrer Einsicht in die normative Dimen­ sion eines Sollens als sich zu dieser Wahrheit Verhalten garantiert (vgl. MS 45). Der Wert der Wahrheit wird von Camus an keiner Stelle benannt, problematisiert oder gerechtfertigt. Er ist in der These, dass es keine Werteskala gebe (vgl. MS 80), im Hintergrund immer schon vorausgesetzt. Für Camus ist der Wert der Wahrheit in der Tat evident und nicht rechtfertigungsbedürftig.753 Der Frage nach dem Wert der Wahrheit würde Camus vielleicht entgegnen, dass diese Frage selbst nach Wahrheit fragt und somit auch der Zweifel am Wert der Wahr­ heit diesen performativ immer schon voraussetzt. Ähnliches lässt sich Die Arbeit schließt sich hier Esslin an, dem zufolge die Suche nach dem Umgang mit dem Tod Gottes paradoxerweise die echte religiöse Suche unserer Zeit ist (vgl. Esslin (2001) 399). So verstanden teilt die Arbeit dann auch die These Ricœurs, der zufolge Religion der Ort des philosophischen Diskurses ist (vgl. Ricœur (1979) 594). Richter schreibt, am äußersten Endpunkt der Säkularisierung wirke Camus religiös (vgl. Richter (1959) 138 f.). 752 Die Deutung W. Schulz’, die Existenzphilosophie sei die säkularisierte Form der christlichen Metaphysik (vgl. W. Schulz (1975b) 331), überzeugt hingegen nicht ohne Weiteres. 753 Für die Interpretation der Position Camus’ als eine Überwindung des Nihilismus innerhalb des Nihilismus (vgl. Golomb (1995) 172) ist es wichtig zu beachten, dass der Wert der Wahrheit von Camus vorausgesetzt wird. 751

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über eine ganze Reihe klassischer Tugenden bei Camus sagen.754 Eng verknüpft mit dem Wert der Wahrheit ist auch der Begriff des Wissens positiv besetzt. Camus fragt in einer Doppelstruktur nach dem wahren Wissen, und will von dort aus wissen, ob er allein mit diesem Wissen leben kann (vgl. MS 56). Wissen ist dabei zum einen Gegenbegriff zu Illusion (vgl. MS 99), Maske (vgl. MS 119) und Kulisse, zum anderen aber auch Wissen um die Grenzen des Wissens. Letztlich führt der Weg zur Freiheit für Camus über das Wissen (vgl. MS 116). Es ist für Camus dabei immer schon vorausgesetzt, dass Wissen in einem nor­ mativen Sinn besser ist als Täuschung und Illusion, auch wenn Letz­ tere das angenehmere Leben versprechen sollten. Eng damit ver­ knüpft sind »Aufrichtigkeit« (MS 33) und »Mut« (MS 89), Charaktertugenden, von denen Camus implizit ausgeht, dass sie nor­ mativ besser sind sind als ihr jeweiliges Gegenteil. Die Reihe wird ergänzt durch das »Maß« (MS 56, 128, 149). Camus verweist hier wiederholt auf das menschliche Maß, mit dem es sich zufrieden zu geben gilt, das es nicht zu übersteigen gilt, und rechtfertigt damit explizit eine in Bezug auf das Absurde asketische Haltung (vgl. MS 149). Die Dimension der Gerechtigkeit ist wegen der Thematik des Mythos des Sisyphos ein wenig unterbelichtet, kommt lediglich im Kapitel zur Eroberung von ihrem extremen Verletztwerden her in den Blick (vgl. MS 111 f.). In seiner Entdeckung des Absurden als Grund verwendet Camus Descartes’ Terminologie der Vernunfterkenntnis des »klarer und deutlicher« (MS 33).755 Letztlich steht Camus in die­ ser Tradition, er vertraut auf die denkende Erkenntnis, auf die Ver­ nunft, die für ihn wirksam, aber begrenzt ist (vgl. MS 51). Sie führt bis zum Absurden, aber nicht aus diesem heraus oder über dieses hinaus.756 Aus dieser Liste der Tugenden sticht bei Kierkegaard in erster Linie der Mut heraus, als »Mut des Glaubens« (FZ 261) einer der Schlüsselbegriffe von Furcht und Zittern. Dieselbe Figur des Mutes, die Doppelbewegung zu vollziehen, findet sich aber auch in der Krankheit zum Tode (vgl. KT 100). Es erfordert Mut, es jenseits der Menge zu wagen, Geist zu sein (vgl. KT 67), so dass diese Tugend durchweg positiv besetzt ist. Man könnte dagegen meinen, dem Begriff des Zur Entgegnung des Vorwurfs eines naturalistischen Fehlschlusses bei Camus vgl. Sagi (2002) 72. 755 Zur Descartesrezeption Camus’ vgl. Sagi (2002) 43 f. 756 Der Wert Camus’ ist damit nicht das Leben (vgl. dazu etwa Whistler (2018) 54), sondern die Wahrheit des Absurden, für die das Leben wiederum konstitutiv ist.

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Wissens stehe bei Kierkegaard der Begriff des Glaubens entgegen, aber dies gilt nur oberflächlich, maximal für die Ebene der Akteure. In der Konzeption Kierkegaards gibt es keinen Widerspruch zwischen dem Christlichen und dem wahren Wissen, das Christliche ist genau dieses (vgl. KT 28). Der Wert der Wahrheit ist auch bei Kierkegaard immer als evident vorausgesetzt (vgl. dazu KT 67). Darüber hinaus benennt Kierkegaard explizit das Ziel zu »wissen« (ÜW 11), was das Christentum ist, fordert keinen blinden Glauben. Jeder Mensch sollte um die Problematik gelingenden Lebens wissen. Kierkegaards Maßstab der Verzweiflungsanalyse ist also das Gesetzt-Sein des Einzelnen in einem für die Konzeption paradigma­ tischen theologischen Horizont eines immer noch christlich-zentrier­ ten Weltbildes. Camus teilt diesen Horizont nicht, sondern zeigt dagegen, wie im modernen, dezentrierten Weltbild das Absurde selbst Maßstab und Grund von Existenz wird.757 Camus’ eigener Einwand der möglichen Perspektivität seiner Untersuchung gegenüber dem »östlichen Denken« (MS 84 Fußnote) ist dabei entweder inkohärent, oder er zeigt weitere implizite Prämis­ sen der Konzeption auf, die möglicherweise seine Gesamtkonzeption des Absurden doch relativieren und einen gelassenen Umgang mit der Welt denkbar werden lassen. Bei Kierkegaard räumt der Ästhetiker A mit der Brillenmetaphorik zumindest die Interpretierbarkeit als Perspektivität der eigenen Position ein (vgl. EO 33). Die Perspektive des Ästhetikers ist aber im Kontext des Gesamtwerks Kierkegaards immer perspektivisch, relativ absurd als zu überwindendes Stadium in einem umfassenden christlichen Kontext. Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Die fundamentale Differenz der Konzeptionen Kierkegaards und Camus liegt in dem jeweiligen Maß­ stab der Diagnose und der Deutung der Phänomene. Beide richten ihren Blick auf das Individuum. Bei Kierkegaard ist dieses jedoch immer als Geschöpf, als von Gott gesetzt gedacht. Die ganze Konzep­ tion wird noch einmal von einer christlich-religiösen Tiefenschicht getragen, die Maßstab und Menschenbild letztlich doch impliziert. Sowohl der Begriff der Verzweiflung als auch der Begriff des Humanen sind damit relativ zu diesem paradigmatischen Rahmen. Als Konse­ Vielleicht passt die von Heidegger für das Verhältnis von Kierkegaard zu Nietzsche verwendete Differenz von Hinsicht und Grund auch auf das Verhältnis Kierkegaards zu Camus: In vielerlei Hinsicht ist ihre Engführung berechtigt, »im Grunde« (vgl. Heidegger, Schellingvorlesung 1936 43, Hervorhebung JA) ist sie es aber nicht. 757

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quenz von Pluralismus der Perspektiven und Dezentrierung des Welt­ bilds tritt bei Camus genau die Einsicht in das Fehlen dieser Tiefen­ schicht an die Stelle dieser Tiefenschicht. Die Maßstablosigkeit selbst wird Maßstab, der Einzelne wesenhaft undefinierbar, sein Dasein reine Faktizität. Die Konzeptionen sind somit lediglich strukturell758 vergleichbar.759 Der Sache nach beschreibt Kierkegaard eine immer noch relative Dissonanz, Camus hingegen eine absolute Absurdität.

2 Die aufklärende Funktion des Todes Das nun folgende zweite der fünf Unterkapitel des Vergleichskapi­ tels erörtert ausgehend von der vorangegangenen Beschreibung des misslingenden Lebens das Verhältnis zur Möglichkeit des eigenen Todes als Schlüssel zur Idee gelingenden Lebens bei Camus und Kierkegaard.760 Es bildet also das Übergangskapitel von der Diagnose des Misslingens zur Idee eines Gelingens. Dazu soll kurz auf die Allgegenwart des Todes in den Werken beider Denker eingegangen werden, darauf die zentrale Kierkegaardsche Figur des vom-Tod-herLebens761 bei Camus aufgewiesen werden.762 Die erste Gestalt des Todes in Camus’ Hauptwerk ist der Selbst­ mord. Der Begriff findet sich im ersten Satz, und wird als »einzig wirklich ernstes philosophisches Problem« (MS 11) benannt. Camus formuliert auf diesem Wege radikal die Frage nach dem Sinn des Lebens als Frage nach der Folgerichtigkeit des Selbstmords angesichts der absurden Grundstruktur der Existenz. Er fragt, ob der Selbstmord in einem normativen Sinne geboten ist (vgl. MS 17). In seiner Dostojewski-Interpretation bringt Camus seine eigene Frage nach einer »Logik bis zum Tode« (MS 17) auf den Begriff des »logischen Vgl. dazu auch Abel (2019) 11 ff. Richter zieht bemerkenswerte Parallelen der wie sie sagt ›Funktion‹ des Denkens Kierkegaards für das Christliche und des Denkens Camus’ »in der Ebene [...] der letzten Gottlosigkeit« (Richter (1959) 139), ohne jedoch, wie hier vorgeschlagen wird, die gesamten Theoriestrukturen von Grund auf zu vergleichen. 760 Die Gegenwart des Todes im Leben ist »das Thema« (Theunissen (1991b) 197, Hervorhebung MT) in der modernen Philosophie. 761 Vgl. Theunissen (1991d) 348. 762 Die Gegenposition zum Tod bei Kierkegaard und Camus im Zeitalter nach der metaphysischen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ist der naturalisierte und entindividualisierte natürliche Tod als biologisch verursachtes friedliches Ableben einschließlich des fraglosen Wertes des Lebens (vgl. W. Schulz (1975b) 313 ff.). 758

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Selbstmords« (MS 136). Damit radikalisiert Camus die Frage von Kierkegaards Ästhetiker A, ob ihm zum Selbstmord lediglich der Mut fehle (vgl. EO 48), welcher also ebenfalls die Frage nach dem Selbst­ mord als gebotenem »Ausweg« (EO 48) aus dem Leben stellt, das primär Leiden ist. Der Ästhetiker selbst verortet in der Möglichkeit des Selbstmords die Freiheit als extremes Nein zu einem Leben, in das er lediglich hineingeraten ist und dessen Herr er nicht ist (vgl. EO 41). In der Krankheit zum Tode zeigt Kierkegaard die Selbstmordgefahr des Verschlossenen auf (vgl. KT 98) und bringt damit die Verzweiflung als Verschlossenheit in die Nähe des Ästhetischen. Beide Positionen sind in diesem Punkt mit derselben Frage konfrontiert. Darüber hinaus nutzt Kierkegaard das Beispiel des Selbstmords, um zwischen Christen und Heiden zu differenzieren. Der »Selbstmord« (KT 72, Hervorhebung SK) enthält den christlich gedachten Begriff des Ein­ zelnen als Selbstverhältnis und ist damit paradigmatisches Beispiel des Sich-zu-sich-Verhaltens. Das Heidentum kann den Selbstmord nur über den »langen Umweg« (KT 72) der intersubjektiven Moral zurückweisen, die es demnach auch kennt, die aber nicht den Kern des hier Christlichen ausmacht. Für Kierkegaard wird der Selbstbegriff als »Aufruhr gegen Gott« (KT 72) geradezu zum Inbegriff misslingenden Lebens. »Die Pointe im Selbstmord [ist], dass er Verbrechen gegen Gott ist« (MS 72). Man könnte sagen, dass der Selbstmord diesen Status bei Camus behält, der ihn als »philosophischen Selbstmord« (MS 57) zum Oberbegriff oder Typbegriff philosophischer Konzeptio­ nen macht, die aus der Entdeckung des Absurden die nach Camus falschen Konsequenzen eines Übergangs als Sprung in den Glauben ziehen. Dazu geht auch Camus davon aus, dass er die Frage nach dem Selbstmord als normative Folgerung aus dem Absurden mit Nein beantworten kann (vgl. MS 73). Zuletzt zeigt Camus am, wie er ihn nennt, »pädagogischen Selbstmord« (MS 141) von Dostojewskis Romanheld Kirilow die Unmöglichkeit der direkten Mitteilung, sei es der Freiheit oder des Gesollten. In Kierkegaards Furcht und Zittern ist der mögliche Tod Isaaks das zentrale Beispiel des Werks, das ethisch als Mord, religiös als Opfer zu bewerten ist (vgl. FZ 205) und anhand dessen Johannes de Silentio die paradoxalen Thesen, dass der Einzelne höher als das All­ gemeine und das Ethisch-Religiöse höher als das Ethisch-Allgemeine sei, erläutert (vgl. FZ 252 f.). Die beiden Schlüsselbegriffe, Mord und Opfer, sind in Camus’ Mythos des Sisyphos nur am Rande von Bedeu­ tung. Der Begriff des »aussichtslosen Opfers« (MS 114) wird an genau

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einer Stelle normativ gebraucht, darüber hinaus eher metaphorisch (vgl. MS 33). Der Begriff des Mordes wird in der Nachbetrachtung der ideologischen Rechtfertigung der Massenmorde 1953 zum Schlüssel­ begriff von Camus’ zweiten Hauptwerk Der Mensch in der Revolte (vgl. MR 13). Im Werk von 1942 wird diese Bedeutung ein Mal angedeutet: Der »namenlose Grube« (MS 117) zeigt die Gegenwart des Todes als das Massensterben im geschichtlichen Kontext des Werks. Kierkegaards Krankheit zum Tode enthält den Begriff ›Tod‹ bereits im Titel. Die Verzweiflung ist die Krankheit zum Tode (vgl. KT 31). Der Todesbegriff kennzeichnet die unbewusste Verzweiflung. Das Selbst des Deterministen ist »erstickt« (KT 64), er lebt also geistig tot, lebendig tot, ist tot, ohne zu wissen, dass er tot ist. Gleiches gilt für das »Ausgestorbensein« (KT 70) des Alltagsmenschen als ein »bloß negatives Leben« (KT 70), das nur noch ein Dahinvegetieren ist. Camus benutzt hingegen nicht das Bild des lebenden Toten, sondern lediglich die Metapher der Mechanik (vgl. MS 23) als Gegenbegriff zum eigentlichen Leben. Kierkegaard benutzt darüber hinaus das Bild auch für das Leiden als bewusste Verzweiflung, die als »zu sterben und doch nicht zu sterben« (KT 37) erlebt wird. In der Verzweiflung stirbt man im Leben, Leben ist Sterben des Todes geworden. Letztere Formulierung findet sich auch in der Selbstbeschreibung des Ästheti­ kers in Entweder-Oder (vgl. EO 48). Der Tod ist das »Los aller« (KT 34) und »niemand kehrt von den Toten zurück« (EO 35). Der Ästhetiker A betont die endgültige Seite des Todes, der nichts verspricht und das Leben leer und sinnlos erscheinen lässt (vgl. EO 39). Diese Diagnose ist auch Ausgang von Camus’ Überlegungen. Die durch den Tod erschlossene »elementare und endgültige Seite« (MS 26) des Lebens erschließt zunächst das Absurde. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Camus von dort aus weder dem Ästhetiker folgt, den seine Einsicht in die Handlungsun­ fähigkeit treibt (vgl. EO 30), noch dem Vorwort der Anti-Climacus Schrift, der zufolge der Tod »nur eine kleine Begebenheit innerhalb eines allumfassenden ewigen Lebens« (KT 28) sei. Vielmehr zeichnet er die Figur der Doppelbewegung in Kierkegaards Am Grabe nach, ohne sich jedoch explizit auf diese Vorlage zu berufen. Gegen den Ästhetiker A vertritt Kierkegaard in der nicht-pseud­ onymen Rede An einem Grabe die These, dass der Gedanke an den Tod genau nicht Ursache der Schwermut (vgl. AG 187), sondern sozusagen Motor oder Motiv – das Bewegende – des Lebens ist. Der Tod wird bestimmt als nicht bestimmbar (vgl. AG 188), als entscheidend (vgl.

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AG 180) und unerklärlich (vgl. AG 199). Der Tod ist nichts, aber nicht in einem trivialen Sinn »alles und gar nichts« (AG 200). Der Tod ist keine Begebenheit unter anderen in der Welt (vgl. AG 202), »in diesem Sinne nichts Wirkliches« (AG 177). Auch Camus schließt sich dieser in gewissem Sinne paradoxen Bestimmung an. Der Tod ist nicht Gegenstand menschlicher Erfahrung (vgl. MS 25), wir haben also kein Erfahrungs-, empirisches oder wissenschaftliches Wissen vom Tod. Camus bestimmt den Tod zweimal negativ, gegen die Begriffe ›Wille‹ und ›Hoffnung‹: Er ist das Gegenteil des »Willen des Menschen« (MS 83 Hervorhebung AC) und das Gegenteil von Hoffnung (vgl. MS 55). Der Tod ist die »offensichtlichste Absurdität« (MS 78).763 Dem Tod kommt also Camus’ metaphysische Schlüsselbestimmung zu. Das Phänomen, um das es Kierkegaard geht, ist nicht einfach abstrakt das Los der Menschheit (vgl. AG 176). Der Tod ist nicht der Todesfall eines Menschen (vgl. AG 177, auch: AG 195), oder, wie es bei Camus heißt, der Tod der anderen (vgl. MS 25), sondern der Tod betrifft den Einzelnen in der ersten Person Singular. Was wir über den Tod sagen können, ist, dass er gewiss ist. Diese Gewissheit zeichnet ihn aus. Er ist bei Kierkegaard »das einzig Sichere« (AG 177), bei Camus ›gewiss‹ (vgl. MS 29) und in diesem Sinne »die einzige Realität« (MS 76). Der Tod ist also im Sinne des Erfahrungswissens nicht real, aber für den existierenden Menschen real764 in einem ausgezeichneten Sinne. Kierkegaard präzisiert die Gewissheit des Todes als eine Doppelstruktur von Gewissheit und Ungewissheit, der Gewissheit des ›dass‹ bei gleichzeitiger Ungewiss­ heit des ›wann‹ (vgl. AG 194).765 Es ist genau das Leben mit dieser Doppelstruktur, was das Leben ausmacht.766 Sowohl die Rede An einem Grabe als auch der Mythos des Sisyphos fassen der Tod als radikalen Abbruch (vgl. AG 182), als »Ende von alledem« (MS 117). Im Tod hört alles auf (vgl. AG 178), »ist das Spiel aus« (MS 76). Er ist unausweichlich und in diesem Sinne verhängnisvoll (vgl. MS 151). Wegen dieser fundamentalen Bedeutung führt ein verkehrtes Verhältnis zum Tod zu einem verkehrten Verhältnis zum Leben. Vgl. dazu Richter (1959) 140. Gegenüber der These W. Schulz’, der Tod sei nur als Erfahrung des Sterbens der anderen real (vgl. W. Schulz (1975b) 332), betont Theunissen an dieser Stelle gerade den Begriff des Realen (vgl. Theunissen (1991b) 224). 765 Die Arbeit nennt hier ›Doppelstruktur‹ was Theunissen als die zwei Seiten des Todesverstehens bezeichnet (vgl. Theunissen (1982) 145. 766 Vgl. dazu Heidegger, SuZ 258. 763

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Kierkegaard kritisiert etwa die Metapher von Nacht und Schlaf als eine Verharmlosung des Todes. Der Tod als imaginierter Ort der Ruhe, als Flucht vor dem Leben mit all seinen weltlichen Problemen ist das Missverstehen des Todes und ein verkehrtes Verhältnis zu ihm (vgl. AG 183). Camus kritisiert in diesem Punkt die Friedhöfe, welche »lächeln unter lauter Blumen und Vögeln« (MS 117), als eine Verharmlosung des Todes. Das in diesem Sinne schöne Grab suggeriert »Ewigkeit« (MS 117) und »Illusion« (MS 117).767 Kierkegaard expliziert gegen dieses Missverhältnis zur Doppel­ struktur des Todes dessen Rolle als »Lehrmeister des Ernstes […] im Leben« (AG 178) – also hier und jetzt. Der Genitiv lässt hier zwei Interpretationsmöglichkeiten offen: Der Ernst – dieser Schlüsselbe­ griff Kierkegaards findet sich bei Camus bereits in der ersten Zeile (vgl. MS 11) – einmal als Gehalt, und einmal als Auftraggeber des Lehrers. Für die Gegenwart des Todes im Leben nutzt der Text für den Tod nun selbst die Metapher der Nacht, welche am Tage wirke (vgl. AG 187). Der Tod bietet dem Einzelnen eine schwierige (vgl. AG 205) und »strenge Erziehung« (AG 193), die sich nach individuellen Anlagen richtet und für jeden Menschen gleichermaßen schwer ist (vgl. AG 205). Es ist ein Angebot, das jedem Menschen qua Geburt offensteht. Der Lehrer ist da, und der Schüler muss selbst den Weg zu ihm finden (vgl. AG 178, 205). Es ist ein Angebot, das ihm frei steht. Der Unterricht beginnt, »sobald jemand der Ungewissheit die Tür auftut« (AG 205), also mit Fragen, Zweifeln und dem Einbruch des Negativen in die Welt des Schülers. Dieser ›jemand‹ kann auch der Schüler selbst sein. Der Schüler kann sich der Freundschaft des Lehrers würdig erweisen (vgl. AG 205), so dass der Tod zum »treuesten Gefährten« (AG 187) des Menschen werden kann. Camus expliziert diese Lehrerrolle des Todes nicht. Am ehesten expliziert er sie in der indirekten Mitteilungsrolle des Kunstwerks (vgl. MS 150). Aufgrund der Superlative des schöpferischen Menschen als »absurdeste Gestalt« (MS 120) und dem eben zitierten Todesbegriff als »offensichtlichste Absurdität« (MS 78) ist aber der Sache nach klar, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Das Kunstwerk lehrt durch »evidente Symbole eines begrenzten, sterblichen und aufrührerischen Denkens« (MS 150) eben die Sterblichkeit des Menschen, welche

767 Pattison nennt die Flucht vor dem Tod ›paradigmatisch‹ für die Flucht vor uns selbst (vgl. Pattison (2015) 93).

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dann wiederum im Sinne Kierkegaards den Menschen unterrichtet. Es gilt nun, den Gehalt dieses Unterrichts näher zu bestimmen. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass es an dieser Stelle gar nicht viel zu sagen gibt. »Das kurze Wort: es ist möglich« (AG 198) sagt dem Menschen in gewissem Sinne bereits alles. Camus bemerkt, dass die Menschen angesichts des Todes, von Kierkegaard präzisiert als gewiss und ungewiss, leben, »als ob niemand ›wüsste‹„ (MS 25, Her­ vorhebung AC). Selbstverständlich weiß jeder Mensch in gewisser Hinsicht um seine Sterblichkeit, jedoch leben »wir mit Vorstellungen [...], die, wenn wir sie wirklich empfinden würden, unser ganzes Leben erschüttern müssten« (MS 29). Diese von Camus zunächst im Konjunktiv beschriebene Erschütterung des Lebens durch den Tod, präziser gesagt durch das Bedenken des eigenen Todes, erläutert Kier­ kegaard im Detail. Von entscheidender Bedeutung dabei ist sowohl bei Camus als auch bei Kierkegaard das Adverb »wirklich« (MS 29, AG 178). Es gibt an dieser Stelle einen Übergang vom hypothetischen Denken zum Realen. Durch das Denken des eigenen Todes als sein Los vollzieht der Einzelne die Gleichzeitigkeit mit dem Tod im Leben – »dass du bist und dass der Tod ebenfalls ist« (AG 178). Auch Camus denkt in diesem Sinne die Gegenwart des Todes im Leben: »Der Tod ist da« (MS 76), jedoch ohne hier den Vollzugscharakter des Einzelnen herauszuarbeiten. Kierkegaard betont dagegen, dass es der Einzelne ist, der denkt, »dass eine Zeit kommt da es vorüber ist« (AG 182) und sieht damit in diesem Punkt die These Epikurs der Unmöglichkeit der Gleichzeitigkeit des Menschen mit dem Tod widerlegt (vgl. AG 176). Der Tod, genauer die Gewissheit des ›dass‹ bei gleichzeitiger Ungewissheit über das ›wann‹, betrifft den Einzelnen hier und jetzt. Diese Struktur ist gegenwärtig.768 Kierkegaard beschreibt nun die zentrale Doppelbewegung769 von Verlust und Gewinn, die das Leben von der Antizipation seines Endes her gelingen lässt, die einen »neuen« (AG 178), zweiten Anfang möglich macht. Im Zuge des, wie es in der Wiederholung heißt, ›Umschiffens‹ (vgl. WH 331) des Lebens denkt der Einzelne »mit Ernst den eigenen Tod« (AG 175), denkt, »es sei vorüber, mit dem Leben sei alles verloren, um alsdann bei Lebzeiten alles zu gewinnen« (AG 178). Genau dieser Vollzug »ist ernst« (AG 178). Der Einzelne wird Zeuge seines eigenen Todes und 768 Schaubs Monografie zum Tod bei Camus rezipiert weder Kierkegaard noch Heidegger und missdeutet die Figur der Gegenwart des Todes im Leben als Phase des Sterbens (vgl. Schaub (1968) 94). 769 Vgl. dazu Theunissen (1991d) 347 f.

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findet darüber zu sich selbst (vgl. AG 178). Dabei erzieht genau die Ungewissheit »zu Ernst in Kraft der Gewissheit« (AG 197). Camus legt das Gewicht nicht auf diese Bewegungsfigur, ihm fehlt ein Begriff, der dem »Umschiffen« bei Kierkegaard oder, struk­ turanalog, dem »Vorlaufen«770 bei Heidegger entspricht, und er zitiert diese Begriffe auch nicht in seiner Auseinandersetzung mit beiden Denkern. Jedoch gibt es eine entsprechende Umschreibung an genau einer Stelle, im Empfinden des Todes durch den Schauspieler »im voraus« (MS 109). Verkörpert wird diese Figur durch Sisyphos, der von der Unterwelt, vom Tod her, kommt (vgl. MS 150 f.). Bei Camus ist es, strukturgleich zu Kierkegaard, die »Absurdität eines möglichen Todes« (MS 76) – man müsste hier präziser sagen ›seines‹ möglichen Todes – die den Alltagsmenschen »erschüttert« (MS 76). Sie ist »schwindelerregend« (MS 76), womit Camus an eine klassische Metapher der Freiheitserfahrung anknüpft (vgl. BA 512). Der absurde Mensch ist schlussendlich »ganz und gar dem Tode zugewandt« (MS 78), es ist also ein Prozess des sich dem Tode Zuwendens aus einem zuvor Sich-abgewendet-Haben heraus. Bei Kierkegaard sind in der Beschreibung dieser Bewegung noch drei Metaphern zentral. Zuerst ist es die des Aufwachens: »Der Tod in dem Ernst […] macht wach wie nichts anders« (AG 185). Der Mensch wird, man könnte mit Camus sagen, durch diese Erschütterung, wachgerüttelt. Er wird in einen neuen Stand versetzt, der den vorherigen in ein neues Licht rückt. Camus selbst verknüpft den Ruf des Gewissens bei Heidegger nicht mit der Metapher des Aufwachens, aber mit der des Wachen– Müssens (vgl. MS 37). Den Begriff des Aufwachens als Übergang vom Schlaf zum Wachsein nutzt er mehrfach im Zuge der Erschütterung durch das Absurde (vgl. MS 23), aber nicht explizit in seiner Analyse der Bedeutung des Todes. Die zweite Metapher Kierkegaards ist die der Nacht für den Tod, die auf den Tag, folglich das Leben, verweist (vgl. AG 185). Das Gegenteil des Lebens ist der Schlüssel771 zum Leben.772 Die dritte damit verbundene Metapher ist der Kraftbegriff. Die Doppelbewegung expliziert die »rückwirkende Kraft« (AG 200,

Heidegger, SuZ 262. Wer über den Tod spricht, der spricht über das Leben (vgl. Theunissen (1991b) 197. 772 Die Deutung, man müsse sich mit der Ungewissheit des Todes abfinden (vgl. Reutlinger (2014) 117), verfehlt diesen Aspekt. 770 771

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auch AG 203) des Todes im Leben.773 Über diesen Begriff als Kraft »ein Leben umzubilden« (AG 200), kommt Kierkegaard zum Begriff der Bildung als Umbildung. Bildung ist Veränderung. Camus schließt an diese Begriffe mit den Begriffen Aufklärung (vgl. MS 78) und »Prinzip einer Befreiung« (MS 79) an. Gemäß seiner Frage nach einer »Logik« (MS 18) fasst Camus diese Figur als ein aus der Gewissheit der Sterblichkeit »die letzten Schlüsse [Ziehen]« (MS 29), wiederholt diese Terminologie in Bezug auf den eben bereits zitierten Vollzug der Doppelbewegung durch den Schauspieler und präzisiert hier den letz­ ten Schluss als den »besten Schluss« (MS 103). An dieser Stelle ist es noch wichtig zu erwähnen, dass Camus in seiner Beschreibung eines leiblich affektiven »Aufbegehren des Fleisches« (MS 24) angesichts des Dahinlebens in der chronologischen Zeit (vgl. MS 24) die Kier­ kegaardsche Figur eines bewussten Vollzugs auf die un- oder außer­ bewusste Ebene appliziert. Der Tod ist also der Lehrer des Menschen, er wirkt durch dessen Denken seiner Gleichzeitigkeit mit dem Tod im Vollzug der Doppelbewegung. Der Tod, in seiner Doppelstruktur von absoluter Gewissheit und absoluter Ungewissheit, ist dabei die universale Struktur des Lebens,774 kulturell invariant und konstant, gegenüber welcher alle individuellen oder soziokulturellen »Vorstellungen« (AG 190) vom Leben gleichgültig sind. Er eröffnet die »entscheidende« (AG 189) Perspektive auf das Leben. Als Lehrmeister des Ernstes gibt er »die rechte Fahrt ins Leben und das rechte Ziel« (AG 186), also sowohl Motiv als auch Maßstab für ein gelingendes Leben.775 Damit deckt sich die Maßstabsfunktion des Todes mit der oben explizierten These der Maßstabsfunktion bei Camus, der den Tod als, wie zitiert, offensichtlichste Absurdität begreift. Kierkegaard betont nochmal die Sicherheit des Maßstabs, »des Todes Ernst trügt nicht« (AG 177), durch den es trotz oder angesichts der Sterblichkeit des Menschen genau nicht gleichgültig ist, »welches Leben es gewesen [ist]« (AG 187, vgl. dazu auch AG 196). Das ›Was‹ des Lernens, der Gehalt, ist dabei, wie Camus sagt, keine »Doktrin« (MS 150), also keine 773 Rasmussen nennt dies die Dialektik der Endgültigkeit des Todes als vierten Typ des Nihilismus bei Kierkegaard (vgl. Rasmussen (2017) 212 f.). 774 Für einen aktuellen Forschungsansatz zur Universalität des Todes vgl. Ruin (2002) 5 ff. 775 Für die Gegenthese, der Tod sei lediglich ein Maßstab neben vielen, vgl. Reutlinger (2014) 117.

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neue Ideologie.776 »Der Tod vermag gerade zu lehren […] dass es lediglich ein Sinnentrug ist« (AG 175). Er entlarvt das Bisherige als Ideologie, deckt diese auf. Jede Sicherheit, jede Geborgenheit, jeder Trost ist Illusion, ist »ein Trug« (AG 182). Das Gerede verstummt angesichts der Übermacht des Todes (vgl. AG 188). Camus schließt genau an diese ideologiekritische Funktion des Verhältnisses zum Tod an. Der Einzelne entdeckt »die Illusion, von der er lebte« (MS 77), als Illusion. Alle Illusionen machen »vor dem Tod halt« (MS 79). Genau diese Funktion liegt auch in der Metaphorik des Aufgeweckt-, des Wachgerüttelt-Werdens durch den Tod. Der Tod »macht wach« (AG 185), und der Mensch erkennt, dass das zuvor für real und wahr Gehaltene im Licht des neuen, eigentlichen Maßstabs, Täuschung gewesen ist. In diesem Prozess wird der Einzelne »abgekehrt […] von aller Geschwätzigkeit und Betriebsamkeit des Lebens« (AG 179), also genau von jenem soziokulturellen Kontext, den zuvor Kierkegaard und Camus als Verzweiflung bzw. Absurdität aufgedeckt haben, von jenem »Versteck der Menge« (AG 188), in dem der Einzelne sich sicher fühlt und sich selbst vergessen hat (vgl. AG 188), in dem er völlig aufgegangen ist. Der dabei entscheidende Aspekt ist nun: »Jeden nimmt der Tod für sich allein« (AG 188). Der Mensch ist sterblich, nicht abstrakt als Menschheit, sondern jeder Einzelne. Im Umschiffen des Lebens und der damit erreichten Gleichzeitigkeit mit dem Tod, der Gegenwart des Todes, wird der Einzelne auf sich verwiesen, kann sich selbst nicht mehr ausweichen. Der Lehrer lässt den Schüler zu sich selbst finden (vgl. AG 178), führt ihn dahin, »in sich« (AG 198) zu gehen, lehrt, »dass der Ernst im Inneren liegt« (AG 175). Dabei ist es die vorweggenommene retrospektive Frage, welches Leben er gelebt hätte, falls der Tod heute käme, die dazu führt, dass der »Ernste […] sich selbst [betrachtet]« (AG 197), die ihn also in die reflexive Selbstbezüglichkeitsstruktur führt, die ihn ausmacht. Der Tod schafft Selbstreflexion, schafft, dass der Einzelne zu sich in ein Verhältnis gesetzt wird, und damit, da anthropologisch als Selbstverhältnis aufgefasst, sein kann, wer er ist. Camus spricht hier von einer »Rückkehr zum Bewusstsein« (MS 78). Der Einzelne findet aus der Verkehrung zurück zu dem ihm Wesentlichen, und dieses Bewusstsein ist Bewusstsein von sich selbst. Camus zeichnet diese Figur in seiner Rezeption von Heideggers Sein und Zeit nach, zitiert direkt: »Das Gewissen ruft das Selbst des Daseins auf aus der 776

Zur Deutung des Absurden als des Nicht-Ideologischen vgl. Esslin (2001) 403.

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Verlorenheit in das Man.«777 Sie findet sich jedoch auch explizit in sei­ ner eigenen Konzeption: »Das einzige Denken, das den Geist befreit, ist jenes, das ihn allein lässt, in der Gewissheit seiner Grenzen und seines bevorstehenden Endes« (MS 150). Bei Camus und Kierkegaard ist es also diese »Gewissheit« (AG 198, MS 150), mittels der der Lehrer den Schüler zu sich finden lässt.778 Kierkegaard spezifiziert nun die normative Dimension, die zunächst relativ offen ist, an einer Stelle mit dem Begriff der »Ver­ antwortung« (AG 180), die der Einzelne entdeckt und die ihn Schau­ dern lässt. Bemerkenswerterweise kommt dieser normative Schlüs­ selbegriff im gesamten Mythos des Sisyphos nicht einmal vor. Bei Camus ist der Begriff der Freiheit zentral, in dessen Diskussion die längste Passage zur Todesanalyse eingebettet ist (vgl. MS 75 ff.). Der Einzelne erhält seine »Handlungsfreiheit« (MS 76) zurück, wird befreit von der Illusion von Freiheit, die das an den jeweiligen sozio­ kulturellen Kontext angepasste Leben bot (vgl. MS 76 f.). Der Ein­ zelne erkennt hier die »Schranken« (MS 78) der Illusion eines sinn­ vollen Lebens, begreift »dass er in Wirklichkeit gar nicht frei war« (MS 77), und das Verhältnis zum Tod »ersetzt die Illusion der Freiheit« (MS 79 Hervorhebung AC) durch die eigentliche, »absurde Freiheit« (MS 78). Wenn Camus nun die Aufklärung durch das Absurde als aufrich­ tiges Verhältnis zur Absurdität des möglichen Todes als »Grund mei­ ner tiefen Freiheit« (MS 78) benennt, so bestätigt er explizit die These dieser Arbeit des Absurden als Grund von Existenz bei Camus. »Der Tod und das Absurde sind […] die Prinzipien der einzig vernünftigen Freiheit« (MS 79). Camus benutzt damit die metaphysischen Kern­ begriffe ›Grund‹, ›Prinzip‹ und ›Freiheit‹ affirmativ. Der Plural ›Prin­ zipien‹ wird dabei der Sache nach durch das Verständnis des Todes als Ausdruck des Absurden zum Singular. Camus spricht an dieser Stelle von einem Gespür – »man spürt es genau« (MS 79). Es gibt keinen theoretischen Beweis dieser Figur jenseits des Selbstvollzugs des Ein­ zelnen. Die Sterblichkeit des Menschen empirisch zu beweisen schei­ tert bereits am Induktionsproblem, und dennoch ist sie gewiss. Das Kapitel zum Eroberer schließt an dieser Verortung der Freiheit des Menschen im »Wissen« (MS 116) um seine Sterblichkeit an und schlägt von dort die Brücke zum Anderen, zu »menschlichen Bezie­ Heidegger, SuZ 275, zitiert nach MS 37. Kann / Victor deuten die entscheidende Parallele bei Kierkegaard und Camus an: »[...] dass der Tod den Menschen auf sich als Individuum verweist« (Kann / Victor (2017) 216). 777

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hungen« (MS 116). Diese Dimension ist in Kierkegaards An einem Grabe unterbelichtet. Kierkegaard grenzt die Möglichkeit des eigenen Todes scharf vom Todesfall ab, ohne von dort zurück zu gehen zum Anderen, der ebenfalls ein Einzelner ist. Thematisiert wird indes lediglich die »Menge« (AG 188). Der Einzelne entdeckt »seine eigene Verschiedenheit« (AG 191), also sich selbst als konkreten Menschen und das »Ziel, das ihm gesetzt ist« (AG 191). Kierkegaard geht, wie bereits erläutert, vom Gesetzt-Sein des Einzelnen aus, der »sein Los« (AG 192), »die wahre Richtung« (AG 192) im Sinne einer göttlichen »Vorsehung« (AG 196) entdecken kann. Dabei liegt in der Gleichheit aller Menschen, hier sowohl verstanden als Gleichheit vor dem Tod als auch theologisch als »Gleichheit vor Gott« (AG 192), der Schlüssel zur Verschiedenheit und Individualität. »Dass der Tod alle gleich macht« (AG 191) lässt den Einzelnen zu sich selbst finden, sich selbst kennen lernen (vgl. AG 192). Damit lernt er, zwischen wesentlicher und zufälliger Arbeit zu unterscheiden. Im Gegensatz zu zufälliger, ergebnisorientierter Arbeit, ist es in Bezug auf wesentliche Arbeit lediglich entscheidend, »begonnen zu haben« (AG 199). Bei Camus ist es das Gesamtwerk des Künstlers, das genau nicht »fertig wird« (AG 199), wonach bei Kierkegaard zufällige Arbeit zu beurteilen ist, sondern mit dem Tod des Künstlers endet, abgebrochen wird. »Vom Tode her empfangen sie [Bezug: die Werke] so ihren endgültigen Sinn [sic!]« (MS 148). Für Camus ist dies absurd-gelungen, als Verkörperung des Scheiterns. Für Kierkegaard ist das Wesentliche, begonnen zu haben, auch wenn es abgebrochen wird, ist es kein Scheitern. Diese normative Wertung beruht auf einer Einbettung in einen theologischen Gesamtkontext. Das Lernen von Tod als Lehrmeister des Ernstes hat einen zeittheoretische Dimension, die die Zeitstruktur des alltäglichen Dahinlebens inmitten des Sinnentrugs aufgreift und angreift. An diesem Punkt wird der Gehalt des Lernens außergewöhnlich explizit und konkret. Der Tod lehrt den Einzelnen »er habe keine Zeit zu vergeuden« (AG 180). Zeit ist knapp und kostbar, sie ist genau nicht die im schlechten Sinne unendliche homogene Sukzessionszeit, sondern die eigene Lebenszeit. Der Einzelne hat keine Menge an homogener Sukzessionszeit vor sich, die er verplanen und über die er verfügen779 kann und an deren Ende dann der Tod steht (vgl. AG 779 Birkenstocks positive Verwendung des Begriffs ›Verfügen‹ ist in diesem Kontext unglücklich formuliert (vgl. Birkenstock (1997) 287).

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180). Dies ist ein Missverstehen sowohl des Lebens als auch der Zeit. Im Begriff der eigenen Lebenszeit fallen diese beiden Grundbegriffe zusammen. Es geht nicht immer so weiter. Es ist irgendwann zu Ende, und es könnte im nächsten Augenblick zu Ende sein. Der Tod ist gegenwärtig. Der Tod lehrt, das Wesentliche nicht auf irgendwann in der Zukunft zu verschieben. Kierkegaard formuliert: »Des Ernstes kurzer jedoch spornender Anruf, gleichwie der kurze des Todes ist: heute noch« (AG 185). Bei Camus heißt es parallel: »Das Absurde klärt mich über diesen Punkt auf: es gibt kein Morgen« (MS 78). Beide benutzen hier sogar dieselbe Form, den Ausruf nach dem Doppelpunkt. In der Gegenwart des Todes wird die Zeit als knappes Gut offenbar, sie steigt im Wert, die einzelne Stunde, der Tag, das Jahr erhalten einen »unendlichen Wert« (AG 186). Die ökonomische Metapher endet jedoch an den Begriffen der Homogenität, der Gleichgültigkeit und der Akkumula­ tion. Lebenszeit ist weder homogen noch akkumulierbar. Der Gedan­ ken an den Tod hilft, sie »bedeutungsvoll zu machen« (AG 187), unterstützt also den Menschen gegen die drohende Gleichgültigkeit. In der Camus bekannten Gelegenheitsrede von S. Kierkegaard von 1847 erläutert Kierkegaard, der Mensch habe weder je sein Leben hinter sich gleich einer Pflanze oder einem Tier (vgl. EG 13 f.), noch eine Menge an Jahren vor sich (vgl. EG 19), sondern stets eine gegenwär­ tige Aufgabe (vgl. EG 12). Auch bei Camus ist der »zeitlich begrenzte« (MS 79) Charakter der eigentlichen Freiheit wesentliche Einsicht. Dabei ist es gerade das Begrenzte, das Möglichkeiten als Möglichkei­ ten aufzeigt (vgl. MS 91). Die Begriffe Lebenszeit, Grenze und Mög­ lichkeit stehen der Sache nach in einem engen Verhältnis. Camus erläutert dies metaphorisch am Beispiel des Schauspielers, der drei Stunden Zeit hat, um Jago zu spielen, dessen Leben als Veranschau­ lichung des Absurden (vgl. MS 104) gerade auf das »Vergänglichste […] gegründet ist« (MS 103). Gerade weil die Zeit eng begrenzt ist, kann der Schauspieler etwas in ihr realisieren. Camus interpretiert auch Don Juan als lebend im Wissen um die Vergänglichkeit und ihre Annahme. »Don Juan hat gewählt, nichts zu sein« (MS 97). Er lebt im Wissen um Einzigartigkeit und Vergänglichkeit, Alter und Krankheit sind für ihn keine Überraschungen (vgl. MS 98). Don Juan akzeptiert die Spielregeln (vgl. MS 99), und es ist gerade diese Akzeptanz, die ihm und jedem konkreten absurden Menschen seinen Spielraum eröffnet. Die absoluten »Grenzen [der] Möglichkeiten« (MS 94) ver­ weisen auf den »Spielraum« (MS 94) des ihm Möglichen. Der »Verlust

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an Hoffnung und Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Beweglichkeit« (MS 76). Ebenso ist in der Sisyphos-Interpretation in dem »besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet« (MS 160) genau das »bald besiegelt durch den Tod« (MS 160) der Schlüssel zum eigentlichen Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Der Gedanke an den Tod bietet keine Flucht vor dem Leben (vgl. AG 185), sondern zeigt dieses in einem neuen Licht, zeigt das »mineralische Aufblitzen« (MS 160) des Steins als Symbol der Aufgabe. Der Schlüssel der Klärung der Idee gelingenden Lebens liegt, scheinbar paradoxerweise, also genau in der »Unerklärlichkeit« (AG 203) des Todes. Das Unerklärliche klärt den Menschen auf, er lernt zu »leben« (MS 79), und zwar genau »von seinem Gegenteil, vom Tod« (MS 83).780 Camus konzipiert dieses Leben als Leben »in der Zeit« (MS 110), als Gleichzeitigkeit von Involviertheit und Reflexion (vgl. MS 106). Im Gedanken an den Tod liegt also, richtig verstanden, der Ernst des Lebens, der den sprichwörtlichen Ernst des Lebens – Beruf, Familie und soziokulturellen Erfolg – als trügerisch entlarvt (vgl. AG 176). Zentral für diesen Begriff des Lebens ist der Vollzug der Doppelbewegung: »Wer das Leben nicht umschifft hat, bevor er zu leben begann, der gelangt niemals dahin, zu leben« (WH 331).781 Alle übrigen Konzeption des Todes sind »Lebensanschauungen« (AG 202), die die eigentliche Perspektive, die rückwirkende Kraft des Todes im Leben, »nicht verstehen […] wollen« (AG 202). Sie sind Gestalten von Flucht und Verdrängungen. Mit ihrer strukturell Parallelen Todesanalyse, ein durch die Mög­ lichkeit des eigenen Todes aus eben diesen illusorischen Lebensan­ schauungen wachgerüttelt Werden, hin zu einem eigentlichen Begriff des Möglichen und des freien und verantwortlichen Lebens, bean­ spruchen Kierkegaard und Camus die eine wahre Perspektive, die den Schlüssel zur Entwirrung der Verwirrung durch die Pluralität der Perspektiven bietet. In An einem Grabe beschreibt Kierkegaard das Lernen vom Tod als ein Sich-selbst-Entdecken durch sich selbst (vgl. AG 178), also einen in gewissem Sinne autonomen Prozess. Dieser benötigt Zeit und Raum, und vollzieht sich schweigend (vgl. AG 179) in scharfer 780 Whistler weist die Grundzüge dieser Figur bereits in der Dissertation Camus’ nach (vgl. Whistler (2018) 53). 781 Zur Parallele der Figuren in An einem Grabe und der Wiederholung vgl. Birkenstock (1997) 82.

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Abgrenzung zum Gerede der Menge. Es ist ein langsamer und anstrengender (vgl. AG 204), täglicher und stetiger (vgl. AG 198), lebenslanger und letztlich unabgeschlossener und unabschließbarer Prozess (vgl. AG 180). Der Mensch lernt »mit ganzer Seele« (AG 197), also nicht lediglich passiv und durch Instruktion, ohne selbst von der Sache betroffen zu sein. Es geht nicht um »auswendig lernen« (AG 204), sondern um das Leben. Entscheidend ist, wie man lebt, was das eigene Leben ausdrückt, nicht, was man aufsagen kann (vgl. AG 203). Es ist schwer (vgl. AG 182). Die Adjektive erinnern den Leser an Camus’ Beschreibung des Sisyphus (vgl. MS 156 ff.): Es ist ein lang­ samer, anstrengender und schwieriger Prozess, lebenslang, immer wieder von Neuem. Er vollzieht sich frei von der Zeit, und es kommt nicht darauf an, wie oft Sisyphos oben angekommen ist. Der Tod als Lehrmeister des Ernstes hilft dem Einzelnen, einem verkehrten Glücksbegriff nicht nachzugeben (vgl. MS 193) und bie­ tet damit den Schlüssel zu Kierkegaards übergreifender Konzeption gelingenden Lebens als einer negativistischen, deren strukturelle Parallele zur Konzeption Camus’ noch erläutert werden wird. Festzuhalten bleibt: Der Tod ist im Werk beider Denker zentral. Die Kierkegaardsche Figur der aufklärenden Funktion der Gegenwart des Todes im Leben findet sich in ihren Grundzügen auch im Denken Camus’. Das Denken der Möglichkeit des eigenen Todes erschüttert den Einzelnen, entlarvt jede Sicherheit eines angepassten Lebens innerhalb eines kontingenten soziokulturellen Kontextes als Illusion, und führt ihn aus diesem heraus zu sich selbst, klärt ihn auf und befreit ihn.782 Diese kulturell invariante, universale Struktur des Lebens bietet Motiv und Maßstab seines Gelingens. Der Mensch lernt vom Gegenteil des Lebens her zu leben. Die Zeit wird zum knappen und kostbaren Gut.

3 Zur Idee gelingenden Lebens Ziel dieses dritten Vergleichskapitels ist nun die Untersuchung struk­ tureller Parallelen der Konzeptionen gelingenden Lebens des wachge­ rüttelten Einzelnen bei Kierkegaard und Camus. Die Analyse geht dazu in zwei Schritten vor: Sie weist zunächst strukturelle Parallelen der Idee gelingenden Lebens als ein Nein zum Misslingen in jedem 782

Zum Begriff eines neuen, zweiten Anfangs vgl. Hühn (2009) 230.

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Augenblick bei beiden Autoren auf. Im zweiten Schritt erörtert sie die Unmöglichkeit der direkten Mitteilung des je konkret normativ Gesollten und daraus folgend die Aufgabe jedes Einzelnen, das Gesollte für sich selbst zu übersetzen.

3.1 Gelingen als Nein zum Misslingen Gemäß der zentralen Stelle zu Beginn von Kierkegaards Hauptwerk Die Krankheit zum Tode gelingt das Leben im Verhältnis zum Anderen, und zwar genau »indem es [Bezug: das Selbst] sich zu sich selbst ver­ hält, verhält es sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat« (KT 32, Hervorhebung JA). »Im sich-Verhalten-zu-sich-selbst […] grün­ det sich das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte« (KT 76). In Kierkegaards christlichem Rahmen ist dieses Andere783 immer noch eine Gottesvorstellung – »Gott« (KT 34).784 Indem der Einzelne sich nun zu sich selbst verhäl785, verhält er sich zu Gott als Grund von Existenz, weil er theologisch-anthropologisch als von Gott gesetzt gedacht wird. Die These ist nun, dass die Konzeption Albert Camus’ strukturgleich ist: Das Leben gelingt bei Camus im Verhältnis zum Absurden (vgl. MS 70 ff.), welches als Grund von Existenz und als normativer Maßstab strukturell an die Stelle tritt, die bei Kierkegaard 1849 immer noch eine Gottesvorstellung inne hat. Indem der Einzelne sich zu sich verhält, »sich seinem Leben zuwendet« (MS 160), verhält er sich zum Absurden, weil er der absurde Mensch ist (vgl. MS 87 ff.). Bei Kierkegaard und Camus gelingt das Leben als Verhältnis zum Wahren (vgl. KT 67, MS 45), in beiden Fällen ist das Wahre das für

Gelingen meint, sich selbst als einem christlichen Gott gegenüber erkennen. Selbstverhältnis und Gottesverhältnis fallen zusammen (vgl. Theunissen / Greve (1979) 16). 784 In seiner Deutung des gelingenden Lebens bei Kierkegaard als Annahme von Unbestimmtheit (vgl. Wesche (2003) 110, 118, 151) unterschätzt Wesche das Problem des fehlenden Grundes, das Kierkegaard letztlich nur theologisch einholen kann. Die These, der Nihilismus sei nicht Folge des Verlustes metaphysischer Gewissheiten (vgl. Wesche (2003) 55) teilt diese Arbeit nicht. Ein »Grundverfahren« (Wesche (2003) 171) allein trägt nicht. 785 Nur als dieses, wie Kierkegaard es nennt, positive Dritte lebt der Mensch in der eigentlichen Gegenwart (vgl. Theunissen (1979) 502). 783

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das Leben fundamentale Paradox.786 Bei Kierkegaard ist es das dem Christentum inhärente Paradox der Menschwerdung Gottes787, bei Camus ist das Andere das Absurde selbst. Das sich-zu-sich-verhaltende Selbst ist bei Kierkegaard und Camus das »Individuum« (MS 111). Die Anthropologie des Einzelnen und der Wert der Wahrheit des Existenzgrunds rechtfertigen die normative Forderung »dass der Mensch, unbedingt jeder Mensch, der Einzelne […] sein soll« (ÜW 9). Gelingendes Leben heißt also bei Kierkegaard und Camus »konkret werden« (KT 51), der konkrete Mensch werden, der man in Wahrheit ist, samt den eigenen Begabun­ gen, Anlagen und der konkreten historischen Verhältnisse (vgl. KT 100).788 »Die Pointe des Einzelnen ist eben sein negatives Sichverhal­ ten zum Allgemeinen, seine Abstoßung des Allgemeinen« (BA 534 Fußnote 1). Der Einzelne ist nicht das allgemeine Subjekt. Sein Leben gelingt nicht, wie das des Tieres, als Exemplar einer Art (vgl. KT 162 Fußnote 1). Anthropologisch »als ein Selbst angelegt [zu sein]« (KT 55) führt zur normativen Forderung, »dass es [nicht] abgeschliffen werden soll« (KT 55). Das gelingende Leben ist negativ bestimmt als nicht einfach einer von Vielen sein, nicht dazu gemacht werden und sich nicht dazu machen lassen, sich nicht als Teil der Menge seiner Verantwortung zu entledigen (vgl. ÜW 9).789 Ebensowenig kann der Mensch sich selbst schaffen (vgl. KT 100). Der Einzelne kann nicht bei Null anfangen, sondern muss mit sich arbeiten, sich zu sich verhalten, sich ändern in Richtung seines konkreten Selbst. Seine »Vollkommen­ heit ist, der Einzelne zu sein« (vgl. KT 162 Fußnote 1). »Die Welt zermalmt es [Bezug: das Individuum]« (MS 114), reduziert es auf ein funktionierendes Exemplar in einer gesellschaftlichen Maschinerie samt Illusion eines sinnvollen Lebens, aber das soll nicht sein. Das Normative ist dagegen ein »Angebot […] an den Einzelnen« (KT 119), das ihm freisteht. Damit steht der konkrete Mensch vor der Entscheidung: »flie­ hen oder bleiben« (MS 42). Kierkegaard und Camus definieren die 786 Wendel sieht in der Melancholie bei Kierkegaard und Camus die Möglichkeits­ bedingung für einen rational begründeten, vernünftig verantworteten Glauben (vgl. Wendel (2011) 170). Diese Option haben beide Denker weit hinter sich gelassen. 787 Nach Viertbauer nimmt das Paradox mit Jesus Christus Konturen an (vgl. Viert­ bauer (2017) 98). 788 Vgl. dazu Theunissen (1991a) 46. 789 Gelingen meint nach Löwith sich wiederholen im Sinne eines sich Zurückholens aus der Nivellierung in einen anonymen Massenbetrieb (vgl. Löwith (1979) 542, 554).

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Moderne als Flucht vor einem normativ Gesollten, die sich bewusst oder unbewusst vollzieht, die wir immer schon vollziehen, weil wir da hineinwachsen und sozialisiert werden. Hier entsprechen sich struk­ turell die Begriffe »Verzweiflung« (KT 31) und »Sprung« (MS 48) bzw. »Schirm« (MS 119). Der Mensch weicht stetig und immer schon dem Verhältnis zum Existenzgrund und damit sich selbst aus. Er ist bei Kierkegaard auf der Flucht vor dem eigenen Gottesverhältnis, bei Camus auf der Flucht vor der Absurdität des Mensch-Welt-Verhält­ nisses. Gelingen ist nun bei Kierkegaard und Camus negativ definiert als nicht fliehen790, als Nein zur Möglichkeit der Verzweiflung bzw. Nein zur Möglichkeit des Sprungs in jedem Augenblick.791 Gelin­ gen ist damit negativ definiert als nicht Misslingen.792 Kierkegaard schreibt: »Nicht verzweifelt zu sein muss die vernichtete Möglichkeit es zu sein bedeuten; wenn es wahr sein soll, dass ein Mensch nicht verzweifelt ist, muss er in jedem Augenblick die Möglichkeit zunichte machen« (KT 34).793 Dabei ist das Nein bei beiden Denkern ein Nein zu einem ideologisch verkehrten Sinnangebot, das sich als trügerisch erweist.794 Dieses Allgemeine, ein normaler Mensch zu sein, ist gerade die Versuchung, gegenüber der das Leben als »Emigrant aus der Sphäre des Allgemeinen« (FZ 314) gelingen kann. »Man fordert ihn auf zu springen« (MS 71). Die normative Forderung der Idee gelingenden Lebens steht dieser allgemeinen Forderung gegenüber, bei Kierkegaard als ein Nein zu jeder in der Krankheit zum Tode explizierten Gestalt der Verzweiflung, bei Camus als ein Nein zu jeder Gestalt des Sprungs, sei es Religion, Alltagswelt, klassische Metaphysik, Selbstmord (vgl. MS 119) oder Wissenschaftsglaube. Das Leben gelingt »ohne Schirm« (MS 119), ohne das Falsche, das das

Gelingen ist damit strukturell Negation des Negativen (vgl. Wesche (2015) 68). Zur Interpretation der Auflehnung bei Camus als ›nein‹ vgl. Olivier (2007) 82. 792 Gelingen ist nur negativ definierbar (vgl. Theunissen (1996) 14). Wir sind selbst Teil der modernen Gesellschaft und können daher aufgrund der »Deformation unserer Ideale« (vgl. Theunissen (1996) 17) eine Idee gelingenden Lebens in einem philosophisch-normativen Sinn nicht mehr positiv ausfüllen. Ein affirmativer Begriff ist nicht mehr denkbar (vgl. Theunissen (1991d) 354). 793 Bemerkenswert ist hier, dass Hannays Versuch, die Konzeption positiv zu formu­ lieren, scheitert, da er selbst eine negative Formulierung wählt: Nicht ein Mensch mehr sein wollen (vgl. Hannay (1994) 13). 794 Söderquist fasst Gelingen als Überwinden der Erwartungen unseres sozialen Umfelds, welche andernfalls unser Leben formen würden (vgl. Söderquist (2015) 85, 93). 790

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ursprüngliche Verhältnis verdeckt.795 Lernen ist so immer Verlernen des Falschen (vgl. MS 70). Die Entscheidung gegen das Falsche ist die Wahl des eigenen Selbst, sei es die Entscheidung des Schauspielers gegen die Kirche (vgl. MS 109), das Nein Don Juans zum Glauben an die eine Frau (vgl. MS 93) oder das »Nein« (MS 111) des Eroberers zu jedem angeblichen Wissen. Während bei Kierkegaard die Anwesenheit Gottes, und sei sie lediglich im Modus der Verzweiflung erkennbar, immer noch die Perspektive eines »in einem viel höheren Sinne« (KT 108) möglich macht, eines von Gott verbürgten Sinns des Ganzen, fällt bei Camus mit dem Gottesbegriff als Spielart des Sprungs auch der Sinnbegriff. Gelingen ist Nein zu jedem »tieferen Sinn« (MS 128) – die Metaphern von Höhe und Tiefe meinen hier dasselbe. Jede Sinnzuschreibung ist für Camus Flucht, jeder Rettungsversuch ist falsch und illusorisch, das Nein zum Sinn ist der Preis der Wahrheit. Die Affirmation des Absurden ist das Nein zur Möglichkeit des Sprungs, strukturgleich zur Affirmation des theologischen Absurden als Nein zur Möglich­ keit der Verzweiflung bei Kierkegaard. Beide Konzeptionen sind in diesem Sinne negativistisch, das Leben gelingt als Nein zu verkehr­ ten Sinnangeboten. Durch dieses kontinuierliche Nein versucht sich der Einzelne im Verhältnis zu sich Selbst und damit zum Grund zu halten.796 Damit gelingt das Leben bei Kierkegaard und Camus strukturell als ein nicht nicht sein Wollen, wer man in Wahrheit is797, bei Kierkegaard als Negation der Möglichkeit der Verzweiflung, bei Camus als Negation der Möglichkeit der Negation der Verzweiflung in jedem Augenblick. Camus’ Konzeption ist strukturgleich, ohne christliche Hintergrundannahme aber wird das Negative letztlich unüberwindbar und das Leben gelingt als gelingendes Verhältnis zur Negativität des Lebens.798 Jedoch droht auch bei Kierkegaard die Verzweiflung in jedem Augenblick von Neuem und ist damit nicht letztlich und abschließend überwindbar. Der Glaube, die Verzweif­

795 »Wir haben ohne die spanische Wand des Ewigen und Göttlichen zu leben, die das Absurde verbirgt« (Richter (1959) 115). 796 Gelingen ist »zu-sich-selbst-kommen« (Birkenstock (1997) 282). 797 Vgl. dazu Theunissen (1993) 18. In diesem Sinne ist Camus’ Ethik nicht »huma­ nistisch« (Whistler (2018) 60), sondern negativistisch. 798 Die These der Strukturgleichheit geht damit weit über die These Kodalles hinaus, Kierkegaard gebe Konzeptionen, die seine theologischen Voraussetzungen nicht teilen, »wichtige Denkanstöße« (Kodalle (1996) 387).

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lung überwunden zu haben, ist eine Gestalt der Verzweiflung (vgl. KT 86). Der Wunsch nach Zufriedenheit, nach Überwindung des Nega­ tiven, ist Camus zufolge naiv, eine »kindliche Suche« (MS 124). Kierkegaard stimmt zu und ergänzt, dass die meisten Menschen nicht über das Reflexionsniveau ihrer Jugendzeit hinausgelangen (vgl. KT 87).Dagegen gelingt das Leben bei Camus »in einer beharr­ lichen Verneinung jedes übernatürliches Trostes« (MS 179), während Kierkegaard diesen Trost noch denken kann. Camus konzipiert das beharrliche Nein als Wiederholung von Niederlage und Scheitern (vgl. MS 148), welches in der Sisyphos-Interpretation als bewusste Vergegenwärtigung des Absurden als gelingendes Leben ausgewiesen wird. Der Begriff der Wiederholung ist bei Kierkegaard zentral und nicht nur ein Kapitel, sondern ein ganzes Buch für sich. Aufgrund der Komplexität der Thematik und der Fülle der Wiederholungsfiguren wird das Thema hier ausgespart. Der junge Mann glaubt, in der Wiederholung sich »selbst wiederbekommen« (WH 431) zu haben, »und doch versteht er die Wiederholung auf eine andere Weise« (WH 437). Der Gläubige dagegen »wiederholt« (PB 102), »indem er […] glaubt« (PB 102). In diesem Kontext steht auch Kierkegaards Begriff der Vergegenwärtigung als Gleichzeitigkeit mit dem Paradox des Christlichen (vgl. PB 123). Hier entspricht, wie gezeigt, Kierkegaards säkulare Figur der Gleichzeitigkeit mit dem Tod (vgl. AG 178) der Figur Camus’. Das Leben kann bei Camus nur auf dem Wege der Aufrichtigkeit gelingen, sich selbst und dem Absurden gegenüber (vgl. MS 15). Dem entspricht bei Kierkegaard das Sich-als-gesetzt-Verstehen, als der konkrete Mensch, der man ist. Fragt man nach der Definition von Aufrichtigkeit, so ist diese bei Camus letztlich negativ gefasst. »Das wäre unaufrichtig« (MS 89), und aufrichtig meint folglich nicht unaufrichtig. Ein weiteres gemeinsames Nein der Konzeptionen Kierkegaards und Camus’ ist das Nein zur zufälligen Arbeit (vgl. AG 199), wenn diese an die Stelle der wesentlichen Arbeit drängt. »Das Mittel wird Selbstzweck« (MS 134). Die Stelle des Selbstzwecks oder letzten Zwecks gilt es gegen diese Tendenzen für ein Verhältnis zum Grund von Existenz frei zu halten. Zentral ist selbstverständlich in beiden Konzeptionen das Nein zur Möglichkeit des Selbstmords, in dem bei Kierkegaard und Camus die Idee misslingenden Lebens gipfelt. Bei Camus ist der Selbstmord, der den nach Sinn verlangenden Menschen als eine konstitutive Seite

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des Absurden auslöscht, damit gegen das Absurde gerichtet (vgl. MS 73).799 Der »philosophische Selbstmord« (MS 57) richtet sich auf theoretischem Wege gegen das Absurde, indem er einen Übergang zum Religiösen sucht, der für Camus immer »Flucht« (MS 46) ist. Bei Kierkegaard ist der »Selbstmord« (KT 72, Hervorhebung SK) »ein Verbrechen gegen Gott« (KT 72). Bei beiden Denkern richtet sich der Mensch, wenn er sich gegen sich selbst richtet, damit gegen den Grund von Existenz, bei Camus gegen das Absurde800, bei Kierkegaard gegen Gott. Darin liegt das normativ gebotene Nein zu Selbstmord der Konzeptionen gelingenden Lebens begründet und genau nicht im »Pflichtverhältnis zu anderen Menschen« (KT 72). Auch diese strukturelle Parallele stärkt die zentrale These der Untersuchung, die These des Absurden als strukturell Anderes oder Grund von Existenz. In das Verhältnis zu sich selbst, und damit sogleich in das Ver­ hältnis zum Grund von Existenz, als ein negatives Sich-Verhalten zum Allgemeinen gelingt der Einzelne nun durch Vollzug einer Doppelbe­ wegung801 von Verlust und Gewinn in jedem Augenblick. Dies wird bereits im vorangegangenen Kapitel zum Tod als ein Umschiffen des Daseins und von der Möglichkeit des eigenen Todes her zu sich selbst finden in Kierkegaards An einem Grabe expliziert, zu dem zentrale strukturelle Parallelen in Camus’ Mythos des Sisyphos aufgezeigt werden. Don Juan, der Schauspieler, und Sisyphos finden von der Möglichkeit des Endes her zu sich. Der »Bruch zwischen Welt und meinem Geist« (MS 70) führt zur Einsicht in das Absurde, dieser Weg gelingenden Lebens aber »mündet […] ins tägliche Leben ein. Er führt in die Welt des anonymen ›man‹, aber der Mensch begeht ihn von nun an mit seiner Auflehnung […]« (MS 70). Der Mensch verliert die Welt und kehrt in sie zurück, aber nicht lediglich als »ein Mensch mehr« (KT 55), sondern in einem Verhältnis zum Absurden802 und damit als er selbst. In der Forschung sieht Golomb diesen zentralen Aspekt (vgl. Golomb (1995) 176). Diese Deutung unterscheidet sich von der Interpretation A. Piepers, der zufolge der Wert des Lebens bei Camus der grundlegende Wert sei (vgl. A. Pieper (1984) 107 ff.). 801 A. Pieper sucht über eine Doppelbewegung von Feststellung und Ablehnung des Absurden bei Camus die strukturelle Nähe zu Kierkegaard (vgl. A. Pieper (1974) 432), ihre Interpretation beider Autoren überzeugt jedoch nicht. Man muss die Doppelbewegung an anderer Stelle suchen. 802 Die Arbeit teilt nicht die Interpretation des sich Spiegelns der Welt im dezentrier­ ten Leben (vgl. dazu Weyemberg (2000) 169). 799

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Diese Doppelbewegung von Verlust und Gewinn ist werküber­ greifend die zentrale Figur Kierkegaards.803 Die »Doppelbewegung« (FZ 212) aus unendlicher Resignation und Glaube ist die zentrale Figur in Furcht und Zittern. Der Weg zu Isaak bzw. zur Prinzessin führt von der Vergewisserung der Unmöglichkeit »durch den Glau­ ben« (FZ 229), »dass bei Gott alle Dinge möglich sind« (FZ 226), zu ihm bzw. zu ihr. Abraham bzw. der Jüngling gewinnen vom Gegenteil her, vom Verlust her und durch den Verlust hindurch. Die menschliche Einsicht in Grenzen wird durch einen theologischen Möglichkeitsbegriff aufgebrochen und neu justiert (vgl. FZ 222).804 Das Leben gelingt im Vollzug dieser Doppelbewegung in jedem Augenblick (vgl. FZ 218). In der Krankheit zum Tode findet sich eine Formulierung dieser Bewegung, die so auch in Furcht und Zit­ tern stehen könnte: »Der Glaubende sieht und versteht menschlich gesprochen seinen Untergang (in dem, was ihm zustößt oder was er gewagt hat), aber er glaubt. Darum geht er nicht unter« (KT 63). Neben dieser direkten Entsprechung findet sich die Figur auch in der Analyse der der Verzweiflung gemäß den synthesetheoretischen Momenten: »Die Entwicklung muss darin bestehen, unendlich von sich selbst loskommen im Unendlichmachen, und darin unendlich zu sich selbst zurückzukehren im Endlichmachen« (KT 51), sowie in der Betrachtung der Verzweiflung gemäß dem Grad des Bewusstseins als »unendliche Abstraktion von allem Äußeren« (KT 84) und dann in der Übernahme des »wirklichen Selbst« (KT 84) von diesem »Gegensatz [… dem] nackten, abstrakten […] unendlichen Selbst« (KT 84) her. Weniger komplex wird die Doppelbewegung von Verlust und Gewinn gegen Abschluss des ersten Teils formuliert als »Mut, sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen« (KT 100). Es geht also darum zu verstehen, was Möglichkeit bedeutet, und von dort her die eigenen Notwendigkeiten neu in den Blick zu nehmen, zu sich selbst zu finden. In der Wiederholung ist die Doppelbewegung ein Zersplittern und sich selbst Wiederbekommen (vgl. WH 431), vergleichbar damit, »einen Mann tot zu schlagen und ihn leben zu lassen« (WH 435). Das Leben gelingt, indem man »verliert und wiedergewinnt« (WH 431). Die Bewegung entspricht damit strukturell der »schwindelerregenden« 803

Vgl. Theunissen (1991d) 346 f. Diese These vertritt auch Janke (vgl. Janke (1982)

59). 804 Das Mögliche ist nicht länger ein abstrakter Begriff, sondern das mir Mögliche (vgl. Theunissen / Greve (1979) 48 f.).

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(MS 76) Einsicht in die Möglichkeit des eigenen Todes bei Camus, die von der Illusion von der Freiheit im Schutz der Menge befreit und zu dem führt, was Freiheit eigentlich bedeutet. Der Mythos des Sisyphos und in gewisser Weise auch An einem Grabe säkularisieren diese Figur, bei Kierkegaard zumindest zu einen gewissen Grade, wenn sie auch in einen theologischen Horizont eingebettet bleibt. Von der Wirklichkeit der Möglichkeit des Verlusts her gewinnt man den eigentlichen Begriff von Möglichkeit.805 Das Leben gelingt also, indem der Einzelne durch Vollzug der Doppelbewegung nicht vor sich selbst flieht, nicht weiter ein Mensch von vielen ist, sondern zu sich selbst findet. Dies ist keine Frage des richtigen Handelns innerhalb des ›wie bisher‹, sondern eine grundlegende Selbstveränderung der Person.806 Die Konzeptionen entsprechen hier der klassischen Figur der Conversio: Saulus kann nicht einfach das richtige tun. Saulus muss sich ändern, zu Paulus werden, sich als sich Selbst verstehen.807 Er muss neu und mit dem für ihn eigentlich Wesentlichen beginnen (vgl. AG 199). »Nach der Begegnung mit dem Absurden ist alles erschüttert« (AG 76). Es gibt dann ein Davor und Danach, wiederum strukturell bei Kierke­ gaard angelehnt an die Grundfigur der Menschwerdung Gottes als Zeitenwende (vgl. PB 122). Diese »Wandlung« (KT 96) ist wesentlich ein »Kampf« (KT 90). Kierkegaard nutzt hier, obwohl er generell Naturbegriffe für das, was Geist bedeutet, ablehnt, den Begriff der »Metamorphose« (KT 90). »Das Ganze ist Ringen« (WH 435) – Constantin Constantius wählt also wie Anti-Climacus die Metaphorik des Kampfes. Das gelingende Leben meint also genau nicht, von der Negativität des Lebens verschont zu bleiben (vgl. FZ 251), sondern das Bewusstsein der Gegenwart Gottes wird durch die Verzweiflung hindurch gewonnen (vgl. KT 48). Das Leben gelingt bei Kierkegaard und Camus im Verhältnis zur Wahrheit, »aber um der Wahrheit nahe zu kommen, muss man durch jede Negativität hindurch« (KT 69), »durch die Verzweiflung am Selbst musst du zum Selbst« (KT 97). Das gelingende Leben ist und bleibt aber trotzdem letztlich ein Möglichkeit und Notwendigkeit sind beide faktisch (vgl. Theunissen (1979) 508). Der kantische »Kompass in der Hand« (Kant, GMS 31) genügt genau nicht. Der Einzelne muss selbst Kompass werden, seine, so A. Pieper, innere Nadel magnetisch aufladen, um sich nach dem christlichen Kraftzentrum ausrichten zu können (vgl. A. Pieper (2000) 136). 807 Hannay bezeichnet die Figur der Conversio bei Kierkegaard als einen »U-turn« (Hannay (1994) 9), also eine plötzliche Umkehr um 180 Grad. 805

806

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Leiden. Die Überzeugung, es sei einfach, ein Einzelner zu sein, ist für Kierkegaard der sichere Indikator dafür, es nicht zu sein (vgl. FZ 263). Furcht und Zittern erläutert die letztliche Unüberwindbarkeit der Spannung eines gelingenden Lebens, das das Nein zur Möglichkeit des Misslingens in jedem Augenblick fordert (vgl. FZ 267), und Camus schließt sich diesem Bild an. Auch für ihn ist das Negative, die Entdeckung des Absurden, der Schlüssel zum eigenen Selbst. Aber auch Camus betont die »äußerste Anspannung« (MS 74) und »unerhörte Anstrengung« (MS 74) desjenigen, der das Verhältnis zum Grund von Existenz »aufrechterhält« (MS 74), bzw. es auch nur aufrechtzuhalten versucht. Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller beschreibt als ethisch-religiöse gelingendes Leben als ein »für die Wahrheit leiden [Wollen]« (ÜW 13). Camus, der gelingendes Leben als »festhalten« (MS 45) an der Wahrheit fasst, die zu der normativen Forderung führt »mit seinem Leiden zu leben« (MS 54), würde Kierkegaard hier zustimmen. Die Differenz der Konzeptionen ist hier wiederum paradigmatisch. Auch Kierkegaard würde sich Camus darin anschließen, nicht das Entlastende, sondern das Wahre zu suchen (vgl. MS 178). Das gelingende Leben ist nicht der bequeme Weg, sondern etwas, das man aushalten muss (vgl. KT 67). Dabei verliert aber auch bei Camus, trotz Fehlen des Gegengifts gegen die Verzweiflung, die Wahrheit »an Gewicht, so bald sie erkannt [wird]« (MS 158). Sowohl bei Kierkegaard als auch bei Camus impliziert das Nein zur Flucht ein Risiko, und beide Konzeptionen gelingenden Lebens enthalten die normative Forderung, dieses Risiko einzugehen. Das Nein zur Möglichkeit der Verzweiflung bedeutet ein Wagnis einzugehen, das dem Klugheitsbegriff des soziokulturellen Kontextes gegenübersteht (vgl. KT 57). Gelingen erfordert »den Mut zu haben, zu wagen, auszuhalten, Geist zu sein« (KT 68). Im Alltagshorizont scheint dies zu gefährlich, das Risiko nicht wert zu sein. Camus beschreibt, wie die Diagnose des Todes Gottes Nietzsche in den Wahnsinn führt. »Aber dieses Risiko muss man auf sich nehmen […]« (MS 142). Die offene Konfrontation mit der Krankheit des Geistes kann dazu führen, dass die Krankheit überhand gewinnt, aber mit diesem Risiko und seinen Konsequenzen muss der Mensch leben, um überhaupt zur Möglichkeit gelingenden Lebens Zugang zu haben. Es ist nicht der bequeme und sichere Weg, und sein Ausgang ist offen. Das Leben ist lebendig, nicht der Tod der Alltagsroutine. Die Wellenmetapher am Ende der Wiederholung skizziert gelingendes Leben, Not, Lebensgefahr, Risiko und das Negative als Teile einer

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dynamischen Bewegung, das Leben als ein dynamisches Ganzes (vgl. WH 432). Der Einzelne ändert sich selbst, nicht aber das verkehrte Ganze, innerhalb dessen er von nun an wach und im Bewusstsein seiner selbst lebt. Das bedeutet aber auch, dass die ideologische Verkehrung des Eigentlichen Wirklichkeit bleibt. In Kierkegaards Terminologie: Der Einzelne wird Christ und lebt nun als solcher innerhalb der Christen­ heit, die nicht zum Christentum wird und wohl auch nicht werden wird, sondern bestehen bleibt. Das bedeutet aber, dass die Versuchung der Alltagswelt und ihres verkehrten Glücksbegriffs in jedem Augen­ blick bestehen bleibt (vgl. AG 192, KT 45 ff.). Die Freiheit des Men­ schen ist die Möglichkeit, sich in jedem Augenblick für das Falsche zu entscheiden (vgl. KT 34 f.) und damit, wie es in Furcht und Zittern heißt, die »Möglichkeit, reumütig zum Allgemeinen zurückzukeh­ ren« (FZ 267). Kierkegaard benutzt hier den Begriff der Reue, einer verkehrten Reue, die das Angebot der Menge annimmt, glücklich und zufrieden ein Mensch von vielen zu sein, welches immer bestehen bleibt und daher ein Nein in jedem Augenblick erfordert. Auch bei Camus bleiben die »Religionen und Propheten« (MS 71), ihre Auf­ forderung zum Sprung und ihr falsches Heilsversprechen. Aber auch der absurde Mensch selbst läuft ständig Gefahr, sein eigenes Leben als sinnvoll zu interpretieren, ein eigenes Sinnkonstrukt zu erreichen. Es ist die »Versuchung […] irgendein Handbuch des Glücks zu schrei­ ben« (MS 158). Ständig drohen die Mittel, die eigentlich der Erhaltung des Lebens diesen sollen, Selbstzweck zu werden (vgl. MS 134). In Kierkegaards Terminologie drängt die zufällige Arbeit, die man zu einem gewissen Grad nicht einfach sein lassen kann, permanent an die Stelle der wesentlichen Arbeit. Es ist anstrengend, diese Stelle von ihr frei zu halten. Beide Autoren fassen gelingendes Leben als Augenblick. Durch den Vollzug der Doppelbewegung in jedem Augenblick kauft der Einzelne in Furcht und Zittern »in jedem Augenblick, den er lebt, die passende Zeit zum teuersten Preis« (FZ 218). An einem Grabe schließt, wie erläutert, an die ökonomische Metapher des Werts der Zeit an (vgl. AG 186). Der Augenblick entzieht sich jeder theoretischen Philosophie und Wissenschaft (vgl. BA 545). In Camus’ SisyphosInterpretation sind es gerade die »Pause« (MS 157), die »Augenblicke« (MS 157) oder präziser gesagt der »Augenblick« (MS 160), in dem die erdrückende Negativität des Lebens an Gewicht verliert. Während in Kierkegaards Furcht und Zittern der Ritter des Glaubens noch »jeden

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Augenblick kraft des Absurden froh und glücklich« (FZ 213) sein kann, so ist die Augenblickskonzeption in der späteren Krankheit zum Tode nur noch negativ gefasst als Nein zur Möglichkeit der Verzweiflung (vgl. KT 34) und Gelingen als Nicht-verzweifelt-Sein. Camus fasst nun gelingendes Leben als »beständig […] in vollem Bewusstsein« (MS 115) zu leben, also als den Versuch, die Augen­ blickserfahrung des Selbstbewusstseins auf Dauer zu stellen. Diese Figur der Kontinuität entspricht Kierkegaards »den Sprung im Leben in Gang verwandeln« (FZ 219), wobei Sprung sich auf den Vollzug der Doppelbewegung im Augenblick bezieht. Kierkegaard fasst den Augenblick theologisch als das Ewige in der Zeit (vgl. BA 545), orientiert an der Figur der Menschwerdung Gottes in der Zeit (vgl. PB 122). Camus lehnt diesen theologischen Ewigkeitsbegriff ab (vgl. MS 58) und besetzt den theologischen Grundbegriff des Heiligen mit seiner eigenen Konzeption gelingenden Lebens in Gegenwart des Absurden (vgl. MS 159). Gleiches gilt für den theologischen Begriff des Zeugens oder Bezeugens, der für den Bericht vom leeren Grab als Kernwahrheit des Christentums grundlegend ist. An die Stelle von Kierkegaards theologischem Begriff des Zeugens (vgl. FZ 316) tritt bei Camus das Bezeugen der Wahrheit des Absurden (vgl. MS 74). Man könnte also sagen, dass das Absurde mit dem Besetzen dieser theologischen Kernbegriffe in vollem Sinn beansprucht, Grund von Existenz zu sein. Der Mensch muss nach Camus folgerichtig davon ausgehen, dass die Augenblickserfahrung der Gegenwart des Absurden durch das Nein zur Flucht vor ihm das Glück ist (vgl. MS 160). Camus’ mineralogische Metapher des »Aufblitzens« (MS 160) von etwas808 im Stein des Sisyphos stellt am Ende doch wieder die Frage nach der Ursache, der Lichtquelle, seit Platon »›Bild‹ für die Idee aller Ideen.«809 Die Metaphorik von Misslingen als illusorischem Schlaf und Übergang vom Misslingen zum Gelingen als Wachgerüttelt-Werden durch die Möglichkeit des eigenen Todes setzt Camus mit dem Bild der »Nachtwache des Geistes« (MS 85) in der »Nacht der Verzweiflung« (MS 85) fort. Dabei ist das Bild des Daseins als »Nachtwache« (EO 46) eine von Kierkegaards Ästhetiker A übernommene Figur. Camus folgert aus seinem Gedankengang, »dass der menschliche Wille kein anders Ziel hat, als das Bewusstsein wach zu halten« (MS 148), und 808 809

Zum Motiv des Aufblitzens vgl. Unger (2015) 268. Heidegger, Platons Lehre 215.

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verknüpft damit den Begriff des ›Wachen‹ mit den Begriffen ›Halten‹ und ›Wille‹. Gelingendes Leben ist Nicht-Schlafen, ist der Versuch wach zu bleiben, sich wach zu halten, »in dem subtilen Augenblick vor dem Sprung […] sich auf diesem schwindelnden Grat zu halten; alles andere ist Ausflucht« (MS 148). Es ist ein Festhalten (vgl. MS 70), ein Aufrechterhalten (vgl. MS 70), ein Erhalten (vgl. MS 148) und ein Aushalten des Verhältnisses zum Grund von Existenz als absurdes Verhältnis von Mensch und Welt. Man hält dessen Platz frei von verkehrten Sinnangeboten, die sich aufdrängen und diesen Ort einnehmen wollen. Hinter all diesem steht bei Camus der Willensbe­ griff. Gelingen ist nicht wieder einschlafen wollen, normativ geboten ist das Wollen dieses Wollens. In Kierkegaards Krankheit zum Tode ist der Übergang von Miss­ lingen zu Gelingen ebenfalls »Erweckung« (KT 66) und so kann auch Kierkegaards Nein zur Möglichkeit der Flucht in jedem Augenblick als ein Sich-wach-Halten gefasst werden. Der Begriff des Haltens ist zunächst zentral in der Anthropologie des Menschen als Selbst­ verhältnis in einem Gottesverhältnis (vgl. KT 32), in welchem der Einzelne sich folglich hält, indem er sich zu sich verhält. Auch die Fassung des Gelingens als Aushalten des geistigen Lebens findet sich in Kierkegaards Hauptwerk (vgl. KT 68). Der Willensbegriff wird dabei zunächst negativ gefasst als Beschreibung der Verzweiflung, als nicht gesund werden Wollen (vgl. KT 47), dann aber analog zu Camus als ein »je mehr Wille […] desto mehr Selbstbewusstsein« (KT 50). Im letzten Schritt fasst Kierkegaard den Glauben selbst als Willensakt – zentral für das Verhältnis des Einzelnen zum Grund von Existenz in der ethisch-religiösen Konzeption. Entscheidend sei, »ob er glauben will« (KT 61, Hervorhebung SK). Die Strukturen von Wachen, Halten, und einem dahinterliegenden Wollen entsprechen sich also bei Kierkegaard und Camus. Der Versuch, sich wach zu halten scheitert letztlich doch, oder er scheitert immer wieder.810 Camus beschreibt ausführlich die Hart­ näckigkeit der falschen Hoffnung (vgl. MS 134). Der Einzelne wird immer wieder »abgelenkt« (MS 134), »sich zufriedengeben« (MS 134), »glücklich« (MS 134). Er verliert immer wieder den Bezug zum Absurden, schläft immer wieder ein, muss immer wieder Gelingen aus dem Misslingen heraus anstrengen für die Augenblicke der bewussten Gegenwart des Absurden. Auch bei Kierkegaard steht 810

Gelingen bleibt lebenslang von Misslingen bedroht (vgl. Birkenstock (1997) 282).

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Gelingen in jedem Augenblick auf dem Spiel. In Wahrheit nicht verzweifelt zu sein, ist »das sehr Seltene« (KT 43), das gibt es also kaum. Allein der Versuch, aus dem Misslingen heraus Anstrengungen in Richtung eines gelingenden Lebens zu unternehmen, ist schon die seltene Ausnahme, die erneute Abkehr von diesem Reflexionsschritt der Regelfall (vgl. KT 86). Dabei ist bei Kierkegaard der Begriff der Ausnahme werksübergreifend positiv besetzt (vgl. etwa BA 534, FZ 303, WH 436). Die Ausnahme ist das Gesollte, weil jeder Einzelne anthropologisch die Ausnahme vom Allgemeinen ist. Niemand ist lediglich einer von Vielen. Hier stellt sich nun generell die Frage nach dem Anderen als dem anderen Menschen, konzipieren beide Positionen doch Gelingen als Selbstverhältnis zum Grund vom Existenz als dem metaphysischen Anderen – mit klarem Fokus auf das eigene Selbst. Camus schlägt die Brücke zum Anderen über die Verwundbarkeit des Menschen (vgl. MS 116), so die These hier, bewusst im Kapitel ›Die Eroberung‹, in dessen Zentrum der Begriff des Individuums steht (vgl. MS 111 ff.). Damit ist gesagt, dass der Andere nicht einer von vielen, sondern das andere Individuum ist. Kierkegaard stellt genau diesen Gedanken in Furcht und Zittern heraus: Der Andere ist immer »ein anderer Einzel­ ner« (FZ 270), darin mir ähnlich, dass wir von einem Anderen gesetzt und absolut verschieden sind. In einem Werk, das nicht aufhört, die Einsamkeit des Selbstverhältnisses im Verhältnis zu Gott zu betonen, ist darüber hinaus wenig die Rede vom gelingenden Leben mit dem anderen Menschen. Exemplarisch seien hier zwei Stellen genannt: Gemäß der Krankheit zum Tode genügt ein Mitwisser, um die Ver­ schlossenheit aushalten und nein zur Möglichkeit des Selbstmord sagen zu können (vgl. KT 98). Kierkegaard benutzt hier nicht den Begriff der »Freundschaft« (MS 116), den Camus benutzt, aber for­ muliert auch keine explizite Gegenposition. Die Arbeit schlägt hier vor, den einen Mitwisser des Verschlossenen als Freund zu deuten. In Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller findet sich in einer Fußnote der Begriff der »Gemeinde« (ÜW 9 Fußnote 2) als positiver Begriff für eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht lediglich eine »Menge« (ÜW 8) sind. Strukturanalog zum Begriff des Anderen gegen den zentralen Begriff des Selbst wirft der bei Camus und Kierkegaard zentrale Begriff des Willens die Frage nach dem Gegenbegriff des Lassens auf. Bei Camus ist die Frage besonders dringlich, da das Wissen-Wollen des Menschen konstitutiv für das Absurde ist. Es stellt sich die Frage,

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ob er wissen wollen muss, oder ob er es nicht bei einem gemäß Camus ursprünglicheren Zugang zur Welt belassen könnte – könnte er es bei einem Berühren (vgl. MS 30) der Welt belassen, ohne sie begreifen und verstehen zu wollen und damit in ein absurdes Verhältnis zu ihr zu gelangen? Camus würde diese Möglichkeit vermutlich verneinen und als Sprung zurückweisen. Er verwendet den Begriff des Lassens affirmativ für das Verhältnis zum Absurden: »Leben heißt das Absurde leben lassen« (MS 72). Lediglich eine Fußnote eröffnet die Entscheidung »gegen die Welt« (MS 84 Fußnote, Hervorhebung AC) im »östlichen Denken« (MS 84 Fußnote) als Gegenentwurf zu der das Absurde konstituierenden Auflehnung und einem gelasseneren Ver­ hältnis zum Leben. Die These dieser Arbeit ist hier jedoch, dass dieser Weg im Denken Camus’ selbst mit Blick auf seinen metaphysischen Anspruch inkohärent ist. Im Horizont seiner Prämissen kann Camus diese Alternative nicht kohärent denken. Im weiteren Werk Camus’ findet sich zum Beispiel im Essay »Hochzeit in Tipasa« ein alternati­ ves Weltverhältnis in der Erinnerung an die Jugendzeit in der algeri­ schen Heimat811, an das Baden im Meer812, das Salzwasser auf der Haut und das Trocknen im Sand (vgl. HL 11 f.). Der Mensch in der Revolte endet mit einem ähnlichen Ton, wenn vom mittelmeerischen Denken jenseits des Nihilismus die Rede ist (vgl. MR 335 ff.): »Das Geheimnis Europas ist, dass es das Leben nicht mehr liebt« (MR 344). Diese Werke sind nicht Thema dieser Arbeit, jedoch scheint es unsi­ cher zu sein, ob der Begriff des Lebens einen Ausweg bieten kann.813 Bei Kierkegaard scheint es keine Alternative zum entweder Nicht-glauben-Wollen oder Glauben-Wollen zu geben (vgl. KT 61). Der Begriff des Lassens ist Teil der Resignationsbewegung in Furcht und Zittern, »aber größer ist, daran festzuhalten, nachdem man ihn [Bezug: Wunsch] hat fahren lassen« (FZ 194, Hervorhebung JA). Gelingen meint also gerade ein doch Festhalten, nachdem man losge­ lassen hat, kraft des Absurden. Der Begriff des Lassens tritt bei Kierke­ gaard in anderer Gestalt auf: Man versucht nicht angestrengt, andere Menschen zu belehren. Diejenigen, »die unter der Bestimmung Geist ungefähr auf der gleichen Stufe stehen wie das Kind« (KT 94) oder Bowker nennt Camus’ Algerienbild nostalgisch (vgl. Bowker (2011) 94). Zum Motiv des Schwimmens bei Camus vgl. Sagi (2002 38). 813 Das Absurde wird im späteren Werk Camus’ nicht überwunden (vgl. Hengelbrock (1984) 131). Der Begriff der Natur, den Kann für seine These des relativen Orts des Absurden als Maßstab bei Camus aufführt (vgl. Kann (2013) 56 ff.), ist bei Camus problematisch.

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die »Frösche im Sumpf des Lebens« (FZ 219), lässt man sein, wie sie sind. Grund dafür ist die Frage nach Konkretisierung und Mitteilung der Konzeptionen gelingenden Lebens, die im folgenden Schritt bei Kierkegaard und Camus vergleichend erörtert werden sollen. Zuvor bleibt festzuhalten: Indem der Einzelne sich zu sich selbst verhält, verhält er sich zum Grund von Existenz – der gesetzte Mensch zu Gott bei Kierkegaard, der absurde Mensch zum Absurden selbst bei Camus. Das Leben gelingt als nicht Fliehen, als Nein zur Möglichkeit des Misslingens in jedem Augenblick. Vom Tod her entdeckt der Einzelne das ihm Mögliche und damit sich selbst als konkreten Menschen.814 Das Leben gelingt in einem Verhältnis zum Wahren, nicht zum Bequemen, als nicht nicht sein wollen, wer man in Wahrheit ist. Dabei stützen gerade die Argumente beider Denker gegen den Selbstmord die zentrale These dieser Arbeit. Gelingendes Leben ist der immer wieder scheiternde Versuch, sich inmitten der metaphysischen Nacht wachzuhalten.

3.2 Übersetzen des Gesollten durch den Einzelnen Der folgende zweite Schritt des Unterkapitels zur Idee gelingenden Lebens zeigt nun, dass bei beiden Autoren das normativ Gesollte nicht als allgemeine Regel ausdrückbar und direkt mitteilbar ist, sondern durch den Einzelnen in seinen Kontext zu übersetzen815 ist und daher nur indirekt mitgeteilt werden kann.816 Das Leben gelingt also, indem der Einzelne sich zu sich Selbst und damit zugleich zum Grund von Existenz verhält und dies durch ein Nein zur Möglichkeit der Flucht in jedem Augenblick verwirklicht. Der von Gott gesetzte Mensch verhält sich zu sich und damit zu Gott, der absurde Mensch verhält sich strukturanalog zu sich und damit zum Absurden. Diese Überlegungen scheinen, selbst wenn sie als kohärent und nachvollziehbar angesehen werden sollten, doch relativ abstrakt und allgemein. Es stellt sich die Frage, was dies nun normativ 814 Theunissen erläutert: Der Mensch im biographisch-geistigen Sinn kehrt die Zeit­ richtung des biologischen Lebens um und bekommt durch den Vorgriff auf den Tod sein Leben in den Griff (vgl. Theunissen (1991b) 203, 206 ff.). 815 Vgl. Hühn (2009) 208. 816 Der Negativismus ist damit ein Gegenprojekt zum Normativismus, ohne dabei den Anspruch auf Normativität aufzugeben (vgl. Wesche (2015) 68).

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konkret für den einzelnen Menschen bedeutet. Der entscheidende Punkt ist nun bei Kierkegaard und Camus, dass man diese Dimen­ sion des Konkreten nicht abstrakt-allgemein fassen kann.817 Jeder Einzelne muss das normativ Gesollte in seinem Leben konkret für sich übersetzen.818 Diese Überlegungen folgen aus Kierkegaards und Camus’ starkem Begriff des Individuums819 als gerade die Ausnahme vom Allgemeinen. Keine zwei Leben sind gleich. Jeder Mensch ist absolut einzigartig. Kierkegaard diagnostiziert im Begriff Angst das Scheitern der, wie er sie nennt, ersten, von der theoretischen820 Philosophie her konzipierten Ethik821 (vgl. BA 466), welche die Idealität in die Wirklichkeit hineintragen wolle (vgl. BA 456), und – so im sünden­ theologischen Kontext der Untersuchung – an der Sündhaftigkeit des Menschen scheitere. Der Begriff der Wirklichkeit der spekulati­ ven theoretischen Philosophie hat laut Kierkegaard nichts mit der Wirklichkeit zu tun, es gibt keinen Übergang vom reinen Sein des Anfangs der Wissenschaft der Logik zur konkreten Wirklichkeit (vgl. BA 456 Fußnote 1).822 Damit scheitert auch die Idee einer normativen Theorie als Metaphysik der Sitten, die bei Kant, im Unterschied zur empirischen praktischen Anthropologie, »eigentlich Moral heißen könnte.«823 Der Kierkegaardsche Vorwurf richtet sich hier in ers­ ter Linie gegen die formal-algorithmische sogenannte AllgemeinesGesetz-Formel824 des kategorischen Imperativs. Gegen Kierkegaard vermutet diese Arbeit hier, dass die sogenannte Zweck-Mittel-For­ mel,825 die den Selbstzweckcharakter der Menschen als normativen Maßstab ausweist, die stärkere Fassung oder Interpretation der kan­

Zu Camus vgl. Whistler (2018) 55. Der hier gewählte Begriff des Übersetzens geht weiter als Sagis Begriff des Dekodierens (vgl. Sagi (2000) 148). 819 Existenz, Subjektivität, Innerlichkeit und Existieren sind wahr und wirklich. Daher ist jede objektive Betrachtung falsch (vgl. Theunissen / Greve (1979) 36). 820 Vgl. dazu Greve (1990) 261. 821 Die erste Ethik erreicht weder den Einzelnen noch die Wirklichkeit (vgl. Hühn (2009) 231). 822 Wirklichkeit ist »die nur aus der Binnenperspektive des Einzelnen selbst erfahr­ bare Faktizität des Existierens« (Theunissen (1996) 11). 823 Kant, GMS 12, Hervorhebung IK. 824 Vgl. Kant, GMS 52. 825 Vgl. Kant, GMS 62. 817

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tischen Moralphilosophie ist.826 Dennoch bleibt natürlich auch in der Maßstabsinterpretation der kantischen Moralphilosophie der Maßstab immer ein allgemeiner Maßstab und damit das Problem der Konkretion von Pflichten ungelöst.827 Ein weiterer Vorwurf gegen die klassische Vorstellung von Ethik, diesmal in Furcht und Zittern formuliert, lautet, dass Moralsysteme die Schrecken des Daseins nicht kennen und daher wertlos sind (vgl. FZ 303). Eine Ethik, die nicht von der Negativität des Lebens ausgeht, geht naiv von einem falschen Begriff des Lebens aus und kann somit gar nicht zum Gesollten führen. Die klassische Vorstellung von Ethik, die zur Zeit Kierkegaards, zur Zeit Camus’, aber auch noch zu unserer Zeit vertreten wird, scheitert an der Wirklichkeit.828 Albert Camus fragt noch nach so etwas wie einer »Lebensregel« (MS 56) für den absurden Menschen, versucht sie zu formulieren, gesteht dann aber im Zuge der Untersuchung ein, dass diese Regel »im weiteren Sinne« (MS 81) nichts bedeutet. Sie bleibt abstrakt und allgemein.829 Camus stellt fest, dass es keine Werteskala gibt (vgl. MS 80), und dass selbst wenn es sie gäbe, sie nutzlos wäre (vgl. MS 83). In seinem späteren Werk Der Mensch in der Revolte nennt er schließlich den Glauben an allgemein gültige Regeln für menschliches Handeln den »Irrtum einer ganzen Epoche« (MR 16). Im Mythos des Sisyphos findet sich dagegen eine alternative Kon­ zeption. Der Gedankengang von Camus’ Hauptwerk führt von einer philosophisch-argumentativen Betrachtung (vgl. MS 11 ff.) über exemplarische Skizzen830 des absurden Menschen – Don Juan, der Schauspieler, der Eroberer (vgl. MS 88 ff.) –, die vom ersten Teil durch den Hinweis darauf getrennt werden, dass es nun aber »zu leben« (MS 826 Ricœur teilt hier die Kantdeutung Kierkegaards (vgl. Ricœur 1979 587). Rapic argumentiert dagegen gegen Kierkegaards Entweder-Oder, dass Kant in den Meta­ physischen Anfangsgründen der Rechtslehre seinen Formalismus revidiert habe und die Zweck-Mittel-Formel als basale Formulierung des Kategorischen Imperativs ausweist (vgl. Rapic (2007) 461 ff.). 827 Nach Kierkegaard ist das Problem jedes universalistischen Moralprinzips, dass der Einzelne dazu angehalten wird, sich als objektives Subjekt misszuverstehen. Jede Formulierung eines Imperativs ist in diesem Sinne repressiv, führt den Einzelnen von sich weg, anstatt zu sich selbst (vgl. Hühn (2004) 95 ff.). 828 Unter den Bedingungen der modernen Welt ist autonomes Handeln erschwert, wenn nicht gar verhindert (vgl. Theunissen (1991d) 30). 829 Thurnherr unternimmt zwei Versuche, die Konzeption Camus’ als einen Imperativ formulieren (vgl. Thurnherr (2004) 267, 273). 830 Vgl. A. Pieper (1974) 430.

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86) gelte, zur Interpretation der Kunst (vgl. MS 122 ff.) und des Mythos (vgl. MS 153 ff.).831 Camus führt also, und die These ist, er tut dies sehr bewusst, von begrifflicher Argumentation und der Frage nach einer Lebensregel zu Metaphorik und Interpretation. Am Ende wird eine alte Geschichte erzählt und im gegenwärtigen Kontext inter­ pretiert. Entscheidend ist dabei die Sisyphos gegebene Aufgabe: »Sein Fels« (MS 159). Der Fels ist nicht selbst geschaffen, nicht causa sui, sondern gegebene Aufgabe, sogar durch die Götter.832 Wesentlich für ihn ist das Possessivpronomen ›sein‹. Dieser Mythos ist nur von jedem einzelnen Leser für sich zu übersetzen. Es gilt, die eigene Auf­ gabe zu finden, zu entdecken. Der Einzelne muss sich selbst als absur­ der Mensch verstehen. Niemand kann ihm sagen, was seine Aufgabe ist. Die Dimension der ersten Person Singular ist hier unhintergeh­ bar.833 Genau dieser Begriff der Aufgabe ist auch bei Kierkegaard zen­ tral (vgl. etwa FZ 265).834 Im Rahmen der theologischen Annahme des Gesetztseins geht Kierkegaard davon aus, dass es für den Einzel­ nen etwas zu entdecken gibt835, dass er seine Aufgabe, das ihm Mög­ liche und Notwendige, entdecken kann. Es gilt »in dem ihm verliehe­ nen Selbst seine Aufgabe [zu] sehen« (KT 101).836 An anderer Stelle nutzt Kierkegaard anstelle der Aufgabe den Begriff der Berufung und verweist explizit auf dessen Bezug »auf das Göttliche« (KT 140), von dem der »Beruf« (KT 141) nur noch eine pervertierte Form sei. Die Notwendigkeit der Interpretation betont auch Furcht und Zittern. Abraham ist nicht wörtlich zu nehmen (vgl. FZ 203). Dage­ gen ist der Begriff des ›Übersetzens‹ zentral. Die Übersetzung des Ethisch-Religiösen in das Intersubjektiv-Allgemeine misslingt (vgl. 831 Richter betont die Lebendigkeit der Vorbilder. Einen Grundsatz gebe es dagegen nicht (vgl. Richter (1959) 116). 832 Zur These, Camus vertrete eine Ethik des Selbst-Schaffens, vgl. Sharman (2018) 208. 833 Vgl. A. Pieper (2011) 131. 834 Zum Begriff der Aufgabe vgl. Hackel (2011) 399 Fußnote 42, Reutlinger (2014) 110, Theunissen (1982) 50. 835 Die Arbeit argumentiert hier für einen Begriff des Entdeckens (vgl. dazu Sagi 2000 17), gegenüber dem offeneren Begriff des Entscheidens (vgl. Schwab (2008) 48). In der experimentalphilosophischen Interpretation Schwabs ist jede Konkretion ohne eine sie tragende Sphäre offen (vgl. Schwab (2014) 100 ff.). Mit der Annahme einer tragenden Sphäre ist die normative Aufgabe des Einzelnen individuell, jedoch nicht in diesem Sinne offen oder »perspektivistisch« (Schwab (2014) 107). 836 Sehr überzeugend ist hier Pattisons Analogie zur Pokerhand (vgl. Pattison (1997) 80).

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FZ 313), und das Gesollte fällt damit in die Sphäre des Unsagbaren. Die Idee gelingenden Lebens ist lediglich metaphorisch und ihrer Struktur nach zu fassen. »Was unter Isaak verstanden werden soll« (FZ 259), muss jeder Mensch für sich selbst übersetzen. Abraham kann nicht ›einfach‹ ein glücklicher Familienmensch sein, jedoch kann er nicht sagen, warum, und niemand kann ihn verstehen (vgl. FZ 258). Das gelingende Leben ist ab einem gewissen Punkt intersubjektiv niemandem vermittelbar. Das normativ Gesollte besteht also weder darin, den eigenen Sohn auf einem Berg zu opfern, noch darin, einen Stein einen Berg hinauf zu wälzen.837 Es sind Bilder, deren Bedeutung jeder Einzelne für sich selbst erschließen muss. Auf die Frage, wie er sich sicher sein kann, dass er seine Aufgabe richtig gedeutet hat, gibt es keine Antwort. Letztlich bleibt dem Einzelnen nur die Selbstvergewisserung (vgl. FZ 259). Wenn Kierkegaard und Camus die Idee gelingenden Lebens als in den je individuellen Kontext zu übersetzen konzipieren, bedeutet dies, dass die statistische Grundgesamtheit eines Lebensentwurfs ›n=1‹ ist. Das Gesetz der großen Zahlen, demzufolge sich Resultate dem Erwartungswert annähern, gilt somit nicht. Damit liegen beide Konzeptionen in wichtiger Hinsicht jenseits »menschlicher Berech­ nung« (FZ 212). Die eigene Aufgabe gefunden zu haben, bedeutet, analog zum Beispiel der Prinzessin in Furcht und Zittern, dass es viel­ leicht nur diese eine gibt (vgl. FZ 219 ff.). Sie ist nicht quantifizierbar, nicht substituierbar, liegt jenseits der Logik der durch das »Durch­ schnittsindividuum«838 geschaffenen »Äquivalente«839 in der moder­ nen Massenproduktion. Es ist daher nicht unvernünftig, der eigenen Aufgabe oder Berufung zu folgen, auch wenn dies in der Welt und dem dort vorherrschenden Rationalitätsverständnis so aussehen mag. Dass es irrational ist, impliziert die Prämisse, dass das eigene Leben lediglich eines von vielen ist, und diese Prämisse ist nicht korrekt. In der durch und durch verkehrten Welt kann das der eigenen Aufgabe gewidmete Leben wie Zeitvergeudung aussehen, wie Ver­ rücktheit, wie Nichts (vgl. KT 87), während es in Wahrheit die Theunissen / Greve und Thurnher weisen beide auf das parallele Bild des Berges hin, wobei Kierkegaards Interesse dem Aufstieg, Camus’ dem Abstieg gelte (vgl. Theunissen / Greve (1979) 74, vgl. Thurnher 2003 142 f.). H. Schulz interpretiert diese Parallele als eine Wiederaufnahme des Grundanliegens Kierkegaards durch Camus »in verwandelter Gestalt« (H. Schulz (2011) 12). 838 Marx, KPÖ 18. 839 Marx, KPÖ 17. 837

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Betriebsamkeit dieser Welt ist, die auf der Stelle tritt, nichtige Auf­ gaben mit wesentlichen verwechselt. Ihr Maßstab kann die Aufgabe des Einzelnen nicht beurteilen. Das gelingende Leben kann also im normativ positiven Sinne ver-rückt aus der Masse der zugeschliffenen und zurechtgerückten Menschen herausstechen, dies ist jedoch weder bei Kierkegaard noch bei Camus für gelingendes Leben wesentlich. In Furcht und Zittern ist es derjenige der aussieht »wie ein Steuereinneh­ mer« (FZ 216), bei Camus ist es der »Beamtenanwärter der Post« (MS 91). Die eigene Aufgabe kann eine ganz gewöhnliche sein. Was sie zum Ausdruck gelingenden Lebens macht, ist eine innere Haltung840, ein »Bewusstsein« (MS 91), der Vollzug der Doppelbewegung in jedem Augenblick (vgl. FZ 218). »Es gibt […] auch Beamte ohne Schirm« (MS 119). Kennzeichnend für das gelingende Leben ist also nicht die Extravaganz der Aufgabe, sondern ihr Wesen als eigene Übersetzung des Gesollten, das sie Erkennen als die je eigene. Das Nicht-Fliehen des Einzelnen vor dem Gesollten sieht man ihm also nicht an, es könnte niemand sein oder jeder zweite (vgl. FZ 216). Die Vermutung, dass das gelingende Leben die seltene Ausnahme ist (vgl. KT 43), beruht damit auf der Innenperspektive Kierkegaards und ist nicht zwingend verallgemeinerbar. Er vermutet, dass es Abermillio­ nen Verzweifelte gibt, aber er kann dies nicht wissen. Analog kann der absurde Mensch bei Camus nicht wissen, wie viele Menschen in wachem Bewusstsein von der absurden Grundstruktur der Existenz leben. Die anderen scheinen Durchschnittsmenschen zu sein, aber so erscheint er auch den anderen. Lediglich die eigene Geschichte und das eigene Ringen mit der Möglichkeit des Misslingens führt zu der in diesem Sinne vielleicht berechtigten Vermutung, dass es sehr wenige sind. In Furcht und Zittern gibt es einen wichtigen Aspekt, der die Per­ spektive der Reduktion gelingenden Lebens auf eine innere Haltung einschränkt: Gelingendes Leben ist »immer etwas mehr« (FZ 250) als das Erfüllen eine sozialen Rolle, und, so die hier vorgeschlagene Interpretation, dieses ›etwas mehr‹ ist sichtbar, aber nicht bestimm­ bar. Kierkegaards Konzeption enthält hier ein Moment des Entzugs, welches vielleicht strukturell am ehesten dem metaphorischen »mine­ ralischen Aufblitzen« (MS 160) im Stein des Sisyphos entspricht. Es ist da, aber wir können nicht sagen, was es ist. Vielleicht ist es genau 840 Die Arbeit weitet damit die These Thurnhers zum Inkognito gelingenden Lebens bei Kierkegaard (vgl. Thurnher (2003) 132 f.) auf Camus aus.

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das Individuelle desjenigen, der etwas tut, was gewöhnlich aussehen mag, aber doch in seinem jeweiligen Kontext absolut einzigartig ist. Im Zeitalter globaler Probleme und Verflechtungen, in der zum ersten Mal die Menschheit und der Planet als Ganzes auf dem Spiel stehen und sich damit die Frage nach einer möglichst globalen Institutionenethik stellt, stellen diese Konzeptionen Kierkegaards und Camus’ den Leser vor ein Rätsel. Hans Jonas fragt nach einem neuen Imperativ, einem neuen Prinzip, wobei für ihn offensichtlich ist, »dass der neue Imperativ sich vielmehr an öffentliche Politik als an priva­ tes Verhalten richtet, welches letztere nicht die kausale Dimension ist, auf die er anwendbar ist.«841 Kierkegaard und Camus zeigen die engen Grenzen eines allgemeinen Prinzips und des normativen Diskurses auf, fassen das Gesollte als individuell, als nicht verallge­ meinerbar und nicht vermittelbar. Während eine Konzeption attraktiv scheint, in der eine Institutionenethik die übergeordnete Sphäre »kollektiven Tuns«842 als einen wie auch immer gerechten Rahmen gestaltet, innerhalb dessen der Einzelne nach dem Gelingen des eigenen Lebens strebt, so scheinen die Überlegungen Kierkegaards und Camus’ zu letzterer Dimension doch Relevanz für erstere zu haben. Jonas’ Begriffe ›Prinzip‹ und ›Imperativ‹ treffen auf Camus’ Skepsis gegenüber jedem neuen Großentwurf, bei dem der Einzelne wieder unter die Räder zu geraten droht. Vielleicht bleibt uns ledig­ lich »zu retten, was sich retten lässt [...]« (MR 342). Die Stärke der beiden Existenzphilosophen mit Blick auf eine zu realisierende globale Institutionenethik ist, dass sie zum Rätsel des Problems des Übergangs vom ›Ist‹ der verkehrten Welt zum ›Soll‹ einer gerechten institutionellen Ordnung etwas sagen können: In diesem Kontext, der vielleicht der Kontext unserer Zeit ist, muss jeder Einzelne seine eigene Aufgabe finden. Mehr lässt sich nicht sagen. Über Misslingen und Gelingen des eigenen Lebens entscheidet dabei nicht der Ausgang des großen Ganzen, sondern das Verhältnis des Einzelnen zu sich Selbst und damit zum Grund von Existenz. Kierkegaards Konzeption indirekter Mitteilung folgt nun zum einen aus der eben skizzierten Unmöglichkeit der Verallgemeinerung des Gesollten und der Unhintergehbarkeit der Perspektive der ersten Person Singular.843 Die Aufgabe des Mitmenschen ist überhaupt nicht 841 842 843

Jonas, PV 37. Jonas, PV 26. Vgl. dazu Schwab (2008) 42.

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einsehbar und damit natürlich auch nicht direkt formulierbar. Der Andere »bedarf keiner Anleitung […], am wenigsten von Seiten eines, der sich aufnötigen will« (FZ 270). In diesem guten Sinne Lehrer zu sein »liegt das tiefe Humane« (FZ 271), also gerade darin, den Anderen selbst sich selbst und damit sein Verhältnis zum Gesollten entdecken zu lassen. Der gebräuchlichen Redewendung ›Ich an deiner Stelle würde […]‹ steht das Denken Kierkegaards und Camus’ entge­ gen.844 Während also die erste argumentative Linie für die indirekte Mitteilung die Unmöglichkeit der Formulierung der eigenen Aufgabe durch einen Belehrenden von Außen betont, so blickt die zweite auf die »Lage« (ÜW 6 Fußnote 3) des modernen Menschen. In Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller schreibt Kierkegaard ganz explizit, die Lage, in der Christenheit ein Christ zu werden, mache eine indirekte Methode notwendig, »weil die Aufgabe hier sein muss vorzugehen in Richtung wider den Sinnestrug« (ÜW 6 Fußnote 3).845 Es sind also die ideologischen Verkehrungsstrukturen der Verzweiflung, die eine direkte Mitteilung unmöglich machen, da sie sowohl die Sprache als auch das Verstehen vereinnahmen. Es ist nicht die Aufgabe des Einzelnen, von einem neutralen Nullpunkt aus ein Christ zu werden, sondern aus der Christenheit als pervertiertem Modus des Gesollten heraus. Hier knüpft Kierkegaards sündentheologischer Kontext an. Der Einzelne ist mit seiner ganzen Person so sehr Teil der modernen Welt, dass ihm die Idee eines gelingenden Lebens gar nicht mehr vermittelbar ist. Selbst wenn man diese Idee konkretisieren könnte, wäre sie nicht in einer Sprache, die der Andere verstehen kann, formulierbar und kommunizierbar. Diese Problematik findet sich bereits in Aphorismus 54 der Diap­ salmata von Entweder-Oder. Der Ruf, »dass die Kulissen Feuer fin­ gen« (EO 40) kann vom Theaterpublikum aufgrund seiner Lage nicht verstanden werden. Direkte Mitteilung ist unmöglich, weil es keine Sprachebene gibt, die das Bühnengeschehen brechen kann. »Man glaubte, das sei ein Witz« (EO 40). Der Alltagsmensch kann den Ernst der Lage nicht begreifen, er ist ihm nicht direkt vermittelbar. Dieser also bereits im Frühwerk Kierkegaards angelegte Gedanke wird im Hauptwerk, der Krankheit zum Tode, ausgearbeitet. Es ist genau das Rentsch fasst eine fundamentale Negativität des Lebens als »Ich kann nicht an der Stelle des Anderen sein« (Rentsch (2014) 66). 845 Ziel der indirekten Mitteilung ist das Christliche (vgl. Hackel (2011) 389, Viert­ bauer (2017) 100 Fußnote 63, Deuser (1985) 149, Theunissen (1982) 81).

844

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Hintergehen der Sprache durch die Verkehrungsstrukturen, das die direkte Mitteilung unmöglich macht. Der Alltagsmensch bildet sich ein, glücklich zu sein und ist in seinem verkehrten begrifflichen Rahmen gefangen, lebt in diesem mit seiner ganzen Person. Der Satz ›Dasjenige, was du für Glück hältst, ist in Wahrheit Verzweiflung‹ ist jenseits seines Horizonts und in dieser Form nicht kommunizierbar. Er wird ihn im Gegenteil als Angriff auf sein vermeintliches Glück interpretieren (vgl. KT 67). Was für die niedrige Reflexionsebene gilt, gilt ebenso für die hohe. Würde man dem Verschlossenen die Struktur seiner Verzweiflung in den Begrifflichkeiten Kierkegaards erläutern, so würde er vielleicht einen »Augenblick verstehen« (KT 97), bald darauf aber »wieder falsch verstehen« (KT 97) und »die Schwenkung verkehrt, in die Verzweiflung hinein« (KT 97) machen. Sogar der­ jenige, der verstehen kann, kann also dieses Verstehen nicht auf Dauer stellen, wird, nachdem er bereits verstanden hat, wieder falsch verstehen. Die These ist also, dass wegen der Verkehrungsstrukturen der Verzweiflung ein Modell indirekter Mitteilung notwendig ist. Die zweite These ist, dass der theologisch-christliche846 Kontext für diesen Fall ein solches Modell bietet: Die indirekte Mitteilung bei Kierkegaard ist eine theologische Figur.847 In den Philosophischen Brosamen stellt Kierkegaard die Frage nach der Lehrbarkeit und Lernbarkeit der Wahrheit (vgl. PB 17) und antwortet, dass Gott »her­ absteigen« (PB 42), Mensch werden musste. Der Schüler bewegt sich nicht auf der Ebene des Lehrers und kann ihn daher nicht verstehen. Der Lehrer kann folglich nicht direkt mit ihm kommunizieren und sich als der zeigen, der er ist, sondern muss sich dem Schüler auf dessen Niveau zeigen, »diesem gleich werden […], also wird sich Gott in der Gestalt des Knechts zeigen« (PB 42, Hervorhebung SK). Auch hier kann der Schüler nicht direkt verstehen, jedoch kann er »aufmerksam werden« (PB 68), und von dort aus selbst entdecken. Entscheidend ist, Kierkegaard erläutert dies am Beispiel des Königs und des Mädchens, dass jede andere Form der Mitteilung den Schüler leicht »sich selbst vergessen ließe« (PB 40), »da der zarte Trieb des Einzelnen so schnell wie ein Gras zerknickt werden kann« (PB 43). Jede andere Form der Mitteilung eines normativ Die indirekte Mitteilungsform folgt aus Kierkegaards Ansicht vom Wesen des Christlichen (vgl. H. Schulz (2014) 30). Die Figur ist »trinitätsspekulativ« (Hühn (2009) 211). 847 Vgl. Thurnher (2003) 141.

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Gesollten ist also übergriffig, manipulativ und repressiv. Sie verfehlt damit den eigentlichen normativen Gehalt, der ja das je eigene Selbst als Verhältnis im Gottesverhältnis ist. In der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift wird dieses Modell nun auf den theoretischen Kontext übertragen: »Das Geheimnis der Mitteilung besteht gerade darin, den anderen freizumachen, und gerade deshalb darf er sich nicht direkt mitteilen […]« (AUN 202).848 Die direkte Mitteilung ist dagegen Betrug gegen Gott, gegen sich selbst und gegen den anderen Menschen (vgl. AUN 202). Das normativ Gesollte kann nicht unmittelbar mitgeteilt werden, weil sein Gehalt gerade nicht das Unmittelbare ist, sondern die »Reflexion der Innerlichkeit« (AUN 201). Das Mittelbare unmittelbar mitteilen zu wollen, wäre also selbst-widersprüchlich. Kierkegaard betont hier noch einmal, dass das Mitgeteilte kein wie auch immer objektives »Resultat« (AUN 200) ist, sondern das Selbstverhältnis des Einzelnen selbst. Sowohl Form als auch Gehalt der indirekten Mitteilung sind damit bei Kierkegaard christlich. Das steht auch in der Nachschrift bereits in der Überschrift der beiden Teile. Das indirekt Mitzuteilende und durch den Einzelnen für sich zu Übersetzende ist immer das Christliche, ist immer noch einmal in einer christlichen Tiefenschicht fundiert, die nicht zur Debatte steht. Anschließend an die Begriffe »Subjektivität« (AUN 203), »Innerlichkeit« (AUN 203) und »Aneignung« (AUN 203) führt auch Kierkegaards Begriff Angst die Begriffe »Selbstreflexion« (BA 615), »Innerlichkeit« (BA 620) und »Ernst« (BA 620) eng, und unterschei­ det von dort aus zwei Verstehensbegriffe: »Verstehen und Verstehen ist zweierlei« (BA 615). Das subjektive Verstehen ist nun genau nicht Gelehrsamkeit. Für den Gelehrten ist das Neue Testament ein Buch wie jedes andere (vgl. BA 616). Verstehen ist genau nicht Reproduk­ tion, nicht auswendig lernen (vgl. FZ 202, AG 205), sondern selbst existentiell betroffen849 Sein, etwas wirklich selbst nachvollziehen.850 Camus schließt genau an diesen Verstehensbegriff Kierkegaards an, wenn er verstehen als durchleben fasst (vgl. MS 35). Verstehen meint 848 Die indirekte Mitteilung lässt den Anderen in Anerkennung seiner absoluten Einzigartigkeit frei, sich selbst zu entdecken, und darin kann er sich selbst entdecken (vgl. Hühn (2009) 209). 849 Vgl. dazu Deuser (1980) 20. 850 Der Einzelne muss selbst verstehen, so wie man einen Witz versteht. Es genügt nicht, dass jemand anders einem sagt, dass es witzig ist (vgl. AUN 488, vgl. dazu Hühn (2009) 208 Fußnote 15).

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nicht, »Gedankengänge« (MS 35) zu kennen, sie systematisieren und reproduzieren zu können, sondern sie im eigenen Leben nach­ vollzogen und durchlebt zu haben. Dieser Verstehensbegriff ist in gewisser Hinsicht nur begrenzt objektiv theoretisch erläuterbar, weil er unmittelbar die Dimension des Subjektiven betrifft. Kierkegaard versucht dies in der kritischen Auseinandersetzung mit der System­ philosophie, muss aber letztlich davon ausgehen, dass er wirklich verstanden wird. Dass sein Werk zum Gegenstand philosophischer ›Forschung‹ wurde, arbeitet hier in gewissem Sinne gegen ihn. Das Gesollte kann also nicht direkt verkündet werden. Verste­ hen bedeutet, »dass es der Einzelne durch sich selbst verstünde« (AUN 205). Er kann lediglich indirekt aufmerksam gemacht werden. Darüber hinaus gilt es, ihn zu lassen. Kierkegaard versucht nun eben diese Mitteilungsform praktisch in seinem pseudonymen Werk umzusetzen. Exemplarisch sei hier die Schachtelstruktur von Entweder-Oder genannt: Der Protagonist des Tagebuchs des Verführers bewegt sich auf der vierten Ebene, verfasst durch A, herausgegeben durch Victor Eremita, verfasst durch Søren Kierkegaard. Der fiktive Herausgeber wendet sich gegen sich selbst (vgl. EO 19), öffnet den Text für Interpretationen, ob A zu B überging, oder B zu A, ob es die Bewegung innerhalb eines Menschen ist (vgl. EO 24). Der Leser wird gezwungen, Stellung zu beziehen, sich selbst zum Text zu verhalten.851 Dabei, so Kierkegaard rückblickend, ist das Religiöse immer präsent und Ziel der indirekten Mitteilung (vgl. ÜW 6). Das Ästhetische ist immer auf den Übergang zum Religiösen hin konzipiert (vgl. WH 436), Problem und Ziel der Schriften Kierke­ gaards ist es, ein Christ zu werden (vgl. AUN 796 ff.). Bei aller Pseudonymität ist es letztlich doch immer Søren Kierke­ gaard, der dieses Konstrukt konstruiert hat. Versteht man hingegen den Namen Søren Kierkegaard auf der höchsten Ebene nur als ein weiteres Pseudonym, so verlässt man die Philosophie. Kierkegaards literarisches Werk ist der Versuch, einen ganz anderen Text als Kant oder Hegel zu schreiben, von der Einsicht ausgehend, dass das Gesollte so nicht vermittelbar ist, dass der theoretische Text das Selbst des Einzelnen nicht erreicht, nicht zu Veränderung führt. Auch Camus wählt in seinem philosophischen Hauptwerk einen eher literarischen Stil, der sich von klassischen Werken der Epoche der Ontotheologie unterscheidet. Wie dargestellt nutzt er eine Metapho­ 851

Vgl. Schwab (2008) 44 ff.

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rik, die interpretationsbedürftig ist, schlägt selbst Interpretationen klassischer Motive vor, um seine Gedanken mitzuteilen. Darüber hinaus schuf er ein umfangreiches literarisches Werk, das nicht-philo­ sophische Zugänge zu seinen Gedankengängen bietet.852 Das Schei­ tern der direkten Mitteilung des normativ Gesollten impliziert Camus also durch seine Wahl der Darstellungsform. Er expliziert diese These in der Dostojewski-Interpretation, im Scheitern des pädagogischen Selbstmords Kirilows: Irgendwo in Russland habe dessen Pistole geknallt, »die Menschen haben ›das‹ nicht verstanden« (MS 144). Die absurde Freiheit erschließt sich dem Einzelnen nicht per direkter Mitteilung, er muss sie für sich selbst entdecken. Der systematische Ort des Indirekten im Mythos des Sisyphos ist dabei die Kunst. Sie deutet die Negativität des Lebens durch »evidente Symbole« (MS 150) an und befreit den Einzelnen, indem sie von dort an »ihn allein lässt« (MS 150). Es ist darüber hinaus das eigene Schaffen, der kreative Prozess, der dem Einzelnen die Struktur des Absurden im Selbstvollzug offenbart. Sein »tägliches Sichmühen […] ›für nichts‹, nur um zu wiederholen [...]« (MS 149) lässt ihn die absurde Struktur des Ganzen entdecken. Dass wir uns an die Kunst halten können schließt jedoch nicht die Gefahr ihrer Verkehrung innerhalb des institutionalisierten Kunstbetriebs aus. Kierkegaard schreibt, es gebe im Dänemark seiner Zeit »in jeder Generation kaum drei Dichter« (KT 140), und auch Camus sieht in zahlreichen Werken den »Sprung« (MS 144). Letztlich ist das Werk, das das Verhältnis zum Absurden aushält, die seltene Ausnahme. Selbst Dostojewski und Kafka springen. Die Form, in der sich das Gesollte indirekt mitteilen kann, ist also bei Kierkegaard die Literatur, bei Camus die Kunst. Sowohl bei Kierke­ gaard als auch bei Camus ist also der normative Maßstab eindeutig, jedoch nicht direkt mitteilbar und in seiner Konkretisierung durch den Einzelnen für sich zu übersetzen und zu interpretieren. Die Frage nach dem Lehrer lassen beide offen. Camus übernimmt die Kierkegaard’sche Figur, in der der Tod, die Endlichkeit der Existenz, der Lehrmeister des Ernstes ist. Kierkegaards Metaphorik des »zuge­ schliffen werden« (KT 55) wirft die Frage nach demjenigen auf, der schleift, und diese Frage bleibt unbeantwortet. Es ist nicht der andere 852 Inwiefern es hier systematische Zusammenhänge gibt, ist in der Forschung umstritten. Gemäß der sogenannten Zyklentheorie sind den philosophischen Werken je ein Roman und ein Drama zuzuordnen, zum Mythos des Sisyphos der Roman Der Fremde und das Stück Caligula (vgl. dazu Reif (1999) 4 ff., 317).

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4 Methodischer Negativismus

Mensch, der sich aufdrängen will. Bemerkenswert ist hier die Figur aus Furcht und Zittern, dem Anderen »in das Allgemeine zu verhelfen« (FZ 264), damit die negative Position »einem Verirrten nicht zur Schlinge werde« (FZ 263 f.), ihm jedoch »Raum« (FZ 264) für mehr zu lassen.853 Sie entspricht vielleicht dem Vorgehen Adornos, sich im Rundfunkmanuskript ›Erziehung nach Auschwitz‹ lediglich auf Kant zu berufen854 und alles weitere erst einmal außen vor zu lassen. Viel­ leicht ist dies die Position des Lehrers in Deutschland, im Horizont des kantischen Grundgesetzes: Die kantische Moralphilosophie ist der zentrale Gegenstand der direkten Mitteilung, des Gesprochenen und Geschriebenen, aber die Form der Mitteilung, das Indirekte, lässt Raum für mehr, lässt Raum für den Einzelnen, sich selbst zu entde­ cken und das Gesollte für sich zu übersetzen. Es bleibt festzuhalten: Die Notwendigkeit der Übersetzung des normativ Gesollten, entsprechend dem jeweiligen Maßstab beider Konzeptionen, folgt aus der Einzigartigkeit des Individuums. Das Konkrete ist nicht in die Form eines allgemeinen Imperativs abstra­ hierbar. Moralphilosophie wird somit ab einem gewissen Punkt zu Metaphorik und Interpretation, Unsagbarkeit und Entzug. Der Ein­ zelne entdeckt seine Aufgabe, diese kann außergewöhnlich sein, muss sie aber nicht. Die Notwendigkeit der indirekten Mitteilung folgt aus dieser Nichtabstrahierbarkeit von der ersten Person Singular und zugleich aus der gegenwärtigen Lage des Individuums im Modus der Verkehrung, der die Sprache hintergeht. Das Allgemeine ist unmög­ lich zu konkretisieren und dazu weder mitteilbar noch verstehbar. Man kann den Einzelnen nur aufmerksam machen und (sich) selbst entdecken lassen, jede Form der direkten Mitteilung ist repressiv. Bei Kierkegaard hat die indirekte Mitteilung theologischen Ursprung, Camus konzipiert sein Hauptwerk von einer Begriffsanalyse hin zur Interpretation eines Mythos.

4 Methodischer Negativismus Ziel des vierten Vergleichskapitels ist die Reflexion des methodi­ schen Vorgehens beider Denker. Dabei soll gezeigt werden, dass die 853 854

Zur indirekten Mitteilung als ›Raum schaffen‹ vgl. Hühn (2009) 212. Vgl. Adorno, EnA 93.

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Interpretation Kierkegaards als methodischer Negativimus für eine Interpretation der Methodik Camus’ fruchtbar gemacht werden kann. Unter Negativismus versteht man in der Kierkegaardforschung die inhaltliche Ausrichtung der Analyse an Negativphänomenen und den methodischen Versuch, aus Analyse und Reflexion misslingenden Lebens die Idee gelingenden Lebens zu erschließen.855 Die Methode entspricht dabei der zentralen These zur Sache:856 Gelingen ist Nein zur Möglichkeit des Misslingens.857 Die Arbeit vertritt nicht die These, dass beide Autoren diese Methodik bewusst einsetzen, son­ dern vielmehr, dass der methodische Negativismus einen fruchtbaren Rahmen für die vergleichende Interpretation beider Denker bietet. Die These, der zufolge Kierkegaard sein methodisches Vorgehen nicht reflektiert858, soll auf Camus als Vertreter der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts ausgeweitet werden. Zunächst ist festzustellen, dass Kierkegaards Hauptwerk Die Krankheit zum Tode von 1849, welches auf die Idee eines gelingenden Lebens abzielt, eine Studie des Phänomens der Verzweiflung is859, welche das Phänomen zunächst nach seinen Strukturmomenten vor dem Hintergrund eines Synthesemodells (vgl. KT 50 ff.), darauf nach seinem Bewusstseinsgrad (vgl. KT 66 ff.) beschreibt. Kierkegaards Phänomenbeschreibung ist rein negativ. 860 Er gibt keine Konkretion gelingenden Lebens.861 Dort, wo das Werk konkret und anschaulich wird, beschreibt es Gestalten der Verzweiflung. Die Idee gelingenden Lebens wird lediglich abstrakt als »Gesundheit des Glaubens« (KT 62) benannt, wobei diese Gesundheit nur negativ als Nichtverzwei­ feltsein gefasst wird, dieses wiederum nur negativ als Nichtung der Möglichkeit der Verzweiflung: »Nicht verzweifelt zu sein muss die Vgl. dazu Theunissen / Greve (1979) 46, Theunissen (1991a) 17 ff., Theunissen (1993) 40 ff., Theunissen (1996) 17. 856 Der Geschichte, der Gesellschaft und dem Leben wird man philosophisch nur durch den Blick auf Konflikte, Krisen und Leiden gerecht (vgl. Wesche (2015) 67). 857 Gegen die negativistische Lesart Kierkegaards vgl. etwa Figal (1984) 19 ff. 858 Vgl. Theunissen (1991a) 18. 859 Kierkegaard setzt an Negativphänomenen an, um gelingendes Menschsein zu erschließen (vgl. Theunissen (1991a) 17. 860 Theunissen zufolge ist nach der Diagnose des Scheiterns der ersten Ethik im Begriff Angst die Krankheit zum Tode der Entwurf der zweiten Ethik (vgl. Theunissen (1982) 126, Theunissen (1996) 21 f.). Zur These der Unmöglichkeit einer zweiten Ethik in diesem Sinne vgl. Schwab (2014) 99. 861 Kierkegaard bietet kein Modell gesunder Existenz, sondern beschreibt Fehlformen (vgl. A. Pieper (2000) 106). 855

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vernichtete Möglichkeit es zu sein bedeuten;« (KT 34). Kierkegaard folgt dabei einer nicht-sondern-Struktur. Gemäß der Exposition des Werks gelingt das Leben nicht als eines der Syntheseglieder, nicht als negative Einheit, nicht als causa sui, sondern als Selbstverhältnis im Verhältnis zu der Macht, die es gesetzt hat (vgl. KT 31 ff.). Im Horizont seiner Hegelinterpretation geht Kierkegaard davon aus, dass man etwas nicht direkt bestimmen kann, sondern nur durch Reflexion des Gegenteils (vgl. KT 51). Den Begriff der Dialektik bei Kierkegaard und Hegel im Ausgang der Interpretation des achten Tropos der pyrrho­ nischen Skepsis862 und der antiken Bewegungsparadoxa zum Begriff der Momentangeschwindigkeit zu vergleichen ist hier nicht Thema dieser Arbeit. Verschränkt mit der Reflexion des Gegenteils ist der Weg zur Wahrheit als Durchgang durch das Negative – »[...] um der Wahrheit nahe zu kommen, muss man durch jede Negativität hin­ durch« (KT 69) – Kierkegaards Ausgang von Hegel, seine Interpre­ tation zentraler methodischer Passagen etwa der Phänomenologie des Geistes.863 Der Verzweifelte ist bei Kierkegaard vor diesem Hinter­ grund »umgekehrt gestellt, und was er sagt, muss umgekehrt ver­ standen werden« (KT 79). Methodisches Vorgehen ist also das umge­ kehrte Verstehen von Verkehrungsstrukturen, mit der Prämisse, dass es nicht lediglich so verstanden werden muss, sondern auch kann. Die verkehrte Welt ist für Kierkegaard umgekehrt verstehbar, weshalb eine genaue Beschreibung des Phänomens der Verzweiflung das Nicht­ verzweifeltsein impliziert. Der philosophische Fachmann erkennt nicht lediglich »die Angst der Geistlosigkeit […] an der geistlosen Sicherheit« (KT 69), sondern allgemein unter oder hinter dem ober­ flächlichen Phänomen sein Gegenteil. Unreflektierte Sicherheit deu­ tet auf Verzweiflung, aber ebenso deutet die Verzweiflung auf ein reflektiertes Gelingen in der Verneinung ihrer Möglichkeit. Die »Ver­ zauberung durch den Sinnesbetrug« (KT 69), also die ideologische Verkehrung des modernen Menschen, wird durch »rückwärts gespielt werden« (KT 69) aufgehoben. In der Verkehrung zeigt sich umgekehrt das Wahre864, die Moderne als Flucht vor einem Gesollten zeigt eben 862 Diesen Zusammenhang betonte Manfred Baum in einem Wuppertaler Hauptse­ minar zur Wissenschaft der Logik. 863 Vgl. Hegel, PhG 23 f. 864 Janke unterstützt die negativistische Lesart der Krankheit zum Tode (vgl. Janke (1982) 54). Auch Bonsiepen schreibt: »In der ethisch-religiösen Sphäre ist das Positive am Negativen […] erkennbar, und die Selbstvernichtung die wesentliche Form des Gottesverhältnisses« (Bonsiepen (2007) 681). Birkenstock interpretiert das Werk als

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umgekehrt dieses Gesollte. Negativität ist, mit Adorno formuliert, »Spiegelschrift ihres Gegenteils.«865 Bilder und Metaphorik von impliziertem Gegenteil finden sich darüber hinaus in zahlreichen Stellen im Werk Kierkegaards, exem­ plarisch sei hier nur einmal die bereits zitierte Nacht in An einem Grabe genannt, die auf den Tag verweist (vgl. AG 185), die Selbstbe­ schreibung des Ästhetikers A als im verkehrten Modus eines Sein­ sollenden (vgl. EO 31) oder auch die Hiobinterpretation des jungen Mannes in der Wiederholung (vgl. WH 414 ff.). In Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller bestätigt Kierkegaard selbst die negativistische Interpretation. Die »christliche Bewegung« (ÜW 5) ist keine direkte Bewegung in das Christliche hinein, sondern eine Bewegung »aus dem Anderen [des Christlichen] heraus« (ÜW 5). Reflexion ist Reflexion von Verkehrung. Kierkegaard führt an diese Stelle methodischen Negativismus und »Art der Mitteilung« (ÜW 5) – also indirekte Mitteilung – eng. Philosophisch-methodisch gibt es wie im konkreten Leben des Einzelnen keinen direkten Weg. Methode und Sache fallen zusammen, besser gesagt gibt die Sache die Methode vor. Ausgang ist das Verkehrte, die sich bis in die Verkehrung der Sprache ziehende »Lage der Christenheit« (ÜW 6), normativer Gehalt ist dabei stets »der Gedanke des Religiösen« (ÜW 5). Kierkegaard interpretiert Hegels »entgegensetzende Verdopplung«866 als »das Dialektische ist das Umgekehrte: beim Arbeiten sich selbst entgegen­ zuarbeiten, eine Verdopplung [...]« (ÜW 8 Fußnote) und erläutert diese abstrakte Passage mit der Metaphorik des Pflugs (vgl. ÜW 8 Fußnote). Kierkegaard macht es sich in gewisser Weise selbst schwer, weil er nicht oberflächlich arbeitet, nicht über die Oberfläche hinweggleitet, sondern mit Druck durch die Wirklichkeit pflügt, das Verdeckte an die Oberfläche bringt, das Verkehrte umkehrt. Langfristig bietet, um im Bild zur bleiben, nur dieses Vorgehen eine fruchtbare Grundlage für das Neue. Kurzfristig ist es eine mühsame

»methodischer Negativismus« (Birkenstock (1997) 83). Auch nach Wesche begreift Kierkegaard Gelingen vom Misslingen her (vgl. Wesche (2003) 138). 865 Adorno, MM 481. Entweder ist Adorno Vorbild für die negativistische Kierke­ gaard-Interpretation (vgl. o.V. (2007) 693 [HWPh Negativismus]), oder, so die These Theunissens, Kierkegaard ist das Vorbild Adornos. Potentielle Anknüpfungspunkte für einen Vergleich mit Camus bieten Adornos Begriffe des ›Dissonanten‹ und der ›Auflehnung‹ (vgl. Adorno, ND 15, 28, vgl. dazu Theunissen (1983) 44). 866 Hegel, PhG 23.

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und undankbare Tätigkeit, die fruchtlos ist, die aber die Möglichkeit zukünftiger Früchte schafft. Gemäß einer quasi-transzendentalphilosophischen Lesart der Krankheit zum Tode fragt Kierkegaard negativistisch vom Phänomen der Verzweiflung her nach den anthropologischen Bedingungen sei­ ner Möglichkeit867, und stellt seinem Hauptwerk in der Beantwortung dieser Frage darstellungstechnisch das Ergebnis der Untersuchung voran.868 Diese Interpretation eines methodischen Negativismus überzeugt nur insofern, als dass es sich hier um einen methodischen Negativismus mit Vorzeichen vor der Klammer handelt.869 Argu­ mentativ – was immer dieses Adjektiv genau bedeutet – ist es ein Zirkel, der die Verzweiflung durch das Ewige und das Ewige durch die Verzweiflung beweist (vgl. KT 41).870 Von vornherein gemachte theo­ logische anthropologische Voraussetzungen kommen am Ende als Ergebnis heraus. Die Verzweiflung des Menschen als Missverhältnis in einem Gottesverhältnis führt zur Anthropologie des Selbstverhält­ nisses als Gottesverhältnis. Darüber hinaus hat der Text keinerlei871 Vgl. Theunissen (1991a) 91, vgl. dazu auch H. Schulz (2014) 21. Vgl. Theunissen (1991a) 28 ff. 869 Nach Theunissen scheitert der Versuch Adornos, ohne Ausweis eines Stand­ punkts die Wahrheit an ihrer entfremdeten Gestalt abzulesen (vgl. Theunissen (1983) 46 ff.). Dagegen spricht Wesche vom »Begründungspotential der Negativität« (Wesche (2003) 151). Gemäß der Interpretation dieser Arbeit hat Kierkegaard dage­ gen im Christlichen immer noch einen ausreichend festen Standpunkt. 870 Theunissen nutzt die Begriffe ›hermeneutischer Zirkel‹ und ›Dialektik‹ (vgl. Theunissen (1991a) 28, 37), um den Zirkeleinwand zu entkräften. Der Text sei vielleicht hermeneutisch zirkulär, und sein dialektischer Charakter verbiete eine vorangestellte Anthropologie, die frei von christlichen Elementen ist. Trotz dieser Korrekturversuche bleibt der Text zirkulär an das christliche Paradigma gebunden, innerhalb dessen sich auch die Dialektik Hegels bewegt. H. Schulz definiert Theologie als einen hermeneutisch zirkulären Selbstauslegungs­ prozess des Christlichen (vgl. H. Schulz (2014) 3). Für Hoffmann etwa ist Theologie (dagegen) »im eigentlichen Sinne erkennende Wissenschaft von Gott« (Hoffmann (2013) 322). 871 »Dass die Freiheit nicht frei zu sich ist, leuchtet ohne weiteres ein. Darauf also und nur darauf beruht das Gesetztsein, [...]« (Theunissen (1991a) 63). In seinem quasi abschließenden Plädoyer möchte Theunissen zeigen, dass auf dem Nicht-freizu-sich-Sein des Menschen sein Gesetztsein als solches beruht und dieses jenseits dieser phänomenologischen Selbsterfahrung ›hic et nunc‹ keiner Argumente bedarf (vgl. dazu auch Theunissen (1979) 505). Dass der Mensch nicht frei zu sich ist, ist jedoch keine Rechtfertigung des Gesetztseins. Das Phänomen ist ebenso kohärent als Erfahrung der reinen Faktizität des Menschen atheistisch interpretierbar. Die Interpretation als Gesetztsein bedarf genau dann keiner weiteren Argumente, wenn 867

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Beweiskraft.872 Im Trotz des Verzweifelten zeigt sich nur dann das Gottesverhältnis873 (vgl. KT 99 ff.), wenn dieses immer schon vor­ ausgesetzt ist. 874 Im Trotz Hiobs gegen Gott zeigt sich nur dann das höchste Gottesverhältnis (vgl. WH 417 ff.), wenn das Gottesverhält­ nis immer schon vorausgesetzt ist. Eine Interpretation der Abwesen­ heit Gottes in der Moderne als verkehrter Modus seiner Anwesenheit macht immer schon theologische Voraussetzungen. Kierkegaard glaubt noch, »beweisen« (KT 41) zu können, wenngleich er auch an anderer Stelle sagt: »Im sich-Verhalten-zu-sich-Selbst, und im Selbstsein-Wollen gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte« (KT 76) sei »als Formel vorausgesetzt« (KT 75). Dieser Hin­ weis auf eigene Voraussetzungen wird jedoch nicht weiter erläutert. Kierkegaard bewegt sich innerhalb eines Rahmens. Seine Konzeption ist folglich ein methodischer Negativismus innerhalb eines übergrei­ fenden christlichen Paradigmas – mit Hintergrundannahmen, die Albert Camus nicht teilt. Wie Kierkegaard bietet auch Camus kein Kapitel, das das eigene methodische Vorgehen beschreibt, sondern im Laufe des Werks immer wieder kurze methodische Bemerkungen, die das Vorgehen teils selbst reflektieren, teils aber auch eine über Camus’ Selbstrefle­ xion hinausgehende Reflexion ermöglichen. Der Autor selbst benutzt den Begriff der Methode zunächst im Zuge der Entdeckung des Absur­ den, wenn er seine Methode als eine der Analyse, nicht der Erkenntnis bezeichnet, die vom Gefühl der Unmöglichkeit der Erkenntnis aus­ gehe (vgl. MS 21 f.). Für eine Interpretation des Mythos des Sisyphos als methodischer Negativismus ist jedoch der Übergang vom Kapitel ›Die absurden Mauern‹ zum Kapitel ›Der philosophische Selbstmord‹ entscheidend, an dem Camus sagt: »Ich will jedoch umgekehrt vor­ gehen« (MS 40). Ausgehend von der Diagnose der absurden Grund­ sie sich lediglich innerhalb des paradigmatischen Rahmens bewegt, innerhalb dessen Kierkegaard selbst sich bewegt. 872 Viertbauer interpretiert das ›Sichnichtselbstsogesetzthaben‹ explizit als Gefühl (vgl. Viertbauer 2017 92). 873 Es gibt in dieser Debatte offenbar zwei Maßstabsbegriffe: Kierkegaards negati­ vistisches Vorgehen, der Wirklichkeit ex negativo den Maßstab des Gesollten zu entnehmen, beruht auf »maßstäblichen Bedingungen« (Hühn (2004) 159). Die »grundlegende Schwierigkeit« (Hühn (2004) 158) des zweiten Maßstabsbegriffs ist, so die These der Arbeit, die für den Vergleich mit Camus philosophisch interessante. 874 Theunissen spricht hier explizit von einer »Prämisse« (Theunissen (1991d) 353) Kierkegaards.

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struktur der Existenz wird Camus keine »Urteile fällen und […] Schlüsse ziehen« (MS 40). Es gibt für ihn offensichtlich keinen direk­ ten methodischen Weg von der Entdeckung des Absurden zu einer Konzeption gelingenden Lebens. Vielmehr führt der Weg von diesem Punkt der Analyse zur Sisyphos-Interpretation, auf die Camus hinaus möchte, durch eine Reihe von Konzeptionen des Scheiterns hindurch, deren Analyse den Großteil des Werks ausmacht. Unter dem Begriff »Sprung« (MS 48) fasst Camus all diejenigen Konzeptionen, die an den impliziten normativen Forderungen der metaphysischen Wahr­ heit des Absurden scheitern und die Camus somit Negativfolien für seine eigene Konzeption bieten. Camus beschreibt den Sprung im Alltag, in der Vernunft- oder Systemphilosophie, in der »wesenhaft religiösen« (MS 47) Existenzphilosophie, aber auch in der Kunst und im Glauben an wissenschaftliche Erkenntnis (vgl. MS 119). Für den Sprung in der Existenzphilosophie führt Camus den Begriff »philo­ sophischer Selbstmord« (MS 57) ein und analysiert hier besonders Jaspers, Schestow, Kierkegaard und Husserl. Dabei sind es, gemäß Camus’ eigener Interpretation dieser Denker, insbesondere die Nega­ tion der Enttäuschung bei Husserl und die Negation der Erwartung bei Kierkegaard, die Camus zwei einander entgegengesetzte Nega­ tivfolien bieten, von denen Camus seine eigene Konzeption zu beiden Seiten hin abgrenzen kann. Seine negativistische Konzeption folgt der Struktur: ›So nicht!875 So auch nicht!‹ Es ist also ein doppeltes876 Sichabwenden-Müssen, von Husserl und von Kierkegaard, welches die Idee gelingenden Lebens des Mythos des Sisyphos negativistisch ein­ grenzt. Camus diagnostiziert »in beiden Fällen den Sprung« (MS 65), und führt genau diesen Negativbegriff mit dem Begriff der Aufklärung eng (vgl. MS 51). Der Weg der Erkenntnis führt durch Analyse und Reflexion der verkehrten Metaphysik, der »Metaphysik des Trostes« (MS 63). Wie Kierkegaard argumentiert auch Camus mit einer nichtsondern-Struktur: Er will auf dem Unbegreiflichen nichts gründen, sondern wissen, ob er mit dem, was er weiß, leben kann. Camus selbst beschreibt seine »Methode« (MS 71) als »hartnäckig sein« (MS 71). Es ist gerade die Übermacht der Aufforderung zum Sprung, die ihm durch sein Nein gegen sie die eigene Konzeption als Nicht-Springen 875 Das negativistische ›so nicht‹ unterscheidet sich hier von einem offenen »nun wähle« (Schwab (2014) 107). 876 Auch Kierkegaard arbeitet im synthesetheoretischen Durchgang der Krankheit zum Tode mit entgegengesetzten Negativbeispielen (vgl. dazu Theunissen (1991a) 50 f.).

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zu fassen ermöglicht. Dabei beschreibt Camus die Notwendigkeit der negativistischen Methode zunächst mit dem Komparativ »aufschluss­ reicher« (MS 46). Nichts sei aufschlussreicher als die Untersuchung falscher Schlussfolgerungen aus der Diagnose des Absurden (vgl. MS 46). Der Komparativ wird hier dadurch gesteigert, dass keine alterna­ tive Methode die aufschlussreichste ist. Andere methodische Ansätze können aber nichtsdestotrotz aufschlussreich sein. Auf diesen Kom­ parativ folgt später im Werk eine explizite Bewertung der negati­ vistischen Methode im Superlativ: »Und gerade an ihren [Bezug: Philosophie und Kunst] Abschweifungen und an ihrer Untreue habe ich am besten ermessen, was nur dem Absurden gehörte« (MS 126). Im Verfehlen der Forderung des Absurden zeigt sich ex negativo der Maßstab eines auf es gegründeten Gesollten. Dieser Superlativ wird im Folgenden bekräftigt: »Bisher haben uns die Fälle des Scheiterns gegenüber der absurden Forderung am besten verdeutlicht, worin sie besteht« (MS 135). Analyse und Reflexion des Scheiterns ist also die ausgezeichnete Methode zum Aufweis normativer Forderungen. Camus beschreibt sein Vorgehen auch als »die Kraft kennenzulernen und zu beschreiben, die sie [Bezug: philosophische Selbstmörder] auf den gewöhnlichen Weg der Illusion zurückführt« (MS 133), und benennt in diesem Kontext explizit dieses Vorgehen als »Methode« (MS 133), kann also die eigene methodisch-negativistische Vorge­ hensweise zu einem relativ hohen Grad als Methode reflektieren, auch wenn er sie nicht als solche benennen kann. Er benennt sie lediglich als »negatives Denken« (MS 147). Bemerkenswert ist hier die Verwen­ dung des naturwissenschaftlichen Grundbegriffs der Kraft. Es ist die Kraft, die den Denker zurück in die Verkehrung und Illusion führt, in deren Reflexion sich das eigentlich Gesollte als nein zu ihr zeigt. Ein weiteres Zitat, das diese Interpretation der Methode Camus’ unter­ stützt, lautet: »Man erkennt dessen [Bezug: das Absurde] Weg, indem man Wege aufdeckt, die sich von ihm entfernen.« (MS 146). Das Aufdecken des Verkehrten ist die Erkenntnis des Gesollten. Camus betont hier explizit die Pluralität der Gestalten der Verkehrung, die auf den Weg, auf die normative Forderung des Absurden deuten. Er selbst führt diese Methode nun explizit in seinem Kapitel zur Frage nach der Möglichkeit des wahren, sich im Verhältnis zum Absurden haltenden Kunstwerks durch. Dabei untersucht er zunächst abstrakt die Versuchung des Künstlers, in seinem Werk einen Sinn zu sehen, anstatt auf das Kunstwerk als Verkörperung des Absurden

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selbst noch einmal verzichten zu können, sich seiner Sinnlosigkeit bewusst zu sein (vgl. MS 128). Man könnte die gleiche Struktur in der Philosophie suchen und das Philosophieren über den Sprung selbst noch einmal mit Blick darauf untersuchen, ob es eine verdeckte Gestalt des Sprungs ist. Im Folgenden konkretisiert Camus die Negativbe­ trachtung der Kunst in der Interpretation Dostojewskis und Kafkas. Der Sprung bei Dostojewski liefert Camus, parallel zur Interpretation Husserls und Kierkegaards in der Philosophie, die Negativfolie für die eigene Konzeption (vgl. MS 144). Das absurde Werk liefert »dagegen« (MS 145) keine Antwort, wird hier also durch die Negativanalyse gefasst. Gleiches gilt für Camus’ Interpretation Kafkas, dessen Werk wir mit der »umgekehrten Methode« (MS 169) verstehen müssen. Das letztlich doch »religiös inspirierte« (MS 178) bietet Camus die Negativfolie, in Bezug zu welcher »[...] das wirklich verzweifelte Denken genau durch die entgegengesetzten Kriterien definiert wird [...]« (MS 178). Das Nichtvorhandensein der Größe des absurden Werks bei Kafka zeigt eben diese Größe (vgl. MS 179). Eine Parallele zu Kierkegaard sieht Camus in seiner Kafka-Inter­ pretation darin, dass er im Werk des Kopenhagener Philosophen und des Prager Schriftstellers das Scheitern und das Scheitern des Scheiterns verortet. Der Sprung ist verkehrt, und er misslingt dazu, »das vorgeschlagene Heilmittel nützt hier nichts« (MS 171). Die von Camus hier interpretierte doppelte Negativstruktur entspricht dabei der Figur des Misslingens des sich loswerden Wollens, also des misslingenden Misslingens, in Kierkegaards Krankheit zum Tode (vgl. KT 39). Im Kontext der Diskussion der drei Skizzen gelingender Lebens­ entwürfe – Don Juan, der Schauspieler, der Eroberer – formuliert Camus, im Gegensatz zu späteren Formulierungen im Komparativ und Superlativ, einen exklusiven Anspruch für die negativistische Vorgehensweise: »Die Verhaltensweisen, von denen die Rede ist, können nur bei Betrachtung der entgegengesetzten Haltungen ihren vollen Sinn entfalten« (MS 91, Hervorhebung JA). Alle drei Skizzen sind Gegenentwürfe, die nur von ihren Negativfolien her verständlich werden. Don Juan ist der Gegenentwurf zum illusorischen Glauben an die eine Frau (vgl. MS 93), der Schauspieler ist der Gegenentwurf zum theaterbesuchenden Alltagsmenschen (vgl. MS 102), zum Unver­ ständnis für die tragische Grundstruktur der Existenz. Der Eroberer ist der Gegenentwurf zu demjenigen, der vorgibt, über sicheres Wissen zu verfügen. Methodisch wäre auch eine Analyse der Gegenentwürfe

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der Gegenentwürfe möglich gewesen (vgl. MS 119), entscheidend ist also der Horizont der Interpretation. Die abschließende Interpretation des antiken Mythos des Sisy­ phos selbst ist ein Negativbeispiel der schlechten Wiederkehr des immer Gleichen als grausamste Strafe (vgl. MS 155), welches Camus im Horizont des vorangehenden Gedankengangs der Untersuchung quasi vor den Augen des Lesers wendet und aufgrund des aufrichtigen Verhältnisses zum Absurden als Grund von Existenz die Begriffe ›Augenblick‹ und ›Glück‹ (vgl. MS 160) beansprucht. Die Interpreta­ tion, die das Glück ausweisen will, setzt bei der schlimmsten Form des Unglücks an und sucht in ihm, weist die Erfahrung von Augenblick und Glück dort aus, wo der Alltagsmensch sie am wenigsten vermutet. Im Erobererkapitel ist es das Negative, die Gewissheit der Kraft, die den Einzelnen zerdrückt (vgl. MS 113 f.), und nicht das theoreti­ sche Erkennen, das Wahrheit und Wirklichkeit erschließt. Bestim­ mend ist die Praxis und das Leiden, das Negative ist das übergreifende Ganze. Methodisch-negativistisch zeigt Camus, wie sich Würde und Rechte des Einzelnen, also die Grundbegriffe der deontologischen Ethik, in ihrem permanenten Verletzt-Werden zeigen877 (vgl. MS 115). Es ist eben diese Verletzlichkeit des Einzelnen, seine Verwund­ barkeit, die die Brücke zum Anderen bietet (vgl. MS 116).878 Inter­ subjektivität ist damit kein für den skeptischen Solipsisten quasi unlösbares theoretisches Problem, sondern zeigt sich in der Negati­ vität der Wirklichkeit. Analog zu den Grundbegriffen der deontolo­ gischen Ethik werden im Mythos des Sisyphos auch die Grundbegriffe der klassischen Tugendethik negativistisch von ihrem Gegenteil erschlossen. In der Angst, die Husserl und Kierkegaard befangen macht (vgl. MS 65), zeigt sich, was Mut ist, was ein mutiges Verhältnis zum Absurden ausmacht. In der »Maßlosigkeit« (MS 55) der Hoff­ nung zeigt sich das menschliche Maß. Die Negativität des unbewuss­ ten alltäglichen Dahinlebens (vgl. MS 22) bietet die Negativfolie für das Wissen um die absurde Grundstruktur der Existenz. Das Ver­ letztwerden von Rechten, die Ungerechtigkeit (vgl. MS 115), ist, wie erläutert, Camus’ Ausführung zum Begriff der Gerechtigkeit. Es stellt sich die Frage, was zuerst kommt: Die negativistische Analyse, die vom Negativen her das Gesollte in den Blick gewin­ nen will, oder doch ein normativer Horizont, der das Negative erst 877 878

Schlette stellt diesen Aspekt bei Camus heraus (vgl. Schlette (2000) 17). Camus beginnt bei der Identifikation des Inhumanen (vgl. Corbic (2003) 227 ff.).

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als negativ klassifiziert. Camus wehrt sich mehrfach gegen eine Interpretation seiner Konzeption als negative Theologie, die durch den Ausschluss Gottes Gott bestätigt (vgl. MS 56 Fußnote). Es ist der letzte Versuch des Landvermessers in Kafkas Schloss, »Gott vermittels dessen Abwesenheit zu finden« (MS 175), und Camus interpretiert diesen Versuch als Sprung. Die paradoxale »Vermessung einer flächenlosen Göttlichkeit« (MS 177) der negativen Theologie, die Verortung Gottes in seiner Abwesenheit, ist der letzte Strohhalm, an der sich absurde Mensch, der verzweifelt nicht der sein will, der er in Wahrheit ist, zu klammern versucht. Es gibt für den Mythos des Sisyphos, so die These dieser Arbeit, nicht noch einmal eine große negativistische oder negativ-theologi­ sche Klammer. Gott ist hier nicht anwesend im Modus der Abwesen­ heit. Der absurde Mensch ist »ohne Gott« (MS 56). Trotzdem verneint diese Formulierung natürlich etwas, eine methaphysisch-ontotheolo­ gische Tradition, zu der sie damit in einem Verhältnis steht. Der Widerstand Camus’ gegen Gott, gegen die Antwort, nach der der Mensch verlangt, bezeugt kein Gottesverhältnis, da er sich außerhalb des Rahmens bewegt, innerhalb dessen sich der trotzig Verzweifelte oder Hiob bei Kierkegaard befinden.879 Angesichts der explizierten These, dass die nachmetaphysische Konzeption Camus’ aufgrund des Wertes der einen Wahrheit immer noch metaphysisch ist, ist es jedoch vielleicht vermessen zu behaupten, sich außerhalb dieses Rahmens zu bewegen. »Ich wartete auf Beweise und wünschte, sie [Bezug: die Vernunft] hätte Recht« (MS 32). Es scheint sogar die Gegenthese zur negativ-theologischen Inter­ pretation Camus’ möglich: Camus invertiert die negative Theologie. Es ist gerade das Religiöse, das auf das Sinnverlangen des Menschen und damit auf die eine konstitutive Seite des Absurden deutet, jedoch bereits im Modus des Sprungs und der Verdrängung der ursprüngli­ chen absurden Grundstruktur der Existenz. Kierkegaard deutet Ver­ zweiflung als Verkehrung eines Gottesverhältnisses, das sich in ihr bezeugt. Camus deutet Religiosität als Verkehrung eines Verhältnis­ ses zum Absurden, welches sich strukturgleich in ihr bezeugt. Festzuhalten bleibt: Beide Autoren gehen in ihrer Frage nach der Idee gelingenden Lebens methodisch-negativistisch vor, ohne dies jedoch in vollem Umfang selbst reflektieren zu können. Kierkegaards 879 Damit soll nicht bestritten werden, dass Camus nicht von den Traditionen des Christentums ›zehre‹ (vgl. Kodalle 1996 405).

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methodischer Negativismus mit theologischem Vorzeichen vor der Klammer geht davon aus, das Verkehrte umgekehrt verstehen, den Sinnentrug rückwärts auflösen zu können. Seine ethische Schrift zur Idee gelingenden Lebens ist eine Studie der Verzweiflung. Camus geht strukturell parallel vor. Das Gesollte zeigt sich durch Analyse und Reflexion des Scheiterns und des Scheiterns des Scheiterns. Die Erfah­ rung des Negativen erschließt Wahrheit, Wirklichkeit und Ethik. Für Camus ist die negative Theologie der letzte Strohhalm des absurden Menschen auf der Flucht vor sich selbst. Außerhalb der theologischen Klammer bietet seine Konzeption eine Inversion der negativen Theo­ logie. Das Phänomen des Religiösen zeigt das Absurde im Modus der Verkehrung. Die Strukturen, die Konzeptionen Kierkegaards und Camus’ sind auch hier parallel, ihre Differenz paradigmatisch.

5 Diskussion der Ergebnisse Das abschließende fünfte Unterkapitel diskutiert die Ergebnisse des Vergleichs der Konzeptionen, im ersten Schritt im Horizont der Thesen von Camus’ Kierkegaard-Interpretation, im zweiten Schritt im Horizont der zentralen Thesen der vergleichenden Forschung.

5.1 Camus’ Kierkegaard Camus’ Kierkegaard-Interpretation formuliert zwei zentrale Thesen: (1.) Kierkegaard hat das Absurde entdeckt. (2.) Kierkegaard macht den Sprung. Es soll nun gezeigt werden, dass vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung beide Thesen nicht korrekt sind. Camus beginnt seine Interpretation mit der These zu Kierke­ gaards Krankheit zum Tode als Beginn des in seinem Sinne absur­ den880 Denkens, die er jedoch sofort dahingehend abschwächt, Kier­ kegaards Werk sei zumindest der Beginn des wechselseitigen SichAblösens des irrationalen und des religiösen Denkens (vgl. MS 35). Es beginne, so Camus, das Denken gegen Rationalismus und Sys­ temphilosophie, das vom Negativen ausgeht. Es genügt allein ein 880

Vgl. A. Pieper (2000) 145.

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5 Diskussion der Ergebnisse

Blick in Schellings sogenannte Freiheitsschrift von 18881, um diese Thesen zu widerlegen, und dahingehend zu korrigieren, dass bereits im Idealismus gewichtige Vorarbeiten geleistet und Vorlagen geschaf­ fen wurden, auf die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aufbauen konnte und dies auch tat. Wenige Seiten später formuliert Camus dann die starke These, Kierkegaard habe das Absurde entdeckt, und nicht nur entdeckt, sondern gelebt. Camus geht dabei von einer Ent­ deckung und Entwicklung des Absurden aus, die sich im Ausgang von der Vergewisserung, dass keine Wahrheit absolut sei und der Ableh­ nung jedes Trostes hin zum Begriff des Dämonischen in der Krankheit zum Tode bewegt. Dabei interpretiert er die Pseudonymität882 Kier­ kegaards als Darstellung des Absurden (vgl. MS 38 f.). Camus inter­ pretiert hier etwa die Gleichzeitigkeit von Entweder-Oder und den Erbaulichen Reden als Beleg für das Absurde, während Kierkegaard genau diese Gleichzeitigkeit als Beleg für das Christliche hinter Ent­ weder-Oder deutet (vgl. ÜW 6). Camus’ Interpretation der Verzweiflungsschrift von 1849 als Ent­ deckung des 1942 in seinem Sinne Absurden ist nicht korrekt. Kier­ kegaards Schriften sind von Beginn an religiös und auf das ChristWerden gerichtet (vgl. ÜW 4 f.). Er interpretiert das Phänomen der Verzweiflung immer schon in einem christlichen Horizont, der das menschliche Selbst als Gottesverhältnis versteht (vgl. KT 32), und Verzweiflung als ein Missverhältnis dieses Verhältnisses. Absolute Wahrheit und Trost werden nie in dem Sinne aufgegeben, in dem Camus sie aufgibt – aufgeben muss –, sondern sind stets im Hinter­ grund präsent und tragen das Ganze noch einmal. Die Pseudonymität dient nicht der Darstellung des Absurden, sondern der indirekten Mitteilung des Christlichen. Camus glaubt, Kierkegaard sehe dieselbe absurde Grundstruktur der Existenz wie er, aber Kierkegaard sieht nicht dasselbe wie er, interpretiert Phänomene von vornherein in

Vgl. etwa Schelling, Freiheitsschrift 53 ff. Poole dagegen sieht genau hier eine Vielstimmigkeit und damit das Postmoderne (vgl. Poole (1998) 48).

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einem völlig anderen Kontext und teilt somit nicht den gemeinsamen Ausgangspunkt883, den Camus884 glaubt mit ihm zu teilen. In der zweiten zentralen These seiner Kierkegaard-Interpreta­ tion wendet Camus den Begriff des Sprungs, einen Schlüsselbegriff der Kierkegaardschen Kritik des Übergangs im Denken Hegels, gegen Kierkegaard. Der Vorwurf »Kierkegaard macht den Sprung« (MS 53) meint, dass Kierkegaard den »Übergang« (MS 52) vom Absurden im Sinne Camus’, dessen Entdeckung Camus Kierkegaard wie gezeigt fälschlicherweise zuschreibt, zum Religiösen nicht »rechtfertigen« (MS 53) könne. Seine verkehrte Schlussfolgerung885 aus der Entde­ ckung des Absurden sei die Flucht (vgl. MS 42). Gerichtet darauf, »der conditio humana zu entrinnen« (MS 54), gebe Kierkegaard, so Camus, die begrenzte Vernunft auf886 und vergöttliche das verblei­ bende Irrationale (vgl. MS 54). Das eigentlich immanente Absurde wird damit zum Charakteristikum der Transzendenz887 (vgl. MS 53), dem verkehrten Religiösen kommen die Prädikate des wahren Absurden zu (vgl. MS 57).888 Der absurde Mensch will nicht sein, wer er in Wahrheit ist, er will das Unmögliche. Von Angst befangen (vgl. 883 Die Arbeit teilt hier diverse Thesen über einen gemeinsamen Ausgangspunkt beider Denker nicht: Bowker sagt, Begriff und Idee des Absurden bei Camus’ könnten bis zu Kierkegaard zurückverfolgt werden (vgl. Bowker (2011) 82, Hervorhebung JA). A. Pieper sieht eine gemeinsam vorausgesetzte antinomische Struktur (vgl. A. Pieper (2014) 88) und die gemeinsame Entdeckung einer Aporie (vgl. A. Pieper (2011) 124). Richter sieht den gemeinsamen Ausgangspunkt beider Denker im Irrationalen (vgl. Richter (1959) 116). Berthold schreibt ihnen fälschlicherweise »shared grounds« (Berthold (2013a) 140, 148) zu. 884 Ebenso wenig teilt die Arbeit die These, Kierkegaards philosophische Leistung führe zur Auflösung des Christentums, in ein nihilistisches Vakuum, und mache ihn in diesem Sinne zum Vordenker Camus’ (vgl. Nordentoft (1973) 416 ff., vgl. dazu Deuser (1985) 21). Camus entnimmt Figuren aus einem Kontext, den Kierkegaard selbst unangetastet lässt. 885 Hüsch teilt diese Interpretation mit Camus gegen Kierkegaard (vgl. Hüsch (2014b) 58 f.). 886 Wesche würde Camus hier widersprechen und sieht genau in der Vernunftkritik bei gleichzeitigem Einfordern der Vernunft die Dialektik Kierkegaards (vgl. Wesche (2003) 19). 887 H. Schulz schreibt, Camus kritisiere die Bedeutung des Begriffs des Absurden bei Kierkegaard (vgl. H. Schulz (2011) 12). 888 Theunissen / Greve wenden gegen den Vorwurf Camus’, Kierkegaard habe das ursprünglich immanente Absurde in einen religiösen Kontext abstrahiert, ein, Camus sei unfähig, Kierkegaards dialektische Figuren nachzuvollziehen (vgl. Theunissen / Greve (1979) 73 f.). Dabei führt Theunissen jedoch den Begriff des Dialektischen bei Kierkegaard mit genau den theologisch-anthropologischen Voraussetzungen eng (vgl.

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5 Diskussion der Ergebnisse

MS 65) versucht er vergeblich zu verdrängen (vgl. MS 55), was das Menschsein889 ausmacht, und überschreitet dabei jedes menschliche Maß (vgl. MS 56). Kierkegaard suche einen Weg zurück in das Leben, den es so nicht gebe (vgl. MS 174). Der Sprung, den Camus Kierkegaard dabei zuschreibt, ist immer der Sprung in das Ewige (vgl. MS 145). Gegen diese Vorstellung des Sprungs fasst Camus seine eigene Konzeption gelingenden Lebens – methodisch-negativistisch – als sich auf dem schwindelnden Grat »in dem subtilen Augenblick vor dem Sprung« (MS 68) zu Halten. Camus richtet seine Interpretation an dieser Stelle offensichtlich gegen den ›Sprung‹ in Kierkegaards Furcht und Zittern (vgl. MS 57). In Furcht und Zittern meint der Begriff des Sprungs den Vollzug lediglich des ersten Teils der Doppelbewegung (vgl. FZ 213), den es gerade durch den Glauben »in Gang zu verwandeln« (FZ 219) gilt. Die oft falsch zitierte890 Formel eines ›Sprungs in den Glauben‹ kommt dagegen im Gesamtwerk Kierkegaards nicht ein einziges Mal vor. Als Sprung bei Kierkegaard in seinem eben explizierten Sinn inter­ pretiert Camus offensichtlich die Doppelbewegung aus Resignation und Glauben (vgl. FZ 212) als Flucht angesichts der vermeintlichen Ahnung der Bodenlosigkeit der Existenz (vgl. FZ 191, MS 57), als das in Camus’ Sinne Absurde, zur Ewigkeit. Diese Interpretation ist, wie mehrfach gezeigt, nicht korrekt. Kierkegaard entdeckt nicht das in diesem Sinne Absurde. Dazu verlegt die Doppelbewegung Abrahams das gelingende Leben gerade nicht ins Jenseits, sondern hier in diese Welt (vgl. FZ 212).891 Die Arbeit vertritt die These, dass der Glaube bei Kierkegaard durchaus ein Akt des Sprungs ist – aber genau nicht im Sinne des Gebrauchs des Begriffs bei Camus, sondern im Sinne von Kierke­ gaards Begriff des Sprungs. Diesen gilt es dazu kurz zu skizzieren: Im Begriff Angst ist der Begriff Sprung bei Kierkegaard Gegenbegriff zu seiner Interpretation des Übergangs bei Hegel als »quantitativen Theunissen (1991a) 36 f.), die, so eine zentrale These dieser Arbeit, Camus nicht mehr teilt. 889 A. Pieper schreibt, Camus werfe Kierkegaard Verrat am Menschen vor (vgl. A. Pieper (2000) 145). 890 Für eine Fehlinterpretation eines rettenden Sprungs in den Glauben bei Kierke­ gaard vgl. Wendel (2011) 165. 891 Hier liegt laut Sagi das Missverständnis Camus’: Glaube ist bei Kierkegaard weder Heilung noch Flucht aus der Welt (vgl. Sagi (2002) 69 f., vgl. dazu auch Berthold (2013a) 148).

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Bestimmungen« (BA 477), bei denen das Zukünftige als aus dem Bis­ herigen kontinuierlich hervorgehend gedacht wird und das wirklich Neue – so Kierkegaard – nicht denkbar ist, da »das Neue durch den Sprung kommt« (BA 542). Der Einzelne nimmt, indem er in seiner Freiheit Möglichkeiten verwirklicht (vgl. BA 575), »im Sprung der Qualität« (BA 477) an der Geschichte teil. »Der qualitative Sprung ist ja die Wirklichkeit [...]« (BA 575). »Die Geschichte des individu­ ellen Lebens verläuft in einer Bewegung von Zustand zu Zustand. Jeder Zustand wird durch einen Sprung gesetzt« (BA 577). Sprung ist also Kierkegaards Grundbegriff der Wirklichkeit, die durch den qualitativen Sprung des Einzelnen »gesetzt« (BA 590) ist. Es ›gibt‹ kein reibungsloses Übergangsgeschehen. Der Sprung ist der Über­ gang zwischen zwei Augenblicken in der Zeit, zwischen vorher und nachher. »Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann« (BA 512). Zeit und Wirklichkeit sind dabei letztlich nicht mit den Mitteln der Differenzialrechnung und ihren »winzigen Minimalgrößen« (BA 474) zu begreifen. Das Leben ist etwas anderes als diese Hilfskonstruk­ tion der Mathematik. Der Kreis ist nicht in gerade Linien zerlegbar (vgl. BA 475). Er ist rund. Dieses Runde entzieht sich auf seiner Mikroebene, und genau das macht es als wirklich aus. Es gibt keinen kontinuierlichen Übergang von einem zum nächsten. In den Philosophischen Brosamen wird Kierkegaards Begriff des Sprungs als Grundbegriff der Wirklichkeit noch deutlicher. Der »kleine Augenblick, wie kurz er auch sei« (PB 55), die Mikroebene von Zeit und Wirklichkeit, muss als »Sprung« (PB 55, Hervorhebung SK) gedacht werden. Kierkegaard erläutert dies am Paradox der Bewe­ gungsantinomen und dem Begriff der Momentangeschwindigkeit, dem Versuch Bewegung »in Qualität zum Stehen zu bringen« (PB 55). Die These ist, gegen Hegels dialektische Auflösung der Bewe­ gungsantinomien im Werden als ihrer Synthese, dass der Übergang letztlich unbegreiflich ist und als Sprung gedacht werden muss. Dabei ist Kierkegaard begrifflich nicht eindeutig, ob sich der Sprung in der Pause des Augenblicks (vgl. PB 96) oder, wie eben zitiert, zwischen zwei Augenblicken (vgl. BA 512) vollzieht. Werden ist für Kierkegaard genau nicht, wie für Hegel, Kontinuität, sondern »Abbrechen der Kontinuität« (PB 99). Wenn Kierkegaard schreibt, dass man den Schluss »von der Ursache auf die Wirkung […] vom Grund zur Folge« (PB 99) nicht wahrnehmen oder erkennen könne, sondern glaube, dann tritt der Sprung hier an die Stelle der Verstandesbegriffe

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der Transzendentalphilosophie in der fundamentalen Theorie der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist diskontinuierlich, sie ist auf der Mikroebene Sprung. Kausalität ist Sprung.892 Glaube893 als Negation der Möglichkeit der Verzweiflung ist damit Sprung, aber nicht im Sinne Camus’, sondern im Sinne Kierkegaards, weil jeder Übergang Sprung ist.894 Kierkegaard macht nicht den Camus’schen Sprung, sondern den Kierkegaardschen Sprung. Die Arbeit stützt prinzipiell Camus’ Ansatz, Kierkegaard von dessen christlichem Spätwerk her zu interpretieren. Sie stimmt der These zu, dass das im Spätwerk herausbrechende Christliche in gewis­ sem Sinne überall in seinem Werk präsent ist, jedoch nicht in der Interpretation Camus’ einer »Ahnung« (MS 53) vor der »Wahrheit« (MS 53) des Absurden im Sinne Camus’ und einem ungerechtfertigten Sprung in den Glauben, sondern, wie schon mehrfach erläutert, in der Interpretation eines paradigmatischen Rahmens. Innerhalb eben die­ ses Rahmens ist der Glaube paradox, weil das Paradoxon der Mensch­ werdung Gottes letztlich für den Verstand unbegreiflich ist, und zahl­ reiche Formulierungen laden vielleicht zu einer Interpretation eines unsicheren und mit Risiko behafteten Übergangs (vgl. etwa PB 55, PB 99 f.) ein. Aber innerhalb eines Paradigmas, das von der absurden Wahrheit der Menschwerdung Gottes ausgeht, ist der Glaube viel­ leicht absurd, aber er ist nicht in dem Sinne ungerechtfertigt895, den Camus Kierkegaard vorwirft. Der Rahmen rechtfertigt ihn. Kierkegaard geht von anderen Voraussetzungen aus. Sein Aus­ gangspunkt ist nicht das Absurde Camus’ und die »conditio humana« (MS 54) des absurden Menschen. Kierkegaard geht vom Menschen­ bild des Gesetzt-Seins aus.896 Argumentativ ist sein Übergang von theologisch-anthropologischen Voraussetzungen zum Glauben zir­

892 Daphnes Einwand, Kierkegaard habe keinen Sinn für das Faktum des Kausalnexus und falle daher epistemologisch hinter uns zurück (vgl. Daphne (2013) 5) trifft hier nicht. Kausalität ist auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht einfach ein Faktum. 893 Stewart weist zurecht darauf hin, dass Camus’ Darstellung des Glaubens bei Kierkegaard als ›Lösung‹ wenig mit dem Begriff des Glaubens bei Kierkegaard gemein hat (vgl. Stewart (2009) 442). 894 Sprung ist »Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit« (Malantschuk (1971) 81). 895 »Illusionistisch fundiert« (Kann / Victor (2017) 231) sind Kierkegaards Transzen­ denzannahmen für Camus, nicht aber für Kierkegaard selbst. 896 Der Vorwurf Camus’ des Verrats am Menschen durch Kierkegaard (vgl. A. Pieper (2000) 145) trifft daher nicht.

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kulär, aber nicht inkonsequent oder unberechtigt.897 Die Differenz898 der Konzeptionen Kierkegaards und Camus ist nicht »fliehen oder bleiben« (MS 42), sondern eine paradigmatische Differenz von 100 Jahren899, der Camus in seiner Interpretation nicht gerecht wird. Die Arbeit weist also beide zentralen Thesen der Kierke­ gaard-Interpretation Camus’ zurück. Kierkegaard entdeckt nicht das Absurde im Sinne Camus’. Sein Übergang zum Glauben ist nicht Sprung im Sinne Camus’, sondern Sprung im Sinne von Kierkegaards Konzeption einer auf der Mikroebene diskontinuierlichen Wirklich­ keit. Der Übergang zum Religiösen ist absurd im Sinne Kierkegaards, aber nicht ungerechtfertigt im Sinne Camus’, sondern innerhalb seines paradigmatischen Rahmens hermeneutisch zirkulär. Camus schafft sich einen eigenen Kierkegaard als Gegenposition in seiner Zeit.900 Seine Interpretation wird der Position des 100 Jahre vor ihm schrei­ benden Dänen nicht gerecht.

5.2 Inversionsthesen Im zweiten Schritt des Diskussionskapitels sollen nun nach der Kier­ kegaardinterpretation Camus’ auch beide Spielarten der Inversions­ these als den Hauptstörmungen der vergleichenden Forschung zum Verhältnis beider Denker zurückgewiesen werden. Die Varianten der Inversionsthesen besagen: (1.) Die Position Camus’ entspricht dem

897 Hier teilt die Arbeit die Interpretation A. Piepers, Camus interpretiere Kierke­ gaard als Angriff auf die Vernunft, Kierkegaard gehe aber von religiösen Prinzipien aus (vgl. A. Pieper (2014) 88, 90). 898 Viertbauers Interpretation, die Differenz der Konzeptionen liege in einer the­ istischen gegenüber der atheistischen Deutung eines Abhängigkeitsgefühls (vgl. Viertbauer (2017) 99), greift hier zu kurz. 899 »In unserer Generation ist das nicht mehr möglich, was vor 100 Jahren für Kierkegaard der einzig mögliche Rettungsweg war« (Richter (1959) 132). 900 Damit teilt die Arbeit die These Sagis, Camus’ einzigartige Kierkegaard-Inter­ pretation missverstehe Kierkegaard und sage mehr über Camus’ Position selbst aus als über Kierkegaard (vgl. Sagi (2002) 69 f.).

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ästhetischen Stadium901 bei Kierkegaard.902 (2.) Die Position Camus’ entspricht der dämonischen Verzweiflung bei Kierkegaard. Wie bereits dargestellt gibt es große thematische und begriffli­ che Schnittmengen des Ästhetischen Stadiums bei Kierkegaard und des absurden Menschen bei Camus. Wie Camus diagnostiziert der Ästhetiker A eine fundamentale Bodenlosigkeit der Existenz (vgl. EO 33, vgl. dazu MS 14) als Diskrepanz zwischen Erwartung und Gebotenem (vgl. EO 34, vgl. dazu MS 67), von der aus er das alltägliche Dahinleben kritisiert (vgl. EO 44, vgl. dazu MS 76) und die Frage nach der Konsequenz des Selbstmords stellt (vgl. EO 48, vgl. dazu MS 14). Religiosität wird zur Lösung im irrealen Konjunktiv (vgl. EO 48, vgl. dazu MS 90). Die gleiche Parallele zeigt sich auch in der Diagnose von »Leere« (EO 338, vgl. dazu MS 22) und »Abgrund« (EO 338, vgl. dazu MS 38) des Ästhetikers in der ›Wechselwirtschaft‹ in Entweder-Oder.903 Auch die Schnittmenge der Position Camus’ mit den Briefen des jungen Mannes (vgl. WH 410) wurde bereits skizziert, der Daseinsekel (vgl. MS 25) und die Fremdheit des eigenen Ichs und der Welt (vgl. MS 24).904 Der Haupteinwand dieser Arbeit gegen diese erste Fassung der Inversionsthese besteht in der ebenfalls schon ausführlich dargestell­ ten paradigmatischen Differenz der Konzeptionen. Das Ästhetische in Entweder-Oder und in der Wiederholung ist von Vornherein auf das Religiöse hin konzipiert (vgl. ÜW 4, WH 436), in einen Rah­ men eingebettet, der theologisch-anthropologische Voraussetzungen macht.905 Das Bodenlose ist bei Kierkegaard am Ende nicht die Wahrheit über das Leben, bei Camus schon. Will man Camus’ Begriff

In der Forschung wird für die Fassung dieser These als Hauptströmung der Forschung häufig auf Golomb verwiesen (vgl. Berthold (2013a) 137). Für Golomb markieren Kierkegaaard und Camus den Beginn und das Ende des Denkens der Authentizität, wobei Camus ein in vielerlei Hinsicht invertierter Kierkegaard sei (vgl. Golomb (1995) 1, 168, 178). 902 »Camus’ Haltung ist die des reinen ästhetischen Stadiums nach Kierkegaard, mit allen Konsequenzen« (Richter (1959) 121, Hervorhebung JA). 903 Zu Anknüpfungspunkten Camus’ bei Kierkegaards Ästhetiker A vgl. Thurnherr (2004) 263 f. 904 Sagi führt die Erfahrung der Entfremdung des jungen Mannes mit dem Absurden Camus’ eng (vgl. Sagi (2000) 18). 905 In diesem Sinne teilen der Ästhetiker A und Camus nicht, wie Thurnherr argu­ mentiert, denselben Kompass (vgl. Thurnherr (2004) 264). Der Ästhetiker bewegt sich, um im Bild zu bleiben, in einem anderen Feld. 901

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des Absurden gebrauchen, dann steht der absoluten Absurdität bei Camus eine relative Absurdität bei Kierkegaard gegenüber.906 Aber auch jenseits dieser großen Differenz sind die Konzeptio­ nen im Detail durchaus verschieden. Als eine, vielleicht die, zentrale Form der Kunst bietet die Musik, und sind es nur zwei Geigenstri­ che, dem Ästhetiker A »für Augenblicke« (EO 40) »Freude« (EO 40) und Entlastung von Lärm und Betriebsamkeit des Alltags. Die Musik kann Mauern durchdringen, die die Strahlen der Sonne – philosophiegeschichtlich Metapher für die Idee der Ideen – nicht durchdringen können (vgl. EO 53). Dagegen ist die Musik bei Camus ein ausgezeichnetes Beispiel seiner Idee von Kunst als Verkörperung des Absurden. Es ist ihre »Grundlosigkeit« (MS 130), ein »Spiel des Geistes mit sich selbst« (MS 130), in dem der absurde Mensch das ihm Wesentliche wiederentdeckt. Die »absurden Mauern« (MS 20) sind undurchdringlich. Auch die in ihrer Struktur beinahe postmoderne Position des Ästhetikers der ›Wechselwirtschaft‹ in Entweder-Oder, der sich die Mitte eines Theaterstücks ansieht und den dritten Teil eines Buches liest, um die ursprüngliche Intention des Autors für neue Interpreta­ tionen zu öffnen (vgl. EO 348), entspricht keineswegs der Position Camus’, der am metaphysischen Begriff der Wahrheit festhält, für den wahre Kunst in ihrer Metaphorik eindeutig auf das Absurde deutet (vgl. MS 150), und damit genau nicht für das freie Spiel der Deutun­ gen geöffnet wird. Die Leichtigkeit des Ästhetikers, »künstlerisch zu leben« (EO 340) und »mit dem ganzen Dasein Federball zu spielen« (EO 341) ist für Camus keine aufrichtige Position. Camus löst in der Sisyphos-Interpretation die vom Ästhetiker am Beispiel des Schei­ terns der Idee von Wachstum und Expansion kritisierte »schlechte Unendlichkeit« (EO 339), der der Ästhetiker durch Variation (vgl. EO 347) als Prinzip der Wechselwirtschaft zu entgegnen versucht, genau nicht durch das postmoderne Spiel, sondern durch die Umdeutung des Sisyphos als exemplarische Figur schlechter Unendlichkeit im Horizont der metaphysischen Wahrheit des Absurden als gelingen­ des Lebens. Dazu ziehen beide Positionen, Der Mythos des Sisyphos und die ›Diapsalmata‹ in Entweder-Oder, entgegengesetzte Konsequenzen aus ihrer jeweiligen Diagnose der Bodenlosigkeit. Den Schlussfolge­ Zur Zurückweisung dieser Fassung der Inversionsthese in der Forschung vgl. Stan (2011) 85.

906

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5 Diskussion der Ergebnisse

rungen Camus’ von Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft (vgl. MS 84) steht die Handlungsunfähigkeit des Ästhetikers A gegenüber. A fühlt sich im Zustand der Belagerung (vgl. EO 30), wie eine Schachfi­ gur (vgl. EO 30), die auf den ersten Blick frei scheint, jedoch aufgrund der Konstellation, in der sie sich befindet, nicht bewegt werden kann. Die Einsicht in das Negative fesselt ihn (vgl. EO 45), während sie bei Camus den absurden Menschen von seinen »Fesseln« (MS 32) befreit, ihm durch die Aufklärung über seine Fesseln seinen eigentlichen Spielraum aufzeigt und einen »Zuwachs an Beweglichkeit« (MS 76) verschafft. Der handlungsfähige Dichter in Kierkegaards Wiederho­ lung wird, entgegen seinem eigenen Selbstverständnis, immer von einem unaussprechlichen religiösen Untergrund getragen (vgl. WH 438). Die rein ästhetische Deutung der Doppelbewegung entlarvt Constantius als Missverständnis. Dagegen ist der absurde, schöpfe­ rische Mensch bei Camus nicht religiös-getragen, aber produktiv. Dem Ästhetiker A gelingt es genau nicht, entsprechend der zentralen Figur in An einem Grabe die Gegenwart des Todes im Leben in einen Motor für ein gelingendes Leben umzuwandeln. Bei Camus gelingt dies schon. Der Ästhetiker weist dabei durchaus Züge dämonischer Verzweiflung auf (vgl. EO 52).907 Dies wird bei Camus im Folgenden als zweite Variante der Inversionsthese zurückgewiesen. Analog zum Ästhetischen gibt es auch zwischen dem Dämoni­ schen bei Kierkegaard und dem absurden Menschen zunächst ein­ mal augenscheinlich eine große Schnittmenge.908 Der dämonisch Verzweifelte ist zugleich dem gelingenden Leben sehr nah und sehr fern (vgl. KT 99). Er leidet bewusst an der Negativität des Lebens, will sich jedoch angesichts der extremen Erfahrung des Negativen »nicht vom Ewigen trösten und heilen [lassen]« (KT 103), keine Hilfe bei Gott suchen (vgl. KT 104). Er will nicht glauben (vgl. KT Gemäß Hackel schließe sich Camus der Auffassung A’s an, schlussfolgere jedoch das Gegenteil. Sie interpretiert dabei aber A als dämonisch verzweifelt und folgt damit der zweiten Fassung der Inversionsthese (vgl. Hackel (2011) 404 f.). Auch Richter deutet diese Engführung implizit an (vgl. Richter (1959) 121). Indem Berthold den Menschen Søren Kierkegaard mit dem dämonisch Verzweifelten und dem Dichter aus Entweder-Oder engführt (vgl. Berthold (2013a) 146) teilt er ebenfalls diese These. 908 Janke und Stan vertreten diese Fassung der Inversionsthese und dazu in der Frage nach dem gelingenden Leben die Position Kierkegaards (vgl. Janke (1982) 33). Stan stützt diese Fassung der Inversionsthese mit Verweis auf die affirmative Verwendung des Metaphysikbegriffs durch Camus (vgl. Stan (2011) 88). Camus’ Metaphysik ist jedoch über die Frage nach der Wahrheit hinaus rein negativ. Auch Berthold vertritt im Übrigen diese Fassung der Inversionsthese (vgl. Berthold (2013b) 145 f.). 907

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61), nicht die Doppelbewegung von Verlust und Gewinn vollziehen, und ihm ist vollkommen bewusst, was er da tut (KT 100). Diese Gestalt der Verzweiflung potenziert sich zum Dämonischen (vgl. KT 105). Camus konzipiert in der Tat das gelingende Leben explizit als Entscheidung gegen Gott (vgl. MS 108, MS 167 Fußnote) und für das eigene Selbst. Er interpretiert das Angebot der Religionen als Aufforderung zum Sprung in das Falsche (vgl. MS 71), gegen das der absurde Mensch er selbst sein muss. Die paradigmatische Differenz liegt nun selbstverständlich wiederum darin, dass die Entscheidung für das Christentum, das Glauben-Wollen bei Kierkegaard, die Ent­ scheidung des von Gott gesetzten Menschen für das Wahre meint und für das, was er in Wahrheit ist. Dagegen ist bei Camus die Entscheidung des absurden Menschen gegen Gott strukturanalog die Entscheidung für das Wahre und das wahre Selbst. Camus erkennt die Religionsbedürftigkeit des Menschen und entscheidet, gegen diese, für die Wahrheit. In der zentralen Schreibfehlermetapher am Ende des ersten Teils der Krankheit zum Tode (vgl. KT 108) setzt Kierkegaard einen Grund und einen Maßstab voraus, den Camus nicht teilt. Wie in den vorangegangenen Ausführungen zum Ästhetischen liegt auch mit Blick auf das Dämonische bei Kierkegaard der Unter­ schied, neben der großen paradigmatischen Differenz, ebenfalls im Detail. Der trotzig Verzweifelte bei Kierkegaard will »sich selbst schaf­ fen« (KT 100), sich »selbst konstruieren« (KT 101), anstatt in sich seine Aufgabe zu sehen. Nun konzipiert Camus das gelingende Leben aber gerade als Rückkehr in die alltägliche Welt, die Auflehnung ist eine innere, bewusst-wache Haltung (vgl. MS 70). Der metaphorische Stein des Sisyphos ist gerade nicht selbst geschaffen, sondern eine – von den Göttern – gegebene Aufgabe, die der einzelne Mensch in seinem Leben als seine erkennt und annimmt. Dass der Mensch, dem der Grund seines Daseins fehlt (vgl. KT 102), im Sinne einer causa-sui-Figur sich selbst schaffen, Grund seiner selbst sein will, trifft vielleicht auf das Für-sich-Sein in Sartres Das Sein und das Nichts zu909, nicht aber auf den absurden Menschen bei Camus.910 Ein weiteres Charakteristikum des dämonischen Verzweifelten bei 909 Vgl. Sartre, SN 175 ff. Sartre deutet die dämonische Verzweiflung Kierkegaards, das Wollen des Unmöglichen im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit, um als tragische Vollendung der Menschlichkeit (vgl. Theunissen (1993) 55). 910 Richter betont, der Mensch habe bei Camus keinen im Grunde freien Daseinsent­ wurf, den Sartre postuliere (vgl. Richter (1959) 135).

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Kierkegaard ist, dass er Recht behalten will, dass er sich in seinem Widerstand gegen Gott anderen Menschen überlegen fühlt (vgl. KT 106). Camus wünscht gerade nicht, Recht zu haben. Er wünscht, dass die Vernunftphilosophie Recht hätte (vgl. MS 32), oder dass die Entscheidung für Gott für den absurden Menschen eine Option wäre. Der Tod Gottes ist eine »bittere Feststellung« (MS 90). Camus will nicht Recht haben. Camus befürchtet, Recht zu haben (vgl. MS 40), wäre sofort bereit, sich, wenn für ihn nachvollziehbar, vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Kierkegaard würde diesen Vorwurf gegen Camus aufrecht erhalten, aber dieser Vorwurf ist kontextrelativ. Des Weiteren ist der dämonisch Verzweifelte bei Kierkegaard »rastlos und tantalisch damit beschäftigt, er selbst sein zu wollen« (KT 107). Der Mythos des Dämonischen ist der Mythos des Tantalos. An dieser Stelle ist der Mythos des Sisyphos genau ein Gegenmythos gegen das Tantalische911, gerade weil Camus explizit den Rückweg und die Pause des Sisyphos betont (vgl. MS 157), die die Interpretation des Augenblicks und des Glücks ermöglichen.912 Nur weil es diese Pausen gibt, ist der Mythos im Kontext von Camus’ Idee eines gelingenden Lebens ein fruchtbares Bild. Kierkegaard interpretiert das Dämonische als nicht losgerissen von Gott, sondern gegen Gott gerichtet (vgl. KT 107), und diesen Protest gegen Gott (vgl. KT 108) negativ-theologisch als Gottesver­ hältnis. Camus wehrt sich dagegen, wie gezeigt, explizit gegen eine negativ-theologische Deutung, deren Voraussetzungen er nicht teilt. Kierkegaard selbst bewegt sich nur dann innerhalb der Konzeption Hegels, wenn wir das Hegelsche System voraussetzen.913 Analog zur These Ricœurs gegen die Verortung Kierkegaards bei Hegel bewegt sich Camus nur dann innerhalb des Denkens Kierkegaards, wenn wir dessen Standpunkt immer schon voraussetzen.914 Da das nicht der Fall ist, da sich Camus außerhalb des paradigmatischen Rahmens Kierkegaards bewegt, sind beide Versionen der Inversionsthese nicht In der Odyssee folgt der Mythos des Sisyphos direkt auf den Mythos des Tantalos (vgl. Homer, Odyssee 206 (Elfter Gessang, Vers 582–311)). 912 Physisch müde wird demnach nicht, wie Zimmermann meint, Sisyphos (vgl. Zimmermann (2004) 77), sondern Tantalos. 913 Die Verortung der Position Kierkegaards als das unglückliche Bewusstsein in Hegels Phänomenologie des Geistes (vgl. Hegel, PhG 163 f.) ist nur dann korrekt, wenn das Hegelsche System, wie Ricœur es formuliert, »existiert« (Ricœur (1979) 590). 914 Die Arbeit weist damit die These Stans zurück, das authentische Selbst bei Camus sei geisteskrank und mittels der Kategorie des Dämonischen bei Kierkegaard verstehbar (vgl. Stan (2011) 85). 911

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korrekt. Gegen beide Spielarten der Inversionsthesen möchte die Arbeit die am Ende des vierten Unterkapitels skizzierte Inversion der negativen Theologie durch Camus als sozusagen eigene Inversi­ onsthese vorschlagen. Bei Camus zeigt sich nicht im Absurden die Anwesenheit Gottes als Trotz gegen Gott im Modus der Abwesenheit, sondern Camus entdeckt im Religiösen das Absurde im Modus des Verkehrten und Verdrängten. Die Arbeit weist also beide Fassungen der Inversionsthese zurück, sowohl aufgrund des paradigmatischen Rahmens als auch Aufgrund von Differenzen im Detail. Die Differenz Camus’ zum Ästhetiker A liegt in erster Linie in der Theorie der Kunst. Musik kann die Mauern des Ästhetikers A durchdringen, die Mauern Camus’ sind dagegen undurchdringlich. Auch ist das Federballspiel aus der Wechselwirtschaft keine Antwort auf das Leben im Sinne Camus’. Kierkegaards causa-sui-Vorwurf gegen den dämonisch Verzweifelten trifft Camus nicht. Camus will nicht Recht haben, sondern befürchtet, Recht zu haben, und formuliert mit dem Mythos des Sisyphos einen Gegenmythos gegen das Tantalische. Gegen die Inversionsthesen der vergleichenden Forschung schlägt die Arbeit die Inversion der negativen Theologie durch Camus als eigene Inversionsthese vor.

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Ausblick

Die Arbeit hat ihr Thema klar eingegrenzt und diese Eingrenzung gerechtfertigt. Als erste Monographie der vergleichenden Forschung soll sie einen Ausgangspunkt für zukünftige vergleichende For­ schung bieten. Ein dringendes Forschungsdesiderat ist eine vergleichende Stu­ die zum Begriff der Wiederholung bei Kierkegaard und Camus, die den Rahmen dieser Untersuchung gesprengt hätte. Eine verglei­ chende Studie der Interpretationen des Don-Juan-Mythos im Werk beider Denker sollte unter Einbeziehung der Archivbestände in Aixen-Provence prüfen, ob es jenseits der Fragmente im veröffentlichten Werk915 weitere Ausarbeitungen Camus’ zu dieser Thematik gibt. Dazu sollte auch der Ansatz verfolgt werden, jenseits der Frage nach dem gelingenden Leben und der expliziten Auseinandersetzung wei­ tere Parallelen im Werk beider Denker aufzuspüren, gegebenenfalls mit einem Forschungsansatz, der auch Tagebuchaufzeichnungen und Manuskripte mit einbezieht. In Camus’ Mensch in der Revolte etwa tauchen existenzphilosophische Figuren in veränderter Gestalt in neuen Kontexten wieder auf. Das Wissen um den Tod wird zum Wis­ sen um das Gemordetwerden.916 Ebenso fehlt eine gründliche Studie, die die Sekundärrezeption Kierkegaards durch Camus, insbesondere über Schestow917, rekonstruiert und untersucht. Ein weiteres Deside­ rat, das die interdisziplinäre Brücke zur Literaturwissenschaft schlägt, ist die Frage, inwiefern der in dieser Arbeit vorgeschlagene Ansatz auch für das literarische Werk Camus’ und dessen hochkomplexe Metaphorik fruchtbar gemacht werden kann. Auch im literarischen Werk Camus’ ist der Tod allgegenwärtig918, man denke an den Selbst­ mord der jungen Frau im Fall, den Tod Unschuldiger in der Pest, oder seine dreifache Präsenz im Tod der Mutter, dem Mord und der Hin­ 915 916 917 918

Vgl. Zimmermann (2004) 76. Vgl. Schaub (1968) 15, vgl. dazu auch Hoinski (2018) 133. Vgl. Janke (1982) 85. Vgl. Berthold (2013b) 142.

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Ausblick

richtung im Werk Der Fremde.919 Dazu könnte zukünftige Forschung den Dialog erweitern und etwa über die Begriffe des Dissonanten und der Auflehnung920 das Gespräch mit Adorno suchen. In unserer Zeit, also im Ausgang des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, übersteigen moralische Fragen zunehmend die Sphäre des Einzelhandelns. Im Zeitalter der Globalisierung und des Anthropozän921 wirken Handlungen kumulativ kausal.922 Einerseits macht dies Einzelhandlungen in gewissem Sinne kausal unwirksam. Andererseits ist es nun denkbar, dass bestimmte Einzelhandlungen moralisch neutral oder sogar richtig sind – einmal angenommen, es ließe sich in dieser Form über das normativ Gesollte sprechen –, in ihrer Summe, d.h. in ihrem kumulativen Effekt, aber negativ.923 Diese neue Dimension der Praxis fordert eine Institutionenethik.924 Hier entsteht ein Übergangsproblem vom negativen Status Quo zu einer gerechteren globalen institutionellen Ordnung und genau hier, so der Vorschlag, können die höchst individuellen Fragestellungen nach dem gelingenden Leben des Einzelnen bei Kierkegaard und Camus einen substantiellen Beitrag zur Debatte leisten: Die konkrete Pflicht des Einzelnen in diesem Übergangsgeschehen entzieht sich der moralphilosophischen Abstraktion. Diese muss jeder für sich selbst entdecken. Die Frage nach dem gelingenden Leben des Einzelnen bleibt dabei relevant, sie geht genau nicht in einer abstrakten Mensch­ heitsherausforderung auf und ist in wichtiger Hinsicht unabhängig vom Verlauf des Ganzen. Kierkegaard und Camus teilen dabei eine Skepsis gegenüber jedem neuen Großentwurf. Es ist vielleicht nur »zu retten, was sich retten lässt [...]« (MR 342).

Zu Parallelen von Furcht und Zittern und Der Fremde vgl. Golomb (1995) 4, zur Krankheit zum Tode und Der Fall vgl. Reichenbach (1976) 232. 920 Vgl. Adorno, ND 15, 28, vgl. dazu Theunissen (1983) 44. 921 Vgl. Crutzen / Stoermer (2000) 17 f. 922 Vgl. Jonas, PV 27, 37. 923 Vgl. Steigleder (2006) 8. 924 Vgl. Jonas, PV 37, vgl. auch Theunissen (1991d) 31. 919

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Primärliteratur Siglen Albert Camus HL

Hochzeit des Lichts (1950)

MR

Der Mensch in der Revolte, Essays (1951)

MS

Der Mythos des Sisyphos (1942)

Søren Kierkegaard AG

An einem Grabe (1844)

AUN Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift (1845) BA

Der Begriff Angst (1844)

EG

Eine Gelegenheitsrede von S. Kierkegaard (1847)

EO

Entweder-Oder (1843)

FZ

Furcht und Zittern (1843)

KT

Die Krankheit zum Tode (1849)

PB

Philosophische Brosamen (1844)

ÜW

Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1851)

WH

Die Wiederholung (1843)

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