Körper/Denken: Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film 9783205794004, 9783205796282


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Körper/Denken: Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film
 9783205794004, 9783205796282

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mdw Gender Wissen Band 6 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Körper/Denken Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

2016 Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Dr.in Nikola Langreiter, Lustenau Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Prime Rate Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79628-2

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Einleitung 7

Andrea Seier Entkörperung/Verkörperung  : Neuere Ansätze des ­Körper-Denkens in Film- und Medienwissenschaft 17

Birgit Flos ›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ? 33

Barbara Gronau Askese als Norm. Zur Hungerkunst als Theater und Selbstexperiment 53

Brigitte Borchhardt-Birbaumer Häute – Hüllen – Handlungen. Auftritte von Wiener Aktionistinnen 1970–1983 69

Ursula Hofrichter Stimme und Begehren 89

Christa Brüstle Interpretinnen in der zeitgenössischen Musik – Körper, Stimmen, Medien 107

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Inhaltsverzeichnis

Sigrid Schmitz Gehirnoptimierung – (k)ein geschlechtsloses Feld  ? 127

Autorinnen und Herausgeberinnen 145

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Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Einleitung Der Körper ist Materie, form- und wandelbar in allen Künsten. Er ist Masse, Raum, Stoff, Substanz, Erde. Greifbar, nah, frisch, welk, hart, weich, lebendig. Wie, so die Frage dieses Bandes, denken wir eigentlich Körper  ? Und was schwingt in diesem Denken mit  ? Mit Körper/Denken – einer Kombination zweier in der abendländischen Tradition so bipolar (dualistisch) verwendeter Begriffe möchten wir an die – unter der Überschrift »Ratio und Intuition« (Ellmeier/Ingrisch/Walkensteiner-Preschl 2013) begonnene – Diskussion über in der cartesianischen Tradition stehende, sich (scheinbar) ausschließende Inhalte weiterführen bzw. an sie anschließen  : Da Intuition, dort Ratio, da Körper, dort Denken  ; da bedürfnisgesteuerte, dunkle, gebundene Materie, dort freier, heller, ungebundener Geist  ; da Frau, dort Mann. Claudia Honegger wählte für ihre Abhandlung über die Neuorganisation der Leitwissenschaften zwischen 1750 und 1850 den sprechenden Titel »Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib« (Honegger 1991) und präzisierte damit eine Trennung zwischen Menschsein einerseits und Frausein andererseits, die sich – ironischerweise  ? – gerade in der Zeit der Aufklärung durchzusetzen begonnen hatte. Der Prozess der alltagsweltlichen wie auch intellektuellen Dichotomisierung fand analog zur Gründung von akademischen Bildungs- und Kunststätten, Universitäten und/oder Kunstakademien, aus denen Frauen per Geschlecht ausgeschlossen waren, statt. An den Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts in den europäischen Hauptstädten ins Leben gerufenen Musikkonservatorien (z. B. Paris 1895, Prag 1811, Wien 19171), waren Mädchen/Frauen als Schülerinnen zugelassen, seltener doch mitunter auch als Lehrende (insbesondere für Gesang) engagiert worden. Eine antike Idee aufgreifend, wonach die Materie per se weniger Wert sei als der Geist, wurde zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft vor allem von René Descartes vertreten. Wenngleich diese These von DenkerInnen in Frage gestellt wurde, wurde sie doch vielfach gelebt und begründete den universalen Anspruch von Wissenschaft. Wissen und Leben war nach diesen Maßstäben geordnet, bipolare Analogien durchzogen sämtliche Wissensräume und -corpora (vgl. Ingrisch 2013). Ein kritisches, die Geschlechterverhältnisse einbeziehendes Sich-Abarbeiten am Begriff Körper, der ›dunklen Materie‹, und an den dorthin 7

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ausgelagerten menschlichen Grundbedürfnissen ist erst in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen. Die Themen ›Körper/Leib‹ und damit eng verknüpft ›Sexualität‹ waren aufgrund der gesellschaftlichen Zuschreibung an das weibliche Geschlecht ein zentrales Thema der Ersten Frauenbewegung wie sie auch bei der Entstehung der Zweiten Frauenbewegung ab Ende der 1960er Jahre eine große Rolle spielten. So wendete sich etwa der politische Slogan »Mein Bauch gehört mir«2 der deutschen und österreichischen Frauenbewegung offensiv gegen die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und machte deutlich, was viele Frauen forderten  : Dass schwanger sein und/oder -bleiben in erster Linie eine Entscheidung der davon betroffenen Frau sei, sein sollte bzw. werden müsse (Firestone 1975  ; Janssen-Jurreit 1979  ; Mesner 1994  ; Notz 2013  ; Paczensky 1980). Von den 1990er Jahren an erhöhte sich die Zahl der Publikationen, die sich mit Körper, seiner Geschichte wie auch seiner Zukunft (cyborgs) auseinander setzten, auch in den Kultur- und historischen Wissenschaften (Angerer 1995 und 1999  ; BidwellSteiner/Zangl 2009  ; Grosz 1994  ; Lorenz 2000  ; Penny 2012  ; Sarasin 2001  ; Sarasin/Tanner 1999  ; Villa 2008, Wiedlack/Lasthofer 2011), weniger in der Musikwissenschaft3. Es sind Körper, die in den unterschiedlichsten Konzeptionen bis hin zur Diskursivierung/Dekonstruktion ihrer Geschlechtlichkeit (Butler 1991 [1990] und 1997 [1993]) in Erscheinung treten. Hervorheben möchten wir an dieser Stelle ein paradigmatisches Buch, das in den 1980er Jahre in der feministischen Geschichtswissenschaft Furore machte, weil es das Thema Körper-Geschichte und -Wahrnehmung pionierinnenhaft historisierend bearbeitete, außerhalb der feministischen Wissenschaften aber zu wenig Beachtung fand. Die bahnbrechende Studie von Barbara Duden »Geschichte unter der Haut« (Duden 1987) erzählt davon, dass der Körper und der Leib eine Geschichte haben. Die Historikerin berichtet über die Verhandlung und die Wahrnehmung des Köpers von Frauen anhand einer wie durch ein Wunder vollständig erhalten gebliebenen Quelle. In den peniblen Arztprotokollen und Tagebuchaufzeichnungen des im deutschen Eisenach um 1730 ordinierenden Stadtarztes Johann Storch kommen sowohl der Arzt selbst wie auch seine Patientinnen in Krankenklagen zu Wort. Interessant ist diese Studie, weil sie etwas Nicht-Sichtbares, gleichwohl Spürbares – nämlich das Leibesinnere thematisiert und damit einen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte »wider die Ungeschichtlichkeit des Leibesinneren« (Duden 1987, 7) leistet. Im Zentrum stehen Fragen des Körperempfindens, der Körperwahrnehmung in historischer Zeit, wer oder was bestimmte im 18. Jahrhundert (über) den weiblichen Körper  ? Barbara Duden betrat mit »Geschichte unter der Haut« in den historischen Wissenschaften, in 8

Einleitung

denen bis dahin das Thema Körper angesichts der Minderbewertung von körperlichen Vorgängen kaum behandelt worden war, Neuland. Und Duden erzählte tatsächlich Ungeheuerliches  : Sie fand heraus, dass es schwangeren Frauen zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur ersten Kindsregung, die ca. für das fünfte Schwangerschaftsmonat angenommen worden war, unbenommen war, es ihnen tatsächlich frei stand, selbst über ihren Körper zu bestimmen, d. h., sich konkret pro oder contra Schwangerschaft zu entscheiden.4 Die Autorin erzählt von historisch unterschiedlichem und damit wandelbarem Umgang mit dem eigenen Körper und mit ›Schwangerschaftsabbruch/Abtreibung‹ – beides wesentlich von der Institution und politischen Kraft katholischen Kirche geführt und gelenkt wie auch vom im 18. Jahrhundert forcierten Akademisierungsprozess der Geburtsmedizin (Hebammen verloren sukzessive ihre Vormachtstellung, die Bedeutung der Ärzte stieg) beeinflusst war. Barbara Duden leistete mit ihren Publikationen einen zentralen Beitrag zu einer politischen Körpergeschichts- sowie Frauengeschichtsschreibung, die zugleich auch als eine indirekte Antwort auf die Abtreibungsdebatte der Zweiten Frauenbewegung angesehen werden kann. Indirekt insofern, als Duden in ihren Schriften nicht explizit auf die Schwangerschaftsabbruchsdiskussion eingeht, aber historisches Material aufbereitet, das zeigt, wie selbstständig Frauen über ihren eigenen Körper bestimmen konnten bzw. durften. In ihrem Essay »Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Lebens« (Duden 1991) unterstreicht sie einige Jahre nach Erscheinen der wissenschaftlichen Abhandlung »Geschichte unter der Haut« diesen Konnex zwischen Forschungsergebnissen und aktuellem zeitgenössischen Geschehen. Der vorliegende Sammelband »Körper/Denken. Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film« beleuchtet Prozesse des Zusammenwirkens von Körper und Denken in unterschiedlichsten Konstellationen und Anordnungen in den Künsten. Die Beiträge sind von einer Vielfalt an theoretischen, inhaltlichen und methodischen Zugängen gekennzeichnet, was der Herkunft der Autorinnen aus den unterschiedlichsten Disziplinen entspricht. Das Spektrum reicht vom New Materialism in der Medien- und Filmwissenschaft bis zur Gehirnoptimierung. Kunstuniversitäten und -hochschulen beschäftigt das Thema Körper in spezifischer Art und Weise. Der Körper ist ein essenzieller Bestandteil künstlerischer Praxis, auch in den an der mdw vertretenen Künsten – der Musik, des Theaters und des Films. Reflexionen über körpergebundene und/oder mit ihm verbundene Prozesse können/dürfen/sollen daher nicht – wie in nach wie vor in den meisten Wissenschaften – einfach übergangen, ignoriert werden. Körperliche Präsenz, vom Körper her denken und entwickeln, Körperliches Mit-Denken 9

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ist in der Musik wie auch in den darstellenden Künsten integraler Bestandteil der künstlerischen Produktion und der Ausdrucksformen. Körper-Arbeit, Körper-Präzision, Körper-Denken zählen zu den Voraussetzungen künstlerischen Wissens wie der Exzellenz künstlerischer Performance. Der gesamte physischpsychisch-intellektuelle menschliche Organismus ist gefordert, in Anspruch genommen, zur Schau gestellt.

Die Beiträge  : Von Ver- und Ent-Körperung/en bis zur Gehirnoptimierung Andrea Seier, Medienwissenschafterin und Fernsehforscherin am Institut für Film-, Theater- und Medienwissenschaft der Universität Wien, führt im ersten Text des Bandes in aktuelles Körper-Denken in der Film- und Medienwissenschaft ein. Gouvernementalitätsstudien wie auch der New Materialism (neuer Materialismus) setzen sich an zentraler Stelle mit dem Körper auseinander. »Feministische Governmentality Studies sehen den Körper als Ressource für Formen der gouvernementalen Selbstregierung und einer Vergeschlechtlichung des Selbst« und der neue Materialismus befragt Körper und Körperlichkeit »angesichts einer epistem-ontologischen Koexistenz (Barad 2003) von Diskursen und anderen Materialitäten in Zusammenhang mit einer damit einhergehenden verteilten Handlungsmacht« (Seier in diesem Band, 17). Am Beispiel des Dokumentarfilms »Schönheit« von Carolin Schmitz (D, 2011) diskutiert die Autorin die Doppeldeutigkeit des Körpers – als Ort der Ermächtigung wie auch als Instanz der Unruhe und Widerständigkeit, die sich u. a. in einer permanenten Bearbeitung dieses Körpers ausdrückt. »Fe/male Troubles. ›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton« tituliert die Filmhistorikerin und -journalistin Birgit Flos, Lehrbeauftragte an der Filmakademie Wien, ihren Beitrag, in dem sie sich mit dem Phänomen des Nachahmens respektive Einübens von Geschlechterstereotypien insbesondere in Filmen von/mit Buster Keaton aus den 1920er Jahren auseinander setzt. Konkret geht es der Autorin um das Nachahmen von ›Männlichkeit‹ und um die Frage, ob aufgrund von bestimmten Körpergesten, die gewissermaßen von Keaton in den Filmen ›eingeübt‹ werden, eine eindeutige Geschlechtsidentität entworfen wird. Anhand von genauen Filmanalysen und zeitbezogenen, kontextuellen Bezügen zeigt Flos, welche spannende ambivalente Position Keaton im Bereich von ›Männlichkeits-Modellen‹ in der Blütezeit des Slapstick-Kinos einnehmen konnte. »Wir beobachten Keaton nicht beim Scheitern (und lachen 10

Einleitung

über ihn), sondern sehen, wie ihm ohne gewinnendes Lächeln die unglaublichsten Dinge gelingen – das ›männlicher‹ Werden gehört nicht dazu und wir lachen begeistert darüber.« (Flos in diesem Band, 47) Die Theaterwissenschafterin und Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste (udk) Berlin Barbara Gronau nimmt in ihrer Perspektive von Theatergeschichte als Köpergeschichte nach Erika FischerLichte den Körper als zentrales Ausdrucksmittel in den Blick. In dieser Betrachtung fungiert das Theater auch als Ort von Wissensformationen über den Körper. Sie erlaubt, Körperkonzepte in ihrer historischen Gewordenheit wahrzunehmen und mit gesellschaftlichen und politischen Normierungsprozessen in all ihren Dimensionen – der biologischen, sozial-gesellschaftlichen, semiotischen, materiellen, ökonomischen, energetischen, epistemologischen und last but not least in ihrer Gender-Dimension – zu analysieren. Nachdem Barbara Gronau das Kaleidoskop dieses Themenfeldes skizziert, wendet sie sich diesen Dimensionen am Beispiel der Hungerkünstler_innen um 1900 zu. An diesen Darstellungen führt sie aus, wie Körper durch den Akt des Unterlassens inszeniert werden und wie Normierungsprozesse sich hier gerade durch den Bruch von Normen verdeutlichen. Die Kunsthistorikerin und -journalistin Brigitte Borchhardt-Birbaumer, u. a. Lehrbeauftragte am Institut für Schauspiel und Regie Max Reinhardt Seminar der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, vertritt in ihrem Beitrag »Häute – Hüllen – Handlungen. Auftritte von Wiener Aktionistinnen 1970–1983« die These, dass der Begriff ›Wiener Aktionisten‹ dringend durch die Hinzunahme der sich als feministische Aktionistinnen und/oder Performerinnen bezeichnenden Künstlerinnen erweitert gehörte und dessen erste Phase deutlich länger als angenommen, nämlich von den 1960er bis in die 1980er Jahre, anzusetzen sei. Für Borchhardt-Birbaumer sind die sich selbst als feministische Performerinnen respektive feministische Aktionistinnen bezeichnenden österreichischen Künstlerinnen Renate Bertlmann, Linda Christanell, VALIE EXPORT, Birgit Jürgenssen, Kiki Kogelnik und Rita Furrer Wiener Aktionistinnen. Der Begriff Wiener Aktionismus (geprägt von Peter Weibel 1969) solle nicht allein den bekannten männlichen Vertretern – Günter Brus, Hermann Nitsch, Otto Muehl, Rudolf Schwarzkogler, inklusive vielleicht noch den ihnen nahe stehenden Kollegen Adolf Frohner, Alfons Schilling und Dominik Steiger – vorbehalten bleiben. Die Performances der Künstlerinnen arbeiteten ja auch mit Körper, mit ihrem eigenen, dem weiblichen Körper, der in der Kunstgeschichte lang lediglich in seinem Dingcharakter, als Objekt der Begierde, präsent war. Die Performerinnen thematisierten Tabus und Leerstellen. Borchhardt-Birbaumer fokussiert 11

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insbesondere auf Arbeiten der weniger bekannten Rita Furrer, die – das starke Interesse der kapitalismuskritischen Hippie- und Frauenbewegung der 1970er Jahre an Mythos und Matriarchat aufgreifend – sich der so genannten »inneren Natur der Frau« zuwandte, woraus ihre »Verhüllungen« entstanden. Die völlige Bedeckung des Körpers sei für Rita Furrer »ein Zeichen der natürlichen Beziehung zum Metaphysischen« gewesen, sie entwickelte daraus »ihr typisch intervenierendes Handeln« als verhüllt wandelnde Gestalt im künstlerischen Raum, was teils heftige Ablehnung hervor gerufen habe. Die ausgebildete Sängerin, Musikwissenschafterin, Psychotherapeutin und Lehrende am Institut für Musik- und Bewegungserziehung sowie Musiktherapie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Ursula Hofrichter führt in ihrem Text »Stimme und Begehren« in das Feld von Stimme und Psychoanalyse, indem sie die spezifisch sängerische Psychodynamik und die Bedeutung von unbewussten Momenten in Prozessen der Klangsuche kritisch hinterfragt. Die Stimmbildung von Sängerinnen und Sängern basiere, erläutert die Autorin, wesentlich auf dem Vermögen der singenden Person, sich klingenden Primärvorgängen zu öffnen. Hofrichter nennt dies »Lernen durch Verdauung«  : Nach dem Container-Contained-Modell (Bion 1992 [1963]) werden Gesangstudierende von einer Lehrkraft unterrichtet, die als Container agiert, d. h., die Lehrkraft »empfängt klingende Ereignisse und erstellt hörend (durch Erfahrung) einen Zusammenhang durch die Besetzung strukturbildender Klangelemente« (Hofrichter in diesem Band, 103). Diese »hörende Beziehungsstiftung« kann dann von den Studierenden allmählich vorbewusst introjiziert werden. Auf diese Weise werde, so Hofrichter, in der Welt der ausgebildeten Stimmen mit dem unbewussten »es singt« gearbeitet. Sie weist darauf hin, dass Sängerinnen und Sänger – mehr als andere Berufsgruppen – in ihren jeweiligen so genannten »Fächern« (wie etwa seriöser Bass, lyrischer Sopran …) (fest)steckten und die Sängerin, der Sänger sich in der Oper die eigenen Grenzen (doing gender, Butler 1991 [1990]) regelrecht ersingt, was wiederum bedeutet, dass die Stimme gemacht, geformt, erarbeitet und geworden ist. Die Stimme, meint Hofrichter weiter, sei ja ein sprechendes/singendes Beispiel für die »zutiefst androgyne Veranlagung« des Menschen und belegt dies mit einem Grundprinzip der Stimmpädagogik, wonach jede und jeder die gegengeschlechtliche Stimmlage zuerst stimulieren müsse, bevor die eigene Stimmlage schließlich befreit werden könne und sich eine stabile Stimmführung entwickle. Der folgende Text von Christa Brüstle, Leiterin des Zentrums für Genderforschung sowie Dozentin für Wertungsforschung und Kritische Musikästhetik an der Kunstuniversität Graz, lenkt unter dem Titel »Interpretinnen in der 12

Einleitung

zeitgenössischen Kunst – Körper, Stimmen, Medien« den Blick auf Kollaborationen zwischen performenden Musikerinnen/Künstlerinnen und Komponisten der Neuen Musik, die nicht in die Musikgeschichte eingeschrieben sind. »Die Leistungen der Musikerinnen sind […] lange Zeit kaum in Betracht gezogen worden.« Vorgestellt wird die für die Entstehungen von Kompositionen Neuer Musik grundlegend wichtige Zusammenarbeit von Instrumentalistin und Komponisten, beispielsweise die der Cellistin Charlotte Moorman mit dem Komponisten und bildenden Künstler Nam June Paik, die Moormann mit »I think it’s fine to be a sex object« kommentiert. Obwohl die Performerin in diesem Statement ironisch die Reaktion auf eine solche Aussage auszuprobieren scheint, kann nur eines sicher ausgesagt werden  : Die Botschaft wurde beachtet, medial registriert, die Musikerin/Performerin habe es gut verstanden, ihrem Projekt Beachtung zu verschaffen. Die Autorin verweist weiters auf die Zusammenarbeit der Mezzosopranistin und Komponistin Cathy Berberian mit dem Komponisten Luciano Berio wie auch auf die Kooperation der deutschen Sängerin Carla Henius mit den beiden Komponisten der Neuen Musik ‑ Luigi Nono und Dieter Schnebel ‑, die gut dokumentiert ist und daher belegen kann, wie grundlegend wichtig das stimmliche Experimentieren, Ausprobieren der Sängerin/Instrumentalistin für eine konkrete Komposition ist. Ein auf das singuläre (männliche) Künstler-Genie und -Individuum, den Autor-Komponisten, konzentrierter Blick verstelle – betont Brüstle – eine werkadäquate Wahrnehmung derjenigen, die mit ihrer je spezifischen Form der Mitwirkung die Komponist_innen wesentlich bei der Umsetzung ihrer Ideen unterstützen, kollaborativ zur Werkwerdung beitragen. In den beschriebenen Fällen sind es Musikerinnen, die sich auf Klangexperimente mit Komponisten einließen und damit einen zentralen Beitrag zum Entstehen von Werken der Neuen Musik leisteten. »Gehirnoptimierung – (k)ein geschlechtsloses Feld  ?« lautet der Titel des Beitrags von Sigrid Schmitz, Naturwissenschafterin und Professorin für Gender Studies an der Universität Wien. Die Autorin nimmt die zeitgenössische Leitwissenschaft, die Hirnforschung, unter die Lupe, um deren Konstruktionsmechanismen von Geschlecht sichtbar zu machen. Sie setzt sich dabei nicht mit der deterministischen Sicht der im Gehirn verankerten Geschlechtsdifferenzen auseinander, da diese Sichtweise in aktuellen neurowissenschaftlichen Diskursen längst als nicht haltbar ausgewiesen ist. Vielmehr liegt nun der Schwerpunkt auf Fragen nach den Optimierungsansprüchen modulierbarer Gehirne und den ihnen zugrunde liegenden Gender-Zuschreibungen. Anders gewendet stellt sie die Frage, welche Chancen abseits der Bipolarität in hybriden Körpern, in Cyborgs, zur Verfügung stehen. Körper/Denken betrachtet Schmitz also aus der 13

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Perspektive der Mechanismen der Verkörperung des Denkens. Damit wendet sie die deterministische Herangehensweise zur Frage, inwiefern sich das Denken über Geschlechtsunterschiede und die daraus folgenden Praktiken in den plastischen Gehirnen einschreiben. Hier bietet der agential realism Karen Barads der Autorin einen neuen Zugang, eine ontoepistem-ology. Letztlich jedoch treten, so das Resümee, allen Hoffnungen zum Trotz, erneut geschlechtliche Dominanzen zutage. An dieser Stelle möchten wir den Personen und Institutionen danken, die den Entstehungsprozess dieses Bandes gefördert haben. Unser Dank gilt dem Rektorat der Universität für Musik und darstellenden Kunst Wien für seine finanzielle Unterstützung, dem Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) mit seinem Institutsvorstand Franz Otto Hofecker sowie Anita Hirschmann-Götterer für die umsichtige Organisation. Das Herzstück eines Bandes sind seine Texte und so geht unser besonderer Dank an die Autorinnen der Beiträge wie auch an Nikola Langreiter, vormalige Redakteurin von L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, für ihr kontextuelles Lektorat. Nicht zuletzt danken wir Ursula Huber, unserer Reihen-Managerin im Böhlau-Verlag, sowie Michael Rauscher für die zurückhaltend elegante Grafik. Wir wünschen eine interessante Lektüre.

Literatur Marie Luise Angerer (Hg.) (1995), The Body of Gender. Körper, Geschlechter, Identitäten, Wien Marie Luise Angerer (1999), Body Options. Köper. Spuren. Medien. Bilder, Wien Karen Barad (2003), Posthumanist Performativity  : Toward an Understanding of how Matter Comes to Matter, in  : Signs 28/2003, H. 3, 801-831 Marlen Bidwell-Steiner, Veronika Zangl (Hg.) (2009), Körperkonstruktionen und Geschlechtermetaphern. Zum Zusammenhang von Rhetorik und Embodiment. Innsbruck/Wien/Bozen Wilfried R. Bion (1992 [1963]), Elemente der Psychoanalyse, Frankfurt a. Main Judith Butler (1991 [1990]), Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikan. von Katharin Menke. Frankfurt a. Main Judith Butler (1997 [engl. 1993/dt. 1995]), Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikan. von Karin Wördeman. Frankfurt a. Main Kathy Davis (1997), Embodied Practices. Feminist Perspectives on the Body. London u. a. Barbara Duden (1987), Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart Barbara Duden (1991), Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg/Zürich Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.) (2013), Ratio und Intuition. Wissen|s|Kulturen und Geschlecht in Musik • Theater • Film. Wien/Köln/Weimar

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Einleitung

Sulamith Firestone (1975), Frauenbefreiung und sexuelle Revolution. Aus dem Amerikan. von Gesine Strempel-Frohner. Frankfurt a. Main Elizabeth A. Grosz (1997), Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism. Bloomington, Ind. u. a. Freia Hoffmann (1991), Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur. Frankfurt a. Main u. a. Claudia Honegger (1991), Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750-1850. Frankfurt a. Main Doris Ingrisch (2013), Intuition, Ratio & Gender  ? Über Bipolaritäten und andere Formen des Denkens, in  : Dies., Andrea Ellmeier, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Ratio und Intuition. Wissen|s|Kulturen und Geschlecht in Musik • Theater • Film. Wien/Köln/Weimar, 19-43 Marieluise Janssen-Jurreit (1979), Sexismus. Über die Abtreibung der Frauenfrage, 3. veränd. Aufl. Frankfurt a. Main Maren Lorenz (2000), Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen Maria Mesner (1994), Frauensache  ? Zur Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch in Österreich nach 1945. Wien Gisela Notz (2013), Mein Bauch gehört mir‹ oder wem sonst  ? in  : Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft 6/2013  ; http://www.sopos.org/aufsaetze/513b51bda8f3a/1.phtml (4.8.2015) Susanne von Paczensky (Hg.) (1980), Wir sind keine Mörderinnen  ! Streitschrift gegen eine Einschüchterungskampagne. Reinbeck bei Hamburg Laurie Penny (2012), Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus. Aus dem Engl. von Susanne von Somm. Hamburg Philip Sarasin (2001), Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt a. Main Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.) (1998), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. Main Paula Villa (2008), Schönnormal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld. Maria Katharina Wiedlack, Katrin Lasthofer (Hg.) (2011), Körperregime und Geschlecht. Innsbruck/ Wien/Bozen

Anmerkungen 1 Weitere Gründungen folgten  : Leipzig 1843, München 1846, Berlin 1850, Dresden 1856, Stuttgart 1857, Frankfurt 1878 sowie St. Petersburg 1862. 2 Vgl. für einen ersten Überblick die bundesdeutsche Diskussion Dirk Bitzer (1971), Gesellschaft  : Mein Bauch gehört mir, http://www.geschichte.nrw.de/artikel.php?artikel[id]=106&lkz=de (30.7.2015) und für Österreich  : Die Fristenlösung. Straffreier Schwangerschaftsabbruch, http:// www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/dossier.html?dossierID=AHD_19750101_AHD0001 und  : Irmtraud Karlsson, Mein Bauch gehört mir  ! Vom Recht der Frauen auf Selbstbestimmung, Vortrag, 19.2.2015 (Videomitschnitt)  ; http://www.renner-institut.at/eventdetails/artikel/meinbauch-gehoert-mir (30.7.2015). 3 Eine Ausnahme ist Freia Hoffmanns Arbeit »Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur« (1991).

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Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

4 Bzw. ging es in der historischen Quelle, den Aufzeichnungen des Stadtarztes Storch aus dem 18 Jahrhundert, so Duden, gar nicht um eine faktische Entscheidung pro oder contra Schwangerschaft, sondern eher um stockendes oder fließendes Blut. Es war selbstverständlich, dass die Frauen, eventuell gemeinsam mit ihrer Hebamme darüber sprachen, was zu tun sei, der aufzeichnende Arzt habe wohl, mutmaßt die Autorin, wenige der Frauen gynäkologisch untersucht  ; sämtliche der zitierten Erzählungen betreffen Körperwahrnehmungen der Frauen (Duden 1987 und 1991).

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Andrea Seier

Entkörperung/Verkörperung Neuere Ansätze des ­Körper-Denkens in Film- und Medienwissenschaft

Gegenwärtig zeichnen sich in der Gender- und Medienforschung verschiedene Ansätze ab, die zu einer Revision des Nachdenkens über den (vergeschlechtlichten) Körper einladen. Zwei dieser Ansätze möchte ich im Folgenden aufgreifen und über ihr Verhältnis zueinander nachdenken. Zum einen werde ich mich mit der Problematisierung des Körpers innerhalb der Governmentality Studies befassen, die sich u. a. mit den Geschlechterartikulationen gegenwärtiger (sogenannter postfeministischer) Medienkulturen auseinandersetzen. Zum anderen gehe ich auf aktuelle Forschungen zum neuen Materialismus ein, die von der Wissenschaftshistorikerin und Philosophin Iris van der Tuin als »third wave feminist epistemology« (2009) bezeichnet werden. Beide Denkrichtungen, Gouvernementalitätsstudien und neuer Materialismus setzen sich an zentraler Stelle mit der Frage des Körpers auseinander. Feministische Governmentality Studies sehen den Körper als Ressource für Formen der gouvernementalen Selbstregierung und einer Vergeschlechtlichung des Selbst, die mehr und mehr auch als Selbstvergeschlechtlichung in den Blick gerät, ohne dass dieses Selbst auf eine stabile Einheit und eine ursprüngliche Quelle von Handlungsmacht zurückzuführen wäre. Dieser Prozess wiederum lenkt die Aufmerksamkeit auf die narzisstische Aneignung bzw. den narzisstischen Umgang mit der Zumutung, ein Geschlecht zu haben oder zu sein. Schönheitsoperationen werden in diesem Kontext als eine Aushandlungsstrategie zwischen Selbst- und Fremdregierung verstanden, die auf die Verfasstheit von Körpern (und Subjekten) als Grenzphänomene zwischen Eigenem und Anderen in spezifischer Weise antwortet. Der neue Materialismus geht die Frage nach dem Körper etwas anders an. Zusätzlich zu Aspekten der Selbst- und Fremdregierung befragt er Körper und Körperlichkeit angesichts einer epistem-ontologischen Koexistenz (Barad) von Diskursen und anderen Materialitäten in Zusammenhang mit einer damit einhergehenden verteilten Handlungsmacht. Neben der diskursiven Verfasstheit von Körpern interessiert sich der neue Materialismus gerade auch für jene Pro17

Andrea Seier

zesse der Materialisierung, die sich jenseits oder unterhalb diskursiver Logiken und Entitäten (Subjekt, Körper) vollziehen. Die feministische Frage nach der wechselseitigen Durchdringung von Relationalem und Wesenhaftem, von Körper und Wissen, von Technik und Sozialem wird in den Arbeiten des New Materialism weiter fortgeschrieben. Wenn allerdings nicht nur Menschen bzw. Subjekten, sondern auch Dingen und Technologien, Natur und Materie Handlungsmacht zugestanden wird, dann stellt sich auf dieser Basis die politische Frage nach der Verantwortung für Geschlechterpolitiken neu  : Aus welchen Komponenten lassen sich vergeschlechtlichte Subjektivitäten überhaupt zusammensetzen  ? Mit welchen anderen mikro- und makropolitischen Gefügen sind sie verknüpft  ? Wie lassen sie sich verändern und mit welchem Ziel  ? Und in wessen Namen sollten diese Veränderungen ausgelotet und gefordert werden  ? Einige Aspekte dieses neuen Körperdenkens möchte ich im Folgenden diskutieren. Dabei werde ich vor allem nach übereinstimmenden und divergierenden Prämissen zwischen Governmentality Studies und New Materialism fragen und schließlich – anhand eines Filmbeispiels – beide Ansätze zueinander ins Verhältnis setzen.

Vergeschlechtlichung – Selbstführung – Subjektivierung Angela McRobbie und Rosalind Gill haben mit Blick auf die derzeitige Medienlandschaft den Begriff der postfeministischen Medienkulturen geprägt (McRobbie 2010  ; Gill 2007). Mit dem Begriff des Postfeminismus soll nicht auf eine historische Überwindung, sondern vielmehr auf eine bestimmte Form des historisierenden Aufgreifens des Feminismus in aktuellen Medienkulturen hingewiesen werden.1 Ausgegangen wird hier von der These, dass gewisse Anteile feministischer Forderungen mit großer Selbstverständlichkeit in derzeitige Repräsentationsweisen und Mediennutzungen Eingang finden, dabei aber zugleich neu artikuliert und stellenweise auch attackiert und/oder entpolitisiert werden. Als eine der ersten Autorinnen hat Angela McRobbie diese Umdeutung des Feminismus formuliert  : »Postfeminismus, so möchte ich behaupten, beruft sich explizit auf den Feminismus, er trägt ihm Rechnung. Der Postfeminismus setzt den Feminismus für seine Zwecke ein, um ein ganzes Repertoire an neuen Inhalten zu propagieren, die allesamt suggerieren, letzterer habe seine Aufgabe erfüllt und werde nicht mehr benötigt, denn Gleichberechtigung sei längst erreicht« (McRobbie 2010, 32). 18

Entkörperung/Verkörperung

Die Paradoxie von Selbstverständlichkeit und Ablehnung des Feminismus gilt nach der These von Angela McRobbie und Rosalind Gill als Spezifikum aktueller Medienlandschaften. Im Zentrum dieser Umdeutung steht die enge Verbindung von Geschlechterdifferenz und gouvernementalen Formen der Selbstführung. Die historisch tradierte Frage der Gender Studies (aber auch der Popkultur), welche natürlichen und welche kulturellen Anteile in welchem Ausmaß die Differenz der Geschlechter konstituieren, erfährt in diesem Zusammenhang eine Revision. Der geschlechtlich definierte Körper wird, durchaus in feministischer Tradition, als Ort der (weiblichen) Handlungsmacht verstanden. Im Unterschied zum Feminismus der 1970er Jahre bezieht sich diese Handlungsmacht (agency) aber nicht in erster Linie auf den Versuch, sich hegemonialer Schönheits- und Attraktivitätsmodelle zu entziehen oder eigene, alternative Modelle zu entwickeln. Vielmehr werden in derzeitigen Medien wie Film, Fernsehen und Internet, so Rosalind Gill, die Möglichkeiten der Herstellung und Annäherung an solche Vorstellungen ausgelotet. In Aussicht stehen somit weniger Befreiungs- und Absetzbewegungen von Schönheitsdiktaten als narzisstische (und z. T. ironisch-spielerische) Aneignungen sowie Aspekte ihrer praktischen Realisierung, Aspekte also, die sich unter dem Stichwort einer Demokratisierung von Schönheit und Attraktivität zusammenfassen lassen.2 Die Weiblichkeitsentwürfe derzeitiger Medienkulturen basieren, so die These von Rosalind Gill, auf der Grammatik eines ausgeprägten Individualismus (Gill 2007, 259 u. 270). Die Arbeit am Selbst, Disziplin und Selbstverwirklichung sind wichtige Aspekte dieser Weiblichkeit, die sich nicht mehr nur an ein Außen richtet, das die feministische Filmwissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren als männlichen Blick bestimmt hatte. Dieser Blick von außen wird vielmehr als narzisstischer Blick auf sich selbst aktualisiert. Das, was unter Weiblichkeit verstanden wird, ist dabei nicht einmalig festgelegt, auch wenn der Radius abgesteckter Grenzen, wie z. B. die Bestimmung von Attraktivität, relativ eng bemessen ist. Die eher flexiblen als proto-normalistischen Grenzen3 lassen sich vor allem als Pendant zur kontinuierlichen Arbeit am (gegenderten) Selbst lesen, in der nicht nur Ergebnisse zählen, sondern vor allem die Bereitschaft zur anhaltenden Selbstoptimierung. Das Ineinandergreifen von Geschlechterdifferenz und gouvernementalen Formen der Selbstregierung lässt sich anhand der Arbeiten von Rosalind Gill und Angela McRobbie an folgenden Aspekten ablesen  :4 – Redefinition von Weiblichkeit als körperliche Eigenschaft (bodily property) 19

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– Verschiebung von der Objektivierung zur Subjektivierung von Frauen in Werbung, Printmedien, Film, Fernsehen (insbesondere als begehrende Subjekte in den Bereichen Konsum, Arbeit, Sexualität und Lifestyle) – Betonung von Selbstüberwachung, monitoring und Disziplin – Fokus auf Individualismus, Wahl (choice) und empowerment – Dominanz des Makeover-Paradigmas – Wiederbelebung, Naturalisierung und attraktive Besetzung der sexuellen Differenz – kommodifizierte Sexualisierung von Medienkulturen – Thematisierung weißer Männer als Opfer des Feminismus – Historisierung von political correctness als unzeitgemäßem Dogmatismus – Retro-Sexismus. Diese (neuen) Themen verbinden sich, so die These von Rosalind Gill, mit (bekannten) kontinuierlichen Ungleichheiten und Ausschlüssen hinsichtlich Klasse und Ethnizität, Behinderung, Alter, Sexualität und Geschlecht (Gill 2007, 255). Für die hier diskutierte Thematik ist vor allem das Verhältnis von Geschlechtsidentität und Körper relevant. Im Kontext neoliberaler Weiblichkeitsentwürfe werden Geschlechtsidentität und Körper eng aufeinander bezogen (Gill 2011). Vorstellungen von weiblicher Attraktivität werden, im Vergleich zu den 1980er und 1990er Jahren, wieder verstärkt an den Körper gebunden (z. B. Villa 2008). Als wichtigste Quelle weiblicher Identität gelten nicht nur Fürsorge und Beziehungsarbeit, sondern auch der eigene Körper wird als Identitätsquelle angesehen. Er gilt als Ort einer Ermächtigung und Selbstverwirklichung und wird zugleich aber auch als eine Instanz thematisiert, von der eine Unruhe ausgeht, die es mit geeigneten Mitteln (Diäten, Sport, Fitness und Wellness) zu kontrollieren gilt.5 Selbstbeobachtung, Disziplin und Selbstverwirklichung gehen eine enge und unausweichliche Verbindung ein, in der die bedrohlichen Dimensionen des Körpers und deren Bezwingung grundsätzlich aufeinander verwiesen bleiben.

Neuer Materialismus: Materie als Dauer Für die theoretischen Überlegungen im Kontext des neuen Materialismus ist – neben den Arbeiten von Donna Haraway – Judith Butlers Buch »Körper von Gewicht« eine wichtige Referenz. Geht es Judith Butler vor allem darum, die diskursive Verfasstheit des vermeintlich natürlichen Körpers herauszuarbeiten, akzentuieren die Arbeiten und Autorinnen des New Materialism6 die Frage des 20

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Materiellen anders. Butler hatte schon darauf verwiesen, dass Materie keine passive Einschreibefläche darstellt, die durch Diskurse mit Bedeutung aufgeladen wird. Die Vertreterinnen des New Materialism setzen hier an und analysieren dezidiert das ko-konstitutive Werden von Diskurs und Materie.7 In Abgrenzung vom Sozialkonstruktivismus, der das »Natürliche zu dem herabstuft, was ›vor‹ der Intelligibilität liegt« (Butler 1993, 25) schlägt Butler im Vorwort zu ihrem Buch »Körper von Gewicht« vor, den Begriff der Konstruktion durch ein zeitlich konzipiertes Verständnis von Materialisierung zu ersetzen  : »Was ich an Stelle dieser Konzeption von Konstruktion vorschlagen möchte, ist eine Rückkehr zum Begriff der Materie, jedoch nicht als Ort oder Oberfläche vorgestellt, sondern als ein Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen. Daß Materie immer etwas zu Materie Gewordenes ist, muß meiner Meinung nach mit Bezug auf die produktiven und eben auch materialisierenden Effekte von regulierender Macht im Foucaultschen Sinne gedacht werden. Dementsprechend lautet die Frage künftig nicht mehr, wie das soziale Geschlecht als eine und durch eine bestimmte Interpretation des biologischen Geschlechts konstituiert wird (eine Frage, bei der die ›Materie‹ des biologischen Geschlechts von der Theorie ausgespart bleibt), sondern vielmehr  : Durch welche regulierenden Normen wird das biologische Geschlecht selbst materialisiert  ? Und wie erklärt sich, daß die Behandlung der Materialität des biologischen Geschlechts als eines Gegebenen die normativen Bedingungen für dessen Auftreten voraussetzt und konsolidiert  ?« (Butler 1995, 32)

Ganz im Sinne Butlers versteht auch die feministische Philosophin und Physikerin Karen Barad den Körper als eine Instanz, die durch Dispositive, d. h. durch materiell-diskursive Apparate, erfahrbar, wahrnehmbar, intelligibel gemacht und begrenzt wird, ohne dass diese Prozesse jemals zum Abschluss kommen. Butler bindet den Prozess der Materialisierung allerdings in erster Linie an regulierende Machtmechanismen (Dispositive und Diskurse), deren Wirkungsweisen regulierend (aber niemals determinierend) wirken  ; Karen Barad hingegen vertritt die Ansicht, dass auch in Judith Butlers performativem Verständnis geschlechtlicher Körper sehr (bzw. zu) viel Gewicht auf Bezeichnungspraktiken gelegt wird, während die Handlungsmacht der Materie selbst in den Hintergrund rückt. Anders formuliert  : Während Butler das Prozesshafte der Materie vor allem an ihre diskursive Hervorbringung und das damit verbundene konstitutive Scheitern dieser Hervorbringung bindet, versteht Barad die diskursive Hervorbringung von Kör21

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pern nur als eine Dimension des Werdens neben anderen. Diese anderen Dimensionen wären Barad zufolge nicht unbedingt als nicht-diskursiv zu bezeichnen. Die (alte) Frage nach den Grenzen und Unterschieden zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken wird an dieser Stelle neu konturiert, indem sie der Dynamik der Gegenüberstellung enthoben wird. Materie bzw. Körper sind nach Barad selbst als intra-aktiv und agentiv zu verstehen, insofern sie (erstens) nicht nur auf Einschreibungen reagieren, sondern diese ebenso anreizen und (mit-) gestalten und insofern sie (zweitens) eigenen (d. h. anderen als diskursiven) Zeitlichkeiten unterliegen, die das Denken in stabilen Einheiten problematisch werden lassen. An die Stelle der Unterscheidung von Identität und Differenz tritt der physikalische Begriff der Diffraktion,8 der die Beugung einer Welle an einem Hindernis beschreibt  : »Diffractively reading the insights of feminist and queer theory and science studies approaches through one another entails thinking the ›social‹ and the ›scientific‹ together in an illuminating way. What often appears as separate entities (and separate sets of concerns) with sharp edges does not actually entail a relation of absolute exteriority at all. Like the diffraction patterns illuminating the indefinite nature of boundaries  – displaying shadows in ›light‹ regions and bright spots in ›dark‹ regions – the relation of the social and the scientific is a relation of ›exteriority within‹. This is not a static relationality but a doing – the enactment of boundaries that always entails constitutive exclusions and therefore requisite questions of accountability.« (Barad 2003, 803)

Auch Donna Haraway hat bereits mit dem Begriff der Diffraktion gearbeitet. In ihren Beiträgen wird dieser Begriff allerdings, wie Astrid Deuber-Mankowsky plausibel dargelegt hat, eng an das Konzept des situierten Wissens angebunden. Argumentiert wird demnach weniger für eine prozesshafte Weltwerdung im Sinne einer neuen (spekulativen) Ontologie als für die Inkommensurabilität materieller Ordnungsmuster und der über sie zirkulierenden wissenschaftlichen und/oder populären Erzählungen. Während Astrid Deuber-Mankowsky den Schwerpunkt auf den zentralen Unterschied der Argumentationsweisen von Barad und Haraway legt (und dabei Haraways Ansatz den Vorzug gibt), heben andere Lesarten die Anschlussfähigkeit der beiden Ansätze hervor.9 Materie ist demnach eine Frage der Dauer, eine sich wiederholende Form der Materialisierung, die immer eingebunden ist in ein raum-zeitliches Gefüge (aus Diskursen und anderen Materialitäten), das sie bestimmt, damit aber ebenso möglichen neuen Bestimmungen zugänglich macht. Auch wenn sich Judith Butlers, Donna 22

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Haraways und Karen Barads Perspektiven stark überschneiden, so lässt sich festhalten, dass ausgehend von einem ähnlichen Befund jeweils leicht abweichende Konsequenzen gezogen werden. Judith Butler etwa betont, dass sich nicht nur im Hinblick auf das soziale, sondern auch im Hinblick auf das biologische Geschlecht die Frage stellt, durch »welche regulierenden Normen« (Butler 1993, 32) sich dieses materialisiert, und legt damit den Fokus weiterhin auf die Prozedur der normierenden Hervorbringung. Karen Barad wiederum plädiert dafür, an einem alternativen Verständnis von Materie als offenem Prozess zu arbeiten und den Blick auf ihr intraaktives Werden zu lenken. Darin liegt der gegenwärtige Einsatz des neuen Materialismus: Sämtliche Prozesse der Materialisierung werden demnach im Hinblick auf ihre Bewegungen zwischen Festlegungen und deren Prozesshaftigkeit, die gegen diese Festlegungen arbeitet, hin untersucht. Subjektivität gilt im Kontext des New Materialism weder als Opposition zur Objektivität, noch als Ursprung von Handlungen. Subjektivität bezeichnet vielmehr einen Prozess, der sich dadurch auszeichnet, dass er ebenso unabgeschlossen wie anfällig für Unterbrechungen und Störungen ist  : »[W ]enn wir Subjektivität nicht als Opposition von Objektivität und nicht als eigentlichen Ursprung jeder Handlung, sondern als Verletzbar- und Berührt-Sein fassen, als ein Geöffnet-Sein auf die Welt, das zwar situiert ist, aber nicht lokalisierbar, das vielleicht eine spezifisch menschliche Form hat, aber nicht in Menschlichkeit aufgeht, dann wäre sie eher eine spezifische und komplexe Form des Verhältnisses der Welt zu sich selbst.« (Bath et al. 2013, 14)

Subjekte und Körper wären demnach durchaus als Instanzen anzusehen, mit denen Handlungsmacht ausgeübt wird. Allerdings wird diese Ausübung nur im Rahmen von raumzeitlichen Gefügen möglich, die diese Handlungsmacht zugleich transformieren, verstärken oder unterwandern. Der eigene Körper wäre demnach ein Ort, an dem nicht nur das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdregierung ausgetragen wird, wie es die Arbeiten der (feministischen) Governmentality Studies nahelegen, sondern auch ein Ort, an dem einerseits Bestimmung und Festlegung, z. B. in Form von Vergeschlechtlichung und Rassifizierung, und andererseits Unbestimmtheit, Entzug und Veruneindeutigung zu beobachten sind (Bath et al. 2013, 15). Die beiden skizzierten Denkrichtungen treffen sich exakt an diesem Punkt, setzen allerdings unterschiedliche Schwerpunkte. Während die Governmentality Studies stärker auf die Rationalitäten eingehen, mit denen Körper und Subjekte 23

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sich selbst bearbeiten und transformieren, fokussieren die Arbeiten des New Materialism vor allem diejenigen Dynamiken, die sich unterhalb der Wahrnehmungsschwellen von Körpern und Subjekten als Entitäten vollziehen und auf ein anhaltendes Werden verweisen. Beide Perspektiven basieren auf einem prozesshaften, relationalen Denken, das Subjektivitäten und Körper als Grenzphänomene zwischen Eigenem und Anderen ansiedelt. Und beide Denkrichtungen gehen in diesem Zusammenhang von unabgeschlossenen Konstitutionsprozessen aus. Sie unterscheiden sich dort, wo sich die Arbeiten der Governmentality Studies für Praktiken und Diskurse interessieren, die diesen Konstitutionsprozessen eine Ausrichtung geben, etwa im Sinne einer diskursivierten Optimierung oder Normalisierung, während sich die Arbeiten des New Materialism auf die Momente der De- und Reterritorialisierung innerhalb dieser Konstitutions- und Normalisierungsprozesse konzentrieren. Medialen Dispositiven kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zu, insofern sie an der Schnittstelle von Relationalem und Wesenhaftem zunächst eine festlegende, arretierende (ein- bzw. ausschneidende) Wirkung haben. Mediale Körperinszenierungen – egal ob in medizinischen oder populären Kontexten – legen fest, wie wir Körper wahrnehmen, verstehen, handhaben und erleben können. Diese technischen, diskursiven und ästhetischen Festlegungen werden allerdings auch immer wieder neuen mikropolitischen Gefügen ausgesetzt. Nur innerhalb dessen, was Félix Guattari »maschinische Gefüge« (Guattari 1995, 118) nennt, erlangen mediale Körperinszenierungen ihre Plausibilität, die sie dabei neuen Interventionen, Einwänden oder Unterbrechungen zugänglich machen. Mit dieser Überlegung soll nicht für ein ausgewogenes Spiel gesellschaftlicher Kräfte argumentiert werden, sondern für anhaltende (diskurs-) politische Kämpfe, die nicht zum Abschluss kommen (können).

Entkörperung/Verkörperung  : Über den Dokumentarfilm »Schönheit« Der Dokumentarfilm »Schönheit« von Carolin Schmitz (D, 2011), der auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival »DOK Leipzig« 2011 erstmalig aufgeführt wurde, widmet sich der spezifischen Doppeldeutigkeit des Körpers als Ort der Ermächtigung zum einen und als Instanz der Unruhe und Widerständigkeit zum anderen. Der Film porträtiert Frauen und (wenige) Männer, in deren Lebensstil Schönheit einen überaus wichtigen Stellenwert hat. Durchgeführte und bevorstehende Schönheitsoperationen zählen zu den im Film diskutierten Techniken 24

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der Selbstführung, ebenso wie Gewohnheiten im Umgang mit Mode, Haustieren, Kosmetik, Wohnungseinrichtungen, Sport, Fitness und Diäten. Prozeduren der Ent- und Verkörperlichung, der Regulierung und Wieder-Aneignung des eigenen Körpers stehen im Zentrum des Films. Er nimmt damit Themenfelder und Praktiken auf, die auch das Reality-TV gegenwärtig ausführlich behandelt. Der Dokumentarfilm lässt sich einerseits als Kommentar auf die derzeitige Kopplung von Schönheit und Handlungsmacht, von Gouvernementalität und Geschlecht verstehen. Er ist aber nicht nur als Auseinandersetzung mit dem Postfeminismus lesbar, sondern in einem umfassenderen Sinne auch als Knotenpunkt in einem mikropolitischen Gefüge, in dem die Bilder und Körperinszenierungen innerhalb und außerhalb des Fernsehens aufgegriffen, reinszeniert und reterritorialisiert werden. Damit soll hier nicht die These vertreten werden, dass die normierenden, festlegenden Bilder des Fernsehens im Medium Dokumentarfilm an Komplexität gewinnen, indem ihre Paradoxien freigelegt und sie auf diese Weise einer kritischen Auseinandersetzung zugeführt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Prozess Festlegung und Öffnung in beiden Medien stattfindet, wenngleich auf unterschiedliche Weise.10 Die Geständnisprozeduren, mit denen das Reality-TV die Prozesse der Ent- und Verkörperung realisiert, greift »Schönheit« auf, in dem er sie in streng komponierte, tableauartige Einstellungen überführt, die die Protagonist_innen in ihren jeweiligen Lebenswelten präsentieren. Sie geben Auskünfte über ihre Beweggründe und Vorhaben und schauen dabei direkt in die Kamera. Dieser Blick in die Kamera erzeugt einen ambivalenten, verstörenden Effekt. Er lässt die Protagonist_innen aus den hoch artifiziellen Tableaus heraustreten, ohne dass sie diese restlos hinter sich lassen können. Körper und Subjekte sind gerahmt (und in Sinne des New Materialism gerichtet), sie ringen aber auch mit dieser Rahmung und treten – wenn auch immer nur momenthaft – aus ihr heraus. Die Notwendigkeit der Selbstaufführung, die zwischen lustvoller Performanz und Zumutung changiert, wird in diesen Sequenzen spürbar. Nicht nur die repräsentative, sondern auch die situative Dimension dokumentarfilmischer Arbeit wird in diesen Momenten deutlich. Diese Dimension zeichnet sich weniger durch die Unterscheidung als durch die Ähnlichkeit bzw. Entsprechung von filmischer und vor-filmischer Welt aus. Anders formuliert  : Lustvolle Selbstaufführung und Zumutung können zwar aus der Sicht der Protagonist_innen den Herstellungsprozess des Dokumentarfilms prägen, sie liegen allerdings ebenso den alltäglichen Lebenswelten zugrunde und bilden letztlich die Dynamik der im Film thematisierten Prozeduren der Ent- und Verkörperlichung, die auf Basis einer verteilten Handlungsmacht (zwischen Ärzt_innen, Kund_innen, ökonomisch25

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medizinischen Wissensfeldern, kulturellen und spezifischen medizinischen Praktiken) vollzogen werden. Die äußerst formalistisch arrangierten Porträts wirken gleichermaßen artifiziell wie kontrolliert und entsprechen damit der Thematik des Films, ohne diese in einer bestimmten – etwa kulturpessimistischen – Haltung zu vereindeutigen. Sie sind weder auf Authentizität, noch auf individualpsychologische Deutungen aus, sondern darauf, die Komplexität des Themas, über die namenlosen Protagonist_innen als Einzelpersonen hinaus, zu erschließen. Das Anliegen, die hier repräsentierten individuellen Lebensentwürfe auf ihre strukturellen Komponenten hin zu befragen, wird überaus deutlich. Eine argumentative Kontextualisierung der Selbstaussagen seiner Protagonist_innen spart der Film allerdings aus.11 Diese Auslassung kritisierten einigen Rezesent_innen. Deren Debatten über das ausbleibende Werturteil der Filmemacherin sind im vorliegenden Zusammenhang überaus erhellend, zeigen sie doch die diskursiven Grenzen auf, die die Auseinandersetzung mit der Schönheitschirurgie regulieren. Die Debatten verweisen vor allem aber auch darauf, wie – je nach Thematik – sowohl diskursive Festlegungen als auch ausbleibende Festlegungen neue mikropolitische Gefüge evozieren. Aus feministischer Sicht ist die Ratlosigkeit nachvollziehbar, die der Film aufgrund seiner Offenheit hinterlässt – jedenfalls dann, wenn diese Offenheit als Verweigerung einer Haltung zum Thema Schönheitschirurgie verstanden wird. Wird diese Offenheit allerdings als eine Praxis des Aussetzens eines Urteils im Sinne Judith Butlers (und Michel Foucaults) aufgefasst, die das Ziel verfolgt, eine neue Praxis des Nachdenkens über die Prozesse der Ver- und Entkörperung zu ermöglichen, gerät der Film auf neue Weise in den Blick. Die kontinuierliche Bearbeitung des Körpers oder anders ausgedrückt, der Körper als Unruheherd, der zwischen Verfügbarkeit und Widerstand oszilliert, lässt sich als zentrales Thema des Films beschreiben. Ergebnisse von Operationen gelten immer nur als vorläufige. Befriedigung verschafft nicht das Ergebnis, sondern rufen der eigene Entschluss, die Willenskraft, der betriebene Aufwand hervor. Nicht der schmerzhafte Eingriff und die nicht immer zufriedenstellenden Ergebnisse stehen für die Porträtierten im Vordergrund, sondern die selbst definierten Grenzziehungen, mit denen der Köper modelliert wird. Vor dem Hintergrund des New Materialism lässt sich festhalten  : Der Film thematisiert mindestens zweierlei Werden, ein grundsätzlich offenes und ungerichtetes Werden, und eines, das gegen diese Ungerichtetheit antritt, dem alles Ungerichtete als Störung und als Verlust an Souveränität erscheint. Bestimmtes und Unbestimmtes, Gerichtetes und Ungerichtetes treten gegeneinander an. Gerichtetes wird dabei an 26

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Vorstellungen von Optimierung geknüpft, allerdings zu dem Preis, dass ein Erreichen des Ziels systematisch ausbleibt. Dem performativen Umgang der Protagonist_innen mit den Zumutungen neoliberaler Anrufungen ist eine Logik zu entnehmen, der nur in graduellen Abstufungen kritischer oder affirmativer Weise begegnet werden kann. Entgegen der Stellungnahmen von Rezensent_innen des Films ist die Position einer qualitativen Andersheit für Zuschauer_innen unmöglich. »Schönheit« bietet zwar kaum emphatische Identifikationen an, lädt allerdings zu einer Reflexion über die unentschiedenen Grenzverläufe zwischen Selbstsorge und Selbstführung an und in diesem Sinne zum Nachdenken über das un-/bestimmte Selbst. Besonders jene kurzen Momente, in denen sich lustvolle Selbstaufführungen von den Zurichtungsformen der Subjektivierung kaum noch trennen lassen, sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Immer wieder betonen die Protagonist_innen des Films, die Schönheitsoperationen ausschließlich für sich selbst vorzunehmen. Je öfter diese persönlichen, eigenen Beweggründe beschworen werden, desto stärker stellt der Film die Motive für Schönheitsoperationen in Frage. Woraus speisen sich die als eigene deklarierten Wünsche  ? Welchen Referenzen unterliegen sie  ? Worauf wird hier mit einer spezifischen Form der Selbstbestimmung reagiert  ? Ist es das bereits angesprochene Subjekt-Werden als Bestimmt-Werden, als rassifiziert- und klassifiziert- und gegendert-Werden, auf das hier mit einer spezifischen Form der Selbst-Bestimmung reagiert wird  ? In welchem Verhältnis stehen das Regiert-Werden und der Wunsch, anders regiert zu werden  ? Geht es überhaupt darum, anders regiert zu werden  ? Oder geht es nur darum, (sich) selbst zu regieren  ? Je mehr Beispiele der Film versammelt, umso stärker eröffnet er den Blick auf einen verstreuten Körper (in Foucaults Sinne), der ohne strikte Grenzziehungen zwischen Eigenem und Anderem auszukommen hat. Die von Arnd Pollmann vorgeschlagene Bezeichnung der Schönheitschirurgie als »Arbeit am eigenen Fremdkörper«12 ist daher nur auf den ersten Blick einleuchtend. Denn in vielen Szenen des Films wird der Körper als Instanz thematisiert, an der sich Interessenskonflikte zahlreicher Aktant_innen ablesen lassen. Auch die Filmemacherin Carolin Schmitz und die von ihr eingesetzten filmästhetischen Verfahren arbeiten an dieser Ver- und Entkörperungsprozedur mit, die Prozesse der Aneignung und Auslieferung, der Verwerfung und Wertschätzung mit einschließt.

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Kritik reformulieren  ? Die skizzierten Arbeiten der Govermentality Studies und des New Materialism treffen einander – bei aller Divergenz – in der Befragung und Relativierung des Subjekts. Beide Ansätze regen dazu an, gegenwärtigen Konzepten eines autonomen Subjekts skeptisch zu begegnen. Während die Govermentality Studies Verfahren der Selbstregierung auf gegenwärtige (neoliberale) Machtmechnismen hin untersuchen, weist der New Materialism auf die Konstitutionsprozesse von Subjekten und Objekten im Kontext relationaler Gefüge hin. Daraus erwächst die Aufgabe, über neue Formen der Autonomie nachzudenken bzw. Autonomie neu zu denken. Anhänglichkeit, Passivität, Bindung, Zugehörigkeit und NichtSouveränität gelten nicht länger als das Außen der Autonomie, sondern als deren konstitutiver Bestandteil. Damit ist auch die Notwendigkeit der Reformulierung von Kritik ausgerufen. War Kritik lange Zeit an Vorstellungen von Bewusstheiten und Strategien der Analyse gebunden, geht es gegenwärtig (und zukünftig) auch um die Kunst, Betroffenheiten zu entwickeln. Kritik hat demnach nicht nur die Aufgabe, Unsichtbares (Bedingungen der Möglichkeiten, verborgene Wahrheiten, Widersprüche) aufzudecken. Es geht zunehmend auch darum, gegenüber dem »Offensichtlichen und Unmaskierten«13 eine Haltung zu entwickeln, die es erlaubt, sich immer wieder aus den Fängen selbstironischer und selbstvergewissernder Gesten zu befreien. Betroffenheiten und Dinge von Belang (Latour) zu erzeugen, wäre ein erklärtes Ziel. Dies würde nicht nur die anhaltende Auseinandersetzung darüber implizieren, welche Dinge mehr und welche weniger von Belang sind, sondern auch die Herausforderung, Betroffenheitslogiken von ihrem schlechten Image zu befreien.14 Betroffenheit galt lange als das Gegenteil von Analyse und Kritik. In Zeiten ironischer Distanzierungen könnte sie zu einer neuen Form der Anstrengung werden und zwar in dem Sinne, in dem Foucault die Homosexualität vom Schwulsein unterschieden hat  : Es geht nicht darum, betroffen (homosexuell) zu sein, sondern darum, betroffen (schwul) zu werden.15

Anmerkungen 1 Rosalind Gill hat sich mit den unterschiedlichen Bestimmungen des Begriff auseinandergesetzt. Sie plädiert dafür, Postfeminismus nicht als epistemologischen Bruch innerhalb des Feminismus (Lotz 2001), als historische Phase nach dem Feminismus (Hollows 2000) oder einfach als backlash (Faludi 1992) zu begreifen und schlägt stattdessen vor, derzeitige Medien auf ihre, wie sie es nennt, »postfemininistische Sensibilität« zu untersuchen  : »Rather, postfeminism should be conceived of as a sensibility, and postfeminist media culture should be our critical object  ; the phenomenon

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which analysts must inquire into and interrogate. This approach does not require a static notion of authentic feminism as a comparison point, but instead is informed by postmodernist and constructionist perspectives and seeks to examine what is distinctive about contemporary articulations of gender in the media« (Gill 2007, 254f ). Für das Verfügbarmachen des eigenen Körpers gilt der Feminismus, das haben Paula Villa und andere Autor_innen hervorgehoben, als unfreiwilliger Katalysator  : »Die feministische Selbstermächtigung qua Körper […] ist im Kontext einer Individualisierungsideologie ›light‹ zum Geburtshelfer geworden für eine radikal individualistische Manipulation des Körpers, die oft nicht weiß um die sozialen Zwänge bzw. Entscheidungskorridore, die jede noch so autonome Entscheidung mit-konstituieren. So gesehen, ist jede selbst-ermächtigende Körperpraxis […] immer auch eine Unterwerfung unter soziale Normen. Die Beherrschung des Selbst durch die bewusste Manipulation des Körpers im Dienste hegemonialer Normen ist also die eine Seite der Medaille, deren andere Seite die Selbstermächtigung durch die Verfügbarkeit des eigenen Körpers« (Villa 2008, 250). Die Unterscheidung zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus geht auf Jürgen Links Buch »Versuch über den Normalismus« zurück. Link bestimmt die beiden Diskursstrategien wie folgt  : Im flexiblen Normalismus geht es »immer um prekäre Verhaltensgrenzen. Die Grenzen selbst sind fließend, so dass sie wesentlich als Toleranz-Grenzen bzw. HandlungsbedarfGrenzen erscheinen. Damit unterscheiden sie sich bereits von ›Normen‹ im Sinne ›normativer Grenzen‹ (etwa juristischer oder ethischer oder solcher des Brauchtums« (Link 1997, 21). Der Protonormalismus legt seine Normen fest und »ist bereit, sie den Individuen repressiv aufzuzwingen« (ebd., 92). Die hier angeführte Aufzählung geht weitgehend auf die Arbeiten von Rosalind Gill und Angela McRobbie zurück und fasst Aspekte, die die beiden Autorinnen an Beispielen diskutieren, zusammen. Makeover-Formate im Fernsehen wie »The Swan – Endlich schön« oder »Extrem Schön  ! – Endlich ein neues Leben  !« (D, RTL II, seit 2009) führen diese Doppeldeutigkeit des weiblichen Körpers vor (Seier/Surma 2008). Gemeint sind hier u. a. Autorinnen wie Jane Bennett, Diana Coole, Samanta Frost, Karen Barad, Astrid Schrader, Iris van der Tuin, Rosi Braidotti. Judith Butler hat in ihrem Text selbst nicht nur auf die wichtige Arbeit von Donna Haraway verwiesen, sondern auch einen Deleuzschen Feminismus prognostiziert, wie er viele Arbeiten des neuen Materialismus prägt  : »Einige haben sogar die Ansicht geäußert, daß ein neues Denken von ›Natur‹ als einem Gefüge dynamischer Wechselbeziehungen sowohl feministischen als auch ökologischen Zielen zugute kommt (was bei einigen zu einem sonst unwahrscheinlichen Bündnis mit dem Werk von Gilles Deleuze geführt hat).« (Butler 1995, 25) Astrid Deuber-Makowsky konstatiert  : »Anders als ihre jüngere Kollegin Karen Barad, die wie Haraway selbst an der University of California St. Cruz Science Studies, Feminist Studies und History of Consciousness unterrichtet, und die in ihrem Buch »Meeting the Universe Halfway« die Unterscheidung von »Diffraktion« und »Reflexion« aufgenommen hat, bezieht sich Haraway zwar auch auf den wörtlichen Sinn von Diffraktion als ein physikalisches Phänomen, jedoch nicht um daraus eine neue spekulative Ontologie zu entwickeln, sondern um das Spiel zwischen literaler und figuraler Bedeutung für die Konstruktion von neuen Mustern und neuen Geschichten fruchtbar zu machen. Während Barad Diffraktionsmuster als fundamentale Bestandteile der on-

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tologischen Beschaffenheit einer prozesshaft gedachten Weltwerdung versteht und Diffraktion als ein Quantenphänomen sieht, das den Fall der klassischen Metaphysik explizit macht, birgt Diffraktion für Haraway die Möglichkeit, Differenzen in Anlehnung an Trinh T. Minh-has Konzept der »inappropriate/d others« nicht als das Andere des Einen, sondern als Effekt eines relationalen Gefüges zu denken und darauf aufbauend  : auf eine neue Weise neue (Lebens)Geschichten zu entwerfen.« (Deuber-Mankowsky 2011, 1989).   9 Vgl. z. B. den von Corinna Bath u. a. herausgegeben Sammelband zu Geschlechterinferenzen (Bath et al. 2013). 10 Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm. Hinsichtlich der Re- und Denormalisierungsprozeduren des Fernsehens vgl. z. B. Seier 2007. 11 Die Offenheit des Films, die Vereindeutigungen und Kommentierungen jeglicher Art vermeidet, ist in Rezensionen kritisiert worden. Vgl. z. B. die Rezension von Joachim Kurz, die auf die mangelnden Identifikationsmöglichkeiten mit den Protagonist_innen hinweist, die sich aus der ästhetischen Entscheidung der Filmemacherin ergeben (Kurz 2012). Allerdings wurde dem Film bei der Premiere in Leipzig auch das Gegenteil vorgeworfen. Er führe seine Protagonist_innen vor und erziele aus diesem Grund keine Identifikation mit ihnen. Diesen Wunsch nach Identifikation verweigert der Film in der Tat. Matthias Dell hat in dieser Debatte gegen die These der Vorführung argumentiert. Der Film verlängere, so der Autor, »lediglich die Logik der neurotischen Selbstdarstellung in seine Erzählung, wenn er die Leute vor der Kamera sich mit drängenden, dichten Erklärungen präsentieren lässt.« (Dell 2012) 12 Pollmann argumentiert deutlich kulturpessimistischer als der Dokumentarfilm von Carolin Schmitz, wenn er die Arbeit am eigenen Fremdkörper als eine »gewaltsame […] Wiederaneignung entfremdeter, erodierter Integrität« definiert (Pollmann 2006, 309). 13 Marina Garcés hat darauf hingewiesen, dass Kritik nicht mehr nur Aufdeckung und Erhellung zur Aufgabe hat, sondern sich vielmehr dem Problem der Ohnmacht gegenüber dem Offensichtlichen zu stellen hat  : »Doch eines der Hauptmerkmale des globalisierten Kapitalismus, dieses Kapitalismus, der sich selbst als die einzig mögliche Welt darstellt, besteht darin, dass er keine Masken mehr trägt und nichts zu verbergen hat. Es gibt kein Geheimnis der Produktion mehr. Nach dem Ablegen aller Masken bleibt nur seine Offensichtlichkeit als Form der Legitimation. ›Das ist alles, was es gibt‹, sagt uns die Welt.« (Garcés 2008) 14 »Wenn die Kritik«, so heißt es bei Garcés (2006, o. S.), »als jener theoretisch-praktische Diskurs definiert werden kann, der emanzipatorische Effekte zeitigt, dann muss unsere Befreiung vom Ich heute das Hauptziel der Kritik sein. Das Ich ist nicht unsere Singularität. Das Ich ist jenes Dispositiv, das uns in der Netzwerkgesellschaft sowohl isoliert wie verbindet«. 15 »Ich wollte damit auch sagen, daß mit diesen sexuellen Entscheidungen zugleich Lebensweisen geschaffen werden müssen. Schwul sein bedeutet, daß diese Entscheidungen das ganze Leben durchdringen. Es ist eine bestimmte Art und Weise vorgefertigte Lebensweisen abzulehnen, was heißt, mit einer sexuellen Entscheidung auch seine Existenz zu verändern. Nicht schwul sein hieße dann fragen  : ›Wie kann ich die Auswirkungen meiner sexuellen Entscheidung so einschränken, daß sich mein Leben in keiner Weise ändert  ?‹ Ich würde nun sagen, daß man seine Sexualität dazu verwenden soll, »neue Beziehungsformen zu entdecken und zu erfinden. Schwul sein heißt im Werden sein. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen möchte ich hinzufügen, daß man nicht homosexuell sein muss, sondern daß man darauf hinarbeiten muß, schwul zu sein.« (Foucault 1984, 109f )

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Entkörperung/Verkörperung

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Andrea Seier

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Birgit Flos

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ? Impuls Das Ende von Buster Keatons »Sherlock Jr.« (1924) gab den Impuls für diesen Text  : Das Happyend des Films zeigt einen schüchternen jungen Mann (Keaton) 1 der, bevor er sich seiner Auserwählten zur ultimativen Paarfindungsgeste – dem finalen Kuss – nähert, versucht, von einem synchron laufenden Film im Film abzuschauen, wie ›Mann‹ bei dieser Gelegenheit Ziel führend vorgeht. Schritt für Schritt imitiert er die Gesten seines Filmvorbilds: erst der behutsame Schultergriff, dann den Kopf der Liebsten sanft nach oben führen etc. Es gelingt ihm allerdings nicht, die Gesten glaubwürdig nachzuahmen – auch deswegen nicht, weil er sich immer wieder von der Frau abwenden muss, um den Filmliebhaber zu beobachten. Die erwartete leidenschaftliche Berührung der Lippen, die er im Film sieht (und wir im Film im Film), ist bei ihm nur ein hastiges spitzmündiges Küsschen. Die Frage, was dieser Filmkuss mit der nun folgenden SchlussEinstellung zu tun haben könnte – glücklicher Mann inmitten einer Kinderschar, glückliche Frau im Hintergrund –, bleibt für den jungen Mann, nach seinem Gesichtsaudruck zu schließen, offen.

Orientierung  : – Judith Butler in »Gender Trouble« 1991 »›Female Trouble‹ ist der Titel eines Films von John Waters, dessen Hauptdarsteller/in Divine auch als Held/in in ›Hairspray‹ auftritt. Divines Darstellung von Frauen weist implizit darauf hin, dass die Geschlechtsidentität eine Art ständiger Nachahmung ist, die als das Reale gilt. Sein/ihr Auftritt destabilisiert gerade die Unterscheidungen zwischen natürlich und künstlich, Tiefe und Oberfläche, Innen und Außen, durch die der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten fast immer funktioniert. Ist die Travestie eine Imitation der Geschlechtsidentität  ? Oder bringt sie die charakteristischen Gesten auf die Bühne, durch die die Geschlechtsidentität selbst gestiftet wird  ? Ist ›weiblich sein‹ eine ›natürliche Tatsache‹ oder eine kulturelle Performanz  ? Wird die ›Natürlichkeit‹ durch die diskur33

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siv eingeschränkten performativen Akte konstituiert, die den Körper durch die und in den Kategorien des Geschlechts (Sex) hervorbringen  ?« (Butler 1991, 8) »Wie strahlend erscheint Schauspielkunst  ! Sie ist ganz und gar Imitation, gleichgültig ob das Geschlecht darunter echt ist oder nicht.« (Park Tyler, zit. lt. Butler 1991, 190)2

Die Vorbildfunktion der Stars für das Alltagsleben des Publikums und die Wirkmacht der Medien werden als gegeben angesehen. In der Szene aus »Sherlock Jr.« werden sie wörtlich genommen. 1910, also 14 Jahre vor diesem Film, wurde zum ersten Mal eine Filmschauspielerin im Vorspann namentlich erwähnt  : die bis dahin als the biograph girl anonymisierte Florence Lawrence. Dieser für die Entwicklung des Starsystems entscheidende Schritt war vom Publikum eingefordert worden, weil das rasant zunehmende Interesse an den Filmschauspielerinnen und Filmschauspielern nicht nur auf ihre jeweilige Persona in den Filmen gerichtet war, sondern auf die Filmdarstellerinnen und -darsteller selbst – als die von Glamour umgebenen Menschen – auf ihr persönliches Alltags- und Liebesleben. Folgerichtig geriet auch ihr Privatleben unter die Regie der Produzenten und wurde ganz nach den Erwartungen und Vorlieben des Publikums durchinszeniert.3 Das ist die erste Nachahmungs-Ebene, die erste der vielfältigen Verstärkungen von gesellschaftlich akzeptierten bzw. geforderten Charakterzügen und Haltungen durch Filme. Das Publikum sieht in den Stars (nicht nur in ihren jeweiligen Filmrollen, sondern in der Art wie sie als Star ihr Leben führen) nachahmenswerte Vorbilder. Die zweite Nachahmungsebene wird in »Sherlock Jr.« besonders deutlich. Hier sieht das Publikum einen Star, Buster Keaton, der einen Mann spielt, der versucht, die Gesten eines anderen (auf einer zweiten Ebene fiktiven) Leinwandstars nachzuahmen. Dieser für Keaton nachahmenswerte Mann/ Star spielt in einem ›Film im Film‹ die Rolle des Liebhabers. Buster Keaton demonstriert hier die oben beschriebene Strategie, indem er innerhalb der Diegese des Films als mit den angemessenen Liebesgesten wenig erfahrener ›Normalbürger‹ das Filmmodell des raffinierten Liebhabers nachzuahmen versucht. Mich interessiert das Phänomen des Nachahmens einer typisierten Geschlechtsidentität in Filmen, in diesem Fall in einigen Filmen von Buster Keaton. Es geht also um das Konstituieren, Nachahmen und dadurch eventuell Verstärken einer Performanz von ›Männlichkeit‹ bzw. geht es um die Frage, ob das Nachahmen von Haltungen und Gesten im Film die jeweilige gesellschaftlich dem biologischen Geschlecht zugeordnete Identität bestätigt, karikiert oder unterwandert. 34

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

In den hier besprochenen Filmen ergibt sich ein zirkulärer Verstärkungseffekt  : das, was z. B. von einer (innerhalb der Diegese auf der Filmleinwand) als positiv ›männlich‹ konnotierten Person abgeschaut wird, spiegelt sich möglicherweise in den persönlichen Einstellungen und im Verhalten von Zuschauerinnen und Zuschauern, die sich mit diesem Konzept von Männlichkeit identifizieren, und wirkt in der Alltagseinschätzung und gegebenenfalls in der Nachahmung verstärkt weiter, wird wieder von den Medien aufgegriffen, verwertet usf. Den Überlegungen liegen keine speziellen Definitionen von ›Männlichkeit‹ zugrunde, männlich sein wird hier tautologisch gesehen  : Das, was zu einem gegebenen Zeitpunkt als ›männlich‹ gezeigt und zur Nachahmung angeboten wird. Es erscheint daher sinnvoll, sich die als typisch männlich konnotierten Aktionen und Haltungen gerade in den dem Mainstream zugeordneten Filmen anzuschauen, da in diesen Fällen angenommen werden kann, dass sie die Erwartungen des Publikums im Konsens mit der vorherrschenden Ideologie bedienen.4 Die Filmindustrie, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zum Studiosystem mit seinen strikten Produktions- und Distributionsvorgaben5 konsolidierte, versorgte das Publikum mit Filmen der verschiedensten Gattungen und Formate, um eine möglichst große Bandbreite der Interessen abzudecken. Der Slapstick-Film war in den 1920er Jahren immer noch eines der populärsten Filmgenres in den USA. Aber diese Dekade bringt dann auch das schnelle ›Aus‹ für die Stummfilmkomödie  ; ihr Ende ist nach der Einführung des Tonfilms (1927) schon ca. zwei Jahre später, 1929/30, ein unwiderrufliches Faktum. Von den großen Slapstick-Stars produzierte nur Chaplin mit »Modern Times« – erst 1936 – seinen ersten Film mit lippensynchronem Ton.6 In den stummen Slapstick-Komödien, deren Gags in den 1910er Jahren weitgehend darin bestanden hatten, Kommunikationsabläufe ins absurd Unlogische zu kippen und in verblüffenden oder akrobatischen Aktionen aufzulösen (als Beispiel hier nur  : die obligatorischen Tortenschlachten und die pratfalls, d. h. das brettartige Umfallen, ohne Abstützung durch die Arme ), spielte in den 20er Jahren – noch vor dem dramatischen Einschnitt durch den Tonfilm – der erzählende Rahmen allmählich eine immer größere Rolle. Der Übergang vom cinema of attraction zum cinema of narrative integration (Tom Gunning),7 der Übergang also von einer narrativ nur lose verbundenen Nummernrevue zu einer sorgfältiger ausgearbeiteten Erzählstruktur, wurde in den Filmen immer mehr zur Norm. Stummfilme sind besonders ergiebige (nicht durch Dialoge ›kontaminierte‹) Bildtexte, um über Körper und Gesten und ihre geschlechtspezifische Zurichtung nachzudenken und über die Frage, ob sich eine Geschlechtsidentität über bestimmte Körpergesten (die auch eingeübt oder nachgeahmt sein können) dar35

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stellt. Einige Filme von Buster Keaton sollen im Folgenden nach diesen Kriterien in Augenschein genommen werden. Ausgewählt wurden dazu nur Filme, die er unter eigener Kontrolle als Filmautor drehen konnte, bevor er als Vertragsangestellter der Metro-Goldwyn-Mayer Studios seine Autonomie verlor.

Die Leistungsschau der Verkörperungen »The Playhouse«, Buster Keaton (1921) Ein Mann (Keaton) kauft sich bei der Frau an der Theaterkasse (Keaton) eine Eintrittskarte und öffnet die Tür zum Theaterraum. Schnitt. Die Tür öffnet das Keaton-Universum. Sämtliche Bühnenakteure – die Orchestermusiker, die Herren der Minstrel-Show,8 alle Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Rängen und schließlich ein abgerichteter Affe – werden von Buster Keaton dargestellt. Eine großartige Maskerade, ein Katalog von Buster Keatons virtuosen Verwandlungs- und Verkörperungsmöglichkeiten  : Er stellt in einer rasanten Abfolge überzeugend Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts dar. Nur bei den Musikern erkennt man den Schauspieler eindeutig als Buster Keaton, der alle Musiker inklusive des Dirigenten darstellt. Diese schnelle Inszenierung von verschiedenen Menschen auf der Bühne und im Theaterraum, die von nur ein und demselben Darsteller verkörpert werden, ist nur im Film möglich. Den Höhepunkt bildet die Affennummer. Der ›richtige‹ Affe ist kurz vorher aus seinem Käfig entkommen. Keaton springt als stand in für den Affen ein. Er muss einen Affen darstellen, der dazu abgerichtet ist, das Verhalten von Menschen bzw. Männern nachzumachen/nachzuäffen  : z. B. Trinken, Zigarrenrauchen, den Damen Nachsteigen etc. Schließlich schwingt sich Affe Keaton auf die Brüstung des ersten Ranges in den Sichtbereich einer Dame, die umgehend in Ohnmacht fällt, als ihr bewusst wird, was oder wer da plötzlich vor ihrem Lorgnon aus der optischen Unschärfe klar und deutlich auszumachen ist  : ein Menschenaffe, ein Affenmensch. Der Affe Keaton schaut in die Kamera und damit auch direkt das Kinopublikum an. Er wirkt wie die Synthese all dieser imitierten Wesen. Ich bin Du. Eine Assoziation mit dem Affen Rotpeter, der in Franz Kafkas »Ein Bericht für eine Akademie« (1917) die Geschichte seiner Menschwerdung referiert, ist nahe liegend.9 Hier in der Gestik und da in der Sprachhaltung kommen vergleichbares Erstaunen und Hilflosigkeit, über das, was angeblich die Menschen zu Menschen, was die Männer zu Männern macht, zum Ausdruck. Buster Keaton hätten derartige Assoziationen sicher nicht sonderlich interessiert. Vermutlich hätte er sie mit einem kräftigen (selbstverständlich unsicht36

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

baren inneren) bellylough ignoriert. Ihm ging es nach eigener Aussage nur darum, sein Publikum zum Lachen zu bringen.10 Dafür musste er Situationen verarbeiten, die dem Publikum grundsätzlich vertraut waren, damit der Irrwitz ihrer Slapstick-Behandlung und -Verfremdung lachend genossen werden konnte. Warum geraten hier also Filme von Buster Keaton ins Forschungsinteresse  ? Er inszeniert in »The Playhouse« eine Figur, die variierende Geschlechtsidentitäten in experimentellen Settings auszuprobieren scheint– in seinen anderen Filmen einen Menschen männlichen Geschlechts, der nach seinem Verhalten, seiner Haltung her zu schließen, keiner Geschlechtsidentität eindeutig zugeordnet werden kann. Diese besondere Eigenschaft, nirgends so wirklich dazu zu gehören, diese Ambivalenz wird innerhalb der Filmerzählung von anderen als Mangel wahrgenommen. Immer wieder wird Keaton zunächst unterschätzt und versucht dann fast widerwillig sich anzupassen – wie ein Außerirdischer, der sich durch Nachahmung und das Üben vor allem von Körpergesten in seinen neuen Lebensraum zu integrieren versucht. In Krisensituationen (das heißt  : permanent) zieht er dann aber doch seine ganz eigenen Schlüsse und meistert die für ihn ungewöhnlichen oder selbst gewählten Aufgabenstellungen mit den fantasiereichsten und (gerade deswegen) konsequentesten Strategien. Als erstes, wenn von Buster Keaton die Rede ist, wird mit Sicherheit erwähnt  : »Er lächelt nie.« Buster Keaton wird vor allem mit seinem stone face identifiziert, mit seinem vermeintlich »leeren Gesicht«.11 Es ist doch erstaunlich, dass Buster Keatons Nichtlächeln als sein Alleinstellungsmerkmal gilt. Er lächelt nicht nur nicht, er lacht, weint nicht, wird nicht sichtbar wütend oder verzweifelt etc. Er grimassiert nicht (eine häufige Routine in früheren Slapstick-Filmen). Buster Keaton sagt selbst über sein Gesicht  : »Down through the years my face has been called a sour puss, a dead pan, a frozen face, The Great Stone Face and believe it or not ›a tragic mask‹. On the other hand that kindly critic, the late James Agee, described my face as ranking almost with Lincoln’s as an early American Archetype, it was haunting, handsome, almost beautiful […]‹ (Agee 2005 [1949], 26), people may talk it up or talk it down, but my face has been a valuable trade-mark for me during my sixty years in show business.« (Keaton 1960, 11)12

Die nur scheinbar erstarrte dabei doch besonders beredte Mimik des Künstlers macht (seine Augen, sein Mund, sein Atmen und die diversen Haltungen seines Kopfes etc.) sein Gesicht unverwechselbar und gleichzeitig frei für viele Überschreibungen. Körper und Gesicht scheinen ›nach außen‹ undefiniert und ›innen‹ 37

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von so explosiver minimalistischer Expressivität, dass offene, ambivalente, androgyne, nicht präzise zu lesende Zuschreibungen möglich sind. Roland Barthes, der eigentlich das Gesicht von Greta Garbo meint  : »Es ist gewiss ein bewunderungswürdiges Gesicht-Objekt […] an der Oberfläche verschlossen durch die Farben und nicht durch seine Linien. In diesem zugleich verletzlichen und kompakten Schnee sind allein die Augen – schwarz wie seltsames Fruchtfleisch, doch keineswegs expressiv  – zwei ein wenig zitternde Verletzungen […] die Garbo offenbarte so etwas wie eine platonische Idee der Kreatur, und das erklärt, warum das Gesicht fast entsexualisiert ist, ohne deshalb zweifelhaft zu sein. […] Allerdings leistet der Film dieser Ungeteiltheit Vorschub«. (Barthes 1964 [1957], 73)

Ungeteiltheit – auch Keaton umgibt diese nicht eindeutige Ausstrahlung, die ihn zu prädestinieren scheint, ein unbeschriebenes Blatt, der nicht vertraute Mensch, der unbekannte Andere zu sein. Aber trotzdem noch etwas zum Lächeln bzw. zum Nie-Lächeln  : Natürlich ist das eine Beschreibung, die auf Buster Keaton in seinen Filmen zutrifft (auch im Privatleben, wie seine Frau immer wieder betont hat). Nur als Alleinstellungsmerkmal des Künstlers Buster Keaton ist diese Charakterisierung verkürzt – ein Buster Keaton Klischee. Klischee wird etymologisch von cliché abgeleitet und bedeutet in einem direkt materiellen Sinn ›abgegriffen‹, das heißt im Kontext von Druckvorlagen, dass trotz der vielen Gebrauchsspuren noch Wesentliches des Originaldruckstockes bleibt. Das Lächeln ist international das zentrale Minenspiel für das Zugehen auf andere, ein Signal, freundlich und ohne Arg zu sein (wenn es nicht ein ›falsches‹ Lächeln ist). Ganz ohne dieses Lächeln, das auch eine Zustimmung begleitet oder das um Zustimmung ersucht, ist nicht nur der Beginn einer Kommunikation erschwert, sondern auch das erste Einschätzen, wie der andere seine Aussagen meint, wie er insgesamt einzuschätzen ist. Das Lächeln ist eine Kontaktgebärde, es wirkt innerhalb der sozialen Interaktion auch als Auslöser positiver Emotionen. Wenn also wie in Buster Keatons performance ein Lächeln überhaupt nicht vorkommt, wird er auch dadurch zu einem Menschen, der nicht einzuordnen ist, einer, der offensichtlich eine ›normale‹ Kommunikation verweigert oder nicht imstande ist, sich auf sie einzulassen. Was wird erzählt  ? Die narrative Grundstruktur der Filme ist als Topos in der europäischen Erzähltradition verankert  : Um die Liebe einer Frau (oder ein anderes kostbares Gut – z. B. den Gral) zu erringen, muss der Held sich beweisen, muss er diverse Prüfungen bestehen. Keaton versucht, die Liebe einer jungen Frau zu gewin38

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

nen. Es kommen in seinen Filmen auch andere Motivationen vor, z. B. erhebliche Problemstellungen technischer Art, die Buster Keatons völlig unorthodoxe Lösung erfordern. Die junge Frau also, auf die er bei der Brautsuche sein Auge wirft, ist von ihm durchaus angetan. Aber die Beziehung kann sich nicht entwickeln, weil ihre Peergroup und vor allem der Brautvater (allgemein der VATER und damit die patriarchalische Gesellschaft) verhindern wollen, dass sie sich mit einem Menschen zusammen tut, der keines der Kriterien erfüllt, die sie von einem akzeptablen Mann erwarten. Außerdem befürchtet die Frau auch selbst, durch diese unpassende Verbindung, ihren gesellschaftlichen Status zu verlieren. Also muss sich Keaton der Umschulung zu einem annehmbareren Exemplar der Männer-Gesellschaft unterziehen. Was aber ist ein akzeptabler junger Mann  ? Keaton gibt sich lernwillig und konsultiert diverse Angebote der Ratgeberliteratur oder lässt ein Training über sich ergehen, um ein ›maskulines‹ Leistungsniveau zu erreichen. Dabei gibt es eine Leerstelle. Erotik und Sexualität stehen nicht im Lehrplan. Die maskulinen Attribute beschränken sich auf solche wie  : erfolgreich, stark, mächtig, reich etc., aber eine Geschlechtsidentität, die sich durch Begehren definiert, spielt keine Rolle.13 »The Saphead«,14 Herbert Blache (1920) In diesem Film hatte Buster Keaton seine erste Rolle in einem Langfilm (noch nicht in eigener Regie) »The Saphead« ist die Verfilmung eines damals beliebten Theaterstücks, in das Buster Keaton seine Rolle erheblich aufgewertet neu hineingeschrieben hatte. Er verkörpert einen lebensuntüchtigen, einfältigen Sohn aus reichem Haus, der die Organisation seines Alltags dem Butler überlässt. Nur um sein Liebesleben muss Keaton sich selbst kümmern. Dafür konsultiert er einen Schnellkurs »How to win the modern girl«, der den Leitgedanken der Ausbildung so formuliert  : »She [the modern girl] prefers sports to saints. Few girls now-a-days can resist a dashing, gambling, drinking devil.«15 »Bertie’s failure to communicate his love reflects his painful awareness that he lacks those qualities that define contemporary manhood. […] What separates Bertie from the ideal of masculinity is decisive action. Bertie starts playing the role of the good sport, for ever in pursuit of a bad reputation, which leads him in the world of nightclubs and gambling dens.«16 (Krämer in Grieveson/Krämer 2004, 283)

Der zeitgemäße Mann will vor allem Risiko, Spaß, buddies zum Feiern, reichlich Alkohol und ein gefährlich anrüchiges Nachtleben. Im Fall von Alkohol und Glücksspiel überschreitet der Teufelskerl die Grenzen zur Illegalität.17 39

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Wie vorauszusehen, kommt Keaton-Bertie mit dieser Strategie weder bei der jungen Frau noch bei seinem Vater gut an. Der Vater sieht den wahren Mann im erfolgreichen Unternehmer und entgegen der Lehrmeinung der How to-Broschüre findet auch die junge Frau den unseriösen Lebenswandel ihres Freundes nicht attraktiv. Erst als sein persönliches love interest gefährdet ist, beweist der Filmheld in einem plötzlichen Wutausbruch endlich seine Aktionskraft. (In dieser Situation in »Saphead« versteht er allerdings nicht, was eigentlich das Problem ist und rettet das Vermögen seines Vaters unbeabsichtigt und nebenbei.) Nichts lässt darauf schließen, dass Keatons Charakter nach dem Abflauen der Wut und der darauf folgenden Belohnung durch die Eheschließung ein anderer geworden ist. Sicher ist nur, dass die unangefochten als binär definierte Geschlechterordnung im Happyend obsiegt. »College«, James W. Horne (1927) Das Ende von »College« ist anders. Dieser Film geht ausnahmsweise nach dem Happyend der Eheschließung noch weiter. In vier tableaux werden die Szenen dieser Ehe skizziert. Erst die glücklichen Eltern – mit strikter Aufgabenteilung  : Die junge Frau, die Keaton vor der Ehe gleichrangig, wenn nicht überlegen war, betreut die Kinder, während der junge Vater mit Muße die Zeitung liest. Das zweite Bild zeigt ein voneinander gelangweiltes Paar mittleren Alters, das dritte das Endstadium des Nicht-mehr-Kommunizierens der alten Herrschaften und das vierte schließlich die beiden gleich gestalteten Gräber, ein gutes Stück von einander entfernt. Vor diesem Ende gibt es in der story line wieder einen ähnlichen Ablauf wie in »Saphead« und den anderen besprochenen Filmen  : Unvermögen, Training, Erfolg in einer anderen Variante. Der Bücherwurm und Streber Keaton beteiligt sich auf dem Campus nicht an den sportlichen Aktivitäten – ausschließlich der Erfolg in diesem Bereich bestimmt allerdings die Attraktivität der jungen Männer. Die von Keaton Angebetete mag ihn trotz seines Desinteresses für sportliche Aktivitäten, aber sie will sich mit diesem vermeintlichen Versager nicht vor den anderen blamieren. Also liest Keaton Anleitungsbroschüren für die verschiedenen Leichtathletik-Disziplinen und beginnt zu trainieren. Seine Leistungen sind (wie wir es von Buster Keaton erwarten können) wieder erbärmlich und nur für das Publikum mit ihrem erheblichen Slapstick-Potenzial zufrieden stellend. In dem Moment aber, in dem seine Freundin ihn zu Hilfe ruft, läuft er zur körperlichen Höchstform auf und absolviert auf dem Weg zur Rettung in letzter Not alle sportlichen Disziplinen, in denen er vorher versagt hat  : Hürdenlauf über Büsche, Stabhochsprung zum Fenster der Bedrohten etc. 40

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

Es sieht so aus, als ob dieser Mann seine Fähigkeiten nur dann zeigt, wenn es wirklich notwendig ist, aber nur in dieser speziellen Situation und nicht zur Körperertüchtigung und Freizeitgestaltung. Eine andere Lesart wäre, dass dieses Potenzial zur Steigerung der Leistungskraft in Extremsituationen einem Mann (einem Menschen  ?) inhärent ist. Dass es nicht notwendig ist, dieses Können zu üben, weil es ein Attribut der ›natürlichen‹ Geschlechtsidentität ist. »Battling Butler«, Buster Keaton (1926) Das im Kontext der Fragestellungen dieses Textes interessanteste Beispiel ist »Battling Butler« – wieder ein Trainingsfilm nach dem bekannten Muster  : von körperlicher Schwäche zu unerwarteter Stärke. Um Vater und Brüder einer jungen Frau, mit der Keaton erstaunlich belebt und erfolgreich flirtet, zu überzeugen, dass er der Richtige für sie ist, muss er wieder seine körperliche Stärke beweisen. Durch eine List, für die Keaton nicht selbst verantwortlich ist, wird er für einen bekannten Profiboxer gleichen Namens gehalten. Sofort – buchstäblich ehe er sich versieht – wird er mit der jungen Frau verheiratet. Es kommt zur vorhersagbaren Katastrophe. Keaton soll anstelle des wirklichen Boxprofis gegen den »Killer von Alabama« in den Ring. Wieder wird ein rigoroses Training notwendig, in dem Keaton wunderbar und für das Publikum höchst genüsslich versagt. Glücklicherweise absolviert und gewinnt dann doch der Profi selbst den Kampf. Aber danach will er es Keaton doppelt heimzahlen  : Dafür, dass der sich für ihn ausgegeben hat, und dafür, dass er angeblich etwas mit seiner Frau hatte (hatte er nicht). Hier kippt die Slapstick-Komödie und wird zum Drama. Keaton hebt beide Fäuste vor sein Gesicht, er will nicht kämpfen, seine Weigerung beruht nicht nur auf nackter Angst, er will diesen Kampf einfach nicht. In diesem kritischen Moment öffnet seine Frau, die nicht weiß, dass er eigentlich kein Boxer ist, die Tür zum Trainingsraum, in dem die beiden Widersacher einander gegenüberstehen. Nach einem Blickkontakt mit ihr kann Keaton den Kampf nicht länger verweigern, er muss sich vor ihr beweisen. Was jetzt folgt, ist nicht durch Komik verfremdet. Keaton steigert sich nach einer anfänglich klar unterlegenen Phase in einen Kampfrausch und boxt den anderen mehrfach zu Boden, hört nicht auf, als dieser schon längst nicht mehr reagieren kann und schließlich wie leblos vom Trainer weggetragen werden muss. Eine ungeheuerliche Szene, ein Bruch in der Persönlichkeit seiner fiktiven Person und eine Ausnahme in Buster Keatons Gesamtwerk. Was passiert hier  ? Keaton will seiner Frau beweisen, dass er sie nicht angelogen hat, er kann wirklich boxen. Sie verfolgt den Kampf mit glänzenden 41

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Augen, sie ist erregt, sie genießt den Kampf. Man könnte meinen, nein, man sieht, dass sie sich erst jetzt in Keaton verliebt, in diesen unbeherrschten, wilden Mann, der einen anderen Menschen brutal zusammenschlägt. 18 Aber auch hier gilt wieder  : Das ist kein sportliches Kräftemessen, sondern ein sehr persönlich motivierter Kampf Mann gegen Mann, der ganz ohne das entsprechende Training genauso verlaufen wäre. Zur sportlichen Seite ist zu sagen, dass Boxen 1926 in den USA noch nicht lange eine offiziell anerkannte Sportart war. Erst 1921 hatte sich The National Boxing Association (der seitdem dominierende amerikanischen Boxverband) etablieren können. Im gleichen Jahr wurden verbindliche Regeln formuliert, z. B. dass der Boxer sich umgehend in seine Ecke zurückziehen muss, wenn der Gegner zu Boden gegangen ist. Vorher konnte er einfach im Ring abwarten und den Mann sofort attackieren, sowie er wieder halbwegs auf die Füße kam. Offensichtlich hat Keaton noch ohne Berücksichtigung der so genannten »Queensberry Rules« gekämpft.19 Ulrike Schaper (2006) schreibt in ihrem Text »Das Boxen ist ein Sport wahrer Männlichkeit«  : »Geschlecht stand im Diskurs über das Boxen der 1920er und frühen 1930er Jahre in doppelter Hinsicht im Ring  : Erstens galt der Ring als rein männliche Domäne, als Bereich, in dem ›echte Männlichkeit‹ gefordert war. Die Figur des Boxers galt als Verkörperung einer ursprünglichen, unhinterfragbaren Männlichkeit und Boxen als Mittel, Männlichkeit zu erwerben. Zweitens wurden in dieser Figur symbolisch auch Veränderungen in der Geschlechterordnung abgewehrt, da im Kampf die (körperliche) Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen offensichtlich zu werden schien und sich in dieser männlichen Welt Gleichberechtigungsforderungen von selbst erledigten.«

Die Tatsache, dass beim Boxen zwei Männer halbnackt aneinander geraten, bedeutet zweifelsohne eine intensivere Körpernähe, als sie zwischen Frau und Mann in Filmen dieser Zeit vorkommt bzw. von der vorauseilenden (Selbst-) Zensur der Filmbranche erlaubt war. Dermaßen körpernahe Szenen zwischen Mann und Frau wird man auch in Buster Keatons Filmen vergeblich suchen. Im Gegenteil  : Gängig ist der fast neutrale asexuelle Körperkontakt. Ein flüchtiger Kuss oder eine zufällige Berührung aufgrund äußerer Turbulenzen. Der Körperkontakt des Paars endet so abrupt als würden sich Materialien unterschiedlicher physikalischer Eigenschaften gegenseitig abstoßen. Am Ende der oben geschilderten Kampfsequenz aus »Battling Butler« wird Keaton gefragt, wann er denn das nächste Mal kämpfen würde. Seine Antwort 42

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

lautet  : »When I get drafted.« (»Wenn ich eingezogen werde.«) Buster Keaton war der einzige der Slapstick-Stars, der noch im Juni 1918, in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs, eingezogen wurde (Slocum 2006, 123–136) In seiner Autobiografie schreibt er, wie absurd ihm dieser Krieg vorkäme. Er hätte in seinem internationalen Berufsleben als Bühnenkünstler die nettesten Menschen aus vielen Nationen kennen und schätzen gelernt und könnte nicht verstehen, warum er nun Menschen dieser Nationen bekämpfen sollte (Keaton 1960, 98). »Battling Butler« bleibt eines der Fragezeichen in Buster Keatons Filmografie. Der Film wurde kein Erfolg, möglicherweise wegen der verstörenden Kampfszene – vielleicht weil es hier kein Vorbild gab, mit dem Mann sich hätte identifizieren können (dürfen  ?). Buster Keaton selbst hat den Film in seiner wortkargen Art wiederholt als ›guten‹ Film, ja, sogar als seinen liebsten Film bezeichnet – ohne weitere Kommentare.

Frauenrollen Die (bis auf wenige Ausnahmen) sekundären Rollen, die Keatons Filmpartnerinnen spielen (dürfen), scheinen Buster Keatons affirmative Haltung gegenüber der zeitgenössischen etablierten Geschlechterordnung zu bestätigen. In den Beispielen, die hier bearbeitet wurden, sehen die Frauen meistens nur zu, sie warten ab, in welche Richtung sich Keaton bewegen wird, obwohl sie die Ursache seiner Bemühungen sind. Buster Keaton listet in seiner Autobiografie seine Vorlieben bei der Wahl der Filmpartnerinnen auf  : »The leading lady had to be fairly good-looking, and it helped some if she had a little acting ability. As far as I was concerned I didn’t insist that she have a sense of humor. There was always the danger that such a girl would laugh at a gag in the middle of a scene, which meant ruining it and having to remake it.« (Keaton 1960, 130)

Auf die meisten seiner Partnerinnen treffen diese Auswahlkriterien nicht zu, sie spielen auf Augenhöhe. Sie agieren oft wie die Stimme der Vernunft, wie der Weißclown in einer Doppelconférence. Sie geben durch ihre ›normalen‹, das heißt auch vernünftigen Handlungsweisen und Argumente dem Partner die Stichworte für verblüffende aber konsequente Ableitungen.20 Zum Abschluss der Beispiele sollen noch zwei herausragende Szenen in Buster Keatons Filmen erwähnt werden, die deutlich die Ambivalenz und eine 43

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Hinterfragung der dogmatisch eingeschriebenen Geschlechterrollen in Szene setzen. Ausgerechnet »Battling Butler« endet mit einer fast schwebenden poetischen Szene. Nach dem problematischen Kampf schlendern Keaton und seine Frau entspannt durch die graue Menschenmenge, die aus der Boxarena strömt. Sie haben mit dieser anonymen Menschenmasse nichts zu tun. Es scheint, als wäre das Paar in dieser Szene von einem glänzenden Kokon umgeben – wie abgehoben von der uniformen Normalität. Ein verblüffendes Bild  : Keaton mit nacktem Oberkörper, Boxershorts und Zylinder überrascht in dieser beglückenden Situation mit einer irritierenden Mixtur aus Körpergesten und Dresscodes: der zarte Boxer als androgyner Bonvivant. Die junge Frau, die bis zu dieser Szene Status konform konditioniert schien, freut sich über diese performative Gelöstheit ihres Mannes und spielt mit. Die beiden sind verrückt, sexy und glücklich. Losgelöst von allem und nur bei sich. Das ist die erotischste Szene, die mir im Werk von Buster Keaton bewusst ist. Die zweite Szene kommt in Buster Keatons genialem Kurzfilm »One Week« von 1920 vor. Keaton setzt unmittelbar nach der Hochzeit ein Fertighaus zusammen. Unglücklicherweise ist die Nummerierung der Montageschritte durcheinander geraten. Kurz nachdem die Badewanne bei dem ersten Einbauversuch Dach und Zwischendecke zerschlagen hat, sitzt seine Frau (Sibyl Seely), in der inzwischen offenbar klaglos installierten Badewanne. Sie schaut fröhlich direkt in die Kamera.21 Dann fällt ihr die Seife auf den Badezimmerboden. Um sie zurück zu holen, müsste sie sich über den Badewannenrand lehnen. Sie schaut fragend in Richtung Kamera. Das Objektiv der Kamera wird daraufhin von einer Hand verdeckt (vermutlich die Hand des Kameramannes). Sie kann sich die Seife während der Bildunterbrechung holen und sitzt dann wie vorher durch den Badewannenrand vor den Blicken des Publikums geschützt und lacht. Sie hat die Bildregie geführt  !

Fazit Als Ausgangspunkt wurde argumentiert, dass gerade populäre Filme die gegebenen Machtverhältnisse innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft spiegeln und verstärken können und durch ihre Vorbildfunktion erschweren, dass außerhalb der heterosexuellen, monogamen Vorgaben noch andere Lebensentwürfe verwirklicht werden könnten. Allerdings war als eine mögliche ›Erkenntnis‹ dieser Überlegungen erwartet worden – deshalb die Konzentration auf den genialen 44

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

Buster Keaton –, dass im Slapstick-Genre – insbesondere durch Buster Keatons unkonventionelle Filmpersona – diese gesellschaftlichen Festschreibungen gebrochen oder zumindest verschoben werden könnten. So formuliert auch Claudia Preschl das utopische Potenzial der frühen Slapstick-Filme  : »In ihrer extremen Performanz und ihrer Zugewandtheit zu den Dingen agieren die FilmkomikerInnen nicht mehr nur als männliche oder weibliche, sondern vielmehr als ambivalente, queere Figuren, die für Momente keinem Geschlecht und keiner Klasse zuzuordnen sind. In diesem Sinne sehe ich die kurzen grotesken Filme der 1910er Jahre auch als etwas Einzigartiges in der Filmgeschichte, konnten sie sich doch frei von bemüht kohärenten Erzählstrukturen auf das Besondere konzentrieren  : auf den menschlichen Körper mit all seinen performativen Potenzialen und darauf, was die diversen Körper über sich und ihr Verhältnis zur Welt (kritisch) zu erzählen vermögen«. (Preschl 2008, 54)

Keaton führt seinen Körper und die verschiedensten Materialien und Objekte wunderbaren Höchstleistungen zu. Das gelingt ihm durch die Anwendung aller möglichen alternativ interpretierten physikalischen Gesetze und durch das Kräftemessen von Mensch und Maschine. Seine kommunikative Kompetenz zeigt – gerade wenn sie scheitert – schöne Resultate. Aber von einer gelebten Utopie, die auch die Schwerkraft der gesellschaftlichen Ordnung aushebeln könnte, scheint er weit entfernt. Buster Keaton wechselte 1917 vom Vaudeville zum Film.22 Für diese erste Periode seines Filmschaffens (in den Filmen in Zusammenarbeit mit Roscoe Arbuckle) trifft die oben zitierte Beschreibung von Claudia Preschl eher zu. Die Geschlechterordnung ist hier als geradezu chaotisch zu bezeichnen. Wenn man die plotlines jemandem erzählen würde, der das Potenzial der beiden Künstler nicht kennt, würde sich das Interesse an ihrer Ausarbeitung in Grenzen halten. In den späteren Filmen, in denen Buster Keaton allein als Protagonist agiert und alle künstlerischen Entscheidungen selbst trifft und die eine mehr oder weniger geschlossene narrative Struktur vorweisen, scheint dann aber eine affirmative Haltung gegenüber den Geschlechterverhältnissen vorzuherrschen. Dieses Ergebnis ist auf den ersten Blick enttäuschend. Keaton bleibt den Konventionen gegenüber immer auf die nur ihm eigene Art skeptisch – gerade was das Eheglück betrifft. Zugleich ist er bemüht, die eine Partnerin zu finden und scheint in Kauf zu nehmen, wenn auch ohne Begeisterung, innerhalb der Grenzen der patriarchalischen Gesellschaft seinen Platz zu finden. Anfangs noch in alle Richtungen offen, ist er willig, sich durch Lernanstrengungen und Nachahmung den 45

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gegebenen Verhältnissen anzupassen. Diese Ausbildung scheint zu funktionieren. Das kündigte sich schon in seinem ersten Langfilm in eigener Regie an  : »The Three Ages« (1923) zeigt, wie die Liebe durch die Jahrtausende – in der Steinzeit, während des römischen Imperiums und in der Gegenwart – gleich geblieben ist. Jeweils zwei Männer (einer davon Keaton) streiten (buhlen) um eine Frau. Die Frau wird nicht gefragt und macht nur das, was die Eltern entscheiden. Der underdog (Keaton) kann sie aufgrund seiner letzten Endes doch überlegenen Strategien schließlich an den Haaren in seine Höhle ziehen. Natürlich ist das in dieser outrierten Schematisierung eine Persiflage und dazu meiner Meinung nach ein weniger gelungener Film Buster Keatons – wenn auch einer seiner erfolgreichsten (food for thought …). Obwohl auch der Slapstick Film der 1920er Jahre zweifelsohne eine populäre Filmgattung war und in den nun genauer ausgearbeiteten Rahmenhandlungen faktisch bestehende Geschlechterverhältnisse übernimmt, dient der Handlungsrahmen auch zu dieser Zeit oft nur als Gerüst, an dem die ›Attraktionen‹ und die ›Schocks‹24 lose aufgehängt sind. Dieses außerirdische Wesen Keaton ist staunend bemüht, sich an die gegebenen Verhältnisse anzupassen. Da gibt es viele Rollen, die er übernimmt  : die der vornehmen Dame im Theater, des ungezogenen Buben, des Börsenspekulanten, des Liebhabers, des Konstrukteurs und Designers, des Handwerkers, Kameramanns, Lokführers und Meisterdetektivs, des Boxers und Leistungssportlers, des Affen und ja, auch die des Mannes. Fragen, die in diesem Text diskutiert werden sollten, bezogen sich auf die Modellfunktion, die populäre Künstler, hier Buster Keaton, ihrem Publikum zur Nachahmung anbieten, und ob diese Modelle die gegebenen Geschlechterverhältnisse spiegeln und verstärken oder Alternativen ›vorleben‹. Für Buster Keaton ergab sich für mich eine quasi doppelte Vorbildfunktion  : Als zunächst innerhalb der Geschlechterordnung wenig definierte Person arbeitet er sich daran ab, eine gesicherte Position innerhalb dieses Regelwerks zu erlangen. Er scheint z. B. zu versuchen, zumindest in den Augen der anderen, ›männlicher‹ zu werden. Man kann ihn dabei beobachten, wie er sich bemüht, von anderen bestimmte Attribute abzuschauen. Dieses Bemühen ist nach anfänglichen Schwierigkeiten mehr oder weniger erfolgreich. Auf das Ausgangsbild in »Sherlock, Jr.« bezogen, führt Keaton seinem Publikum vor, wie man sich abrackern muss, um einem bestimmten Bild innerhalb der Gesellschaft zu entsprechen. Aber was hat es mit diesem jeweiligen Training auf sich  ? Die Lernphase bringt keine sichtbaren Resultate, im Gegenteil, sie bestätigt das Unvermögen des Probanden, einem akzeptierten männlichen Verhalten näher zu kommen. Der Erfolg stellt sich schließlich als Konsequenz einer erheblichen persönlichen 46

›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

Kränkung oder der Überwindung einer konkreten Gefahr ein. Die Widersacher, die Keaton zunächst als leuchtende Vorbilder präsentiert wurden, sehen am Ende schlecht aus. Das Sportgenie, das ihm auf dem Campus so überlegen war, entpuppt sich als gewalttätiger Mensch  ; der Boxchampion als einer, dem es nicht gelingt, einen absoluten Boxamateur zu demontieren. Es kann gefolgert werden, dass diejenigen, die vermeintlich über besonders ausgeprägte ›männliche‹ Attribute verfügen, nicht unbedingt als Vorbilder taugen. Und was passiert mit Keaton, nachdem er die jeweilige Prüfung, allerdings anders als erwartet, bestanden hat  ? Ist er nun anders geworden, hat er sich verändert  ? Wird in den Filmen inszeniert, dass er jetzt mit (eventuell) ›besseren‹ Persönlichkeitsmerkmalen ausgestattet sein Leben erfolgreicher meistern wird  ? Bietet er sich zur Nachahmung an  ? Die narrative Klammer geht in den besprochenen Filmen über die implizite Darstellung der gesellschaftlichen Zwänge, die in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts herrschten, nicht hinaus. Buster Keaton bleibt im Grunde den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber indifferent. Er agiert nach seinen eigenen Regeln. Dabei beobachten ihn zwei Instanzen auf das genaueste – wenn auch mit unterschiedlichen Motiven  : die zukünftige Frau und der Vater der Braut – überhaupt der VATER in einer patriarchalisch bestimmten Gesellschaft. Die Frau versucht abzuschätzen, ob der Vater mit seinem kontrollierenden Blick die verschiedenen Täuschungsversuche Keatons durchschaut. Dabei ändert sich Keaton nicht wirklich – er wird nicht zu einem den zeitgenössischen Vorgaben entsprechenden ›männlicheren‹ Mann und auch nicht zu einem sich für die große Liebe aufopfernden Ehegefährten. Wenn der von ihm enttäuschte Vater (in »Steamboat Bill, Jr.« 1928) zumindest sein Äußeres durch eine andere Kopfbedeckung verändern/verbessern möchte, bleibt Keaton letztendlich bei seiner verschmähten Mütze. Er verändert seine grundsätzliche Haltung nicht, er bleibt der Andersartige, der Alien. Er demonstriert auch nicht, dass er selbst die Veränderung zu einem anderen (›männlichen‹) Charakter gutheißen würde. Das mag ein nicht sehr provokantes Rütteln an den automatisierten Zuordnungen der Geschlechterrollen sein, aber es ist gerade im Kontext der erwähnten fast standardisierten Rahmenhandlungen immerhin ein deutliches Fragezeichen. Wir beobachten Keaton nicht beim Scheitern (und lachen über ihn), sondern sehen, wie ihm ohne gewinnendes Lächeln die unglaublichsten Dinge gelingen – das ›männlicher‹ Werden gehört nicht dazu und wir lachen begeistert darüber. Abspann  : Der Kinoraum ist bereits fast leer, der Pianist beendet noch die letzte Melodien-Schleife. Auf der Leinwand ist in den Worten von James Agee die Definition des Lachens in Slapstick-Filmen zu lesen. 47

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»In the language of screen comedians four of the main grades of laugh are the titter, the yowl, the bellylaugh and the boffo. The titter is just a titter, the yowl is a runaway titter. Anyone who has ever had the pleasure knows all about a bellylaugh. The boffo is the laugh that kills. An ideally good gag, perfectly constructed and played, would bring the victim up the ladder of laughs by cruelly controlled degrees to the top rung, and would then proceed to wobble, shake, wave and brandish the ladder until he [she] groaned for mercy.« (Agee 2005 [1941–1950], 9)

Anmerkungen 1 Buster Keaton bezeichnet in diesem Text die Person des Filmemachers und Keaton die fiktiven Personen in seinen Filmen. 2 Park Tyler, The Garbo Image, zit. in Esther Newton, Mother Camp, zit. in Butler (1991), 190. 3 Richard Dyer hat in »Heavenly Creatures« u. a. am Beispiel von Joan Crawford die fiktiv konstruierte Persönlichkeit der Stars analysiert. So berichtet er zum Beispiel, dass der Künstlerinnenname ›Joan Crawford‹ mittels einer Publikumsabstimmung unter verschiedenen alternativen Namen ausgewählt wurde. Der Geburtsname der Schauspielerin war Lucille Fay LeSueur (Dyer 1986). 4 Ich beziehe mich hier auf den Ideologiebegriff von Louis Althusser, den er in seinem Aufsatz »Ideologie und ideologische Staatsapparate« 1970 formulierte. Von dieser Definition ist eine Begründung für den Stellenwert von Mainstream-Filmen ableitbar. Jede Gesellschaft hat obligatorisch ihre Ideologie, in der ein bestimmtes Weltbild als das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen gesellschaftlichen Existenzbedingungen repräsentiert wird. Die ›Anwendung‹ dieser Definition auf den US-amerikanischen Mainstream-Film wird in Robert B. Rays »A CertainTendency of the Hollywood Cinema 1930–1980« am Beispiel des Western einleuchtend demonstriert (1985). 5 Stichworte zum Studiosystem  : Kernzeit ca.1930 bis ca. 1960  ; beherrschende Funktion der Produzenten, strikte Aufgabenaufteilung der Produktionsschritte (›Fließbandmodus‹), Entwicklung der verschiedenen Genres nach Publikumserwartungen, langjährige Bindung (Sieben-Jahres-Verträge) der Schauspielerinnen und Schauspieler an die Studios, Vertical Integration (Produktion, Verleih und Kinoauswertung unter der Kontrolle der großen Studios), mit restriktiven Verleihstrategien für andere Kinobetreiber. Vorrangige Motivation  : Profitmaximierung für die großen Studios. 6 Es ist unverständlich, dass es in Publikationen immer wieder heißt, »Modern Times« sei Chaplins letzter Film ohne lippensynchronen Ton. Auch wenn das Lied, das er am Ende des Films singt und mit dem seine Stimme – sehr auffällig inszeniert – zum ersten Mal im Tonfilm zu hören ist, nicht zählt (weil im longshot das Lippensynchrone nicht zweifelsfrei ausgemacht werden kann), gibt es vorher im Film mehrere Szenen, in denen lippensynchron gesprochen wird, allerdings auf einem Bildschirm. Ein Beispiel  : Als Chaplin sich vom Fließband auf die Toilette flüchtet, um dort in Ruhe eine Zigarette zu rauchen, schaltet sich der kontrollierende Chef über einen Bildschirm ein (Videoüberwachung  !) und schickt ihn mit lippensynchron gesprochenen Anweisungen wieder an seinen Arbeitsplatz zurück. 7 Cinema of attraction und cinema of narrative integration, diese von Tom Gunning 1986 formulier-

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›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

ten Begriffe bilden mit dem Begriffspaar primitive mode of representation und institutional mode of representation, geprägt von Noël Burch 1990, eine Kurz-Charakterisierung der Entwicklung des frühen Films von einer Varietéeinlage zum Spielfilm und von dem Präsentieren einer spektakulären Situation zu einer Erzählstruktur, die sich nach den Vorgaben einer industrialisierten Produktionsweise richtete.   8 Minstrel Show  : beliebtes, als rassistisch zu bezeichnendes Show-Format, bei dem Weiße in blackface (mit schwarz übermaltem Gesicht) schwarze Stereotypen darstellten. (Aufgekommen um 1830, aufgeführt bis ca. 1950 und in ähnlichen oder persiflierenden Varianten bis heute). Im ersten Tonfilm »The Jazzsinger« (Alan Crosland, 1927) spielt Al Jolson den Sohn eines Kantors, der in einer Minstrel Show auftritt. In diesem Zusammenhang ist ein Film von Spike Lee unbedingt zu erwähnen  : »Bamboozled« 2000. Dieser sensationelle Film befasst sich satirisch mit dem ›alten‹ Showformat, das in diesem Film ausgerechnet von einem afroamerikanischen Drehbuchschreiber für eine möglichst publikumswirksame Fernsehserie wiederbelebt werden soll. Ende September 2015 wurde in den USA blackface, d.h schwarzes make-up auf dem Gesicht von Weißen (in den darstellenden Medien) per Gesetz verboten. In der Oper darf z.B. ein weißer Sänger als Othello nicht mehr in blackface auftreten.   9 Hier nur ein assoziativer Hinweis auf Hans Zischlers (1996) schönes Buch »Kafka geht ins Kino«, in dem Franz Kafkas Interesse am Kino rekonstruiert wird. Eine direkte gegenseitige Beeinflussung halte ich für ausgeschlossen. 10 Buster Keaton äußert sich zu »The Playhouse«  : »So, when we put the credit titles up, we put up the cast of characters, they are all Keaton. We used written by Keaton, directed by Keaton, costumes by Keaton – and in a separate title – This is a Keaton Production, which got a bellylaugh from the audience. They laughed like hell at that.« Erstaunlicherweise ist in dem von Kevin Brownlow geführten Interview (aus dem das Zitat oben stammt) nach einem Satz Buster Keatons in eckiger Klammer ›[laughs]‹ eingefügt – ein von der Keaton Forschung bislang wenig beachtetes sensationelles Detail (Kevin Brownlow in Sweeney 2007, 194). 11 Das oft zitierte ›Leere Gesicht‹ Buster Keatons ist eine meiner Meinung nach unzureichende Übersetzung von blankface  ; blank bedeutet in diesem Kontext nicht ›leer‹ sondern – in etwa – ›noch unbeschrieben‹, etwas Zukünftiges/Potenzielles ankündigend. 12 Das ist der erste Satz seiner Autobiografie. 13 Die emotional innigste Beziehung hat Keaton zu Brown Eyes in »Go West«. 1925. Brown Eyes ist eine Kuh. 14 ›Saphead‹ übersetzt  : ›Trottel, Einfaltspinsel‹ 15 Inserts im Film. 16 Peter Krämer »The Saphead« in Grieveson/Krämer (2004). 17 In den 1920er und 30er Jahren bestand in den USA ein gesetzlich festgelegtes Alkoholverbot (Prohibition) – allerdings mit vielen Schlupflöchern. 18 Klaus Nüchterns »Buster Keaton oder die Liebe zur Geometrie« liefert inhaltlich genaue und sorgfältig recherchierte bzw. reflektierte Kapitel zu den einzelnen Filmen von Buster Keaton (zu »Battling Butler«, 191–202). Nüchterns Buch ist eine umfassende Würdigung Buster Keatons mit hohem Gebrauchswert. 19 Wikipedia Eintrag  : Geschichte des Boxsports in den USA (Zugriff  : September 2014). 20 Man könnte hier auch an das geniale Duo Karl Valentin und Liesl Karlstadt erinnern, bei denen in vielen Szenen gerade das interessierte Nachfragen der Karlstadt Valentins absurde

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Ideenproduktion vorantreibt. Man denke nur an die Sprachakrobatik bei der essenziellen linguistischen Frage, ob man nicht richtiger Semmelnknödeln sagen sollte (weil so ein Knödel schließlich aus mehreren Semmeln besteht) anstatt Semmelknödel. Liesl Karlstadt folgt den weitschweifigen Erläuterungen ihres Partners und ihre Größe besteht auch darin, dass sie seine Argumente – nach anfänglichem Hinterfragen vernünftig findet und – gutheißt  ; Film  : »Semmelnknödeln« (1939/40). 21 Eine filmhistorische Assoziation zu dieser Szene  : Ganz zu Beginn der Filmgeschichte war folgende Sketchkonstruktion beliebt  : Ein Mensch (vorzugsweise vom Land) ist mit dem neuen Medium noch nicht vertraut und hält die projizierten Filmbilder für die Realität. Typischerweise geht er ganz nah an die Filmleinwand heran und flüchtet dann z. B. vor dem hereinfahrenden Zug (Filmzitat im Film), dann sieht man oft eine junge Frau in der Badewanne, nur Kopf und Arme sind über dem Badewannenrand zu sehen. Jetzt versucht der ungeübte Kinogänger von einem höheren Standpunkt aus eine bessere Sicht in die Badewanne zu erreichen. Als Beispiel ein Film des britischen Filmemachers Robert W. Paul »The Countryman and the Cinematograph« oder »The Countryman’s First Sight of the Animated Pictures« (1901). Mich fasziniert dabei, wie früh Filmschaffende mit dem neuen Medium selbstreflexiv umgingen. Jean-Luc Godard zeigt eine solche Szene (erste Begegnung mit einer Filmprojektion) in »Les Carabiniers« 1963. 22 Vaudeville ist eine bestimmte Theaterform, die sich seit der Mitte des 19. Jh. in den USA etablierte (der Name ist wahrscheinlich auf die Musiknummern bezogen, die unter anderem zum Besten gegeben wurden). 23 Durchaus im Sinn von W. E. Meyerhold und Sergej M. Eisenstein. Beide Begriffe ›Attraktion‹ und ›Schock‹ kommen ursprünglich aus der Theaterarbeit von Meyerhold (Stichwort  : Biomechanik). Eisenstein, der zunächst bei Meyerholds Theaterexperimenten mitarbeitete, übernahm die Strategien der Biomechanik bzw. adaptierte sie für seine Filmarbeit. Beide spielen in den Werken dieser Künstler eine exemplarische Rolle. Ich verweise auf zwei (legendäre) Schriftensammlungen  : »Wsewolod E. Meyerhold Schriften« (Fewralski/Rostozki 1979) und »Sergej M. Eisenstein Schriften« (Schlegel 1973).

Literatur James Agee (2005) [1941–1950], Film Writing and Selected Journalism. New York Roland Barthes (1964) [1957], Mythen des Alltags. Aus dem Frz. von Helmut Scheffel. Frankfurt a. Main Noël Burch (1990), Life to those Shadows. Los Angeles Judith Butler (1991), Das Unbehagen der Geschlechter. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikan. von Katharina Menke. Frankfurt a. Main Judith Butler (1997) Körper von Gewicht. Gender Studies. Aus dem Engl. von Karin Wördemann. Frankfurt a. Main Richard Dyer (1986), Heavenly Bodies. Film Stars and Society. New York A. W. Fewralski, B. Rostozki (Hg.) (1979), Wsewolod E. Meyerhold Schriften, Band 1 und 2. Berlin Lee Grieveson, Peter Krämer Hg. (2004), The Silent Cinema Reader. New York Michael T. Isenberg (1981), War on Film  : The American Cinema and World War One 1914–1941. East New Brunswick/NJ

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›Maskuline‹ Vor- und Nachbilder in Filmen von Buster Keaton  ?

Buster Keaton mit Charles Samuels (1982) [1960], My Wonderful World of Slapstick. New York Klaus Nüchtern (2012), Buster Keaton oder die Liebe zur Geometrie. Komik in Zeiten der Sachlichkeit. Wien Tom Paulus, Rob King (Hg.) (2010), Slapstick Comedy. New York Claudia Preschl (2008), Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er Jahre. Wien Hilary Radner, Rebecca Stringer (Hg.) (2011), Feminism at the Movies. Understanding Gender in Contemporary Popular Cinema. Part I  : Masculinity in Question. New York Robert B. Ray (1985), A Certain Tendency of the Hollywood Cinema 1930–1980. Princeton Ulrike Schaper (2006), Das Boxen ist ein Sport wahrer Männlichkeit. Geschlecht im Ring. Boxen und Männlichkeit in der Weimarer Republik, Text im Rahmen von ›Geschlechterkonkurrenzen‹ 2.–4. Februar 2006, www.fkl2-tu-dortmund.de (Zugriff  : September 2014) Hans-Joachim Schlegel (Hg.) (1973), Sergej M. Eisenstein Schriften, 1 und 2. München Kevin Sweeny (Hg.) (2007), Buster Keaton Interviews. Mississippi J. David Slocum (Hg.) (2006), Hollywood and War. The Film Reader. New York

Verzeichnis der bearbeiteten Filme (chronologisch) The Saphead (Herbert Blache, USA 1920) One Week (Buster Keaton, USA 1920) The Playhouse (Buster Keaton, USA 1921) The Three Ages (Buster Keaton, Eddie Cline, USA 1923) Sherlock Jr. (Buster Keaton, USA 1924) Go West (Buster Keaton, assist. Lex Neal, USA 1925) Battling Butler (Buster Keaton, USA 1926) College ( James W. Horne, USA 1927) Besonderen Dank an Alexander Mahler/Filmakademie Wien für seine kenntnisreiche Unterstützung bei der Film- und Filmliteratursuche.

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Barbara Gronau

Askese als Norm Zur Hungerkunst als Theater und Selbstexperiment

Theatergeschichte als Körpergeschichte Der menschliche Körper ist seit jeher das wichtigste Ausdrucksmittel der Darstellenden Künste. Ob im Tanz, im Schauspiel oder im Gesang  : für jede Präsentation auf der Bühne bildet der Körper die Basis der Darstellung. Er ist das Instrument künstlerischen Ausdrucks und Gegenstand der Zuschauerbeobachtung. Er ist die lebendige, atmende, aktive Quelle von Klang, Bewegung, Rhythmus, Geruch und Sprache. Doch was genau ist Vorgang der Verkörperung  ? Wer oder was setzt sich dabei in Szene  ? Und was soll mit dem Begriff Körper eigentlich benannt werden  ? »Die Frage, was der Körper ist, was das Lebendige ›wirklich‹ ist« – so der Historiker Philipp Sarasin – »scheint keine lösbare Frage zu sein  ; entscheidend ist daher, welches Bild – in einem Text, als visuelle Abbildung oder als Inszenierung – wir uns von dem Körper machen, von dem wir sagen, es sei unserer.« (Sarasin 1998, 420)

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich am Theater in exemplarischer Weise Wissensformationen des Körpers, d. h. Körperdiskurse und Körperbilder zeigen und kontextualisieren lassen. Denn Theatergeschichte ist nicht nur Dramen-, Architektur-, Schauspiel- oder Kostümgeschichte, sondern in diesen und durch diese hindurch vor allem Körpergeschichte. Im Theater werden wir Zuschauer_ innen zu Zeug_innen und Teilnehmer_innen von »Körperinszenierungen« (Fischer-Lichte/Fleig 2000), d. h. von zeichenhaften und materiell-medialen Erscheinungsweisen des Körpers. Unsere Wahrnehmung richtet sich auf Akte der Figuration und der Performanz, also auf ein Form- oder Figurwerden im Akt der Darstellung im Rahmen öffentlicher Aufführungen. Eben diese Figurationsprozesse werden seit dem 18. Jahrhundert mit dem Begriff »verkörpern« bezeichnet  : etwas versinnlichen, verwirklichen, Gestalt annehmen oder übertragen (Grimm/Grimm 2008, 681–683). Welche ästhetischen und politischen 53

Barbara Gronau

Strategien diesen Prozessen zugrunde liegen, lässt sich nur über exemplarische Analysen historischer Konstellationen entschlüsseln. Denn den allgemeinen Tänzer- oder Schauspielerkörper gibt es nicht. Und zwar nicht nur, weil Verkörperung stets ein individueller Akt ist, sondern weil zu jeder Zeit die Frage, was ein Körper ist und welche Funktion er für die künstlerische Darstellung hat, anders beantwortet wird. So ist es ein großer Unterschied, ob der Körper als Material, als Gegenstand, als Instrument oder als Medium der künstlerischen Darstellung begriffen wird. Während die Figur des instrumentellen Gebrauchs (die wir in zahlreichen Schauspieltheorien und Tanztechniken wiederfinden) das Bild eines technischen Vehikels betont, das es zu trainieren und zu kontrollieren gilt  ; so betont die Vorstellung vom Körper als Medium dessen ästhetische-transzendente Seite, also die Fähigkeit, etwas anderes zur Erscheinung zu bringen als sich selbst. Wird der Körper dagegen zum Gegenstand der Darstellung (also zu deren Thema oder Sujet), lässt sich in reflexiver Weise auf die Bedingungen der Verkörperung Bezug nehmen. Die Aktionskunst und Body-Art haben dies exemplarisch vorgeführt. »Theatergeschichte als Körpergeschichte« zu betrachten – wie dies Erika Fischer-Lichte angeregt hat (Fischer-Lichte 2000) – heißt also zu fragen, welche Körperkonzepte und Körperbilder es in der jeweiligen Zeit gibt und wie diese sich in theatralen Prozessen niederschlagen. Wie setzen die theatralen Praktiken den Einzelnen und die Gemeinschaft bzw. das Individuum und die Masse in ein Verhältnis  ? Welche gesellschaftlichen und politischen Normen bzw. Normbrüche lassen sich an den Theaterformen der jeweiligen Zeit ablesen  ? Und welche Dimensionen von Körperlichkeit sind dabei überhaupt zu analysieren  ? Zunächst ist dies eine biologische Dimension, die im Rahmen naturwissenschaftlicher, philosophischer, religiöser und medizinischer Diskurse festlegt, was innerhalb einer Kultur als Körper gilt und wie dieser zu behandeln sei. Das Katharsiskonzept der Antike ließe sich hier als ein frühes Beispiel einer humoralpathologischen Körpervorstellung anführen, die zugleich als erste Wirkungstheorie des Theaters gelten kann (Fuhrmann 1973  ; Luserke 1991). Darüber hinaus gilt es eine sozial-gesellschaftliche Dimension zu entschlüsseln, die den kulturellen Stellenwert des Körperlichen und die damit verbundenen Grenzen, Tabus, Restriktionen oder Utopien festlegt. Hier sei daran erinnert, dass Schauspieler_innen von der Frühen Neuzeit bis weit in das Barockzeitalter zumeist als ständeloses, umherfahrendes Volk – das durch die Zurschaustellung des Körpers Geld verdiente – mit Prostituierten und Henkern gleichgesetzt wurden und deshalb nach ihrem Tod nicht auf der »geweihten Erde« christlicher Friedhöfen begraben wurden. Die abendländische Devaluation des Körperlichen 54

Askese als Norm

bei gleichzeitiger Faszination für dessen Effekte schlägt sich in den Theaterverboten und -restriktionen der Zeit nieder (Hartung 1982  ; Diekmann/Brandstetter/Wild 2012). Des Weiteren lassen sich Erkenntnisse über die semiotische Dimension von Körperlichkeit gewinnen  : Wodurch wird ein Körper auf der Bühne zu einem Zeichen  ? Welchen semiotischen Regeln folgt die Darstellung  ? Wann verschieben sich diese Regeln und wodurch  ? Hier gibt die Analyse historischer Schauspieltheorien wichtige Einblicke in die historischen Vorstellungen von Präsenz und Repräsentation. So spiegelt sich in der starken Kodifizierung von Körper und Bewegung, die etwa im Schauspiel des 17. Jahrhunderts üblich war, die Verbindung von antiker Rhetoriklehre mit der höfischen Repräsentationspolitik des Barock. Ebenfalls gilt unser Blick der materiellen Dimension des Körperlichen  : Wie werden die visuellen, akustischen, haptischen und olfaktorischen Äußerungen des Körpers in Szene gesetzt  ? Welchen Stellenwert hat die individuelle Leiblichkeit einer Tänzer_in, Sänger_in oder Darsteller_in  ? Auch wenn die materielle Dimension stets als Bedingung und Kontrapunkt des Semiotischen gelten kann, ist es doch aufschlussreich, solche historische Verschiebungen zu analysieren, die der Materialität des Körpers einen hohen Stellenwert gegenüber dem Semiotischen einräumen. Das zeitgenössische »Postdramatische Theater« hat im Anschluss an die Körperexperimente der Body-Art eine Fülle solch repräsentationskritischer Verfahren entwickelt (Lehmann 1999  ; Schrödl 2012). Nicht zuletzt sind es die ökonomischen und energetischen Dimensionen des Körpers, die in theaterhistoriografischen Untersuchungen analysiert werden können. Welche physiologische Vorstellung von Bewegung, Energie und Transformation bestimmt die jeweilige Epoche  ? Welche Vorstellung von Präsenz, Intensität, Verschwendung oder Zurückhaltung herrscht für die Bühne  ? Bezeichnenderweise hat gerade das zeitgenössische Theater eine Vielzahl von Gesten entwickelt, in denen der Körper sich durch exzessive Bewegungen sichtbar energetisch verausgabt  : langes, ausdauerndes Stillstehen, das Halten des Körpers im Ungleichgewicht, rhythmisches Stampfen und Schreien, Rennen, Klettern, Rutschen oder Tanzen bis zur völligen Erschöpfung. Hier geht es um das öffentliche Austesten energetischer Transformationsprozesse, die als gesellschaftliche Resonanzen ökonomischer Verhältnisse gewertet werden müssen (Gronau 2013). Schließlich gilt es die epistemologische und mnemotechnische Dimension des Körperlichen in den Blick zu nehmen  : Welches Wissen und welche kulturellen Erfahrungen werden im Körper einer Darstellerin/eines Darstellers gespeichert  ? Wie werden Darstellungstraditionen diskursiv und habituell weitergegeben  ? 55

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Welche Rolle spielen theatrale Praktiken für die Vorstellung von Erinnerung und Gedächtnis in der jeweiligen Kultur  ? So zielen etwa die Tradition der ars memoriae in der Rhetorik und das Wortgedächtnis im Theater darauf ab, mittels bestimmter Techniken eine Speicherung und Weitergabe von Wissensformen im und durch den Körper zu ermöglichen (stellvertretend dazu vgl. Yates 2001  ; Assmann 1999  ; Tkaczyk 2012). Vor allem aber ist es unumgänglich die Gender-Dimension körperlicher Darstellungsprozesse zu reflektieren  : Welche Geschlechterbilder dominieren die Bühnen-Darstellung und deren Wahrnehmung  ? Welche kulturellen Normierungen drücken sich darin aus und wodurch werden diese befördert oder destabilisiert  ? Hier sei an den Zusammenhang von Natürlichkeitsdispositiv und Weiblichkeit im bürgerlichen Theater der Aufklärung ebenso erinnert, wie an die Tradition der Diva als medialer Figur der Normüberschreitung oder an die »Verqueerung« normativer Geschlechterverhältnisse in »Possen des Performativen« (Pewny 2002  ; Müller 2008). Mein kurzer kaleidoskopischer Blick auf das Themenfeld Theatergeschichte als Körpergeschichte zeigt also, dass hier die Antworten auf unsere Ausgangsfrage »Wie können wir den Körper denken  ?«, nur über exemplarische Analysen der jeweiligen historischen Konstellation zu entschlüsseln sind. Ich möchte das im Folgenden an einem Beispiel tun, das noch immer zu den großen Provokationen unserer Zeit gehört  : dem freiwilligen Nahrungsverzicht. Ich werde mich dabei weniger auf die klinische Anorexie, als vielmehr auf ein eminent theatrales Phänomen konzentrieren  : nämlich das öffentliche Hungern als künstlerische Darstellung. Im Fokus meiner Untersuchung stehen Hungerkünstler_innen um 1900, deren Praxis als neuzeitliches »Theater der Askese« (vgl. dazu und im Folgenden Gronau 2010, 129–146) gewertet werden kann. Es handelt sich dabei um Körperinszenierungen, die einen Akt des Unterlassens in Szene setzen und dabei starke soziale und emotionale Wirkungen entfalten. Dabei wird – so meine These – im theatralen Setting ein neues Wissen vom Körper getestet und diskursiv hergestellt. In der Inszenierung und Wahrnehmung von freiwillig hungernden Subjekten lassen sich beispielhaft Normierungsprozesse veranschaulichen, die paradoxerweise durch einen Normbruch initiiert werden. Sämtliche der oben angeführten Dimensionen von Körperlichkeit im Theater sind hier wieder zu finden  ; ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die semiotische, energetisch-ökonomische und die epistemologische Dimension (Gronau 2009  ; 2012).

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Zur Kulturgeschichte der Nahrungsaskese Die Traditionen asketischer Selbstinszenierungen reichen bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. zurück. Die frühchristlichen Styliten – die sogenannten Säulenheiligen – etwa inszenieren ihre körperliche Enthaltsamkeit auf bühnenförmigen Podesten in großer Höhe und predigen regelmäßig vor einer Zuschauermenge. Während die Nahrungsaskese in den darauffolgenden Jahrhunderten in Europa vor allem als Bestandteil der rituellen Lebenspraxis und der monastischen Ordensregeln praktiziert wird, entstehen in der Frühen Neuzeit neue – öffentliche – Aufführungen von Enthaltsamkeit. Seit dem 16. Jahrhundert sind Quellen bezeugt, nach denen zunehmend auch Laien außerhalb der Klöster eine »wunderbare Appetitlosigkeit« verspüren, die nur durch die Zuführung von Wasser und Hostien unterbrochen wird (Pulz 2007  ; Vandereycken/Deth/Meermann 2003). Es sind vor allem adoleszente Frauen wie beispielsweise die Schweizerin Apollonia Schreier, die sich 1611 einer sechsjährigen Fastenzeit unterzieht, oder die Engländerin Martha Taylor, die 1667 eine 13-monatige Hungerkur beginnt (Pulz 2009). Dank des Buchdrucks verbreiten sich diese ungewöhnlichen Leistungen via Flugblatt und verschaffen den Fastenden überregionale Aufmerksamkeit. Als »Fastenwunder« oder als »Wundermädchen« erzielen die Hungernden nicht selten kommerzielle Erfolge, werden an Fürstenhöfe gerufen und als Attraktionen in Reiseführern verzeichnet.1 Um zu klären, ob die Nahrungsaskese als Beweis religiöser Enthaltsamkeit, als göttliches Wunder oder als »Werk des Teufels« einzustufen war, wurden die Hungernden von klerikaler Seite zumeist verschiedenen Prüfungen und Kontrollen unterzogen und im Zuge dessen zahlreiche Fälle von Betrug aufgedeckt.2 Schließlich führte Papst Benedikt XIV. im 18. Jahrhundert ein Kanonisierungsverfahren ein, das mit Hilfe von Ärzten jeweils klären sollte, ob eine »wirkliche« und »außergewöhnliche« Fastenleistung vorlag. Die inszenatorischen Grundlagen der späteren Hungerkünstler_innen sind damit gelegt  : Es handelt sich um spektakuläre körperliche Leistungen, die mithilfe von modernen Medien wie Flugblättern, Reiseführern und Anschlagstafeln öffentlich verbreitet werden und eine Reihe von kontrollierenden Instanzen – wie renommierte Mediziner, die Mitglieder fürstlicher Höfe oder den Klerus – auf den Plan rufen, um die Betreffenden verschiedenen Prüfungen zu unterziehen. Ziel ist es, den Status der hungernden Körper zu klären  : Besitzt er tatsächlich außergewöhnliche – also normübersteigende – Kräfte, dann kann er verehrt oder gar für selig befunden werden. Handelt es sich um Betrug, dann ergeht zumeist das Todesurteil. 57

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Auf die Frage warum es überwiegend Frauen sind, die als Nahrungsasketinnen auftreten, hat Waltraut Pulz in ihrer Studie über die Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert drei Antworten gefunden (Pulz 2007). Erstens ist Frauen und Mädchen als Fastende eine imitatio christi möglich. Die Passion Christi wird auf sinnlich-körperlicher Ebene – nämlich als Buß- und Askeseleistung – nachvollzogen. Einzig die Hostie als Leib Gottes findet Eingang in den Körper der »Wundermädchen«. Es gilt deshalb, die Authentizität der Darstellung zu prüfen, sprich  : zu klären, ob hier eine gute imitatio oder eine böse simulatio vorliegt. Nahrungslosigkeit kann darüber hinaus (ähnlich den Stigmata) als körperliches Charisma, als Zeichen von Heiligkeit gedeutet werden. Sie gilt dann als ein Geschenk Gottes, das den Körper der Einzelnen aus der Menge heraushebt. Und drittens handelt es sich hier um eine Heiligkeit, die materielle Gaben und Sozialprestige nach sich zieht. Die »Wundermädchen« vertreten damit ein nicht kirchlich gebundenes Verständnis von Heiligkeit, sie durchleben religiöse Karrieren, die unabhängig von Herkunft und Stand möglich sind. Für die frühe Neuzeit gilt also, dass Nahrungsverzicht nicht als Krankheit, sondern als religiöse Praxis im Sinne des Mirakulösen wahrgenommen wird. Die passio, »das Ertragen von Leid« (Pulz 2007, 86), ist keine unangenehme Nebenwirkung, sondern der eigentliche Sinn des Hungerns. In der Nahrungsaskese wird es den Frauen möglich, durch den eigenen Körper, am Wissen um das göttliche Leiden teilzuhaben. Dies ändert sich spätestens im 19. Jahrhundert mit der Bewertung des weiblichen Fastens als Pathologie. Mit der Einführung des klinischen Befundes »Anorexia Nervosa« durch Ernest-Charles Lasègue und William Gull im Jahr 1873, wird erstmals eine medizinische Beschreibung lanciert, um eine psychisch-mentale Störung als Ursache für den Nahrungsverzicht plausibel zu machen.3 Von der Schwierigkeit, diese neu beschriebene Krankheit zu klassifizieren und in traditionelle psychopathologische Muster einzubinden, erzählt Joan Jacobs Brumbergs Studie »Fasting Girls« in beeindruckender Weise (Brumberg 1988).4 Ihre feministische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Anorexia nervosa verweist darauf, dass das Nichtessen eine Reaktion des passiven Widerstands auf den familiären Erwartungsdruck und die Machtlosigkeit junger Frauen im bürgerlichen Zeitalter darstellt. Als Bühne wählt die Anorektikerin die zentrale Zusammenkunft der bürgerlichen Familie, nämlich die gemeinsame – zumeist opulente – Mahlzeit. Mit der Begründung  : »ich kann nichts essen, aber ich leide nicht« (Brumberg 1994, 135), benutzen die Frauen ihren Körper als Symbolsprache, um eine Zurückhaltung auszudrücken, die zwar auf den ersten Blick »diskret, still und damenhaft« (Brumberg 1994, 35), mit weiterem Fortschreiten jedoch lebensbedrohlich ist. 58

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Die wichtigste Verschiebung, die mit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert eintritt, betrifft die Umdeutung des geistigen Zustandes der Hungernden  : ihnen wird ein »mental morbid state« attestiert, den es mit Hilfe von Ruhe, räumlicher Isolation, Elektrobehandlungen und sogenannten »Mastcuren« zu überwinden gilt (Diezemann 2006, 49ff ). Die Mediziner zielen darauf ab, aus dem abgemagerten Mädchen eine verheiratungsfähige Frau zu machen – ergo Resozialisierung und Sexualentwicklung zu verkoppeln. Innerhalb einer Zeitspanne von dreihundert Jahren entwickeln sich demnach drei unterschiedliche Modelle von Nahrungsaskese  : von einer religiös konnotierten wundersamen Appetitlosigkeit, über ein pathologisch gedeutetes, geistiges Unvermögen bis zum willentlichen Nahrungsverzicht als einer virtuosen Leistung. Letzteres stellt den Einzug der modernen Hungerkünstler_innen in das Theater der Askese dar.

Spektakuläres Verzichten Im heißen Sommer des Jahres 1905 haben Zeitungen, Illustrierte und Gespräche des Wiener Bürgertums vor allem ein Thema  : Im ersten Kaffeehaus auf der Wiener Praterallee sollte das »größte Phänomen des 20. Jahrhunderts« öffentlich auftreten. Nach Auskunft der Werbeprospekte handelt es sich dabei um die Grazer Schauspielerin Auguste Victoria Schenk, die als »erste Hungerkünstlerin der Welt« für ganze einundzwanzig Tage einen völligen Nahrungsverzicht praktizieren werde (Payer 2002, 63–86).5 »Die Einmauerung« – so die Ankündigung – »findet am 22. Juli abends, 8 Uhr in einer mit großen Glasscheiben versehenen Hungerzelle statt. Auguste Victoria Schenk ist Tag und Nacht zu sehen, wird von der Wach- und Schließgesellschaft ununterbrochen bewacht und nährt sich ausschließlich von [dem Tafelwasser] Krondorfer Sauerbrunn.« Das zahlende Publikum könne das Spektakel gegen einen Eintritt von sechzig Hellern bei »Lagerbier« und »feinster Wiener Küche« (Payer 2002, 65) mitverfolgen. Am Eröffnungsabend ließ ein beflissen auftretender Impresario eine vornehm gekleidete, von der Presse als »korpulent«bezeichnete Dame vor das Publikum treten, auf die Waage steigen und ein letztes Mal fotografieren. Man rief ihr Körpergewicht aus und gestattete dem Publikum, die Zelle auf eventuell versteckte Nahrungsmittel abzusuchen. Danach setzte sich die Hungerkünstlerin an einer weiß gedeckten Tafel zu einem letzten Abendmahl nieder und verspeiste vor den Augen der neugierigen Zuschauer ein Beefsteak mit Spinat, Bier und Gebäck. 59

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In den folgenden Tagen und Wochen drängten täglich bis zu eintausend Zuschauer_innen in das Kaffeehaus, um einen Blick in die von uniformierten Wächtern belagerte Vitrine zu werfen. Man schickte der Künstlerin Blumensträuße und Briefe und ließ Blaskapellen vor ihr aufspielen. Die Schauspielerin hielt ihren Nahrungsverzicht Tag um Tag durch. Sie präsentierte sich dem Publikum zumeist im Sessel sitzend, widmete sich dem Studium neuer Rollentexte und zeigte sich hinter der Glaswand gern über Schillers »Maria Stuart« gebeugt. Nach Ablauf der drei Hungerwochen verlängerte sie ihre Frist auf eigenen Wunsch sogar um zwei Tage, um nach dreiundzwanzig Tagen ohne Nahrungsaufnahme am 13. August 1905 vor den Augen einer großen Menschenmenge aus ihrer Zelle befreit zu werden. Auch diese Inszenierung folgte einer festgelegten Dramaturgie. Nach dem Öffnen des Kastens wurde sie ärztlich untersucht, gewogen und ein Verlust von zehn Kilogramm Körpergewicht verkündet. Schließlich ließ sich die geschwächte Künstlerin unter großem Beifall an einer auf der Bühne hergerichteten Tafel nieder, verspeiste vor der neugierigen Menge ihre erste Mahlzeit – Wein, Biskuits, Kalbsbries – und verabschiedete sich mit einer Ansprache vom Wiener Publikum. Angesichts der Tatsache, dass in den europäischen Großstädten um 1900 der Hunger zum bitteren Schicksal breiter Bevölkerungsschichten gehörte, lässt sich fragen, warum ein wochenlanger Nahrungsentzug eine so große Aufmerksamkeit bei Medien und Publikum hervorzurufen vermochte. Warum bezahlen Zuschauer_innen Eintritt, um jemandem beim Nichtessen zuzusehen  ? Ihre Faszinationskraft beziehen die Hungerschauen zuallererst aus einer Normabweichung – nämlich dem Ausschlagen von Nahrung und physischer Selbsterhaltung. Sie stellen ein Theater der Askese dar, bei dem die existenzielle Bedrohung des Hungers gebannt und in Kunst transformiert werden soll. Im Mittelpunkt dieser Aufführungen steht ein als stark, leidend oder auch geheimnisvoll inszenierter Körper, dessen potenzielles Zusammenbrechen das ganze Setting in ein Spiel mit dem Risiko verwandelt. Problematisch an dieser »Könnensform des Mangelleidens« (Sloterdijk 2009, 115) ist nur, dass sich ihre äußeren Wirkungen (also die Effekte des Nahrungsentzugs) bei gesunden Erwachsenen zunächst nur langsam und wenig sichtbar entfalten. Auch in Wien passiert drei Wochen lang wenig Spektakuläres: Frau Schenk sitzt, liest, wartet und trinkt Wasser – eine Szene, die als Sinnbild bürgerlichen Frauendaseins an der Jahrhundertwende taugt. Doch hier geschieht kein »süßes Nichtstun«, sondern vielmehr ein gezieltes Nicht-Tun. Die Künstlerin vollzieht einen freiwilligen und kalkulierten Akt des Verzichts, der auf latente Weise Leib und Leben bedroht. Die immanente Gewalt der Hungerkunst vollzieht sich damit nicht als grobe 60

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Abb. 1  : Werbepostkarte aus dem Wiener Prater von 1905

Selbstverletzung, sondern als subkutane Autoaggression, bei der die Dauer die entscheidende Rolle spielt. Der Prozess der physischen und psychischen Transformation steuert auf das Erlöschen der Körperfunktionen zu. Weil dies nur für die Künstler_innen spürbar (und nach außen für lange Zeit kaum sichtbar) ist, muss der Prozess nach außen inszenatorisch bekräftigt werden. Wie stellt man also Hungern dar  ? Wie im Falle vieler anderer Hungerkünstler_innen folgt die Inszenierung einer kanonischen Dramaturgie, die in exemplarischer Weise einen van Gennepschen rite de passage nachahmt  : Nach der Segregationsphase, d. h. dem letzten Abendmahl und der Einmauerung, folgt in der liminalen Phase des Hungerns eine Zeit der Absonderung und Prüfung, die schließlich in eine festlich vollzogene Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Essenden mündet (Gennep [1909] 2005). Die angestrebte Transformation findet dabei vor allem auf der physischen Ebene statt – als Prozess der »Autophagie« (Ellmann 1994, 7–53), d. h. der Selbstaufzehrung. Nicht zuletzt erfüllen die Aufführungen der Hunger61

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künstler_innen damit eine sozialpolitische Funktion  : In ihnen wird das elende Schicksal »der Anderen« (der Proletarier_innen, der Migrant_innen etc.) in Form einer virtuosen Leistung, eines sportlichen Wettkampfes oder einer Selbsterfahrung vor einem bürgerlichen – zumeist satten – Publikum zum Ausdruck gebracht. Das Schicksal des Verhungerns soll so in einer distanzierten Form der Aufführung ferngehalten werden. Die Hungerschauen sind ein Abwehrritual gegen die greifbare Gefahr der Nahrungsknappheit. Indem die Hungerkünstler_innen zeigen, wie man trotz des Hungerns nicht stirbt, werden sie zur Projektionsfläche für das kleine und mittlere Bürgertum, Soldaten, Arbeiter_innen etc. Die Aufmerksamkeit, die dieses Theater der Askese zu entfesseln vermag, gilt der drohenden Auslöschung des Subjekts durch den Hunger. Es gilt, diese Gefahr durch Willen und Selbstdisziplin zu bannen und in einen künstlerischen Akt zu transformieren, der vom Triumph über den vegetativen Bereich des Körpers erzählt. Die Hungerschauen führen damit eine Form der Selbstermächtigung und der Selbstkontrolle vor, die in spektakulärer Weise die bürgerlichen Tugenden der Moderne veranschaulicht  : nämlich Enthaltsamkeit, Verzicht und Entsagung als Marker der »protestantischen Ethik«, die Max Weber an prominenter Stelle als »innerweltlichen Askese« beschrieben hat (Weber [1920] 1972). Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren ist die Hungerkunst schließlich zu einer so verbreiteten Aufführungsform geworden, dass ihr Zugang staatlich geregelt werden muss und der Nahrungsverzicht nunmehr als sportlicher Wettkampf parallel auftretender Gegner_innen in Szene gesetzt wird. Deren Aufmachung ist nun diejenige moderner Medienstars. Unter der Überschrift »Können Sie auch 37 Tage hungern  ?« veröffentlicht das Berliner »Acht Uhr Abendblatt« am 13. Februar 1926 folgenden Bericht von Leo Heller  : »Zur Stunde, in der dieses Blatt in der Hand seiner Leser gelangt ist, wird sich der Hungerkünstler Jolly aus Krefeld bereits in seinem Glaskäfig, der in einem der Säle des Restaurants Krokodil in der Friedrichstrasse aufgestellt wurde, begeben haben, um sein 37tägiges ›Schauhungern‹ zu beginnen. Er ist erst 25 Jahre alt. […] Wir stehen vor seiner gläserne Villa, die soeben vom Zimmermann und Glasermeister errichtet wird, da erzählt mir Herr Jolly, dass er als Kaufmann begonnen habe, dass er aber bereits als Junge aus Trotz öfter zwei bis drei Tage gehungert habe. Das seien dumme Jungenstreiche gewesen. Sein Gesellenstück habe er 1923 im Lazarett Krefeld, in dem er von den Franzosen interniert worden war, abgelegt, als er einen großen Hungerstreik inszenierte. Da er wegen Sabotage vor ein französisches Kriegsgericht gestellt werden sollte, entfloh er und hielt sich bis 1924 in unbesetztem Gebiet auf. […] ›Wenn ich sage, dass ich nun in Berlin 34 Tage 62

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hungern werde, so heißt das eigentlich 37 Tage. Denn 3 Tage muss ich immer voraushungern. Das ist Training. Während der bekannte Italiener Succi vor Beginn seines Hungerns stets einen Likör trank, nehme ich kein Betäubungsmittel zu mir. Ich genieße während meiner Hungerzeit nichts als Selterswasser und täglich an 50 Zigaretten. Erst am neunten Tage erwacht in mir das Hungergefühl, das dann bis über die Hälfte der Hungerzeit hinaus anhält, bevor es allmählich verschwindet.‹« (Heller 1926)

Vierzehn Tage später berichtet die »Berliner Morgenpost«, dass sich in unmittelbarer Nähe des berühmten Jolly nun ein weiterer Hungerkünstler in einem Restaurant etabliert  : »In der Linden-Passage hat sich gestern Nachmittag in einem Restaurant ein zweiter Hungerkünstler etabliert, mit dem Namen Erik. Er hat die Absicht, seinen Kollegen Jolly, der […] bereits 19 Tage fastet und den Weltrekord von vierundvierzig Tagen im Hungern aufstellen will ihn, noch um einige Tage zu schlagen. […] In einem weißen Tennisanzug mit rosa Krawatte ist er gestern Nachmittag in seinen Glaskasten gestiegen, nicht ohne vorher 500 Flaschen Selterswasser und 5000 Zigaretten mitzunehmen.« (N. N. 1926)

Man kann hier einen Wechsel der Aufführungsart erkennen  : Mit Jolly wird der biografische Hintergrund, das heißt ein kriegsbedingtes Trauma, zum Ausgangspunkt eines Vermögens zu verzichten. Als semiotische Referenz der sich ausstellenden Körper fungieren nicht mehr religiöse Askese oder künstlerisches Virtuosentum, sondern die sportlich-soldatische Disziplin und der WettkampfGedanke. Im Auftritt sind die Hungerkünstler_innen daher keine exotischen Gestalten, sondern moderne Ladies und Gentlemen, mit Zigaretten und Bubikopf. Die zahlreichen Liebesbriefe und Heiratsanträge bezeugen, dass die Hungerkünstler_innen zugleich eine erotische Projektionsfläche verkörpern  : Sie sind Sinnbilder eines modernen Schlankheitsdiskurses, in dem der wilhelminische Dickwanst durch junge Sportler_innen abgelöst wird (Thoms 2000).

Hungern als Energiehaushalten  : Medizinische Perspektiven Von Beginn an ist die Hungerkunst ebenso wie die Anorexia nervosa mit medizinischen Diskursen und Techniken verknüpft. Ärztliche Kontrollen und Untersuchungen sollen einerseits sicherstellen, dass die Nahrungsabstinenz wirklich voll63

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zogen wird und dienen andererseits zur Erforschung der Wirkungsmechanismen von Nahrungsmangel und Stoffwechsel. Zu den ersten Hungervirtuosen gehört der amerikanische Arzt Henry Tanner, der 1880 in New York City den Beweis antritt, dass er vierzig Tage lang nur von Wasser leben kann ohne deshalb geisteskrank zu sein. Tanner versucht damit in einem spektakulären öffentlichen Fall, der Anorektikerin Molly Fancher, die Seite der jungen Frau einzunehmen und einen Beweis gegen die übliche Deutung des Fastens als Geisteskrankheit anzutreten. Bald darauf absolviert der Italiener Giovanni Succi Tourneen durch ganz Europa und stellt mit vierundvierzig Tagen Nahrungsverzicht einen ersten Hungerrekord auf. Er wird rund um die Uhr bewacht und geht kurze Zeit später mit dem berühmten Mediziner Luigi Luciani in Florenz einen ungewöhnlichen Tauschhandel ein  : Während eines dreißigtägigen Fastens im physiologischen Labor der Accademia Medico kann Luciani auf experimentellem Wege ernährungsphysiologische Vorgänge studieren und Succi erhält eine schriftliche Beglaubigung über die Seriosität seiner Fähigkeiten (Person 2002). Im Jahr 1887 tritt der Norweger Franceso Cetti in Castans Panoptikum in Berlin ein dreißigtägiges Fasten an, das nach einem Polizeiverbot am elften Tag eingestellt werden muss. Vertreter der Medizinischen Gesellschaft unter der Leitung Rudolf Virchows bewachen ihn und untersuchen Temperatur, Puls, Respiration, Gewicht, Wasseraufnahme, Größe der Organe, Dicke des Unterhautfettgewebes, Hämoglobingehalt des Blutes, Sekretion Schweiß, Speichel und Harn. Die Untersuchungen finden coram publico statt, es handelt sich also um einen Zusammenschluss von Experimentalraum und Bühne (Diezemann 2006, bes. 74–78). Mit dem Entstehen der Physiologie als eigenständiger Disziplin im ausgehenden 19. Jahrhundert werden Hungerkünstler_innen zu bevorzugten Objekten experimenteller Forschung. Sie lösen die bis dahin bevorzugt eingesetzten Tiere ab und nehmen vorweg, was später an Anstalts- und Gefängnisinsassen untersucht wird. Studieren kann man hier was innerhalb des Körpers passiert, wenn man hungert, wie sich die Ausscheidung, die Atmung oder die Körperform verändern. Aber auch die mentale Seite, die Selbstkontrolle, ist Gegenstand der Untersuchung, denn die Hungerküntler_innen führen in paradigmatischer Weise eine schier übermenschliche Triebkontrolle vor. Nicht zuletzt dienen die Versuche der Ausformung standardisierter Testverfahren und dem Einsatz neuer Instrumente und Messgeräte der Physiologie. Das Ziel der medizinischen Studien an Hungerkünstler_innen liegt eindeutig in der Etablierung zeitgenössischer Körpernormen. Untersucht werden folgende 64

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Abb. 2  : Der Hungerkünstler Franceso Cetti bei einer medizinischen Untersuchung vor Publikum, Castan‹s Panoptikum, Berlin 1887

Fragestellungen  : Lässt sich und wenn ja wie die »Energiebilanz des Menschen« festlegen  ? Welches Mindestmaß an Kalorienzufuhr ist nötig, um eine Person am Leben zu halten  ? Wie lassen sich Hungersymptome reversibel machen und wie ist damit die sogenannte »Volksgesundheit« zu stärken  ? Welche Rolle spielt die psychische Konstitution – die sogenannte »Willensstärke« – bei der Bewältigung dieses existenziellen Ausnahmezustandes  ? Und schließlich  : Wie lassen sich krankhafte und nichtkrankhafte Typen von Nahrungsenthaltung differenzieren  ?

Zusammenfassung In der Figur der Hungerkünstlerin bzw. des Hungerkünstlers und in dem aufgeführten Nahrungsverzicht verkörpert sich eine asketische Selbsterschöpfung, in der die Elemente moderner Subjektkonstitution – Verzicht und Übung – in paradigmatischer Weise ausgeprägt sind. Die Deutung des Hungerns als künstlerische Darbietung ermöglicht dem Publikum zugleich eine Distanzierung, die die Aufführungen der Hungerkünstler_innen als Abwehrritual erscheinen lassen. Dabei wird eine existenzielle Bedrohung gebannt und in Kunst transformiert. 65

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Freiwilliges Hungern ist damit Ausdruck einer Suche nach (radikaler) physischer Subjektautonomie  : Am und mit dem Körper wird die Unabhängigkeit vom Kreislauf des Lebendigen demonstriert. Zugleich fungieren Hungerkünstler_innen als Studienobjekte, an denen medizinisch ausgehandelt wird, was als Normalität, als übersteigernde Virtuosität, d. h. als mühelose Willensleistung und unterlaufende »Abnormalität« (nämlich als Diagnose der krankhaften Anorexie) gilt. An der Konstitution dieser Normen hat das Theater entscheidenden Anteil.

Anmerkungen 1 Vandereycken/Deth/Meermann 2003, 71f. 2 Einen bekannten Fall von Fastenbetrug stellte die in Moers ansässige Eva Vlieghen dar, die vorgegeben hatte, dreißig Jahre nichts gegessen zu haben (Vandereycken/Deth/Meermann 2003, 82–91). 3 Während Gull auf die Besonderheit dieser Krankheit im Verhältnis zu anderen Formen der Appetitlosigkeit in Zusammenhang mit Krankheiten fokussiert, betont Laségue den familiären Zusammenhang, also die kulturellen und sozialen Zwangssituationen, in denen junge Frauen aufhören zu essen. 4 Im Folgenden wird aus der deutschsprachigen Fassung »Todeshunger. Geschichte der Anorexia Nervosa vom Mittelalter bis heute« zitiert. 5 Meine Beschreibung folgt der exemplarischen Schilderung bei Payer 2002, 63–86.

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Barbara Gronau

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Bildnachweis Abb. 1  : Werbepostkarte aus dem Wiener Prater aus 1905 Abb. 2  : Quelle  : Castan‹s Panopticum – ein Medium wird besichtigt, Heft 17/2013, zusammengestellt von Angelika Friederici

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Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Häute – Hüllen – Handlungen Auftritte von Wiener Aktionistinnen 1970–1983 Hartnäckig ist der internationale Ruhm des »Wiener Aktionismus« an vier männliche Vertreter, Günter Brus, Hermann Nitsch, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler, gebunden. Dabei gab es unter den Initiatoren noch die dem Aktionismus nahestehenden Adolf Frohner, Dominik Steiger oder Alfons Schilling, aber vor allem eine Gruppe von Performerinnen, die in den siebziger und achtziger Jahren in Österreich, Italien, Deutschland und den USA auftraten und als feministische Vertreterinnen des »Wiener Aktionismus« von der Kunstgeschichte bislang zu wenig wahrgenommen wurden. Um einige von ihnen soll es im Folgenden gehen. VALIE EXPORT hat den Begriff »feministischen Aktionismus«, parallel zu ihren Body-Art-Aktionen und dem »Expanded Cinema«, um 1970 geprägt und konnte ihre Position nach internationalen Erfolgen schließlich auch in Österreich etablieren. Sie trat seit 1968 öffentlich als Aktionistin auf. Davor hat Kiki Kogelnik in Wien und New York mit Happenings begonnen, 1967 in der Galerie nächst St. Stephan mit »Kunst kommt von künstlich«, dem sie 1969 das »Moonhappening« folgen ließ. Birgit Jürgenssen wurde durch wissenschaftliche Aufarbeitung ihres Werks nach ihrem frühen Tod 2002 zuletzt bis Amerika bekannt. Die Aktionen von Renate Bertlmann, Linda Christanell und Rita Furrer fanden ab 1970 nicht nur in Wien, Krems und Breitenbrunn statt, sondern auch in Bologna, in mehreren deutschen Städten und New York. Sie haben zeitgenössisch großes Aufsehen erregt und nachhaltig die junge Performanceszene angeregt.1 Nur in Wien werden Künstlerinnen bis jetzt getrennt einer zweiten Phase des »feministischen Aktionismus« von 1968 bis etwa 1985 zugerechnet, eine Geschlechtertrennung, die männliche Aktionisten grundsätzlich voranstellt und daher aufgehoben werden sollte. Mit der Ausstellung »Aktionistinnen« im Kremser Frohner Forum von Mai bis August 2014 wurde eine Diskussion mit den Expertinnen Eva Badura-Triska2 und Johanna Schwanberg3 in Gang gesetzt, mit dem Ziel, den historischen Begriff »Wiener Aktionismus« endlich zu erweitern. Dabei sollen zeitliche wie inhaltliche Unterscheidungen aufrecht bleiben, jedoch mit Bezug auf die internationale Aktionionist_innen-Szene in 69

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Japan, den USA oder Deutschland auf eine strickte Geschlechtertrennung verzichtet werden. Meine These dazu lautet  : der »Wiener Aktionismus« dauert in seiner ersten Phase von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre und die nachfolgende Aufnahme und Revidierung aktionistischer Tendenzen durch junge Performer_innen der Gender- und Queer-Szene – durch Protagonist_innen wie Carola Dertnig, Elke Krystufek, Gram oder Gelatin – beginnt um 1990 als zweite Phase. Wie VALIE EXPORT oder der Soundskulpturen und klingende Rauminstallationen bauende Bernhard Leitner aus der Frühzeit berichten, war die Situation für die Künstlerinnen, die sich dem Wiener Aktionismus angeschlossen hatten, hier besonders schwierig, leichter hatten sie es auf dem internationalen Parkett. Leitner, der nach längerem Aufenthalt in Amerika in den 1970ern zurückkehrte, nennt die Art, wie die machodominierte Wiener Kunstszene Frauen zu Modellen und Musen degradierte, zu Recht skandalös. EXPORT hat ihre Distanz zu Brus, Nitsch, Muehl und Schwarzkogler betont, da jene ihre Arbeit nicht als gleichwertig akzeptierten. Das lag an ihrem inhaltlich breit angelegten, auch in Richtung Film, Neue Medien und Konzept erweiterten Kunstbegriff. Die Vielfalt in der Wahl der Mittel neben dem Einsatz des eigenen Körpers wurde als Schwäche an Konzentration auf einen Personalstil gesehen. (vgl. EXPORT 1975) Für das großteils konservative Kunstpublikum, aber auch den noch wenig entwickelten Kunstmarkt, war es um 1970 schwierig, das völlig neue Künstler_ innenbild der ‹60er Jahre zu verkraften, das nicht mehr mit Kunstware (Bilder oder Skulpturen) agierte, sondern auf ephemere Auftritte unter Einsatz des (oft nackten oder auffallend verhüllten) Körpers im Raum setzte, die mittels neuer Medien dokumentiert wurden. Fotografie und Video wurden als Dokumentationsmittel und ihre Ergebnisse noch nicht als Kunst angesehen. Dabei wird eine weitere zwiespältige Ausgangsposition, die später als Vermarktungsstrategie förderlich war, sichtbar. Durch Konflikte mit dem Pornografiegesetz, Störung der öffentlichen Ordnung, Verdacht auf Blasphemie, einmal wurde sogar der Vorwurf laut, es sei ein Mord gegangen worden – also einer Fülle an negativer Aufmerksamkeit durch Skandalberichte in Zeitungen, Radio und Fernsehen und daraufhin eingeleitete rechtliche Schritte, mussten die männlichen Protagonisten des Wiener Aktionismus bis in die Jahre der KreiskyRegierung nach Deutschland auswandern, um sich der Verfolgung zu entziehen.4 Sie nützen dieses Negativbild in Wien bis zuletzt, um sich als Märtyrer an der Gesellschaft zu stilisieren und bis heute auf Wiedergutmachung zu pochen – wie etwa Nitsch 2005 bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Staatspreises. 70

Häute – Hüllen – Handlungen

Dieser altmodische Avantgardehabitus wird von Museen und Galeristen weiter strapaziert. Diese Stilisierung zum Märtyrer hat unmittelbaren Bezug zum Thema der Tagung »Körper/Denken«, denn Brus, Nitsch oder Muehl haben die Befreiung des Körpers, ihrer Sexualität, als emotionale Geste mit intuitiver Spontaneität, ohne Verbindung zum geistigen Konzept vollzogen, bei den Aktionistinnen ist dies überlegter und mit analytischen Konzepten verbunden. Zwar war die Differenzierung von Körper/Intuition und Kopf/Denken in den 1970er Jahren auch in der feministischen Diskussion problematisch, aber Ansätze zur Auflösung der Gleichung Logos-männlich/Mythos-weiblich waren vorhanden. Für die Anerkennung ihres Logos mussten EXPORT, Marina Abramovic, Gina Pane, Jürgenssen oder Bertlmann mit inhaltlichen Konzepten noch kämpfen. Die verbliebene Trennung von männlichem/weiblichem Aktionismus in Wien durch die Kunstgeschichte erschwerte es Künstlerinnen, sich ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Ihre inhaltlich analytischeren, zukunftsweisenden, aber vergleichsweise unspektakulären Auftritte, die der Spurensuche einer von den einigen Feministinnen propagierten »weiblichen Ästhetik«, also einer Gegenwelt mit neuer Identitätssuche, dienten, kam ohnehin weniger Aufmerksamkeit zu. Während EXPORT und Bertlmann durchaus aggressiv die Umdrehung zur weiblichen Dominanz vorschlugen, fallen Furrer und Christanell mit dazu gegensätzlichen Positionen konzeptueller und philosophischer Prägung auf. Furrer schloss sich Inhalten des »kulturellen Feminismus« (Distler 1989  ; Hassauer 1980  ; insbes. Veatering 1973) an, der die demokratische Gegenwart mit einer prähistorischegalitären Gesellschaftsordnung verglich. Christanell hat EXPORT ähnlich ein Crossover zu Film, Konzept und Objektkunst vollzogen. Sie ging den Weg von der Zeichnung zum Objekt und legte die Objekte während ihrer Performances an den Körper an. Am Ende stand nach der gesellschaftlichen Utopie des Mutterrechts und archaischer Symbolik der Göttin oder Hexe aus dem »kulturellen Feminismus« bei Christanell das »Abenteuer des Menschlichen«. Und damit ging es auch um androgyne Seelen, wie Kurt Lüthi bereits 1984 für ein sich zur zweiten Phase des Feminismus hin wandelndes Frauenbild konstatierte (Lüthi 1984). Bevor noch der Begriff »Performance« in den 1970er und ’80er Jahren die Szene von der bildenden Kunst um Tanz, Theater und Events erweiterte, integrierten feministische Kunstaktionen vor allem solidarisch politische Statements gegen Atomkraft, Artensterben oder das erzwungene Ende der freien Kunstszene in der Arena (Borchhardt-Birbaumer 2004, 61ff.).5 Dort fand 1976 eine Protest-Ausstellung von Lore Heuermann statt. Das Frauenzentrum Auf wandte 71

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sich 1976 mit der Aktion »Alte Hexen« gegen Kirche und Papst, Christa Hauer forderte mit den IntAkt-Frauen (Internationalen Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen) ein Frauenministerium, aber auch »für jede Frau einen flugtüchtigen Besen«.6 1972 hatte, von bildenden Künstlerinnen durch Plakate und Aktionen engagiert unterstützt, der Kampf um die Freigabe der Abtreibung durch die Abschaffung des sogenannten Abtreibungsparagrafen begonnen. Zentrale künstlerische Inhalte waren Rollenspiel und frauenbezogene Alltagssymboliken, wobei – ganz im Unterschied zur masochistischen Körperthematik der »Wiener Aktionisten« – mit feiner Klinge und subtilem Humor eine Identitätsbefragung stattfand. Den Aktionisten galten ihre körperlichen Exzesse als Zeichen der schmerzlichen Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges. Um 1970 wurden Selbstbespiegelungen des in der Museumskunst und Werbung zum Objekt männlicher Voyeure verdammten weiblichen Körpers zur Projektionsfläche für feinen Sprachwitz und drangen in die Tabuzone des erotisch Abjekten vor (etwa dem Ekel vor Blut und Körpersäften, vgl. dazu Georges Bataille [1963] und Julia Kristeva [1982]). Parallel zum Durchbruch der Demokratisierung durch strukturalistische Methodik in der Wissenschaft7, wird dieses künstlerische Konzept durch die sich um 1970 etablierenden neuen Medien, vor allem Video, neben Fotografie und Film, dokumentiert. Diese Dokumentationsformen galten zwar noch nicht als künstlerisch, stellten aber eine völlig neue künstlerische Vorgangsweise mit Hilfe von Apparaten dar, die – anders als die Malerei oder die Objektkunst – nicht dominant von Männern besetzt war. Die Gründung der schon erwähnten Frauenkooperative IntAkt 1977 hat wesentlich zu den aktionistischen Aktivitäten beigetragen. Mit der spezifischen Organisation ihres Teamwork8 – gleiche Kojen für alle – nahmen sie sogar politische Forderungen der neuen Partei der Grünen vorweg (Zinggl 2003). Dieser demokratische Habitus löste von männlicher Seite eine Qualitätsdebatte aus, an der die IntAkt bis heute leidet  ; man warf ihr vor, völlig kritiklos gleichberechtigt schlechte Kunst neben guter Kunst zu zeigen. Es gab viele exklusiv Künstlerinnen gewidmete Ausstellungen, etwa mit EXPORT als Kuratorin. Sie veranstaltete 1975 in der Galerie nächst St. Stephan »Magna Feminismus: Kunst und Kreativität« (EXPORT 1975) und kuratierte 1985 gemeinsam mit Silvia Eiblmayr und Monika Pischl-Maier im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts »Kunst mit Eigen-Sinn« (Eiblmayr 1985). Die von Christa Hauer 2003 groß angelegte Künstlerinnen-Positionen-Ausstellung in Krems wurde hingegen für ihre Konzentration auf ein Geschlecht kritisiert. (Aigner 2003) Auf diesen in Zeiten von Gender- und Queer-Debatten berechtigten Vorwurf hat Carola Dertnig re72

Häute – Hüllen – Handlungen

agiert  : Ihre künstlerische Forschung brachte neben der Ausstellung »Mothers of Invention« im Museum Moderner Kunst in Wien die Publikation »Let’s twist again« hervor. Darin wird die Aktionistinnen-Szene in Wien breit vorgestellt (Dertnig/Seibold 2006). Die auf das Körper/Denken bezogenen Aktionen, die hier im Folgenden dargestellt werden, rücken die noch weniger bekannten und dokumentierten Aktionen in den Vordergrund. Die IntAkt-Künstlerinnen luden sich in den 1970er und ’80er Jahren internationale Performerinnen ein, ihre Diskussions-Treffen und Ausstellungen zu bereichern. Hier ist neben Annegret Soltau aus Deutschland vor allem die Niederländerin Anneke Barger zu nennen. Beide verwendeten eine spezielle Körpersprache, um Frauenkörper einengende oder zumindest strukturierende Netze sichtbar zu machen  : Barger zwängte sich in »Nets« 1980 in Leiden mit dem Körper durch ein enges Strickgespinst, wobei sich keine Verbindungen zu sadomasochistischer Erotik der Fotos mit gebundenen weiblichen Modellen von Nobuyoshi Araki assoziieren lassen. Soltaus vom Körper isolierte Haare am Ort der Loslösungs-Aktion sprechen ähnlich von Befreiung. Edda Seidl-Reiter wiederum benützte Netze und das Verspinnen als Anregung für eine Interaktion mit der Natur. Soltau hat außerdem durch eine serielle Kamera-Beobachtung ihre eigene Schwangerschaft (1979) dokumentiert und das Material zur anschwellenden »Muttersäule« collagiert. Tabuthemen in Zusammenhang mit weiblichen Körpern werden so ironisch und ästhetisch neu aufbereitet. Die neue Offenheit hat folgende Künstlerinnen, die meist in den 1940er Jahren geboren sind, zu Inszenierungen im Atelier vor der eigenen Kamera beflügelt  : Friedl KubelkaBondy, Friederike Pezold, Karin Mack oder die bereits genannte Birgit Jürgenssen in Fotoserien, auf Video und in filmischen Sequenzen Margot Pilz, Christine Adrian Engländer (Moucle Blackout) oder die bereits genannte Linda Christanell. Die Künstlerinnen der IntAkt fanden sich 1979 zur Aktion »Hommage á Kremser Schmidt« zusammen, ein von Margot Pilz dokumentiertes, nahezu hochzeitliches Abendmahl-tableau vivant nach dem Barockkünstler Johann Martin (»Kremser«) Schmidt, der an seinen Abendmahltisch freilich nur männliche Protagonisten setzen konnte (Abb. 1). Schon vor den seit 1985 agierenden US-amerikanischen Guerrilla Girls wurde hier auf die jahrhundertelange Abwesenheit von Frauen in der aktiven Schöpferrolle verwiesen, aber auch auf die passive Rolle der Frau in der katholischen Kirche. Der Kult um die Kreativität, die erstmals die Schöpferin hervorrückte, war in diesen feministischen Werken gegen Jahrhunderte langes hegemoniales patriarchales Denken vorrangig. 73

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Abb. 1  : Margot Pilz, Hommage à Kremser Schmidt. Aktionsfoto mit IntAkt, Wien 1979

Lotte Hendrich-Hassmann, die wie ihr Mann oft Aktionen fotografierte (Hermann Hendrich arbeitete auch im Team mit EXPORT), schuf das sprechende Begleitobjekt für diesen Zeitgeist  : »Nur Kinder, Küche, Kirche« nach dem Slogan von Dario Fo und Franca Rame. Die heute als Filmemacherin bekannte Linda Christanell verband den Körper in ihren Aktionen mit haptisch-erotischen Textilobjekten wie dem hinreißenden weiblichen Fetisch »Vaginaflieger« (Abb. 2). Ironisch weist sie auf Tabus wie Sexualität oder auch die Versehrtheit von Körpern hin, weshalb sich diese Kunstobjekte besonders schwer etablieren ließen. 74

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Abb. 2  : Linda Christanell, Vaginaflieger, eigentlich androgyne Flugwesen, 1975

Objekt und Performance, auch Requisiten in begleitenden Filmen, sind bei Christanell gleich wichtig wie die formale Struktur serieller Abfolge. Renate Bertlmann hat mit ihren fünf, teils mehrmals wiederholten Aktionen und der Zusammenarbeit mit Christanell im BC-Kollektiv (das auch zustande kam, weil frau sich professionelle filmerische oder fotografische Begleitung nicht leisten konnte) einen bleibenden Eindruck hinterlassen, was langsam von öffentlichen Sammlungen gewürdigt wird. Sowohl mit »Deflorazione in 14 stazioni« (1977) in Bologna, einer Aktion, in der sie an Noppen und eine Brustattrappe gesteckte Klingen als Schneidegerät für die textilen Häute nutzte, als auch in »Die schwangere Braut im Rollstuhl« (Abb. 3), »Die schwangere Braut mit dem Klingelbeutel« (beide 1978 in Wien und Düsseldorf ) und »Let’s dance together« (1979 in Wien) spricht sie gesellschaftliche Tabus der Verletztheit und Versehrtheit des weiblichen Körpers an. Dabei zeigt sich im Unterschied zu den »Wiener Aktionisten« ein völliges Neudenken von Körpern. Die männlichen Vertreter sprachen von Körpern, die immer den männlichen Körper thematisierten, auch wenn sie ihn geschlechtslos als allgemein menschlich 75

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Abb. 3  : Renate Bertlmann, Schwangere Braut im Rollstuhl, Galerie Modern Art, Österreichischer Kunstverein, Performancefoto, Wien 1978

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verstanden haben, präzise müsste von »Männerkörpern« die Rede sein. Bertlmanns Frauenkörper schauen dem freudigen Ereignis Hochzeit und Geburt entgegen und sind doch irritiert und behindert durch die Schwangerschaft. Sie geißelte die festgefahrenen Geschlechterstereotypien (hier Frau und Hausarbeit, dort Mann und Öffentlichkeit) und hatte die Mitwirkung der Zuseher_innen eingeplant. Das Schieben des Rollstuhls wurde erzwungen, da das fordernde Kindergeschrei aus dem Kassettenrekorder erst verstummte, wenn Geld in den Klingelbeutel eingeworfen wurde. Der Klingelbeutel mixt Kirche und Prostitution, die Maske aus Latexschnullern verzerrt die dargestellte weibliche Schönheit und der Brautstrauß aus Latexmaterial und Tüll spielt auf das Primat phallischer Sexualität an. Ihre Anbetung des heiligen Phallus auf einem Betstuhl als »Bilderwandlung oder pädagogischer Eros« treibt die Darstellung männlicher Dominanz auf die Spitze. Mit Bertlmanns »Sling Shot Action« (1980 in New York und 1982 in Wuppertal) – mit Doppelpenisschleuder und Sexpuppen – brach die Ironie lustvoll in männliche Gefilde ein  : Dem rituellen Tanzen mit den Puppen folgte die Frage, ob es eine Umkehr, nämlich die Vergewaltigung des Mannes durch die Frau gäbe und der Beschuss der Puppen, womit auch das männliche Exemplar aus der Position ›Ton angebend‹ zur luftlosen Hülle schrumpfte – nur der Phallus blieb stehen. Bertlmann setzt sich mit den Mechanismen der parallel zur patriarchalischen Gesellschaft bestehenden Pornografie auseinander, sie spart in ihrer Kunst bis heute Tabubruch und Peinlichkeiten nicht aus und hat ein großes – auch theoretisches – Interesse an erotischem Kitsch. 1981 veranstaltete sie ein Symposium zu Kunst und Sexualität, 1993 eines, das Kitsch, Kunst und Tabu gewidmet war.9 Beide Veranstaltungen wurden in Wien aber vielbeachtet. Damals war es noch ungewöhnlich, Kunst und Wissenschaft zu verbinden, heute ist die »künstlerische Forschung« eine eigene Richtung. Der feministische Schrei nach Selbstbestimmung (des »Körper/Denkens«), das Spottbild der Braut und die falsche Sentimentalität des Braut- und Muttertraums, wie er heute in Perfektionsriten des Konsums im kollabierenden Spätkapitalismus wieder schrecklich präsent ist, sind vermittelt durch Bertlmanns großes Vokabular an Gesten und Mimik gut zu verstehen. Bereits in den 1970er Jahren befragte die Künstlerin die ambivalenten Kräfte des Eros im Rollentausch, ähnlich wie zeitlich parallel dazu Jürgen Klauke und Urs Lüthi die Maskerade zur Frau vollzogen haben (Wipplinger 2006). Im Vergleich zu Bertlmann sind Rita Furrers Aktionen in schwarzen und weißen Kleidern und mitwirkenden schwarz und weiß bekleideten Figuren eine stille Geste. Die von ihr 1983 in Wuppertal (im Von der Heydt-Museum) und Krems (in der Dominikanerkirche) aufgestellten Selbstabgüsse (bis zu vier 77

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schwarze, teils sitzende Gestalten und eine im durchscheinenden weißen Gazegewand) sollten den Gegensatz von Körpererotik der weißen Figur und der alles Geschlechtliche tilgenden schwarzen Figuren sichtbar machen, mit einer  : »zusätzliche(n) Tarnung durch das Environment – die figurale Vervielfachung meiner selbst«10. Es ist der Initiative von Meina Schellander zu verdanken, dass der Nachlass von Rita Furrer (1939–2003) erhalten geblieben ist. Heute teilweise in der Sammlung der Stadt Wien aufgehoben, können die vorher nur fragmentarisch bekannten Projekte der Österreich-Schweizerin nun beforscht werden. Die hier folgende Beschreibung ist demnach work in progress. Motto der nach 1970 einsetzenden Untersuchungen Furrers zum Thema Körper und Hülle ist das von der Künstlerin statt Aktion oder Performance »intervenierendes Handeln« genannte Vorgehen  : ein schweigendes Agieren in schwarzer Draperie, bezogen auf einen Ort, an dem kulturelle wie spirituelle Veranstaltungen stattfinden, aber auch auf der Straße und an alten Kultplätzen, oft von Sound begleitet. Dieser spezifische Körpereinsatz im Raum gilt heute als spannende Wandlung und Weiterentwicklung des Begriffs Skulptur (Aigner/Karel 2010). Furrers Anfänge in der Keramik und Bildhauerei sind bald nach ihrem Eintritt in die Meisterklasse Wander Bertonis an der Wiener Universität für angewandte Kunst (1969) auf »disziplin- und medienüberschreitende Konzepte« in eine Nähe zum Körper aber auch auf das kosmische Ganze, des weiblichen Eros als Schwingung in Energiefeldern (an Kultorten) der Natur ausgerichtet. Ihre Gipsversatzstücke des Körpers erinnern an spätere Passstücke von Franz West. Ein Angebot, in die Klasse Fritz Wotrubas an der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz einzutreten, lehnte sie ab, weil Steinbearbeitung ihr veraltet schien. Von der Keramik und durch ihren Vater, einem Zahnarzt, brachte sie Wissen um Kunststoffmaterialien und Wachsmischungen nach Wien mit, arbeitete mit Wachsmoulagen, Gipsabgüssen und Kunstharzen – lauter neue Materialien der Popkultur. Aber auch in Richtung textile Kunst, die um 1970 als feministisches Nonplusultra galt, weil das Nähen und der Stoff traditionelle Zusammenhänge mit weiblichen Tätigkeiten aufzeigen, war Furrer aktiv. Die Untersuchung des Gegensatzes von Innen und Außen (Haut, Tätowierung, Perforierung, Nerven, Organe) stellte eines der Hauptthemen feministischer Künstlerinnen um 1970 in den USA dar (Kiki Smith, Yoko Ono, Louise Bourgeois, Carolee Schneemann). Eine Bewegung, die schnell auf Europa übergriff – der »kulturelle Feminismus« (Distler 1989  ; Hassauer 1980  ; Veatering 1973), war auf der Suche nach den Ursprüngen des Weiblichen und weiblich dominierten Gesellschaften sowie Göttinnen in prähistorischer Zeit vor der »Erfindung des 78

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Patriarchats« (Lerner 1986). Dabei forderte das Women’s Liberation Movement nicht mehr und nicht weniger, als dass die Frau an die Stelle des Mannes rückt  ; der europäische Feminismus entwarf hingegen eine autonome Gegenwelt mit egalitären Geschlechterrechten und -pflichten (Hassauer 1980, 48). Fragmentierung und Einblick in Körper sollten Verletzungen aufzeigen, die Frauen an sich durch kapitalistische Ausbeutung und patriarchale Entfremdung von Körper und Empfindung zugefügt werden. Die Körperdebatte der Frauenbewegung um 1970 lehnte sich gegen die stofflich-materielle Reduktion der Frau auf. Sie kritisierte damit Konzepte wie sie beispielsweise Otto Muehl in seinen Aktionen von den Surrealisten übernommen hatte, an denen der »Geschlechterkampf« der Jahrhundertwende hängen geblieben war. Im Kontext der Rationalitätsmüdigkeit der 1970er Jahre kam es in einer der vielen Richtungen der neuen Frauenbewegung zum Rückbezug auf den Mythos und die Utopie des Matriarchats. Es galt als Gegengift zur männlich technischen Welt, die als pervertiert, in Rüstungswahn und ökologischer Katastrophe mündend, verurteilt wurde. Frauen wurden auf diese Weise, in Weiterschreibung patriarchaler Vorstellungen, durch direkten Bezug zu ihrer »inneren Natur« als friedfertig Agierende zu Retterinnen des Planeten. Autor_innen wie Mathilde Vaerting, Eliane Gould Davies, Heide GöttnerAbendroth, Robert von Ranke Graves und der C. G. Jung-Schüler Erich Neumann erfanden in freier, positiver Rezeption der Forschungen des Basler Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen und auf Basis der Relektüre von Berta Diener-Eckstein, das Fruchtbarkeitsidol der »Großen Mutter« und setzten es in Bezug zum wieder gefundenen Urmysterium der Mutterschaft (Vaetering 1973). Auf die Verweigerung (»Mein Bauch gehört mir«) folgte um 1972 der Slogan vom »Grenzerlebnis« Geburt, Frauen galten in der kapitalismuskritischen Hippie- und Friedensbewegung als positive Hexen, Schamaninnen und Trägerinnen der heilenden Urreligion und -kultur. Das Interesse an Magie, Astrologie, Mystik und Esoterik war stark, in der Kunst die Suche nach einer spezifisch »weiblichen Ästhetik« sehr präsent (Hassauer 1980  ; Ebner 2010). Wir finden diesen Ansatz ausgeprägt bei Rita Furrer, bevor er als Rückschlag und feministische Isolation durch die Arbeiten von Luce Irigaray, Julia Kristeva, Gayle Rubin und Teresa de Laurentis in Tradition der Gender- und Queer Studies relativiert wurde (Irigaray 1979). Der Hohlkörper der Gipsabgüsse bedeutet für Furrer ein Verlassen der statischen Skulptur, eine Übertragung plastischer Momente auf den Körper. Mit dieser Hüllenstruktur kam die Idee, sich selbst zu verhüllen und als wandelnde Skulptur aufzutreten. 1978 findet ihre erste Aktion als »intervenierendes Handeln« statt, und zwar um die Wotrubakirche am Georgenberg in Wien Mauer 79

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herum. Vor und nach den Eröffnungen eines musikalischen Events unter Rainer Keuschnig wandelte sie in der und um die Kirche. Während einer damit verbundenen Messe wurde sie jedoch wegen ihres langsamen Herumgehens als verhüllte schwarze Gestalt vom Pfarrer aus der Kirche verwiesen. Im Rahmen eines an sich als avantgardistisch geltenden Musikevents stimmt dies nachdenklich. Ihre Auftritte an vier Tagen waren eng mit dem Programm des Festivals verknüpft, reagierten auf andere Kunstaktivitäten, das Teamwork war Teil des Konzepts von Furrer, die Abstimmungen gestalteten sich jedoch offenbar trotz Absprachen nicht reibungslos. »Alle großen Formen des Frauenlebens zeigen die Gestalt der Frau verhüllt«11, sagte die Künstlerin und spielte mit diesem Zitat auf die Haube der »Venus von Willendorf« wie auf die schemenhaften Visionen der Muttergottes von Mädchen in Fatima und Lourdes als »kosmisch-weibliche Dimensionen« an. Sie bezog sich in Ermangelung einer allgemeinen Debatte in den 1980er Jahren nicht auf islamische Verhüllungsgebote.12 Die völlige Bedeckung des Körpers ist für Furrer ein Zeichen der »natürlichen Beziehung zum Metaphysischen«, sie glaubte an Berta Diener-Ecksteins Amazonentheorie und Robert von Ranke-Graves heute nicht mehr haltbare Behauptung  : »Die Mysterien kommen durch die Frau in die Welt, nicht durch den Mann.« – Ihre Arbeit als »Multimediakünstlerin« begründete sie folgendermaßen  : »Alles, was ich gestalte, gerät in die Nähe eines Mysterienspiels oder so ähnlich«. »Leintuchschatten« betitelte sie ihren Beitrag eines Proteststatements, das sie auf ein Leintuch applizierte, für den Grazer steirischen herbst im forum stadtpark 1979. Sie stellte dieses Werk gemeinsam mit Werken anderer IntAktKünstlerinnen (Christa Hauer, Karin Mack, Linda Christanell, Christl Bolterauer und viele andere) als »Frauendenkmäler« aus. Furrer war 1978 der IntAkt beigetreten und ergänzte mit dem für sie typischen »intervenierenden Handeln« zwischen den aufgehängten Textilien im öffentlichen Raum. Konzentration nach innen demonstrierte auch ihr Auftritt »Standhalten«, etwa in Monsignore Mauers Galerie nächst St. Stephan am Aschermittwoch 1981 als An-Gehen gegen die männlich dominierte Versammlung (Abb. 4, 5). Furrers Repräsentationsverweigerung als geschlechtliches Wesen, also als eine Art »Androgyn«, wie sie es gegenüber IntAkt-Kollegin Karin Mack beschrieben hatte (Mack 2011), hat große Verwirrung beim Publikum ausgelöst. Durch die Verhüllung, die Stille der Aktion (introvertiertes Verhalten, das als typisch weiblich zu lesen war) und weil es eine doppelte Sprachlosigkeit, eine teilweise Löschung verständlicher Theatralik mit sich brachte, die andere, ungewöhnliche und vielfältig lesbare Räume schuf. So sprach Furrers Aktion bereits die verschwindende Geschlechterdifferenz an, die Jacques Lacan überspitzt hat zur 80

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Abb. 4–5  : Rita Furrer, 2 Varianten im Querformat für eine Seite. Aschermittwochsaktion auf der Kärntnerstraße, Wien 1981 Fotos: Lotte Hendrich-Hassmann

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These, die Frau sei der Phallus, während der Mann jenen inne habe, womit sich dann später vor allem Judith Butler und in Deutschland unter anderem Christina von Braun beschäftigten (Braun 1990  ; Butler 1991). Furrers geglückte geschlechtliche Selbstneutralisierung unter der schwarzen Hülle, die jegliche Sexualisierung abwehrt, wirkt noch immer als früher subversiver Akt, der die Brisanz aktueller Debatten über Verhüllung vorausahnen lässt. Birgit Jürgenssens (1949–2003) oft tägliche Selbstinszenierungen vor Spiegel und Kamera sprechen eine eigene Sprache, sie trat vor öffentlichen Auftritten mit der Frauengruppe »Die Damen« (1988–1994) nur zweimal in den 1970er und ‹80er Jahren vor Publikum auf  : in der Aktion »Bild schlagen« und mit »Histoire naturelle«. Selbst die bekannte Foto-Aktion »Küchenschürze« mit umgeschnalltem Herdobjekt samt Brotwecken fand nicht im öffentlichen Raum statt. Das Aktionsrelikt ohne Titel von 1979 mit (Selbstbildnis-)Maske im Rosenstock, der auf einem Mikrophonständer gesteckt ist, beschreibt ihre scheue und poetische und damit mehr der inszenierten Fotografie einer Cindy Sherman nahestehende Körpersprache als Alternative zum männlichen Mythos des Machers vor dem Spiegel. Mit Masken, Schattenüberblendung, Pelzchen, beißend ironisch, rhizomartig, den Körper nie nur als Material nützend, sondern mit lyrischen Texten in Einklang bringend. Nie abgeschlossen ist ihre vielschichtige Buchstäblichkeit meist verrätselt, die eine dritte Realität – wie den Traum, die Sehnsucht – durch Transparenz schafft. Die Liebeskunst ist für sie, übereinstimmend mit der »weibliche Ästhetik«, zart und sanft, legt verschüttete Schichten bloß, die durch Häutungen sichtbar werden (Schor/Solomon-Godeau 2009). Die bereits angesprochene Margot Pilz hat einige frühe Aktionen konzipiert, um dann 2014 im Wiener Künstlerhaus an diese frühe Arbeit anzuschließen. Mit einem ihre Kindheit in einem Lager widerspiegelnden Aktionskonzept 1980 war sie in Lengenfeld, dem Schloss von IntAkt-Mitbegründerin Christa Hauer, die davor als Vereinslokal ihre ehemalige Galerie oberhalb des Griechenbeisls im ersten Wiener Gemeindebezirk zur Verfügung gestellt hatte, mit einem wesentlichen Beitrag an der »Scheuchenaktion« auf den Feldern oberhalb des Ortes beteiligt. Sie schuf eine Kopffüßlerin mit ausgestopften Strumpfbeinen an Holzbalken unter ihrer eigenen Lebendmaske. Diese Arbeit wirkt wie eine Vorwegnahme der Figurenobjekte der heute weltbekannten britischen Künstlerin Sarah Lucas. Pilz und Bertlmann arbeiteten mit Linda Christanell zusammen, die in den letzten Jahren als eine Pionierin des experimentellen Kunstfilms gefeiert wird. Wenig bekannt ist sie als Performerin, obwohl – nach ihrer Aussage – die beiden Medien Film und Performance immer konform liefen und auch mit ihren Ausstellungsarrangements in Vitrinen und über Monitore und Diashows eng zusam82

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men hängen. Ihre reduzierte Körpersprache in den Performances »Fingerfächer« oder »Die weiße Kugel«, 1977 und 1978, war wie Konzeptkunst gebunden an eine genaue Partitur und an Wiederholungen. Christanell ist daher eine Vorläuferin der Vielschichtigkeit und Verwobenheit von neuen Medien und der Arbeit mit dem Körper wie es in seiner Kombination für heutige Künstlerinnen eine unumgängliche Notwendigkeit darstellt. In den 1970er Jahren warf man diesen Künstlerinnen ihre Vielseitigkeit als emotional begründete Unsachlichkeit und Entscheidungsarmut vor, die textilen und anderen Objekte (Fächer, Theatermodell zum Umschnallen, Kleiderflügel, nach platonischem Androgyn geteilte weiße Kugeln, Beutel, Polster etc.), die etwa Christanell als Identitätsmerkmale fetischhaft und erotisch einsetzte, wurden als Ergebnisse einer typisch weiblichen Kreativität in der Kunst leichtfertig abgetan, waren doch Nähen, Stricken, Schneiden traditionell weiblich besetzt. Sie konnten und können aber sehr wohl auch radikale Facetten annehmen – wie an EXPORTs Bezug zur Schere zu sehen ist oder wie Andy Warhols Bemerkung über seinen, nach dem Attentat der Radikalfeministin Valerie Solanas, von Nähten »wie ein Kleid« gezeichneten Körper (in den Fotos von Richard Avendon dokumentiert) deutlich macht. Wie Birgit Jürgenssen oder Rebecca Horn spielt auch Christanell virtuos mit der Sprache, die ja zum Film gehört wie der Sound, und die verbunden mit dem Kleiderfetisch eine Gleichsetzung mit dem Phallusersatz verhindert. Haptisches Begehren ruft alte Magie und Symbolik weiblicher Erotik wach. Haut und Hüllen zeigen sich faltenreich und verletzlich, doch niemals blutend, verbunden mit den Kleinoden ergibt sich eine »weibliche« Identitätsschau ins Intime, die auch in ihren Filmen aggressive »männliche« Ablehnung erzeugte. Dabei sind in der Performance »Her-Film« von 1979 in Breitenbrunn (Abb. 5), mit Diaüberblendungen des Objekts der weißen Kugel am Körper der Künstlerin, die Objekte subtile Zeichen für die ambivalenten Kräfte des Eros und die sichtbar gemachte Spaltung von Objekt und Subjekt. Kombiniert mit sinnlichen Bewegungen wurden Wünsche weniger offengelegt, als durch das strenge Konzept auf die schlummernden Affekte übertragen. Die Straßenaktion »I have been present« 1979 in Linz führte zu besonders aggressiven männlichen Kommentaren. Anders als die eben vorgestellten Aktionen von Vertreterinnen der IntAkt sind VALIE EXPORTs Aktionen »Aktionshose Genitalpanik« oder »Aus der Mappe der Hundigkeit« (mit Peter Weibel 1968) direkte Kampfansagen an die patriarchalisch strukturierte Gesellschaft. Auch die heute bekannten Vergleichsbeispiele aus den USA zeigten mit Yoko Onos Aktion »Cut Piece« und Carolee Schneemanns »Eye Body«, dass es verschiedene Grade der Angriffslust und Übermittlung der 83

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Abb. 6  : Linda Christanell, Her-Film, Performancefoto, Breitenbrunn 1979 Foto  : Helmut Kedro

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Abb. 7  : Anneke Barger, Performance Frauenleben, Bonn Frauenmuseum 1985 Foto  : Gert Heide

kulturpolitischen Bewegung des »kulturellen Feminismus« gab. Niki de Saint Phalles Schießaktionen und ihre große über die Vagina begehbare Frauenfigur 1966 in Stockholm zeigten eine Spaltung in emotionale und rationale Vorgangsweisen im Œuvre einer Künstlerin. Wobei hinzuzufügen ist, dass auch Spontaneität immer einen Grad an Denken beansprucht und selbst automatische Handlungen zu einem Bruchteil mit vom Gehirn gesteuert sind (Ruhs et al. 2009, 8). Die Haut und das Schreiben auf der Haut wäre eine eigene Geschichte von Zeichen des Körperdenkens. Ketty La Rocca hat das nach 1970 illustriert, es könnten aber auch Lisl Pongers Selbstbildnis 2006 mit eintätowierten Berufskategorien auf dem Arm der Künstlerin oder die traditionell beschriebenen Frauenhände der iranischen Künstlerin Shirin Neshat als Beispiele dienen. Im Gegensatz zu Brus, Nitsch und Muehl, die Frauen im »Wiener Aktionismus« in die Rolle des passiven Modells und Körpermaterials drängten sowie mit zornigen und sadomasochistischen Attitüden die Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit sichtbar machen wollten, lassen sich bei Rita Furrer die zukunftsträchtigen Felder Kunst und Ökologie öffnen, bei Anneke Barger wird 85

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die Öffnung in die Weltkunst in tänzerischer Zusammenarbeit mit japanischen No-Tänzern sichtbar und zuletzt steht ihre Aktion »Frauenleben« (1985, Frauenmuseum Bonn, Abb. 7) im Zusammenhang mit der Glücksverheißung einer seit dem Surrealismus gefeierten Regression in eine Art Urzustand wiedererweckter Prähistorie, der die Gegenwartskunst bis heute beschäftigt. Körper/Denken führt zu einem vielschichtigen Zeichensystem sprechender Köper (nicht passiven Materials), damit ist die Frau von der Jahrhunderte dauernden Zuschreibung des Dingcharakters in der Kunst befreit wie die Liebe und Erotik in den 1970er Jahren ihre »sexuelle Befreiung« feierte. Das Bild, die Aktion, der Film als Schauplätze der Körperbefreiungsdiskurse haben sich in dieser allgemein als zweite Phase des »Wiener Aktionismus« beschriebenen Zeit von 1967 – 1990 vom surrealistisch-existenzialistischen Vorbild gelöst und in die rationale wissenschaftliche Analyse begeben. Jenseits der Selbstauflösung eines bislang verdrängten weiblichen Körpers folgten die heute aktuelle Auflösung der Geschlechterrollen und die Krise des Subjekts bzw. dessen in vielfache Spaltungen.

Anmerkungen 1 Und damit sind noch lange nicht alle Beiträge genannt, so fehlen Christa Biedermann, Mara Mattuschka und Ingrid Opitz sowie viele andere in den Sammelpublikationen des Museums Moderner Kunst (mumok) genannte Künstlerinnen, ebenfalls die in internationalen Ausstellungskatalogen präsentierten Frauen. Carola Dertnig und Stefanie Seibold haben mit der Ausstellung »Mothers of Invention« im mumok 2003/04 und mit der Ausstellung und Publikation »Let’s twist again« (Gumpoldskirchen/Wien 2006) auf die Zusammenhänge von erster und zweiter Generation hingewiesen. Das Argument, die Künstlerinnen wären immer nur mit dem späten (seit Mitte der 1970er Jahre gebräuchlichen) Begriff Performance und nicht der Aktion verbunden, da nur mit dem eigenen Körper beschäftigt, ist nicht zutreffend. Die zeitlichen Überschneidungen bei EXPORT und Kogelnik stehen auch gegen zeitliche Argumente einer Trennung, wenngleich die Aktionen der Künstlerinnen meist aus den ’70er und ‹80er Jahren datieren. 2 Eva Badura-Triska ist Kuratorin des Museums moderner Kunst (mumok) in Wien und hat mehrere Publikationen zum Thema Aktionismus herausgegeben, beginnend mit dem Werkkatalog zu Rudolf Schwarzkogler 1992. 3 Johanna Schwanberg ist seit 2013 Direktorin des Wiener Dom- und Diözesanmuseums und Expertin für das Werk von Günter Brus, über das sie zahlreiche Kataloge und Texte publiziert hat. 4 Bis auf Rudolf Schwarzkogler, den die Isolierung in Wien allerdings in den Selbsttod trieb. 5 Vgl. diesen Text zur politischen Aktion »Begräbnis der Arena« 1976 für Zeitschriften, Plakate und Heuermanns Ausstellung in den später abgerissenen Gebäuden der Arena. 6 Siehe Ausstellungskatalog Künstlerinnen. Positionen von 1945 bis heute  ; Silvie Aigner (2003) beschreibt in »Eigensinn und Gruppengeist« sämtliche politischen Maßnahmen der bildenden

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Häute – Hüllen – Handlungen

Künstlerinnen in Wien, grundgelegt auch durch eine enge Zusammenarbeit der IntAkt mit der Frauenstaatssekretärin und späteren ersten österreichischen Frauenministerin Johanna Dohnal. Renate Krätschmer und Jörg Schwarzenberger (Gruppe K.U.SCH.) illustrierten den flugtüchtigen Besen durch einen fotografierten Luftsprung mit Besen.   7 Die strukturalistische Methode bietet ein in die Breite angelegtes unhierarchisches Modell.   8 »Die Verehrung des zumeinst männlichen Einzelgenies, das sich mit Ellbogentechnik seinen Platz an der Sonne schafft, sollte einer solidarischen Kunst weichen, einer Kunst mit unterschiedlichen aber gleichberechtigten Facetten, die nebeneinander existieren und die Bewunderung einzelner Heroen ablösen.« (Zinggl 2003, 124).   9 Mündliche Auskunft von Renate Bertlmann. Leider hat aus Kostengründen keine Dokumentation dieser Diskurse gemacht werden können. Gespräch mit Renate Bertlmann, Februar 2015 10 Aus dem Nachlass der Schriften von Rita Furrer, liegt bei Meina Schellander. Vorraussichtlich werden nach den Werken auch die Schriften der Künstlerin in den Besitz des Musa. Museum Stadtgalerie Artothek der Stadt Wien übergehen. 11 Ebd. 12 Erst Kohmenis Gottesstaatsgründung im Iran zog die Gesamtkörperverschleierung oder das Kopftuchgebot nach sich – der gemäßigte Islam der 1970er und 1980er Jahre suggerierte in Europa nicht die Notwendigkeit, darüber nachzudenken.

Literatur Silvie Aigner (2003), Eigen-Sinn und Gruppengeist. Das Jahrzehnt der Frauen von 1975 bis 1985, in  : Silvie Aigner, Brigitte Borchhardt-Birbaumer (Hg.), Künstlerinnen-Positionen 1945 bis heute. Mimosen – Rosen – Herbstzeitlosen, hg.v. Freunde der Kunstmeile Krems, 104–114 Silvie Aigner, Johannes Karel (2010), raum_körper einsatz. Positionen der Skulptur, Ausstellungskatalog Musa Wien. Nürnberg Silvie Aigner, Brigitte Borchhardt-Birbaumer (2003a), Künstlerinnen. Positionen 1945 bis heute. Mimosen – Rosen – Herbstzeitlosen, hg. v. Freunde der Kunstmeile Krems. Krems Autorinnengruppe Uni Wien (1981), Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis bei Männern und Frauen. Wien/Köln/Graz Georges Bataille (1963), Der heilige Eros. Aus dem Franz. von Max Hölzer. Darmstadt Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Lore Heuermann (2004), Moving the Planet. Klagenfurt/Wien Christina von Braun (1990), Nichtich, Logik, Lüge, Libido. Frankfurt a. Main Judith Butler (1991), Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikan. von Kathrina Menke. Frankfurt a. Main Carola Dertnig, Stefanie Seibold (Hg.) (2006), Let’s twist again. Performance in Wien von 1960 bis heute. Wien Silvia Eiblmayr (Hg.) (1985), Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen. Texte und Dokumente, Wien VALIE EXPORT (1975), Magna. Feminismus: Kunst und Kreativität. Ein Überblick über die weibliche Sensibilität, Imagination, Projektion und Problematik, suggeriert durch ein Tableau von Bildern, Objekten, Fotos, Vorträgen, Diskussionen, Lesungen, Filmen, Videobändern und Aktionen, zusammengestellt von Valie Export, Galerie nächst St.Stephan  : Wien

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Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Sonja Distler (1989), Mütter, Amazonen und dreifaltige Göttinnen. Eine psychologische Analyse des feministischen Matriarchatsmythos. Wien Michi Ebner (2010), Genie. Kunst & Identität. Lebensentwürfe bildender Künstlerinnen. Frankfurt a. Main Friederike Hassauer (1980), Der verRückte Diskurs der Sprachlosen, und  : Gibt es eine weibliche Ästhetik, in  : dies., Peter Roos (Hg.), Notizbuch 2, Berlin, 48–65 Luce Irigaray (1979), Das Geschlecht, das nicht eins ist. Aus dem Franz. von Eva Meyer, Heidi Paris. Berlin Andreas Kraß (Hg.) (2003), Queer Denken. Frankfurt a. Main Julia Kristeva (1982), Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York Gerda Lerner (1997 [1986]), Die Erfindung des Patriarchats. München Kurt Lüthi (1984), Symbole weiblicher Identitätsfindung, in  : Kunst und Kirche 3/1984, 172–176 Karin Mack (2011), Freischwimmen. Zur Geschichte der IntAkt. Mit einem Vorwort von Edith Almhofer. Gumpoldskirchen/Wien August Ruhs (2009), Editorial zu  : Spontaneität. Unerwartet. ungeplant. unbeherrschbar, in  : texte 29/2009, H. 2, 7–8 Gabriele Schor, Abigail Solomon-Godeau (2009), Birgit Jürgenssen. Ostfildern Mathilde Vearting (1973), Frauenstaat – Männerstaat. Berlin Hans Peter Wipplinger, Jürgen Klauke (2006), Hoffungsträger. Aspekte des desaströsen Ich. Nürnberg Wolfgang Zinggl (2003), Gleiche Kojen für alle, in  : Silvie Aigner, Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Künstlerinnen. Positionen 1945 bis heute. Mimosen – Rosen – Herbstzeitlosen, hg. v. Freunde der Kunstmeile Krems, Krems, 124–125

Bildnachweis Abb. 1  : Margot Pilz (1979), Hommage à Kremser Schmidt. Aktionsfoto mit IntAkt, Schwarz-WeißFotografien, Wien © Margot Pilz / MUSA Museum Stadtgalerie Artothek Abb. 2  : Linda Christanell (1975), Vaginaflieger, eigentlich androgyne Flugwesen, Zeichnung © Courtesey by the Artist Abb. 3  : Renate Bertlmann (1978), Schwangere Braut im Rollstuhl, Performancefoto, Schwarz-WeißFotografie, Wien © Courtesey by the Artist Abb. 4–5  : Rita Furrer (1981) 2 Varianten im Querformat für eine Seite, Aschermittwochsaktion auf der Kärntnerstraße, Schwarz-Weiß-Fotografien, Fotos: Lotte Hendrich-Hassmann, Wien 1981 © MUSA Museum Stadtgalerie Artothek Abb. 6  : Linda Christanell (1979), Her-Film, Performancefoto, Schwarz-Weiß-Fotografie, Breitenbrunn, Foto  : Helmut Kredo © Courtesey by the Artist Abb. 7  : Anneke Barger (1985), Performance Frauenleben, Schwarz-Weiß-Fotografie, Bonn Frauenmuseum, Foto  : Gert Heide © Courtesey by the Artist

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Stimme und Begehren »All control over the tone is lost once the vocal cords become vibratile« (Reid 1982 [1975], 1). Im Folgenden soll überlegt werden, wie ein Verlust der willentlichen und auch bewussten Kontrolle im Singgeschehen, das bekannte »Es singt«, zu verstehen ist. Die Frage nach der Psychodynamik einer Stimmentwicklung verbindet sich mit der Annahme einer Containerfunktion des Hörens, welches die Klangfindung und die Entwicklung einer musikalischen Aussage mitbestimmt. Kann die Triebtheorie Freuds, die Annahme psychodynamischer Prozesse, die den Körper spannungsbedingt auf ein Triebziel zustreben lassen, Licht in das kaum hinterfragte singende Es bringen  ? Handelt es sich um ein klingendes Begehren  ? Liest man aus diesem Es eine Automatisierung der Stimmbewegungen, einen Verzicht auf gewisse Hilfsspannungen, ein Vertrauen auf Un- und Vorbewusstes (auf ein Es entsprechend der Strukturtheorie Freuds) und damit auf reflexbestimmte Steuerungsketten, so bleibt dennoch zu fragen, von welcher Dynamik diese Stimmgebung jenseits aller Willkür getragen wird. Eine professionelle Stimmentwicklung wird hier gesehen als gesamtpersönliche Entwicklung und diese Sicht bestimmt die Notwendigkeit, stimmpädagogische Prozesse unter dem Aspekt einer spezifisch sängerischen Psychodynamik zu verstehen und dabei die Bedeutung unbewusster Momente in Prozessen der Klangsuche zu hinterfragen.

Singen als »triebhafte Rede«  ? Bei humorvoller Betrachtung des Reiches der Triebe (exemplarisch wird hier im Sinne Freuds an das Gegenüber von aggressiven und libidinösen Trieben gedacht), könnte man den Eindruck bestätigt finden, dass es eine Gruppe von Sängerinnen und Sängern gibt, die unbehelligt und um keine Sublimierung bemüht »Frisch zum Kampfe« (Mozart, Entführung) transportiert und eine andere, die unabhängig von der jeweiligen musikalischen Vorlage ein »Porgi amor« (Mozart, Figaro) zum Besten gibt. Wenn Kompromissbildungen zwischen libidinösen und aggressiven Regungen gewünscht werden, so böte sich das Genre Lied, bei einer Verkleidung triebhafter Tendenzen das breite Repertoire des »Geistlichen« (Oratorium, Passion und Messe) an. In der professionellen Stimmgebung findet sich 89

Ursula Hofrichter

offensichtlich kein Ich, das irgendwie die Verantwortung übernehmen würde – offensichtlich ereignet sich im Singen keine Sublimierung (eines klingenden Begehrens) wie sie vordergründig in vielen künstlerischen Gestaltungsprozessen vermutet wurde, ein Moment des Verlangens nach einem Gehört-Werden (oder auch nach einem Erhört-Werden  ?) bleibt bestimmend für das Geschehen. Tatsächlich »spricht« Affektives und damit Freudiges, Ängstliches und Sehnsüchtiges bevorzugt (und auch vorbewusst) klanglich. Wenn eine Entwicklung des Singens aus dem Rufen angedacht wird, so entsteht diese Bewegung aus der Erfahrung des Abwesenden, Fehlenden und auch aus dem Versuch, diese Abwesenheit zu überwinden und ein klingendes Objekt zu erschaffen, das dem Fehlenden vermutlich in elementaren Strukturen gleicht (vgl. Hofrichter 2005). Sehr deutlich liest sich Julia Kristevas Einsicht zur Bedeutung des Stimmklangs im psychoanalytischen Setting wenn sie festhält, dass »das Begehren und die Determinanten des Symptoms, denen keine sprachliche Bedeutung gelingt, ihren Sinn in das präverbale Register (Stimme, Intonation) […] verlegt oder dort codiert zu haben scheinen« (Kristeva 1994, 50). Dieses präverbale »Es« bleibt nicht nur dem Verdrängten verbunden, sondern zeigt sich auch als Dirigent der Reflexe. Für eine Stimmbildung (hier im klassischen Sinn) entsteht damit die Herausforderung »to obtain volitional control over involuntary muscles« (Reid 1982 [1975], 15). Gemeint ist hier der große Anteil an reflektorischen Bewegungen, welche sich im Allgemeinen und zu unserer Sicherheit der willentlichen, bewussten Kontrolle entziehen, in einem Stimmtraining jedoch für ein neues Klangbild »domestiziert« werden müssen. Die Erkenntnis Freuds, dass das System des Unbewussten außer einer reflektorischen »keine zweckmäßige Muskelaktion« (Freud 1915, 287) zustande bringen kann, scheint in der Stimmpädagogik nicht zu gelten  : Ungemein zahlreich (und mitunter gefährlich) sind Eingriffe in die Funktionskreise der Atmung und der Nahrung (im Schlund »kreuzen« sich die Bewegungen des Schluckens, des Gähnens, des Hustens etc.) auf der Suche nach Lautgebärden, welche als Verbindungen von inneren und äußeren, tendenziell unbewussten und bewussten Bewegungen letztlich im professionellen Gesang hörbar gemacht werden sollen.

»Growing up vocally …« »By viewing ›voice‹ as an extension of the person, it becomes apparent that growing up vocally can be just as trying an experience as growing up physically and emotionally« (Reid 1982 [1975], 13). 90

Stimme und Begehren

Welche Entwicklungsprozesse werden also als »Lernschritte« getarnt in einer professionellen Stimm-Bildung angestrebt  ? An zentraler Stelle steht eine Absenkung der Kehle, welche eine Anhebung des Gaumens und damit eine Vergrößerung des Gaumen-Rachenraumes bewirkt. Diese Bewegung erinnert an das Saugen, ein durch Unterdruck gesteuerter Prozess der Selbsterhaltung, der Introjektion, der Aufnahme. Wird diese Kehlabsenkung bei einsetzendem Strom der Ausatmung aufrechterhalten, klingt durch Lippenrundung ein »U« als dunkelster Vokal und mit ein wenig weiterer Lippenöffnung ein geschlossenes »O« – beide Klangelemente sind durch die Energie der tiefen Formanten (Obertonbereiche) verantwortlich für die Tragfähigkeit des Klanges. Ist mit einigem Glück eine stabile Kehlabsenkung erreicht, kann eine Kombination mit weitaus »aggressiveren« Bewegungstendenzen versucht werden. So entsteht durch eine Spannungsbewegung des Zungenrandes, der hellste Vokal »I« als Träger der Brillanz, der Nähe, der Präsenz. In einem ungebremsten »I« liegt jedoch ebenso ein Ausdruck des Ekels, der Abscheu auch des Schreckens. Spannungsvokale (»E«, »I«, »Ö«, »Ü«), welche ohne die klangsichernde Absenkung von Kehle und Zungengrund erzeugt werden, tragen in sich eine grelle verbissene Abwehr – das Schließen des Mundes kann dabei als erforderlicher Selbstschutz, mehr noch als Moment der schrillen Zurückweisung gelten. Zu bedenken ist, dass eine »stille« Zungenrandspannung eine Bewegung der Mundwinkel nach oben zeitigt, welche als Lächeln ganze Kommunikationsketten ersetzen kann. Im anderen Fall kündigt ein Absenken der Mundwinkel Verachtung, ein Zucken ein baldiges Weinen an  : Beide Bewegungen sind entwicklungsgeschichtlich älter und siegen zumeist über andere Lautgebärden. In der Mundöffnung, die als drittes Bewegungsmoment traditionell dem Vokal »A« zugeordnet wird, können andere Gefühlslagen vermutet werden  : Aggression im Sinne eines Herangehens, eines Gestaltungswillens, aber auch die Bereitschaft, sich zu öffnen, jemanden zu verschlingen oder sich zu langweilen (Gähnen). In Kombination mit der Kehlabsenkung und der Rachenweitung – bezogen auf die Atemluft also in der Unterdruckfunktion – zeitigt die aktive Mundöffnung die Klänge der Extreme  : sehr hoch, sehr tief, sehr laut. Im Gegensatz zum bereits angedachten Rufen lebt in der überdruckgesteuerten Mundöffnung der Schrei, der in seiner Entstehung hinterfragt werden kann, der letztlich aber auch als Wunsch nach Vergrößerung des Ich gesehen werden muss. Auch der domestizierte Schrei, der formantenbestimmte professionelle Klang lässt mich als Singende weit klingen. Dort, wo ich klingend ende, kann ich nicht sein – wie geht es mir mit dieser Entgrenzung  ?1 91

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Wenn nun eine (vordergründige) Zuordnung der klangerzeugenden Bewegungen2 versucht wird, so zeigt sich eine durchaus männlich assoziierte Eroberungs-, Durchdringungs- resp. Durchschlagskraft eines Stimmstrahls, die sich jedoch mit einer tendenziell weiblich konnotierten Bereitschaft zur Aufnahme, zur Einatmung, zur Kehlabsenkung zu arrangieren hat  : eine zweifache Öffnung, nach innen und nach außen, welche dadurch erreicht wird, dass die Kehle als Hüterin der Schwelle zur Innenwelt aus ihrer Grenzposition entlassen wurde. Ein singendes Es bedeutet so gesehen nicht nur eine temporäre Öffnung der Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt, eine Destabilisierung des intelligenten Ich und eine »Umerziehung« von Reflexen, diese spezifische Körperhaltung bewirkt eine stabile und in weiterer Folge vermutlich erregende Verbindung von Rachenraum und Beckenboden. Diese (tendenziell) schizoide Körperlichkeit im Singen wird letztlich getragen vom Wunsch nach einer durchaus körperlichen Vereinigung von Stimmklang und Gehör. Die hörende Aufnahme und die dadurch angestrebte Mitbewegung in ZuhörerInnen stellen offensichtlich das Ziel einer Stimmkunst dar  : ein Gehört-Werden, das die Befriedigung erlaubt, ein Klangobjekt, das hörend aufgeladen wurde, zu reintrojizieren – Arien als klangliche Nahrungsketten  ?

Androgynes Wird im professionellen Stimmklang durch die (oben) angesprochenen Entgrenzungen die Entstehung des Klanges, die Kehlgeburt, kaum mehr hörbar (sie würde Energieverlust bedeuten), so leben im Vorgang des Ächzens oder Stöhnens, in der Reduktion auf das Medium Luft geräuschhafte Elemente, die den Stimmklang ungewollt begleiten oder sogar zerbrechen können. Sie zeigen deutlich das Risiko und den Gewinn dieser klanggeschuldeten Offenheit im Singen  : Altes, Verdrängtes, Schmerzhaftes kann hörbar und spürbar werden, auch innere unbewusste Bewegungen können sich mit dem Klang verbinden und so vermutlich das Wesentliche bewirken  : die Berührung der Zuhörenden. Dominiert ein Wollen, ein Bemühen den Prozess der Phonation, so zeitigt die Tendenz zum Überdruck (Forcieren) eine Dysbalance der Diaphragmenketten (Gaumen, Mundboden, Zwerchfell bis Beckenboden) und damit eine Verspannung der Kehlkopfmuskulatur. »Interessanterweise legen Verspannungen auch einen Schatten auf den Stimmklang  : die Sängerformanten sind unterdrückt, die Vokalisation unklar, dafür die Konsonantenartikulation übertrieben«, erkennt Gisela Rohmert (1994, 144). In Anlehnung an C. G. Jungs Archetypen Ani92

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mus und Anima bestimmt Rohmert ein Gegenüber von Bruststimme und Kopfstimme, deren Gegensatzspannung sich zur Funktion entfalten kann. In dieser Sicht muss in der Stimmpädagogik die gegengeschlechtliche Stimmlage, d. h. das Brustregister bei Sängerinnen und das Kopfregister bei Sängern stimuliert und schließlich befreit werden. Eine Integration der Register lässt die menschliche Stimme schließlich als ein biologisches (besser  : psychophysisches  ?) Areal erscheinen, »in dem sich unsere zutiefst androgyne Veranlagung zeigt  : männlicher und weiblicher Charakter zugleich« (Rohmert 1994, 145).3 Überraschend an dieser Sichtweise ist weniger die Annäherung von Kopf- und Brustregister, so die als funktionale Verbindung von Rand- und Vollschwingung der Stimmlippen als die Bestimmung ihrer Gegengeschlechtlichkeit. Der Stimmklang entzieht sich hartnäckig und über viele Reflexionen hinweg einer Zuordnung  : Er ist präsymbolisch, vermag dennoch zu verweisen, ist Bewegung und Botschaft und beansprucht so, Energie und Information zu sein und vermutlich einen hörbaren Austausch bewusster und unbewusster Wesensanteile zu präsentieren. In ihm verbinden sich aktive und passive Elemente, Gestaltungswille und Aufnahme, Wollen und Lassen, letztlich auch Tun und Sein. »Das Studium des reinen, ursprünglich weiblichen Anteils führt uns zum Sein, das die einzige Grundlage für Selbstentdeckung und für das Gefühl der eigenen Existenz darstellt (und darüber hinaus für die Fähigkeit ein Inneres zu entwickeln, etwas aufzunehmen, die Mechanismen von Projektion und Introjektion einzusetzen. […] Erregend heißt aber, den männlichen Anteil von Menschen zum Handeln zu veranlassen« (Winnicott 2002 [1971], 97).

Überträgt man dieses Modell der Persönlichkeitsentwicklung (ohne geschlechtsbezogene Typisierungen) auf musikalische Entwicklungen, so versteht sich eine Klangarbeit als Verbindung (Verflechtung) von Erregung und Öffnung, von Selbst- und Objektbezogenheit, von Projektion und (hörender) Introjektion. Als herausforderndes Moment präsentiert sich allerdings hier weniger das Auffinden eines Erregenden, das Erlernen einer Aktion, als die Entwicklung einer spezifischen Seinsform, einer psychophysischen Haltung, die den Stimmklang erst als Beziehungsmoment möglich macht. Sehr deutlich und ohne geschlechtliche Zuschreibungen erkennt Cornelius Reid die eigentliche Schwierigkeit einer Stimmpädagogik  : »In short, it is easier for the student to identify kinetically with a constricting movement than which one which opens the throat.« (Reid 1982 [1975], 82) 93

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Klang/Körper Roland Barthes bestimmt einen Berührungsraum zwischen Stimme und Sprache, eine »Rauheit« der Stimme  : »Etwas ist da, unüberhörbar und eigensinnig (man hört nur es), was jenseits (oder diesseits) der Bedeutung der Wörter liegt, ihrer Form […]  : etwas was direkt der Körper des Sängers ist.« Beim Anhören eines »russischen Kirchenbasses«, der hohe signifikante Rauheit, also wollüstiges Spiel der Artikulation bietet, ist da, »als werfe man uns ein Paket vor die Füße, der Vater, seine phallische Statur« (Barthes 1990, 271). Eine »Einschreibung« des Körpers in die Stimme zeitigt eine bedeutungsund berührungstragende Differenz  : Eine Opernstimme, die – wie Barthes anmerkt – geringe Rauheit aufweist, da sie gänzlich zur dramatischen Ausdruckswirkung gewechselt ist, bewegt in anderer Weise als eine Stimme, die deklamiert und auch anders als eine Stimme in der Rockmusik, im Chanson, im Jazz. In den letztgenannten Bereichen entsteht oft der Eindruck einer direkt spürbaren Körperlichkeit, der Klang transportiert eine körperliche Beziehungserfahrung. Im Operngesang, entfernt von der (hörbaren) Kehlgeburt, entsteht ein Eros eben durch eine gewisse »Verschweigung des Körpers«. (Diese »Verschweigung« könnte auch als Auflösung, als eine »Ver-Klanglichung«, empfunden werden, welche paradoxerweise wiederum die unglaubliche Vergrößerung des singenden Körpers bewirkt.) Im Grunde verbinden sich hier hörend und mitbewegend unterschiedliche Prozesse der Identifikation und der Projektion und, da die klangliche Kommunikation in der menschlichen Entwicklung eine sehr frühe ist, auch Prozesse der projektiven Identifikation (vgl. Klein 1985 [1929]). Wird in der Stimme einer Janis Joplin eine Wildheit und eine Gebrochenheit körperlich spürbar, die Projektionen erlaubt, aber in ihrer Unmittelbarkeit keiner Interpretation bedarf, so entsteht beim Anhören der extrem tiefen Stimme einer Zarah Leander der Eindruck, dass ein Unterleib singt  : Ein klingendes kaum verhülltes Begehren und auch ein Versprechen wird hörbar – vielleicht ein Grund, warum dieser Klang auch obszön genannt wurde. Belegt ist die hohe Attraktivität der Leander bei einem homosexuellen Publikum  : »Für viele war sie Vater und Mutter zugleich, sie war auch die Ersatzdroge für nicht ausgelebte Gefühle«, eine »Mischung aus Übermutter und Vamp« (Rosenberg 2009, 204). Also darf gesungen werden, was nicht gesagt werden darf oder kann  ? Und darf in der Projektion mitbewegt werden, was stimmlich und sprachlich unter Verschluss gehalten werden muss: der Stimmklang als ein Ausstoßen der »gestauten narzisstischen und autoerotischen Libido« eines sexuell erregten Organismus, der 94

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die Stufe der Objektsexualität noch nicht erreicht hat. Gesang kann – durchaus gewagt – gesehen werden als Versuch, die Libido in einer Form abzuführen, die der Genitalität vorangeht (Pfeifer 2002 [1923], 59). Kann Singen und GehörtWerden, die körperliche Verbindung von Stimmstrahl und Gehör als »Frühform« der sexuellen Vereinigung gelten  ? Liegt hier der Grund für die Faszination, die dem hohen Piano eigen ist  : eine hörbare Berührung  ? Weit entfernt von der Sprechstimmlage und durch Verzicht auf Abwehr (Lautstärke) verbinden sich erotische und/oder autoerotische Bewegungen, singend und hörend. »Wenn du einer Oper lauschst, hörst du dann deine unzulässigsten Wünsche reden  ?« (Koestenbaum 1996, 326)

Seitenblick  : Hosenrollen Mehr als in anderen Lebens- und Arbeitslagen stecken SängerInnen in sogenannten »Fächern«, welche nicht nur spielerisch, sondern auch durchaus dramatisch zu denken sind (z. B. »seriöser Bass«, »lyrischer Sopran« …). Es kann hier die Einsicht Judith Butlers gelten, dass Geschlechtliches nicht nur in sozialer sondern auch in körperlicher Hinsicht geschaffen wird (»doing gender«, vgl. Bergmann/Schössler/Schreck 2012). So ersingt die Sängerin, der Sänger sich in der Oper die eigenen Grenzen, kriecht in ein Fach, beginnt, sich mit der Etikette (»dramatisch«, »lyrisch« etc.) zu identifizieren und bestimmt sich schließlich über Ausschließendes wie »Ich bin keine Pamina« oder im anderen Fall »Der wird kein Sarastro« (Mozart, Zauberflöte). Diese Typisierungen greifen weiter als von Rebecca Grotjahn angenommen (vgl. Grotjahn/Vogt 2011). Sogenannte Fächer verweisen nicht nur auf den Umfang einer Stimme5, sie verweisen auch auf das Alter (vgl. »Charakterfach«) und meißeln Stimmwesen, Kategorien von verbindlichen Identifikationsmustern. Eine Stimme kann als mögliche Projektionsfläche ästhetischer und erotischer Begehrlichkeiten gesehen werden, bei der Beurteilung einer stimmlichen Qualität muss bedacht werden, dass gerade im Klanglichen Wahrnehmung und Projektion kaum zu trennen sind (vgl. Bion 1992 [1963]). Erfreulicherweise werden und wurden solche geschlechtstypischen Zuordnungen durchbrochen, es existieren »Zwischenwesen« oder auch »Doppelwesen« in Form der sogenannten Hosenrollen. »Die Hosenrollen gestalten in der Regel ein leichtes lesbenerotisches Begehren und sind grundsätzlich ›good girls‹. Zarah Leander hingegen wird durch ihre Position als die ehemalige Nazidiva in der Unterhaltungskultur des dritten Reiches für immer ein ›bad girl‹ bleiben« – 95

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so Tina Rosenberg zu Stimmen der Queer-Diven (Rosenberg 2009, 190). Zeigt Zarah Leander eine Stimmlage und eine sängerische Haltung, die deutlich dem traditionell Männlichen nahe kommt, das Weibliche aber verschweigend erhöht, so evozieren Hosenrollen wie Cherubino (Mozart, Le nozze di Figaro) oder Octavian (Strauss, Der Rosenkavalier) eine tatsächliche »Dissonanz zwischen Geschlecht und Gender«, zwischen Präsentation und Repräsentation – eine Art »Stimmen-Transvestismus« (Rosenberg 2009, 193). Elizabeth Wood schließlich bezeichnet die Stimmen der Hosenrollen (in der Regel Mezzosoprane) als »sapphonisch« und sieht darin Klangspuren lesbischen Begehrens. Der Klang einer sapphonischen Stimme ist tief und verführerisch  : »Er stellt kulturell konstruierte Grenzziehungen zwischen verschiedenen Typen (Sopran/Mezzo/Tenor/ Alt) in Bezug auf deren Polarisierung in Frage« (Rosenberg 2009, 193f ). Die spezifische Anziehungskraft von Hosenrollen entsteht durch ihre Fähigkeit, »eine temporäre Vision der beweglichen und flexiblen Gender-Positionen anzubieten, die nicht von der heterosexuellen Norm geregelt werden« (Rosenberg 2009, 195). Die Attraktivität dieser Vision ist nachvollziehbar  : Die Faszination, welche weniger von den Hosenrollen als von den Sängerinnen derselben ausgeht, liegt sicher wie bereits oben überlegt in einer Projektionsfläche einer (geschlechtlich) ungespaltenen Sehnsucht aber auch in der Spannung zwischen personalem Körper und lautlicher Gestik. Die Gestaltung einer Hosenrolle wiederum könnte in Anlehnung an Udo Rauchfleisch als Prototyp bisexueller Erfüllung4 gelten  : »Die Kreativität bietet dem Künstler die Möglichkeit, die bei ihm besonders stark ausgeprägte Bisexualität in Gestalt einer Identifikation mit beiden Geschlechtern zu bewältigen« (Rauchfleisch 1990, 1122). Es ist im vorliegenden Rahmen nicht möglich, diese Verallgemeinerung zu hinterfragen, interessant ist lediglich, dass in den ungefähr zeitgleich erschienenen Publikationen von Rauchfleisch und Rohmert eine künstlerische resp. sängerische Androgynität angedacht wird.

Seitenblick  : Kastration Die operativen Eingriffe im Italien vergangener Jahrhunderte, welche an Knaben deutlich oder knapp vor Beginn der Pubertät durchgeführt wurden, scheinen einen ökonomischen Grund gehabt zu haben, die Hoffnung auf eine Karriere als Sänger erfüllte sich nur für wenige von (vermutlich) Tausenden von operierten Kindern (Herr 2013). Welche bewussten und/oder unbewussten Annahmen über die Fähigkeiten der Stimme entschieden über diesen Eingriff, der die geschlecht96

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liche Fortpflanzungsfähigkeit für immer zerstörte  ? Sollte der Stimme ein vages Entwicklungspotenzial zugestanden worden sein, das einer Zeugungsfähigkeit gleichkommt  ? Wurde vermutet, dass im Falle der Kastration genitale Triebenergie zur Stimmleistung verschoben wird  ? Eine genitale Energie, die kindlich zu klingen vermag  ? Ein Kehlkopf, der in seinem gehemmten Wachstum zu kolorierten Glanzleistungen, aber nie mehr zu Dunkelheit und Tiefe fähig ist, soll Sexuelles besser transportieren als ein erwachsener Tenor oder Bass  ? In der Oper des 17. Jahrhunderts entstand die seltsame Situation, dass »sexuell aktive Charaktere nur von Kastraten gespielt werden [durften], während die Rollen, die sich vom kulturellen Selbstverständnis her gerade nicht für sexuelle Begegnungen eignen, von unverstümmelten Männern gesungen wurden« (­ McClary 2002, 212). Der Stimmklang des Kastraten hatte, so scheint es, sehr wohl die Fähigkeit, (dank seiner penetranten Fragilität) zur Erregung der Zuhörerinnen beizutragen. Zum einen wurde die sexuelle Besetzung der Stimme (»Stimm-Fetisch«, vgl. McClary 2002) sicherlich vom Sänger selbst und von den Zuhörenden (wie weit bewusst  ?) gewollt. Zum anderen kann hier eine Regression auf eine frühere Fixierung der Libido vermutet werden  : Ein »montiertes inneres Objekt« (Reiche 2000, 110), das unter den Phantasien einer (bisexuellen) Omnipotenz eine Libidinisierung und in der Folge eine Externalisierung erfährt, konstituiert so gesehen die Perversion. »Libidinisiert wird die Angst vor drohender Vernichtung und Desillusionierung«, vor einer »Entleerung des Selbst«, sowie vor der »Wahrnehmung der Kastration« (Reiche 2000, 111). Im Falle der stimmlichen Überlebensstrategie von Kastraten kann der Stimmklang durchaus jenes externalisierte sexuell besetzte Objekt sein, das die tatsächliche Zeugungsunfähigkeit, d. h. die Wahrnehmung der gebrochenen männlichen Identität, vergessen macht. Viele der ausgebildeten Kastraten nahmen als Ausdruck bleibender Verehrung und Dankbarkeit den Namen ihres Lehrers an, versahen diesen aber mit einer Endung, die eine Kleinheit ausdrückte  : »Caffarelli« bedeutet so viel wie »kleiner Caffaro«. Diese Diminution kann frei als »Sohn des Caffaro« übersetzt werden oder als eine Reduktion auf die Zeugungsfunktion des verehrten Meisters gelesen werden  : In der (tatsächlichen) Übertragung war der Meister im Stimmklang seines Schülers allgegenwärtig und damit avancierte der Kindsänger zum Kunstwerk, das als Selbstobjekt, als »Kind« seines Schöpfers ein angenommenes narzisstisches Gleichgewicht bewirkte (vgl. Rauchfleisch 1990, 1122).

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Adoleszentes Die weiter oben beschriebene sängerische Körperhaltung zeigt sich nicht nur als eine offene im Sinne einer Entgrenzung, sondern auch im Sinne der Erwartung  : Spannungshaltung und Befriedigung werden körperlich tendenziell im Zustand der Balance gehalten. Herausfordernde Gegnerinnen dieses Gleichgewichts sind Ängste, die durch den bedrohlichen Grenz- und auch Objektverlust entstehen können. »To feel free movement within a muscular system which over the years has to some extent been bound arouses the very fears, real or imagined, from which all of us spend so much time and energy trying to hide  : fear of being exposed and vulnerable, fear of the unknown, fear of losing controll, fear of the sensual pleasure aroused as a consequence of organic expansion, and, sometimes, fear of succeeding« (Reid 1982 [1975], 14).

Diesen Ängsten, allen voran vermutlich die Angst vor Kontrollverlust, setzt Cornelius Reid als Gegenkraft den (bereits angedachten) aggressiven Akt des Singens entgegen  : Unter dem Aspekt oral- und analsadistischer Tendenzen, der Einverleibung, des Verschlingens und Zerstörung eines Objektes (vor Augen steht der weit offene Mund), aber auch unter dem Aspekt der Kontrolle über Besitz, des Bewahrens, der Macht, wäre ein Verständnis von Aggression möglich. Ein anderes Verständnis ergibt sich aus der Aggression im Sinne eines spezifischen Herangehens, einer Bewegung hin zu einem Objekt. (Diese Objekte, das zu bewahrende und das zu erobernde müssen nicht – wie Freud bereits ausführt – zusammenfallen.) Betont die funktionale Seite allgemein die Aussichtslosigkeit des intellektuellen Eingriffs in die Klangbefreiung (vgl. Rohmert 1987), so erkennt Reid die Unmöglichkeit, willentlich ein aggressives Geschehen zu evozieren  : »Even when forcing themselves as an act of will to be more aggressive, those [anxious singers] find it difficult to relinquish the safe hold they maintain on their throats und feelings« (Reid 1982 [1975], 12). Die Entwicklung des Singstimme widersetzt sich ganz offensichtlich den Bestrebungen des Willens und der Einsicht, diese von Ambivalenzen und von Ängsten getragene Entwicklung wird von Reid als eine adoleszente erkannt, sie ist bestimmt durch »absence of self identification« (Reid 1982 [1975], 13). Die Suche nach einer professionellen Stimmidentität besteht in einer wiederholten Identifikation, Destabilisierung und Neuidentifikation von Klangbewegungen und deren Kombination. Von Bedeutung ist dabei die Fähigkeit zur Erinnerung 98

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an Klanggebärden sowie zur ästhetischen und affektiven Besetzung dieser Bewegungen im Hinblick auf die Erarbeitung einer stimmlichen Gestik. Die Bereitschaft zur möglichen Neubestimmung einer körperlich-geschlechtlichen Klangidentität erlaubt offensichtlich eine Regression, ein Zurückgehen auf adoleszente Entwicklungsstufen und eine erneute Begegnung von prägenitalen und genitalen Momenten. »Ähnlich den ›offenen Systemen‹, von denen die Biologie bei den Lebewesen spricht, die in der Interaktion mit einer anderen Identität ihre eigene erneuern, öffnet sich die adoleszente Struktur dem Verdrängten. Gleichzeitig setzt sie eine psychische Reorganisation des Individuums dank einer erheblichen Lockerung des Über-Ich in Gang. Darauf erfolgt das Erwachen der Prägenitalität, ebenso der Versuch, sie in die Genitalität zu integrieren« (Kristeva 1994, 154f ).

Auf der Suche nach einem neuen (klingenden  ?) Liebesobjekt und dessen Einbindung in ein Kang-Ich werden eine zuvor ödipal (vielleicht hinreichend) stabilisierte Identität und damit bestehende Identifikationen und auch affektive Besetzungen in Frage gestellt. Das Wagnis dieser zeitlebens offenen Strukturen, wie sie bei KünstlerInnen allgemein vermutet werden können, ist nur dann ein lebbares, wenn eine innere Haltung der Neugier dominiert, die Wilfried R. Bion in »Lernen durch Erfahrung« als ein Kennzeichen jeder positiven menschlichen Entwicklung und als Anzeichen inneren Wachstums formuliert  : das einer zunehmenden Toleranz gegenüber Unsicherheit (vgl. Bion 1990 [1962]).

Körper-Denken Wenn nun (seit Freud) die Entstehung des Denkens als ein Ergebnis der Triebentwicklung gesehen wird oder gesehen werden kann, so muss nicht nur gefragt werden nach der Mutation vom präverbalen Schrei zur Bitte, zum Klang, sondern auch nach dem Weg vom singulären Lautereignis zur Phrase und zur musikalischen Sinneinheit. Welches Moment verbindet Körperempfindung und Vorstellung zu einer Bewegung, die in spezifisch klingender Form zur Bedeutungsträgerin wird  ? Um mit Freud weiter zu fragen  : Welche Verbindungen mussten zwischen primärprozesshaftem Denken, welches sich in Assoziationsverbindungen bei beweglichen Besetzungsintensitäten vollzieht, und sekundärprozesshafter Vorstellungsbildung (als Denkidentität zwischen Innen und Außen) aktiviert oder auch reaktiviert werden  ? 99

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Es ist schwer feststellbar, was an einem Klang »denkbar«, vorstellbar ist, da er immer der Bewegung, der Schwingung, verpflichtet bleibt. Im Primärprozess der Freudschen Theorie bestimmen Zusammenhänge von Bildern, von visuellen wie auch von »Gehörbildern« und »Körperbildern« das Geschehen, logische Zusammenhänge wie sie Sekundärprozesse steuern, werden hier durch ein Nebeneinander oder ein dichtes Nacheinander der Assoziationen dargestellt (vgl. Feurer 2011, 22 nach Freud 1987 [1900]). Es herrschen hier Zeit- und Widerspruchslosigkeit, wichtig sind die Bewegungs- und Abfuhrfähigkeiten (Spannungsabfuhr) der Vorstellungen  : »Die Bedeutungen, die der Primärprozess produziert, lassen sich durch ein unaufhörliches Gleiten charakterisieren« (Laplanche/Pontalis 1972 [1967], 397). Bleibt ein Singen als »triebhafte Rede«, als »Klangrede« gemeinhin lebenslang der Erregungsabfuhr verpflichtet, da es sich weitgehend dem Primat der Logik und der Wortvorstellung – Kennzeichen des Sekundärprozesses – entzieht  ? In Rückbesinnung auf ein Movens der Sehnsucht, auf ein Besingen und »Ersingen« eines fehlenden Objekts, könnte jedoch in der klingenden Gestalt als Reproduktion eines Abwesenden eine musikalische Frühform des Sekundärprozesses erkannt werden  : Bedeutung, die der Bewegung verpflichtet bleibt. In seinem »Entwurf einer Psychologie« (1999 [1950]) betont Freud den besonderen Aspekt des Körperlichen im Denkprozess, er vermutet den Ursprung von Urteilen (und Erkennen) im primärprozesshaften Assoziationsvorgang zwischen Wahrnehmung und Körperbesetzung. Körperbesetzungen als Zusammenschau von erinnerten Körpererfahrungen, Empfindungen und Bewegungsbildern bilden in dieser Theorie die Grundlage des Urteilens. Ein »Urteilen« kann durchaus auch in einem Prozess der (musikalischen) Gestaltfindung wiedererkannt werden. Zur Veranschaulichung eine Interpretationskorrektur zwischen Mitgliedern eines Streichquartetts: »Nein, so geht die Struktur baden, das müssen wir da-di-da-daaaa-da spielen« (Vogel 2008, 239). Diese Anweisung – für alle Mitglieder des Quartetts vermutlich eindeutig – macht als ästhetische »Erkenntnis« ihren Ursprung im Primärprozesshaften glaubhaft, lässt sich doch die stimmliche Bewegung als Klangbild und damit als Summe der inneren Bewegungen »verstehen«. In Freuds Theorie des Denkens erfährt der frühe, dem Unbewussten verbundene, aber nicht auf das Unbewusste beschränkte Primärprozess (vgl. Freud 1999 [1950]) im Bereich der künstlerischen Produktion als schöpferisches, spontanes Moment wiederum eine erhöhte Bedeutung. Eine Verbindung von Primär- und Sekundärprozess, eine »Versöhnung« wird im künstlerischen Tun erreicht, indem beide »gleichsinnig« wirken (vgl. Feurer 2011, 29). Wesentlich dabei erscheint 100

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die Offenheit eines intelligenten Ich für frühe Erregungs- und Motilitätsmuster, welche vermutlich vorbewusst in der Klanggestaltung aktiv werden dürfen. Wenn die musikalische Vorstellung als entscheidende Verdichtungsleistung, als Antizipation der später hörbaren Gestalt gelten kann, so muss das »Denken« in Klängen dem Primärprozess, der körperlichen Bewegung (Erregung) – ebenfalls in einer angedachten Verdichtung – verbunden bleiben  : »Das Vorstellen und das Bewegen sind aber nur quantitativ verschieden« (Freud 1999 [1950], 458). ♀♂ Bei den ersten Wahrnehmungsobjekten – zu denen auch die ersten Laute zu zählen sind – handelt es sich nach Freud um Befriedigungsobjekte  : Wenn nun hypothetisch ein »Stimmtrieb« angenommen wird, so sucht dieser vermutlich seine Erfüllung nach dem »Umwerben« eines Triebobjektes in der Rückkehr und Wiederaufnahme durch das eigene Gehör. Ein Stimmtrieb müsste allerdings zu einem akustischer Partialtrieb (vgl. Ruhs 1999) geweitet werden, »denn in die Modalitäten des Hörens und des Gehörtwerdens, nach Lacan besser verfasst als Triebkomplex hören/sich hören machen treten sowohl der Stimmapparat als auch der Hörapparat in ihrer Heterophonie [sic  !] in Funktion« (Ruhs 1999, 80  ; Hervorhebung U. H.). Die Vermutung, dass SängerInnen im Singen etwas loswerden wollen oder können, kann getragen werden von einem psychohygienischen Aspekt, aber auch von der Annahme, dass ein Objekt existiert, das mit dem ausgeschiedenen Klang etwas »anfangen« kann. Es ist anzunehmen, dass es Objekte gibt, die rein Klangliches (Stimmliches) als Kommunikation begreifen  : Lehrende und – in etwas anderer Funktion – ZuhörerInnen. Mätzler (2002) geht von der Annahme aus, dass »Musik, ähnlich den Träumen eine Sprache der Emotionalität und Ausdruck unbewusster Phantasien ist, die zudem mit den inneren Objekten der Zuhörer korrespondiert«. Der Autor verweist auf den Vorgang der »projektiven Identifizierung«, der dieser emotionalen Kommunikation offensichtlich zugrunde liegt (Mätzler 2002, 487). Der Psychoanalytiker und Arzt Wilfred Bion macht diesen (auf Melanie Klein zurückgehenden) Begriff der »projektiven Identifizierung« zum Drehpunkt eines Modells des archaischen Denkens, einem frühen Kommunikationsmodell, entstanden in Anlehnung an Prozesse der Ernährung und Verdauung  : Der Säugling versucht über den Weg der projektiven Identifikation Gefühle der Unlust (der Angst, der Abwesenheit einer guten Brust) loszuwerden, indem er diese über die Atmung, über das Stillen in die Mutter entleert. Bei genügend 101

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großem Kontakt mit der Realität – Bion etabliert das Realitätsprinzip parallel zum Freudschen Lustprinzip – veranlasst das Kind die Mutter, unerträgliche Empfindungen zu »verdauen«. Diese unverdaulichen und zusammenhanglosen Elemente (»Betaelemente«♂) werden von der Mutter als »container« (♀) aufgenommen und verarbeitet, sodann dem Kind als bekömmliche Objekte zur Wiederaufnahme (Reintrojektion) zur Verfügung gestellt. Von Bedeutung ist dabei die Fähigkeit der Mutter, diese Ausscheidung von Unerträglichem als Kommunikation zu begreifen und damit dem Vorgang Bedeutung zu geben. Sie tut dies in einer psychischen Verfassung, die als »rêverie« (eventuell als träumerische Gelöstheit zu übersetzen) bezeichnet wird. Mit der Introjektion der verdaulichen Elemente erfolgt allmählich auch eine Fähigkeit zur Wandlung der unverbundenen Betaelemente in bedeutungsfähige Alphaelemente, welche sich im Weiteren zum ersten Denken eignen. Dieses Modell »Container-Contained (♀♂)«, das als Denkapparat von Bion aus dem Verdauungssystem entwickelt wurde, lässt sich auch im Atmungs- oder Gehörsystem (Bion 1992 [1963], 131) etablieren  : als Prototyp erster Zusammenhangbildung und Bedeutungsentstehung. Ist es denkbar, ein Hören zu bestimmen, das seine Funktion eben in der Zusammenhangbildung, in einer Verbindung von Teilelementen zur Aussage hat und eine sinnstiftende Erfahrung für Lernende darstellt  ? Ein Seitenblick auf die einsame Situation des Übens, in welcher manches offenbar nicht (»so«) gelingt, weil offenbar kein hörender Container für Inakzeptables bereitsteht, lässt vermuten, dass mithörend etwas geleistet wird, was einer Aufbereitung von Klangelementen und einer Zusammenhangbildung nahe kommt  : eine Bündelung von Klangbewegungen zur Geste. »Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.« Das »antwortende Hinhören« im Sinne Waldenfels (Grootaers 2012, 104) könnte beim Entstehen einer musikalischen Konzeption – hier verstanden als Verbindung von klingenden Elementen zur musikalischen Aussage – bestimmend sein. Kann im Stimmlichen eine elementare Ebene ausgemacht werden, die dem sogenannten triebhaften Bereich, dem Reich der Primärvorgänge, dem Fluss der Assoziationen, der Es-Energie und damit tendenziell dem Un- und Vorbewussten verbunden bleibt und eine weitere, welche zwar die Wortvorstellung und damit Sekundärprozesshaftes nicht erreicht, jedoch als Ebene der klingenden Beziehungen zu sehen ist, auf welcher die Bewegungen zu einer Gestalt verdichtet werden, so wird die Entwicklung dieser Ebene bis zum Erreichen ausgereifter Vorstellungen (Antzipationen) vermutlich von einem funktionalen, empathischen Hören gefördert. 102

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Es kann nun angenommen werden, dass analog einem hierarchischen Modell der musikalischen Erwartung (vgl. »Implication-Realization-Modell«, Krumhansl 1997) dem gestaltsuchenden Klanggeschehen als Bewegung von Ton zu Ton eine höhere Struktur, eine Melodie gestaltbildender »Stützpunkte« beigestellt und hörend mitbewegt wird. Hier kann eine mögliche Form der Gedankenentstehung im Musikalischen zu finden sein. Ein (lehrender) »Container« empfängt klingende Ereignisse und erstellt hörend (durch Erfahrung) einen Zusammenhang durch die Besetzung strukturbildender Klangmomente  : hörende Beziehungsstiftung, die vorbewusst allmählich introjiziert werden kann. Verbale Anweisungen sind im Bemühen um den äußerst strapazierten »Ausdruck« vermutlich weit weniger erfolgreich, sie bewegen sich zu »sekundär«  ; es ist zudem anzunehmen, dass pädagogische Interventionen wiederum klanglich auf ihre Verdaulichkeit hin geprüft werden und nur ausgewählte Begriffe mit einer gewissen Fähigkeit zur Tiefenwirkung »passieren« dürfen. Die Fähigkeit, eine musikalische Bewegung zu antizipieren, der Bedeutung zukommt, basiert vermutlich auf der Bereitschaft, sich klingenden Primärvorgängen zu öffnen – im Vertrauen darauf, dass hörende Verdichtungsleistungen, dem Vor- und Unbewussten verbunden, in vielen Wiederholungen zur komplexen Struktur weiter entwickelt werden oder  : »Lernen durch Verdauung«.

Anmerkungen 1 Von besonderer Bedeutung erscheinen stimmliche Erfahrungen für Menschen mit Erkrankungen aus dem schizoiden resp. bipolaren Formenkreis. Eine Entgrenzung im Sinne einer Auflösung von Kontaktstrukturen muss von den Betroffenen symptombedingt als direkt bedrohlich empfunden werden. Und doch ergibt sich in der Arbeit an der Kehlabsenkung die Möglichkeit eines psychophysischen Probehandelns: Ich riskiere eine Öffnung, eine Verletzbarkeit und erhalte dafür eine klingende Vergrößerung meiner selbst und kann – das sollte besonders betont werden – durch Schließen des Mundes ein Ende dieses Wagnisses selbst bestimmen. Es scheint, dass diese Erfahrungen allmählich eine innere Neubestimmung und auch Festigung der Ich-Grenzen ermöglichen  ; vgl. dazu auch Inga Keterling (2010). 2 Die hier angesprochenen Bewegungen leben als bestimmende Tendenzen in Sprachen und Dialekten. Eine Analyse der dominierenden Bewegungen der Mutterlautung könnte in Hinblick auf einen Fremdsprachenerwerb wertvolle didaktische Einsichten bringen. 3 Wenig überraschend ist die Einsicht Gisela Rohmerts (1994), dass in diesem Stimmentwicklungsprozess auch Extremlagen wie das Falsett oder ein (isoliertes) weibliches Brustregister zu beleben sind, da diese (in jeder Hinsicht  ?) abgespaltene Persönlichkeitsanteile darstellen, die integriert erst das psychische Potenzial der SängerInnen gewährleisten. Der Terminus »isoliertes Brustregister« bezeichnet hier eine Stimmgebung, bei der die Vollschwingung der Stimmbänder im tieferen Klangbereich durch die bewusst weg gehaltenen höheren (»kopfigen«) Teiltonbereiche einen dun-

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kel-weiblichen, eventuell erotischen, aber auch durchaus vulgären Stimmklang zeitigen kann. Im Gegensatz dazu lässt das männliche Falsett durch die fehlenden tiefen, dunklen Klanganteile jede hörbare stereotyp männliche Konnotation vermissen. 4 Der schöpferische Vorgang gilt hier durchaus als Zeugungs- und Geburtsakt, wobei die aktive Gestaltungsarbeit mit phallischen Qualitäten besetzt wird, das »Austragen einer Idee«, also deren Reifung mit Fantasien von Weiblichkeit verbunden wird. Der kreative Prozess erlaubt »die sonst unüberbrückbaren Gegensätze des Männlichen und Weiblichen in einer Persönlichkeit miteinander zu versöhnen, indem sie im Schaffungsprozess miteinander verschmelzen« (Rauchfleisch 1990, 1122f ). 5 Rebecca Grotjahn untersucht in »Das Geschlecht der Stimme« eine mögliche Konstruktion des Stimmgeschlechts durch Stimmlagen, was meiner Ansicht nach nicht weit genug greift, ebenso ist die Verkürzung problematisch, dass es die »Männlichkeit des Tenors ist, die den Koloraturgesang zur Frauendomäne werden lässt« (Grotjahn 2011, 167).

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Interpretinnen in der zeitgenössischen Musik – Körper, Stimmen, Medien In der zeitgenössischen Musik seit den 1960er Jahren hat sich die Rolle von Musikern und Musikerinnen zum Teil erheblich verändert. Nicht nur in der experimentellen Musik oder in der Improvisation, bei aleatorischen, offenen Werken oder bei der Aufführung von musikalischer Grafik hat sich die Verantwortung der Interpretinnen und Interpreten für das Geschehen auf dem Konzertpodium erhöht, denn sie sollten zunehmend die kompositorische Ausarbeitung und Fixierung der Werke für eine Aufführung übernehmen. Ihnen wurde erheblich mehr zugestanden, als eine ausnotierte Partitur interpretativ in Klang umzusetzen und zu präsentieren. Exemplarisch lässt sich etwa auf den Pianisten David Tudor hinweisen, der in Kooperation mit John Cage oder anderen Komponisten bald als Experte dafür galt, Konzepte vollkommen selbständig auszuarbeiten und auf Basis weniger Anweisungen komplexe Aufführungsversionen herzustellen (vgl. Holzaepfel 1994). Doch auch in anderen kompositorischen Kontexten wurde die Mitwirkung von Interpretinnen und Interpreten aufgewertet, vor allen Dingen bei der Entwicklung und Entdeckung neuer Klangnuancen durch veränderte oder erweiterte Spieltechniken von Instrumenten oder durch das experimentelle Ausloten der Stimme, das in Kompositionen genutzt wurde. Insbesondere im Gesang haben Künstlerinnen wie beispielsweise Cathy Berberian, Carla Henius, Joan La Barbara oder Michiko Hirayama ganz neue Maßstäbe gesetzt. Sie haben die konventionelle Opernstimme nicht nur in vielen Ausdrucksnuancen erweitert, sondern darüber hinaus auch die große Bandbreite von alltäglichen Lautartikulationen zwischen Sprechen und Singen sowie die klangliche Ebene von Geräuschen für die Stimme in der neuen Musik erschlossen (vgl. Weber-Lucks 2008 [2005]). Mit der Entwicklung der Performancekunst in den 1970er Jahren haben sich zudem Künstlerinnen und Künstler in der Musik etabliert, die als Composer-Performer bezeichnet werden und in der Vokal- oder Instrumentalperformance ihre Stücke gleichzeitig komponieren und aufführen. Auch in diesem Bereich sind viele Frauen zu verzeichnen, etwa Meredith Monk, Laurie Anderson, Pauline Oliveros, Annea Lockwood, Christina Kubisch, Diamanda Galás, Brenda Hutchinson, Shelley Hirsch oder Laetitia Sonami, um nur einige bekannte Namen zu nennen. Mit der erhöhten Eigenverantwortung von Interpretinnen und Interpreten bei Musikaufführungen beziehungsweise durch deren kompositorische 107

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Mitwirkung oder durch das Zusammenfallen von Komposition und Aufführung eigener Werke hat sich das Modell der Interpretation von kompositorisch gestalteten und ausnotierten Werken, in dem die Ausführenden nachgeordnet sind, verändert, manchmal ist es sogar obsolet geworden. Die nachschöpferische Tätigkeit wandelte sich in eine mitschöpferische Arbeit, und in der Präsentation von eigenen Stücken fielen beide Handlungsfelder zusammen. In folgendem Beitrag werden einige Aspekte angesprochen, die die Rolle und Bedeutung von Interpretinnen in der zeitgenössischen Musik betreffen. Diese Perspektive wird in musikwissenschaftlichen Abhandlungen zur neuen Musik noch immer selten eingenommen, weil die Kompositionsgeschichte in der Regel im Vordergrund steht. Die Produktion von musikalischen Kunstwerken, ausgehend von Komponisten und Komponistinnen, hat noch immer Vorrang vor den Ebenen der Aufführung und Interpretation. Dabei haben Interpretinnen und Interpreten (wie oben beschrieben) einen großen Anteil an kompositorischen Innovationen. Der spezifische Beitrag von Interpretinnen (in der zeitgenössischen Musik) wird vor allem in ihrer Arbeit mit der Stimme und mit dem Körper gesehen (vgl. Gann 1998). Dieser Beitrag ist jedoch lange Zeit marginalisiert worden (vgl. Brüstle 2013).

Interpretin der musikalischen Avantgarde – Charlotte Moorman Die künstlerische Arbeit von Interpretinnen schloss und schließt also die konventionelle Aufgabe der Ausführung und Interpretation einer Komposition nicht aus. Doch gerade in Kompositionen der musikalischen Avantgarde wurden (wie zuvor erwähnt) zum Teil Aktivitäten verlangt, die den traditionellen Rahmen sprengten. Dies zeigt das Beispiel einer Musikerin, die zu den wichtigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten im Musikleben der 1960er Jahre in New York gezählt werden kann  : Es handelt sich um die amerikanische Cellistin Charlotte Moorman, die 1933 in Little Rock im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika geboren wurde und 1991 in New York gestorben ist (Gronemeyer 1992). Charlotte Moorman hat in Aufführungen und Performances sowie als Organisatorin des »New York Avant Garde Festival« (gemeinsam mit Yoko Ono) die zeitgenössische Kunst in den 1960er Jahren in New York ganz entscheidend gefördert und geprägt. Nam June Paik, mit dem sie in vielen Projekten zusammen gearbeitet hat, und Howard Weinberg haben die Cellistin 1995 in ihrer Dokumentation »Topless Cellist« Charlotte Moorman filmisch porträtiert, jüngst erschien eine Monografie über sie (Rothfuss 2014). Charlotte Moorman war 108

Interpretinnen in der zeitgenössischen Musik – Körper, Stimmen, Medien

eine ausgebildete, professionelle Cellistin und hatte unter anderem im American Symphony Orchestra unter Leopold Stokowski gespielt. Ihre Bekanntschaft mit Yoko Ono und befreundeten Künstlern brachte sie in Kontakt mit der Szene in »New York Downtown«, in der sie als Solistin auftrat. Von 1963 bis 1980 organisierte sie wie erwähnt das »New York Avant Garde Festival«. Moorman und Nam June Paik lernten sich kennen, als die Musikerin die New Yorker Präsentation von Stockhausens »Originale« vorbereitete, die beim zweiten »Festival of the Avant Garde« im September 1964 stattfand. Paik war auf der Suche nach einer ungewöhnlichen Interpretin und dabei auf Charlotte Moorman gestoßen. »Schon als Paik Anfang der sechziger Jahre in einem Düsseldorfer Kabarett eine junge Striptease-Tänzerin kennenlernte, hat er den Gedanken notiert, einen Akt zu komponieren. ›Very very very beautiful  – perfect figure  – à la RenaissanceManierist. Ich denke jetzt ein Stück für »Nude« [zu] komponieren.‹ Er fand jedoch für seinen Plan, die Mondscheinsonate von einer nackten Frau im Konzertsaal aufführen zu lassen, keine Pianistin. In Charlotte Moorman erkannte er nun sogleich eine geeignete Partnerin, um seine künstlerischen Ziele, wenn auch auf einem anderen Instrument, zu verwirklichen.« (Gronemeyer 1992, 7)1

Charlotte Moorman spielte in Nam June Paiks Projekten beispielsweise mit einer transparenten Plastikplane bekleidet, sie stieg in eine mit Wasser gefüllte Tonne und spielte davor und danach »Der Schwan« aus Camille Saint-Saëns Kammerorchestersuite »Karneval der Tiere«. Sie sprang bei der Biennale 1966 in Venedig in den Canale Grande (»Venice Gondola Happening«) oder sie legte bei anderen Gelegenheiten im Konzert Stück für Stück ihre Kleider ab. 1967 wurde Moorman in New York bei der Premiere von Paiks »Opera Sextronique« wegen »Erregung öffentlichen Ärgernisses« verhaftet. Sie wurde für kurze Zeit im Gefängnis festgehalten und nach der Urteilsverkündung auf Bewährung freigelassen (Fricke 2000  ; vgl. Moorman 1991  ; Rothfuss 2014, 175–190). Als »topless cellist« war sie durch die Presse abgestempelt worden und hatte vor allem auch in konservativen Kreisen ihren Ruf als Konzertcellistin vollends verloren. Nam June Paik hat für sie später unter anderem den »TV Bra for Living Sculpture« (1969), den »Chroma Key Bra« (1970), ein »TV Cello« (1971) und ein »TV Bed« (1972) entwickelt, darüber hinaus war sie unter anderem auch am experimentellen Videoclip »Guadalcanal Requiem« (1977–79) als Musikerin beteiligt. Moorman hat sich selbst als perfekt funktionierende Performerin im Sinne der Konzeptionen von Paik betrachtet. In einem Interview von 1983 erklärte sie  : »I think it’s fine to be a sex object, I don’t mind that, but I don’t think Paik thinks of me that 109

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way. Paik does think of me as a work of his, he does not think of me as Charlotte Moorman. He considers me as an art work of his, and he can do with me what he pleases, and I’m very honoured about the whole thing.« (Decker-Phillips 1998, 146, Anm. 245)2 Sich selbst in diesem Zusammenhang als Objekt zu verstehen, noch dazu als »sex object«, das sich in Aufführungen oder Performances frei zur Verfügung stellt und sich geehrt fühlt, das klingt, insbesondere ausgesprochen von einer Frau, nach einer extremen Position der Abhängigkeit und Unterwürfigkeit. Tatsächlich jedoch ist diese Haltung in der Musik, in der Stücke aufgeführt werden, keineswegs eine außergewöhnliche Einstellung, sondern Interpreten und Interpretinnen in der Musik werden in der Regel darauf trainiert, die Wünsche und Vorstellungen anderer – und diese Anderen sind in der Mehrzahl noch immer männlich – möglichst präzise zu erfüllen.

Musiker und Musikerinnen als Aufführende Die Aufgaben der Musiker wurden im 19. Jahrhundert zunehmend darin gesehen – wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel es formulierte –, sich einerseits »ganz dem Charakter des Werks [zu] unterwerfen und nur ein gehorchendes Organ [zu] sein«, andererseits aber »nicht zum bloßen Handwerker herunter[zu]sinken«, vielmehr hat der »ausübende Künstler« Hegel zufolge »das Werk im Sinne und Geist des Komponisten seelenvoll zu beleben« (Hegel 1993 [1818–1828/29], 219). Einige Jahre zuvor hatte Heinrich Christoph Koch in seinem »Musiklexikon« (ganz in diesem Sinne) erklärt  : »Die ausgeführten Produkte der bildenden Künste gehen aus der Hand des Künstlers in einer so vollendeten Darstellung hervor, daß man zu dem Genusse derselben weiter keines besondern Hülfsmittels bedarf. – Nicht so bey den Werken des Tonsetzers, dessen vollendete Partitur ohne Beyhülfe des Vortrags gleichsam nur noch eine Schrift von Hieroglyphen enthält, die nur dem Geiste des Eingeweiheten in dem innersten Heiligthume der Kunst verständlich ist. Für den gewöhnlichen und allgemeinen Genuß ist ein solches vollendetes Kunstwerk noch tod, und muß erst durch lebendige Darstellung seiner Zeichen vermittelst der Gesangorgane oder der Instrumente dem Empfindungsvermögen durchs Ohr verdollmetschet werden.« (Koch 2001 [1802], Sp. 187)

Die Arbeit der Musiker und Musikerinnen, die erst später Interpreten und Interpretinnen genannt wurden, ist also grundsätzlich zunächst einmal eine Tätigkeit 110

Interpretinnen in der zeitgenössischen Musik – Körper, Stimmen, Medien

der Übersetzung, der genauen Übertragung, in Abhängigkeit von einem Notentext, mindestens aber in Abhängigkeit von einer Komposition, die aufgeführt werden soll, auch wenn nicht alle Details notiert sind (vgl. Danuser 1994  ; Riethmüller 1998  ; Hein 2014). In der komponierten und notierten Musik sind zwar Spielräume einer Interpretation im Sinne einer (performativen) Auslegung des Notentextes vorhanden, zum Beispiel bei der Anwendung von Verzierungen oder bei der Tempogestaltung, die erst im 19. Jahrhundert zunehmend fixiert wurden, aber es gab und gibt klare Grenzen dieser Spielräume, die nicht überschritten werden können, ohne das Musikstück (inhaltlich oder formal) zu entstellen oder zu destruieren. Charlotte Moorman brachte demnach nur eine Konstellation zwischen schaffenden Künstlern und Künstlerinnen und nachschaffenden Interpreten und Interpretinnen auf den Punkt, die zu den Grundlagen von Aufführungen komponierter Musik zu zählen ist. Vermutlich gab es in der Musikgeschichte viele Kooperationen von Komponisten oder Komponistinnen mit ganz bestimmten Musikern oder Musikerinnen, etwa in der Oper mit ausgewählten Sängerinnen oder Sängern, die ganz wesentlich zur Entstehung von neuen Werken beigetragen haben. Die Beiträge von Musikern oder Musikerinnen beziehungsweise Interpreten oder Interpretinnen zur Musikgeschichte wurden jedoch lange Zeit den Beiträgen von Komponisten nachgestellt. In der Musikwissenschaft haben erst Forschungen zur ›Historischen Aufführungspraxis‹ allmählich die Erkenntnis reifen lassen, dass Musiker und Musikerinnen keine Nebenerscheinungen der Musikgeschichte sind, sondern Kompetenzen und ein Wissen vermitteln (können), die höchstwahrscheinlich in viele Kompositionen eingeflossen sind, aber nicht oder selten explizit und direkt schriftlich überliefert wurden (vgl. Gutknecht 1994  ; Pendle 1991). Diese Situation hat sich im 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt, obwohl in der komponierten, artifiziellen neuen Musik seit dem Ende der 1950er Jahre, wie oben bereits dargestellt, Musiker und Musikerinnen in vielfacher Hinsicht experimentell angelegte Herausforderungen zu meistern hatten, die vor allem ihre schöpferische Eigenständigkeit provozieren sollten (Müller 1994  ; Feißt 1997). Die besondere Bedeutung von Musikerinnen für die Entwicklungen der neuen Musik ist bislang wenig thematisiert worden, wobei sich zunächst die Frage stellt, ob man in diesem Zusammenhang von geschlechtsspezifischen Differenzen ausgehen kann. Es ist klar, dass Musikerinnen, vor allem Sängerinnen und Pianistinnen, seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Kontext der neuen Musik immer präsent waren (vgl. dazu bspw. die Dokumentationen Haefeli 1982 und Häusler 1996). Sie haben Komponisten nicht nur zu Werken angeregt oder inspiriert (und sie manchmal auch finanziert), sondern sie haben die entsprechenden Werke zum 111

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Teil auch aufgeführt. Zu erinnern ist etwa an die Schauspielerin und Sängerin Albertine Zehme, die Schönbergs »Pierre lunaire« befördert und präsentiert hat, oder an die Schwestern Jeanne und Yvonne Loriod, die für die Entstehung von Werken mit Ondes Martenot und für die Entwicklung neuer Klaviermusik in der französischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts eine besondere Position einnehmen (Dunsby 1992, 21–27  ; vgl. Tchamkerten 2007  ; Dingle, 2013). Über Jeanne Loriod schrieb Tchamkerten zum Abschluss seines Beitrags: »[T]his remarkable musician never stopped reflecting upon playing the Ondes, and tirelessly went about discovering new possibilities, building up a flawless solidity on the instrument through her boundless techniques. In a decisive manner, she helped composers of her time to find in the Ondes Martenot an instrument worthy of transmitting their work with a rare sensitivity, whatever their inspiration, whatever language and sound they wished to create.« (Tchamkerten 2007, 78)

Die Leistungen der Musikerinnen sind jedoch, wie erwähnt, lange Zeit kaum in Betracht gezogen worden.

Sängerinnen in der neuen Musik – Cathy Berberian und Carla Henius Dies gilt auch für Cathy Berberian (1925–1983), die in den 1960er Jahren in der neuen Musik eine zentrale Rolle eingenommen hat. Sie war zwischen 1950 und 1964 mit dem italienischen Komponisten Luciano Berio verheiratet, inspirierte aber nicht nur seine Werke, sondern vor allem auch neue oder experimentelle Vokalkompositionen einer ganzen Reihe anderer Komponisten wie etwa John Cage, Bruno Maderna, Igor Strawinsky, Henri Pousseur, Hans Werner Henze, Roman Haubenstock-Ramati oder Sylvano Bussotti. Doch Berberians Sängerinnenkarriere war zunächst durch die Familiengründung unterbrochen worden. »The première of Berio’s most assured hommage to Dallapiccola, Chamber Music (1953), was her last performance before the birth of their daughter, Christina. For several years thereafter she withdrew from engagements (apart from a few radio recordings), but her return to professional work from 1958 on was to prove seminal for Berio’s own development.« (Osmond-Smith/Earle 2007–2015)

Berio hat jedoch nicht nur durch Berberians Stimme Anregungen erhalten, son112

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Abb.1  : Cathy Berberian und Luciano Berio, Foto  : Tommaso Le Pera

dern in der Zwischenzeit durch sie auch James Joyce kennengelernt und mit ihr das Interesse für Folk Songs geteilt (vgl. Paull 2007, 38f.). Dadurch wird beispielsweise klar, dass Berio seine Arbeit mit Texten von Joyce für das 1958 produzierte Tonbandstück »Thema (Omaggio a Joyce)« oder für »Epifanie« für Frauenstimme und Orchester (1961) nicht nur in Verbindung mit Umberto Eco aufgenommen hat (vgl. Bosma 2014). Berberians Mitarbeit bei der Entstehung von Berios Tonbandstück »Visage« (1961) oder bei den »Folk Songs« (1964) war ebenfalls nicht nur die einer Interpretin. Es erscheint zudem sehr plausibel, dass Berios Hinwendung zur szenischen Musik und zum Musiktheater von Cathy Berberian beeinflusst wurde, denn in Berios Stücken wie »Circles« für Frauenstimme, Harfe und zwei Schlagzeuger von 1960 oder »Sequenza III« für Solostimme (1965) war nicht nur die Stimme von Berberian maßgebend, sondern waren es auch ihre schauspielerischen Fähigkeiten und ihre Wirkung auf der Bühne. Dies zeigte sich noch in Berios szenisch konzipiertem »Recital I (for Cathy)« von 1972, in dem Berberian eine Sängerin spielt, die ein Konzert gibt beziehungsweise zu geben versucht. Über Cathy Berberian sind nun in den letzten 113

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Jahren einige Publikationen erschienen, die über ihre persönlichen Leistungen Aufschluss geben können, die in die kreativen Prozesse der Komponisten eingeflossen sind (vgl. Vila 2003  ; Karantonis u. a. 2014). Hinsichtlich anderer Musikerinnen bestehen noch weitreichende Forschungslücken. Das gilt zum Beispiel für die Vokalartistin, Sängerin und Komponistin Joan La Barbara (geb. 1947), die als Interpretin von John Cage (»Song Books«, 1970) oder von Morton Feldman (»Three Voices«, 1982) und Robert Ashley (Hauptrolle in »Now Eleanor’s Idea«, 1993) zur Vokalperformance gelangte und damit auch zunehmend eigene Projekte umsetzen konnte (La Barbara 1984  ; vgl. Weber-Lucks 2008 [2005]  ; Gann 2012). In Deutschland wurde die Sängerin Carla Henius (1919–2002) als Expertin für neue Musik bekannt, vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit Luigi Nono und Dieter Schnebel. Mit Nono hat sie seit 1961 zusammengearbeitet (»Intolleranza«, 1961) und 1964 die Grundlagen zur Komposition »La fabbrica illuminata« für Tonband und Gesangsstimme entwickelt, die sie am 15. September 1964 in Venedig auch erstmals aufgeführt hat. Nina Jozefowicz untersuchte die Zusammenarbeit von Nono und Henius und beschrieb sie folgendermaßen  : »In drei intensiven Arbeitsphasen mit der Sängerin Carla Henius [im Sommer 1964 in Mailand im Studio di fonologia della RAI] entstand das Tonbandmaterial der Singstimme. […] In der ersten Arbeitsphase sollte Carla Henius auf einen Text des Librettos improvisieren, nachdem ihr Luigi Nono dazu einige Vorgaben gemacht hatte. […] Der endgültige Text nahm erst durch das Experimentieren mit der Stimme im Tonstudio Gestalt an. Nach den Anweisungen Luigi Nonos hatte Carla Henius einen vorliegenden Text mit normaler Sprechstimme abzulesen, um dann anschließend rot gekennzeichnete Wörter durch Flüstern oder Singen vom restlichen Text zu unterscheiden. Danach hatte sie den Text ganz frei – auch mit falscher Betonung – vorzutragen. […] Die zweite Arbeitsphase mit Carla Henius dauerte […] zwei Tage, an denen Nono nur einzelne Töne auf frei improvisierte Phoneme aufnahm. Nono gab Carla Henius die Artikulation der Phoneme mit Handzeichen vor. […] Die Partitur der Sängerin wurde erst einen Monat nach Fertigstellung des Tonbandes, am 19. August 1964, an Carla Henius per Post gesandt. […] Für Carla Henius blieb nun für das Einstudieren ihrer Stimme kaum ein Monat Zeit. […] Ihr drittes Treffen [im August 1964] wurde somit eine reine Probenphase, in deren Verlauf sie ein tieferes Verständnis für das Werk bekam. […] Von dem mehrere Stunden umfassenden Tonbandmaterial, das Nono gemeinsam mit Carla Henius aufgenommen hatte, ging schließlich doch nur ein geringer Teil in das endgültige Tonband der Komposition ein. […] Das Experimentieren mit 114

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Abb. 2  : Cathy Berberian und John Cage  , Foto  : Philippe Gras

den klanglichen Möglichkeiten der Stimme im Tonstudio diente zu einem großen Teil der Notation der Live-Singstimme«. ( Josefowicz 2005, 60–65  ; vgl. dies. 2012)

Carla Henius’ Stimme ist im Kontext von Luigi Nonos »Fabbrica illuminata« zu Material geworden, mit dem sie in der Live-Situation in Korrespondenz trat. Sie führte bei der Aufführung das aus, was in der Partitur sehr detailliert notiert wurde. Ihre improvisatorische Freiheit und ihre Experimente sind als Vorstufen zu betrachten, die das Werk des Komponisten mitgeprägt haben, letztlich jedoch darin aufgegangen sind. Im Blick auf Dieter Schnebel und dessen Musiktheaterpojekt »Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte« (1968–1974), an dem Carla Henius ebenfalls bereits zu Beginn mitgewirkt hat, ergibt sich ein etwa anderes Bild einer künstlerischen Kooperation. Dieter Schnebels »Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte« ist ein experimentelles Stück, es liegt keine auskomponierte Partitur zugrunde, sondern eine Vielzahl von Übungsvorlagen, »Exerzitien« oder »Materialtafeln«, mit denen zunächst die kleinteiligsten Vorgänge der stimmlichen »Materialerzeugung« untersucht und ausprobiert werden sollten. Erst nach den Übungsphasen setzte in »Kommunikationen« ein generativer Prozess ein, in denen Solistinnen und Solisten oder 115

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Ensemblemitglieder nach bestimmten Verhaltensmustern agieren und Szenen entwickeln konnten. Schließlich war die Entstehung eines »werkartigen Gebildes zwecks Vorführung« vorgesehen, bei dem in den »Maulwerken« die Verwendung bestimmter Reproduktionsgeräte, die Integration von Film- und DiaProjektionen sowie die Raumgestaltung festgelegt werden mussten (Schnebel 1971). Jede einzelne Aufführung und Inszenierung ist demnach komplett neu zu gestalten. Die angesprochenen Übungen beziehen sich in der Übungsabteilung »Atemzüge« auf das Zwerchfell, den Brustkorb (Rippen), auf die Lunge und die Luftröhre  ; im zweiten Übungsteil »Kehlkopfspannungen und Gurgelrollen« auf die Stimmlippen, die Stimmmuskeln und die Stellknorpel, im Abschnitt »Mundstücke« auf den Unterkiefer mit Zungenboden, den Mund und die Wangen sowie im weiteren Abschnitt »Zungenschläge und Lippenspiel« auf die Lippen, die Zunge, Zähne, auf den Gaumen und das Gaumensegel, die Wangen sowie auf weitere Resonanzorgane. Bei der Stimme, die hier ins Zentrum gestellt wurde, lag es nahe, sich zuerst mit dem Atmen zu befassen, daher stand bei den »Maulwerken« die Werkschicht der »Atemzüge« am Anfang. Eine Uraufführungsversion dieser Aktionsebene präsentierten Carla Henius, Gisela Saur-Kontarsky und William Pearson 1971 in Rom (Nauck 2001, 192 f.). Für professionelle Sänger und Sängerinnen bedeutet die Einstudierung der »Maulwerke« immer ein »Verlernen« ihrer trainierten speziellen Fähigkeiten, um die elementaren Vorgänge der stimmlichen Artikulation zu studieren und die einzelnen Abläufe isolieren zu können (um sie anschließend in einer »Kommunikation« wieder neu zusammenzusetzen). Diese körperliche »Rückführung zu den Quellen« bedeutete für Carla Henius offenbar eine beinahe schmerzhafte Selbstanalyse. »Der Schock traf gerade professionelle Sänger, weil sie erfahren mußten, daß ihnen ihr geschultes – und bisher anerkanntes – Interpretentum bei dieser Musik nicht weiterhalf, ja, nichts mehr wert war. ›In unserem »Fall Schnebel« bedeutete Rückkehr zunächst einmal radikale unbefristete Abkehr von allem, was uns an musikalischem Wissen, Arbeitsmethodik und vielfältigen Ausdrucksmitteln zu Gebote stand. Denn nichts, was wir gelernt hatten und kannten, ließ sich hier anwenden.‹« (Nauck 2001, 148)3

In ihren Erinnerungen mit dem Titel »Lehr-Stück« beschrieb Carla Henius 1980 ihre Arbeit in und mit den »Maulwerken« folgendermaßen  : »Ich bin sie nie ganz unbefangen gegangen, eher wie durch ein dichtes Gestrüpp 116

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am Boden gekrochen  ; zerschunden, schmutzig kam ich hinaus ins Freie und fand mich jedesmal an ganz anderer Stelle wieder als ich es zuvor erwartet, geträumt oder befürchtet hatte. Immer aber überkam mich das gleiche Gefühl von Freiheit und Erleichterung, wenn ich es endlich durchgestanden hatte. Im Verlauf der Arbeit an diesem Stück, die sich über einige Jahre hinzog, hätte ich wahrhaftig nicht sagen können, wovon man sich schließlich ›befreite‹. Es war doch eher eine hochnotpeinliche Prozedur, der man unterzogen wurde im guten Glauben, sie freiwillig auf sich genommen zu haben. Die ganze Sache tat einfach weh, und lange hörte ich nur ›mein eigen Schmerzgekreisch‹. Die geschulte Stimme versagte zunächst ihren Dienst. Den Gedanken ging es nicht besser  : sie liefen im Kreis wie ein blindes Pferd, das Wasser schöpfen muss. Aber der Brunnen war da, ich spürte ihn, wußte, ich werde da hinunter müssen. Erst im Fallen verlor sich die Angst, die mich so lange hinderte, wirklich zu springen […] Anstelle der Notation gab es nun anatomische Zeichnungen aller denkbaren Mund-, Zungen- und Kehlkopfstellungen und eindrückliche grafische Darstellungen verschiedenster, zeitlich ganz genau fixierter Atemverläufe. Das musikalische Geschehen schien reduziert auf die Parameter  : Dauer und Intensität. Ästhetische Kategorien wie Klang und Vortrag waren eliminiert. Aber durch die Hintertür brachten sie sich doch wieder ins Spiel. Als Reflex dieser kontrollierten Körpersprache des Atmens machten sie sich einfach Luft und erschienen als ›Ausdruck‹ – je disziplinierter und konzentrierter die Ausführenden waren, desto elementarer war die Wirkung. […] Wir [die beteiligten Interpreten und Interpretinnen] waren beides in einem  : Ausführende und Zuhörer – beteiligt und doch auch wieder nicht, eingebunden in die Strenge des ›Kunstwerks‹ und – um eines von Schnebels Lieblingsworten zu gebrauchen  : auch ›freigesetzt‹. Mit sich selbst konfrontiert  – so saß man da …« (Metzger/Riehn 1980, 67–70).

Die Haltung von Carla Henius ist durchaus mit der Einstellung von Charlotte Moorman zu vergleichen  : Vom Komponisten werden ungewöhnliche Aktionen verlangt, die die Interpretinnen ausführen, obwohl sie weder angenehm noch vorteilhaft erscheinen. Trotzdem haben sich beide Musikerinnen auf das Abenteuer eingelassen und die Wagnisse auf sich genommen. Sie verhielten sich demnach ganz traditionell als Ausführende von Anweisungen, die ein Künstler in einem Werkkonzept vorgegeben hat. Selbst eine »Befreiung« von professionellen Bedingtheiten und von Musikkonventionen geht in diesem Zusammenhang nicht von den Musikerinnen aus, sondern wird aus den kompositorischen Vorgaben und Ideen übernommen. Es ist die traditionelle Rolle von Interpreten und Interpretinnen, die prinzipiell beibehalten wird. Allerdings ist zu berück117

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sichtigen, dass Musikerinnen wie Carla Henius oder Charlotte Moorman eine grundsätzliche Bereitschaft und Offenheit für Experimente einbrachten, die bei vielen Musikern und Musikerinnen nicht vorausgesetzt werden konnten. Eine Demokratisierung der Aufführungen von Musik wurde in den 1960/70er Jahren zwar angestrebt, aber ihre Umsetzung war damals zum Teil ein schwieriges Unterfangen.4 Insofern lag es nahe, dass sowohl John Cage als auch Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel oder Dieter Schnebel und weitere Komponisten eher mit bestimmten Gruppen von Interpretinnen und Interpreten arbeiteten, bei denen eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber Innovationen im Aufführungsprozess gegeben war. Der Eigenanteil der Mitwirkenden an offenen, experimentellen oder indeterminierten Werken ist daher nicht hoch genug einzuschätzen, doch nicht einmal sie selbst haben diese Mitwirkung regelmäßig ausführlich beschrieben oder dokumentiert und veröffentlicht (mit wenigen Ausnahmen wie beispielsweise Carla Henius). Auch in der musikwissenschaftlichen Forschung befindet man sich in der Interpretations- oder Aufführungsanalyse noch in den Anfängen, wobei bestimmte Ansätze hauptsächlich von den Performance Studies ausgehen, die sich jedoch überwiegend (noch) auf den klassischen Werkkanon beziehen (vgl. Rink 2002).

Interpretinnen und die Bedeutung der Aufführungspraxis Es stellt sich daher die Frage, welche Bedeutung dem stimmlichen, körperlichen Einsatz, den Lernprozessen, den Selbstanalysen, den »Befreiungsprozessen«, der Kreativität und Eigenständigkeit der Mitwirkenden in solchen Projekten heute beigemessen wird. Sind diese künstlerischen Elemente zu einer historischen Episode geworden  ? Können sie in aktuellen Aufführungen der Werke noch ihre intendierte Wirkung entfalten  ? Könnte es sein, dass Interpretinnen eher bereit gewesen sind, sich auf die neue Musik und ihre Experimente einzulassen  ? In einem lange Zeit einzig gebliebenen Sammelband mit abgedruckten »Werkstattgesprächen« von Interpreten neuer Musik aus dem Jahr 1971 kommen folgende Musiker und eine Musikerin zu Wort  : der Dirigent Michael Gielen, der Kontrabassist Paul Breuer, der Schlagzeuger Christoph Caskel, der Oboist Heinz Holliger, der Posaunist Vinko Globokar, die Pianisten Alfons und Aloys Kontarsky, der Cellist Siegfried Palm, der Chordirigent Clytus Gottwald, die Sängerin Joan Carroll, der Sänger William Pearson und der Organist Gerd Zacher – elf Männer und eine Frau. Und zu Wort kommt hier nicht Cathy Ber118

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berian oder Carla Henius, sondern Joan Carroll, eine amerikanische Sopranistin und damaliger Star der Hamburger Staatsoper, die für ihre Darstellung der Lulu bekannt geworden war. Sie hat jedoch auch Stücke von Aribert Reimann, Wilhelm Killmayer oder Hans-Joachim Hespos aufgeführt. Die Frage im abgedruckten Interview nach den technischen Anforderungen, die Komponisten als Novum an ihre Stimme stellen, beantwortete sie wie folgt  : »Hier möchte ich den außerordentlichen großen Stimmumfang von drei Oktaven nennen, den mir die Natur mitgegeben hat. Innerhalb dieses großen Umfanges verlangen die Komponisten dann schnellen Wechsel verschiedenster Ausdrucksmöglichkeiten und Klangfarben, z. B. von einer fast ordinären Klangfarbe in eine tiefe Bruststimme, vom Klangregister eines Mezzosoprans in den Bereich eines transparenten Flötentones, den eine Koloratursängerin hat. Ferner wird eine große Modulationsfähigkeit der Stimme außerhalb des gesungenen Tones vorausgesetzt, um Flüstern, Sprechen, Schreien, Schnalzen, Räuspern und vieles andere hervorzubringen. Die Schwierigkeit besteht hauptsächlich darin, die Technik des schnellen Wechsels zu beherrschen. Es verlangt eine ziemlich lange Übung.« (Lück 1971, 115)

Es wird also wiederum nicht generell in Frage gestellt oder diskutiert, dass den ungewöhnlichen Anweisungen der Komponisten Folge zu leisten war. Der Interviewer fuhr mit einer Frage fort, die noch heute virulent ist  : »Schadet es nicht Ihrer Stimme, fortlaufend extreme Lagen zu singen oder bestimmte neue Effekte hervorzubringen  ?« Die Sängerin antwortete  : »Warum sollte es schaden, wenn man es mit einer richtigen Taktik übt  ? Es ist dann ein ausgesprochen gutes Training, um seine Stimme zu schulen.« (Lück 1971,115) Joan Carrolls Informationen über ihre Zusammenarbeit mit Komponisten oder ihre Arbeit mit der Stimme gehört zu den Informationen, die im Rahmen einer Erforschung der Aufführungsprozesse in der neuen Musik von Interesse sein könnten. Die Erfahrung und das Wissen, das von den Interpretinnen und Interpreten in der zeitgenössischen Musik ausging und ausgeht, ist ein körperliches und praktisches Wissen, dem in den geisteswissenschaftlichen Fächern lange Zeit keine Aufmerksamkeit zugeteilt wurde. Die Grundlagen der historischen Musikwissenschaft waren und sind häufig noch immer Werke, die in Notationen, Texten oder Partituren festgehalten sind. Die musikalische Praxis jedoch wird primär in der Musikausbildung und in der Instrumental- und Gesangspädagogik reflektiert. In der Ethnomusikologie ist die Auseinandersetzung mit der Praxis ebenfalls unabdingbar, weil in diesem Zusammenhang sehr oft keine textlichen Grundlagen der 119

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Musik zur Verfügung stehen. Hier hat sich auch die Erforschung der Bedeutung von Frauen in unterschiedlichen Musikkulturen inzwischen etabliert, weil eine möglichst umfassende Sicht auf die musikalische Praxis einer Kultur immer den Einbezug der Frauen erfordert oder zumindest immer dazu auffordert, nach der Rolle der Frauen und ihrer Bedeutung zu fragen und zu forschen (vgl. Moisala/ Diamond 2000  ; Koskoff 2014). Erst in den letzten Jahren zeichnen sich, wie bereits erwähnt, auch in der historischen Musikforschung einige Veränderungen ab, die die musikalische Praxis in der neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts einbeziehen (vgl. Cook 2001  ; ders. 2013). Die Bedeutung von Musikerinnen bei der Entwicklung zeitgenössischer Musik wurde jedoch bislang, mit wenigen Ausnahmen, kaum thematisiert.5 Cathy Berberian etwa bildet eine Ausnahme, wie bereits dargestellt wurde, weil in den letzten Jahren einige Publikationen über sie erschienen sind. Die Mitarbeit von Suzanne Stephens (Klarinette) und Kathinka Pasveer (Flöte) im engen Kreis um Karlheinz Stockhausen wäre sicherlich ebenfalls von großem Interesse. Michiko Hirayamas Bedeutung für die Werke von Giacinto Scelsi wäre zu beleuchten (vgl. Reissig 2015). Die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky ist hier auch zu erwähnen, mit ihren Aufführungen von Ives, Cage oder Xenakis, oder beispielsweise auch Christina Schönfeldt, die gehörlose Gebärdensolistin in vielen Stücken von Helmut Oehring. Anzuführen ist ferner die Pianistin Margaret Leng Tan, die New Yorker Expertin für das Spiel von toy pianos in Stücken von John Cage, oder Frances-Marie Uitti, die US-amerikanische Cellistin, die das gleichzeitige Spiel mit zwei Bögen entwickelt hat. In den Blick zu nehmen wären auch Darstellerinnen wie Charlotte Engelkes (Schauspielerin, Performerin), Marie Goyette (Pianistin und Schauspielerin) und Yumiko Tanaka (Musikerin) in Heiner Goebbels’ Hashirigaki (2000), mit denen in einem gemeinsamen Arbeitsprozess eines der faszinierendsten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist (Sander 2002). Die Liste von interessanten Musikerinnen könnte jedenfalls um viele Namen erweitert werden. Die Thematik der Bedeutung und Rolle von Interpretinnen in der neuen Musik beziehungsweise in der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts lässt sich mit einigen Thesen und Fragen für zukünftige Diskussionen abschließen, die hier nur Anregungen sein können und sicherlich eine noch viel ausführlichere Auseinandersetzung erfordern würden. Traditionell war und ist die musikalische Aufführung, das heißt die Aufführung von Werken auf der Grundlage von Partituren, grundsätzlich mit der Konstellation verbunden, dass die Rolle der ausführenden Musiker und Musikerinnen eine untergeordnete ist (gegenüber der Komposition, gegenüber dem 120

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Werk, gegenüber dem Komponisten). Im Rahmen dieser konventionellen Rollenverteilung waren Musikerinnen gegenüber Musikern zudem lange Zeit noch in einer besonderen Situation, weil ihre gesellschaftliche Position jener der Männer nachgeordnet war und ihre Tätigkeit in der Öffentlichkeit erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts überhaupt anerkannt wurde. »Musikausübung im privaten Raum wurde von der Gesellschaft häufig positiv bewertet, während der Schritt in das öffentliche Konzertleben hingegen (selbst in der nachschaffenden Interpretinnenrolle) als äußerst fragwürdig galt.« (Saak 2010, 380) Zudem blieb die geschlechterspezifische Instrumentenwahl (vor allem ausgehend von der Situation im 19. Jahrhundert) lange Zeit wie festgezimmert bestehen. Frauen waren in der Hauptsache Pianistinnen und Harfenistinnen, erst allmählich gab es auch Virtuosinnen auf Streich- oder Holzblasinstrumenten, zunächst vor allem auf der Geige und auf der Flöte. Bis heute sind Schlagzeugerinnen und Blechbläserinnen (neben Dirigentinnen) im Musikleben unterrepräsentiert (vgl. Abeles/Porter 1978  ; Sinsabaugh 2005  ; Abeles 2009). Die Auswirkungen der Emanzipationsbewegungen der 1960er Jahre auf die Haltung von Interpretinnen und Interpreten vor dem Hintergrund von Stücken oder musikalischen Projekten, die mit Gesellschaftskritik verknüpft waren und/ oder auf Befreiung, Emanzipation und Eigenständigkeit der Interpreten und Interpretinnen gesetzt haben, sind bislang wenig thematisiert worden. In einigen Fällen führte die Mitwirkung an solchen Projekten zur Entdeckung der eigenen kompositorischen Kreativität, wobei dies für Frauen sicherlich ein größerer Schritt bedeutete als für Männer, denen die Komposition als Arbeitsgebiet immer zugestanden wurde. Dies trifft zum Beispiel auf Cathy Berberian, Joan La Barbara oder Robyn Schulkowsky zu, aber zum Beispiel auch auf Christina Kubisch, die sich als Interpretin emanzipierte und heute zu den weltweit bekanntesten Klangkünstlerinnen gezählt werden kann. Da jedoch viele weibliche composer-performer vorzugsweise mit der Stimme und dem Körper arbeiteten und eher in experimenteller Weise vorgingen, entstand für Musikerinnen zunächst ein Nischenbereich, der von manchen AutorInnen geschätzt, von anderen als irrelevante improvisatorische Selbstbespiegelung abgetan wurde (vgl. Meyer-Denkmann 1992  ; Gann 1998  ; Brüstle 2013). Mit einem neuen, vielleicht postmodern zu nennenden Blick auf diese künstlerischen Bereiche, in denen Experiment, Improvisation, »Bauchgefühle« (Gigerenzer 2008) oder Affekte und Emotionen aufgewertet werden, ist möglicherweise auch zu thematisieren, dass Frauen (in der Musik, aber auch zum Beispiel in der Performancekunst) auf diesem Gebiet intensiver gearbeitet und daher mehr Erfahrung erworben haben. Komposition und Improvisation/Experiment sind daher durchaus mit Gender121

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polarisierungen und anderen Gegensatzpaaren wie Ratio und Intuition zu analogisieren, um die Mechanismen der Polarisierungen zu verdeutlichen und letztlich die damit zusammenhängenden Bewertungssysteme überwinden zu können (vgl. Sodomka 2013  ; Ingrisch 2013). Erst in den letzten Jahren – mit Hilfe von Ansätzen der Performance Studies – gilt die Aufmerksamkeit in der Musikwissenschaft verstärkt der Rolle von Musikern und Musikerinnen und dem spezifischen Wissen von Interpreten oder Interpretinnen (Cook 2013). Das Wissen bezieht sich auf die Musikpraxis, auf Spieltechniken, auf die Interaktion zwischen Musikerinnen und Musikern sowie auf ihre Intuition und Erfahrung. Falls es tatsächlich im musikwissenschaftlichen Kontext eine Aufwertung dieser Kompetenzen, dieser Fähigkeiten gibt, dann wäre unter anderem auch nach genderspezifischen Differenzen in diesen Arbeitsgebieten zu fragen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Produktion von musikalischen Kunstwerken in der Regel noch immer auf den einzelnen »genialen« Künstler oder auf die »geniale« Künstlerin zurückgeführt wird. Im 20. und 21. Jahrhundert sind jedoch auch viele Kollaborationen und Kooperationen von Komponisten oder Komponistinnen und Musiker oder Musikerinnen zu verzeichnen (vgl. bspw. Brüstle 2008). Vor allem auch im Bereich der Oper oder des Musikthea­ ters ist davon auszugehen, dass eine ganze Reihe von Mitwirkenden an einer Produktion beteiligt ist, auch wenn es bislang nur selten geschieht, dass Komponisten oder Komponistinnen von Beginn an mit einem Regisseur oder einer Regisseurin zusammenarbeiten, wie dies beispielsweise Elena Mendoza-López und Matthias Rebstock für ihr Musiktheaterstück »Niebla« (2007) getan haben (vgl. Rebstock 2007  ; ders. 2008). Zudem gibt es auch künstlerische Projekte, bei denen die Hauptideen von den Mitwirkenden ausgehen, zum Beispiel bei Tanzprojekten von Pina Bausch, bei szenischen Konzerten von Daniel Ott oder bei vielen Bühnenstücken von Heiner Goebbels (vgl. Rebstock/Roesner 2012). Dabei stellt sich die Frage nach der Bewertung solcher kompositorischer Gemeinschaftsproduktionen, die im zeitgenössischen Kontext nicht selten auch durch Bühnen- oder Videokünstlerinnen und -künstler erweitert werden. Welche Veränderungen und Verschiebungen haben sich dabei ergeben in der Vorstellung von Kunst, Komposition, Genialität, Kreativität etc. (vgl. Knaus/Kogler 2013)  ? Bedeutet die produktive künstlerische Arbeit im künstlerischen Kollektiv eine Nivellierung der einzelnen Leistung oder eine Demokratisierung und Enthierarchisierung von künstlerischen Prozessen  ? Ist Letzteres gleichzusetzen mit einer selbstverständlichen Integration und gleichgestellten Beteiligung von Frauen  ? 122

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Abb. 3  : Heiner Goebbels, Szene aus Hashirigaki (2000) mit Marie Goyette, Charlotte Engelkes und Yumiko Tanaka, Foto  : Theatre Vidy/Mario del Curto

Anmerkungen 1 Zitat im Zitat nach Rainer Wick (1977), Soziologisches zu Paik (1976), in  : Nam June Paik – Werke 1946–1976. Musik – Fluxus – Video. Köln, 61 (nach einer Notiz Paiks um 1960). 2 Interview Edith Decker mit Charlotte Moorman, 14. August 1983  ; vgl. dazu Frank 1977, 96–102. 3 Zitat im Zitat nach Henius 1972  ; vgl. dazu Nauck 2001, 335, Anm. 34. Für Carla Henius entstand 1976 eine Solo-Version der Maulwerke, Aufführung am 29. Februar 1976 in Braunschweig, vgl. ebd., 149. 4 Schnebel wurde mit dieser Problematik auch bei seinem Projekt »Orchestra« (1974–77) konfrontiert (vgl. Nauck 2001, 212–215). 5 Selbst im Lexikon Musik und Gender werden im Artikel »Avantgarde« die Musikerinnen nur gestreift, vgl. Custodis 2010. Vgl. kontrastierend dazu etwa Beier/Schmidt 2011.

Literatur Harold F. Abeles, Susan Yank Porter (1978), The Sex-Stereotyping of Musical Instruments, in  : Journal of Research in Music Education 26/1978, 65–75 Hal Abeles (2009), Are Musical Instrument Gender Associations Changing  ?, in  : Journal of Research in Music Education 57/2009, H. 2, 127–139

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Christa Brüstle

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Sigrid Schmitz

Gehirnoptimierung – (k)ein geschlechtsloses Feld  ?1 Die aktuelle Hirnforschung präsentiert sich als Leitwissenschaft zur Frage, was den Menschen ausmacht. Mit ihren modernen technischen Verfahren der Computertomografie erhebt sie den Anspruch, komplexe Phänomene auf der Grundlage der Naturwissenschaften umfassend zu erklären. Durch den ›Blick ins lebende Gehirn bei der Arbeit‹ verspricht sie an der Schnittstelle von Naturwissenschaft und Technik nahezu alle unsere Verhaltensweisen in Strukturen und Funktionen des Gehirns sichtbar zu machen. Die Botschaft ist eindeutig  : In der Tiefe der biologischen Materialität liege die Essenz unserer Fähigkeiten und Einstellungen, unseres Denkens, unserer Identität und Persönlichkeit. Ist unser Gehirn (insbesondere unser geschlechtliches Gehirn) also unser Schicksal  ? Die Bandbreite der ›Lokalisationen‹ von Geschlechterdifferenzen in Struktur und Funktion des Gehirns reicht von kognitiven Leistungen (Sprachfähigkeiten, räumliche, mathematisch-geometrische Fähigkeiten etc.) bis zur Verortung von sexueller Orientierung. Die Bestimmung der komplexen Vorgänge des Denkens aus biologisch-materiellen Grundlagen ist eine Genealogie, eine Ursprungsgeschichte. Begründet wird sie aus der Evolution, Geschlechterunterschiede seien im Gehirn, in den Hormonen und bis in die Gene körperlich verankert. Damit seien diese Unterschiede festlegt oder zumindest vorbestimmt. Gesellschaftliche Faktoren könnten höchstens ihre Prägnanz und Polarisierung beeinflussen. Der deterministische Erklärungsansatz wird zwar immer noch popularisiert, diese Extremposition des festgelegten geschlechtlichen Gehirns ist im neurowissenschaftlichen Diskurs aber heute nicht mehr haltbar. Denn unser Gehirn ist keine unveränderliche Materie. Es ist ›plastisch‹, verändert sich fortwährend mit unseren Erfahrungen. Diese Veränderbarkeit und prinzipielle Modifizierbarkeit der ›biologischen Natur‹ verschränkt sich heute mit den Anforderungen einer Leistungsgesellschaft, in der das Gehirn zum Werkzeug wird, zur Ressource und Bioaktie, um sich erfolgreich zu positionieren. An der Schnittstelle von Medizin und Neurotechnologien wird das Gehirn zum Modernisierungsinstrument, optimierbar und zu optimieren durch vielfältigste Selbst- und Fremdtechnologien, die tief in den Körper eingreifen. Das muss nicht unbedingt negativ sein. Warum sollen wir uns nicht mit Hilfe von Neurotechnologien weiter entwickeln  ? Warum nicht leistungsfähiger, kon127

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zentrierter, flexibler, selbstbewusster werden  ? Es stellt sich allerdings die Frage, welche Ziele und Normen hier – insbesondere qua Geschlecht – zu erfüllen sind. Gleichzeitig werden durch Neurotechnologien ›Grenzen überschritten‹. Mit unseren technologisch aufgerüsteten Körpern und Gehirnen werden wir zu Cyborgs, zu Hybriden zwischen Natur, Kultur und Technik. Besteht mit den modernen Cyborgs die Möglichkeit, wie es die Gendertheoretikerinnen Donna Haraway und neuerdings Karen Barad angedacht haben, die in einer langen Historie tief eingeschriebenen Geschlechterzuschreibungen entlang der Grenzlinien der weiblich konnotierten Natur versus der männlich konnotierten Technik sowie der männlich konnotierten Rationalität versus der weiblich konnotierten Emotionalität zu überwinden  ? Was passiert im Spannungsfeld des einerseits determinierten und gleichzeitig modulierbaren Gehirns unter der Genderperspektive  ?

Die Verkörperung des Denkens im sexed brain  : eine schnelle Querschau Eines der wichtigsten Ergebnisse der vergleichenden Analyse zu den Ergebnissen der Hirnforschung (vgl. Schmitz 2010a) ist die ›widersprüchliche Befundlage‹. Detaillierte Analysen der Genderforschung haben systematisch ›methodische Verzerrungen‹ (u. a. Anzahl der Versuchspersonen, Auswahl/Weglassen von Befunden, Differenzstatistik) aufgezeigt, die einen Vergleich von Studien fraglich machen. Unzulässige Generalisierungen von Einzeluntersuchungen auf generelle Gesetzmäßigkeiten (alle Frauen – alle Männer – die generellen Fähigkeiten) wurden deutlich. Insbesondere in der populärwissenschaftlichen Verbreitung tauchen weder die gegensätzlichen Befunde noch die methodischen Variationen auf. Die Wissensproduktion ist fokussiert auf die ›Entdeckung‹ von Geschlechterdifferenzen, nicht auf Überschneidungen oder Variabilitäten. Diese Analysen des feministischen Empirismus sind wichtig zur Sensibilisierung innerhalb der neurowissenschaftlichen Community, wie ihre zumindest marginale Aufnahme in den Fächerkanon zeigt (vgl. Kaiser/Haller/Schmitz/Nitsch 2009  ; Sommer/ Aleman /Bouma/Kahn 2004  ; Wallentin 2009). Auf einer weiteren Ebene geht es um die kritische Reflexion der angeblichen Objektivität naturwissenschaftlich-technischer Verfahren. Bilder des Brain Imaging sind keine direkten Abbilder aus dem Innern des Gehirns. Erst mit Hilfe von vielen informationstechnischen Berechnungen und computergrafischen Verfahren werden aus den Daten des Scanners Bilder konstruiert. Im Verlauf der Konstruktionsprozesse wird eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen, was ins 128

Gehirnoptimierung – (k)ein geschlechtsloses Feld  ?1

Bild hineinkommt, was weggelassen wird, was hervorgehoben wird oder in den Hintergrund tritt (vgl. Beaulieu 2002  ; Burri 2008  ; Schmitz 2004). Wenn wir den interpretatorischen Rahmen der Befunde um die Perspektive der ›Hirnplastizität‹ erweitern, liefern eine Reihe von Untersuchungen Hinweise, wie sich Hirnstrukturen und -funktionen erfahrungsabhängig ausbilden und welche soziokulturellen Aspekte auf diese Prozesse Einfluss nehmen, sich gewissermaßen im Gehirn ›verkörpern‹ (Beispiele in Schmitz 2010a). Dem Konzept der ›Hirnplastizität‹ folgend werden die materiellen Netzwerke aus Nervenzellen und Synapsen in der Hirnrinde stabilisiert oder umgebaut  ; die Natur des Gehirns verändert sich beständig in Intra-Aktionen mit der Umwelt, der Kultur. Der Einbezug solcher Erklärungsansätze hinterfragt auch, welche ›Beweiskraft‹ Hirnbilder für die biologische Bestimmung haben. Ein neurowissenschaftlicher Befund zur Hirnaktivierungen bei der Lösung bestimmter Aufgaben oder zur Größe bestimmter Hirnareale, der zu einem bestimmten Lebenszeitpunkt von einer Person erhoben wird, ist nur eine Momentaufnahme der körperlichen Realität. Sie sagt nichts über die Entstehung von Strukturen oder Aktivierungen aus. Interpretationen in unterschiedliche theoretische Richtungen sind möglich, z. B. für eine biologisch deterministische oder für eine ›hirnplastische‹ Theorie. Die enorme Dynamik der ›Hirnplastizität‹ kann zur Erklärung der Vielfalt von Gehirnen beitragen, denn jeder Mensch macht unterschiedliche Erfahrungen (interindividuelle Variabilität) und verändert sein Gehirn fortwährend durch Lernprozesse (intraindividuelle Variabilität). Das erklärt, warum die Variabilität von ›Geschlechtergehirnen‹ vielfach die Geschlechtergrenzen überschreiten. Gleichzeitig brechen in einem solchen prozessualen Netzwerk dichotome Kategorisierungen von weiblichen oder männlichen Gehirnen, genereller von Frau oder Mann, zugunsten von Diversitäts-Ansätzen auf. Umgekehrt können ähnliche Erfahrungen zur Ausbildung von vergleichbaren Hirnstrukturen und -funktionen führen. Eine naheliegende Alternativhypothese zur biologischen Determination von ›Geschlechtergehirnen‹ wäre demzufolge, dass die immer noch ausgeprägte ›Geschlechtersozialisation‹ in unserer Gesellschaft Ursache von Gruppenunterschieden im Gehirn von Erwachsenen sein kann.

Neurotechnologien Mit der »Decade of the Brain« wurde in den 1990er Jahren für die Neurowissenschaften ein gemeinsames Ziel ausgerufen  : die Weiterentwicklung der Erkenntnistheorie zum Gehirn. Der moderne neurobiologische Determinismus 129

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charakterisiert hier wiederum sämtliche Verhaltensprozesse und Eigenschaften aus der biologischen Fundierung des Systems Gehirn. Allerdings löst sich diese Form des Determinismus zunehmend von der Frage, ob das Gehirn in seinen Strukturen und Funktionen angeboren ist oder ob es sich aufgrund von äußeren Einflüssen formt. Es geht weniger darum, dass das Gehirn selbstdeterminiert ist, sondern dass es in seiner aktuell vorhandenen Ausgestaltung als determinierend für jegliche Denkprozesse und Handlungsweisen verstanden wird. Es ist dasjenige körperliche Organ, das den Menschen bestimmt. Francisco Ortega und Fernando Vidal (2007) sprechen in diesem Zusammenhang vom modernen Menschen als ›cerebralem Subjekt‹. Wir haben nicht nur ein Gehirn, wir sind unser Gehirn. Verhalten, Denken, Identität und Persönlichkeit amalgamieren mit der Hirnbiologie und das ›cerebrale Subjekt‹ wird zur zentralen Kategorie, wenn es um Definitionen des Selbst, um gesellschaftliche Prozesse oder um ein zukünftiges Menschenbild geht. Dieser Blickwinkel hat zur Ausbildung neuer transdisziplinärer Forschungs- und Anwendungsfelder geführt, in denen weit reichende gesellschaftliche Kontexte neu verhandelt werden, z. B. Neuropädagogik, Neuroökonomie, Neuromarketing, Neurotheologie, Neuroästhetik u. v. m. Die Ausbreitung einer solchen modernen ›Neurokultur‹ fußt auf der engen Vernetzung biologischer Forschungsansätze mit technologischen Entwicklungen, den Neurotechnologien. Ohne die Verfahren des Brain Imaging sind Untersuchungen der dem ›cerebralen Subjekt‹ zugrunde liegenden Hirnprozesse nicht mehr denkbar. Fehlfunktionen eben dieses Subjektes sollen durch technologische Eingriffe in das Gehirn aufgehoben oder zumindest die damit verbundenen Beeinträchtigungen vermindert werden (enabeling). Im Feld der Neurotechnologien geht es zudem um Verbesserung von Fähigkeiten gesunder Menschen (enhancement).2 Dabei sind Neurotechnologien auf die Offenheit des Systems gegenüber Außeneinwirkungen angewiesen. Ohne die Veränderbarkeit des Gehirns können sie keine Wirkungen zeigen. Infolge dieser tief greifenden Vernetzungen wird das ›cerebrale Subjekt‹ zum ›biotechnologischen Subjekt‹.

Entwicklungen im Bereich der Mensch → Computer → Kommunikation Auszugsweise möchte ich im Folgenden auf einige Ansätze eingehen, die unter dem Stichwort der Brain-Computer-Interfaces (BCI) zunächst im biomedizinischen Bereich entwickelt und eingesetzt wurden, um Kommunikations- und 130

Gehirnoptimierung – (k)ein geschlechtsloses Feld  ?1

Bewegungseinschränkungen bei PatientInnen infolge von Erkrankungen oder Unfällen zumindest teilweise wiederherzustellen. Das Grundprinzip dieser Neurotechnologien ist die Erfassung von Signalmustern aus dem Gehirn, aus denen vom Computer Kommandos zur Steuerung einer externen Maschine (eines Computercursors oder anderer technischer Geräte) generiert werden. Diese Technologie erscheint zunächst als eine Unterstützung der gerichteten Kommunikation vom Inneren des Menschen nach außen in die Umwelt. ›Nicht-invasive‹ Brain-Computer-Interfaces nutzen vorwiegend EEG-Signale zur Steuerung externer Geräte. Der Thought-Translation-Device ermöglicht beispielsweise gelähmten PatientInnen eine Kommunikation mit der Umwelt über den Computer (Hinterberger 2008). Auf diese Weise erlernte der ALS-Patient3 Hans Peter Salzmann, seine langsamen Hirnpotenziale (slow cortical potentials) anzuheben oder abzusenken. Diese Veränderung wurde über den Computer zur Auswahl oder Ablehnung von Buchstaben genutzt. Nach einjährigem Training konnte Salzmann 1999 – sehr langsam (zwei Buchstaben/Minute) – einen Text schreiben  ; inzwischen kann er auch Webseiten und Links auswählen. Nicht nur der Mensch und sein Gehirn müssen über das visuelle Feedback erfolgreicher oder eben nicht erfolgreicher »EEG-Aktionen«, 4 lernen, mit der Maschine zu ›kommunizieren‹. Auch der Computer muss lernen  : komplexe Datenverarbeitung, Signalspeicherung, Entwicklung von Algorithmen zur Signalerkennung und Umsetzung in Kommandos für den Cursor. ›Invasive‹ BCI greifen tiefer in das Gehirn ein. Neuronale Signalmuster werden hier durch implantierte Elektroden bei der Vorstellung von bestimmten Bewegungen aus motorischen Hirnarealen aufgezeichnet und an den Computer weitergeleitet. Aus den neuronalen Aktivierungsmustern werden dann mit Hilfe von informationstechnischen Programmen und Algorithmen entsprechende Kommandos zur Steuerung einer Computermaus generiert. Der Patient Matthew Nagle, 2001 nach einem Überfall vom Hals abwärts gelähmt, lernte im Projekt »Braingate« in 57 Sitzungen über neun Monate, einen Computercursor – zur Nutzung von E-Mail, TV-Bedienung, einer Handprothese, eines Roboterarms und diversen Computerspielen – zu bewegen (Hochberg u. a. 2006). Der Vorteil dieser tief ins Gehirn eingreifenden Technologie ist die mehrdimensionale Erfassung und Kodierung neuronaler Muster, die mehr Freiheitsgrade der Bewegung erlaubt und eine Umsetzung in eine Cursor-Bewegung schon nach drei Minuten ermöglicht. Aber auch hier musste der Computer erst lernen aus der Aktivierung von Neuronengruppen im motorischen Kortex spezifische Bewegungsrichtungen zu kodieren, Filter für diese Bewegungsmuster zu erstellen, das System vor jedem Versuch neu zu kalibrieren (denn auch Nag131

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les Gehirn änderte sich zwischen den Sitzungen). Auch wenn in Publikationen und Internetberichten die erfolgreiche technologische Kommunikationsunterstützung Matthew Nagles über Hirnchips gefeiert wird, so stellte sich doch der Erfolg als begrenzt heraus. Die Bewegung des Cursors war z. T. ungenau, zeitverzögert und hochkonzentrationsabhängig (vgl. Duncan 2005, 74). Neben der Problematik von Hirnverletzungen durch Hirnimplantate stellte sich das Problem, dass nach sechs Monaten 50 Prozent der Chip-Elektroden ausgefallen waren und eine neue Operation erforderlich wurde. Matthew Nagle setzte den Versuch nach einem Jahr ab, weil er noch sprechen konnte und die Nutzung anderer Hilfsmittel zur Kommunikationsunterstützung für ihn einfacher und hilfreicher war.5 Dritter prominenter Ansatz im Rahmen der BCI sind die von der Gruppe um Miguel Nicolelis und Michael Lebedev an Affen (Rhesusaffen und Makaken) entwickelten Neuroprothesen. Auch diese Forscher analysierten mit Hilfe von Hirnimplantaten motorische Muster zur Bewegungskontrolle, zunächst mit einem 320-Elektroden Array (Nicolelis 2003), jüngst sogar mit über 700 Elektroden (Nicolelis/Lebedev 2009). Die Affen mussten einen Joystick bewegen um auf einem Bildschirm einen Ball in eine Box zu navigieren  ; ein Erfolg wurde mit Futter belohnt. Die komplexe Musterdetektion der neuronalen Aktivität über mehrere motorische Areale hinweg wurde in die Steuerung eines Roboterarms übersetzt, der die entsprechende Bewegung parallel durchführte. Wurde der Joystick entfernt, so stellte der Affe seine Armbewegung zunehmend ein, aber die Bewegung des Roboterarmes blieb bestehen. Nicolelis und Kollegen schlossen daraus, dass der Affe gelernt hatte, den Roboterarm rein neuronal zu steuern.6 Fünf Jahre benötigte das Forschungsteam, um aus den neuronalen Mustern relevante Algorithmen zur Bewegungskoordination des Roboterarms zu entwickeln. Das zeigt, wie hochkomplex diese motorische Steuerung ist. Zudem erweist sich die Perspektive auf BCI als eine gerichtete Verbesserung des Informationsflusses vom Inneren des Gehirns nach außen als zu einseitig. Ziel und Voraussetzung für eine effektive Gehirn-Maschine-Kommunikation ist vielmehr ein sogenannter closed loop: ein geschlossener Kreis. Ohne die Rückmeldung einer erfolgten Aktion und deren Verarbeitung im Gehirn kann sich keine erfolgreiche Kommunikation entwickeln. Nur wenn Gehirn und Maschine voneinander lernen, indem die Rückmeldungen des jeweiligen ›Partners‹ verarbeitet werden, ist die Schnittstelle erfolgreich. Sowohl die Plastizität des Gehirns als auch die Adaptivität der Algorithmen im Computer sind Voraussetzungen für diese Neurotechnologien. Lebedev und Nicolelis stellen das Prinzip des multiplen Feedbacks deutlich heraus: visuell über den Computerbildschirm, über Belohnung (bei 132

Gehirnoptimierung – (k)ein geschlechtsloses Feld  ?1

Affen über Futter, bei Menschen über erfolgreiche Aktion) und bei den Affen zusätzlich senso-motorisch, indem die motorischen Bewegungsrichtungen des Roboterarmes in die entsprechenden Hirnareale der zentralnervösen Körperrepräsentationen eingespeist wurden (Lebedev/Nicolelis 2006). Voraussetzung ist wiederum ›Hirnplastizität‹ und Lernen. Die zentrale Repräsentation des »dritten Armes« beim Affen soll sogar über Internet von außen angesteuert werden können (Nicolelis/Lebedev 2009). Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass diese Forschungen größtenteils von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency, Forschungsabteilung des amerikanischen Militärs) finanziert wurden (vgl. Hoag 2003).

Entwicklungen und Anwendungen im Bereich der Hirnstimulation Der zweite große Forschungs- und Entwicklungsbereich der Neurotechnologien betrifft technische und pharmakologische Hirnstimulationen zur Verbesserung von Leistungsfähigkeiten im Neuroenhancement. Er impliziert vordergründig eine umgekehrte Gerichtetheit von außen nach innen. Die Aktivierung bestimmter Hirnareale durch wiederholte Magnetimpulse wird beispielsweise in der transkranialen magnetischen Stimulation (TMS) genutzt, um die Aktivität und Struktur von Nervennetzen zu verändern. In den 1980er Jahren zur Beeinflussung von Depression, zur Regulation des Parkinsontremors und zur Minderung epileptischer Anfälle entwickelt, werden inzwischen Anwendungen der TMS erprobt, um bestimmte kognitive Funktionen zu fördern. Hochfrequente Impulse (20–60 Hz) führen zur Erregung, niederfrequente zur Hemmung und Funktionsblockierung in den angesprochenen Kortexarealen. Auch hier spielt die ›Hirnplastizität‹ eine entscheidende Rolle, denn die nachhaltige Wirksamkeit der technologischen Hirnstimulation setzt Veränderungen der hirnfunktionellen Grundlagen voraus. Die wohl intensivste Diskussion über Eingriffe ins Gehirn zur Beeinflussung von Eigenschaften und Fähigkeiten findet im Rahmen des pharmakologischen Neuroenhancements statt. Neuropharmaka zur Gedächtnisstärkung (z. B. Modafinil), zur Konzentrationssteigerung (z. B. Ritalin) oder zur Stimmungsaufhellung (z. B. Fluctin, bekannter als Prozac) wurden ebenfalls im biomedizinischen Bereich entwickelt. Auch sie wirken über hirnplastische Veränderungen, indem sie die biochemische Informationsübertragung an den Synapsen sensibilisieren oder hemmen. Viel tiefer noch nehmen Wirkstoffe 133

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auf die Aktivierung neuronaler Gene Einfluss (CREB-Modulatoren), die zur Erhöhung der synaptischen Vernetzung führen sollen. Statt der immer wieder betonten nur kurzfristigen Wirkung von ›Gedächtnispillen‹, handelt es sich tatsächlich um langfristige Eingriffe, die als Langzeitpotenzierung die Grundlage des Lernens bilden. Für alle Neurotechnologien gilt also  : Sie vernetzen nicht nur Technologie und Biologie, sie verändern sich auch gegenseitig nachhaltig.

Grenzüberschreitungen von Natur – Kultur – Technik  : ihre Potenziale und Grenzen für Genderdiskurse Ich möchte das neurotechnologische Feld kurz verlassen und einen theoretischen Exkurs einschieben. Welche Potenziale können bio-technologische ›Hybridisierungen‹ für das Aufbrechen von Geschlechterzuschreibungen haben  ? Donna Haraway benutzte die Figur des Cyborg als ein Symbol, eine Metapher (in ihren Worten eine Erzählfigur) für Grenzüberschreitungen zwischen Natur, Kultur und Technik (vgl. Haraway 1995a). Die Natur war nie unschuldig-passives Gegenüber von Kultur und Technik, nicht vordiskursiv, nicht reine Biologie. Unser Verhältnis zur Natur war immer geprägt von Bedeutungszuschreibungen und machtvollen Handlungen. Die ›artefaktische Natur‹ wurde schon immer von »weltverändernden technowissenschaftlichen Praktiken durch bestimmte kollektive AkteurInnen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten hergestellt« (Haraway 1995b, 14). Entscheidend für die Entwicklung des Herrschaftsverhältnisses der westlich-zivilisierten Gesellschaft über die Natur war jedoch die Abtrennung, die Dichotomisierung von Natur gegenüber Kultur und Technik. Denn für Naturbeherrschung und Naturausbeute war die Vorstellung der Natur als ›das Andere‹ – als passives Objekt und als ausbeutbare Ressource – notwendige Voraussetzung, damit Natur von gesellschaftlichen Subjekten mit Hilfe von Technologien angeeignet werden konnte. Diese Polarisierung ist vielfach verwoben mit geschlechtlich konnotierten Zuschreibungen von Natur und Weiblichkeit versus Kultur, Technik und Männlichkeit. Die Analysen der Gender and Science Studies7 haben diese und weitere damit verbundene geschlechtlichen Kodierungen deutlich aufgezeigt  : Männlichkeit, Rationalität, Erkenntnisfähigkeit, Subjektstatus und Herrschaftsfähigkeit auf Seiten der Kultur  ; Weiblichkeit, Emotionalität, Reproduktion, Objektstatus und Unterwerfung auf Seiten der Natur. Wenn nun zunehmend die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Tier und Mensch, zwischen Organismus und Maschine und zwischen Materie 134

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und Information aufbrechen, wenn Natur, Kultur und Technik ›hybridisieren‹, dann – und das war die Hoffnung von Donna Haraway (1995a) – könnten die zentralen Dichotomien und die damit verbundenen Geschlechterzuschreibungen ad absurdum geführt werden. Der technowissenschaftliche Genderdiskurs debattiert seit 15 Jahren die Frage, ob diese Vision der Geschlechterdekonstruktion verwirklichbar ist. Cyborgs, verstanden als materiell-semiotische Netzwerke (Haraway 1995a), sind real (materiell), aber sie tragen eben auch Bedeutungen mit sich. Schon Haraway betonte, dass solche Netzwerke nur Veränderung bringen können, wenn alle Akteure (Tiere, Menschen, organische Körper, technische Apparaturen, Materie und Information) gleichwertig in Interaktion treten, wenn sie handlungs- und artikulationsfähig sind. Karen Barad versucht ebenso, der Materie mit ihrem Konzept des agential realism eine aktive Rolle, also eine Handlungsfähigkeit (agency) an der Entwicklung von weltlichen Phänomenen zu geben (vgl. Barad 1996). Sie wendet sich damit (wie Haraway) gegen die repräsentationalistische Trennung, dass Materie/Natur gegeben sei (ontologisch), und dass die Wissenschaft dieses Ding unabhängig erklären könne (epistemologisch). Gleichzeitig wendet sie sich gegen solche konstruktivistischen Ansätze, die Materie als vollständig sprachlich konstruiert ansehen. In ihrer ontoepistem-ology (Barad 2003, 829)8 sind Phänomene unserer Welt nicht nur Produkte des sprachlichen Diskurses, des iterativen Zitierens oder der sprachlichen Performativität. Stattdessen sei es wichtig, zu verstehen, wie Materie sich materialisiert (»how matter comes to matter«), und zwar in ihren Praktiken. Dieses Tun (doing), welches das Phänomen erst generiere, zeichne sich durch sprachliche und nicht-sprachliche IntraAktionen zwischen organischen und maschinellen, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren aus. Barad spricht bewusst von Intra-Aktionen in Abgrenzung von Inter-Aktionen, um deutlich zu machen, dass das Phänomen sich in diesen Wechselwirkungen dynamisch konstituiert (also nicht im Ding, sondern ›dazwischen‹), und dass organische und technische Wechselwirkungen sowie kulturelle Bedeutungszuschreibungen in Phänomenen amalgamieren. Ein Verständnis von Phänomenen kann erreicht werden, wenn wir die dynamischen Prozesse der Intra-Aktionen genauer in den Blick nehmen  : das Zusammenwirken der Materialisierungen, der technischen Vernetzungen und der Ein- und Auswirkungen kultureller Bedeutungen. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass wir mit solchen situativen Einschnitten (agential cuts) immer einen Ausschnitt aus dem dynamischen Phänomengeschehen konstituieren, den es sowohl transparent zu machen als auch zu reflektieren gilt (Barad 1996, 179 135

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ff.). Ich setzte im Folgenden einen solchen agential cut im Phänomen der Neurotechnologien in einer geschlechtlich strukturierten Gesellschaft.

Das ›cerebrale Subjekt‹ auf dem neoliberalen Markt – geschlechtslos  ? Das neurotechnologisch veränderbare ›cerebrale Subjekt‹ ist auf dem Markt der Leistungsgesellschaft eingebunden in gesellschaftliche Optimierungsdiskurse und moderne Biopolitiken. Wer optimiert hier wen wozu  ? Welche gesellschaftlichen Normierungsstrategien werden mit den Technologien der Hirnoptimierung verbunden  ? Lösen sich tatsächlich vor den neuen Paradigmen plastischer, umweltoffener, neurotechnologisch vernetzter Gehirne Geschlechterzuschreibungen und -stereotype auf  ? Welche Zuschreibungen und Geschlechterideologien bleiben bestehen, werden eventuell sogar noch verstärkt  ? Wir verlassen den medizinischen Bereich und schauen einmal, wie Neurotechnologien im gesellschaftlichen Feld eingesetzt werden. Brain-Computer-Interfaces: vom enabeling zum enhancement Das Graz-BCI9 ermöglicht Navigationssteuerung durch EEG-Interfaces, z. B. in virtuellen Räumen. Die mediale Präsentation zeigt eine Versuchsperson bei der Navigation in einem artifiziellen urbanen Gelände. Mit so genannten smart home-Technologien wird die Steuerung bestimmter Funktionen im eigenen Zuhause ebenfalls über EEG-Interfaces vorgestellt.10 Der Nutzer (sic  !) aktiviert z. B. Licht, Tür, Fernseher oder die Musikanlage. Diese Szenarien erinnern frappant an Analysen von Cecile Crutzen (2005) über die Entwicklung solcher homeTechnologien für den viel beschäftigten Manager (der sich das leisten kann), wenn er denn müde von der Arbeit nach Hause kommt. Zu verzeichnen ist weiterhin ein Boom auf dem Spielemarkt  : EEG-BrainComputer-Interfaces für vernetzte Ping-Pong-Spieler über Gedanken bis hin zur komplexeren Steuerung von virtuellen Figuren in Computerspielen. 11 Interessant und vielfach medial präsentiert ist eine Entwicklung unter der Bezeichnung Emotiv-System, wirbt diese doch gerade damit, gedankliche Emotionen (Wut, Freude, Erstaunen) in die Steuerung der eigenen Spielfigur umsetzen zu können. Inwieweit das System tatsächlich solchermaßen funktioniert, bleibt fraglich, insbesondere vor dem Hintergrund der langwierigen und hochkomplexen Entwicklung der Algorithmen, die Nicolelis und sein Team zu der Erkennung von zent136

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ralnervösen Bewegungsmustern benötigten (s. o.). Meines Erachtens erfolgt die ›Abnahme‹ von angeblicher Emotionsinformation vielmehr über die Erfassung von Mimik und Gesichtsmuskulatur. In der Werbung für dieses Produkt wird jedoch die enge Konnotation mit weiblicher Emotionalität deutlich  ; so zeigte das Werbebild für die Cebit 2009 doch – ausnahmsweise – im Vordergrund eine weibliche Silhouette mit dem Emotiv-Headset.12 Ungeachtet dessen ist im Hintergrund das blinkende Gehirn in einer männlichen Netz-Silhouette abgebildet. Von hoher Bedeutung sind neurotechnologische Entwicklungen für das Militär, dem es – gar nicht versteckt, sondern offen ausgesprochen (vgl. Hoag 2003) – um die Entwicklung des universal soldier geht  : schneller, härter, kampffähiger, allzeit einsatzbereit. Schon 2003 gingen 24 Millionen US-Dollar (zehn Prozent des Gesamtbudgets) der DARPA in entsprechende Forschungsvorhaben (ebd.). Im »Revolutionizing Prosthetics Program« sollen kriegsverletzte Soldaten einen künstlichen Arm neuronal steuern können.13 Im Jahr 2007 flossen 14,2 bis 18,1 Millionen USD in die Prototypentwicklung, im Jahr 2009 schrieb die DARPA das Folgeprojekt im Umfang von 30,4 bis 43,1 Millionen USD zur Brain-ChipEntwicklung, zur Verbesserung der drahtlosen Kommunikation und zu ersten klinischen Tests aus. Beteiligt sind an diesen Forschungen weltweit universitäre, klinische und wirtschaftliche Unternehmen, u. a. das Rehabilitation Institute of Chicago, die Johns Hopkins University und das Fraunhofer Institut Berlin. In weiteren Programmen geht es noch konkreter um die Vernetzung mit dem Gehirn. Die Northorp Grumman Corporation entwickelte, finanziert von der DARPA, erste Prototypen eines Cognitive Technology Threat Warning System.14 Dieses ›intelligente‹ neuro-optische System soll über die Abnahme der EEGAktivität der Soldaten zum Warnsystem ›geschult‹ werden. Das Computersystem erlerne hierzu Algorithmen vom Soldatengehirn, das unbewusst Gefahren detektiere, welche es selber aber nicht schnell genug umsetzen könne. Die technologische Erkennung von entsprechenden Gefahrenmuster (Feindbewegungen) werde dann dem Soldaten zurück gemeldet. Die erste Phase des Projektes (zwölf Monate) kostete 6,7 Millionen USD. Als Ziele der neurotechnologischen Optimierung lassen sich an diesen Beispielen bestimmte Phänomene konstatieren  : Verbesserung der Kommunikation, der Mobilität, der Vernetzung, der Einsatzbereitschaft, der Flexibilität. Ziemlich eindeutig sind dies Optimierungen für den modernen Menschen, der sich in der technologischen Informationsgesellschaft schnell und effektiv behaupten will. Geschlechterkonnotationen werden vorderhand negiert, sie sind auch nicht ganz eindeutig, aber einige werden sichtbar  : der flexible Manager im urbanen Umfeld, vernetzt durch sein gedankengesteuertes Handy, der sein smart home bedient  ; der Computerspieler im Wettbewerb und 137

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dagegen die emotionale Spielerin  ; das maskuline Bild des universal soldiers, auch wenn die Prothesen ebenso für verletzte Soldatinnen eingesetzt werden sollen. Neuroenhancement – a little matter of gender Wenn es um die Leistungssteigerung bestimmter kognitiver Fähigkeiten durch transkranielle Magnetstimulation geht, treffen wir immer wieder auf Savants mit einer sogenannten Inselbegabung. Diese Menschen, meist als Autisten diagnostiziert, und insbesondere die Gruppe der so genannten Asperger-Autisten oder hoch-funktionale Autisten weisen neben sozialen Defiziten hochspezifische Fähigkeiten auf. Kim Peek konnte für jede amerikanische Stadt die Postleitzahl und Telefonvorwahl benennen und Auskunft geben, auf welchem Highway man dorthin gelangt. Eigenen Angaben zufolge kannte er den Inhalt von 12.000 Büchern nahezu auswendig. Orlando Serrell wurde mit zehn Jahren von einem Baseball am Kopf getroffen und erinnert sich seither an jedes einzelne Detail seines Lebens. Daniel Tammett kann sich eine Reihe von 22.000 Ziffern merken und ist in der Lage, neue Sprachen (z. B. Finnisch) innerhalb einer Woche konversationsreif zu erlernen. Bei Stephen Wiltshire, auch genannt »die lebende Kamera«, wurde im Alter von drei Jahren Autismus diagnostiziert. Seine Inselbegabung ermöglicht es ihm, nach nur einem Rundflug ein sehr genaues und detailreiches Stadtbild von London, Rom, Hongkong oder Frankfurt zu zeichnen. Alan Snyder vom Center of the Mind in Australien (vgl. Snyder 2006) und Nils Birbaumer in Tübingen (vgl. Birbaumer 1999) gehen davon aus, dass diese Fähigkeiten zur detaillierten Informationsverarbeitung und Gedächtnissteigerung in allen Menschen schlummern. Es seien die ersten Verarbeitungsschritte bei der Mustererkennung oder beim Rechnen. ›Normale Menschen‹ filterten jedoch relevante Informationen und Assoziationen aus der Fülle der ständigen Informationsflut heraus. Asperger-Autisten vermerkten alle Details, aber sie seien eben nicht in der Lage, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und meist noch weniger, Verbindungen zwischen Emotionen und rationellen Denkprozessen herzustellen, die für soziales Verhalten notwendig sind. Wenn nun durch gezielte TMS die übergeordneten Prozesse gehemmt würden, dann könnten auch ›normale‹ Menschen bestimmte Leistungsfähigkeiten zur detaillierten Mustererkennung oder zur Verbesserung mathematischer Leistungen erwerben. Es ist auffällig, dass in diesen Zusammenhängen vorwiegend Männer genannt werden. Die Anzahl der diagnostizierten männlichen Autisten beträgt das Fünffache der weiblichen, bei Asperger-Autisten ist das Geschlechterverhältnis sogar 138

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9  :1 (vgl. Karafyllis 2009). Die Dominanz männlicher Savants wird in Verbindung gebracht mit der Testosteronwirkung im männlichen Gehirn. Testosteron fördere die Verarbeitung von Einzelfunktionen und erkläre daher die Fähigkeiten männlicher Savants zur Mustererkennung, Rechenleistung und zum räumlichen und Detailgedächtnis. Donald Treffert führt darüber hinaus unreflektiert die angeblich stärkere Lateralität männlicher Gehirne an, welche die Dominanz der Verarbeitung dieser Savant-Fähigkeiten in der rechten Hirnhälfte erkläre (Treffert 2009). Diese Geschlechterzuschreibung hat Nicole Karafyllis (2009) als »extreme male brain theory« des Psychologen und Autismusforschers Simon Baron-Cohens dekonstruiert. Autistische Männergehirne werden ihr zu Folge als Zukunftsträger der modernen technologischen Gesellschaft konstituiert.15 Eine der wenigen Asperger-Frauen, die nahezu als Einzige in den Medien auftaucht, ist die Biologieprofessorin Temple Grandin. Ihre Savant-Begabung liege in ihrer besonderen Empathie für Tiere. Temple Grandin hat eine Neuarchitektur von Schlachthöfen entwickelt, in der Tiere weniger Stress und Angst zeigen. Es gibt noch andere weibliche Savants mit Begabungen zur Detailverarbeitung – und auch Templin Grandin hat eine außergewöhnliche räumliche Vorstellungskraft (nach Bahon-Cohen hat sie ein männliches Gehirn) – aber mediale Repräsentationen zeigen sie »bevorzugt im ländlichen Umfeld mit den Tieren, anders als die computerorientierten Autistenmänner« (Karafyllis 2009). Karafyllis arbeitet heraus, wie das emotionale weibliche Pendant zum technisierten Autistenmann in den Visionen der Zukunftsgesellschaft als biologisch prädestiniert für emotionale und soziale Reproduktionsarbeit präsentiert wird. Mit diesen Zuschreibungen an männliche Rationalität und weibliche Emotionalität in mind greife ich aus der Fülle der sogenannten ›smart drugs‹ die beiden bekanntesten neuropharmakologischen enhancer Ritalin und Prozac heraus. Ritalin (Wirkstoff Methylphenidat mit Amphetaminwirkung auf Dopamin) ist zugelassen zur Behandlung von ADHS und Narkolepsie. Es soll Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit verbessern, wird in Deutschland inzwischen ca. 70.000, meist sechs- bis 18-jährige Jungen verschrieben. Prozac (Wirkstoff Fluoxetin, ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) ist zugelassen zur Behandlung von Depressionen  ; Zwangsstörungen oder Bulimie. Es wirke stimmungsaufhellend, reduziere Zwangshandlungen und -gedanken. Seit der Zulassung 1987 wurden ca. 40 Millionen KonsumentInnen in mehr als 100 Ländern behandelt. Francis Fukuyama (Professor für Politologie an der Johns Hopkins University in Washington und bis 2005 Berater des US-Bioethic Council) sprach schon 2002 in einem »Spiegel«-Interview bedeutende Worte  : »Mehr und mehr Frauen 139

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nehmen ›Prozac‹, ein Anti-Depressivum, das in den USA eine Art feministische Medizin geworden ist. […] Insofern bringen Ritalin und Prozac beide Geschlechter zu ähnlichen Verhaltensmustern  : Die Männer sind weniger aggressiv, die Frauen sind selbstbewusster.« (Kurbjuweit/Spörl 2002, 123). Petra Scharper-Rinkel merkt dazu an, dass es zwar verlockend sei, Prozac als »ein Mittel der ›praktischen‹ Dekonstruktion der herrschenden Geschlechterverhältnisse« (Scharper-Rinkel 2004, 94) zu sehen. Doch zeigt sie durch eine genaue Analyse der Argumentationen, ebenso wie Linda Blum und Nena Stracuzzi (2004), dass Veränderungen nur im Rahmen bestehender Geschlechterhierarchien möglich seien. Denn neben dem generellen Optimierungsparadigma durch Neuroenhancement schwingen auch in diesem Feld Geschlechterkonnotationen mit  : Steigerung männlicher Rechenleistung und Konzentration versus Steigerung des Selbstbewusstseins der emotionalen Frau, insbesondere der Karrierefrau.

Neurotechnologien als Grenzüberschreitungen  ? Ich habe einige Schlaglichter auf aktuelle Diskurse um Neurotechnologien und die Optimierung des ›cerebralen Subjekts‹ geworfen. Ausgespart bleiben an dieser Stelle die medizin-ethischen Auseinandersetzungen über Nebenwirkungen und Folgenabschätzung, die gesellschaftliche Frage nach Zugang und Verteilungsgerechtigkeit sowie die Identitätsdebatte, die eng mit der Frage nach unserem Selbstbild und den generellen Vorstellungen zur Technisierung des Humanen verknüpft ist (vgl. Clausen/Müller 2009  ; Schöne-Seifert/Talbot/Opolka/ Ach 2008). Mir ging es darum, im Baradschen Sinne einigen Intra-Aktionen nachzuspüren, um Phänomene der Neurotechnologien hinsichtlich ihrer Potenziale, aber auch ihrer Grenzen zur Überwindung von Geschlechterzuschreibungen zu hinterfragen. Das Feld der Neurotechnologien entwickelt und verändert sich rasant. Das macht die Analyse einerseits schwierig, andererseits aber auch hochinteressant. Die treibende Kraft des neurotechnologisch optimierbaren, ›cerebralen Subjekts‹ liegt in der Leistungsoptimierung für den modernen Arbeitsmarkt, mit der Kompetenz zur zeitlichen und räumlichen Flexibilität, zum projektbezogenen Einsatz der eigenen Arbeitskapazitäten, ebenso wie zur Formung des eigenen Körpers bzw. Gehirns für eben diese Kompetenzen (vgl. Degele/Schmitz 2009). Die aktuelle Neurotechnologie schert sich nicht darum, ob Hirnstrukturen und -funktionen so sind wie sie sind, weil sie angeboren oder erlernt wurden. Das 140

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Gehirn muss sogar für den effektiven Einsatz dieser Technologien plastisch sein. Aber es bleibt essenziell. Das moderne Paradigma des determinierten und determinierenden Gehirns besagt, dass alle Prozesse aus der Struktur und Funktion des aktuellen Gehirns abgelesen werden könnten. Nur mit der Vorstellung einer solchermaßen vordiskursiven und abgeschlossenen Materialität ist Manipulation, Kontrolle und Optimierung möglich (vgl. Schmitz 2010b). Bleibt damit weiterhin die Trennung des Gehirns = Natur als Gegenüber von Geist = Kultur erhalten  ? Diese Trennung scheint mit alten Geschlechtereinschreibungen fast unlösbar verknüpft  : der klassische cartesianische Dualismus in männlich konnotierte Rationalität (Ziel der Optimierung) und in weiblich zugeschriebene Emotionalität (untergeordnet, zu unterdrücken oder bestenfalls Regulatorium). Wird also in den Zukunftsvisionen des technisierten Menschen die klassische Trennung und Hierarchie in Rationalität als ›Krone der Schöpfung‹ gegenüber Emotionalität/Intuition, bestenfalls als Beiwerk, erneut manifestiert  ? In vielen Diskussionen schwingt mit, die harte Technik (männlich) könne helfen, natürliche Schwächen (weiblich) zu überwinden. Auch das ist tief verwurzelt im Denkbild der Technik- und Naturwissenschaften seit der Aufklärung. Verfolgt man die Zukunftsvisionen der Neurotechnologie-VertreterInnen etwas genauer, dann geht es darum, Rationalität zu entkörpern. Cerebrotechniken werden die Versuche genannt, ein rationales Gehirn in den Computer einzubinden. Ich habe gezeigt, wie stark diesen Ansätzen immer noch Geschlechtereinschreibungen zugrunde liegen. In einer ganze Reihe der vorgestellten Entwicklungen in militärischen wie auch kommerziellen Feldern geht es um die Pointierung männlicher, ja hypermaskuliner (vgl. Cook 2004) Technokörper. Donna Haraway schreibt am Ende ihres Manifestes, sie wäre lieber Cyborg als Göttin (Haraway 1995a, 72). Es bleibt offen, ob dies eine tragfähige Alternative ist.

Anmerkungen 1 Dieser Artikel ist ein Abdruck von Sigrid Schmitz (2010), Gehirnoptimierung  – (k)ein geschlechtsloses Feld  ?, in  : Waltraud Ernst (Hg.), Ethik – Geschlecht – Medizin. Körpergeschichten in politischer Reflexion (= Internationale Frauen- und Genderforschung in Niedersachsen, Teilbd. 6). Berlin u. a., 111–130 (mit freundlicher Genehmigung des LIT-Verlags). 2 Zur Differenzierung der Begriffe enabeling und enhancement und der damit verbundenen Normbegriffe vgl. Degele/Schmitz 2009. 3 Bei der ALS = Amyotrophe Lateralsklerose nimmt die Muskelkontrolle bis zum vollständigen Verlust jeglicher Bewegungsfähigkeit ab. Im schlimmsten Fall, dem vollständigen Locked-in-Syndrom, sind die Menschen zwar geistig klar aber unfähig zur Kommunikation. 4 Die Trennung von ›bewussten‹ und ›unbewussten‹ Prozessen ist fraglich. Eine Anregung der

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Hirnpotenziale führt zur Auswahl von Buchstaben. Der Patient berichtete, dass er den »Druck im Gehirn« durch die Vorstellung einer schnellen Aktion »erhöhte«, um Buchstaben auszuwählen. Umgekehrt erzeugte er durch »gedankliche Leere« ein Hirnpotenzial zur Ablehnung eines Buchstabens.   5 Matthew Nagle starb infolge seiner Verletzung am 24.7.2007.   6 Auch bei den Tieren ist die Frage von ›bewusst‹ und ›unbewusst‹ nicht zu klären.   7 Der Begriff Gender and Science Studies entstammt der feministischen Naturwissenschaftsforschung (vgl. Ebeling/Schmitz 2006). Unter Einbezug der technischen Fächer und ihrer Schnittstellenbereiche wurde der Begriff Gender & STS (Science Technology Studies) üblich.   8 Barad verwendet die Begriffe onto-epistem-ology und epistem-ontology wechselweise.  9 http://bci.tugraz.at/ (4.1.2010). 10 http://www.gtec.at/products/g.BCIsys/bci.htm (4.2.2010). 11 http://technology.timesonline.co.uk/tol/news/tech_and_web/article3402734.ece(4.2.2010). 12 http://www.emotiv.com/epoc.html (26.11.2009). 13 An den verbleibenden Armnerven fungieren Elektrodenarrays als Schnittstelle und leiten Signale aus dem Gehirn per Funk an einen Taschencomputer am Gürtel des Soldaten weiter. Er übersetzt die Nervensignale in Steuerbefehle und funkt sie an ein zweites Interface im künstlichen Arm. Umgekehrt soll der künstliche Arm über den Minicomputer und die Schnittstelle im Arm Informationen an das Gehirn zurücksenden, um die Position des künstlichen Armes zu erfahren und das Objekt zu erfühlen  : http://www.darpa.mil/Docs/ prosthetics_f_s3_200807180945042. pdf (4.1.2010). 14 http://www.es.northropgrumman.com/news/2008/06/144249_Northrop_Grumman-Led_ Te.html (4.1.2010). 15 Eine Analyse der Baron-Cohenschen und Treffertschen Geschlechterdifferenzkonstruktionen steht noch aus, doch ist zu konstatieren, dass die Befundlage, die methodischen Einflüsse und interpretativen Verzerrungen ein wesentlich komplexeres Bild hormonell- zentralnervöser Interaktionen vermuten lassen, als dies die Autoren präsentieren.

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Autorinnen und Herausgeberinnen Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Dr.in phil. Mag.a art., geb. 1955 in Wien, Stu-

dium der Malerei und Grafik an der Hochschule für Angewandte Kunst Wien, Kunstgeschichte, Archäologie und Byzantinistik an der Universität Wien  ; Dissertation 1987. Kunstwissenschaftlerin, Journalistin und Ausstellungskuratorin in Wien, München, Passau, Ulm, St. Pölten und Krems. Lehrtätigkeit an der Universität Wien, an der Akademie der bildenden Künste und am Max Reinhardt Seminar der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Internationale Vortragstätigkeit. Art Critic Award 2007. Jury- und Beiratsmitglied für zahlreiche Institutionen und Museen. Seit 2009 im Aufsichtsrat des Kunsthistorischen Museums. Publikationen  : Imago Noctis – Die Nacht in der Kunst des Abendlandes. Wien/Köln/Weimar 2003  ; Lore Heuermann. On the Peak of Time. Klagenfurt/ Wien 2008  ; Die Nacht im Zwielicht (Ausstellungspublikation Wien, Belvedere 2012/13) und Texte für zahlreiche Ausstellungskataloge, etwa zu Giorgione (Wien 2004), Gustav Klimt (Wien 2013), Joseph Beuys (Krems 2008), Helga Philipp (St. Pölten 2009), Gelatin (Krems 2011), Kiki Kogelnik (Krems 2013) und Jürgen Klauke (Passau 2006). Kontakt  : [email protected] Christa Brüstle, Mag.a, Dr.in Privatdozentin, Musikwissenschafterin, seit 2011

Senior Scientist PostDoc am Institut für Musikästhetik und seit 2012 Leiterin des Zentrums für Genderforschung an der Kunstuniversität Graz. Sie studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Linguistik in Freiburg i. Br. und Frankfurt a. M. und promovierte 1996 über die Rezeptionsgeschichte Anton Bruckners. 1999–2005 und 2008 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin  ; 2008–2011 Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin  ; Lehraufträge an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«, an der Technischen Universität Berlin sowie an der Universität Wien. 2014 war sie Gastprofessorin für Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg. Aktuelle Publikationen (Auswahl)  : Macht. Ohnmacht. Zufall. Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater, hg. von Christa Brüstle, Clemens Risi, Stephanie Schwarz. Berlin 2011  ; Konzert-Szenen  : Bewegung – 145

Autorinnen und Herausgeberinnen

Performance – Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950–2000. Stuttgart 2013  ; Jacqueline Fontyn – Nulla dies sine nota. Autobiographie, Gespräche, Werke, hg. von Christa Brüstle. Wien 2013  ; Pop-Frauen der Gegenwart. Körper – Stimme – Image. Vermarktungsstrategien zwischen Selbstinszenierung und Fremdbestimmung, hg. von Christa Brüstle. Bielefeld 2015. Kontakt  : [email protected] Website  : www.kug.ac.at Andrea Ellmeier, Mag.a Dr.in, Historikerin, Leiterin der Koordinationsstelle für

Frauenförderung und Gender Studies der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, war Koordinatorin der Plattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck  ; war Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, war und ist Lehrbeauftragte an der mdw. Arbeitete und publizierte über Konsumgeschichte und Gender, europäische Kultur- und Medienpolitiken, Creative Industries, Kultur und Beschäftigung. Aktuelle Forschungsinteressen  : Geschlechterdemokratie und Sprache, Arbeitsverhältnisse im Kunst- und Kulturbereich  ; gegenderte Geschichtsschreibung von Musik und darstellenden Künsten. Publikationen  : Co-Herausgeberin der bisher erschienenen Bände 1–5 der Reihe »mdw Gender Wissen« im Böhlau Verlag Wien, zuletzt SpielRäume. Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film (mdw Gender Wissen Bd. 5), Wien 2014 (mit Claudia Walkensteiner-Preschl)  ; Translative Potentiale. Die interdisziplinären mdw-Gender-Ringvorlesungen »Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film, in  : Werner Hasitschka (Hg.), Performing Translation. Schnittstellen zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft. Wien 2014 (mit Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl). Kontakt  : [email protected] Website  : www. mdw.ac.at/gender Birgit Flos, Filmvermittlerin, Studium Slawistik, Romanistik, Psychologie in

Frankfurt am Main, Paris, und Wien. 1971–1979 in New York. Kurse in Film u. Fotografie (Women’s Interart Center, New School, Columbia University.)  ; Mitarbeit an der Zeitschrift ›Heresies‹ und diversen Film- und Kunstprojekten  ; 1978 MA in Comparative Literature an der City University of N.Y. (CUNY )  ; 1981 mit der Gruppe sync multimediales Projekt in Wien, 50 Jahre ›die Arbeitslosen von Marienthal‹  ; 1982–1985 Gastprofessur an der Hochschule der Künste, HDK Berlin (Fachbereich  : Medien- und Kunstvermittlung)  ; 1995/96 medien apparate kunst (mak im MAK) 15 Einzelausstellungen der Arbeiten von jungen MediekünstlerInnen, Museum für Angewandte Kunst Wien  ; kuratorische Tätigkeit (u. a. 1994 – 1996 für den Stadtraum Remise Wien)  ; Mitglied in diversen 146

Autorinnen und Herausgeberinnen

Auswahlgremien, Katalogbeiträge, Texte zu Film, Fotografie und Kunst für den Österreichischen Rundfunk Ö1 (diagonal, shortcuts, synchron) und Printmedien (u. a. für das ›Album‹, die wöchentliche Beilage der Tageszeitung Der Standard, für Meteor und Kolik Film)  ; 2005–2008 Intendantin der Diagonale, Festival des Österreichischen Films in Graz  ; 2008 Verleihung des Titels Professorin durch das Bundesministerium für Unterricht und Kunst. Seit 1989 Lehrbeauftragte für Filmgeschichte an der ›Filmakademie‹ Wien (Institut Film und Fernsehen der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Kontakt  : birgit.flos@ utanet.at Barbara Gronau, Univ.-Prof.in, Dr.in, Professorin für Theorie und Geschichte des

Theaters an der Universität der Künste Berlin und Sprecherin des DFG Graduiertenkollegs Das Wissen der Künste. Promotion 2006 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über die Interferenzen von Bildender Kunst und Theater (Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski, Kabakov), die mit dem Joseph Beuys Preis für Forschung ausgezeichnet wurde. Nach Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB Kulturen des Performativen und als Gastdozentin an den Universitäten in Mainz und Bern, erhielt sie 2012 eine Juniorprofessur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte  : Performativität in den Künsten, Aktionskunst in Ost- und Mitteleuropa, Stillstand und Latenz als ästhetische Zeitlichkeit  ; Passivitätsforschung. Veröffentlichungen  : Szenarien der Energie. Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen. Bielefeld 2012  ; Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, hg. mit Alice Lagaay. Bielefeld 2010  ; Performanzen des Nichttuns, hg. mit Alice Lagaay. Wien 2008. Kontakt  : http:// www.udk-berlin.de/sites/schauspiel/content/dozenten_innen/e149628/index_ ger.html Ursula Hofrichter, MMag.a Dr.in, Musikpädagogin, Sängerin, Musikwissenschaf-

terin, klientenzentrierte Psychotherapeutin  ; Lektorin an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien  ; Studien und Diplome  : Konzertgesang, Musikwissenschaft, Romanistik an der Universität Graz, Doktorat der Musikpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Veröffentlichungen im Bereich der Stimmphysiologie, der Stimmpsychologie, im Schnittfeld von Musikpädagogik und Therapie  ; Forschungen und Reflexionen in den Feldern der Antizipation, der musikalischen Kommunikation und des ästhetischen Verstehens. 147

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Publikationen (Auswahl)  : Eine Theorie des Funktionalen Hörens, in  : Katharina Rosenberger, Martina Ochoko-Stastny (Hg.)  : Mit Sprache wachsen. Sprachheilpädagogik (Wissenschaft und Praxis Bd.2.). Wien 2007, 279–284  ; Der Stimmklang als Integral von äußerer und innerer Bewegung, in  : Angelika Hauser, Ursula Hofrichter (Hg.), bewegte zeiten. Kongressband des Internationalen Rhythmikkongresses. Wien 2010, 28–33  ; »Es« singt, in  : vox humana. Fachzeitschrift für Pädagogik, Kunst und Physiologie von Stimme, Sprache und Gesang, 7/2, 2011, 27–32. Kontakt  : [email protected] Doris Ingrisch, Univ.-Prof.in Dr.in, Professorin für Gender Studies am Institut für

Kulturmangement und Kulturwissenschaft (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte  : Cultural sowie Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaft, Kunst & Gender sowie Qualitative und Experimentelle Methoden. Veröffentlichungen u. a.  : Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung. Bielefeld 2012  ; Intuition, Ratio & Gender  ? Bipolares und andere Formen des Denkens, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia WalkensteinerPreschl (Hg.), Ratio und Intuition. Wissens/s/kulturen in Musik • Theater • Film. Wien/Köln/Weimar 2013  ; Kunst_Wissenschaft. Don’t Mind the Gap  ! Ein grenzüberschreitendes Zwiegespräch (mit Susanne Valerie Granzer). Bielefeld 2014. Kontakt  : [email protected] Website  : https://www.mdw.ac.at/ikm/team/ ingrisch Sigrid Schmitz, Dr.in habil., Biologin und Forscherin in den Feminist Science

Technology Studies  ; Studium und Promotion in Biologie an den Universitäten Aachen und Marburg  ; 1998 Habilitation mit einer interdisziplinären Arbeit über Geschlechterunterschiede in der Raumorientierung des Menschen  ; 1999–2009 Hochschuldozentin an der Universität Freiburg am Institut für Informatik und Gesellschaft und Leitung des Kompetenzforum »Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaft« [gin], zusammen mit Britta Schinzel  ; Gastprofessuren an der Universität Graz, der HU Berlin und der Universität Oldenburg  ; 2010–2015 Professorin für Gender Studies und wissenschaftliche Leiterin des Referats Genderforschung an der Universität Wien, 2015/16 Gastprofessorin an der Universität Graz. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Gender und Hirnforschung, Neurokulturen und Neurotechnologien, transdisziplinäre Körperdiskurse und Embodying, Gender und e-learning, feministische Epistemologien. Sie ist Mitgründerin des internationalen Netzwerkes NeuroGenderings und stellver148

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tretende Obfrau der österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF). Aktuelle Veröffentlichungen  : Gendered NeuroCultures. Feminist and Queer Perspectives on Current Brains Discourses, hg. mit Grit Höppner. Wien 2015  ; Feminist Approaches to Neurocultures, in  : Charles Wolfe (Hg.), Brain Theory  : Essays in Critical Neurophilosophy. New York 2014  ; »Embodying – ein dynamischer Ansatz für Körper und Geschlecht in Bewegung« (mit Nina Degele), in  : Nina Degele, Sigrid Schmitz, Marion Mangelsdorf, Elke Gramespacher (Hg.), Gendered Bodies in Motion. Leverkusen 2014. Kontakt  : sigrid schmitz@univie. ac.at Andrea Seier, Mag.a Dr.in habil., ist Universitätsassistentin am Institut für The-

ater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Sie war Gast- und Vertretungsprofessorin für Film- und Medienwissenschaft in Deutschland und Österreich. Promotion im Bereich Gender und Medien, Habilitation zur Mikropolitik der Medien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Fernsehtheorie, Gouvernementalität der Medien, Gender und Medien sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie. Veröffentlichungen (Auswahl)  : Die Macht des Materials. What else is new  ?, in  : ZfM, Zeitschrift für Medienwissenschaft 11/2014  ; Von der Intermedialität zur Intermaterialität. Akteur-Netzwerk-Theorie als ›Übersetzung‹ post-essentialistischer Medienwissenschaft, in  : Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. 2/2013  ; Remediatisierung. Zur performativen Konstitution von Gender und Medien, Münster 2007. Kontakt  : [email protected] Website  : https://tfm. univie.ac.at/personal/praepost-docs/postdocs/ Claudia Walkensteiner-Preschl, Univ.-Prof. in Dr.in, Professorin für Medien- und

Filmwissenschaft am Institut für Film und Fernsehen, Filmakademie Wien, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Seit 2013 Leiterin der Filmakademie Wien. 2007–2011 Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung der mdw. 2010 Habilitation an der Universität Frankfurt am Main. Seit 2010 Mitherausgeberin der Buchreihe »Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film« (Böhlau-Verlag). Publikationen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre, Wien 2008  ; Die Schlager der Groteske, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933. Wien 2009  ; Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino. Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner149

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Preschl (Hg.), Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik • Theater • Film, Wien 2012. Die Entfaltung der Übersetzungsarbeiten. Autorenfilmer Götz Spielmann im Gespräch zwischen Praxis und Theorie (mit Kerstin Parth), in  : Werner Hasitschka (Hg.)  : Performing Translation. Schnittstellen zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft, Wien 2014. Kontakt  : walkensteiner-preschl@mdw. ac.at

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MDW GENDER WISSEN HERAUSGEGEBEN VON DORIS INGRISCH UND CLAUDIA WALKENSTEINER-PRESCHL

mdw Gender Wissen ist eine Buchreihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw. Die Publikationen dieser Reihe tragen dazu bei, die Wirkmächtigkeit von Gender (soziales Geschlecht) in Wissens- und Kunstproduktionen sichtbar zu machen. BAND 1: SCREENINGS

BAND 4: RATIO UND INTUITION

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

WISSEN/S/KULTUREN IN MUSIK.

THEATER. FILM

THEATER. FILM

2010. 165 S. DIV. GRAFIKEN UND S/W-ABB.

2013. 171 S. 45 S/W-ABB. BR.

BR. | ISBN 978-3-205-78520-0

ISBN 978-3-205-78905-5

BAND 2: GENDER PERFORMANCES

BAND 5: SPIELRÄUME

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

THEATER. FILM

THEATER. FILM

2011. 184 S. ZAHLR. S/W-ABB. BR.

2014. 197 S. ZAHLR. S/W-ABB. FRANZ. BR.

ISBN 978-3-205-78651-1

ISBN 978-3-205-79520-9

BAND 3: KULTUR DER GEFÜHLE

BAND 6: KÖRPER/DENKEN

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK.

THEATER. FILM

THEATER. FILM

2012. 166 S. 14 S/W-ABB. FRANZ. BR.

2015. 150 S. 12 S/W-ABB. FRANZ.

ISBN 978-3-205-78783-9

BR. | ISBN 978-3-205-79628-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar