Kultur der Gefühle: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film 9783205791836, 9783205787839


113 74 2MB

German Pages [168] Year 2012

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Kultur der Gefühle: Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film
 9783205791836, 9783205787839

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

mdw Gender Wissen

Band 3 Eine Reihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) herausgegeben von Claudia Walkensteiner-Preschl und Doris Ingrisch

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.)

Kultur der Gefühle Wissen und Geschlecht in Musik · Theater · Film

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch die

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  : //dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78783-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http  : //www.boehlau-verlag.com Satz  : Michael Rauscher Lektorat  : Irmgard Dober Umschlaggestaltung  : Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Prime Rate Kft., 1044 Budapest

Inhaltsverzeichnis Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl Zur Einleitung. Gefühle »erzählen davon, dass wir am Leben sind« 7

Heide Schlüpmann Das Wissen der Gefühle 23

Claudia Walkensteiner-Preschl Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino. Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen 33

Peter Röbke Musizieren als Affektgestaltung. Anmerkungen aus der Sicht eines Musizierenden 49

Andreas Holzer Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ? 71

Kordula Knaus Mächtige Gefühle. Herrschaft, Geschlecht und Ethnizität in der Oper 91

Anna Maria Krassnigg Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ? 109

5

Inhaltsverzeichnis

Monika Meister Transformierte Emotionen. Elfriede Jelineks Theater 129

Marie-Luise Angerer Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst 147

AutorInnen und Herausgeberinnen 163

6

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Zur Einleitung Gefühle »erzählen davon, dass wir am Leben sind« »›Da bin ich aber wütend geworden‹, erzählen wir und schauen so zustimmungsheischend um uns. Im Zustand des Wütend-Werdens fühlen wir uns berechtigt. Berechtigter. Der Vorgang des Wütend-Werdens erzählt uns selbst und denen, denen wir davon erzählen, davon, dass wir am Leben sind.« (Streeruwitz 2011, 21)1

Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz spricht hier davon, dass der Ausdruck von Gefühlen wie »wütend sein« darauf verweist, »dass wir am Leben sind« – eine Selbstvergewisserung, die heute nur mehr durch sehr starke Gefühle erreicht werden kann  ? Wir haben dieses Zitat nicht nur deshalb ausgewählt, sondern auch weil es auf ein historisch viel diskutiertes und bekämpftes Gefühl, einen Affekt – die Wut – hinweist, die in einer antiken, bis zur Aufklärung geltenden, mit den Geschlechtern assoziierten Emotionen-Lehre als »männliches« Gefühl interpretiert wurde (Newmark 2009). Hatten Frauen in den Gesellschaften vor 1800 nicht genug Macht, um wütend zu werden, um wütend sein zu dürfen  ? Ist die Verknüpfung von Gefühlen, Affekten, Emotionen und Geschlecht heute überhaupt noch relevant  ? Ist es nicht eher so, dass seit einigen Jahrzehnten das klassisch bürgerliche Geschlechterordnungssystem (Hausen 1976, Honegger 1992, Opitz/Weckel/Kleinau 2000) – hier gefühlvolle Frau, dort vernunftgeleiteter Mann – egalitären partnerschaftlichen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden kann, eine platte Geschlechter-Zuordnung vielmehr einer Menschwerdung ohne Ansehen des Geschlechts, der sozialen Klasse, der Ethnizität – wie es FeministInnen der Ersten und der Zweiten Frauenbewegung wie auch PostfeministInnen fordern – im Wege steht  ? So weit sind wir wohl lange noch nicht, dass die Kategorie Geschlecht – neben sozialer Klasse/Schicht und Ethnizität – bei allen Fragestellungen, ob in Kultur- oder Naturwissenschaften, als gesellschaftlich höchst wirksame Differenzierungsform erkannt und als Analyseinstrument eingesetzt wird. Zumindest manchmal – hoffen wir  : immer öfter – arbeiten Institutionen und Politiken da7

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

ran, dass aus einer Differenzierung keine Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, von Ethnien, Minderheiten und sozialen Klassen in Vorstellung und Realität entsteht bzw. sich herausbildet. Das De-Gendering von Gefühlen – die Dekonstruktion von geschlechtsspezifisch zugeordneten Assoziationen – ist der Prozess, einem solchen (anzustrebenden) gesellschaftlichen Zustand näher zu kommen. Unter anderem war das einer der Gründe, warum für die dritte Gender-Ringvorlesung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) das Thema »Kultur der Gefühle« gewählt wurde. Mit Gefühlen statten Menschen ihre erlebte Wirklichkeit unmittelbar mit Bedeutung aus und »[i]nnerhalb der Gefühlskulturen, die Gesellschaften herausbilden, sind die emotionalen Distinktionen nach Geschlecht ein wesentlicher Teil der Geschlechterordnung jeder Gesellschaft« (Eckart 2009, 10). Als historische Kultur-, Film-, Medien- und Gender-Forscherinnen an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) tätig, fragten wir, welche »Kultur der Gefühle« in den an der mdw gelehrten und beforschten Künsten und Wissenschaften – Musik • Theater • Film – gefunden werden kann, welches Wissen, welches Gender-Wissen da verhandelt wird. Von welchen Gefühlen sprechen wir da eigentlich  ? Neid, Eifersucht, Mitleid, Mitgefühl und Gnade, Mitfreude und Schadenfreude, Zorn, Hass, Ekel, romantische Liebe und sexuelles Begehren, Glück, Traurigkeit, Hoffnung und Furcht, Stolz, Bedauern, Schuld und Verlegenheit, Hochmut und Scham  ? (Vgl. Demmerling/ Landweer 2007)

»Gefühle sind nicht einfach bloßer Zierrat« (Damasio 2007 [2003]) Bis zur Aufklärung wurde den Gefühlen, Affekten, Emotionen nicht viel Gutes nachgesagt, es ging um ihre Zähmung, Bändigung und Kontrolle. Gefühle wurden damals Affekte und Leidenschaften genannt – es ging darum, einen Raum, einen Frei-Raum zu schaffen, der ein von Gefühlen und Leidenschaften »freieres« (menschliches) Handeln und Tun ermöglicht. Ausgegangen wurde von der Vorstellung einer überaus starken Ausgeliefertheit des Menschen an seine Affekte und dass diese im Interesse eines besser kalkulierbaren Handelns gemäßigt, gezähmt und kultiviert werden sollten, ja geradezu müssten (vgl. den Umgang mit Leidenschaften und Affekten in der antiken Affektenlehre [Landweer/Renz 2008, Newmark 2009]). Die neueren Forschungen sehen in den Affekten und Gefühlen eine so gewichtige Dimension, dass der israelische Philosoph Aaron 8

Zur Einleitung

Ben-Ze’ev – entgegen der historischen Annahme der Irrationalität von Gefühlen – von einer »Logik der Gefühle« spricht und in seiner 2009 erschienenen Publikation die Wirkmächtigkeit dieser lange unterschätzten grundlegenden Bewusstseinsform am Beispiel unterschiedlichster Gefühlszustände vor Augen führt (Ben-Ze’ev 2009 [2001]). Der Neurobiologe Antonio R. Damasio setzt Gefühle per se in einen sinnstiftenden Gesamtzusammenhang für den menschlichen Organismus, wenn er sagt  : Im Wesentlichen bin ich gegenwärtig der Auffassung, dass Gefühle ein Ausdruck menschlichen Wohlbefindens und menschlichen Elends sind, so, wie sie in Geist und Körper auftreten. Gefühle sind nicht einfach bloßer Zierrat, der Emotionen begleitet und auf den man verzichten könnte, sondern häufig Enthüllungen einer Verfassung, die den ganzen Organismus betrifft – buchstäblich ein Heben des Schleiers. (Damasio 2007 [2003], 15)

Was bis zur Aufklärung Affekte und Leidenschaften und Passionen genannt wurde, hieß dann besonders in der Romantik »Empfindsamkeit« und »Gefühle«. Heute hat sich in den Wissenschaften für den gesamten Komplex weitgehend der Begriff »Emotionen« durchgesetzt. Gemeinsam ist allen Definitionen, dass es sich um eine je spezifische Mischung von physisch-psychischen Anteilen handelt, somit Körper und Geist an der Entstehung und Entwicklung von Affekten/ Gefühlen/Emotionen beteiligt sind. Interessanterweise beschäftigen sich heute ja tatsächlich alle Wissenschaften – Natur-, Sozial- wie auch Kulturwissenschaften – mit der Frage nach den Bedeutungen von Gefühls-Zuständen und Gefühls-Entscheidungen, mit dem, »was der Bauch sagt«. Die Neurowissenschaften mit ihren bildgebenden Verfahren trugen viel zu diesem Boom der wissenschaftlich lange verpönten Frage nach der Bedeutung von Gefühlen für unser Denken und Handeln, für unsere Entscheidungen bei – als Sitz der Gefühle gilt das limbische System, der älteste Teil des menschlichen Gehirns. Es seien die ersten Jahre der Mensch-Werdung, in denen sich unsere Gefühle als Erfahrungswissen darin abspeicherten und von da an fortwährend aktivierten (Damasio 2007 [2003]). Wie wichtig die Emotionsforschung heute in den Wissenschaften ist, zeigt sich beispielsweise auch und gerade in der Künstlichen-Intelligenz-Forschung (KI), der artificial intelligence (AI). Der Wiener AI-Forscher Robert Trappl weist darauf hin, dass Roboter heute zwar bereits »intelligent, aber ohne Gefühl« seien und dass das zu wenig sei, um Partner des Menschen sein zu können. Er bringt ein Beispiel  : »Wenn Roboter wirklich einmal Partner des Menschen werden sollen, etwa in der Al9

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

tenbetreuung und als Arbeitskollegen, dann müssen sie Gefühle erkennen und darauf eingehen.« (Kugler 2011)

Von der Historizität gegenderter Gefühle Die Frage ob und – wenn ja – wie mit geschlechtlichen (oder geschlechtsdifferenten) Gefühlsrepräsentationen in den Künsten und Wissenschaften – Musik, Theater und Film – gedacht und gearbeitet wurde und wird, war eine zentrale Ausgangsfrage für das Design der diesem Band zugrunde liegenden GenderRingvorlesung. Solange gesellschaftlich ein bipolares Geschlechterbild dominiert, bestätigen sich geschlechtlich aufgeladene Vorurteile wie »Frauen sind halt viel emotionaler als Männer« oder »Männer sind halt gefühlsmäßig unterentwickelte Homo sapiens« gewissermaßen automatisch. In einem solchen Kontext wird geschlechtliche Differenz schnell zu grundsätzlich verschiedenen »Natur«-Zuständen von Mann und Frau erklärt, was eine Behauptung und kein Beweis für diese Behauptung ist. Deutlich wird, dass die parallel zur Aufklärung mit dem bürgerlichen Zeitalter durchgesetzte sehr differente Vorstellung von einem männlichen und einem weiblichen »Geschlechtscharakter« (Hausen 1976) zu massiv unterschiedlichen Eigenschaftszuschreibungen an die Geschlechter führte. Das hatte vielfach geradezu gegenteilige Lebensentwürfe von Frauen und Männern zur Folge, führte zu starken geschlechtsabhängigen Reglementierungen, zu Restriktionen für Frauen im öffentlichen, für Männer im privaten Bereich, zu enormen Einschränkungen des Zugangs für Frauen zu einer höheren Bildung. Das weibliche Geschlecht war von den vielfach bereits im Mittelalter gegründeten Universitäten und den seit dem 17. Jahrhundert etablierten Kunstakademien – 1688 wurde beispielsweise die Wiener Akademie der bildenden Künste gegründet – bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen  : Diese (ideologische und in der Folge auch reale starke) Trennung der Geschlechter galt insbesondere für das Bürgertum, die Frauen und Männer der Arbeiterklasse hatten eine im Alltags- und Erwerbsleben weniger stark ausgeprägte Trennung der Geschlechter und ihre soziale Ausgangslage war in sämtlichen Belangen viel schlechter als jene für die bürgerlichen Klassen, wenngleich selbst Bürgertum nicht gleich Bürgertum war – gerade auch da gab es große Unterschiede im Einkommen und gesellschaftlichen Status (vgl. z. B. für Westeuropa nach 1945 Bourdieu 1983 [frz. 1979/dt. 1981]). Allein die Kategorie Geschlecht reicht also für eine soziale Situierung von Personen in Geschichte und Gegenwart nicht aus – so sind Merkmale wie Alter, Ethnizität, soziale Klasse und sexuelle Orientierung Marker, 10

Zur Einleitung

die bei einer Gesamteinschätzung der gesellschaftlichen Situation herangezogen werden müssen. Allein die Kategorie Geschlecht kann viele Differenzen nicht erklären helfen, aber innerhalb einer sozialen Klasse ist die Kategorie Geschlecht ein tatsächlich äußerst aussagekräftiges Merkmal. In einem so getrennt gedachten und gelebten Geschlechter-Kosmos wurde und wird noch vielfach – um auf einer Argumentationsebene zu bleiben – das Fühlen »Natur-gemäß« den Frauen und den Männern das Denken (das Kognitive), die Logik und die Vernunft zugeschrieben. So wurden Affekte/Gefühle/ Emotionen in einem bipolar strukturierten Denkgebäude zur »anderen« Seite der Vernunft erklärt, nicht dem »einen« Geschlecht, den Männern, sondern dem »anderen« Geschlecht (Beauvoir 1982 [frz. 1949/dt. 1951], den Frauen, zugewiesen. Alles mit Gefühlen, Affekten und Emotionen Verbundene wurde in so einer Lesart, Interpretation schnell als nicht männlich markiert. Beide Geschlechter, Frauen wie Männer, hatten es da schwer, den Anforderungen an ihren jeweils hochspezifischen »Geschlechtscharakter« zu entsprechen, ihr geschlechtspolitischer Handlungs-Spielraum war denkbar klein (Hausen 1976). Simone de Beauvoirs feministischer Klassiker »Das andere Geschlecht« thematisiert und kritisiert diese Binarität, die Dichotomisierungen im modernen Geschlechterdiskurs als Machtinstrument gegen die Interessen von weiblichen Menschen, die dadurch in ihrer Ausdrucks- und Bewegungsfähigkeit enorm eingegrenzt wurden (Beauvoir 1982 [frz. 1949/dt. 1951]). In einem anderen Klassiker der Geschlechterforschung, der Gender Studies – »Das »Unbehagen der Geschlechter« (»Gender Trouble« von Judith Butler 1991 [1990]) –, wird mit dem Gefühl des Unbehagens das dominierende heterosexuelle bürgerliche Geschlechterverhältnis, das ja seit seiner Entstehung als reformbedürftig wahrgenommen wurde, bezeichnet. Diese Norm wird auch »sexuelle Zwangsheterosexualität« genannt. Für eine Analyse von Gefühlskulturen und den darin gelebten Geschlechterordnungen zentral sind die jeweils wirkenden sozialen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft, »ob und wie sie den Menschen ermöglichen, Gefühle zu erleben und als menschliche Fähigkeiten zu entfalten« (Eckart 2009, 13). Geschlechtlich strukturierte, teils stark normierte Erlebnisweisen und Ausdrucksformen von Gefühlen gehören zum Repertoire der Affektregulierung in der Moderne, sind »normierte Begehrensmuster«. Geschlechterverhältnisse wurden und werden für eine »Ordnung der Gefühle« genutzt bzw. nutzbar gemacht, aber – so Agnes Neumayr in »Kritik der Gefühle« – »Fühlen hat kein Geschlecht« (Neumayr 2007, 11). Gefühle sind ein in jeder Hinsicht ökonomie-, sozial- und geschlechterpolitisch hochbrisantes Thema. Mit Gefühlen kann politisch leichter und schneller manipuliert werden als mit rationalen Argumenten, und populäre, 11

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

verkürzende Ressentiment-Politik wird nicht selten mit einer großen Portion Gefühl angereichert verkauft, »an den Mann« und »an die Frau« gebracht.

»Feelings that matter« (Eitler/Scheer) Andererseits können Gefühle – werden sie zugelassen und als Bewertungen verstanden – viel zu einer guten (persönlichen) Entscheidungsfindung beitragen, eine mit Kopf und Bauch gewissermaßen (Meier-Seethaler 2001). Insofern kann eine Verdammung der Gefühle nicht im Interesse der Menschheit liegen. Gefühle sind Seismografen der eigenen Befindlichkeit, sie haben sich aus dem herausgebildet, was Menschen jeweils erlebt haben, und befinden sich in einem permanenten Um- und Weiterformungsprozess  : Das jeweils eigene Erleben prägt, formt die eigene Gefühlswelt. So sei eine Menschenrechtskultur als Erweiterung der säkularen Gemeinschaft abhängig von der wachsenden Fähigkeit, als Menschen füreinander empfinden zu können. Richard Rorty pointiert die Auszeichnung der Menschen durch ihre Empfindungs­ fähigkeit in einer weltpolitischen Dimension der Abgrenzung zum Kantschen Verständnis  : Nicht das wachsende Bewusstsein für Erfordernisse, sondern die Entfaltung einer anpassungsfähigen Empfindsamkeit könne die Verbreitung der Menschenrechte fördern. (Eckart 2009, 15)

Aktueller Stand der Emotionsdebatte ist heute, dass Gefühle nicht mehr als die »andere Seite« der Kognition, des »Geistes« angesehen werden und daher wie die Kognition dem historischen Wandel unterworfen sind. Gefühle, Emotionen werden nicht mehr als »irrational« betrachtet, vielmehr wird nach ihrer Logik, nach dem »vorherrschenden Narrativ« gefragt. Sie würden aber – so jedenfalls die KörperhistorikerInnen Eitler und Scheer – vorrangig im Gehirn und nicht mehr im Körper verortet. Der Körper gehöre zu einem Feld von homologen Dichotomisierungen »zwischen Geist und Körper, Mensch und Tier oder Kultur und Natur – innerhalb derer der zweite Begriff stets einen scheinbar uneinholbaren Rest markiert, der von der historischen Forschung ausgeblendet bzw. unterbelichtet wird« (Eitler/Scheer 2009, 282). Pascal Eitler und Monique Scheer kritisieren ausgehend von ihrem Fokus Köper-Geschichte die unterschiedlichen Interpretationen von Emotionen in einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Für ihren Zugang formulieren sie folgende Grundvoraussetzungen  : 12

Zur Einleitung

Nicht nur die Signifikation von Gefühlen, auch deren Verkörperlichung ist auf ständige Wiederholung angewiesen. In diesem Sinne lassen sich Materialisierungsprozesse und Körpertechniken am besten als Sedimentierungspraktiken betrachten. Körper und Gefühle, das ist zentral, gewinnen und verlieren in dieser Hinsicht an Materialität bzw. Stabilität. (Ebd., 292f.)

Die AutorInnen plädieren für einen poststrukturalistischen Ansatz, in dem sich das Interesse an Emotionen-Geschichtsschreibung nicht auf theoretische Diskurse, sondern auf Diskurse als Praxis richtet  : Nicht das speaking oder thinking emotion, sondern das doing oder besser noch trying emotion gerät in den Mittelpunkt der Untersuchung. In diesem Rahmen, […] ermöglichen oder befördern, vereiteln oder erschweren bestimmte Körper bestimmte Gefühle, so wie umgekehrt Gefühle Körper betreffen, gestalten und verändern können – sei es in Form von Lachfalten oder von gekrümmten Wirbelsäulen, sei es im Kontext eines erhöhten Serotoninpegels oder eines wachsenden Magengeschwürs. (Ebd., 293)

Es gehe nicht nur um »bodies that matter« (Butler 1997 [engl. 1993/dt. 1995], sondern um »feelings that matter« (Eitler/Scheer 2009, 294).

»Subjektivierung von Arbeit« und »emotionaler Kapitalismus« (Illouz 2007) Der soziologische Gefühlsklassiker »Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle« (engl. 1983, dt. 1990, Neuauflage 2006) von Arlie Hochschild thematisierte, wie wichtig der Einsatz von Gefühlen für den Verkauf von Dienstleistungen sei. Sie hat aufgezeigt, wie in typischen Frauenberufen wie Flugbegleiterinnen, Verkäuferinnen die Herstellung von angenehmen Gefühlen – die Nutzbarmachung einer nach Geschlecht unterschiedlich geformten, trainierten, verfügbaren und auch eingeforderten Ressource – zu einer unbezahlten Berufsanforderung werden konnte. Die von Hochschild aufgestellte Kommerzialisierungsthese verwies interessanterweise auf einen Ort, der nicht kommerzialisiert sei – dieser Ort habe Hochschilds Meinung nach Anfang der 1980er-Jahre noch im Privaten gefunden werden können (Hochschild 2006 [1983/1990]). Von einer solchen Annahme weit entfernt positioniert sich in den 2000er-Jahren ihre Kollegin Eva Illouz in »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus«. Im Gegensatz zu 13

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Hochschild spricht Illouz davon, dass in einem »emotionalen Kapitalismus«, wie er sich derzeit darstelle, die zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters aufgestellten Dichotomien – das emotionale Private versus eine vernunftgeleitete Ökonomie – sich geradezu umkehrten. Das Private habe sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr ökonomisiert, die Wirtschaft, vor allem der Finanzkapitalmarkt, immer mehr emotionalisiert. Von einer zurückhaltenden, früher einmal bürgerlich privaten Verhandlung von Emotionen und Gefühlen könne im Zeitalter von Reality-TV und E-Mail-Dates nicht mehr gesprochen werden. Indem mit den Gefühlen Teile der eigenen Subjektivität in den Erwerbsarbeitsprozess einfließen sollen bzw. in bestimmten Dienstleistungsberufen auch müssen, verändern sich die allgemeinen Rahmenbedingungen für (Erwerbs-)Arbeitsanforderungen. Therapeutisches Wissen werde in allen, ob in privaten oder geschäftlichen, Arbeits- und Lebensbereichen exzessiv angewendet. Die Person, die heute, im Postfordismus, ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anbietet, ist mit deutlich höheren subjektiven Anforderungen an ihre Person und Persönlichkeit konfrontiert, als es etwa noch ein Fließbandarbeiter oder eine Fließbandarbeiterin im Zeitalter des Fordismus war. In dem Maße, in dem die Persönlichkeit und die Emotionen zu neuen Formen der sozialen Klassifikation wurden, haben die Psychologen nicht nur dazu beigetragen, aus dem emotionalen Stil eine soziale Währung – also ein Kapital – zu machen, sondern auch dazu, eine neue Sprache des Selbstseins zu artikulieren, in der es darauf ankommt, von diesem Kapital Gebrauch zu machen. (Illouz 2007, 101)

So gehören die Vokabeln »emotionales Kapital«, »emotionale Kompetenz«, »emotionale Intelligenz«, »Emotionsmanagment« zu den begrifflichen Neukreationen der 1990er-Jahre, die als soft seller auffallend rasch in das Personalmanagement-Vokabular übernommen wurden (vgl. z. B. Fingerlos 2007). Emotionale Kompetenz besteht demnach – so Eva Illouz – darin, die kognitiven und emotionalen Kompetenzen zur Geltung zu bringen, deren Virtuosen die klinischen Psychologen sind. Die emotionale Intelligenz spiegelt gut den Stil und die emotionalen Dispositionen der neuen Mittelschichten wider, die sich in vermittelnden Positionen befinden, die also kontrollieren und kontrolliert werden, deren Berufe ein sorgfältiges Selbstmanagement erfordern, die stark von der Kooperation anderer abhängen und ihr Selbst sowohl kreativ als auch produktiv nutzen müssen. (Illouz 2006, 102)

14

Zur Einleitung

Die Selbstmanagement-Techniken sind demnach für den emotionalen Kapitalismus so zentral, wie es die Zeitdisziplin für den industriellen Kapitalismus, den Fordismus, war. Indem nun so etwas, wie angenommen wird, »Privates« und »Subjektives« wie die Gefühle wesentlich in den Erwerbsarbeitsprozess einbezogen werden, so werde auch dem Menschen im aktuellen Erwerbsarbeitsprozess der Einsatz, die Preisgabe von immer mehr seiner bzw. ihrer gesamten Subjektivität abverlangt, es reiche – zumindest für die Erwerbsarbeit der Mittelschichten – nicht mehr, seiner bzw. ihrer Arbeit einfach nur »nachzukommen«. Geht es aber um den Einsatz des »gesamten Subjekts« in den Erwerbsarbeitsprozess, um die »Subjektivierung von Arbeitskraft« (vgl. z. B. Lohr 2005), sehen wir uns mit einer gänzlich neuen, anderen Art des Kapitalismus und der Verwertung des Kapitals »Mensch« konfrontiert – Gefühle werden da im Managementdiskurs zu Assets, gelten nicht mehr als private Persönlichkeitseigenschaften.

»Kultur der Gefühle« in Musik • Theater • Film Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen nach der »Kultur der Gefühle« in Musik • Theater • Film und spannen einen weiten Bogen in der Geschichte, reflektieren den Einsatz von und den Umgang mit Gefühlen in diesen Künsten und Wissenschaften. Die Texte beginnen mit dem Bereich Film und da mit einem Aufsatz – und darüber freuen wir uns ganz besonders – einer Pionierin der deutschsprachigen feministischen Filmwissenschaft, Heide Schlüpmann. Sie erinnert in »Das Wissen der Gefühle« daran bzw. führt uns vor Augen, wie kritische Filmwissenschafterinnen Anfang der 1970er-Jahre das als »weiblich« bezeichnete Tränendrücker-Genre »Melodrama« zu »destruieren« begannen, sich fragten, in welcher Weise, für wen Gefühle im Kino »gemacht«, »erzeugt« würden. Die US-amerikanische Filmwissenschafterin Laura Mulvey forderte in ihrem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahr 1975 »Visual Pleasure and Narrative Cinema« (Mulvey 1975) nicht mehr und nicht weniger als die »Zerstörung der Gefühlsbindungen im Kino«, sie plädierte für die »totale Negation des Behagens und der Fülle des narrativen, fiktionalen Films«. Dadurch vollzog sich – so Schlüpmann – gerade auch eine Politisierung des Films, »die auch zu Überlegungen einer Politik der Form führte. […] Emotionen wurden als Ebene gewertet, auf der Erkenntnisse ›aufblühen‹ konnten.« Die Filmwissenschafterin Claudia Walkensteiner-Preschl zeigt im zweiten Beitrag über »das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht 15

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

Kino«, u. a. die Genre-Interpretation der feministischen Filmwissenschaft aufgreifend, wie insbesondere Farben in den Melodramen von Douglas Sirk – dem aus Deutschland ausgewanderten Detlef Sierck – emotionale Befindlichkeiten transportieren bzw. repräsentieren. Mithilfe einer damals relativ neuen Technologie – der Technicolor-Farben – beschreibt Sirk in einigen Melodramen der 1950er-Jahre mit eloquenten technischen Verfahrensweisen (Farbtechnik, Kamera, Schnitt) die Vielschichtigkeit des US-amerikanischen kleinbürgerlichen Familiensystems. Die intensive Farbgebung repräsentiert die inneren Zustände der handelnden Personen, die Dinge und Artefakte der US-amerikanischen 1950er-Jahre treten in ihrer geschlechter-, klassen- und »Rassen«-segregierenden Praxis klar zu Tage. Damit gelingt – so Walkensteiner-Preschl – Sirk eine für die Eisenhower-Jahre bemerkenswert kritische zeithistorische Analyse der patriarchalen und rassistischen US-amerikanischen Konsumgesellschaft. Der Allgemeinplatz, dass es von den Künsten vor allem die Musik verstehe, Gefühle zu evozieren, wird in den folgenden drei Beiträgen in unterschiedlichen Kontexten diskutiert. Der Musikpädagoge und ausgebildete Musiker Peter Röbke befragt sich in »Musizieren als Affektgestaltung« selbst über den Zusammenhang von Gefühl und Musik und weist im Kapitel »die Clavierseuche« anschaulich darauf hin, wie grundlegend die Kategorie Geschlecht für das Verständnis und die Interpretation von historischem Musik-Machen ist. Im zweiten Text fragt der Musikwissenschafter Andreas Holzer, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse über Musik und Gefühl überhaupt vorlägen. Die Musikwissenschafterin Kordula Knaus zeigt schließlich am Beispiel der Oper, wie historisch wandelbar Gefühlsdarstellungen sein können. Im Musik-Machen erfahre er – so Peter Röbke – als Musizierender jene vier Modi des Weltbezugs, von denen der Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht gesprochen hat  : »Verstehen, Verzehren, Eindringen und mystische Verschmelzung«. Und Röbke stellt fest, dass beispielsweise beim Singen gerade eine professionelle Ausbildung jene Sicherheit schaffe, die einen gesteigerten Affektausdruck überhaupt erst möglich mache, ohne dass Gefahr bestehe, dass die Affekte übermächtig würden. Wo ohne Ausbildung die Stimme »brechen, kippen, sich überschlagen oder versiegen« könne, hörten wir bei einer trainierten, ausgebildeten Stimme einen »Wohlklang«. Die Akte des Musizierens könnten – so Röbke weiters – als »doing one’s body, als konkrete Verkörperung, als Embodiment, als Verwirklichung einer körperlichen Möglichkeit« verstanden werden – allerdings unter je historischen und sozio-kulturellen Bedingungen und Zwängen – 16

Zur Einleitung

denn  : Über die konkrete Spielweise und das Klangideal hinaus wirkten sich selbst Vorstellungen von dem aus, was ein »männliches« oder »weibliches« Instrument sei bzw. eine »männliche« oder »weibliche« Spielweise wäre. Der Musikwissenschafter Andreas Holzer hat sich in verdienstvoller Weise die Frage gestellt, was sich derzeit »wissenschaftlich« über das Thema »Musik und Gefühle« überhaupt aussagen lasse. Er bespricht eine Reihe an Studien und Untersuchungen und diskutiert u. a. die dabei häufig verwendete Methode der self-reports, die zwischen individuellem Empfinden (felt emotion) bzw. der Zuschreibung von emotionalen Qualitäten an ein Musikstück (perceived emotion) unterscheidet, und Andreas Holzer betont, dass es schwer sei, dies überhaupt streng zu trennen. Um zu einer Ordnung des Wissens über die in den unterschiedlichen (wissenschaftlichen) Disziplinen verwendeten Ansätze zu kommen, bildet Holzer eine Systematik der Wissensformen, die er in vier Gruppen unterteilt  : Produktion (Biografik, Poetik), Objekt (Analyse, Semiotik, Hermeneutik), Interpretation (Handlungstheorien) und Rezeption ([Musik-]Psychologie, Psychophysiologie). Eine solche Rubrizierung lässt erkennen, dass jede tatsächlich grundlegende Studie geradezu notgedrungen inter- bzw. transdisziplinär ausgerichtet sein müsste, aber – so der Autor einschränkend – selbst innerhalb der Musikwissenschaft gebe es kaum Berührungspunkte oder Überschneidungen zwischen den einzelnen Teildisziplinen. So plädiert Holzer abschließend für die Notwendigkeit einer solchen grundlegenden Untersuchung, weil die bisher vorliegenden Studien wissenschaftlich einfach noch in keiner Weise nachgewiesen hätten, dass Musik tatsächlich so unmittelbar und stark – wie allgemein angenommen wird – Emotionen aktiviere und erzeuge. Der nächste Text führt in die Oper, in ein »Kraftwerk der Gefühle«, wie Alexander Kluge einmal die Oper und das Kino bezeichnet hat (Kluge 2009). Am Beispiel der verschiedenen Vertonungen des Sujets der Eroberung Indiens durch Alexander den Großen zeigt uns Kordula Knaus die historisch wandelbare Verhandlung von »mächtigen Gefühlen« in Opernlibretti vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Die gesellschaftsanalytische Dechiffrierung von Opernarrangements und -libretti gehört zu den interessantesten Ebenen, der eine kritische Musik- resp. Operngeschichtsschreibung nachgehen kann, wenn sie den jeweils herrschenden Status quo der Entstehungszeit der Oper mitreflektieren möchte. Am Beispiel des Europäers Alexander des Großen und seines Gegenspielers – des indischen Königs Tassilo – zeigt uns die Musikwissenschafterin Kordula Knaus, wie im 18. Jahrhundert »Kolonialgeschichte« 17

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

über kontrollierte bzw. nicht-kontrollierte – offen dargestellte, gezeigte – Gefühle europäische Überlegenheit versus außereuropäische Emotionalität – die als »Unterlegenheit« konnotiert wurde – auf der Opernbühne verhandelt wurde. Die Autorin beansprucht mit ihrem Text nicht mehr und nicht weniger, als dass »Gefühle, Gesellschaft und Opernästhetik«, in ihrem Fall »Herrschaft, Geschlecht und Ethnizität in der Oper« des 18. Jahrhunderts, zusammen zu denken sind. »Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?« nennt Anna Maria Krassnigg, Regisseurin und Gastprofessorin am Max Reinhardt Seminar, ihren Beitrag, in dem sie in Form eines Selbst-Interviews über die Bedeutung der Gefühle für ihr, für das Theater reflektiert und uns ihre Zugangs- und Denkweise – den Bereich Theater in diesem Band einleitend – offenlegt. Drei Grundsätze sind für Anna Maria Krassniggs Theater wichtig  : Durch absichtsloses Sprechen bei den ZuschauerInnen Gefühle hervorrufen  ; das Entscheidende am Theater sei die Destillation (Peter Brook)  ; und der Intellekt sei am Theater eine gute Unterstützung, Theater sei aber im Wesentlichen ein emotionales Medium (Dennis Kelly). Am Beispiel eigener Produktionen führt uns die Regisseurin durch das Dickicht von theatralen Emotionsanstrengungen und erläutert unter anderem die Schwierigkeit – »das Paradoxeste überhaupt« –, die gerade dem im Unterschied zum Film ganz Spezifischen des Theaters – der Wiederholung – inhärent ist  : Dass nämlich Abend für Abend die Wiederholung von Emotionsdarstellungen gelingen müsste bzw. sollte, was eine für SchauspielerInnen (und RegisseurInnen) immerwährende Gratwanderung sei. Ganz anders der Zu- und Umgang mit Gefühlen in Texten und Schriften der Schriftstellerin und Dramatikerin Elfriede Jelinek, deren ästhetische Verfahrensweisen und Strategien von der Theaterwissenschafterin Monika Meister auf ihre Gefühlsrepräsentationen hin befragt werden. Jelinek sei eine Vertreterin der Position, dass es gar nicht möglich sei, dass im und auf dem Theater gefühlt, nach-gefühlt werden könne. »Die Emotionen sind in den Texten und im Theater Elfriede Jeklineks als konstruierte markiert, als ready mades einer Mediengesellschaft, als vorgefertigte Schablonen, die kein authentisches Ich, keine mit sich identischen Figuren darstellen«, und Emotion entstehe »durch den Entzug von Emotion, die gezeigte Leerstelle dessen«. Jelineks Texte seien Texte, die sich für das Theater eigneten, »weil ihnen die Rezeption bereits eingeschrieben« sei. »Das ästhetische Verfahren der Dekonstruktion ist kein Selbstzweck, aber es steht auch nicht zu Diensten anderer Intentionen. Die Dekonstruktion steht im 18

Zur Einleitung

Dienste der »Dissemination des Sinns« … und diese heiße bei Elfriede Jelinek – so Monika Meister – »Assoziationsfähigkeit«. In Jelineks Theater werde gerade gezeigt, »wie die Gefühle nicht den Subjekten gehören, sondern über diese verfügt wird«. So gehe es Jelinek in ihrem Text »Über Tiere« um »das Paradox der ›Gewinnung‹, des ›Destillierens‹ eines ›weiblichen sprechenden Subjekts aus der Unmöglichkeit seines Existierens‹«. Diese Absage an ein fühlendes Subjekt – ob männlich oder weiblich – stellt für ein Alltagsverständnis von Gefühlen einen radikalen Bruch mit traditionellen Mensch-Gefühls-Vorstellungen, die weitgehend davon geprägt sind, dass gerade Gefühle das »Persönliche« des Menschen ausmachten, dar. Der Reigen an Gefühlsbetrachtungen in Musik • Theater • Film schließt mit einem theoretischen medienwissenschaftlichen Beitrag über »Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst« der Medientheoretikerin MarieLuise Angerer, in dem sie neue Fragen für den gesamten Komplex Affekte/Emotionen/Gefühle akzentuiert und davon ausgeht, dass wir – die postfordistische Gesellschaft – uns in einem Prozess der »Industrialisierung des Gedächtnisses« und der »industrielle[n] Bearbeitung der Wunschökonomie« befinden. Nicht mehr – wie noch in den 1950er-Jahren – stehe die Sexualität als agent provocateur und Steuerungsinstrument der Subjektivierung im Zentrum des Interesses, an ihre Stelle sei heute der Affekt, die »Affektizierung als Machtstrategie«, getreten. Heute ließe sich – so Angerer – »eine neue Liaison feststellen, die sich aus der Verbindung von biologischem und informationstechnischem Ansatz herstellt […]. Dabei kann der Affekt als Medium der Verbindung bzw. als dieses Intervall betrachtet werden, das Leben und Technik bzw. Leben als Technik vermittelt.« Die Entkoppelung des Gefühls vom Subjekt sei ein qualitativ neuer Zustand, sei ein transformativer Vorgang, der da ablaufe. Mit Einsichten in post-subjektives Affektmanagement wird ein Band beschlossen, der die Frage nach gegenderten Gefühlen in Musik • Theater • Film stellt – eine Frage, die in einer Cyborg-Medien- und Informationstechnologie-Welt nicht mehr relevant zu sein scheint. Wir, die Herausgeberinnen dieses Bandes, sehen einerseits – da den Postsubjekt-MedientheoretikerInnen gedanklich folgend –, dass gegenderte Gefühle in die Zukunft antizipierenden Theorien keinen Platz mehr haben, möchten aber darauf hinweisen, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts in dem u. a. krisengeschüttelten, fragilen Zusammenleben der Geschlechter von einem solchen Szenario realiter noch nicht ausgegangen werden kann und deshalb ein Nachdenken über die Wirkungsmechanismen von gegen19

Andrea Ellmeier · Doris Ingrisch · Claudia Walkensteiner-Preschl

derten Gefühlen weiterhin eine gesellschaftspolitische und kulturwissenschaftliche Herausforderung darstellt.

Anmerkung 1 Dieses Marlene-Streeruwitz-Zitat steht in keinem dezidierten Gefühls-Diskussions-Zusammenhang, sondern im Kontext einer Kontrollgesellschaftskritik. Deshalb im Folgenden der Wortlaut des erweiteren Zitates  : »Wütend. Das ist ein Zustand, in den man oder frau gerät und sich dann darin befindet. Im Entstehen der Wut. ›Da bin ich aber wütend geworden‹, erzählen wir und schauen so zustimmungsheischend um uns. Im Zustand des Wütend-Werdens fühlen wir uns berechtigt. Berechtigter. Der Vorgang des Wütend-Werdens erzählt uns selbst und denen, denen wir davon erzählen, davon, dass wir am Leben sind. Das wiederum beschreibt uns und denen, denen wir erst aus diesem Zustand etwas erzählen können, dass wir in Gesellschaft sind. Das WütendWerden ist fast der einzige Bericht darüber, wie wir auf die Welt treffen. Auf die Welt außerhalb von uns und unserer Privatheit. In unseren Kontrollgesellschaften erscheinen wir uns ja zuerst einmal ermächtigt. Es gibt immer die anderen, die kontrolliert werden müssen. Wir. Wir selbst. Wir fühlen uns tugendhaft und …« (Streeruwitz 2011, 21)

Literatur Simone de Beauvoir (1982 [frz. 1949/dt. 1951]), Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg Aaron Ben-Ze’ev (2009 [2001]), Die Logik der Gefühle. Kritik der emotionalen Intelligenz, aus dem Englischen von Friedrich Griese, Frankfurt a. M. (Orig.  : The Sublety of Emotions, Cambridge/ Mass/London) Pierre Bourdieu (1983 [frz. 1979/dt. 1981]), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, 2. Auflage, Frankfurt a. M. Judith Butler (1991 [1990]), Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Katharin Menke, Frankfurt a. M. (Orig.  : Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York/London) Judith Butler (1997 [engl. 1993/dt. 1995]), Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, aus dem Amerikanischen von Karin Wördeman, 2. Auflage (edition suhrkamp Neue Folge Band 737), Frankfurt a. M. (Orig.  : Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London) Judith Butler (2009), Krieg und Affekt, hg. u. übersetzt von Judith Mohrmann, Juliane Rebenitsch und Eva von Redeker, Zürich/Berlin Christoph Demmerling, Hilge Landweer (2007), Philosophie der Gefühle.Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar Antonio R. Damasio (2007 [2003]), Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, 4. Auflage, Berlin (Orig.  : Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain, Harcourt) Christl Eckart (2009), »Zur Einleitung. Die aufklärerische Dynamik der Gefühle«, in  : Sabine Flick,

20

Zur Einleitung

Annabelle Hornung (Hg.), Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel, Bielefeld, 9–22 Pascal Eitler, Monique Scheer (2009), »Emotionsgeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert«, in  : Geschichte und Gesellschaft, 35. Jg., 282–313 Astrid Fingerlos (2007), »Emotionsmanagement – Arbeit am Gefühl«, in  : Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 3 (2007)  : Themenschwerpunkt Emotionen, hg. v. Helga Mitterbauer und Katharina Scherke, Innsbruck/Wien/Bozen, 48–62 Karin Hausen (1976), »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in  : Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen hg. v. Werner Conze, Stuttgart, 363–393 Arlie Russell Hochschild (2006 [1. dt. Ausgabe 1990/engl. 1983], Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, aus dem Englischen von Ernst von Kardorff. Mit einem aktuellen Vorwort von Arlie Russell Hochschild und einer Einleitung von Sighard Neckel, Frankfurt a. M./New York (Orig.  : The Managed Heart. Commerzialisation of Human Feeling) Claudia Honegger (1992), Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, 2. Ausg., Frankfurt a. M./New York Eva Illouz (2007), Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004, aus dem Englischen von Martin Hartmann, hg. v. Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1857), Frankfurt a. M. Alexander Kluge (2009), Das Kraftwerk der Gefühle & Finsterlinge singen Bass, Edition Filmmuseum  : DVD Martin Kugler (2011), KI  : Intelligent, aber kein Gefühl, in  : Die Presse, 19.02.2011, abrufbar unter http  ://diepresse.com/home/techscience/hightech/635612/print.do (18.8.2011) Hilge Landweer, Ursula Renz (Hg.), Alexander Brungs (Mitarbeit) (2008), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin u. a. Karin Lohr (Hg.) (2005), Subjektivierung von Arbeit. Riskante Chancen (Forum Frauenforschung, Bd. 18), Münster Carola Meier-Seethaler (2001), Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, 3. Aufl., München Laura Mulvey (1975), »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in  : Screen 16/3 (1975), 6–18 Agnes Neumayr (Hg.) (2007), Kritik der Gefühle. Feministische Positionen, Wien Catherine Newmark (2009), »Weibliches Leiden – männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Affektenlehren«, in  : Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel, hg. v. Sabine Flick und Annabelle Hornung, Bielefeld, 7–18 Claudia Opitz, Ulrike Weckel, Elke Kleinau (Hg.) (2000), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster Marlene Streeruwitz (2011), »Wider die Kontrollwut. Ist das Wut, wenn man oder frau es immer gerade erst wird …«, in  : Theater heute. Jahrbuch, 21–22

21

Heide Schlüpmann

Das Wissen der Gefühle Mir gibt zu denken, dass seit einiger Zeit die (kultur-)wissenschaftliche Befassung mit den Gefühlen, wie auch zuvor schon die mit dem Körper und schließlich jetzt auch den Tieren, boomt. Im Folgenden geht es um Reflexionen zum Verhältnis von Wissenschaft, insbesondere der Filmwissenschaft, zum Bereich der Gefühle. Die Filmwissenschaft nimmt eine besondere Stellung ein, weil ihr Gegenstand bekannt und beliebt dafür ist, dass er Emotionen Ausdruck und im Kino Raum gibt. Filmwissenschaft wird hier aus der feministischen Perspektive in den Blick genommen, eine Perspektive, die in den 1970er-Jahren im Zusammenhang mit der Frauenbewegung entwickelt wurde und von da aus in das akademische Feld einwanderte. Die kritisch-analytische Thematisierung der Gefühle im Kino wurde damals vom Impuls der Destruktion getragen. Wissenschaftliche Annäherung implizierte eine Politik der Gefühle. So zumindest meine These. Um diese zu verdeutlichen, werde ich den geschichtlichen Kontext vergegenwärtigen, in dem sich die Filmkritik der 1970er-Jahre entwickelte, auf den sie reagierte. Den Rückblick begleitet eine doppelte Frage ans Heute  : Erstens, was ist aus dem Kino als Raum der Gefühle geworden, und zweitens, wohin ging sie, die (feministische) Filmwissenschaft, wohin könnte sie gehen  ?

Die »totale Negation« Paradigmatisch für die feministische Filmkritik und -theorie der 1970er-Jahre ist Laura Mulveys Aufsatz »Visual Pleasure and Narrative Cinema«. Darin fordert sie die Zerstörung der Gefühlsbindungen im Kino. Das hieß vor allem  : der Lust an Hollywoodfilmen. Auf der Konferenz »Doing Women’s Film History«, die im April 2011 in Sunderland stattfand, sprach Mulvey davon, wie sie das Kino einmal geliebt und sich als Cinéphile verstanden hatte, bevor sie dann entschieden mit dieser Gefühlsbindung brach. Diesen Bruch erhebt »Visual Pleasure and Narrative Cinema« zur politischen Forderung  : 23

Heide Schlüpmann

Man sagt, dass durch Analysieren Vergnügen oder Schönheit zerstört werde. Die Befriedigung und die immer neue Bestätigung des Ego, wie sie die bisherige Filmgeschichte kennzeichnen, müssen destruiert werden – weder zugunsten eines rekonstruierten, abstrakten Vergnügens noch zugunsten eines intellektualisierten Unbehagens, sondern um der totalen Negation des Behagens und der Fülle des narrativen, fiktionalen Films den Weg zu bahnen. (Mulvey 1980 [1973–1975], 33)

Der feministischen Kritik am Hollywoodkino, dem narrativen Kino par excellence, ging eine Veränderung des Kinos voraus. Es verlor seit den 1950er-Jahren sukzessive an Publikum, dem sich nun das Fernsehen anbot. Im Kreis der Familie, neben der Hausarbeit ließen sich im eigenen Heim Filme schauen, Soap Operas zumal. Die Produktion fürs Kino reagierte darauf mit einer Tendenz zu sogenannten Buddy Movies. Die Zeit der großen Melodramen war vorbei. Gleichzeitig gewann der Autorenfilm mit der Nouvelle Vague, dem Neuen deutschen Film und anderen Bewegungen gerade in Europa an Stärke. Hier fand ein Bruch mit dem klassischen Narrativen Kino statt, deutlich bei Jean-Luc Godard und etwa Alexander Kluge. Das geschah nicht zuletzt im Zusammenhang mit den politischen Bewegungen der 1960er-Jahre. Eine Politisierung des Films vollzog sich, die auch zu Überlegungen einer Politik der Form führte. Dabei griff man auf die 1920er-Jahre zurück, auf Eisenstein, Vertov, das Kino der Montage und der Massenaufklärung. Der Rückgriff geschah nicht zuletzt als Reaktion auf den europäischen faschistischen, insbesondere NS-Film, auf das Massenkino als Ideologiefabrik. Gegen Gefühle als Kitt gewann an neuem Gewicht, was Serge M. Eisenstein den »intellektuellen Film« nannte. Sein Mittel war die »intellektuelle Montage der Attraktionen«. Er schrieb etwa  : Wir haben die Möglichkeit, ein ganzes System von Filmen zu schaffen, die fähig sind, die Abstraktion einer These unmittelbar auf emotioneller Ebene aufblühen zu lassen  ! Wir haben die Möglichkeit des »intellektuellen Films«. (Eisenstein 1963, 47)

Emotionen wurden als Ebene gewertet, auf der Erkenntnisse »aufblühen« können. In den Versuchen einer Aufklärung der Massen im Kino kamen das revolutionäre und das bürgerliche Denken darin überein, dass sie eine Hierarchie zwischen Intellekt und Emotion/Gefühl vertraten. Auch wenn es nicht alle so deutlich wie Gustave LeBon sagten  : Die Massen sind wie die Frauen gefühlsbetont. Masse, Frauen, Gefühl gehören zusammen.1 Der männliche Intellekt bringt die Manipulation oder die Aufklärung. 24

Das Wissen der Gefühle

Die feministische Kritik scherte aus diesem filmpolitischen Denken aus. Sie war weniger einer Politisierung der Massen unmittelbar verbunden als einer der Gefühle. Nach Laura Mulvey schafft der Bruch mit »gewohnten angenehmen Erwartungen« Raum für »eine neue Sprache des Begehrens« (Mulvey 1980 [1973– 1975], 33). Statt die Emotionalität zu unterwerfen, kommt es darauf an, ihr ihren eigenen Ausdruck zu geben. In der feministischen Kritik der 1970er-Jahre verbarg sich auch eine Umwertung des Zusammenhangs von Masse, Gefühl und Frauen  ; es war ein Entschluss, sich in diesem Zusammenhang selbstbewusst zu verstehen und das männliche Vorurteil abzustreifen. Nur so lässt sich auch das Engagement am Hollywoodkino – dem Kino der Massen par excellence – noch in der Negation verstehen. Die radikalkritischen Texte von Claire Johnston (1977 [1973]) und Laura Mulvey lösten eine Fülle von Auseinandersetzungen feministischer Autorinnen mit dem Hollywoodkino aus. Durch die Integration der feministischen Theorie in den akademischen Kontext im Lauf der 1980er-Jahre trat das Engagement an dem Begehren und seinem Ausdruck gegenüber der Leistung der Analyse in den Hintergrund. Zugleich verlor auch im Lauf der 1980er-Jahre das Paradigma der Psychoanalyse an Bedeutung. Das oppositionelle Selbstverständnis im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu den Massen und dem Körper der Gefühle verblasste über der Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs. Wir haben Bildungsinstitutionen, die in abstraktem Wissen ausbilden. Wir haben keine Bildung der Gefühle – der Massen, der Frauen somit. Verstanden als Objekte wie Subjekte. Das Regime der Ratio verhindert das, denn, wie bereits im Kapitalismus des frühen 19. Jahrhunderts Arthur Schopenhauer feststellte  : »[…] unter dem weiten und negativen Begriff des Gefühls« fasst die Vernunft ein reiches Feld dessen zusammen, was sie »nicht weiter in ihre Abstraktionen aufnehmen kann« (Schopenhauer 1965 [1819], 306).. Der »negative Begriff« geht Hand in Hand mit einer Abwehr und Reduktion der Gefühle. Wie sieht das Verhältnis der Filme, des Kinos zu den Gefühlen heute aus  ? Die Filme Godards oder Kluges der 1960er- und 1970er-Jahre waren »intellektuelle Filme«. Und das auch oder in erster Linie im revolutionären Sinne einer Aufklärung der Massen. Heute ist die Trennung zwischen Autorenfilm, Film als Kunst hier und Massenkino dort dominant. Es scheint mir, dass in dieser Trennung die »Gefühle« einen schweren Stand haben. Gefühle sind ein psychophysisches Phänomen. Die Blockbuster heute adressieren nun in hohem Maße das bloß Physische, Horrorfilm, Actionkino wirken direkt auf den Körper ein. Sie durchstreichen in dieser Adressierung die Entfaltung von Gefühlen. Sie erzeugen Schocks, die den Atem rauben. 25

Heide Schlüpmann

Den Autorenfilmen, auf der anderen Seite, fehlt die physische Dimension, wenn sie die psychischen Welten zeigen. Sie haben etwas Künstliches oder sind einfach nur blass und leer. Für beide Arten der Filmproduktion gilt aber, so meine These, dass sie Gestalten des »intellektuellen Films« sind. In dem Sinne nämlich, dass das Wissen vom Film in die Herstellung der Filme, in die Filme eingewandert und zu ihrer eigentlichen Grundlage geworden ist. Im Gegensatz zu ihrem eigenen Ursprung erwarten diese Filme im Publikum die andere Seite, nämlich die emotionale Grundlage, die Produktion von Emotion, Gefühlen etc. Mal zielt dabei die Erwartung mehr auf den Körper, mal auf die »Seele«. Das hat zur Folge, dass das Publikum in lauter einzelne Produzenten und Produzentinnen zerfällt, weder findet ein Austausch von Gefühlen zwischen Leinwand und Publikum noch im Publikum untereinander statt. Das ist die Stunde der wissenschaftlichen Befassung mit dem Film. In dem zweifelhaften Sinn, dass sie das Wissen, das in die Filme eingegangen ist, leicht wieder herausholen und in Texten sichtbar machen kann. Eine entpolitisierte Ideologiekritik oder Filmanalyse. Bedeutsamer ist eine andere Möglichkeit. Die Filmwissenschaftlerin kann eine Verbindung zwischen dem Wissen und den Gefühlen zur Darstellung bringen, die den Filmen fehlt und die im Kino sich nicht wirklich herstellt. Denn das Wissen bleibt dort immer das des Films, während die Zuschauerin auf die Mobilisierung ihrer Gefühlswelt, ihrer Erinnerungen, Phantasien und ihrer Körperreaktionen verwiesen ist. Nach dem Kino jedoch vermag sie als Wissenschaftlerin beides miteinander zu vermitteln und, wenn sie spricht oder schreibt, die Verbindung anderen mitzuteilen. In dieser Darstellung und Vermittlung sind die Gefühle und das Wissen, sind Emotionen und das rationale Denken gleichberechtigte Gegenstände und zugleich beide Repräsentanten eines nichtidentischen Subjekts. Es konstituiert das Feld einer Filmwissenschaft, die sich der Institution Wissenschaft nicht einfügt, vielmehr innerhalb dieses Rahmens einer Übersetzung des Kinos verpflichtet ist, das es nicht mehr gibt  ; einer Einrichtung, die dem »ganzen Menschen« in seinen Träumen, Empfindungen, Phantasien, nicht dem rationalen Diskurs galt. Dieser geschichtliche – massenkulturgeschichtliche – Hintergrund unterscheidet den filmwissenschaftlichen Text von dem bloß subjektiven, empfindsamen Ausdruck wie auch von einer bloß »objektiven«, im System des abstrakten Wissens befangenen Erkenntnis. Was heißt, es gibt das Kino nicht mehr  ? Die heutige Filmwissenschaft entspricht einer Kinosituation, in der das Kino als Raum des Austauschs von Empfindungen, Wechselspiel zwischen Erschei26

Das Wissen der Gefühle

nungen und Wahrnehmung, als Ort des eigenen und eigentümlichen Wissens der Gefühle, als einer Kultur der Masse somit – und der Frauen – nicht mehr existiert. Sind wir also bei der Eliminierung von Gefühlsbindungen angelangt, die Laura Mulvey einmal im Zeichen der »totalen Negation« vollziehen wollte  ? Vielleicht ja, wenn ich ihr neueres Buch aus dem Jahr 2006 »Death 24 x a Second. Stillness and the Moving Image« bedenke, in dem sie den pensive spectator favorisiert, sich selbst als diesen pensive spectator imaginiert. Dieser nämlich sitzt nicht mehr im Kino, sondern vor dem Bildschirm und vermag mit der Hand am Geschwindigkeitsregler Wissen und emotionale Adressierung durch den Film zu vermitteln. Einmal richtete sich die Kritik gegen Filme, Hollywoodfilme. Das Kino sollte sich mit anderen Filmen füllen. Doch denke ich Mulveys Parteinahme für die einsame Zuschauerin weiter, dann hätte in der Perspektive der feministischen Kritik auch eine Zerstörung des Kinos gelegen. »Totale Negation«. Das ist jedoch nicht der alleinige Schluss. Das Projekt der »Zerstörung« verdient genauere Betrachtung.

Zerstörung, Restauration, Emanzipation Als die feministische Kritikerin die Zerstörung emotionaler Bindungen durch Analyse propagierte, stand unausgesprochen, vielleicht auch unbewusst, die Zerstörung von Gefühlsbindungen, die bereits stattgefunden hatte, im Hintergrund. Zerstört wurde, wie gesagt, die Bindung der Masse der Frauen ans Kino nicht zuletzt dadurch, dass die Produktion von Filmen, die sie liebten, aufhörte  ; oder durch die Produktion von Filmen, die nicht wirklich befriedigten. Der kanonische Text Mulveys gibt nur indirekt Auskunft über die Erfahrung, betrogen zu werden, die dem Entschluss, den Trug zu entlarven, vorausgegangen sein muss.2 Meine Generation erlebte solche Verluste und Enttäuschungen in den 1960er-Jahren in hohem Maße. In bildungsbürgerlicher Familie aufgewachsen, wurde mir die Liebe zur Literatur, zur Kunst, zur Philosophie vermittelt. Im Laufe meiner Studienzeit gingen diese Bindungen in die Brüche. Die Antwort war, sich bewusst von der bürgerlichen Kultur abzuwenden. Eine emotionale Verlusterfahrung fand statt, aber mit ihr zugleich bildete sich eine Erkenntnis  : die Erkenntnis der Zerstörung nicht nur kultureller, sondern auch gesellschaftlicher Gefühlsbindungen durch die Kriege und Massenmorde in Europa. Vernichtet worden war, was Sigmund Freud noch Anfang der 1920er-Jahre »Massenseele« nannte, deren Wesen, wie er schrieb, in »Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrückt  : Gefühlsbindungen)« besteht (Freud 1921, 238). 27

Heide Schlüpmann

Die 1950er-Jahre waren Jahre einer Restauration, die Hand in Hand mit Verdrängung der Geschichte – und fortdauernden Gegenwart des Krieges und des Rassismus – gingen. Der Verdrängung dessen, dass die Gefühlsbindungen in der Gesellschaft – bis tief hinein in die Masse der Menschen – zerstört waren. Als die Nachkriegsgeneration erwachsen wurde, kam das schlagartig zu Bewusstsein. Erkenntnis und Aufbruch aus der Restauration prägten die folgenden, die 1960er-Jahre. Das ist in Erinnerung zu rufen, um zu sehen, dass der bewussten Zerstörung von Gefühlsbindungen, dem Bruch mit der bürgerlichen Kunst, Philosophie und Kultur, aber eben auch mit dem »herrschenden Kino« die unbewusste Zerstörung vorherging sowie die anschließende Restauration von Bindungen, von Gefühlen über dem Abgrund der Verdrängung. Damals war viel die Rede von den »falschen Gefühlen«. Emanzipation hieß dementsprechend, die Zerstörtheit unserer emotionalen Bindungen zu erkennen und die Zerstörung der restaurierten, falschen Bindungen zu betreiben, um schließlich Perspektiven eines neuen gesellschaftlich-kulturellen Lebens zu gewinnen. Eine solche Perspektive schien sich grundsätzlich mit dem vom Bildungsbürgertum gering geschätzten oder gar verachteten Kino zu eröffnen. Kino war wie Popmusik eine Kultur jenseits der bürgerlichen Klasse. Die haltlos, gegenstandslos gewordene Liebe wandte sich ihr zu. Die Cinéphilie der 1960er-Jahre implizierte eine solche Verschiebung. Umso stärker musste dann die Reaktion ausfallen, wenn auch dort die Liebe wieder auf Strukturen herrschender Kultur stieß – die Wiederholung patriarchaler Ästhetik und Ideologie im Feld der technischen Reproduktion. Gleichwohl blieb das Kino als Ort des Anderen inmitten der restaurativen Gesellschaft eine folgenreiche Entdeckung. Indem es als eine Kultur der Massen, eine Kultur der Frauen und der Gefühle in Anspruch genommen wurde, setzte zugleich die Erkenntnis ein, wie diese Kultur im Rahmen der herrschenden Gesellschaft beschränkt und entstellt worden war. Und es begann der Kampf gegen die Formen der Entstellung durch die Klassen- und Geschlechterherrschaft. Die politische Linke konnte sich auf das Revolutionskino der 1920er-Jahre stützen, die Feministinnen suchten nach Filmemacherinnen in der Geschichte, wurden aber nur vereinzelt fündig. In gewisser Weise begegneten sie erst mit der Wiederentdeckung des Frühen Kinos ihrem Kino in der Geschichte. Sie entdeckten »das Kino« für sich – nicht eine bestimmte Filmbewegung. Wenn auch das Kino einer bestimmten Epoche. Das war Anfang der 1980er-Jahre. Im Frühen Kino ließ sich die trotz aller Kritik durchgehaltene Liebe reflektieren, fand sie ihre Bestätigung. Da aber waren die politisch-kämpferischen Jahre schon vorbei  ; die geschichtliche Reflexion eröffnete nicht mehr eine neue oder erneuerte gesellschafts-politische Bewegung. 28

Das Wissen der Gefühle

In den bewegten 1970er-Jahren hatte sich feministische Filmkritik an der Zukunft, nicht an der Einsicht ins Archiv orientiert. Sie war anders als das heutige Subjekt der Filmwissenschaft mehr oder weniger geschichtlich grundlos. Der Mangel an Kontinuität, die immer erneuten Abbrüche in der Geschichte der Frauen waren damals Thema. Es ging darum, Luftwurzeln zu treiben, sich vom etablierten Kino hin zu einem zukünftig möglichen neuen zu bewegen  ; einem, das »zu einer neuen Sprache des Begehrens« gelangt. Es sollte durch andere Filme, die erst geschaffen werden mussten, entstehen. Feministische Filmtheorie verband sich den Filmemacherinnen, auch hier gab es eine Tendenz zum »intellektuellen Film«. Aber er sollte Avantgarde des zukünftigen Films für die Masse der Frauen sein. Das war ein Gedanke, der die Filmarbeit von Germaine Dulac zwischen einem experimentellen cinéma pur und dem Spielfilm bereits in den 1920er-Jahren bestimmt hatte.

Liebe/Welt der Gefühle und Erkenntnis/Wissensgesellschaft Für mich ist heute eigentlich verwunderlich, wie stark die Bindung meiner Generation von feministischen Filmtheoretikerinnen und -praktikerinnen an das Kino ist oder war. Wie wir immer ans Kino dachten und für das Kino arbeiteten und zugleich doch die Masse der Frauen gar nicht mehr hinging. Die Liebe der Masse und der Frauen zum Kino war ja nicht erst in den 1960erJahren verloren gegangen, sondern im Grunde bereits mit den Jahren des Faschismus zerstört worden. Aber vielleicht kam es gerade darauf an, sich durch diese Erfahrung nicht wie die Eltern in die alten Kunst- und Bildungskasten zurücktreiben zu lassen, den Ideologen nicht das Feld zu überlassen, vielmehr auf dem Anspruch einer Kultur der Masse zu beharren. Die Orte, die Gebäude der Kinos gab es noch und überdies eine Kinobewegung, die solchen Anspruch vertrat. Die zutiefst libidinöse Bindung ans Kino war zwar in der Tat von innen her, durch Filme, die produziert und gezeigt wurden, zerstört worden, aber die Außenhaut bestand fort, und wir konnten hoffen, durch andere Filme das Publikum wiederzugewinnen, die Kinos erneut zu füllen. Ja, die Hoffnungen gingen weiter  : im Kinopublikum auch den Beginn eines neuen gesellschaftlichen Zusammenhangs zu bilden. Heute ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass es damals – in den 1960er- und 1970er-Jahren – eine programmatische Kinobewegung unterschiedlicher Ausprägung gab, zugleich mit Verleihinitiativen, die insbesondere Kopien im leicht handhabbaren 16-mm-Format in Umlauf brachten. 29

Heide Schlüpmann

In der eigenen Liebe zum Kino waren wir allerdings auch nicht einfach die letzten Mohikanerinnen aus der Masse der Frauen, die sich nun dem Fernsehen zugewandt hatte. Es handelte sich um eine erneuerte Liebe. Die Erneuerung beruhte, wenn ich von mir ausgehe, auf der sowohl emotionalen als auch intellektuellen Reaktion auf den Verlust der Liebe zur Kultur, in der wir aufwuchsen. Alles, was dort an Gefühlen nicht mehr unterzubringen war, wandte sich noch einmal dem Kino zu, einem Ort, so würde ich sagen, der die Geschichte einer anderen Kultur noch in sich trug  ; eine Geschichte, die durch Filme auch immer wieder vergegenwärtigt werden konnte und eben in den Kinobewegungen auch vergegenwärtigt wurde. Aus dem gebrochenen, reflexiven Gefühl fürs Kino ging schließlich eine eigene Erkenntnis des Kinos hervor – von dem, was es war, was es sein könnte. Sie unterscheidet sich von den geläufigen Begriffen des Kinos und des Films. In erster Linie gilt das Kino als Massenunterhaltung. Seinen ehemals singulären Status hat es dabei längst verloren und ist heute in diesem Sinne eine Unterhaltung unter einer Vielzahl von anderen, darunter den Computerspielen, geworden. Gerade im Verhältnis und in Abgrenzung dazu hat sich der Begriff des Films als Medium durchgesetzt, dessen Gebrauch sich zwischen Kommunikation und Kunst erstreckt. Ein Medium unter anderen. Im Kontext der revolutionären Linken wiederum wurde der Film einmal als Möglichkeit für die Aufklärung der Massen gesehen und begriffen, er richtet sich an ein emotionsgeladenes Publikum, um eingreifend zu wirken, um ihm Gedanken zu vermitteln. Das feministische Engagement am Kino förderte schließlich eine nochmals andere Sicht, die Erkenntnis, dass das Kino die Massen nicht für sich gewann, weil es einfach und umstandslos den Gefühlen statt dem Intellekt Nahrung gab. Seine Anziehungskraft beruhte vielmehr von vornherein darauf, dass es inmitten der Zerstörung und Zerstörtheit von libidinösen Bindungen den Empfindungen des Verlusts und Mangels Raum gab. Das befreite ein Verlangen nach Gefühlen und Erfühlen, nach Empfindungen, sinnlichem Erleben, Emotionen und Leidenschaften und ließ es sich entfalten. Es entstand ein Raum, in dem das Bedürfen zu sich kommen konnte. Es ist – mit Siegfried Kracauer zu sprechen – das Bedürfnis nach äußerer Wirklichkeit, von der wir in der Abstraktion des Bewusstseins, das als Ideologie, Wissenschaft und Technik das gesellschaftliche Leben regiert, getrennt sind  ; Wirklichkeit, mit der der Austausch fehlt, in der wir nicht mehr wirklich sind. Wenn heute die Gefühle zum Thema der (Kultur-)Wissenschaft werden, und das geschieht etwa zugleich mit der Thematisierung des Körpers und der Tiere, dann ist das Symptom für die Empfindung eines Verlusts, eines Mangels. Also 30

Das Wissen der Gefühle

eine ernste Angelegenheit. Zugleich ist die Wissenschaft alles andere als ein Ort, an dem diese Empfindung, die Reflexivität des Gefühls, sein Wissen zum Tragen kommen kann. Sie vermag daher nicht im Ernst auf die Katastrophe zu antworten. Die Filmwissenschaft bildet da keine Ausnahme, vielleicht ist sie in der Lage, ein Spiel zu treiben, Verunsicherung in das akademische Feld zu bringen, indem sie sich nicht an die Regeln hält. Jenseits des akdemischen Erfolgssystems – mit den Schlagwörtern Elite, Exzellenz etc. – hängt aber das Geschick der Filmwissenschaft am Ende davon ab, was aus der Liebe zum Kino wird. Mit ihr geraten wir anscheinend in eine Bewegung, die der Suche nach der verlorenen Zeit ähnelt. Darin finden sich jedoch nicht Nostalgiker_innen und Melancholiker_innen unter sich wieder. Denn diese Bewegung insistiert darauf, dass die Zeit keine Linie ist, die sich zwischen Vergangenheit und Zukunft erstreckt. Kino ist ein geschichtliches Phänomen, aber damit keineswegs eines, das sich einfach in eine Vergangenheit abschreiben ließe. Das Film-Archiv wartet weitgehend immer noch auf seine gesellschaftspolitische Bewegung. Obwohl Ansätze dazu da sind. Überall dort, wo das Archiv nicht dem access allein, der technischen und verwaltungstechnischen Regelung eines allgemeinen Zugriffs, überlassen bleibt.

Anmerkungen 1 Vgl. LeBon 1982 (1895). Darin heißt es etwa  : »Überall sind die Massen weibisch« (22)  ; oder  : »Die Einseitigkeit und Überschwenglichkeit der Gefühle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewißheit. Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Äußersten.« (30) 2 Die Geschichtsschreibung des spezifischen Verhältnisses von Frauen zum Kino begann mit der Wiederentdeckung des Frühen Kinos. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieses Verhältnis sehr deutlich zu erkennen. Einerseits deswegen, weil die soziale Situation der Frauen damals noch klar von der der Männer unterschieden war. Beispielsweise stand es den Frauen abends nicht zu, alleine auf die Straße zu gehen, es gab für sie keine öffentlichen Orte wie Kneipen, Versammlungsräume u. Ä.  ; der Gang ins Kino vermochte diese Ausgangssperre zu durchbrechen. Andererseits, weil die Filme aus dieser Zeit dokumentieren, wie sehr auf die Frauen als Publikum eingegangen wurde. Zudem gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür, dass die Filmwirtschaft um die Frauen warb. Von den 1920er-Jahren an wird das genuine Interesse der weiblichen Kinogängerinnen oft von den wirtschaftlichen und den damit verbundenen ideologischen Interessen überlagert. Ein Beispiel dafür sind die »Women’s Movies«, die Hollywood eigens für das Frauenpublikum produzierte. Die feministische Filmkritik unterschied deswegen energisch zwischen »Frauenfilmen«, die sie auch unter den Autorenfilmen dieser Zeit bemerkten, und den Filmen von Frauen. In den 1960erJahren verschiebt sich das ökonomische Interesse an einem weiblichen Publikum vom Kino auf das Fernsehen.

31

Heide Schlüpmann

Literatur Sergei M. Eisenstein (1963), »Der intellektuelle Film«, in  : Erinnerungen, aus dem Russischen übertragen von Verena Vogt, Zürich, 38–49 Sigmund Freud (1921), »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (gesammelte Werke, Band XIII), in  : Ders., Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse, 215–285 Claire Johnston (1977 [1973]), »,Frauenfilm als Gegenfilm‹, Auszug aus ,Notes on women’s Cinema‹«, in  : Frauen und Film, Nr. 11, März 1977 (Übersetzung von Silke Großmann und Gesine Strempel), 10–18 Gustave LeBon (1982 [1895]), Psychologie der Massen, Stuttgart (franz. Original  : »Psychologie des foules«) Laura Mulvey (1980 [1973–1975]), »Visuelle Kunst und narrativers Kino«, in  : Gislind Nabakowski Helke Sander, Peter Gorsen (Hg.), Frauen in der Kunst, Bd. 1 (dt. Übersetzung von Karola Graman), Frankfurt a. M., 30–46 Laura Mulvey (2006), Death 24 x a Second  : Stillness and the Moving Image, London Arthur Schopenhauer (1965 [1819]), Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Wiesbaden

32

Claudia Walkensteiner-Preschl

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino Nachempfunden an Douglas Sirks Universal-Filmen

Emotionen1 sind, wie es Eva Illouz in ihrem Buch »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« schreibt, sicherlich eine psychologische Entität, aber sie sind ebenso und vielleicht sogar noch stärker kulturelle und soziale Entitäten. »Über Emotionen verwirklichen wir kulturelle Formen des Personseins, so wie sie in konkreten und unmittelbaren, aber stets kulturell und sozial definierten Beziehungen ausgedrückt werden.« (Illouz 2006, 10) Wenn man die Wirkungsmacht des Kinos – nach Hermann Kappelhoff (2004) – grundsätzlich in seiner »emotionalisierenden Kraft kinematografischer Darstellungen«, begreift, dann ist das Kino vorwiegend ein Ort, an dem kulturelle und soziale Beziehungen stattfinden, wo über das Ergriffensein jedes Einzelnen, jeder Einzelnen sich ein kulturelles Beziehungsgeflecht verwirklicht. Auch die Definition von Michel Foucault ließe sich in diesem Sinne verstehen. Foucault definiert die Emotion als jene Bewegung, die die Seele in Bewegung versetzt und sich spontan von Seele zu Seele ausbreitet (Foucault 2005, 300 zit. nach Bellour 2008, 63). Somit als jene Bewegung, die in der Beziehung von Werk und RezipientIn auch die Gemeinschaft der ZuschauerInnen umfasst. Wie selbstverständlich verbindet Foucault in seinem kurzen Text »Denken, Fühlen« – wie Raymond Bellour feststellt – die Gefühle, die aufgrund einer Rezeption eines Kunstwerks entstehen, mit Gedanken, eben mit »Gedanken-Emotionen« (Bellour 2008, 63). Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich mich auf Auseinandersetzungen mit der emotionalen Wirkungsmacht Kino, wie sie in den 1970er-Jahren im Feld der Filmkritik und Filmwissenschaft im Bezug auf das Melodrama geführt wurden, beziehen. Das Filmmelodrama wurde im Gegensatz zum »männlich« konnotierten Western und Gangsterfilm bis in die 1970er-Jahre einer »weiblichen« Gefühls-Sphäre zugeordnet und im Allgemeinen als »Tränendrückergenre« abgetan. Mit der Entdeckung der avancierten und stilistisch hervorragenden Melodramen von Douglas Sirk – wie auch von Vincente Minnelli und 33

Claudia Walkensteiner-Preschl

Max Ophüls2 – erfuhr das Genre Anfang der 1970er-Jahre eine grundlegende Aufwertung. Diese Wende in der Bewertung eines Genres lässt sich auch als Anerkennung eines häufig dem »Weiblichen« zugeschriebenen kulturellen Beziehungsgeflechts respektive als eine Auflösung von Gefühl und Vernunft lesen. Zudem scheint dieser Diskurs hinsichtlich des Melodramatischen im Kino gerade im Zusammenhang mit der heutzutage vielfach (Medien-)wissenschaftlichen Beschäftigung mit Emotionen sehr aufschlussreich. Insbesondere, weil in den 1970er-Jahren diese Auseinandersetzungen wie selbstverständlich eine gesellschaftspolitische Haltung implizierten, die einem Publikum ausdrücklich – im Gegensatz zu vielen neueren Debatten – grundsätzlich eine kritische Reflexionskompetenz auch im emotionalen Wirkungsfeld Kino attestierte. Und somit ein Publikum – im Sinne Foucaults – als eine Gemeinschaft im Denken/Fühlen gedacht wurde. In einem zweiten Teil beziehe ich mich konkret auf einige Melodramen von Douglas Sirk aus den 1950er-Jahren, deren Schönheit, stilistische Eloquenz und Farbenpracht in Verbindung mit einer Gesellschaftskritik vielfach gewürdigt wurden. Dabei geht es mir im Besonderen um eine kritische Reflexion der Materialität der spezifischen Technicolor-Farben, um eine damit verbundene spezifisch »emotionale« Farbwahrnehmung seiner Filme.

Wer war Douglas Sirk  ? Seine Karriere als Theaterregisseur begann Detlef Sierck in Deutschland und drehte noch im Nazideutschland der 1930er-Jahre bei der Ufa (Universum-Film AG) Filme, unter anderem »Zu neuen Ufern« (D, 1937) und »La Habanera« (D, 1937), beide mit Zarah Leander. Im Jahr 1939 emigrierte er mit seiner jüdischen Frau, der Schauspielerin Hilde Jary3, nach Hollywood. Dort nannte er sich fortan Douglas Sirk und erhielt zunächst einen Vertrag bei Warner Bros., drehte dann bei verschiedenen anderen US-amerikanischen Film-Firmen und unterzeichnete schließlich im Jahr 1950 ein mehrjähriges Engagement bei Universal-International Pictures Co. Anfang der 1960er-Jahre kehrte Sirk nach Europa zurück. In Deutschland inszenierte er mehrere Theaterstücke und lehrte ab 1974 einige Semester als Gastdozent an der Filmhochschule München. Sirk drehte für die Produktionsfirma Universal in den 1950er-Jahren mehr als zwanzig Filme, darunter Melodramen, die heute zum Besten dieses Genres zählen  : »All I Desire« (All meine Sehnsucht, USA, 1952/53), »Magnificent 34

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

Obsession« (Die wunderbare Macht, USA, 1953), »All that Heaven Allows« (Was der Himmel erlaubt, USA, 1955), »Written on the Wind« (In den Wind geschrieben/Die Großen aus Texas, USA, 1955/56) sowie »Imitation of Life« (Solange es Menschen gibt, USA, 1958). Es handelt sich bei diesen Melodramen inhaltlich um gesellschaftskritische »Stories« über das amerikanische »Kleinstadt-Leben« (Halliday 1979, 130), das Sirk als Europäer durchaus mit distanzierter Haltung zum Teil schonungslos aufzeigte. Mit aufwendiger und teurer Farbtechnik (Technicolor, Eastman-Color) erzeugte er spezielle Effekte und hob seine Kritik deutlich hervor. Zu Beginn der 1950er-Jahre war das Fernsehen – in den USA, in Europa war das damals noch nicht der Fall – bereits zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz geworden, und die Studios hofften mit dem Einsatz von speziellen Effekten wie Breitwand respektive TechnicolorFarben ein Kinopublikum zurückzugewinnen. Ein Umstand, den Sirk zu nutzen wusste. Er stützte sich – wie er im Gespräch mit Jon Halliday im Jahr 1970 mehrmals betonte – über ein interessantes Drehbuch und gute Musik hinaus gerne auf stilistische Gestaltungsmittel, insbesondere auf die Kameraarbeit und auf den Schnitt. Sirk  : »Im Film ist die Kamera an die Stelle der Sprache getreten – und der Schnitt. Man muss mit der Kamera schreiben.« (Ebd., 140) Kein Geringerer als Jean-Luc Godard bezog sich 1959 – damals noch Filmkritiker bei der legendären Zeitschrift »Cahiers du Cinéma« – als erster Autorenfilmer auf Douglas Sirks eloquente Verwendung filmtechnischer Verfahrensweisen. Godard schrieb unter dem Titel »Tränen und Geschwindigkeit« in »Cahiers du Cinéma« eine geradezu hymnische Kritik zu Sirks Film »A Time to Love and a Time to Die« (Zeit zu lieben und Zeit zu sterben, USA, 1957/58). Godard faszinierte an Sirks Film vor allem die Verbindung von Sentimentalität und technischem Raffinement, die »irre Mischung« von »unauffälliger Einstellung« und »wahnsinnigem Cinematoscope« (Godard, 1971, 132f.). Ein so überschwängliches Lob für einen Film des Melodramen-Regisseurs Douglas Sirk – das hatte Ende der 1950er-Jahre im Kontext des Autorenfilms durchaus positive Konsequenzen. Es sollte der erste Schritt sein, den Hollywood-Regisseur Sirk in das Pantheon der Autorenfilmer (vgl. Koch 1988, 109) zu heben. In der Folge erschienen zu Sirk mehrere Kritiken und Essays in den schon erwähnten »Cahiers du Cinéma« wie auch in der deutschen Zeitschrift »Filmkritik«. Im Jahr 1971 schrieb der Filmemacher Rainer Werner Fassbinder einen emphatischen Zeitungsartikel über sechs Universal-Melodramen von Sirk und drehte als ein inoffizielles Remake von Sirks »All that Heaven Allows« (USA, 35

Claudia Walkensteiner-Preschl

1955) seinen Film »Angst essen Seele auf« (D, 1973). Ein weiteres Remake gab es 2002. Todd Haynes Film »Far from Heaven« 4 (Dem Himmel so fern, F/USA, 2002) erinnert auch an den Gefühls-Kino-Farbenmagier Sirk. Die Entdeckung insbesondere der Hollywoodmelodramen von Douglas Sirk (auch der Melodramen der Regisseure Vincente Minnelli und Max Ophüls) in den 1970er-Jahren löste nicht nur bei der Filmkritik und bei FilmemacherInnen eine weitreichende Kehrtwende zur Einschätzung des melodramatischen Filmgenres als ein »weiblich« konnotiertes Genre aus. Filmwissenschaftliche Beiträge befassten sich darüber hinaus erstmals ausführlich mit dem Melodramtischen und der emotionalen Wirkungsmacht Kino. Wie schon erwähnt, wurden bis dato im Allgemeinen Filmmelodramen bloß als »Schnulzen«, als »Rührstücke« und »Tränendrückerfilme« abgetan und vor allem einem »weiblichen Publikum« zugesprochen. Filmwissenschafter fanden den Einstieg zu diesen Filmen in erster Linie über deren technische Eloquenz sowie stilistische Schönheit, die nun plötzlich wahrgenommen worden war. Thomas Elsaesser, Paul Willemen und Geoffrey Nowell-Smith – um nur einige Vertreter der ersten Stunde dieser Kehrtwende zu nennen – bezogen sich einerseits auf unterschiedliche Traditionen des Melodramatischen in der Literatur, im Theater und in der Musik, insbesondere auf die Tradition des nachrevolutionären Dramas der französischen Romantik und auf das populäre viktorianische Theater, und sie orientierten sich andererseits an psychoanalytischen sowie strukturalistischen Ansätzen. Diese Studien arbeiteten unter anderem mit Begriffen wie »Distanciation« (Willemen 1971), »Hysteria and Excess« (Nowell-Smith 1977) oder »Family Melodrama« (Elsaesser 1994 [1972])5. Ab Ende der 1970er-Jahre brachten sich Vertreterinnen der Feministischen Filmtheorie, die ein spezifisches Interesse an der Aufwertung des Genres verfolgten, in die Debatte über das Melodrama ein, ging es doch um ein sogenanntes »weibliches Genre«, um ein anvisiertes »weibliches Publikum«, um ausgewiesene Genderthematiken sowie um die Frage nach unterschiedlichen Begehrensstrukturen. Molly Haskell, Laura Mulvey, Ann Kaplan, Christine Gledhill, Mary Ann Doane, Linda Williams, Heide Schlüpmann, Gertrud Koch, Annette Brauerhoch – um einige zu nennen – formulierten Ende der 1970er-Jahre erste psychoanalytisch und strukturalistisch orientierte Ansätze um theoretische Paradigmen (Phänomenologie, Kritische Theorie) und erweiterten später diese zum women’s film respektive zum Melodrama der 1930er- bis 1950er-Jahre. Als eine der Ersten beschreibt Laura Mulvey das Melodrama der 1950erJahre in ihrem Aufsatz »Notes on Sirk and Melodrama« aus dem Jahr 1977 als 36

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

Feld von ideologischen Widersprüchen. Gemeint seien vor allem die gesellschaftlichen Widersprüche der patriarchalen Gesellschaft, die sich insbesondere in den Familien – im Privaten – zeigten. Speziell in den Melodramen von Douglas Sirk trete die Funktionsweise der bürgerlich-patriarchalen (Familien-)Ideologie mit all ihren Konflikten und Dilemmata offen zutage, ja sie sei der eigentliche Inhalt dieser Melodramen, so Mulvey. Sie interpretiert die »Offenlegung« der Dilemmata, die in den Filmen häufig als innere Konflikte der weiblichen Figuren thematisiert sind, auch im Kontext sozialer Anerkennung. Alleine die Hervorhebung, die Betonung der Alltagsrealität von Frauen (Haushalt, Liebe, Sexualität) führe als ernsthaft inszenierter dramatischer Effekt vor allem dazu, dass die sozial geformte Geschlechterdifferenz (sexual difference) in patriarchalen Strukturen bewusst wahrgenommen werden könne. Am Ende der Melodramen stehe oftmals ein Kompromiss, die Figuren müssten sich aufeinander einstellen, um den Weiterbestand der (kleinbürgerlichen) Familie zu sichern. In diesem Prozess der Kompromissfindung, so Mulvey, erfahren innerdiegetisch spezifische Werte des Privaten (Heim, Liebe, Sexualität) durchaus eine Anerkennung. Vor allem, weil die männlichen Figuren sich mit der»weiblich« besetzten Domäne des Privaten arrangieren müssen. Dieser von Mulvey damals gewählte unkonventionelle Zugang offeriert auch dem Publikum eine differenzierte Lesart. Das Argument der Anerkennung des »weiblich« konnotierten Privaten im Kontext des Melodramatischen mag aus heutiger Sicht nicht mehr ganz so stark funktionieren, zumal in einer globalen Mediengesellschaft die deutliche Trennung von öffentlichem und privatem Bereich ohnedies aufgehoben erscheint und wir diese Trennung zwischen privat und öffentlich auch nicht mehr so deutlich wahrnehmen müssen. Nichtsdestotrotz formuliert Mulvey m. E. bereits in den späten 1970er-Jahren einen nicht zu unterschätzenden Aspekt hinsichtlich einer möglichen Leseart dieser Melodramen  : Durch eine unkonventionelle Sichtbarmachung von Konflikten und in Verbindung mit der Anerkennung des bis dahin gesellschaftspolitisch gering bewerteten Privaten brach möglicherweise für die Zuschauerinnen und Zuschauer bereits damals die klare Dichotomie der tradierten (bürgerlichen) Geschlechterzuschreibungen weiblich/männlich, die mit privaten-öffentlichen Handlungsfeldern korrespondierten, auf. Die Rezeption blieb – und darin liegt u. a. auch die Qualität dieser Filme – sozusagen offen für eine emotional wahrgenommene wie auch gedanklich konstruierte »andere«, weil vielseitigere Welt. Umso mehr, weil die sozialen Konflikte und Dilemmata in diesen Filmen als gesellschaftlich bedingte Widersprüche erkennbar wurden, die diese Filme nicht zu 37

Claudia Walkensteiner-Preschl

lösen vorgeben – und das trotz eines von den Studiosystemen damals geforderten Happy Ends. In ihrem Aufsatz »Melodrama in and out of the Home« von 1986 verschiebt Laura Mulvey ihre Argumentation allerdings mehr hin zu einer allgemeinen gesellschaftspolitischen Bedeutung dieser 1950er-Melodramen (vgl. Brauerhoch 1996, 76f.). Für Mulvey ist es kein Zufall, dass gerade in diesen Jahren das Familienmelodrama in Hollywood wieder auflebte. Amerikanische Frauen sollten nach ihrem substanziellen Beitrag als Erwerbstätige während des Zweiten Weltkriegs vom Arbeitsmarkt verdrängt, die »soziale Ruhe« in Form patriarchaler Restauration wieder hergestellt werden. In den Familienmelodramen, die unter anderem auch die traditionelle Rolle der Frauen in der (klein-)bürgerlichen Gesellschaft favorisieren, herrscht grundsätzlich eine Ideologie der getrennten Geschlechtersphären – die entlohnte Erwerbsarbeit für den Mann, die unentlohnte Hausarbeit für die Frau. Diesen Punkt haben mittlerweile zahlreiche sozialhistorische und kulturgeschichtliche feministische Arbeiten unterstrichen und um das Argument einer in den 1950er-Jahren in den USA etablierten und in Europa sich herausbildenden Konsumgesellschaft erweitert. So weisen beispielsweise Erica Carter und Andrea Ellmeier darauf hin, wie zentral gerade die ersten Nachkriegsjahrzehnte in den USA und in Europa für die Reformulierung eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses im Kontext des Wohlfahrtstaates (Westeuropa) und einer consumer’s republic (US-Amerika) waren.6 Einen bemerkenswert kritischen Kommentar über die wachsende Bedeutung der Konsumgesellschaft in den 1950er-Jahren liefert beispielsweise eine Szene in dem Film »All That Heaven Allows« (USA, 1955)  : Die Witwe Cary Scott ( Jane Wyman) erhält von ihren Kindern zu Weihnachten einen Fernsehapparat, wodurch sie ihrer Mutter gleichzeitig vermitteln, dass sie nun bald ganz alleine sein werde. Völlig fassungslos blickt sie auf den Bildschirm. Sie sieht sich und ihre zukünftig zu erwartende Einsamkeit im Gerät gespiegelt. In diesem Moment verändert sich auch die Farbqualität der Filmeinstellung. Die Kombination der heftig strahlenden Technicolor-Farben (Magenta, Clan und Gelb) weicht einer glanzlosen Mischung von Rotschattierungen.

Wünsche und Visionen im Kino Obwohl ich die gesellschaftspolitisch wichtige Argumentation einer deutlichen Reformulierung eines patriarchalen Gesellschaftsverhältnisses in den 1950er38

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

Jahren, wie sie auch in Hinblick auf Sirks Melodramen der 1950er-Jahren zu bedenken ist, absolut teile, möchte ich im Folgenden dennoch den vielseitigen Aspekt der »Offenlegung« – ich würde heute von »Sichtbarmachung« sprechen – eines soziokulturellen Konfliktpotenzials einer Gesellschaft durch melodramatische Effekte und ohne das damals übliche Happy End in Sirks Filmen hervorheben. Allein schon deshalb, um die komplexe sowie vielschichtige Lesart dieser Hollywoodfilme evident zu halten respektive zu unterstreichen. Ich beziehe mich zum einen auf den in Schwarz-Weiß gedrehten Film »All I Desire« (1953) nach dem Roman »Stopover« von Carol Brink aus dem Jahre 1953 und zum anderen auf den schon zitierten »All That Heavens Allows«, 1955 auf Eastman-Material gedreht und auf Technicolor kopiert. Die ersten Einstellungen des Films »All I Desire« verdeutlichen bereits zu Beginn die starken inneren Konflikte der weiblichen Hauptperson, Schauspielerin in der amerikanischen Provinz um 1900. Zu sehen ist nach einem Vorspann mit lyrischer Orchesterbegleitung der Vorplatz des Vaudeville-Theaters »Bijou«. Die Kamera zoomt auf ein eingerahmtes Theaterplakat. Mit knappen Worten weist eine weibliche Stimme aus dem Off auf den Schriftzug ihres Namens im unteren Drittel des Plakats hin  : »Naomi Murdoch, that’s me.« Naomi resümiert in trockenem Tonfall, dass sie in ihrer Karriere als Schauspielerin zwar nicht ganz nach oben gekommen, dass diese aber auch noch nicht zu Ende sei. Naomi Murdoch (gespielt von Barbara Stanwyck) kehrt als vermeintlich berühmte Schauspielerin in die Kleinstadt, in der sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern einige Jahre gelebt hat, zurück. Im Folgenden zeigt der Film in zahlreichen Details – inhaltlich wie auch formal – die tief liegenden Konflikte der weiblichen Hauptfigur mit ihrer Familie und den BewohnerInnen der vermeintlich idyllischen Kleinstadt mit ihren soliden Holzhäusern und langweiligen Sonntagsvergnügungen. Barbara Stanwyck, bereits in den 1940er-Jahren als femme fatale bekannt, changiert in dieser Rolle berührend zwischen ihrem Star­ image als attraktive Schauspielerin und den wiedererwachten Sehnsüchten einer Mutter. Douglas Sirk erklärte in einem Gespräch mit Jon Hallyday, dass er den Schluss des Films nach der Buchvorlage drehen wollte. So hätte Naomi Murdoch nach einem weiteren Skandal die Kleinstadt und ihre Familie wieder verlassen. Der Filmproduzent Ross Hunter bestand jedoch auf einem Happy End. Sirk inszeniert die letzte Szene fast im Dunkeln, lässt Ungewissheiten stehen und Widersprüche der Figuren offen. Naomis Ehemann (Richard Carlson) erkennt schlussendlich ihren Zwiespalt, eilt nach Hause und hält sie im Garten vor dem Haustor zurück. Sirk gelingt es mittels Schatteneffekten zu zeigen, dass 39

Claudia Walkensteiner-Preschl

sich in ihrer Umarmung die Sehnsucht nach einer zufriedenen intimen Beziehung genauso ausdrückt wie der Zweifel daran. Auch in seinem Film »All That Heavens Allows« (1958) – nach einer Story von Edna L. Lee und Harry Lee – offeriert die Eingangssequenz mit herbstlichen Farbtönen und stimmungsvoller Musik eine Kleinstadtidylle und etabliert zugleich die sozialen Konflikte der Figuren. Cary Scott ( Jane Wyman), bürgerliche Bewohnerin eines Einfamilienhauses mit Garten, ist Witwe und hat, weil ihre erwachsenen Kinder nur mehr am Wochenende nach Hause kommen, viel Zeit. Der Gärtner Ron Kirbe (Rock Hudson) erledigt für sie die Baum- und Gartenpflege. Als Carys Freundin Sara Warren (Agnes Moorehead) nicht zum Lunch bleiben kann, bietet sie Ron Kaffee und einen Snack an. Jane Wyman und Rock Hudson waren bereits im Film »Magnificent Obsession« (Regie ebenfalls Sirk, 1953) als Film-Liebespaar zu sehen, und so bedarf es in »All That Heavens Allows« für das Publikum (damals wie heute  ?) nur weniger Hinweise, um bei diesem Lunch auf Carys Terrasse die erotische Anziehung zwischen den schichtspezifisch so differenten Figuren zu evozieren  : Das zyklamfarbige Kostüm von Cary korrespondiert wunderbar mit Rons hellbraunem Hemd und gleichfarbiger Hose, durch die liebliche Hintergrundmusik hört man beinahe das herbstliche Blätterwerk rauschen. Am Ende des Films sehen wir Cary und Ron, nachdem sie sich gegen den Wunsch von Carys Kindern und gegen die kleinstädtischen Ressentiments für ihre Liebe entschieden haben, gemeinsam in einer modern ausgebauten Mühle mit Glasveranda. Ron liegt mit einer schweren Gehirnerschütterung auf einem Sofa. Cary blickt zur Glasfront in eine weiße Winterlandschaft. Sirk setzt diese letzte Szene nach all den warmen Herbsttönen sowie roten Farbnuancen im Dekor in ein Weißlicht mit blauen Lichtreflexen. Als wollte er damit die Widersprüchlichkeiten in ein helles Licht rücken. Mit »All I Desire« (1953) begann Douglas Sirk eine Serie, die sich in »All That Heaven Allows«, »Written On The Wind« u. a. fortsetzte und schließlich mit »Imitation of Life« (1958) endete. In den Worten von Sirk  : »Es ist eine Variation pessimistischer Titel und Themen, die diese erstarrte, stillstehende Welt der Eisenhower-Zeit beschreiben und aufzuzeigen versuchen.« (Halliday 1979, 223). In all diesen Filmen geht es um Überschreitungen von Grenzen (der soziokulturellen Geschlechterverhältnisse, der »Rassen«-Verhältnisse7) respektive um ihre Thematisierung mittels filmästhetischer Verfahrensweisen. Im SchwarzWeiß-Film »All I Desire« sind es die auffällig langen Schatten der Figuren und der Bäume, die ungewöhnlichen sowie extremen Spiegel- und Lichteffekte, die eine Atmosphäre einer »verschobenen« Welt erzeugen. In »All That Heaven Al40

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

lows« nimmt Sirk die kompakte Schwarz-Weiß-Technik auf und fügt dem Film expressive Technicolor-Farben hinzu. Hier sind es Licht- und Farbeffekte, die die komplexen – sozialen, ethnischen und geschlechterpolitischen – Konfliktpotenziale und Widersprüche der Figuren an die Oberfläche treiben. Und es sind auch genau jene Effekte, die Emotionen sowie auch Gedanken-Emotionen im Kino zu erzeugen vermögen.

»Zuschauerfarbbewusstsein« (Frieda Grafe) Frieda Grafe lieferte in ihrem Text »Befreiende Farbe«8 einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Farbe9 in Sirks Universal-Filmen. Grafe erinnert zunächst an die unterschiedlichen Bedingungen der Farbwahrnehmung im Kino und im Fernsehen. Allein das historische Filmmaterial könne in seiner farbigen Brillanz und seinem Kontrastreichtum nur auf einer Kinoleinwand wahrgenommen werden. Um zu einer Vorstellung davon zu kommen, was Farbigkeit von historischen Filmen bedeute, müsse auch die Farbentwicklung des Films berücksichtigt werden. Zum Beispiel war das Technicolor-Verfahren10, ein sogenanntes Lichtfarbensystem, das sich durch hell glänzende, schrille Farben auszeichnete, bis Mitte 1950er-Jahre marktbeherrschend. Douglas Sirk begann, so Grafe, in dem Augenblick bei Universal Farbfilme zu drehen, als sich die Farbe im Kino durchgesetzt hatte und zu einer banalen Alltäglichkeit geworden war. Sirk wollte unbedingt seine »Kleinstadtfilme« in Farbe drehen, um zu zeigen, dass die Farbe in US-Amerika etwas Realistisches geworden sei. Nicht in dem Sinne, dass technischer Fortschritt eine bessere Wiedergabe unauffällig natürlicher Farben gestattet. Immer wieder in seinen späteren Interviews kreist er um diesen Punkt  : wie er versucht habe, mit exzessiven Farbprozeduren der veränderten Situation Rechnung zu tragen und Hollywoods realistische Kinokonventionen in eine Art Surrealismus zu treiben. Seinen Surrealismus definiert er im Unterschied zum französischen, der zugunsten von Traum und Phantasie den sichtbaren Realitätsbezug oft ausblende, durch eine solide, nachdrückliche Bindung an die Objektwelt. (Grafe 2002, 77f.)

Die Technicolor-Farben seien im Film »Written on the Wind« – so Sirk – heruntergebrochen auf Primärfarben und mit einem dicken Pinsel aufgetragen. Der ganze Film sei in einer Art Poster-Stil – mit flacher, einfacher Ausleuchtung, die 41

Claudia Walkensteiner-Preschl

die Effekte konzentriert – gehalten (ebd., 78). Laut Grafe mache der Regisseur insbesondere mit dieser Überdeutlichkeit der Primärfarben etwas brutal sichtbar und kläre eben nicht durch subtile, bloß an Gedankengänge gebundene Erkenntnis auf. Gerade die vereinfachende Übertreibung akzentuiere die Dinge und lasse sie doppeldeutig erscheinen. Paradoxerweise sei es gerade die ausgestellte Eindeutigkeit, die die ZuschauerInnen irritieren solle, sodass sie merkten, dass ihnen »im Grunde kein Raum bleibt für eine wie auch immer geartete Identifikation« (ebd.). Das macht diese Filme auch so bemerkenswert  : Die Gefühlsebene wird bei den Zuschauerinnen und Zuschauern durch eine spezielle Farbmaterialität permanent angeregt, geradezu herausgefordert. Dennoch sind es durch den bewussten Einsatz der Technicolor-Farben gerade die Übertreibungen, die starken Bedeutungen, die eine einfache emotionale Wirkmächtigkeit kaum erlauben. Vielmehr provozieren ihre Effekte in ihrer Komplexität und in Verbindung mit einer gesellschaftskritischen Narration ein »Denken, Fühlen«, ein Gedanken-Emotionen-Geflecht. In »Written on the Wind« (1955/56) kommt es im Hause der reichen Hadleys zu einer dramatischen Szene, als die stets nach Ausschweifungen suchende Tochter Marylee (Dorothy Malone) von der Polizei nach Hause gebracht wird. Sie begibt sich nach oben in ihr Zimmer, dreht laut Musik auf, kleidet sich in ein grell-rotes, stoffreiches Negligé und beginnt wild zu tanzen. Parallel dazu spricht einen Stock tiefer ihr Vater Jasper Hadley (Robert Keith) im Arbeitszimmer mit seinem Ziehsohn Mitch Wayne (Rock Hudson) über sein Versagen als Ehemann und Vater. Jasper Hadley zeigt erste Anzeichen eines Herzinfarkts und will zu seiner Tochter nach oben. Plötzlich, fast vor ihrer Tür, bricht er zusammen und fällt sterbend die Treppe hinunter. Das grell-rote Negligé, die roten, langstieligen Blumen in Marylees Zimmer, der rote Teppich auf der Treppe akzentuieren diese dramatische Sequenz. Dennoch sollten, so Grafe, die hellen, kontrastreichen Rottöne der Technicolor-Farben nicht nur als symbolische Bedeutung beispielsweise für eine wilde, ungezügelte Leidenschaft gesehen werden. Gerade die Technicolor-Farben – als Industriefarben – haben grundsätzlich eine eigene Funktion. Dermaßen überdeutlich wie in Sirks Melodramen eingesetzt, verweisen sie schließlich auf psychische Befindlichkeiten der Figuren wie auf sozio-ökonomische Bedingungen  : im Falle von »Written on the Wind« auf die emotionale Einsamkeit der Reichen wie auf die glänzenden Ölgeschäfte. Grafe  : »Wenn Assoziationen angelegt sind, dann eher solche, die vom schwarzen Gold, vom Öl, das den schnellen, unbeherrschten, verderblichen Reichtum produzierte, zum Glanz der Lack- und Acrylfarben führen, denn sie hängen ursächlich zusammen.« (Grafe 2002, 78). 42

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

Resümee und Ausblick Douglas Sirks Universal-Filme sind – trotz all ihrer Anpassung an Hollywoods Produktionsbedingungen – aus heutiger Sicht unkonventionell und reflektiert. Sirk nützte u. a. die spezielle Ästhetik der Technicolor-Farben, um gesellschaftliche Dilemmata, um Konflikte in familiären Beziehungsgeflechten zu intensiv melodramatischen Höhepunkten zu führen. Frieda Grafe hat darauf hingewiesen, dass allein in der Materialität der Farbqualitäten des Technicolor-Verfahrens wichtige Inhalte zu entdecken sind. Das Sehen und gedankliche Erfassen der spezifischen Ästhetik sowie die vielschichtigen sozio-kulturellen Konnotationen dieser Filme sind allerdings unabdingbar mit einer Aufführungspraxis im Kino verknüpft  : Schon deshalb, weil die strahlende Farbqualität von Technicolor, die Helldunkelschattierungen des 35-mm-Filmmaterials sich nur im Dunkel des Kinoraums auf einer großen Leinwand vermitteln können. Mit dem avancierten Einsatz von Technicolor-Filmfarben setzte Sirk Standards, die heute noch ein kritisches sowie differenziertes »Zuschauerfarbbewusstsein« (Frieda Grafe) herausfordern und dieses im besten Sinne kultivieren könnten. Die Filmmelodramen von Douglas Sirk sind zweifellos exzellente Beispiele einer Gefühlskultur im Kino, die sich in ihrer ästhetischen sowie sozio-kulturellen Qualität vor allem mit einem auch heute erstrebenswerten »ZuschauerInnenBewusstsein« in Verbindung bringen lassen. Als Anregung für weitere Auseinandersetzungen sei an dieser Stelle ganz allgemein hinzugefügt, dass Gefühle im Kino (Angst, Wut, Liebe, Hass) unterschiedliche Genres hervorgebracht haben und immer auch sozio-kulturelle Beziehungsgeflechte bilden. Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang  : Das Denken an die emotionale Wirkunkungsmacht Kino fordert zunehmend eine genaue Reflektion der medialen Aufführungspraxen und provoziert stets die Frage nach Rezeptionsbedingungen  : Wie sind Zuschauerinnen und Zuschauer in eine Gefühlskultur des Kinos, des Fernsehens u. a. m. involviert, sogar interaktiv beteiligt  ? Wie verändern technische Neuerungen wie Mobiltelefon, iPhone und iPad das ästhetische Wahrnehmungsvermögen respektive Wahrnehmungsempfinden  ? Welche Gefühle werden evoziert, welche Erkenntnispotenziale setzen Gefühle frei, welche Einflüsse hat das Publikum auf die Produktion  ? In diesem Sinne ist das Thema »Gedanken-Emotionen« im medialen Kontext höchst aktuell und noch lange nicht ausgeschöpft.

43

Claudia Walkensteiner-Preschl

Anmerkungen   1 Emotionen sind nun gerade in der Filmwissenschaft seit einigen Jahren ein vielseitiges Schwerpunktthema, das sich durch interdisziplinäre Ansätze auszeichnet und in zahlreichen Einzelanalysen Aspekte einer kinematographischen Kultur der Gefühle repräsentiert. Genannt seien stellvertretend nur einige der neueren Publikationen  : Bruno 2002, Kappelhoff 2004, Brütsch u.a. 2005, Marschall/Liptay 2006, Das Gefühl 2008, Schmitt 2009.   2 Beispielsweise von Vincente Minnelli »An American in Paris« (Ein Amerikaner in Paris, USA, 1951), »The Bad and the Beautiful« (Stadt der Illusionen, USA, 1952) und von Max Ophüls »Madame de« (F/I, 1953), »Lola Montez« (F/BRD, 1955)   3 Soweit ich informiert bin, hat sie in zwei Filmen mitgewirkt  : in »O alle Burschenherrlichkeit« (D, 1925, Regie und Drehbuch  : Eugen Rex, Helene Lackner) und in der TV-Dokumentation »Imitation of Life« (Mirage de la vie, TV 1983, Regie  : Daniel Schmid)   4 In diesem Film in etwas veränderter Anordnung der handelnden Personen. Aus dem Weißen Gärtner wurde ein Schwarzer Gärtner, der damals bereits verstorbene Ehemann ist im Remake von 2002 ein nicht geouteter homophiler Ehemann. Einerseits nützt der Film mit dem Bezug auf Sirks Vorlage die bereits bekannten technischen Raffinements zur Intensivierung der melodramatischen Gefühlswelten und andererseits konzentriert er die Narration auf eine spannende Genderthematik.   5 In seinem Aufsatz »Tales of Sound and Fury  : Anmerkungen zum Familienmelodrama« aus dem Jahr 1972 legte Thomas Elsaesser erste Thesen zum Filmmelodrama als Genre vor und prägte die Bezeichnung Familienmelodrama für die Hollywoodmelodramen der 1950er-Jahre. Elsaesser verweist auf die Ambiguität der Filmmelodramen, die vor allem darin begründet liege, dass sozioökonomische, gesellschaftspolitische Probleme ins Private verlagert und in emotional aufgeladene Familiensituationen übersetzt würden.   6 Erica Carter (1997)  : »How German is She  ?« Die Reformulierung des auf Segregation ausgerichteten Geschlechtervertrags (da Männer, dort Frauen) verlief parallel zu einer »konsumistischen Aufrüstung der privaten Haushalte« – viel Energie wurde in materielle Aufbauarbeiten (Hausbau, Konsumgüteranschaffung) investiert. (Vgl. Ellmeier 2005).   7 In dem Film »Imitation of Life« (Solange es Menschen gibt, USA, 1959) greift Douglas Sirk die Thematik der »Rassen«-Verhältnisse in den USA auf. Am Strand von Coney Island lernt die Schauspielerin Lora Meredith (Lana Turner) die afro-amerikanische Annie Johnson ( Juanita Moore) kennen und engagiert sie als Haushälterin. Deren beiden Töchter wachsen gemeinsam auf. Sarah Jane, die Tochter von Annie, ist sehr hellhäutig und gibt sich auch gerne als Weiße aus. Als sie wegen ihrer afro-amerikanischen Herkunft gedemütigt wird, verlässt sie ihre Mutter und arbeitet als Revuegirl in einer anderen Stadt. Als Annie ihre Tochter im Revuetheater findet, wird sie von dieser verleugnet. Anlässlich des Begräbnisses von Annie kehrt Sarah Jane reumütig zurück und bittet um Vergebung. Der Film ist ein Remake des gleichnamigen Films von John M. Stahl aus dem Jahre 1934.   8 Siehe Grafe 2002, nach einem Vortrag, gehalten im Kino Arsenal, Berlin, am 8. Juli 1997.   9 Susanne Marschall hat in jüngster Zeit ein umfassendes Buch mit vielen Details zum Thema Farbe im Kino vorgelegt, allerdings bezieht sie sich darin nicht explizit auf das melodramatische Genre (siehe Marschall 2009). 10 Marschall beschreibt in ihrem Buch »Farbe im Kino« die Produktionsgeschichte des Technicolor-

44

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

Verfahrens und erwähnt, wie teuer dieses Verfahren und deshalb nur Prestigeprojekten (mit eigens von der Firma bereitgestellten Farbberatern) vorbehalten war (siehe Marschall 2009, 306f.).

Filmographie All I Desire (All meine Sehnsucht), USA, 1952/53. Regie  : Douglas Sirk. Buch  : James Gunn, Robert Blees  ; nach dem Roman »Stopover« von Carol Brink. Kamera  : Carl Guthrie. Bauten  : Bernard Herzbrun, Alexander Golitzen. Ausstattung  : Russell A. Gausman, Julia Heron. Kostüme  : Rosemary Odell. Schnitt  : Milton Carruth. Ton  : Leslie I. Carey, Robert Pritchard. Musikalische Leitung  : Joseph Gershenson. Liedtexte  : David Liebermann. Darsteller/innen  : Barbara Stanwyck, Richard Carlson, Lyle Bettger, Marcia Henderson. Produktion  : Universal Pictures Co. New York. Produzent  : Ross Hunter. Format  : 35 mm, s/w. Uraufführung  : Juli 1953. All That Heaven Allows (Was der Himmel erlaubt), USA, 1955. Regie  : Douglas Sirk. Buch  : Peg Fenwick  ; nach einer Story von Edna L. Lee, Harry Lee. Kamera Russell Metty. Farbberatung  : William Fritzsche. Bauten  : Alexander Golitzen, Eric Orbon. Ausstattung  : Russell A. Gausman, Julia Heron. Kostüme  : Bill Thomas. Schnitt  : Frank Gross. Ton  : Leslie I. Corey, Joseph Lapis. Musik  : Frank Skinner. Musikalische Leitung  : Joseph Gershenson. DarstellerInnen  : Jane Wyman, Rock Hudson, Agnes Moorehead, Conrad Nagel, Virginia Grey, Bloria Talbott. Produktion  : Produktion  : Universal Pictures Co. New York. Produzent  : Ross Hunter. Format  : 35 mm, Technicolor. Uraufführung  : Jänner 1956. Imitation of Life (Solange es Menschen gibt), USA, 1958. Regie  : Douglas Sirk. Buch  : Eleanore Griffin, Allan Scott  ; nach em Roman von Fanny Hurst. Kamera  : Russell Metty. Spezial-Effekte  : Clifford Stine. Bauten  : Alexander Golitzen, Richard H. Riedel. Ausstattung  : Russell A. Gausman, Julia Heron. Kostüme  : Bill Thomas, Jean Louis. Schnitt  : Milton Carruth. Ton  : Leslie I. Carey, Joseph Lapis. Musik  : Frank Skinner. Leder   : Paul Franis Webster und Sammy Fain, Frederick Herbert und Arnold Hughes. Musikalische Leitung  : Joseph Gershenson. DarstellerInnen  : Lana Turner, John Cavin, Sandra Dee, Susan Kohner, Robert Alda. Produktion  : Universal Pictures Co. New York. Produzent  : Ross Hunter. Format  : 35 mm, Eastmancolor. Uraufführung  : April 1959. Magnificent Obsession (Die wunderbare Macht), USA, 1953. Regie  : Douglas Sirk. Buch  : Robert Blees  ; nach dem Roman von Lloyd C. Douglas und dem Drehbuch (1935) von Sarah Y. Mason, Victor Heerman. Kamera  : Russell Metty. Spezial-Effekte  : David S. Horsley. Farbberatung  : William Fritzsche. Bauten  : Bernard Herzbrun, Emrich Nicholson. Ausstattung  : Russell A. Gausman, Ruby R. Levitt. Kostüme  : Bill Thomas. Schnitt  : Milton Carruth. Ton  : Leslie I. Carey, Corson Jowett. Musik  : Frank Skinner. Musikalische Leitung  : Joseph Gershenson. DarstellerInnen  : Jane Wyman, Rock Hudson, Agnes Moorehead, Otto Kruger, Barbara Rush. Produktion  : Universal Pictures Co. New York. Produzent  : Ross Hunter. Format  : 35 mm, Technicolor. Uraufführung  : Juli 1954. Written on the Wind (In den Wind geschrieben/Die Großen aus Texas), USA, 1955/65. Regie  : Douglas Sirk. Buch  : George Zuckerman  ; nach dem Roman von Robert Wilder. Kamera  : Russell Metty. Spezial-Effekte  : Clifford Stine. Farbberatung  : William Fritzsche. Bauten  : Alexander Golitzen, Robert Glatworthy. Ausstattung  : Russell A. Gausman. Julia Heron. Kostüme  : Bill Thomas, Jay A. Morley Jr. Schnitt  : Russell F. Schoengarth. Ton  : Leslie I. Carey, Robert Pritchard. Musik  : Frank Skinner. Lied  : Victor Young. Liedtexte  : Sammy Cahn. Musikalische Leitung  : Joseph Gershenson. DarstellerInnen  : Rock Hudson, Lauren Bacall, Robert Stack, Dorothy Malone, Robert

45

Claudia Walkensteiner-Preschl

Keith. Produktion  : Universal Pictures Co. New York. Produzent  : Albert Zugsmith. Format  : 35 mm, Technicolor. Uraufführung  : Jänner 1957.

Literatur Raymond Bellour (2008), »Das Entfalten der Emotionen«, in  : Mattias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz u.a. (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg, 51–101 Jacky Bratton, Jim Cook, Christine Gledhill (1994), Melodrama. Stage. Picture. Screen, London Annette Brauerhoch (1996), Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg Peter Brooks (1976), The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven/London Guiliana Bruno (2002), Atlas of Emotion  : Journeys in Art, Architecture, and Film, New York Matthias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz u.a. (Hg.) (2005), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg Christian Cargnelli, Michael Palm (1994), Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Wien Erica Carter (1996), »Deviant Pleasures  ? Women, Melodrama, and Consumer Nationalism in West Germany«, in  : Victoria de Grazia, The Sex of Things  : Gender and Consumption in Historical Perspective, Los Angeles, 359–380 Erica Carter (1997), How German is She  ? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor, Mich. Das Gefühl der Gefühle (2008). Zum Kinomelodram. Arnoldshaimer Filmgespräche, Band 25. Marburg Mary Ann Doane (1987), The Desire To Desire. The Women’s Film of the 1940s, Bloomington/Indianapolis Andrea Ellmeier (2005), Konsum, Politik und Geschlecht. Österreich in den 1950er und 1960er Jahren, Diss. Wien Thomas Elsaesser (1994 [1972]), »Tales of Sound and Fury  : Anmerkungen zum Familienmelodrama«, in  : Christian Cargnelli, Michael Palm, Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum melodramatischen im Film, Wien (Unter dem Titel »Tales of Sound and Fury  : Observation on the Family Melodrama« erstmals erschienen in  : MONOGRAM, no. 4/1972), 2–15 Michel Foucault (2005), »Denken, Fühlen«, in  : Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, Frankfurt a. M., 294–302 Christine Gledhill (Hg.) (1987), Home is Where the Heart is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film. London Jean-Luc Godard (1971), Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950– 1970), ausgewählt und übersetzt von Frieda Grafe, München Frieda Grafe (2002), »Befreiende Farbe. Douglas Sirks Universal-Filme, zum Vergleich Cocteaus Villa Santo Sospir und von Renoir the River«, in  : Dies., Filmfarben, Berlin, 69–84 Jon Halliday (1979), Douglas Sirk. Imitation of Life, Frankfurt a. M. Molly Haskell (1973), From Reverence to Rape. The Treatment of Women in the Movies. New York/ Chicago/San Francisco

46

Das Melodramatische oder die emotionale Wirkungsmacht Kino

Eva Illouz (2006), Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004. Institut für Sozialforschung an der J.W. Goethe-Universität, Frankfurt a. M. E. Ann Kaplan (1990), »Fetishism and the Repression of Motherhood in Von Sternberg’s Blonde Venus (1932)«, in  : Dies., Women and Film. Both sides of the camera, New York, London 1983, 49–59 Hermann Kappelhoff (2004), Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin Gertrud Koch (1988)»Von Detlef Sierck zu Douglas Sirk«, in  : Frauen und Film, Heft 44–45, 109–129 Susanne Marschall (2009), Farbe im Kino, Marburg Susanne Marschall, Fabienne Liptay (Hg.) (2006), Mit allen Sinnen. Gefühl und Empfindung im Kino, Marburg Laura Mulvey (1986), »Melodrama in and out of the Home«, in  : Colin MacCabe (Hg.), High Theory/ Low Culture. Analysing Popular Television and Film, Manchester, 80–100 Laura Mulvey (1987 [1977/78]), »Notes on Sirk and Melodrama«, in  : Christine Gledhill (Hg.), Home Is Where the Heart Is. Studies in Melodrama and the Women’s Film, London (Ursprünglich in  : Movie, Nr. 25, Winter 1977/78) 75–79 Goeffrey Nowell-Smith (1977), »Minnelli and Melodrama«, in  : Screen, Vol. 18, Nr. 2 (Sommer), auch in  : Christine Gledhill (1987), Home is Where the Heart Is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London, 70–74 Heide Schlüpmann (1990), Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Frankfurt a. M. Heide Schlüpmann (2005), »Eine kinematografische Emanzipation der Gefühle  ?«, in  : Mattias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz u.a. (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg, 441–450 Christian Schmitt (2009), Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, Berlin Linda Williams (1990), »Something Else Besides a Mother. Stella Dallas and the Maternal Melodrama«, in  : Patricia Erens (Hg.), Issues in Feminist Film Critisism, Bloomington, 137–162 Paul Willemen (1971), »Distanciation and Douglas Sirk«, in  : Screen, Vol. 12, Nr. 2 (Sommer)

47

Peter Röbke

Musizieren als Affektgestaltung Anmerkungen aus der Sicht eines Musizierenden

Absolut prä-sent und verstehensbedürftig Wenn ich auf mein berufliches Leben zurückblicke, so stelle ich fest, dass sich mein Nachdenken früh auf das musikalische Tun selbst, also das musikalische Handeln vor allem im Singen und Musizieren, ausgerichtet hat, und durchweg erkenne ich dann das Bestreben, zwei ganz unterschiedliche Modi dieses Handelns zu bestimmen und miteinander zu versöhnen  : Da habe ich einerseits der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ich, zumal als klassischer Musiker, mit hoch elaborierten ästhetischen Objekten zu tun habe, die vielschichtige Bedeutungsangebote machen und meine Interpretationsfähigkeit herausfordern. Aber andererseits ist da jene unmittelbare Erfahrung des Hervorbringens von Klang, des Hineingreifens in die Töne und des Verschmelzens mit ihnen. Man könnte auch sagen  : Ich mache im Musizieren die Erfahrung, dass Musik wirklich vor und um mich herum, absolut prä-sent im Sinne des Wortes ist, und dass sie sich zugleich als verstehensbedürftiger Gegen-Stand darstellt, ich somit eine Distanz zu ihr habe. Ich oszilliere während meines Spiels zwischen einem Präsenzerleben und der Verstehensbemühung, die den Abstand zu überwinden sucht und die in den Werken deren Selbstbezüglichkeit ebenso erkennt wie deren Weltbezug und dann entsprechende Interpretationsentscheidungen trifft. Ich erfahre im Musikmachen jene vier Modi des Weltbezugs, von denen der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht spricht  : Ich verbinde den Modus »Verstehen eines Dings« mit den drei Modi der »Einswerdung mit den Dingen« (durch Verzehren, Eindringen oder mystische Verschmelzung) (vgl. Gumbrecht 2004). Musik ist mir immer gegenübergetreten als Verstehens- und Gestaltungs- und Empfindungsobjekt, wobei der Begriff »Objekt« beim Letzteren nur in Anführungszeichen zu verwenden ist. Musik ist einerseits ein stabiler und permanenter Zeichenkomplex  : etwas, das als etwas verstanden werden kann und das sich mir in geduldiger Annäherung allmählich geistig erschließt. Andererseits ist Musik als etwas Sinn- und Bedeutungsvolles nur im Moment vorhanden, sie entsteht 49

Peter Röbke

hier und jetzt flüchtig aus meinem Tun und kann mich dann in der Folge auch packen und überwältigen.

Wo ist die Wirklichkeit der Musik  ? Dieser zweifachen Erfahrung von Musik steht entgegen, dass für die Musikpädagogik traditionell eine philologisch ausgerichtete Musikwissenschaft die wichtigste Bezugswissenschaft ist und somit die Musik weniger als menschliche Handlung, sondern als Text bzw. Objekt der Interpretation angesehen wird. Ich habe mich aber immer gefragt  : Wo kommen denn diese Töne her und vor, über deren Qualitäten philosophiert wird  ? Ist ein klingender Ton vorstellbar, der nicht vom Akt seiner Hervorbringung gewissermaßen schwer gezeichnet ist (was sich übrigens auch akustisch aufzeichnen lässt  : in Ein- und Ausschwingvorgängen, in der konkreten Obertonmischung, in mikrodynamischen und agogischen Konturen)  ? Gibt es real erklingende Tonfolgen, die nicht die Spuren aktiven Musizierens tragen  ? Und kann ein Hörer bzw. eine Hörerin die Spiegelung der körperlichen Zustände beim Musiker oder der Musikerin vermeiden und nur hören  ? Aber wie sollte man das können, wo uns doch diese Spiegelung dazu verdammt, die körperlichen Akte des Singens und Musizierens zu imitieren  : Wenn ich Gidon Kremer lausche, spiegle ich – auch ohne ihn sehen zu müssen – dessen hochnervöse Befindlichkeit, und bestimmte SängerInnen machen mich beim Zuhören selbst heiser. Wenn die Frage lautet »Wo ist die Wirklichkeit der Musik  ?«, und wenn das Wirk-liche vor allem in ihrer Dynamik gesehen wird – ich kann mir in Bezug auf das, was im Einzelton wirkt oder zwischen zwei Tönen als Richtung entsteht, keinen anderen Ort vorstellen als das konkrete musikalische Handeln des Spielers, der Spielerin oder des Hörers, der Hörerin, dies auch, weil es die ontologische Besonderheit der Musik ist, dass sie zunächst als intentionaler Gegenstand existiert, sie durch ihre UrheberInnen allenfalls »vermeint« ist, d. h., immer mit menschlichem Handeln rechnen muss. Die Töne brauchen den lebensstiftenden Kuss der Musizierenden so wie das Dornröschen im Märchen den Prinzen. Als wahrnehmbare und als erlebbare Realität existiert Musik erst, wenn Menschen zu Werke gehen, denn Töne spielen und singen sich nicht selbst, sie werden von Menschen erzeugt, die dafür Gründe haben, und deren Erregungs- und Spannungszustände sind es, die in die Produktion der Tonverbindungen einwandern und in uns den Eindruck erwecken, dass das Klanggeschehen Willen und Ziel habe. 50

Musizieren als Affektgestaltung

Senso-motorischer Affekt und mentalisiertes Gefühl Ich spreche in Bezug auf das Musizieren von Erregungs- und Spannungszuständen, d. h. lieber von Affekten als von Gefühlen. Wie ich das Verhältnis von Affekt und Gefühl sehe, dazu verweise ich auf Mozarts »Zauberflöte«. In der sogenannten Bildnisarie legt Emanuel Schikaneder dem Tamino jene Worte in den Mund, die das Verhältnis von Affekt und Gefühl andeuten. Beim Betrachten des Portraits von Pamina verbalisiert Tamino seine körperlichen Sensationen  : Dies Bildnis ist bezaubernd schön, wie noch kein Auge je geseh’n  ! Ich fühl’ es, wie dies Götterbild mein Herz mit neuer Regung füllt. Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen  ! Doch fühl’ ich’s hier wie Feuer brennen. (Neue Mozart Gesamtausgabe 1970, II/5/19)

Dann hält er für einen Moment inne, um diese Körperwahrnehmung in Bezug auf den situativen Kontext und seine Lebensgeschichte zu analysieren und um schließlich – durchaus seiner Analyse noch ganz nicht sicher – zu folgern  : Soll die Empfindung Liebe seyn  ? Ja, ja  ! Die Liebe ist’s allein. (Ebd.)

Affekt – das steht für den körperlichen Grund des als Gefühl identifizierten Gefühls, jene Körperschleife, in die man nach Antonio Damasio hinein muss, wenn das benannte Gefühl nicht seltsam leer und hohl bleiben will (vgl. Damasio 2004)  : Wer nicht beim deklarierten Gefühl der Freude die namenlose Weite der Brust erlebt und bei jenen der Angst die Enge, der identifiziert und kommuniziert Emotionen, die keine Substanz haben. Bei Gefühlen handelt es sich dagegen um Mentalisierungen, Identifizierungen und Klassifizierungen ursprünglich namenloser affektiver Erregung. Nach meiner Überzeugung entfaltet das Musizieren nun weniger eine Grammatik der Gefühle oder bedient eine lexikalische Liste von Gefühlen, sondern es lässt eine spezifische Semantik des Affektiven entstehen. Musik ist mehr der Gestalt des »lodernden Feuers« verpflichtet und weniger dem kognitiven Befund »Liebe«. Ich folge jener Differenzierung von senso-motorischem Affekt und mentalisiertem Gefühl, die auch mein Kollege Helmuth Figdor vornimmt, wenn er in unserem gemeinsamen Buch »Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog« zunächst den Zusammenhang von 51

Peter Röbke

Triebspannung und Affekt anspricht, dann eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive entwirft, indem das Aufkommen der symbolischen Funktion betrachtet wird, und schließlich zusammenfasst  : So gesehen befinden sich die Begriffe »Affekt« und »Gefühl« in einer doppelten Beziehung  : Entwicklungspsychologisch gesehen kennzeichnen sie die Entwicklung von der weitgehend »blinden«, motorischen Affektabfuhr der Babys zur Fähigkeit des bewussten Erlebens eigener Zustände in Form begrifflich differenzierter »Gefühle«. (Im günstigen Fall verfügt das schließlich gereifte Individuum über ein breites Repertoire solch differenzierter psychischer Repräsentationsmöglichkeiten affektiver Erregungen). Psychodynamisch gesehen bilden diese Repräsentationen – »Ich bin traurig, wütend, habe Angst, hasse usw.« – zum gegebenen Zeitpunkt die besondere Form, in welcher ein aktuelles Erregungsgeschehen auf symbolische Art zu Bewusstsein und zur Äußerung gelangt. (Figdor/Röbke 2008, 118f.)

Sento la musica – ich spüre und höre die Musik Man ginge aber fehl, wollte man die vor-symbolische Phase der menschlichen Entwicklung nur als dunkle Vorzeit ansehen (»›blinde‹ motorische Affektabfuhr«  : Figdor/Röbke 2008, 118), als eine Periode des puren Ausgeliefertseins an das je aktuelle Erregungsgeschehen und als eine Zeit defizienter Interaktion und Kommunikation. Bereits Daniel Stern hat in seinen Untersuchungen zur Lebenserfahrung des Säuglings deutlich gemacht, dass Babys und ihre Bezugspersonen – lange bevor sprachliche Symbolisierung möglich ist – in kommunikativen Austauschprozessen affect attunement betreiben, ein sich über Berührungen und die Stimme, welche den Affekten eine Lautgestalt gibt, vollziehendes affektives Aufeinandereinschwingen, in dem sich durchweg auch die kommunikative Kompetenz des Säuglings beweist (vgl. dazu auch Dornes 1993), eine Weise der multisensoriellen Interaktion, in der Qualitäten wie »Intensität, Gestalt, Zeit, Bewegung und Anzahl« (Stern 2003, 217) eine Rolle spielen. Was nun das vermeintliche Aufgeliefertsein an das Körpergeschehen betrifft  : Sebastian Leikert hat herausgearbeitet, dass aus der rein kinetischen Erfahrung heraus, aus dem Erleben von spannungsvoller Bewegung im zeitlich-räumlichen Hier und Jetzt Bedeutungen entstehen, freilich andere und auf eine andere, flüchtigere Art als in der Genese (Wort-)sprachlicher, d. h. lexikalisch-stabiler, Bedeutungen. Leikert führt den Begriff der kinetischen Semantik ein und meint damit 52

Musizieren als Affektgestaltung

eine vorsprachliche Form, Bedeutungen aus der inneren Organisation sinnlicher Wahrnehmung heraus zu entwickeln. Das kinetische Erleben resultiert aus dem permanent ablaufenden Prozess, Empfindungen der körperlichen Binnenwahrnehmung in Beziehung zu den von außen auftretenden auditiven, taktilen und visuellen Sinneseindrücken zu setzen und diese, etwa durch Rhythmisierung, sinnvoll zu organisieren. (Leikert 2008, 18)

Leikert benennt die Merkmale dieser spezifischen Weise, Bedeutungen zu generieren  : Die kinetische Semantik ist (also) fusionell  : Sie schmilzt das Objekt v­ ollkommen in den Sinneseindruck, der als zum Subjekt gehörig erlebt wird, mit ein. Sie ist transmodal  : Sie bildet eine Gestalt, die aus den verschiedenen Sinneskanälen zusammengesetzt und synthetisiert wird. Die kinetische Semantik ist zeitlich in der Aktualität  : Sie besteht nur im Augenblick, und sie ist Erlebnis verarbeitend [sic  !]  : Sie ist eine Aktivität des Subjekts, das sich im Zeitfluss hauptsächlich durch Rhythmisierung von Spannung und Entspannung einrichtet. (Ebd., 38)

Musik – so Leikert – bleibt prinzipiell und d. h. auch in ihren subtilsten, am höchsten entwickelten Formen dem archaischen, vor-sprachlichen Erleben verpflichtet, sie ist der Schauplatz differenziertesten und nuanciertesten Auslotens der Möglichkeiten der kinetischen Semantik  : »Die Musik nimmt (hierbei) eine Sonderrolle ein, da sie die kinetische Semantik in herausragender Weise aufgreift und kultiviert« (ebd.),1 eine Feststellung, die aus der Perspektive des oder der Musizierenden nur unterstrichen werden kann. Dazu einige Streiflichter  : • Was das Merkmal »fusionell« anbelangt  : Das Musizieren ist geprägt von der Erfahrung absoluter Gegenwärtigkeit, es wird erlebt als Eindringen in die Tonwelt, als Einverleiben der Musik, als Einswerden mit dem Klang. • Was das Merkmal »aktualisierend« betrifft  : Wenn postuliert würde, dass musikalische Bedeutsamkeit nur im Hier und Jetzt der konkreten konzertanten Situation entstehen könne, dann bin ich an die ästhetische Position Wilhelm Furtwänglers erinnert, der von der Einmaligkeit einer jeden Aufführung überzeugt war, und dann kommt mir auch Sergiu Celibidaches Weigerung in den Sinn, das je konkrete und aktuelle Klanggeschehen in Aufnahmen zu konservieren. • Was das Merkmal »erlebnisverarbeitend durch Rhythmisierung« anbelangt  : Was ist zum Beispiel die Phrasierung, die Domäne des lebendigen Musizie53

Peter Röbke

rens, anderes als die Animation musikalischer Gestalten durch differenzierte Rhythmisierung von Spannung und Entspannung, Erwartung und Erfüllung  ? Ich erwähne diesbezüglich nur Renate Wielands und Jürgen Uhdes fundamentales Werk »Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens. Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik« (2002) – eine Anleitung zur je neuen »Rhythmisierung« des musikalischen Spannungsgeschehens, zur je frischen Gestaltung der musikalischen »Wellen«. • Was das Merkmal »transmodal« (bzw. »multisensoriell«) angeht  : Der Untertitel von Wieland/Uhde deutet es schon an – in sinnlicher Hinsicht stellt sich jedes Musizieren (und entsprechend auch das Hören als Verinnerlichung oder Spiegelung des Singens und Musizierens) als eine Einheit dar, als eine Einheit • aus taktilem Tasten und Spüren des Klangs an der Haut,2 • aus innerleiblicher Empfindung (muskulärer und viszeraler), allein schon deswegen, weil jedes Singen und Musizieren auf unseren Puls, unsere Atembewegung und unseren Körpertonus bezogen ist und wir z.B. wissen, dass auch Instrumentalisten »stützen«, d. h. Atemsäulen aufbauen, • aus visueller Wahrnehmung der Spielvorgänge und der Reaktionen der Instrumente, • schließlich – selbstverständlich (  !) – aus Voraus-, Hin- und Nachhören. Es wird somit schon einen Grund haben, warum ein Italiener oder eine Italienerin niemals odo la musica sagen würde, sondern immer nur sento la musica (Ich spüre und höre die Musik).

Zwang und Regel erlauben affektive Intensivierungen Beim frühen affect attunement handelt es sich aber noch um protomusikalische Formen  : Bezüglich der musikalischen Parameter ist zwar alles in nuce vorhanden, aber es ist noch nicht wirklich Musik, weil der entscheidende Schritt der »Verregelmäßigung« (vgl. Leikert 2008) fehlt. Die Alltagsstimme der frühen Dialoge, die »Motherese«3 (und sei diese auch noch so »musikalisch«), muss sich noch in die Singstimme verwandeln, sich einer Transformation unterziehen, die dann das Paradoxon zustande bringt, dass Zwang und Regel affektive Intensivierung erlauben. Diese Verwandlung bedeutet  : • Schwingungen werden periodisiert, • die gleichmäßig schwingenden Töne werden mit den körperlichen Resonanz54

Musizieren als Affektgestaltung

räumen synchronisiert  : Das erlaubt aber nicht nur ein faszinierendes Vibra­ tionsempfinden, sondern dadurch werden die Töne auch lauter, sie haben eine gesteigerte Wirkung auf den Hervorbringenden/die Hervorbringende selbst und eine wachsende Macht auf den Hörer und die Hörerin, • der periodisierte Ton wird wiederholbar und bekommt eine gewisse Permanenz, • in Enkulturationsprozessen werden die fixierten Töne in Tonsysteme eingebettet und zusammenfassend könnte gesagt werden  : Wir gleiten vom Rauen des Alltagstons ins Ebenmäßige des Gesangstons. Die Verregelmäßigungstendenz der Musik, die sich in den Schwingungsverhältnissen des Einzeltons ebenso zeigt wie im metrischen Puls, in den distinkten Stufen des Tonsystems ebenso wie in periodischer Taktgruppenordnung, in der Reprise der Sonatenform ebenso wie im Ritornell des Rondos, diese Verregelmäßigung bedeutet aber nicht Domestizierung des urwüchsigen Erlebens. Im Gegenteil  : Eine Rhythmisierung, die zur Ritualisierung werden kann (Leikert 2008), schafft jene Sicherheit, die den gesteigerten Affektausdruck (erst) erlaubt, ohne dass die Gefahr besteht, dass der Affekt übermächtig wird. Wo einst die Stimme brechen, kippen, sich überschlagen oder versiegen konnte, herrscht jetzt der Wohllaut des Stimmklangs (oder auch das runde, strahlende, brillante, weiche, schöne Tönen der Instrumente im Klangideal der europäischen klassischen Musik) – aber nichts ist vom Wahnsinn der Lucia di Lammermoor (Titelfigur der Oper von Gaetano Donizetti 1835) oder von der Brutalität des »Allegro barbaro« (Béla Bártok 1911) genommen, weil die Musik es versteht, innerhalb des gesicherten Rahmens beispielsweise das Erwartete lustvoll bis zum Gehtnichtmehr hinauszuschieben. Wenn wir – ein weiteres Bespiel – dem Gesang der Maria Callas lauschen, dann erkennen wir  : (Professionelles) Singen und Musizieren – das ist wie musikalisches Wellenreiten, ein kompetentes Surfen auf wahren Monstern von Affektwellen, zwar vom Absturz bedroht, aber mit dem Kopf oben, jedenfalls nicht in der Lage einer Frau, über der ein Sturm zusammenschlägt …

… nicht so sehr Expressivität, sondern Performativität Wo stehen wir nun  ? Wir haben uns von der Fixierung auf Musik als Text und gegebenes Objekt, das dann allenfalls zu reproduzieren ist, wegbewegt zu einem 55

Peter Röbke

Verständnis von Musik als menschliche Handlung, wobei das Ziel der Bemühungen gewissermaßen ein minimaler Begriff des Musizierens war, der dann zu differenzieren wäre, denn natürlich macht es z. B. hinsichtlich des Klangideals einen Unterschied, ob ich Thrash Metal spiele oder eine der letzten Klaviersonaten Beethovens. Und wir haben festgestellt, dass diese Handlung im Affektiven verwurzelt ist und deshalb in Bezug auf Musik gar nicht so viel von Gefühlen gesprochen werden sollte. Wie ist nun das Verhältnis dieser Handlung zu den Affekten  ? Werden diese ausgedrückt, wie es die gängige Rede von musikalischer Expressivität nahelegen würde  ? Eine Formulierung am Anfang dieses Textes könnte dieser Auffassung entsprungen sein  : »Töne spielen und singen sich nicht selbst, sie werden von Menschen erzeugt, die dafür Gründe haben, und deren Erregungs- und Spannungsstände sind es, die in die Produktion der Tonverbindungen einwandern und in uns den Eindruck erwecken, dass das Klanggeschehen Willen und Ziel habe.« Also  : »Gründe haben«, »Erregungs- und Spannungszustände, die einwandern« … Verweist die musikalische Handlung somit auf mein Innenleben, hat sie eine Referenz in meinem Seelengeschehen, ist die Klanggestalt der durchaus nicht beliebige, sondern ikonisch-abbildende Signifikant und mein Affektgeschehen das Signifikat  ? Unter dem Eindruck der Beschäftigung mit der Kategorie »Gender/soziales Geschlecht« gerät die Kategorie »Ausdruck« ins Wanken (vielleicht ist sie überhaupt nur in entwicklungspsychologischer Hinsicht zu gebrauchen), denn wenn ich im forschenden Üben wieder und wieder eine musikalische Gestalt auf immer neue Weise animiere  : Suche ich nach der einen Gestalt, die (m)ein Inneres präzise trifft oder dieses adäquat spiegelt, dieses angemessen aus-drückt, ist die real erklingende Gestalt der Ausdruck oder die Repräsentation von etwas, das Zeichen für etwas  ? Spüre ich denn in mir genau dasjenige, dem ich dann eine musikalische Form gebe  ? Oder ist es nicht vielmehr so  : Auf der Basis meines affektiven Vermögens, durchaus befeuert von jenem kontinuierlichen somatischen Strom von Erregungszuständen, vollziehe ich im Hier und Jetzt eine musikalische Handlung, die den zwar namenlosen, aber konkreten Affekt in diesem Augenblick musikalisch überhaupt erst erschafft, ihn in diesem Moment im Raum der Musik (symbolisch) gestaltet, ihn für eine Weile – und zwar flüchtig, sofort vom Zerfall bedroht – hervorbringt (und dabei durchaus auch affektive Erinnerungen aktualisiert …)  ! Also geht es – überraschend genug, weil ich damit eine musikästhetische Zentralkategorie in Frage stelle – gar nicht so sehr um Expressivität, sondern um Performativität, d. h. um körperliche performative Akte, »where performative carries 56

Musizieren als Affektgestaltung

the double meaning of ›dramatic‹ and ›non-referential‹« (Butler 1990 [1988], 270). Ich zitiere Judith Butler, deren Charakterisierung des performativen Handelns Erika Fischer-Lichte wie folgt paraphrasiert  : Die performativen Akte (als körperliche Handlungen) sind insofern als non-referential zu begreifen, als sie sich nicht auf etwas Vorgegebenes, Inneres, eine Substanz oder gar ein Wesen beziehen, das sie ausdrücken sollen  : Jene feste stabile Identität, die sie ausdrücken sollen, gibt es nicht. (Fischer-Lichte 2004, 37)

Somit bringen die körperlichen Handlungen »keine vorgegebene Identität zum Ausdruck, vielmehr bringen sie Identität als ihre Bedeutung allererst hervor« (ebd.). Und der Terminus dramatic zielt ebenfalls auf die Hervorbringung  : »By dramatic I mean […] that the body is not merely matter but a continual and incessant materializing of possibilities. One is not simply a body, but in some very key sense, one does one’s body.« (Butler 1990 [1988], 273)

»Doing one’s body« (Judith Butler) Ich behaupte nun  : Auch die Akte des Musizierens können in diesem Sinne verstanden werden als doing one’s body, als konkrete Verkörperung, als Embodiment, als Verwirklichung einer körperlichen Möglichkeit – allerdings unter je historischen und sozio-kulturellen Bedingungen und Zwängen. Dabei müssen wir realisieren, dass sich Musizierende immer gewisser Werkzeuge bedienen (und sei dieses Werkzeug auch die ausgebildete eigene Stimme). Wenn ich nun also nicht nur in der Fülle meiner naturgegebenen und »rauen« vokalen Möglichkeiten singe, sondern für die musikalische Affektgestaltung Werkzeuge, d. h. Instrumente, in die Hand nehme, dann kommen präformierte, konventionalisierte, historisch verbürgte und physiologisch begründbare Spielgesten ebenso ins Spiel wie gesellschaftlich normierte Klangideale. Eine Geige spielt man eben so und deren Klang hat voll und rund zu sein  ! D. h.  : Musizieren mit Instrumenten und auch ein stilistisch gebundenes und technisch normiertes Singen stellen eine Konventionalisierung, eine Perspektivierung und Stilisierung des ursprünglichen Sing- bzw. Musizieraktes dar – unbeschadet des je individuellen Tons eines Musikers oder einer Musikerin. Aber damit nicht genug  : Über Spielweise und Klang­ideal hinaus wirken sich eben auch Vorstellungen davon aus, was ein »männliches« oder »weibliches« Instrument sei bzw. eine »männliche« oder »weibliche« Spielweise. 57

Peter Röbke

Hier lauern biologistische oder essenzialistische Fallen  : Wenn uns die Evidenz der alltäglichen Erfahrung lehrt, dass die Trompete meistens von Männern und die Querflöte meistens von Frauen gespielt wird, dann bieten sich biologisch und psychodynamisch das unterschiedliche Lungenvolumen oder der unterschiedliche Testosteron- und Östrogenspiegel von Frauen und Männern als Erklärungsmuster an. Diese wollen halt ätherisch tönen und jene schmettern, diese sehnen sich nach der kantabel-fließenden Lautgebärde, jene nach der energetisch verdichtenden Fanfare, diese lassen den Luftstrom sanft über eine Kante strömen, jene überwinden aggressiv den Widerstand des Mundstücks in der sogenannten brass attack  ! Aber nehmen wir nun Butlers Grundannahme in ihrem frühen Aufsatz »Performative Acts and Gender Constitution« (verfasst 1988) ernst, dass die Geschlechtsidentität nicht ontologisch oder biologisch gegeben, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlich vermittelten und kulturell bedingten Konstruktions- und Konstitutionsleistung ist  : »In this sense, gender is in no way a stable identity or locus of agency of which various acts proceed  ; rather, it is […] an identity instituted through a stylized repetition of acts.« (Butler 1990 [1988], 270) Und wenn wir nun auch das Instrumentalspiel als »stilisierende Wiederholung von (Musizier-) Akten« sehen, dann erscheint es sinnvoll, die Genderfrage in der Musik auf die MusikerInnenpersönlichkeit zu richten, die sich im Gefolge der Wahl und des Spiels auf einem konkreten Instrument überhaupt erst ergibt, d. h., die in immer wieder erneuerten Musizierhandlungen hervorgebracht wird und die sich im permanenten musikalischen Vollzug als musikalische Genderidentität konstituiert. Die Auswahl aus den Möglichkeiten des musikalischen Körpers aber ist nicht nur vom freien Willen bestimmt, sie erfolgt auch unter Zwang, d. h., die Wahl des Instruments und der damit verbundenen Spielweise hat mit Konventionen und Tabus zu tun, was im Folgenden in Bezug auf das Klavier, den Gesang und die Geige exemplifiziert werden soll.

»Die Clavierseuche« (Eduard Hanslick, 1867) Im Jahr 1867 verfasst der bekannte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick einen »Brief über die Clavierseuche«, in dem er von einer »unbarmherzigen modernen Stadtplage« spricht und weiters ausführt  : Ich halte die herrschende Seuche für unheilbar […]. Kaum gibt es in den Großstädten ein Haus, in welchem nicht ein bis zwei Pianos auch mehr zu finden 58

Musizieren als Affektgestaltung

wären … Gerade das Klavier leistet mit seinen von Haus fertigen, von aller Unreinheit bewahrten Tönen der leidigen musikalischen Massendressur den verhängnisvollsten Vorschub. […] Wie viel Zeit wird nicht fort und fort an den Erwerb der danklosesten, unfruchtbarsten Fingerbravour verschwendet. (Czerny, zit. nach Wehmeyer 1983, 93f.)

Wer sich vor allem dieser »Massendressur« hinzugeben hatte, das weiß Hanslick präzise zu benennen  : »Die Opfer des Klaviers sind nicht bloß die Zuhörer der klimpernden Schüler, sondern diese Schüler selbst, vor Allem die zahllosen jungen Mädchen, welche ihre Nerven abnützen und soviel kostbare Zeit verlieren, um doch selten gute Pianistinnen zu werden.« (Ebd., 97) Und in Bezug auf die Vorgängerinstitution der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde (gegründet 1817), führt der Kritiker in einer späteren Publikation konkrete Zahlen an  : Die Zahl der Klavierschüler übersteigt in den meisten Konservatorien die der Geiger oder Bläser. Greifen wir die nächstbesten Jahresberichte des Wiener Konservatoriums heraus. Dasselbe war im Schuljahre 1875 besucht von 316 Klavierzöglingen, worunter 254 Mädchen  ; im Jahr 1876 von 448 Klavierschülern, worunter 300 Mädchen  ; im Jahre 1880 hatte es an 400 zahlende Klavierschüler, darunter 350 Mädchen  ! (Ebd., 97)

Die weibliche Dominanz beim Klavier kann nicht verwundern, ist es doch im aufkommenden bürgerlichen Zeitalter das einzige Instrument, das nach männlichem Urteil für Frauen als schicklich gelten kann. Andere Instrumente kommen von vornherein für die Bedienung durch Frauen nicht in Frage, und als repräsentative Zusammenfassung der dafür angeführten Gründe kann die bereits 1783 anonym erschienene Abhandlung »Vom Kostüm des Frauenzimmer Spielens« des Philologen, Komponisten und Pfarrers Carl Ludwig Junker (1748–1797) angesehen werden. Junker schließt Instrumente aus Gründen der weiblichen Mode aus, wegen des vermeintlichen Widerspruchs zwischen Instrumentalcharakter und weiblichem Wesen sowie dann, wenn Spielbewegungen unsittliche »Neben­ ideen« auslösen könnten. Konkret heißt das  : •• Mit großen hin und her fliegenden Manschetten Violine zu spielen, das sehe ebenso lächerlich aus wie im Reifrock den Bass zu traktieren. •• »Dieß Gefühl des Unschicklichen kann ferner daher entstehen, wenn die Na59

Peter Röbke

tur des Instruments mit dem anerkannten Charakter der weiblichen Schwäche nicht in Verbindung steht.« ( Junker, zit. nach Hoffmann 1991, 33) Diese Darlegung führt in erster Linie zum Ausschluss der Blechblasinstrumente bzw. der Pauken, seien diese doch »eigentlich Kriegsinstrumente« (ebd., 34). •• Junkers drittes Argument lässt nun gar keinen Widerspruch mehr zu  : »Zulezt, das Gefühl des Unschiklichen kann entspringen aus der Dißproportion, die zwischen der lokalen Stellung des Körpers, und dem eigentlichen Dekorum herrscht […] gewisse Instrumente erfordern aber eine solche Stellung, und Lage des Körpers, die sich mit den Begriffen des sittlichen Anstands nicht genau verträgt  ; Denn sie erwecken […] in der Seele gewisse Bilder, und Nebenideen, die den Wohlstand nicht begünstigen.« (Ebd., 34f.) Und Junker scheut sich nicht, ins Detail zu gehen  : Ein Frauenzimmer spielt das Violoncell. Sie kann hiebey zwey Übelstände nicht vermeiden. Das Überhangen des Oberleibs, wenn sie hoch (nahe am Steg) spielt, und also das Pressen der Brust  ; und denn eine solche Lage der Füße, die für tausende Bilder erwecken, die sie nicht erwecken sollen  ; sed sapienti sat [= aber genug für den Wissenden, P. R.]. (Ebd., 35)

Über die klavierkompatible Mode, den vergleichsweise neutralen Klangcharakter des Pianoforte und die unverfängliche Spielposition am Klavier hinaus werden noch weitere Begründungen dafür gegeben, dass das Klavier, wie Carl Czerny in seinen »Briefen über das Klavierspielen« schreibt, »vorzugsweise für die Fräulein und Damen eine der schönsten und ehrenvollsten Zierden ist« (zit. nach Wehmeyer 1983, 95). Freia Hoffmann hat in ihrem Buch »Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur« diese Argumentationslinien herausgearbeitet  : • Für die Frauen gilt das Ideal der vollkommenen Ruhe bzw. der vornehmen Bewegungslosigkeit, sind sie doch, wie ein Herr Klumpp 1847 ausführt, »das zum Sitzen verurteilte Geschlecht« (zit. nach Hoffmann 1991, 45). • Weiters gilt über Jahrhunderte das Ideal der schönen und eleganten weiblichen Hand, die besonders unnachahmlich auf den schwarzen Tasten der älteren Cembali zur Geltung kommen konnte. • Schließlich wird ein anmutiger, d. h. ein nicht von Affekten verzerrter Gesichtsausdruck, gefordert, eine allzeit temperierte Mimik, mit der sich das Spiel von Blasinstrumenten nur schwer verträgt, wie der Schweizer Musik60

Musizieren als Affektgestaltung

pädagoge Nägeli 1827 vermerkt  : »Das Blasen eines Instruments verunstalte schöne Lippen« (zit. nach Hoffmann 1991, 51) und führe zum verpönten Grimassieren. • Und am Ende ist auch nicht zu unterschätzen, dass sich am Piano schon im häuslichen Rahmen befriedigend musizieren lässt  : Das Klavier verlangt nicht nach sozialer Interaktion, es treibt nicht ins Leben hinaus, es lässt mit dem häuslichen Salon zufrieden sein. Aber damit längst nicht genug  : Wir treten mit dem 19. Jahrhundert zwar in ein Jahrhundert ein, in dem die musikalische Geschlechtsidentität von Frauen vor allem durch das massenhafte Klavierspielen geformt wird, aber Klavierspielen bedeutete nicht nur eine beschränkte Wahl musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten und eine Limitierung der performativen Möglichkeiten der Affektgestaltung, nein  : Vor das Klavier gesetzt zu werden bedeutet eine Dressur, bei der es um die militante Disziplinierung und gewaltsame Formierung des weiblichen Körpers geht. Was nämlich – vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir beim Klavierunterricht vor allem an den Klavierunterricht mit Mädchen denken müssen  ! – in Betracht zu ziehen ist, sind wesentliche Veränderungen in der Ästhetik und Mechanik des Klavierspiels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mehr und mehr wird der Körper der Pianistin selbst zur Maschine deklariert  : Der Hammermechanismus des Klaviers wird zum Vorbild für die geforderte Hammerfunktion von Arm, Hand und Fingern. Kaum geht es um einen sensiblen Kontakt von Finger und Tasten, um auf differenzierte Weise die Saiten zum Schwingen zu bringen, die Klavierpädagogik richtet ihr Augenmerk nun auf die quasi maschinelle Bearbeitung des Tasteninstruments durch einen in brutalem Training abgerichteten menschlichen Spielapparat. Im Jahr 1860 formuliert Theodor Kullak das mechanistische Ideal  : Was nun die Belegung der Finger in dieser Form des Spielapparats betrifft, so repräsentirt das erste Glied den Stil eines Hammers, die anderen aber den abwärts gehenden Kopf desselben. Die Krümmung der Finger muß straff festgehalten werden, und das Gefühl der Lockerheit besteht nur im Knöchelgelenk. (Kullak zit. nach Gellrich 1990, 113)

Zu Recht weist Martin Gellrich in seinem wichtigen Aufsatz »Die Disziplinierung des Körpers. Anmerkungen zum Klavierunterricht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, dem auch die folgenden Abbildungen entnommen sind, darauf hin, dass der menschliche Körper für diese Adaption an die Mechanik, an 61

Peter Röbke

die harten Kanten und rechten Winkel des Klaviers, überhaupt nicht gemacht ist. Also mussten die Klavierpädagogen und Klavierpädagoginnen, nachdem Haltungs- und Bewegungsvorschriften wohl wenig fruchteten, zu härteren Mitteln greifen. Unüberschaubar ist die Zahl an Erfindungen sadistisch anmutender Vorrichtungen, die dem Körper das Geforderte abpressen sollen  :

Abb. 1  : Um die Verbindung von zweitem und drittem Fingerglied zu versteifen, kam Heinrich Seebers »Klavierfingerbildner« zum Einsatz (Gellrich 1990, 120).

Abb. 2  : Um den Ringfinger vom Mittelfinger unabhängiger zu machen, wurde dieser mittels eines »Sehnenspanners« weggestreckt (Gellrich 1990, 125).

Abb. 3 und 4  : Um Handrücken und erstes Fingerglied in die waagrechte Ebene zu zwingen, nutzte man Lenzens Handkorsett und Kupkes Handleiter (Gellrich 1990,119 u. 120).

62

Musizieren als Affektgestaltung

Abb. 5  : Um das Absacken des Handgelenks zu unterbinden, schien Bohrers »automatischer Klavier-Handleiter« das probate Mittel ( Gellrich 1990, 122).

Abb. 6  : Um den Körper zu einer aufrechten Haltung zu zwingen, bediente man sich Henriette Rumpfs »Geradehalter für den Rumpf« (Gellrich 1990, 124).

Wer sich diese Ausgaben sparen wollte, konnte sich aber auch an das folgende Gedicht halten  : Von der Haltung am Klavier Grade sitzen  ! Sich nicht stützen  ! Weder vor- noch rückwärts beugen. Nicht nach rechts und links sich neigen  ! Arm und Hand nicht unnütz rühren, Selbstbeherrschung nie verlieren  ! Vor des Instrumentes Mitte Sich plaziren, so ist’s Sitte Füsse nahe am Pedal, Oberkörper vertikal, Und bei grösster Kraftentfaltung, Ungezwungen sei die Haltung  ! (Zit. nach Gellrich 1990, 123f.)

63

Peter Röbke

Ich wiederhole mich  : Das absolut bevorzugte Objekt dieser schwarzen Instrumentalpädagogik waren die Frauen  !

»Burschen singen nicht« Beschäftigen wir uns nun mit der Stimme und dem Stimmgeschlecht  : Während beim Klavier aufgrund der vergleichsweise neutralen und kraftunabhängigen Spielweise eine biologistische Begründung für die Dominanz von Frauen absurd wäre, scheinen hingegen in Bezug auf die geschlechtliche Binarität und Differenz der Stimmgeschlechter »natürliche« Gründe sehr viel näher zu liegen  : Ja, man hört doch wohl, ob ein Mann oder eine Frau singt  ; und da die Stimme ein sekundäres Geschlechtsmerkmal ist, kann es doch kaum verwundern, dass in diesem Feld der musikalischen Praxis Sexualität und Gender scheinbar zusammenfallen  ! Aber so einfach liegen die Dinge nicht  : Man denke an die historische Figur des Kastraten, dessen ästhetische und zugleich erotische Attraktivität gerade in der transsexuell anmutenden Differenz zwischen Männerkörper und Frauenstimme angelegt war. Man denke an das Verdikt des Apostels Paulus im 1. Korintherbrief, wonach die Frauen in der Kirche zu schweigen hätten (was natürlich auch das Singen implizierte), bzw. an die Tatsache, dass in der Barockoper männliche Götter oft von Sopranen oder Altisten dargestellt wurden, und zwar von männlichen Sopranisten und Altisten, die wie selbstverständlich die Technik des Falsettsingens nutzten, um die hohe Lage zu erreichen. Countertenöre waren keine exotischen Erscheinungen wie heute etwa Jochen Kowalski, sondern eine Normalität. Und was die reine Physiologie anbelangt  : Statistisch betrachtet, gibt es zwar zweifellos mehr Frauen mit breiten Hüften und mehr Männer mit Haaren auf der Brust  ; aber umgekehrt ist es nicht möglich, aus einer unbehaarten Brust »Frausein« oder aus schmalen Hüften »Mannsein« abzuleiten. Ebenso lässt der Stimmumfang nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf das Vorhandensein anderer geschlechtstypischer Merkmale schließen. Eine Stimme mit dem unteren Grenzton E gehört wahrscheinlich einem erwachsenen Mann, aber bei einem unteren Grenzton H können wir nur raten, ob wir es mit der Stimme eines Mannes oder einer Frau zu tun haben. Für die Stimme gilt dasselbe wie für die Körpergröße oder die in biologistischen Theorien gerne herangezogene Größe des Gehirns  : Die Unterschiede zwischen zwei Männern – oder zwei Frauen – sind oft größer als die zwischen einem Mann und einer Frau. (Grotjahn 2010, 161) 64

Musizieren als Affektgestaltung

Und Rebecca Grotjahn kommt zu einem Resümee, das meinem in Bezug auf die Instrumentalwahl entspricht  : Das Stimmgeschlecht ist also keine natürliche Tatsache, sondern ein Konstrukt. Wir ordnen die Stimme nach dem Kriterium Geschlecht und projizieren die unserer Kultur allgegenwärtige Zweigeschlechtlichkeit auf ein an sich amorphes Feld von Stimmumfängen. Nur unter dieser Voraussetzung fungiert die Stimme als Zeichen für das Geschlecht. (Ebd., 161)

Dass auch die Gesangspraxis selbst für »doing one’s body« (Butler) oder für die durchaus auch gewaltsame Selektion aus dem Potenzial des Körpers stehen kann, eines Körpers, der nicht als fixe Entität existiert, sondern als »an active process of embodying certain cultural and historical possibilities« (Butler 1990 [1988], 273), zeigt sich an der Dominanz bestimmter Stimmideale  : Männerstimmen bewegen sich in der Klassik eben nicht mehr im »unmännlichen« Falsettregister, Frauen hingegen versuchen in der Gegenwart in hohen Lagen den Anteil der »männlichen« Bruststimme auszublenden. Damit aber nicht genug  : Das Singen selbst wird zunehmend weiblich konnotiert, man denke daran, wie schnell auch ein Tenor abwertend als affig, tuntig, weibisch wahrgenommen wird … In einer Studie von Lucy Green mit dem Titel »Music, Gender, Education« aus dem Jahr 1997 lernen die befragten Buben das Singen in der Schule mit dem Argument »It’s a girl’s thing  !« (Green 1997, 151) ab, und mein deutscher Kollege Andreas Lehmann-Wermser fühlte sich 2002 zu einem Aufsatz über das Verschwinden der Jungen aus der Musikdidaktik veranlasst, über einen Ausschluss, der sich besonders dann vollzieht, wenn das Singen als Kernaktivität des Musikunterrichts angesehen wird (Lehmann-Wermser 2002). Wie sind diese Vorgänge zu interpretieren  ? Weiter oben habe ich mich mit dem Übergang von der protomusikalischen Interaktion zwischen Baby und Mutter in den eigentlichen Gesang befasst und dabei formuliert  : »Schwingungen werden periodisiert und die gleichmäßig schwingenden Töne werden mit den körperlichen Resonanzräumen synchronisiert  ; das erlaubt aber nicht nur ein faszinierendes Vibrationsempfinden, sondern dadurch werden die Töne auch lauter und haben eine gesteigerte Wirkung auf den Hervorbringenden/die Hervorbringende selbst und eine wachsende Macht auf den Hörer und die Hörerin.« Was wäre, wenn dieses »faszinierende innere Vibrationsempfinden«, wenn dieses zugleich weiche und heftige Schwingen des ganzen Körpers, wenn die Möglichkeit zu einer Entgrenzung dieses Körpergeschehens in Trance oder Ekstase hinein im Widerspruch zu einem männlichen Körperbild stünde, das eher auf 65

Peter Röbke

Abgrenzung, ja vielleicht sogar – im Sinne Klaus Theweleits – auf Panzerung und Härte der Körperhülle aus ist  ? (Vgl. Theweleit 1977/1978) Ich lese in Helmuth Plessners »Anthropologie der Musik« aus dem Jahr 1925  : Der Mensch gehört zu den Laut produzierenden Wesen. Was ihm gegenüber Licht und Farben versagt ist, vermag er bei Tönen. Er kann sich Luft machen im artikulierten Schrei wie im artikulierten Laut und geformten Ton. In dieser Äußerung, der Entladung einer inneren Spannung durch Bewegung, sprengt das Individuum die Schicht, in der es sich gegen eine fremde Außenwelt abgegrenzt findet. Etwas ringt sich aus ihm los und begegnet ihm als Ton wieder von außen  ; das ursprünglich Eigene kehrt zu ihm zurück als »seine« Äußerung. (Plessner 2003 [1925], 186)

»Entladung«, »Sprengung«, »Losringen« – meiner Lektüre enthüllt sich der eherne, der gepanzerte Mann, und weit ist diese Lautexplosion von meiner Erfahrung der Lautvibration im Singen entfernt. Interessant ist übrigens, wie in der Pop- und Rockmusik mit dieser Problematik umgegangen wird  : Zunächst ist der Pop durchaus ein Feld der queeren Aufhebung der Genderbinarität, ein Feld des Spiels mit den Geschlechtsrollen, ich erinnere nur an androgyne Gestalten wie David Bowie oder Lou Reed (vgl. Baldauf 2010). In der »harten« Rockmusik scheint der Mann vor zwei Möglichkeit zu stehen (und ich habe hier z. B. Robert Plant von Led Zeppelin oder Brian Johnson von AC/DC im Ohr)  : Einerseits brüchige, fragile, »feminine« Stimmgebung im Brustregister, andererseits hohe Lage und Dauerfalsett  ! Und im Hip-Hop, dem Medium der wütenden Aggressionsabfuhr schwarzer (und auch weißer) Jugendlicher, wird wirklich – als würde Plessner wörtlich genommen – die Körperschicht gesprengt und Klangliches im Staccato-Sprechgesang herausgestoßen bzw. herausgepresst.4

Die neuen GeigerInnen – beyond gender binarity  ? Nachdem die historischen Streiflichter vielleicht ein Stück weit erhellen konnten, wie sich musikalische Genderidentitäten im Klavierspielen oder im Singen herauskristallisierten und verhärteten, denke ich aber, dass diese Identitäten in der musikalischen Gegenwart ins Fließen geraten. Gewisse Erscheinungen erwecken in mir den Eindruck, dass sich historische Festlegungen auflösen und wir uns einer Situation des queer in music nähern. Erleben wir Ansätze zur Befreiung aus der verordneten Beziehung von Geschlechterbinarität und MusikerInnenpersönlichkeit  ? 66

Musizieren als Affektgestaltung

Ich versuche meine Vermutung am Beispiel meines Hauptinstrumentes Violine darzulegen. Lange wurde die Violine gerade aufgrund ihrer Form anthropomorphisiert und sexualisiert und geradezu als Symbol des weiblichen Körpers angesehen. Im Jahr 1913 dichtete ein gewisser Adolf von Ehrmann Uns erscheint die Violine Immer nur als eine Frau Zeigt sich doch das Feminine Schon in ihrem Körperbau (Zit. nach Hoffmann 1991, 64)

Sicher fällt den LeserInnen auch Man Rays berühmtes Foto der nackten weiblichen Rückenansicht mit den aufgemalten F-Löchern der Violine ein … Das heißt aber  : Dieses Instrument durfte – zumal in der lust- und triebfeindlichen bürgerlichen Konzertsituation – nur von »ernsten Männern auf züchtige Weise« gehandhabt werden  : Im Bewusstsein einer solchen gesellschaftlich wirkenden Grundannahme erzählen historische Aufnahmen von Geigern wie Jascha Heifetz, Yehudi Menuhin oder Dawid Fjodorowitsch Oistrach dem Betrachter, der Betrachterin neue, andere Geschichten. Die geigende Solistin, die in den letzten Jahrzehnten im deutschen Kulturraum vor allem durch Anne-Sophie Mutter repräsentiert ist, ist zunächst das vom väterlichen Mentor Herbert von Karajan kritisch beäugte junge Mädchen5, später dann die hübsche junge Frau, die – ganz im Sinne der von Karin Hausen beschriebenen bürgerlichen Geschlechtscharaktere (vgl. Hausen 1976) – schutzbedürftig auf der grünen Wiese sitzt.6 Und in der Gegenwart erfährt dieses Frauenbild noch eine Steigerung, wenn etwa Lidia Baich als Geigen-Vamp posiert. Wie aber wirkt das Spiel einer Janine Jansen oder einer Patricia Kopatschinskaja auf mich (und hier wären übrigens auch junge Geiger wie Joshua Bell anzuführen)  ?7 Man mag in deren Spiel auch etwas sehen, das die alten Zuschreibungen der vermeintlich weiblichen Hysterie bedient oder einem neuen Kult der demonstrativen Körperlichkeit frönt. Mir kommt es eher so vor, als würde das Diktat des musikalischen Geschlechts schwächer, dadurch nämlich, dass Musizieren wieder als Angelegenheit des ganzen Körpers angesehen wird (wie es das Konzept der kinetischen Semantik nahelegt). Jenseits einer »weiblichen« oder »männlichen« Weise des Spiels scheint sich eine zutiefst menschliche Spielweise Bahn zu brechen, der Versuch, nicht nur auf dem Instrument zu spielen, sondern mit dem Instrument eins zu werden. Und wenn der Körper nach MerleauPonty keine stabile Entität (vgl. Merleau-Ponty 1994), sondern ein Repertoire 67

Peter Röbke

von Möglichkeiten ist  : Vielleicht erleben wir, wie dieses neu ausgeschöpft wird und wie diese neuen musikalischen Verkörperungen das Korsett des klassischen Konzertbetriebs gleichsam von innen her sprengen  !

Anmerkungen 1 Vgl. auch Figdor in Figdor/Röbke 2008, 143  : »So offenbart sich die Musik als die eigentliche Muttersprache der Seele, und zwar in mehrfachem Sinn  : als erstes Beziehungsmedium (›Sprache‹) zwischen Mutter und Kind (bzw. Fötus), als Symbol – man könnte auch sagen  : Übergangsobjekt  – der Mutter bzw. der paradiesisch symbiotischen Einheit mit ihr, und schließlich als der ›Ort‹, an dem die archaischen Anteile psychischer Bewegungen, die sich jeder begrifflichen oder auch anderen Art symbolischer Erfahrung entziehen, Gestalt, Ausdruck und somit einen Platz im bewegten Seelenerleben erlangen können.« 2 Vgl. dazu den faszinierenden Film mit der nahezu gehörlosen Perkussionistin Evelyn Glennie »Touch the Sound. A Sound Journey with Evelyn Glennie« (Thomas Riedelsheimer, Deutschland, 2004) 3 Ein Terminus technicus der Frühkindforschung 4 Vgl. dazu den Film 8 Mile (Curtis Hanson, USA, 2002), der den musikalischen Weg des weißen Rappers Eminem (eigentlich Marshall Bruce Mathers III) zum Gegenstand hat. 5 Hier habe ich das Plattencover der Einspielung der Violinkonzerte von Felix de Mendelssohn und Max Bruch (1981) vor Augen. 6 Gemeint ist das Cover der Aufnahme der »Vier Jahreszeiten« von Antonio Vivaldi aus dem Jahr 1994. 7 Z.B. auf Youtube  : http  ://www.youtube.com/watch  ?v=VKOUIEpa6cA oder http  ://www.youtube. com/watch  ?v=mj2TaQD_Ij4

Literatur Anette Baldauf (2010), »Feminismus und Popkultur«, in  : Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik–Theater–Film, Wien, 91–110 Judith Butler (1990 [1988]), »Performative Acts and Gender Constitution  : An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in  : Sue-Ellen Case (Hg.), Performing Feminism. Feminist Critical Theory and Theatre, Baltimore/London, 270–282 (Aufsatz erstmals 1988 erschienen) Antonio Damasio (2004), Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München Martin Dornes (1993), Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a. M. Helmuth Figdor, Peter Röbke (2008), Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog, Mainz Erika Fischer-Lichte (2004), Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. Martin Gellrich (1990), »Die Disziplinierung des Körpers. Anmerkungen zum Klavierunterricht

68

Musizieren als Affektgestaltung

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in  : Werner Pütz (Hg.), Musik und Körper, Essen, 107–138 Lucy Green (1997), Music, Gender, Education, Cambridge Rebecca Grotjahn (2010), »Vom Geschlecht der Stimme«, in  : Rebecca Grotjahn, Sabine Vogt, Musik und Gender. Grundlagen – Methoden – Perspektiven, Laaber, 158–169 Hans Ulrich Gumbrecht (2004), Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. Karin Hausen (1976), »Die Polarsierung der ,Geschlechtercharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in  : Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. v. Werner Conze, Stuttgart, 363–393 Freia Hoffmann (1991), Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M./Leipzig Andreas Lehmann-Wermser (2002), »Vom Verschwinden der Jungen aus der Musikdidaktik«, in  : Zeitschrift für kritische Musikpädagogik (online), Mai 2002, abrufbar unter http  ://home.arcor.de/ zfkm/lehmannw1.pdf (28.5.2011) Sebastian Leikert (2008), Den Spiegel durchqueren – Die kinetische Semantik in Musik und Psychoanalyse, Gießen Maurice Merleau-Ponty (1994), Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 2. Auflage Neue Mozart Gesamtausgabe (1970), hg. von Gernot Gruber, Alfred Orel, Kassel Helmuth Plessner (2003 [1925]), »Zur Anthropologie der Musik«, in  : ders. (2003)  : Ausdruck und menschliche Natur (= Gesammelte Schriften VII), Frankfurt a. M., 184–200 Daniel Stern (2003), Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart Klaus Theweleit (1977/1978), Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a. M. Grete Wehmeyer (1983), Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder  : Die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideologie, Basel/London Renate Wieland, Jürgen Uhde (2002), Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens. Über den Interpreten und den Körper als Instrument der Musik, Kassel

Filme 8 Mile (Curtis Hanson, USA, 2002) Touch the Sound. A Sound Journey with Evelyn Glennie (Thomas Riedelsheimer, Deutschland, 2004)

69

Andreas Holzer

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ? Gefühlsforschung hat Konjunktur. In allen Geisteswissenschaften, aber auch in verschiedenen Sparten der Naturwissenschaften (Psychologie, Psychophysiologie, Kognitive Neurowissenschaften, Neurobiologie) ist ein wachsendes Interesse zu verzeichnen, dem eine selbst in den einzelnen Disziplinen nicht mehr zu überschauende Masse an einschlägiger Literatur entsprungen ist. Müsste Doris Bachmann-Medick in einer weiteren Neuauflage ihres Buches »Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften« (2006) einen weiteren turn, den emotional turn, berücksichtigen  ? Ob dieser Begriff 2006 zu Recht in Umlauf gebracht wurde (vgl. Frevert 2009, 184), müsste daran gemessen werden, ob die Emotionsforschung tatsächlich zu entscheidenden Neuorientierungen geführt hat. Mit der unterschiedlichen Wortwahl (Gefühl, Emotion) ist en passant bereits ein entscheidendes Problemfeld angeschnitten  : Gefühl, Emotion, Stimmung, Affekt, Empfindsamkeit, Leidenschaft – wie sind diese Phänomene zu differenzieren  ? Dementsprechend schwer tut man sich auch mit Definitionen. Selbst innerhalb der einzelnen Disziplinen existieren keine einheitlichen Vorstellungen darüber, was Emotionen überhaupt sind. Dazu kommt noch das Problem, dass unmittelbare Übersetzungen in andere Sprachen nicht so ohne Weiteres funktionieren. Die schwierige und oftmals umstrittene Abgrenzung der genannten Begriffe zueinander sowie auch deren Überschneidungen lassen einheitliche Theoriebildungen in allen Disziplinen von vornherein nicht zu. Ein Blick auf die musikwissenschaftliche Forschungslandschaft der jüngeren Vergangenheit lässt erkennen, dass das Forschungsinteresse regional doch recht unterschiedlich gewichtet ist und überdies zumindest bis zu einem gewissen Grad auch unterschiedliche inhaltliche Ausrichtungen angenommen hat. Quantitativ dominiert mit großem Abstand die englischsprachige Literatur, wobei der skandinavische Raum, wohl auch auf Grund ähnlicher Forschungsinteressen, mitbeteiligt ist. Um die explodierenden Aktivitäten einem Überblick zugänglich zu machen, entstand 2001 ein Buch, das erstmals zur Gänze dem Verhältnis zwischen Musik und Emotion gewidmet war. Die weitere Diversifizierung und die zunehmende interdisziplinäre Vernetzung der Forschungsaktivitäten seither veranlasste die Herausgeber schon nach wenigen Jahren, eine erhebliche Erweiterung vorzunehmen. Im 2010 von Patrick N. Juslin und John Sloboda herausge71

Andreas Holzer

gebenen, nunmehr nahezu 1000 Seiten umfassenden »Handbook of Music and Emotion« werden Zugänge zur Thematik aus unterschiedlichsten Disziplinen angeboten  : Philosophie, Anthropologie, Soziologie, (Musik-)Psychologie, Musikgeschichte, Neurowissenschaften. Allein die darin enthaltenen Literaturverweise, die fast ausschließlich englischsprachige Publikationen umfassen, würden eine eigene Bibliothek füllen. Im Vergleich dazu ist die Gefühlsforschung im deutschsprachigen musikwissenschaftlichen Raum eher überschaubar, wenngleich anwachsend. Wie wenig dieser Forschungszweig hier noch verankert ist, zeigt das Phänomen, dass in der gerade abgeschlossenen monumentalen Enzyklopädie »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« die Begriffe Gefühl oder Emotion schlichtweg nicht vorkommen. Dass man in den Lemmata danach vergeblich sucht, mag bei einer Enzyklopädie noch argumentierbar erscheinen, allerdings wird man auch im Register nicht fündig. Womit diese unterschiedlichen Gewichtungen zu begründen sind, ist schwer zu sagen. Ein Blick auf die vorherrschenden Forschungsinteressen in der englischsprachigen Literatur könnte zumindest bis zu einem gewissen Grad aufschlussreich sein  : Der quantitativ dominierende Teil dieser Forschungen ist durch empirische Vorgangsweisen bestimmt, die der Musikpsychologie zuzurechnen sind. Vielfach sind diese empirischen Arbeiten von der Intention geleitet, Messbares zu erhalten. Gegenüber diesen positivistischen Absichten, die im Nachfolgenden noch genauer in Augenschein genommen werden, scheint im deutschsprachigen Raum doch eine größere Skepsis vorzuliegen. Egal ob es um eine Geschichte der Emotionen geht oder ob die Rolle des Emotionalen im Kontext lebender Personen ins Auge gefasst wird, immer steht man unterschiedlichen »Dimensionen des Emotionalen« gegenüber (Scherke 2009, 31), die unterschiedliche Zugangsweisen erfordern. Im Rahmen einer Kulturgeschichte der Emotionen erwägt Peter Burke beispielsweise fünf denkbare Annäherungen  : eine Geschichte der Haltungen zu (1), des wechselnden Interesses an (2), der wechselnden Objekte von Emotionen (3)  ; die unterschiedlichen Versuche zu deren Kontrolle (4) sowie eine Geschichte der Fluktuationen hinsichtlich der Intensität (5) von Emotionen (Burke 2005, 40–42). Immer geht es um ein Reden über Emotion im Kontext bestimmter ästhetischer Konzepte. Im Kontext einer aktuellen Auseinandersetzung differenziert Katharina Scherke ebenfalls fünf Dimensionen (Scherke 2009, 31)  : (1) Die körperliche Dimension, die alle physiologischen Prozesse umfasst  ; (2) die Ausdrucksdimension, die das für andere Menschen sichtbare Erscheinungsbild einer Emotion sowie auch die Gefühlsinszenierung umfasst  ; 72

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

(3) die Erlebnisdimension, die das Erleben und dessen Verbalisierung wie auch die Regulation nach soziokulturellen Bedingungen umfasst  ; (4) die Bewertungsdimension  ; (5) die Handlungsdimension, die mit der einer Emotion folgenden Tendenz zu einer Verhaltensänderung zu tun hat. Wird diese Übersicht auf das emotionale Erleben von Musik angewendet, so wird ein weiteres Problemfeld sichtbar  : Weite Bereiche der Wissenschaften, die mit Emotionsforschung zu tun haben, sind auf basale Emotionen wie Angst, Freude, Trauer oder Abscheu fokussiert und auch die obigen fünf Dimensionen sind wohl davon abgeleitet. So bereitet es keine Schwierigkeiten, das klassische Beispiel vom plötzlichen Zusammentreffen mit einer Schlange, die Furcht einflößt, an Scherkes Skala der Dimensionen durchzuexerzieren. Wird dasselbe mit einem musikalischen Erlebnis gemacht, so werden sogleich einige Einschränkungen gewahr. Einerseits werden die – wenn überhaupt – körperlich wahrnehmbaren Konsequenzen wesentlich gedämpfter ausfallen  ; die berühmte ›Gänsehaut‹ dürfte wohl kein alltägliches Phänomen sein. Und des Weiteren ist es zumindest fraglich, ob ein emotionales Erleben von Musik, so es überhaupt stattfindet (  !), Anstoß zu einer nachfolgenden Handlung geben wird. Auf jeden Fall ist die Art der Emotionen, um die es beim Erleben von Musik geht, im Vergleich zu jenen basalen Emotionen von fundamental anderem Charakter. In weiterer Folge dieser Ausführungen soll nun vor allem Scherkes dritte Dimension, das Erleben von Musik und dessen Verbalisierung, näher in Augenschein genommen werden. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass ein erheblicher Teil der aktuellen musikwissenschaftlichen/-psychologischen Forschung genau darauf ausgerichtet ist. Ein Kennzeichen der jüngeren Forschungslandschaft in diesem Kontext ist weiters darin zu sehen, dass nunmehr neben den perceived emotions auch die felt emotions stärker in das Blickfeld geraten sind (ich verwende bewusst die englischsprachigen Termini, weil eben der Großteil der einschlägigen Forschungen im englischsprachigen Raum stattgefunden hat). Das heißt, neben den wahrgenommenen emotionalen Qualitäten, die einem Musikstück zugeschrieben werden, will man auch dem individuellen Erleben von Emotionen auf die Spur kommen. Das mag zum einen daran liegen, dass seit den 1980er-Jahren Körperdiskurse »eine inflationäre Konjunktur« (Assmann 2006, 89) haben  ; zum anderen trugen wohl auch neue Erkenntnisse der Hirnforschung dazu bei. Zu denken wäre hier etwa an die besonders stark rezipierten Bücher von Antonio Damasio (z. B. »Descartes’ Error  : Emotion, Reason and the Human Brain« aus dem Jahr 1994). 73

Andreas Holzer

Wie weit die beiden oben genannten Bereiche, perceived emotion und felt emotion, miteinander zu tun haben, ist ebenso Gegenstand heftiger Diskurse wie der Akt der Verbalisierung. Basis dieser Diskurse sind nicht zuletzt die in jüngster Zeit rasant angewachsenen empirischen Forschungen, zu einem hohen Prozentsatz in Form von self-reports, also der Verbalisierung von individuell empfundenen oder zugeschriebenen Emotionen während oder nach einem musikalischen Hörerlebnis. Die Präferenz für derartige Studien dürfte wohl daran liegen, dass sie relativ einfach durchführbar sind. An den Ausgangspunkt einer kritischen Durchleuchtung dieser Forschungsfelder sind zwei Fallbeispiele gestellt, die von typischen Interessen geleitet sind und an Hand derer sich grundlegende Fragestellungen ableiten lassen. Eines sei vorausgeschickt  : Wenngleich die folgenden Darlegungen von großer Skepsis durchdrungen sind, so soll damit keineswegs die Sinnhaftigkeit der Forschungen zu Emotionen bzw. Gefühlen an sich in Frage gestellt werden. Es geht nicht darum, Emotionen als subjektive Phänomene aus dem Feld der Wissenschaft zu verbannen. Aber gerade angesichts einer Problemstellung, die interdisziplinäre Zugänge einfordert, ist erkenntnistheoretische Sorgfalt angebracht. So ist es beispielsweise fragwürdig, auf der Basis einer vagen Ausgangssituation weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen – aber gerade das ist, wie sich zeigen wird, oft zu beobachten. Beide Fallbeispiele haben mit der Intention zu tun, Emotionen – individuell erfahrene wie auch zugeschriebene – für die musikalische Analyse nutzbar zu machen. In beiden Fällen ist der Ansatzpunkt ein kritischer Blick auf die ›kalte‹ musikalische Strukturanalyse, die das ›wahre‹ Wesen der Musik nicht erfassen könne. Roswitha Müller, die das erste Beispiel liefert, sieht in dieser Meinung zunächst zwar nur »populäres Gedankengut« (Müller 2004, 459f.), schließt sich dem aber weitgehend an. Das zweite, an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg angesiedelte, Fallbeispiel steht unter dem Motto der »Entwicklung einer didaktisch orientierten Analyse-Logik von Musik« (Zöllner-Dressler 2008, 3). Es handelt sich um ein Projekt, das Gregor Pongratz in die Wege geleitet hat und das von Stefan Zöllner-Dressler zu einer Publikation weitergeführt wurde. Leitlinie war die Überzeugung, dass eine Werkbetrachtung im didaktischen Kontext (in der Schule, aber auch in der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen) nur dann fruchtbar sein könne, wenn die zutiefst subjektiven Erfahrungen und Empfindungen der HörerInnen (oder Hörenden) Ausgangspunkt für die analytischen Betrachtungen wären. Im Unterschied zu Müller geht es hier demnach weniger um eine Kritik an der Strukturanalyse an sich, sondern um deren Ungenügen im pädagogischen Bereich. 74

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

Roswitha Müller zieht aus ihrem Studium der jüngeren musikpsychologischen Literatur sehr saloppe Schlüsse  : Untersuchungen von Hörreaktionen hätten ergeben, dass diese »im Wesentlichen konsistent und weitgehend gleichartig« (Müller 2004, 461) seien, sogar kulturübergreifend. Musikalische Emotionen würden aber nicht nur Allgemeingültigkeit besitzen, sondern sie hätten auch unmittelbar mit der Struktur der Musik zu tun  : Wenn das aber so ist, so sollte es im Wesentlichen auch möglich sein, konkret der Emotionalität von Musik nachzugehen, das heißt mit anderen Worten, analytisch ein emotionelles Muster eines Musikstücks zu erzeugen. Eine solche Analyse zielt auf die Ebene der Expression, das heißt, die emotionellen Parameter, die in der Musik enthalten sind. (Ebd., 464)

Da ja bereits erkannt wurde – so Müller –, dass Gefühle universell seien, müsse das aber natürlich auch für die KomponistInnen und deren kompositorische Entscheidungen gelten. Da die meiste Musik mit Gefühlen zu tun habe, insbesondere die der Romantik, sei davon auszugehen, dass Gefühle »Teil der musikalischen Grammatik« wären. Damit müsse es möglich sein – so Müller –, den emotionellen Verlauf eines Werks zu beschreiben. Müller illustriert das am Beispiel von Edvard Griegs »Poème érotique« (Nr. 5 aus dem Heft III der »Lyrischen Stücke«)  : Dieses Stück besitzt eine emotionelle Linie (basierend auf einer einfachen Liedform mit Coda), die im Wesentlichen folgendermaßen verläuft  : relativ neutraler, melodiös ruhiger Beginn (mit offenem Ende und Wiederholung  : der A-Teil der Liedform), dann im B-Teil steigende Erregung durch zunehmende harmonische und rhythmische Verdichtung durch Einführung eines Sechzehntelpulses, die zu einem Höhepunkt führt  ; die Wiederholung des A-Teils mit zusätzlich eingeschobenen synkopierten Zwischenstimmen, die den Sechzehntelpuls des Mittelteiles fortführen, sodass das emotionelle Niveau trotz der Rückkehr in die ruhige Melodie des Beginns nun höher, wenn auch nicht so hoch wie im Mittelteil bleibt. Erst die kurze Coda führt in eine endgültige Beruhigung. Das Gefühl selbst lässt sich nicht genauer spezifizieren, da entsprechende Charakteristika fehlen, es lässt sich am besten als allgemeine Erregung klassifizieren. Der Titel fügt erst die Information hinzu, um welche Art der Erregung es sich hier handelt. (Ebd., 465)

Dieses Fallbeispiel wurde in erster Linie deshalb gewählt, weil hier etliche äußerst problematische Vorgangsweisen, die aber nicht selten in der Literatur zur Emotionsforschung beobachtbar sind, in geradezu plakativer Art und Weise 75

Andreas Holzer

greifbar werden. Wenn etwa behauptet wird, dass die Hörreaktionen auf Musik in gewissen Grenzen sogar kulturübergreifend weitgehend gleichartig wären (ebd., 461), so ist das ein selektives Extrahieren einer Position aus einem äußerst kontrovers geführten Diskurs. Ein genauerer Blick in einschlägige Studien würde zeigen, dass diese interkulturellen Konvergenzen immer dann zu Tage treten, wenn betont einfache Versuchsanordnungen vorliegen  : In einer Studie von Balkwill, Thompson und Matsunaga (2004) mit 147 japanischen HörerInnen wurde diesen Musik mit westlicher, japanischer und indischer Idiomatik vorgesetzt. Glück wurde überwiegend mit schnellem Tempo und einfacher Melodik assoziiert, Trauer mit langsamem Tempo und eher komplexer Melodiebildung. Bei etwas komplexeren Fragestellungen würden die Ergebnisse ganz anders aussehen (ganz abgesehen davon, dass vielen JapanerInnen westliche Musik vertrauter ist als traditionelle japanische). Da die Ergebnisse stark vom Charakter der jeweiligen Studien abhängen, ist hinsichtlich einer Verallgemeinerung größte Vorsicht geboten. Ähnlich problematisch ist die Zuschreibung emotionaler Qualitäten auf musikalische Verläufe, zumindest dann, wenn man über allzu banale Zuordnungen (wie die soeben getroffenen) hinauskommen möchte. Die Betrachtung des »Poème érotique« jedenfalls geht über einen einfachen Konzertführerjargon nicht hinaus und lässt auch andeutungsweise nicht erkennen, inwiefern eine erweiterte analytische Betrachtung aus diesem Ansatz heraus die geschmähte strukturelle Analyse übertreffen sollte. Im zweiten Fallbeispiel, dem genannten Heidelberger Projekt, gibt der Herausgeber der Publikation Stefan Zöllner-Dressler zunächst durchaus profunde Einblicke in die subjektwissenschaftliche Theoriebildung und Methodik, in hermeneutische Traditionen, in Bereiche der Hirnphysiologie und Gestalttherapie, in Wahrnehmungstheorien und Emotionsforschung. Betrachtet man allerdings sämtliche analytische Fallbeispiele, inklusive seiner eigenen, in besagtem Band, so kann gefragt werden, wo sich diese umfangreichen theoretischen Grundlagen denn zeigen. Keine der vorliegenden Werkbesprechungen wird den theoretisch gesetzten Ansprüchen einer didaktisch orientierten Analyse gerecht. Und dort, wo dieser didaktische Anspruch bzw. die Einbindung emotionaler Aspekte im Vordergrund steht, sind kritische Einwände unabwendbar. Das gilt in besonderer Weise für die Beiträge des Projektbegründers Gregor Pongratz, der in seinem Beitrag »Musikalische Analyse und Empfindungsbildung« Beethovens »Klaviersonate op. 27, Nr. 2« (»Mondscheinsonate«) ins Auge fasst  : Folgende intersubjektive Eigenschaftszuschreibungen dieses Klaviersatzes wurden beispielsweise in einem musikwissenschaftlichen Seminar vorgenommen  : Das 76

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

Musikstück klingt fließend, meditativ, beruhigend/ruhig, sehnsuchtsvoll, traurig, schwebend zwischen düster und hell. Vereinzelte Charakterisierungen, die aber nicht von der gesamten Seminargruppe getragen wurden und von daher auch nicht als intersubjektiv gelten können, waren z. B. dramatisch und drängend. Diese empfundenen Eigenschaftszuschreibungen lassen sich anhand der Thematik und Motivik präzisieren. (Pongratz 2008, 97)

Natürlich würde man sich genauere Angaben wünschen  : Wie viele Personen waren beteiligt  ? War ein Wortfeld vorgegeben oder nicht  ? Immerhin ist zu entnehmen, dass es sich offenbar um zugeschriebene Eigenschaften (teilweise emotionaler Art) handelt und nicht um individuell erlebte emotionale Regungen. Der Versuch, die zugeschriebenen Eigenschaften am musikalischen Verlauf nachzuzeichnen, beschränkt sich aber weitgehend auf das Strapazieren von Gemeinplätzen  : Die Molltonart (cis-Moll) bewirke Trauer und Melancholie, die Dissonanzspannungen einen drängenden Charakter  : Die von der Gruppe übereinstimmend empfundene ›Sehnsucht‹ habe hier ihren Angelpunkt  : »Die Dissonanzspannung drängt sachte nach konsonanter Lösung, und das im molltonalen Zusammenklang.« Etwas später erfährt man, dass das Pendeln zwischen Dur- und Mollpassagen »die Empfindung des ›Schwebens zwischen düster und hell‹« (ebd., 99) hervorbringen würde. Leiten derartige klischeehafte Zuordnungen wirklich zu den intendierten vertieften Wahrnehmungsmöglichkeiten  ? Beiden Fallbeispielen ist inhärent, dass viele sich aufdrängende Fragestellungen ausgeklammert oder gar nicht gesehen werden. Natürlich gilt es einzuräumen, dass in einer Studie nicht immer das gesamte Spektrum einer Problemstellung abgearbeitet werden kann. Selektion und Vereinfachung sind selbstverständliche Faktoren wohl jeder wissenschaftlichen Tätigkeit – in der Bewertung von Ergebnissen sollte aber der gesamte Horizont mitbedacht werden. Deshalb soll im Folgenden der Horizont der Frage- und Problemstellungen zumindest andeutungsweise ausgebreitet werden, und zwar jener, der sich im Kontext der Verbalisierung von emotionalen Erlebnisqualitäten von Musik ergibt. Denn es sind ja diese Verbalisierungen (self reports), die den Ausführungen in beiden Fallbeispielen zu Grunde liegen. Im Rahmen eines self-reports gilt es zunächst zu klären, ob es um das individuelle emotionale Empfinden geht (felt emotion) oder um die Zuschreibung emotionaler Qualitäten auf ein Musikstück (perceived emotion). Schon hier stellt sich die Frage, inwiefern diese beiden Ebenen überhaupt korrelieren müssen. Klar ist, dass etwa die Qualifizierung einer Melodie als traurig noch lange keine traurige Gefühlslage bei den Hörenden hervorrufen muss. Da die Mehrheit der Studien 77

Andreas Holzer

die zweite Version verfolgt, wird auch diese im Folgenden näher ins Auge gefasst. Wäre es im Fall der ersten Version (felt emotion) noch argumentierbar, den Fokus der Untersuchung gänzlich auf der Rezeptionsebene zu belassen, so drängen sich im Kontext der zweiten Version (perceived emotion) weiterführende Fragen und Problemfelder auf  : Wenn ich einem Musikstück bestimmte emotionale Qualitäten zuschreibe, sind diese dann darin enthalten  ? Inwiefern  ? Dadurch wird der Fokus der Betrachtung einerseits auf die Objektebene weitergeleitet, andererseits aber auch auf die Interpretationsebene, da man ja in den allermeisten Fällen nicht ein Stück an sich, sondern eine bestimmte Interpretation davon zu Gehör bekommt. Und somit steht die Frage im Raum, in welcher Weise die Interpretierenden für die emotionalen Qualitäten eines Hörerlebnisses (mit-)verantwortlich sind. Und wird davon ausgegangen, dass eine Komposition Trägerin von emotionalen Qualitäten ist, in welcher Form auch immer, so eröffnet sich die Frage, wie diese denn hineinkommen. Damit wird als letzte Ebene auch noch die Produktionsebene, d. h. die Person des Schöpfers bzw. der Schöpferin und dessen/deren Poetik, ins Spiel gebracht. Werden nun sämtliche wissenschaftliche Disziplinen bzw. Theorien in den Blick genommen, die sich mit der Erforschung des Faktors Emotion im Kontext der vier aufgeworfenen Ebenen befassen könnten, und auch befasst haben, so ergibt sich etwa folgende Übersicht  : Produktion

Objekt

Interpretation

Biographik

Analyse

Handlungstheorien (Musik-)Psychologie

Rezeption



Hermeneutik

Poetik Semiotik

Psychophysiologie



Neurowissenschaften



Anthropologie

Kognitive

Neurobiologie

Musikpädagogik

Musikgeschichte. Musikästhetik. Musiksoziologie. Genderforschung Mentalitätsgeschichte Philosophie

Diese Rubrizierung (oder Tabelle) lässt erkennen, dass jede eingehendere Studie geradezu notgedrungen mit Interdisziplinarität zu tun haben muss. Das eröffnet faszinierende Möglichkeiten, bringt aber auch Probleme mit sich. Eine 78

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

Einzelperson wird kaum Kenntnisse in allen Bereichen haben können – wie aber kann die Kommunikation zwischen den Disziplinen funktionieren  ? Publikationen wie das eingangs erwähnte »Handbook of Music and Emotion« ( Juslin/ Sloboda 2010) werden der in der Übersicht entfalteten interdisziplinären Breite zwar gerecht, trotzdem stehen die einzelnen Zugänge eher nebeneinander, als dass ein effektiver Diskurs stattfinden würde. Selbst innerhalb der Musikwissenschaft scheinen kaum Berührungspunkte oder Überschneidungen zwischen den Teildisziplinen zu bestehen  : Eine Sichtung etwa der musikhistorischen und der musikpsychologischen Forschungen zum Thema Musik und Emotion würde ergeben, dass beide Bereiche nahezu überschneidungsfrei nebeneinander operieren. Die Fülle an Frage- und Problemstellungen, die sich im Kontext einer Beleuchtung der vier Ebenen ergeben, kann hier natürlich nicht annähernd erörtert werden, trotzdem möchte ich im Folgenden einige davon zumindest anreißen.

Produktionsebene Im Zusammenhang mit dem Fallbeispiel der »Mondscheinsonate« wäre nach den poetischen Konzeptionen Beethovens zu fragen  : Welche Rolle spielten Emotionen in seinem kompositorischen Denken  ? War die Übertragung persönlicher emotionaler Zustände auf die Musik darin inkludiert  ? Oder ›passiert‹ das, wie in älteren Biographien fast durchwegs zu lesen ist, ohnehin irgendwie  ? Schnell wird klar, dass derartige Fragen nicht im geschichtsfreien Raum zu beantworten sind. Wenn Pjotr Iljitsch Tschaikowski in einem Brief (1878) schreibt, dass »in der Musik die persönlichen Gefühle der Freude oder des Leids zum Ausdruck kommen«, so artikuliert er eine typische romantische Haltung, der man im 19. Jahrhundert öfter begegnen dürfte. Wenn in Texten des 17. und 18. Jahrhunderts von Gefühlen, Affekten die Rede ist, so geht es eher um Nachahmung (imitatio naturae) oder Abbildung. Beschäftigt man sich mit serieller Musik, wird man auf den Aspekt der Emotion, des Gefühls, kaum stoßen. Jede Auseinandersetzung mit der Kategorie der Emotion im Kontext künstlerischer Produktion bedarf der historischen Differenzierung.

Objektebene Ob Musik Trägerin von Emotionen sein kann, führt zur breiteren Frage, inwiefern Musik überhaupt Bedeutungen transportieren kann. Diese Frage, über 79

Andreas Holzer

die schon viele Regalmeter geschrieben worden ist, lässt sich nur zwischen den scheinbar paradoxen Polen abhandeln, dass Musik an sich keine konkreten Bedeutungen verkörpern kann und dass es andererseits aber kaum eine Musik geben dürfte, die völlig bedeutungsfrei wäre. Schon die Formulierung, ob Musik bestimmte Emotionsqualitäten ›enthält‹, ›ausdrückt‹, ›darstellt‹, ›nachahmt‹, oder ›repräsentiert‹, zieht jeweils unterschiedliche Theorien nach sich. Aus Sicht der Psychologie wäre einzuwenden, dass Gefühle bzw. Emotionen nur Lebewesen ab einer gewissen Entwicklungsstufe aufweisen könnten. Daraus würde sich ergeben, dass Musik nur ›Objekt‹ für unsere Gefühlswelt sein kann. Der Psychologe Derek Matravers behauptet gar, dass Musik nicht einmal Objekt wäre, sondern bloß Anlass  : Musikerfahrung erzeuge eher allgemeine Gefühle und keine spezifischen Emotionen, da sie nicht kognitiv auf das Objekt gerichtet wäre und damit im Übrigen auch keine Motivation zu einer Handlung erzeugen würde (im Vergleich etwa zum emotionalen Zustand der Furcht vor einer Schlange  : In diesem Fall ist die Schlange sehr wohl Objekt, das auch zu einer nachfolgenden Handlung, etwa der Flucht, motiviert). Matravers gehört damit zu jenen, die zu bedenken geben, dass Emotion im Kontext von Musik wenig mit dem Erleben basaler Emotionen wie etwa Furcht zu tun hat (vgl. Matravers 1998).

Interpretationsebene Hier steht die Frage im Zentrum, was bei einer Interpretation eines Musikstücks passiert. Was tun die InterpretInnen  ? Was heißt es, Emotionen auszudrücken  ? Müssen/sollen die InterpretInnen den emotionalen Gehalt, wo immer dieser auch zu verorten ist, selbst fühlen  ? Oder muss nur die Klangfolge so dargeboten werden, dass dieser bei den HörerInnen ankommt  ? Wann funktioniert dieser kommunikative Akt  ? In der Kommunikationsforschung dominiert die Meinung, dass Kommunikation auch dann funktioniert, wenn die von den Interpretierenden intendierte Qualität nicht mit jener der Rezipierenden korrespondiert (vgl. Juslin/Timmers 2010, 455). Auch diese Ebene kann nicht ohne Weiteres im geschichtsfreien Raum untersucht werden. Dazu zwei bekannte Beispiele  : Carl Philipp Emanuel Bachs Satz aus seinem Buch »Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen«, dass »ein Musicus nicht anders rühren kann, er sey denn selbst gerührt«, gehört wohl vor allem deshalb zu den meistzitierten Aussagen des 18. Jahrhunderts, weil darin eine zeitspezifische Haltung zur Sprache gebracht wird. Und diese Haltung ist neu – derselbe Satz aus dem Munde seines Vaters wäre kaum vorstellbar. Das 80

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

zweite Beispiel verweist auf geschlechtsspezifische Differenzen  : Interpreten aus der Blütezeit des Virtuosentums, wie etwa Paganini oder Liszt, sind auf Abbildungen häufig in exaltierten oder auch weltentrückten Posen dargestellt. Clara Schumann sitzt dagegen immer mit versteinerter Miene vor ihrem Flügel  ; ähnliche Gefühlsinszenierungen wie bei ihren männlichen Kollegen wären für sie als Frau völlig undenkbar gewesen. Aber auch bei aktuellen Studien zur Rolle von Emotion bei der Interpretation sind viele Aspekte zu berücksichtigen. Schon die Art der zu interpretierenden Musik dürfte eine große Rolle spielen  : Die Haltung und Motivation gegenüber einer als affektgeladen geltenden barocken Musik wird stärker von emotionalen Komponenten getragen sein als jene gegenüber serieller Musik. Neben den Persönlichkeitsmerkmalen der Interpreten und Interpretinnen sind schließlich noch deren Erfahrungshorizont, die spezifische Stimmung im Moment der Aufführung, die allgemeinen Ereignisumstände während dieser (Ort, Umgebung, Publikum) der Betrachtung beizuziehen. Abgesehen von kaum registrierten Ansätzen in den 1930ern und 1940ern gibt es erst seit den 1990er-Jahren intensivere Anstrengungen, die Rolle der InterpretInnen in der Vermittlung (oder überhaupt erst Erzeugung  ?) von Emotion zu untersuchen (vgl. Juslin/Timmers 2010, 453ff.). Zumeist handelte es sich gewissermaßen um Laborversuche in der Art, dass MusikerInnen von ForscherInnen beauftragt wurden, dieselbe Melodie mit unterschiedlichen emotionalen Qualitäten einzuspielen. Diese Ergebnisse wurden daraufhin von einer HörerInnengruppe bewertet (self-report). Derartige Versuchsanordnungen brachten durchaus einige Erkenntnisse zu Tage. So konnte etwa gezeigt werden, dass Faktoren wie spezifische Artikulation, dynamische Gestaltung, Tempo oder auch unterschiedliche Formen der Ornamentierung zu unterschiedlichen emotionalen Bewertungen führten. Allerdings darf zum einen nicht vergessen werden, dass es sich um künstliche Anordnungen handelt, und zum anderen, dass der jeweilige Akt der Bewertung einer kritischen Betrachtung unterzogen werden sollte (s. u.).

Rezeptionsebene Alle für die Interpretierenden aufgeworfenen Kriterien (Erfahrungshorizont, Typ, Stimmung, Situation usw.) gelten natürlich genauso für die Hörenden (Bezugspunkt sind nunmehr nur noch aktuelle oder in der jüngeren Vergangenheit durchgeführte Untersuchungen). In besonderer Weise ist wohl die Motivation bzw. die Erwartungshaltung zu bedenken  : Oft hört man ja Musik, weil diese 81

Andreas Holzer

einen bestimmten Wunsch erfüllen soll. Will ich mich entspannen, so wähle ich erstens eine bestimmte Art von Musik, zweitens bin ich aber auch schon in eine bestimmte Richtung disponiert  ! Auch ein Konzertbesuch wird meistens mit gewissen Voreinstellungen verbunden sein. Das heißt, in den meisten Fällen läuft musikalisches Erleben nicht voraussetzungslos ab, sondern mit gewissen Prädispositionen. An dieser Stelle sollen die bereits mehrfach erwähnten self-reports, als die mit Abstand häufigsten Versuchsanordnungen, genauer in Augenschein genommen werden. Bei diesen geht es darum, durch einen Akt der Verbalisierung entweder das individuelle emotionale Erleben (felt emotion) zu umreißen oder Zuschreibungen von emotionalen Qualitäten auf ein Musikstück zu treffen (perceived emotion). In beiden Fällen kann ein Wortfeld vorgegeben sein oder auch nicht. Als Beispiel sei auf Kate Hevner, die als Pionierin auf diesem Sektor gelten kann, verwiesen (s. Abb. S. 83). Die Frage ist nun, welcher Erkenntniswert den getroffenen Verbalisierungen beigemessen werden kann. Dazu vier kritische Aspekte  : 1. Egal, ob ein Wortfeld vorgegeben ist oder nicht oder ob es sich um eine felt oder perceived emotion handelt  ; man muss sich fragen, wie es zur Wahl eines bestimmten Wortes, oder von mehreren, gekommen ist. Wie ist eine dadurch hergestellte Relation zu bewerten  ? Kann eine emotionale Erfahrung durch Musik überhaupt mit ähnlicher Bestimmtheit artikuliert werden wie die Furcht vor der Schlange  ? Spielt sich emotionales Erleben von Musik nicht immer in einem viel gedämpfteren, unbestimmteren Rahmen ab  ? Dazu kommt einerseits noch die Versuchssituation, die einen gewissen Zwang, ein Wort zu suchen oder auszuwählen, inkludiert (man will ja die Untersuchung nicht sabotieren), andererseits auch das unterschiedliche Artikulationsvermögen. Für den Fall der Artikulation einer felt emotion wäre von Seiten der Hirnforschung noch einzuräumen, dass beim Erleben von Musik vieles im Unterbewussten abläuft, das durch verbale Fixierung nicht erfasst werden kann. Selbst wenn Verarbeitungsprozesse im Hirn gemessen werden können, so ist nicht gesagt, dass diese überhaupt wahrgenommen werden (vgl. z. B. Matravers 1998, Jäncke 2009, 259). Letzten Endes ist diesen Verbalisierungen ein eher vager Charakter zuzusprechen, der meines Erachtens auch durch eine große Zahl von Versuchspersonen nicht ›objektiviert‹ werden kann, wenngleich allenfalls abgeleitete Statistiken, Mittelwerte oder Streuungen wohl diesen Eindruck erwecken sollen. 2. Freilich möchte ich verbalen Einschätzungen – jetzt wieder mit Blick auf die perceived emotions – nicht jeglichen Aussagewert absprechen. Das emotionale Spektrum, das mit einem Musikstück in Verbindung gebracht werden kann, ist 82

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

Abb. 1  : Hevners adjective circle (aus  : Gabrielson/Lindström 2010, 378)

ja keinesfalls beliebig. Wenn beim obigen Beispiel der »Mondscheinsonate« die Zuschreibungen »fließend, meditativ, beruhigend/ruhig, schwebend zwischen düster und hell« getroffen worden sind, so kann ausgeschlossen werden, dass bei einer anderen Versuchsanordnung kriegerisch oder ironisch herausgekommen wäre. Aber sind diese grundlegenden Rahmenbedingungen nicht schon zuvor bekannt, insbesondere bei derart verbreiteten Stücken  ? Ist es nicht immer so, dass einerseits die konkrete Bestimmung des emotionalen Charakters eines Musikstücks unmöglich ist, andererseits das Spektrum an Möglichkeiten der Verbalisierung durchaus seine Grenzen hat  ? Würde man nach 500 Untersuchungen mehr wissen  ? Ich glaube nicht. 83

Andreas Holzer

3. Ein weiterer Kritikpunkt ist eigenartigerweise sogar pauschal auszusprechen  : Alle mir bekannten Untersuchungen gehen, wenngleich stillschweigend, davon aus, dass mit dem ersten Klang emotionales Erleben einsetzt und in weiterer Folge kontinuierlich abläuft. Ich schließe mich aber Nelson Goodman an, der ästhetische Erfahrung auch ohne emotionale Beteiligung für möglich hält (Goodman 1997, 226ff.). Vielleicht wäre zu ergänzen  : Ohne eine emotionale Beteiligung, die dem Bewusstsein zugänglich ist. Wohl ist verschiedentlich bemerkt worden, dass die verbale Charakterisierung eines ganzen Stücks womöglich nicht dem Charakter von Musik als in der Zeit ablaufendem Phänomen gerecht werden könnte. Dem versuchte man durch continuous self-reports gerecht zu werden, bei welchen in der Regel mittels einer Maus, eines Pedals oder eines Joysticks auf einem Computer kontinuierliche Informationen über den gesamten Verlauf eines Musikstücks erfasst werden. Da die ProbandInnen nicht durch allzu komplexe Anordnungen zu sehr abgelenkt werden sollen, ist die Disposition zumeist denkbar einfach (die simpelste Variante wäre  : x-Achse als Zeitachse, y-Achse  : Erfassung irgendeiner emotionalen Qualität). Je nach Anordnung kann auf diese Weise eine große Datenmenge erfasst werden, die dann in Kurven, Verteilungen oder irgendwelchen anderen Statistiken verarbeitet werden kann. Oftmals kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eher um die Erzeugung von Messbarkeiten geht, als der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden. Es gibt aber auch andere kontinuierliche Techniken, die in ihrem Anspruch bescheidener sind und die etwa bestimmte Körperfunktionen (Herzschlag, Blutdruck, Atemfrequenz, Gehirnaktivität) im Verlauf eines musikalischen Erlebnisses messen. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang besonders, dass gerade bei seriösen Untersuchungen immer wieder herauskam, dass individuelle intersektionelle Faktoren offenbar immer relevanter sind als universelle Faktoren – wie etwa das Geschlecht (vgl. Grewe u. a. 2009, 261–287). Gerade in jüngster Zeit gab es aber auch gegenläufige Tendenzen. Simon Baron-Cohen etwa, britischer Psychologe und immerhin Direktor eines Forschungszentrums in Cambridge, versuchte in seinem recht erfolgreichen Buch mit dem verdächtig griffigen Titel »The Essential Difference. The Truth about the Male and Female Brain« (2003) ältere klischeehafte Rollenbilder aufzuwärmen. So wäre das weibliche Hirn für empathische Fähigkeiten, das männliche dagegen für systematische prädestiniert. Die Triftigkeit seiner Untersuchungen ist mittlerweile allerdings mehrfach scharf kritisiert worden, zum Beispiel von Nicole C. Karafyllis (2008) oder auch von Gary Cornell (2005), der Baron-Cohen schlichtweg Schlamperei vorwarf (vgl. Huber 2010, 77f.). 84

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

4. Der vierte kritische Aspekt führt weiter in den Bereich der Hirnforschung  : Man hat des Öfteren feststellen müssen, dass verbale Einschätzungen mit neurophysiologischen Messungen nicht übereinstimmen  : Dies ist ein altbekanntes Phänomen der Emotionspsychologie und auch in der Musikpsychologie bestens bekannt. Wir sehen dies auch in unseren eigenen Experimenten in besonders starker Ausprägung, wenn die bewusste kognitive Ebene quasi durch soziale Regeln dominiert wird und das Erleben von Gefühlen mit den Regeln nicht mehr übereinstimmt. Ein typisches Beispiel ist, wenn ein Jugendlicher der Meinung ist, dass Hip-Hop-Musik schön ist, aber neurophysiologische (z. B. Hirnaktivierungen) und physiologische (z. B. Erregungen des vegetativen Nervensystems) Reaktionen zeigt, die eher vermuten lassen, dass er die Musik eigentlich ablehnt. Ähnliches sieht man im Labor gelegentlich auch bei ›Liebhabern‹ klassischer Musik, deren neurophysiologische und physiologische Reaktionen eher vermuten lassen, dass sie klassische Musik überhaupt nicht mögen. ( Jäncke 2008, 254)

Bei allen self-reports handelt es sich notgedrungen um Untersuchungen mit eingeschränktem Blickwinkel. Das ist eine zulässige und bisweilen wohl auch notwendige Vorgangsweise – allerdings darf der Horizont der Fragestellung nicht aus den Augen verloren werden. Es gibt aber auch verschiedene Forschungsansätze, die von vorneherein in höherem Ausmaße versuchen, der Komplexität der Materie gerecht zu werden. Dazu sei auf zwei Beispiele verwiesen  : Michael Huppertz (2003) sieht in Musik ein ›szenisches Objekt‹, das an sich keine Gefühle zum Ausdruck bringt. Gefühle würden erst entstehen, wenn Musik ›inszeniert‹ wird  ; mit anderen Worten  : Wenn alles, was beim Erleben von Musik passiert, berücksichtigt wird. Patrick N. Juslin und Daniel Västfjäll (vgl. Juslin/ Sloboda 2010, 615ff.) haben ein Konzept entworfen, wie im Zusammenhang mit dem Erleben von Emotionen möglichst alle Komponenten berücksichtigt werden könnten. Sie kamen dabei auf die folgenden sieben Faktoren  : 1. Brain stem reflexes  : Sondierung wichtiger Klangereignisse durch das Gehirn. 2. Rhythmic entrainment  : Interaktion von Musikrhythmus und Körperrhythmus. 3. Evaluative conditioning  : Verbindung eines Musikstücks mit Ereignissen, Situationen. 4. Emotional contagion  : Ansteckung in Hinblick auf motorische, sprachliche Komponenten bzw. auf den Gesichtsausdruck. 5. Visual imaginary  : Erweckung von visuellen Vorstellungen bzw. Interaktionen mit diesen. 85

Andreas Holzer

6. Episodic memory  : Bezugnahme auf persönliche Erlebnisse, Erinnerungen. 7. Musical expectancy  : Konnex mit Erwartungshaltungen, basierend auf Erfahrungen. Es geht hier weder um eine Versuchsanordnung noch um eine Beschreibung des Ablaufs eines musikalischen Erlebnisses, sondern um Mechanismen, die dabei auf jeden Fall eine Rolle spielen (Punkt 1) oder eine Rolle spielen können. Somit sind folgende Fragen relevant  : Welche Mechanismen sind in Gang  ? Wie funktionieren sie  ? In welcher Weise interagieren diese  ? Immerhin bieten diese sieben Faktoren zahlreiche Differenzierungsmöglichkeiten, etwa in Hinblick auf  : • den Erfahrungshorizont (spielt bei 1 eine geringe Rolle, bei 7 eine hohe)  ; • kulturelle Differenzen (bei 1 gering, bei 7 hoch)  ; • den Charakter des emotionalen Erlebens (auch hier nimmt die Differenzierung nach oben hin zu)  ; • die Zugänglichkeit für das Bewusstsein (bei 1 gering)  ; • die Gender-Perspektive (ad 1)  : Es gibt keine ernst zu nehmenden Versuche, die auf eine prinzipiell andere geschlechtsspezifische Verarbeitung hinweisen würden, wichtiger sind immer individuelle Kriterien. Einige Faktoren wären in Hinblick auf genderrelevante Perspektiven immerhin diskutierbar  ; • die Rolle der strukturellen Ebene von Musik (nur bei 7 wichtig).

Aspekte der Hirnforschung Auf dem Gebiet der Hirnforschung waren in den letzten zwei Jahrzehnten ungeheure Fortschritte zu verzeichnen. Allerdings kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man gerade deshalb genug erfahren hat, um zu wissen, dass es sich um einen Forschungsbereich handelt, der erst in den Kinderschuhen steckt. Schon die Beobachtung, dass sich bei der Erforschung des Gehirns »ein kognitives System im Spiegel seiner selbst betrachtet – es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende« (Singer 2000, zit. nach Huber 2010, 73) –, führt zu Problemstellungen, die weit in philosophische Gefilde hineinreichen. In Bezug auf die Wahrnehmung von Musik lässt sich immerhin sagen, dass etwa 10 bis 100 Millisekunden nach dem Erklingen elementare akustische Muster rezipiert werden (Tonhöhe, Lautstärke, …), die nach 100 bis 200 Millisekunden zu ersten zusammenfassenden Strukturen (z. B. Melodien) verarbeitet werden. »So um 200 bis 300 Millisekunden« scheinen die ersten semantischen 86

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

und emotionalen Verarbeitungen angestoßen zu werden ( Jäncke 2008, 280f ). Bei den aktiv Musizierenden, aber auch bei den Hörenden sind große Teile des Gehirns (beim Ausüben weit über die Hälfte) aktiviert. Diese Aktivierungen sind auf verschiedene Weise messbar  : Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Positronenemissionstomographie (PET) messen die Veränderung der Durchblutung, Elektroenzephalographie (EEG) die elektrische, und Magnetenzephalographie (MEG) die magnetische Aktivität. Was lässt sich aber aus der Messung von Gehirnaktivität bei der Interpretation oder beim Hören von Musik ableiten  ? Dazu zunächst einige Beobachtungen  : • In der Messung von Gehirnaktivitäten während des Musik-Erlebens werden »korrelative Befunde« erstellt, die »keine Rückschlüsse auf Kausalzusammenhänge« zulassen. »Das bedeutet, dass einige der gemessenen Hirnaktivitäten möglicherweise gar nicht wichtig sind, um die entsprechenden psychischen Prozesse durchzuführen.« ( Jäncke 2008, 287) • Nachdem große Teile des Hirns an der Wahrnehmung von Musik beteiligt sind, sind diese Teile natürlich auch in andere Funktionen involviert. So werden etwa bei Auftreten der bekannten ›Gänsehaut‹ Bereiche des Gehirns aktiviert, die auch bei anderen Situationen, die als außergewöhnlich angenehm empfunden werden, aktiv werden – beim Drogenkonsum, beim Orgasmus, beim Erhalten eines Gewinns, aber auch beim Empfinden von Rache ( Jäncke 2008, 261f.). • Versuche haben gezeigt, dass bei Wahrnehmung unterschiedlichster musikalischer Genres (klassische Musik, Jazz, Rock usw.) dieselben Hirnaktivitäten auftreten können. Offenbar hängt die Aktivierung vor allem davon ab, ob die Musik als angenehm oder unangenehm empfunden wird (Altenmüller u. a. 2002). Diese wenigen Beobachtungen zeigen schon, dass aus der Messung von Gehirnaktivitäten wenig Konkretes geschlossen werden kann. Dazu gilt es zu bedenken, dass aus biologischen Befunden allein wenig abgeleitet werden kann, da alle oben genannten Faktoren (Erfahrung, Stimmung, Situation, …) in Betracht gezogen werden müssen. Gerade sehr reflektierte ForscherInnen sind daher in der Regel recht vorsichtig in ihren Schlüssen. Eckart Altenmüller, der zweifellos zu dieser Spezies gehört, verweist etwa darauf, dass Musikhören ein aktiver, konstruktiver Prozess sei, der auf Vorerfahrungen beruhe und durch Lernen verändert werden könne. Des Weiteren seien die involvierten neuronalen Netzwerke individuell unterschiedlich  ; außerdem würden sie die »persönliche Hörbiographie« wider87

Andreas Holzer

spiegeln (vgl. Altenmüller 2009). Eingedenk der sich dann eröffnenden Komplexität der Sachlage ergibt sich schließlich eine weitere fundamentale und viel diskutierte Frage  : Ist die gemessene neurobiologische Beschaffenheit Ursache oder Folge von psychosozialen Faktoren  ? Dies ist bemerkenswert  : Vielfach wird der durchschnittliche Messwert einer biologischen Eigenschaft fast automatisch als Ursache für ein spezifisches Verhalten angenommen. Die entgegengesetzte Möglichkeit – dass die vermessene organische Beschaffenheit eine Modifikation aufgrund eines sozio-kulturell bedingten Verhaltens darstellt – wird nicht immer erwogen. (Huber 2010, 69)

Resümee Die vorangegangenen Betrachtungen sind natürlich bloß ein sehr kursorischer Streifzug durch eine rasant explodierende Forschungslandschaft. Wenn jene überwiegend durch eine skeptische Perspektive geprägt waren, so soll – um das nochmals zu verdeutlichen – die Sinnhaftigkeit der einschlägigen wissenschaftlichen Bemühungen keineswegs angezweifelt werden. Da die Auseinandersetzung mit Gefühlen und Emotionen aber jedenfalls mit der subjektiven Erlebenswelt von Menschen zu tun hat, kommt der Frage, welche intersubjektiven Aussagen wir überhaupt treffen können, besondere Bedeutung zu  : Daher spielen Qualia in Diskussionen eine zentrale Rolle – subjektive Erlebnisgehalte, die als Eigenschaften von individuellen mentalen Zuständen vielfach beschreibbar sind (wie die Farbwahrnehmung). An ihnen entzündet sich die Frage, wie sie sich zur physikalischen Welt inner- wie außerhalb des Kopfes verhalten  : Sinnesreize sind zwar an neuronaler ›Materie‹ messbar, wie sie aber im ›Geist‹ des wahrnehmenden Individuums wirken, erlebt dieser nur introspektiv. (Huber 2010, 71  ; vgl. auch Tye 2009)

In diesem Diskurs spielen die Publikationen von Antonio Damasio (1994, 2000), der gegen eine Trennung von sinnlichen und geistigen Erkenntnissen argumentiert hat, eine große Rolle. Nach Damasio sind Gefühle integraler Bestandteil der Verstandesmechanismen. Die angesprochenen interdisziplinären Anforderungen würden idealtypische ForscherInnen verlangen, die sowohl in der Musikwissenschaft als auch in der Psychologie, der Neurobiologie und der Philosophie beheimatet wären. Da dies kaum erfüllbar sein dürfte, ist zu fragen, wie der Dialog zwischen den Diszipli88

Wie viel Gefühl verträgt (die) Musik(wissenschaft)  ?

nen funktionieren kann. Und zwar ein Dialog, der über das Nebeneinanderstellen von Aufsätzen in Sammelbänden hinausgeht.

Literatur Eckart Altenmüller (2009), »Musik hören – Musik entsteht im Kopf«, in  : Andreas Senthor, Frank Wiggen (Hg.), Schaltstelle Gehirn. Denken, Erkennen, Handeln, Heidelberg, 83–106 Eckart Altenmüller, Kristian Schürmann, Vanessa Lim, Dietrich Parlitz (2002), »Hits to the Left, Flops to the Right  : Different Emotions During Listening to Music Are Reflected in Cortical Lateralisation Patterns«, in  : Neuropsychologia, 13 (40), 2242–2256 Aleida Assmann (2006), Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin Doris Bachmann-Medick (2009), Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg Laura-Lee Balkwill, William Forde Thompson (2010), »Cross-cultural Similarities and Differences«, in  : Patrick N. Juslin, John A. Sloboda (Hg.), Handbook of Music and Emotion. Theory, Research, Applications, Oxford, 755–790 Laura-Lee Balkwill, William Forde Thompson, Rie Matsunaga (2004), »Recognition of Emotion in Japanese, Western and Hindustani Music by Japanese Listeners«, in  : Japanese Psychological Research 46 (4), 337–349 Simon Baron-Cohen (2003), The Essential Difference. The Truth about the Male and Female Brain, New York Peter Burke (2005), »Is there a Cultural History of the Emotions  ?«, in  : Penelope Gouk, Helen Hills (Hg.), Representing Emotions, Aldershot, 35–48 Antonio Damasio (1994), Descartes’ Error  : Emotion, Reason, and the Human Brain, New York Antonio Damasio (2000), Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München Sabine A. Döring (Hg.) (2009), Philosophie der Gefühle, Frankfurt Ute Frevert (2009), »Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen  ?«, in  : Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 35/2, hg. v. Ders., 183–208 Alf Gabrielson, Erik Lindström (2010), »The Role of Structure in the Musical Expression of Emotions«, in  : Patrick N. Juslin, John A. Sloboda (Hg.), Handbook of Music and Emotion, Oxford, 367–400 Nelson Goodman (1997), Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. Oliver Grewe, Eckart Altenmüller, Fredrik Nagel, Reinhard Kopiez (2009), »Evolutionary-based Universals  ? A Discussion of Individual Emotional Reactions Toward Music«, in  : Musicae Scientiae. Special issue 2009/10, 261–287 Annegret Huber (2010), »Die Erforschung von Gehirn – Geist – Seele musikalischer Menschen. Epistemologische Probleme biologistischer Argumentationen in bzw. zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen«, in  : Marion Gerards, Rebecca Grotjahn (Hg.), Musik und Emanzipation. Festschrift für Freia Hoffmann zum 65. Geburtstag, Oldenburg, 69–82 Michael Huppertz (2003), »Musik und Gefühl«, in  : Ludwig Holtmeier, Richard Klein, Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), Musik & Ästhetik, 7/26, 5–41 Lutz Jäncke (2008), Macht Musik schlau  ? Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie, Bern

89

Andreas Holzer

Patrick N. Juslin, Simon Liljeström, Daniel Västfjäll, Lars-Olof Lundqvist (2010), »How Does Music Evoke Emotions  ? Exploring the Underlying Mechanisms«, in  : Patrick N. Juslin, John A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion. Theory, Research, Applications, Oxford, 605–644 Patrick N. Juslin, John A. Sloboda (Hg.) (2010), Handbook of Music and Emotion. Theory, Research, Applications, Oxford Patrick N. Juslin, Renee Timmers (2010), »Expression and Communication of Emotion in Music Performance«, in  : Patrick N. Juslin, John A. Sloboda (Hg.), Handbook of Music and Emotion. Theory, Research, Applications, Oxford, 453–492 Nicole C. Karafyllis (2008), »Oneself as Another  ? Autism and Emotional Intelligence as Pop Science, and the Establishment of ›Essential‹ Differences«, in  : Nicole C. Karafyllis, Gotlind Ulshöfer (Hg.), Sexualized Brains. Scientific Modeling of Emotional Intelligence from a Cultural Perspective, Cambridge (Massachusetts), 237–316 Derek Matravers (1998), Art and Emotion, Oxford Roswitha Müller (2004), »Musik und Gefühl. Anmerkungen zu einer populären Meinung«, in  : Dominik Schweiger u. a. (Hg.), Musik-Wissenschaft an ihren Grenzen. Manfred Angerer zum 50. Geburtstag, Frankfurt u. a., 459–469 Gregor Pongratz (2008), »Musikalische Analyse und Empfindungsbildung«, in  : Stefan Zöllner-Dressler (Hg.), Didaktisch orientierte Analyse von Musik, Hildesheim u. a., 91–104 Katharina Scherke (2009), »Auflösung der Dichotomie von Rationalität und Emotionalität  ? Wissenschaftssoziologische Anmerkungen«, in  : Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.), Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel, Bielefeld, 23–42 Michael Tye (2009), »Qualia  !«, in  : SEP (Summer 2009), hg. v. Edvard N. Zalta, abrufbar unter http  :// plato.stanford.edu/archives/sum2009/entries/qualia/ (07.09.09) Stefan Zöllner-Dressler (Hg.) (2008), Didaktisch orientierte Analyse von Musik, Hildesheim u. a.

90

Kordula Knaus

Mächtige Gefühle Herrschaft, Geschlecht und Ethnizität in der Oper

Der Behauptung, dass Oper und Gefühle zusammengehören, würde heute wohl niemand so schnell widersprechen. Spätestens seit Julia Roberts als Vivien Ward im Hollywood-Kassenschlager »Pretty Woman« den Tod der »Traviata« in der Metropolitan Opera New York beweinte, ist die Oper innerhalb popularkultureller Zuschreibungen untrennbar mit Emotionen verbunden. Am Beginn der Operngeschichte war nicht von Emotionen und Gefühlen, sondern von Affekten die Rede. Zentral dabei war aber ebenfalls die Rührung des Publikums, die in Zeugnissen zur frühen Oper mehrfach Erwähnung findet. Im Vorwort zu Emilio de’ Cavalieris »Rappresentatione di anima et di corpo« von 1600 (im Folgenden zit. nach Kirkendale 2001, 259) formuliert Alessandro Giudotti als zentrales Ziel dieser Art von Musik (»questa sorte di musica« – womit Giudotti neue musikdramatische Formen meint), dass sie verschiedene Affekte hervorrufen soll wie Mitleid, Freude, Heulen, Gelächter und andere ähnliche Affekte (»commova a diversi affetti, come a pietà & a giubilo, a pianto & a riso, & ad altri simili«). Als Beispiel nennt er die Aufführung von Cavalieris »La Disperatione di Fileno«, in der die Sängerin Vittoria Archilei das Publikum wundersamerweise zu Tränen rührte (»mosse maravigliosamente a lagrime«) und der Sänger des Fileno es zum Lachen brachte (»movea a riso«). Die Sängerinnen und Sänger nämlich müssten mit Affekt singen (»canti con affetto«), wobei auch Gesten, Bewegungen der Arme und Schritte effektive Mittel zur Erregung der Affekte (»a muovere l’affetto«) seien. Dass die Oper Emotionsäußerungen im Publikum hervorrufen könne, ist auch für eine andere prominente frühe Oper in einem Rezeptionszeugnis überliefert  : Federico Follino berichtet darüber, dass beim Lamento der Arianna aus Claudio Monteverdis »Arianna« (1608) »ne fu pur una Dama che non verasse qualche lagrimetta al suo pianto« (»es nicht eine Frau gab, die nicht manch Träne der Trauer vergoss«, zit. nach Solerti 1905, 145). Suzanne G. Cusick (1994) hat dies in einem Aufsatz damit in Verbindung gebracht, dass Arianna in der Vertonung Monteverdis in besonderer Weise das Schicksal einer jungen Frau in der frühen Neuzeit widerspiegelte und auf Grundlage dieser Identifikation 91

Kordula Knaus

diese Reaktionen hervorgerufen werden konnten. »Pretty Woman« im Hinterkopf behaltend, könnte allerdings auch die These wahrscheinlich sein, dass die heute durchaus präsente von Alltags›wissen‹ geprägte Vorstellung, Frauen seien »unkontrollierter und ›emotionaler‹« (Landweer u. a. 2008, 4) als Männer, eine lange Tradition innerhalb kultureller Zuschreibungen aufzuweisen hat. Dies gilt gleichermaßen für andere ›Randgruppen‹ wie »Menschen ›niederer Stände‹ oder ›fremder Kulturen‹ bzw. ›Rassen‹« (ebd.). Im Folgenden sollen einige Thesen über derartige Zuschreibungen für den Bereich der Oper diskutiert werden. Dabei wird weniger die Ebene der Rezeption (d. h., wie das Publikum reagierte) als vielmehr die Frage im Zentrum stehen, wie Emotionen für welche Personengruppen (in geschlechtlicher, ethnischer oder sozial-hierarchischer Differenzierung) in den konkreten Werken inhaltlich und musikalisch verhandelt werden. Die Befunde zur Oper werden in der Folge auch mit Kenntnissen über historisch veränderte und veränderbare Gefühlsdarstellungen in Verbindung gebracht. Exemplarisch wird dies an verschiedenen Vertonungen des Sujets der Eroberung Indiens durch Alexander den Großen durchgespielt.

»Alessandro nell’Indie« als Opernlibretto Die Eroberung Indiens durch Alexander den Großen wurde vor allem durch das Libretto »Alessandro nell’Indie« von Pietro Metastasio, das in der Karnevalssaison 1729/30 in Rom von Leonardo Vinci erstmals vertont wurde, ein beliebter Opernstoff (vgl. Strohm 1982). Bereits in der darauffolgenden Saison kam es zu zahlreichen weiteren Vertonungen  : Johann Adolf Hasse schrieb unter dem Titel »Cleofide« eine Oper für Dresden, Georg Friedrich Händel brachte am King’s Theatre Haymarket in London mit »Poro, re dell’Indie« seine Vertonung heraus. Nicola Porpora und Luca A. Prediera komponierten ihre jeweilige AlessandroOper für Turin und Mailand (zu den frühen Vertonungen vgl. Cummings 1982). Die Beliebtheit des Stoffes erstreckt sich über das gesamte 18. bis weit ins 19. Jahrhundert, in welchem Giovanni Pacinis Oper »Alessandro nell’Indie« von 1824 einen letzten Höhepunkt bildet. Doch auch vor Metastasios Literarisierung war der Stoff in der Oper nicht unbekannt. Marc’Antonio Ziani vertonte 1691 ein Libretto Domenico Davids mit dem Titel »L’amante eroe«, das ebenfalls Alexanders Eroberung Indiens zum Ausgangspunkt nimmt und worauf sich Metastasio auch bezogen hat. Die textlichen Grundlagen für diesen Opernstoff sind zudem im französischen Sprechtheater zu finden, für das mit Claude Boyers 92

Mächtige Gefühle

»Porus ou La générosité d’Alexandre« von 1648 und Jean Racines »Alexandre le Grand« aus dem Jahr 1665 zwei prominente Tragödien vorliegen (vgl. Strohm 1982, 43–47). Der Stoff bietet sich daher für eine vergleichende Untersuchung von Emotionsdarstellungen in besonderer Weise an, da über einen Zeitraum von etwa 150 Jahren Vertonungen existieren. Darüber hinaus erlaubt es das Sujet, inhaltliche Differenzierungen der Emotionalisierung der Figuren in geschlechtlicher, ethnischer und sozial-hierarchischer Hinsicht zu untersuchen. Alexander der Große war schon zuvor als handelnde Person einer Oper nicht unbekannt  ; als prominentes Beispiel ließe sich Antonio Cestis »Alessandro vincitor di se stesso« aus dem Jahr 1651 nennen. Die Eroberung Indiens wird jedoch erst mit Domenico Davids Libretto »L’amante eroe« von 1691 zum zentralen Handlungshintergrund, wodurch die ethnische Differenzierung von Affekten ermöglicht wird. Bereits in der Vorrede des Librettos werden unterschiedliche amorose passioni von Alessandro (dem König der Makedonier – und damit dem Europäer) und Tassilo (einem indischen König) thematisiert  : L’amore di Alessandro perché si affina al chiaro lume delle Ragione, e vagheggia solamente le bellezze dell’oggetto, come un raggio di Dio, è un’amore illustre, e non già cieco ne’ suoi desideri. L’amore di Tassilo perché si discosta dal diritto della mente, e si porta alle bellezze amante, come delizie del Senso, è un’amore inavveduto, e come insegna Platone, è una rabbia di sregolata Lascivia. (David 1691, 9f.) [Übersetzung1  : Die Liebe Alessandros, weil sie dem klaren Licht der Vernunft entspringt und sich die Schönheiten seine Objekts bloß vorstellt wie einen Strahl Gottes, ist eine gefeierte Liebe und noch nicht blind in ihren Wünschen. Die Liebe von Tassilo, weil sie sich vom Recht des Geistes entfernt und zu den Schönheiten der Liebenden führt wie Köstlichkeiten des Sinnes, ist eine unbedachte Liebe und, wie Plato lehrt, ist sie ein Ausbruch ausschweifender Unzucht.]

Alessandro und Tassilo werden denn auch im Personenverzeichnis bereits deutlich als amante eroe (worauf auch der Titel Bezug nimmt) und amante lascivo gekennzeichnet. Die heroische Liebe Alessandros ist durch Verzicht gekennzeichnet. Sowohl Tassilo als auch Alessandro lieben Berenice, die Frau von Poro, einem weiteren indischen König. Während Alessandro mehrfach die Ehrhaftigkeit seiner Liebe betont und seine Liebe auch erst im letzten Akt gegenüber Berenice unter dem Zusatz offenbart, dass einzig das Verlangen, sie zu beschützen, daraus erwachse, so stürzt Tassilo bei erster Gelegenheit (1. Akt, 9. Szene) mit seinem Liebesgeständnis hervor, das Berenice nicht erwidert. Daraufhin kommt 93

Kordula Knaus

es zu mehrfachen Versuchen Tassilos, Berenice zu überwältigen  : In der dritten Szene des zweiten Aktes möchte Tassilo sich der schlafenden Berenice ermächtigen, was Alessandro gerade noch verhindern kann. Etwas später versucht Tassilo abermals, sie zu bezwingen, woraufhin sie sich in den Fluss stürzt und erneut von Alessandro gerettet wird. Der Gegensatz zwischen Alessandro und Tassilo könnte nicht größer sein  : auf der einen Seite der vernunftgeleitete europäische Herrscher, auf der anderen Seite der unbeherrschte indische König. Deutlich spiegeln sich hierin moralphilosophische Diskurse wider, für die eine Beherrschung der Affekte als tugendhaftes Verhalten von besonderer Bedeutung war (vgl. Zeller 2005, 693). Alessandro als Identifikationsfigur für ein italienisches Opernpublikum kann seine Affekte kontrollieren und tugendhaft lieben, Tassilo als Verkörperung des ›Fremden‹ kann dies nicht. Dennoch sind die Dichotomien in »L’amante eroe« nicht so klar, wie dies die gegensätzlich gezeichneten Figuren Alessandro und Tassilo vermitteln, denn mit Poro und Berenice existieren in dieser Oper zwei durchaus heroische Figuren auf indischer Seite. Poro wird in der ersten Szene zunächst als Krieger etabliert, der zum Kampf aufruft, später dominieren aber Liebesgefühle für Berenice seine Affektäußerungen. Es kommt auch zu keiner direkten Konfrontation mit Alessandro, die ihm als Gegenspieler Gewicht verleihen würde. Berenice wird einerseits als sehr tatkräftig und kämpferisch geschildert (bereits in der fünften Szene bedroht sie Alidoro mit dem Degen und will im dritten Akt für Poro kämpfen), andererseits ist sie mehrfach auf die Hilfe Alessandros angewiesen, um den zudringlichen Tassilo abzuwehren. In der Affektdarstellung dominieren für sie Standhaftigkeit, Liebe, Treue und Ehre. Es sind denn auch Poro und Berenice, die am Ende der Oper von Alessandro rehabilitiert werden, nachdem sie die dreiaktige Prüfung ›westlicher‹ Tugenden überstanden haben. Die politische Dimension des Sujets ist im Libretto von Domenico David (1691) – etwa im Vergleich zu Racines Tragödie »Alexandre le Grand« (1666) – merklich zurückgedrängt. Für alle Figuren dominieren unterschiedliche Liebesgefühle den Ausdrucksgehalt von Arien oder Duetten. Erst mit Pietro Metastasios Libretto »Alessandro nell’Indie« (1729) präsentiert sich der Stoff als Liebesdrama und politischer Konflikt gleichermaßen und ermöglicht damit auch vielfältigere affektive Zustände der Figuren. In Metastasios Libretto wird die Haupthandlung von drei Personen bestimmt  : Alessandro, Poro als König eines Teils von Indien und Cleofide als Königin eines anderen Teils von Indien. Im Unterschied zu David hat die weibliche Hauptfigur hier ein eigenes Herrschaftsgebiet. Durchaus ungewöhnlich für Metastasio existieren in »Alessandro nell’Indie« damit drei Personen mit hochrangigem Herrschaftsanspruch, die 94

Mächtige Gefühle

aber ethnische und geschlechtliche Differenzierungen aufweisen, sodass Cleofide als Frau und Inderin eine zweifache ›Andersheit‹ im Vergleich zum männlichen europäischen Herrscher Alessandro repräsentiert. Dennoch sind die beiden männlichen Figuren Alessandro und Poro hier als Gegenspieler insbesondere in der Affektäußerung etabliert  : Bei Alessandro dominieren Großmut, Ehre und andere edle Affekte, während Poro durch Zorn, Wut, Rache und Eifersucht gekennzeichnet ist. Cleofide hingegen fungiert mit Äußerungen zu den Affekten Treue, Liebe, Wut, Liebesschmerz und Verzweiflung als Bindeglied zwischen den Männerfiguren. Sie ist rationaler und vernünftiger als Poro, aber auch liebesfähiger und affektiver als Alessandro. Die Affekte Poros speisen sich wesentlich aus der politischen Situation, die er folglich auf seine Beziehung zu Cleofide transferiert. Die Oper beginnt mit der Niederlage Poros, der nicht nur sein Reich verloren sieht, sondern auch glaubt, Cleofide an Alessandro abgeben zu müssen. Mehrfach klingt hier die bereits bei Racine thematisierte Kritik an Alessandros Imperialismus an  : Die Eroberung Indiens wird insbesondere von Poro als moralisch nicht gerechtfertigt angesehen, da Alessandro Krieg und Unheil über Indien bringt. Trotzdem nagt die persönliche kriegerische Niederlage dermaßen an Poros heldenhaften Idealen, dass er mit rasender Eifersucht auf Cleofides vermeintliche Beziehung zu Alessandro reagiert.

Alessandro zwischen Vernunft und Liebe Obwohl mit der Eifersucht Poros bei Metastasio ein Motiv hinzukommt, das Poro bei Domenico David noch keineswegs hatte, wird (eigentlich widersprüchlich dazu) im Gegenzug der mögliche Grund für eine solche Eifersucht bis ins Inexistente reduziert. Dies lohnt einer genaueren Betrachtung. War Alessandro bei David erkennbar in Berenice verliebt und tat er dies mehrfach im Stück kund, so ist eine Liebe Alessandros zu Cleofide in Metastasios Libretto aus dem Jahr 1729 nur in der elften und zwölften Szene des ersten Aktes erwähnt. Zunächst offenbart er seinem Vertrauten Timagene, dass Cleofide über sein Herz triumphiert, um gleich darauf zu betonen, dass er sich solchen Affekten nicht überlässt. In der Szene mit Cleofide werden seine Gefühle nur in drei a parte-Kommentaren im Rezitativ angedeutet  : »M’uscì quasi da’ labbri ›idolo mio‹«, »Che amabile sembianza  !« und »Alma, costanza« (zit. nach Bellina 2002, 463f.). Da Alessandros Gefühle für Cleofide von vornherein unterdrückt werden, kann es auch zu keiner tugendhaften Mäßigung und keinem Verzicht auf diese Gefühle kommen, wie sie noch bei David erkennbar waren. Auch im zweiten Akt, als Alessandro 95

Kordula Knaus

Cleofide an Gandarte (der sich für Poro ausgibt) übergibt, ist keinerlei emotionale Regung Alessandros erkennbar. In Hasses Vertonung des Metastasio-Librettos aus dem Jahr 1731 (bearbeitet von Michelangelo Boccardi) wird dies noch dadurch gesteigert, dass Alessandro in einer Arie explizit jegliches Liebesgefühl von sich weist. Anders als in Vincis Vertonung möchte Cleofide am Ende des ersten Aktes Poro noch eifersüchtiger machen, als er ohnehin schon ist, und beginnt Alessandro ganz offensichtlich Avancen zu machen, die er explizit abweist  : »Amico, o difensore Sempre m’avrai, non domandarmi il core.« (»Du wirst immer in mir einen Freund und Beschützer haben, doch verlange nicht mein Herz.« Mojzysz 2008, XXXI und XLV, Übersetzung von Zenon Mojzysz, Ortrun Landmann und Klaus Müller). Der Gegensatz zwischen Heldenhaftigkeit und Liebe wird im Libretto für Händels Oper, die 1731 in London herauskam, expliziter gemacht als bei Hasse. Alessandro beschließt das Rezitativ mit dem Ausspruch »son guerrier sul Idaspe, e non amante« (»Ich bin Krieger am Hydaspes, und kein Liebender.« Chrysander 1880, 31). In beiden Vertonungen wird die Ablehnung der Liebe in der darauf folgenden Arie Alessandros »Se amore a questo petto Non fosse ignoto affetto« (»Wenn die Liebe für diese Brust nicht ein unbekanntes Gefühl wäre«) mit entsprechendem musikalischen Affektausdruck verstärkt. Sowohl Händel als auch Hasse arbeiten im 3/8-Takt mit wenig vorwärtsstrebender Rhythmik in kleingliedrigen Phrasen, die in besonderem Maße die emotionale Kälte Alessandros vermitteln (s. Beispiel 1 und 2).

 

Beispiel 1  : Beginn der Arie »Se amor a questo petto« aus Händels »Poro« (Chrysander 1880, 31)

96

Mächtige Gefühle

 

Beispiel 2  : Beginn der Arie »Se amore a questo petto« aus Hasses »Cleofide« (Mojzysz 2008, 115)

Ligaturen und Koloraturen finden sich auf den Wörtern, die ausschließende Konjunktive beinhalten, wie accenderei, proverei und fosse, nicht aber auf Wörtern, die Affekte direkt ansprechen würden, wie amore oder petto. In beiden Vertonungen vermittelt die musikalische Gestaltung der Arie geradezu eine Liebesunfähigkeit Alessandros. Die Ablehnung der Liebe durch Alessandro bekommt in verschiedenen anderen Vertonungen auch noch etwas andere Facetten, wie etwa in einer Version für Verona aus dem Jahr 1740, in der die Arie »Se amore a questo petto« durch die folgende ersetzt wurde (Anon. 1740, 27f.)  : Se amore in qualche petto Recasse sol diletto, Potria rischiarsi un core  ; Ma certo s’è dolore, Perché voler penar  ?

[Wenn die Liebe in mancher Brust einzig Vergnügen erwecken würde, könnte ein Herz riskiert werden. Aber sicher ist ihr der Schmerz, wäre sie es wert  ?

97

Kordula Knaus

Se trovo fra gli amanti Un sol ch’abbia riposo, E che non sia geloso, Mi voglio innamorar.

Wenn ich unter den Liebenden einen einzigen finde, der Ruhe hätte und nicht eifersüchtig wäre, dann will ich mich verlieben.]

Hier wird die Liebe von Alessandro explizit mit negativen Affekten wie Schmerz und Eifersucht in Verbindung gebracht und so seine Ablehnung von Liebesgefühlen begründet. Damit stellt er sich hier auch explizit gegen Poro, dessen Liebe zu Cleofide hauptsächlich durch Eifersucht gekennzeichnet ist. War die Beherrschung der Affekte im Libretto von Domenico David (1691) zentral für die Figur des Alessandro, der sich so als amante eroe offenbaren konnte, so werden derlei Auseinandersetzungen und Konflikte im Libretto Metastasios (1731) und in verschiedenen Vertonungen aus den folgenden Jahrzehnten, die auf seinem Libretto basieren, nicht thematisiert. Alessandro wird als Held und Herrscher gezeigt – Cleofide will er aus Güte und Mitleid zur Frau nehmen, nicht aber aus Zuneigung oder Liebe. Die Konsequenzen aus einer solchen Sichtweise sind erheblich  : Der europäische Herrscher Alessandro, für den Ehre und Großmut wesentliche Charaktereigenschaften sind, erscheint als vollkommen vernunftgeleitet, als für Emotionen unzugänglicher und sie ablehnender Kriegsheld. Scheint diese Position auch wesentlich durch den notwendigen dramaturgischen Kontrast zu Poro verursacht, so zeigt gerade diese Ausformung der ›westlichen‹ Identifikationsfigur Alessandro ein verändertes Herrschaftsverständnis gegenüber dem 17. Jahrhundert. Der Held ist nicht länger ein fehlbarer Held, wie er von Aristoteles und auf ihn zurückgehend dann auch im 17. Jahrhundert formuliert wurde (vgl. Fuhrmann 1994, 39), sondern wird im Sinne absolutistischer Herrschaftsansprüche des 18. Jahrhunderts zum vollkommenen Herrscher, für den Ruhm und Ehre zählen, der aber nicht an ein Liebesobjekt gebunden ist.2 Dies ändert sich jedoch merklich in den »Alessandro nell’Indie«-Vertonungen des späten 18. Jahrhunderts. In Carlo Monzas Version von 1775 etwa wird in der Szene, in der Alessandro Cleofide heiraten möchte, Gandarte sich in der Folge als Poro ausgibt und Alessandro großmütig beide (sowie den »echten« Poro Asbite) freilässt, in einem a parte von Alessandro und der darauf folgenden Arie durchaus thematisiert, dass diese Freigabe Alessandro nicht leicht fällt (Anon. 1775, 37)  : (Oh quanto costa, o Die

[(Oh, wie viel kostet, oh Gott,

Questo sforzo al mio cor. Ah sì, si fugga diese Anstrengung meinem Herzen. Ah, ja, man fliehe

98

Mächtige Gefühle

Da quel ciglio vezzoso. A lui vicino,

vor solch kokettem Augenaufschlag. In seiner Nähe,

Il suo poter le glorie mie funesta.)

sucht seine Macht meinen Ruhm heim.)

Ah la calma in questo core

Ah, die Ruhe in diesem Herzen

Chi provato ha il mio tormento

wer meine Qual erlebt hat,

Se il piede ancor s’arresta

Torni all’alma in tal momento  ;

wenn der Schritt noch innehält,

kehre in die Seele in diesem Moment zurück  ;

Non mi neghi almen pietà.

möge mir zumindest nicht Mitleid versagen.

Per me solo astri crudeli

Für mich allein, grausame Sterne,

Se in premiar due cor fedeli

Wenn belohnt werden zwei treue Herzen,

Non finisce il sospirar, Sento l’anima mancar.

endet nicht das Seufzen.

fühle ich das Fehlen der Seele.]

Selbst dort, wo Ruhm und Ehre für Alessandro reklamiert werden, etwa in der Arie »Di Marte la tromba Sol ode il mio core« (»Die Trompete des Mars hört einzig mein Herz«) in Angelo Tarchis Vertonung für Turin 1798, werden Liebesgefühle für Alessandro formuliert (Anon. 1798, 19)  : E pure quel volto, Quel ciglio sereno Destommi nel seno Insolito ardor. Ah no  ! non s’ascolti La voce d’amor.

[Und wenn auch dieses Gesicht, dieser liebliche Augenaufschlag in der Brust ungewöhnliche Glut erweckt. Ach nein  ! Hör nicht auf die Stimme der Liebe.]

Die Liebesgefühle Alessandros für Cleofide werden demnach zunehmend (wieder) thematisiert und verstärkt. Dies ist beispielsweise auch im Opernlibretto von Emanuel Schikaneder zu Franz Teybers Oper »Alexander« zu bemerken, mit deren Aufführung 1801 das Theater an der Wien eröffnet wurde. Schikaneders Libretto hat die Eroberung Indiens durch Alexander zum Thema, geht aber nicht von Metastasios Text aus und ist in seiner dramaturgischen Anlage wesentlich von Singspiel-Traditionen beeinflusst. Im Zentrum stehen hier die indische Königin Kiasa und der macedonische König Alexander, die durch einige Unterstützung von Seiten des Inders Makuro (von Schikaneder selbst gespielt) am Ende des Stückes zusammenfinden. Ein männlicher indischer Gegenspieler Alexanders existiert in dieser Bearbeitung des Stoffes nicht und somit ist der Weg für Kiasa frei, sich in Alexander zu verlieben. Alexander wird vor allem von Kiasas 99

Kordula Knaus

legendärer Schönheit in einen Liebestaumel getrieben, den er in einer Soloszene mit Arie im zweiten Aufzug ausdrückt (Schikaneder 1801, 45)  : Ach hätt’ ich sie doch nie gesehen, Wie ruhig wär’ mein Herz. – Kiasa hör’, ach hör’ mein Flehen, Ach tilge diesen Schmerz. Nicht Sclavinn, nein, o Königinn  ! Mein alles sollst du seyn. – Ach, meine Ruhe ist dahin  ! Sagt Götter sie wird mein  !

Alexander und Kiasa werden in dieser Oper als Liebespaar etabliert und die Lösung des kriegerischen Konflikts wird durch Alexander herbeigeführt, indem er Kiasas Reich ihrem zwölfjährigen Sohn übergibt und sie als seine Ehefrau mit sich nimmt. Kiasa muss so ihren Herrschaftsanspruch und ihre Heimat in dieser Oper um ihrer Liebe willen aufgeben. Damit wird die schöne Königin Kiasa zur heldenhaften Eroberung Alexanders umgedeutet und er kann großzügig die indischen Lande abgeben. Auch in Giovanni Pacinis Oper aus dem Jahr 1824, die eine der letzten bemerkenswerten auf Metastasio zurückgehenden Vertonungen des Stoffes darstellt, wird Alexander mehr als in früheren italienischen Libretti emotionalisiert. Bereits in den Jahrzehnten zuvor ist zu bemerken, dass das Libretto Metastasios zunehmend den dramaturgischen Erfordernissen des jeweils zeitgenössischen Operngeschmacks angepasst wird. Die betrifft beispielsweise die Einfügung von Duetten und Ensembles und die Reduktion der Arien. Der Librettist Giovanni Federico Schmidt, der zuvor bereits mit Rossini zusammengearbeitet hatte, adaptierte den Stoff für Pacini dem Geschmack der 1820er-Jahre entsprechend, der sich wesentlich an den sich seit Rossini durchsetzenden Modellen orientierte (Lippe 2005, 56–70). Dass in Schmidts Fassung nur ein einziger Arientext aus der ursprünglichen Fassung Metastasios verwendet wird, zeugt bereits von dem Entwicklungssprung, den die Gattung insbesondere am Beginn des 19. Jahrhunderts durchmachte.3 Schmidt entfernt die Intrige rund um den Betrug Timagenes4, lässt alle Nebenfiguren merklich in den Hintergrund treten und konzentriert sich vor allem auf Cleofide und Alessandro. Selbst Poro spielt eine untergeordnete Rolle, indem Cleofide als indische Herrscherin von Beginn an den Ton angibt und Entscheidungen trifft. Die Oper beginnt auch nicht mit Metastasios 100

Mächtige Gefühle

Szene auf dem Schlachtfeld und den handelnden Personen Poro und Gandarte, sondern mit einer umfassenden Introduktion, in der Cleofide ihrem Volk Mut und Standhaftigkeit gegenüber Alessandro zuspricht. Die Liebe Alessandros zu Cleofide wird bereits in der ersten Szene, in der er in Erscheinung tritt, behandelt und bildet ein durchgehend präsentes Handlungselement, das wesentlich zur dramatischen Spannung beiträgt. Auf die Eingangsszene von Cleofide und dem Chor folgt zunächst ein Duett Cleofides mit Poro, das durch seine Eifersucht und ihr Beharren darauf, dass er ihr vertrauen soll, gekennzeichnet ist, gefolgt von einer Arie Poros, die ebenfalls Wut und Eifersucht zum Thema hat. Erst im Anschluss daran tritt Alessandro in Erscheinung und formuliert in seiner Arie im ersten, langsamen Teil, dass nun Frieden und Versöhnung einkehren sollen, im zweiten, schnellen Teil besingt er aber seine starken Gefühle der Liebe, die er nicht unterdrücken kann. Im daran anschließenden Rezitativ mit Timagene offenbart er, dass diese Gefühle der indischen Königin Cleofide gelten (und im Unterschied zum entsprechenden Rezitativ bei Metastasio werden die Gefühle hier nicht sofort zurückgenommen). Als Cleofide bei Alessandro erscheint, weitet sich, was bei Metastasio ursprünglich in drei a parte-Kommentaren formuliert wurde, zu einem großen Duett zwischen Cleofide und Alessandro aus, das im Andante Alessandros Verwirrung zeigt und im Allegro-Teil Alessandros kaum unterdrückbare Gefühle für Cleofide zum Inhalt hat. Auch im zweiten Akt, in dem Alessandro Cleofide und Gandarte (den er für Poro hält) freilässt, wird die ursprünglich bei Metastasio vorhandene Arie »S’è ver che t’accendi« nur als Cabaletta der Arie verwendet und im Adagio der Arie sein Liebesleid aufgearbeitet. Liebesgefühle Alessandros, sein Leiden daran und sein Verzicht darauf werden in Schmidts Libretto für Pacini somit zum zentralen Handlungselement. Insbesondere in diesen Szenen können Schmidt und Pacini sich die gegenüber dem 18. Jahrhundert veränderten Arienformen, die den Ausdruck mehrerer oder sogar widersprüchlicher Affekte in einer Arie ermöglichen, zu Nutze machen. Dies fällt in der ersten Arie Alessandros insbesondere im Vergleich zur ihr vorgelagerten Arie Poros auf, die als einzige der gesamten Oper eine konventionelle Da-capo-Anlage verwendet. Die im A-Teil der Arie Poros formulierte Eifersucht bleibt durch die variative Wiederholung dieses A-Teils im da capo das bestimmende affektive Element. Die Arie Alessandros hingegen entspricht der seit dem späten 18. Jahrhundert etablierten zweiteiligen Arienform. In einem ersten Maestoso-Teil, der mit sehr pompösen von Punktierungen geprägten Orchestereinwürfen beginnt, richtet er sich an die Macedonier, die gelegentlich in Einwürfen ihrem König huldigen. In einem zweiten Teil, der als Allegro con brio 101

Kordula Knaus

giusto ein schnelleres Tempo aufweist, bringt Alessandro seine Liebesgefühle a parte zum Ausdruck  : Perchè, fra tanti affetti, Sgombrar non posso appieno L’affetto che nel seno Destarmi seppe amor  !

[Warum, unter all den Affekten, kann ich nicht gänzlich den Affekt ausräumen, der in meiner Brust diese Liebe wecken konnte  !]

Pacini kreiert damit einen Gegensatz zwischen dem kontrollierten Herrscher im Maestoso-Teil, der seinen Untertanen zur Abkehr von Wut und Blutvergießen rät, und einem Alessandro, der im schnellen Teil sein aufgewühltes Innenleben preisgibt. Besonders auffallend ist dabei der Einsatz der Holzblasinstrumente. Im ersten Teil werden sie vorzugsweise in den Einwürfen des Chores als aufsteigende punktierte Sextolen-Figur verwendet – sie sind damit Ausdruck des den König preisenden Volkes. Im zweiten Teil bleiben sie präsent, etablieren hier jedoch ein von mehreren Trillern gekennzeichnetes Motiv und verdeutlichen so Alessandros aufgeregte Liebesgefühle. So schaffen die Holzblasinstrumente einerseits durch die jeweils anderen motivischen Eigenschaften eine Differenzierung zwischen Alessandros Position einmal als Herrscher und das andere Mal als Liebender, andererseits wird die Instrumentierung zum verbindenden Merkmal. Weil bei Schmidt und Pacini Alessandros Liebe zu Cleofide dominierendes Handlungsmerkmal ist, erhält auch die Eifersucht Poros mehr Legitimation. Erschien er in den Libretti des 18. Jahrhunderts als grundlos eifersüchtig und aufbrausend, so ist Alessandro hier ein möglicher Rivale. Durch die Liebe zur gleichen Frau werden die Figuren Alessandro und Poro einander angenähert und die Dichotomie zwischen einem vernunftgeleiteten Alessandro und einem gefühlsgesteuerten Poro ist weniger deutlich ausgeprägt. Damit wird auch die ethnische Differenzierung zwischen westlicher Rationalität und östlicher Emotionalität reduziert. Wie um dies zu betonen, verwendet Pacini für Poro als einzige Figur die auf die Opera seria des 18. Jahrhunderts verweisende Da-capo-Anlage für dessen Arie – und macht ihn auch durch die hohe Stimme zum Vertreter einer Gattung, die den vergangenen Absolutismus repräsentierte.5

Affekte, Herrschaft und Geschlecht Wenn Cleofide in Metastasios Libretto des Jahres 1729 die Affekte betreffend zwischen Alessandro und Poro steht, so stellt sich die Frage, ob und wie sich ihre 102

Mächtige Gefühle

Position als Frau und Inderin im Laufe der Bearbeitung des Librettos in den folgenden 100 Jahren ändert. Große Entwicklungslinien sind hier weniger deutlich auszumachen, als dies für Alessandros Vernunft- und Liebesgefühle der Fall war, da es bereits in den ersten, Vinci nachfolgenden Vertonungen zu zahlreichen Änderungen der Cleofide-Figur kommt. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Cleofide-Sänger in Vincis Oper für Rom, Giacinto Fontana, kein besonders virtuoser Sänger war und die Rolle unambitioniert wirkt (vgl. Knaus 2011, 133– 135).6 In Hasses Dresdner Vertonung von 1731 sind die Änderungen jedenfalls darauf zurückzuführen, dass Faustina Hasse-Bordoni als Sängerin der Cleofide zentraler positioniert werden sollte und der Bearbeiter des Librettos Michelangelo Boccardi Metastasios Text so vor allem für Cleofide veränderte und ergänzte (zu Hasse-Bordoni in Dresden vgl. Mücke 2003, 178–187). Cleofide tritt bei Hasse bereits in der zweiten Szene des ersten Aktes mit einer Arie auf, in der sie ihren Schmerz über Poros Anschuldigungen kundtut. In der 16. Szene sind die Dialoge zwischen Cleofide, Alessandro und Poro (alias Asbite) so ausgeweitet, dass Cleofide, verärgert über Poros Eifersucht, nun ganz absichtlich beginnt Alessandro Avancen zu machen. Auch die Szene im zweiten Akt, in der Cleofide und Poro gleichsam eine Verehelichung ohne Zeuginnen und Zeugen vornehmen, bevor sie gemeinsam sterben wollen, ist bei Hasse wesentlich dramatischer als in Metastasios Libretto für Vinci. Cleofide bekommt außerdem die Schlussszene des zweiten Aktes, inklusive vorangehendem Accompagnato-Rezitativ. Im dritten Akt singt sie vor dem Wechsel der Szene in den Tempel noch in einer Arie über Schmerz und Verlust des Geliebten. Diese Veränderungen haben weitreichende Konsequenzen für die emotionale Befindlichkeit der Cleofide-Figur, da vor allem der Affekt des Schmerzes in zwei neuen Arien dominiert. Auch ihre Handlungen in den Rezitativen erscheinen drastischer  : Wenn sie Poro am Ende des ersten Aktes absichtlich eifersüchtig macht, so gefährdet sie damit sich selbst und ihn  ; im zweiten Akt möchte sie, als Poro weiterhin eifersüchtig ist, sich in den Hydaspes stürzen und ihr Leben beenden. Cleofide erscheint damit dem affektgeladenen Poro wesentlich näher als dem vernunftgeleiteten Alessandro. Ihre Entscheidungen trifft sie, indem sie ihren Emotionen nachgeht, und nicht aus politischem Kalkül. Manche Eigenarten der Dresdner Fassung, wie etwa Cleofides Arie am Beginn, sind nur in dieser Version des Librettos anzutreffen, andere Merkmale Cleofides, die in der ersten Fassung von Metastasios Libretto fehlten, tauchen aber regelmäßig seit den ersten Vertonungen von Nicola Porpora, Georg F. Händel oder Antonio Predieri auf. So verwenden die meisten Bearbeitungen der folgenden Jahrzehnte jene Textpassage, in der Cleofide am Ende des ersten Aktes Poro eifersüchtig 103

Kordula Knaus

macht, und auch die Drohung Cleofides im zweiten Akt, sich in den Fluss stürzen zu wollen, wird in die Libretti integriert. Interessanterweise werden diese drastischen und ›unvernünftigen‹ Elemente in Vertonungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder zurückgenommen. So fehlt der Flirt mit Alessandro in Holzbauers Vertonung von 1759 ebenso wie in Monzas Oper aus dem Jahr 1775 oder Pacinis Fassung von 1824. Der Selbstmordversuch Cleofides im zweiten Akt ist überhaupt nach 1750 kaum mehr in einem »Alessandro nell’Indie«Libretto zu finden. Dagegen steigt nach 1750 die Anzahl der Vertonungen, die Cleofide das Ende des zweiten Aktes mit einer Arie beschließen lassen, dies wird am Ende des Jahrhunderts jedoch von der Tendenz abgelöst, an dieser Stelle ein Terzett zwischen Alessandro, Cleofide und Poro zu platzieren. Verschiedentlich setzt sich schnell durch, was bereits bei Händel zu hören war, nämlich ein Arioso oder eine Arie in der Schlussszene, wenn Cleofide sich auf dem Scheiterhaufen verbrennen will.7 Cleofide erhält in vielen Vertonungen durch diese Umstellungen zusätzliche Präsenz und musikalische Dramatik, sie agiert aber in den Versionen nach 1750 deutlich weniger drastisch als zuvor. Damit geht einher, dass sie vor allem in den Textbüchern, die nach der Jahrhundertwende entstehen, wie etwa in Schikaneders »Alexander« oder Schmidts »Alessandro nell’Indie«, expliziter als eigenständige Herrscherin gezeigt wird als zuvor. Wenn in Hasses »Cleofide« 1731 die Titelfigur zu Beginn der Oper völlig allein bei Poro auf dem Schlachtfeld auftaucht und in einer Arie über dessen Eifersucht klagt, die Cleofide in Pacinis Oper 1824 jedoch am Beginn versucht, ihrem Volk Mut zuzusprechen, und doch ob der aussichtslosen Situation und der Angst um Poro auf dem Schlachtfeld entmutigt ist, so könnte der Kontrast nicht größer sein. Auch hinsichtlich musikalischer Affekte positioniert sich Cleofide völlig unterschiedlich. Findet sich bei Hasse eine typische musikalische Umsetzung des Schmerzes (e-Moll als Grundtonart, absteigende lombardische Punktierungen bereits im Ritornell sowie generell absteigende Phrasen), so wird Cleofide bei Pacini als heroische Figur eingeführt. Auch dies bedingt sich durch die veränderten musikalisch-formalen Konzepte der Oper des frühen ottocento, die häufig eine aria di sortita der Protagonistin vorsah, in welcher die Gefühlswelt der weiblichen Hauptfigur etabliert werden sollte (vgl. Lippe 2005, 48). Im Fall Cleofides beinhaltet dies im ersten Teil der Arie (Andante maestoso) eine im a parte formulierte Sorge um ihr Volk und um Poro, die jedoch von einer herrschaftlichen Haltung, die sie im Rezitativ und am Ende dieses ersten Teils mit Mut und Hoffnung zu ihrem Volk sprechen lässt, umrahmt wird. Musikalisch dominieren selbst in den eher sorgenvoll verzweifelten Passagen aufsteigende Phrasen, die immer wieder durch Punktie104

Mächtige Gefühle

rungen im Orchestersatz die herrschaftliche Position Cleofides unterstreichen. Auch der Allegro-Teil der Arie vermittelt mehr angstvolle Agilität als leidende Resignation, wodurch die vokale Virtuosität der Protagonistin in den zahlreichen Koloraturpassagen auch besonders zur Geltung kommen kann. Es ist bezeichnend, dass sowohl Cleofide als auch Alessandro ihre Arien bei Pacini jeweils mit einem Maestoso-Teil beginnen. Beide erscheinen als politische Personen, die einen Herrschaftsanspruch repräsentieren, aber auch als Privatpersonen mit Liebesgefühlen. So reduziert sich die starke ethnische Dichotomisierung von westlicher Rationalität und östlicher Emotionalität im 19. Jahrhundert ebenso, wie die Figur der Cleofide durch die stärkere Repräsentation ihrer Herrschaft und die Eliminierung irrationaler Entscheidungen zur Reduzierung geschlechtlicher Dichotomien beiträgt.

Gefühle, Gesellschaft und Opernästhetik Lassen sich für ethnische und geschlechtliche Differenzierungen der Affekte anhand der Oper »Alessandro nell’Indie« und ihrer verschiedenen Vertonungen gewisse Entwicklungslinien feststellen, so ist die Frage nach den Ursachen dieser historischen Veränderungen schwieriger auszumachen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen scheint die Tatsache, dass die Zeichnung Alessandros als vollkommen vernunftgeleiteter Herrscher im 18. Jahrhundert dominiert, zunächst einsichtig. Die Oper war im 18. Jahrhundert ein Mittel gesellschaftlicher Repräsentation der Aristokratie und ein absoluter Herrscher war idealerweise rational. Im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution kamen absolutistische Herrschaftsansprüche in Europa jedoch mächtig ins Wanken. Die Oper wurde in vielen Städten weniger von Herrschaftshäusern als von verschiedenen Gesellschaftern getragen, sodass eine direkte Repräsentation eines Herrschers in einer Opernfigur nicht mehr den Notwendigkeiten des Opernbetriebs entsprach. Der Held Alessandro kann so zu einer mehrdimensionaleren Figur werden, die auch Gefühle und Schwäche zeigen darf. Damit wird auch eine Annäherung zwischen Alessandro und Poro erzeugt, die ethnische Differenzierungen vermindert – dennoch sind diese im 19. Jahrhundert durch szenische und musikalische Effekte gegenüber dem 18. Jahrhundert deutlich (aber eben nicht so sehr in der Gefühlsdarstellung) hervorgehoben.8 Weniger klar erscheint dagegen die emotionale Annäherung zwischen Alessandro und Cleofide. Eine zunehmende geschlechtliche Dichotomisierung von Emotionen wird in der Forschungsliteratur häufig gerade mit dem ausgehen105

Kordula Knaus

den 18. Jahrhundert festgelegt (vgl. beispielsweise Hammer-Tugendhat/Lutter 2010, 8). Wie kongruiert dies mit der Tatsache, dass Cleofide gerade im frühen 19. Jahrhundert wesentlich rationaler erscheint als in den Vertonungen des 18. Jahrhunderts  ? Die Gründe dafür stellen sich vielfältig dar. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass es sich bei diesen Libretto-Veränderungen um graduelle Abstufungen handelt  ; dass also Cleofide in Pacinis Oper nicht völlig rational agiert, sondern sehr viel Gelegenheit zur Äußerung ihrer Gefühle bekommt. Zum anderen erscheinen gerade die Frauenfiguren in der Oper des beginnenden 19. Jahrhunderts aufgrund der disparaten Entwicklung der Gattung sehr unterschiedlich. Niemand wird der Lucia in Donizettis »Lucia di Lammermoor« rationales Verhalten unterstellen und die Handlungsmöglichkeiten dieser Figur sind stark eingeschränkt. Gerade die Opern des »tragisch-heroische[n] Stil[s]« (Döhring/Henze-Döhring 2006, 12) der 1820er-Jahre, zu denen Pacinis »Alessandro nell’Indie« zu zählen ist, bieten jedoch Gelegenheit zur Darstellung heroischer (und dadurch mit männlich konnotierten Eigenschaften und Gefühlen eher behafteten) Frauenfiguren. Bezeichnenderweise gehen viele dieser Libretti, ebenso wie Pacinis Sujet, auf Vorlagen aus dem 18. Jahrhundert zurück. Als prominente Beispiele können hier Rossinis »Zelmira« (1822) oder »Semiramide« (1823) genannt werden. So erlangt gerade die Verbindung älterer Sujets, die Frauenfiguren als auch rationale Herrscherinnen positionieren, mit einer romantisierenden Gefühlsdarstellung, die Männerfiguren als auch emotionale Herrscher zeigen darf, im frühen 19. Jahrhundert eine mehrdimensionale Gefühlsdarstellung, die im weiteren Verlauf des Jahrhunderts zunehmend verloren geht.

Anmerkungen 1 Wo nicht anders erwähnt, stammen die Übersetzungen von der Autorin. 2 Gelegentlich wird dieser Gegensatz in den Libretti auch nochmals explizit hervorgekehrt, so beispielsweise in Verona 1754 in der Arie »Se d’amore io non m’accendo«, in der Alessandro für sich Ruhm und Ehre reklamiert und die Liebe von sich weist (vgl. Anon. 1754, 30). 3 In Vertonungen der 1790er-Jahre z. B. wurden noch etwa vier bis fünf Arientexte aus dem Metastasio-Text von 1729 übernommen. Schmidt verwendet lediglich die Arie »S’è ver che t’accendi« als Cabaletta der Arie Alessandros im zweiten Akt  ; aus der Hasse-Fassung des Jahres 1731 übernimmt er Poros »Se possono tanto« im ersten Akt. Dies hängt damit zusammen, dass die formale Anlage für die meisten musikalischen Nummern sich von einer zweiteiligen hin zu einer vier- bis fünfteiligen Form (mit den Teilen Scena, Tempo d’attaco, Adagio, Tempo di mezzo und Cabaletta) erweiterte (vgl. auch Powers 1987). 4 In Metastasios Fassung hatte sich Timagene, der Vertraute Alessandros, im zweiten Akt mit Poro verbündet, um einen Anschlag auf Alessandro zu planen.

106

Mächtige Gefühle

5 Die Opera seria war im 18. Jahrhundert (im Unterschied zur Opera buffa) eine explizit höfisch geprägte Kunstform. Zum einen wurde sie in vielen Städten vom Hof selbst oder von Adeligen finanziell getragen und sämtliche Inhalte spielten im höfischen Milieu, zum anderen wurden Kastraten beinahe ausschließlich in dieser Gattung (sowie für ernsthafte höfische Figuren in der Opera buffa) verwendet. Deshalb repräsentieren sowohl die formale Anlage der Da-capo-Arie als auch die hohe Stimmlage eine Gattung, die in engem repräsentativem Zusammenhang mit dem Absolutismus stand. 6 Da Sängerinnen in Rom bis 1798 an öffentlichen Theatern nicht auftreten durften, wurden sämtliche Frauenrollen hier von Kastraten übernommen. 7 Gelegentlich entfällt dabei Cleofides Bemerkung über den indischen Brauch, wonach Frauen beim Tod ihres Mannes mit ihm in den Tod gehen würden, was Alessandro als »legge inumana« bezeichnet, das er ändern will. Diese Passage bei Metastasio bestärkt eine imperialistische Auffassung von ›barbarischen‹ östlichen Ritualen und einer westlichen Gesetzgebung, die solche Taten verhindern solle. 8 Vor allem die häufige Verwendung des Chores ermöglicht eine optische Differenzierung zwischen indischem Volk und macedonischen Kriegern. Musikalisch ›exotisierend‹ arbeitet Pacini beispielsweise bei der Ankunft von Cleofide und ihrem Gefolge in Alexanders Pavillion. Die prominent eingesetzte Bühnenmusik, in der die hohen Holzblasinstrumente dominieren, der Wechsel nach d-Moll sowie die rhythmisch prägnante Führung der Melodielinie können als solche Elemente gewertet werden (vgl. Moss 2006, 254–259). Für die Hauptfiguren werden derlei musikalische Exotismen allerdings nicht verwendet.

Literatur Anon. (nach Pietro Metastasio) (1740), L’Alessandro nell’Indie. Drama per Musica da rapresentarsi in Verona nel Teatro dell’Accademia Filarmonica, Verona Anon. (nach Pietro Metastasio) (1754), Alessandro nell’Indie. Dramma per musica da rappresentarsi in Verona nel nuovo teatro dell’Accademia Filarmonica, Verona Anon. (nach Pietro Metastasio) (1775), Alessandro nell’Indie. Dramma per Musica da rappresentarsi nel Regio-Ducal Theatro di Milano, Mailand Anon. (nach Pietro Metastasio) (1798), Alessandro nell’Indie. Dramma per musica da rappresentarsi nel Regio Teatro di Torino, Turin Anna L. Bellina (Hg.) (2002), Pietro Metastasio. Drammi per Musica, Bd. 1  : Il periodo italiano 1724– 1730, Venedig Friedrich Chrysander (Hg.) (1880), Georg Friedrich Händel. Poro (Georg Friedrich Händel’s Werke 79), Leipzig Graham Cummings (1982), »Reminiscence and Recall in Three Early Settings of Metastasio’s Alessandro nell’Indie«, in  : Proceedings of the Royal Musical Association 109, 80–104 Suzanne G. Cusick (1994), »›There was not one lady who failed to shed a tear‹. Arianna’s lament and the construction of modern womanhood«, in  : Early Music 22/Nr. 1, 21–41 Domenico David (1691), L’amante eroe. Drama per musica, Venedig Sieghart Döhring, Sabine Henze-Döhring (2006), Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert (Geschichte der Oper 3), Laaber

107

Kordula Knaus

Manfred Fuhrmann (Hg. und Übers.) (1994), Aristoteles. Poetik. Griechisch/Deutsch, Stuttgart Daniela Hammer-Tugendhat, Christina Lutter (2010), »Emotionen im Kontext. Eine Einleitung«, in  : Zeitschrift für Kulturwissenschaft  : Emotionen 4/Nr. 2, 7–14 Warren Kirkendale (2001), Emilio de’ Cavalieri »Gentiluomo Romano«. His Life and Letters, his Role as Superintendent of all the Arts at the Medici Court, and his Musical Compositions, Florenz Kordula Knaus (2011), Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 69), Stuttgart Hilge Landweer u. a. (2008), »Einleitung«, in  : Feministische Studien  : »Gefühle« 26/Nr. 1, 3–6 Marcus Chr. Lippe (2005), Rossinis opera serie. Zur musikalisch-dramatischen Konzeption (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 55), Stuttgart Christopher Moss (Hg.) (2006), Giovanni Pacini. Alessandro nell’Indie. Dramma per musica in due atti, London Zenon Mojzysz (Hg.) (2008), Johann A. Hasse. Cleofide. Opera seria ( Johann Adolf Hasse. Werke I/1), Stuttgart Panja Mücke (2003), Johann Adolf Hasses Dresdner Opern im Kontext der Hofkultur (Dresdner Studien zur Musikwissenschaft 4), Laaber Harold S. Powers (1987), »›La solita forma‹ and ›The Uses of Convention‹«, in  : Acta Musicologica 59, 65–90 Jean Racine (1666), Alexandre le Grand, tragèdie, Paris Emanuel Schikaneder (1801), Alexander. Eine heroische, große Oper, in zwey Aufzügen, Wien Angelo Solerti (1905), Gli albori del melodramma, Mailand Reinhard Strohm (1982), »Metastasios Alessandro nell’Indie und seine frühesten Vertonungen«, in  : Walther Siegmund-Schultze (Hg.), Probleme der Händelschen Oper (insbesondere am Beispiel Poro) (Kongress- und Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 21), Halle, 40–61 Rosemarie Zeller (2005), »Tragödientheorie, Tragödienpraxis und Leidenschaften«, in  : Johann A. Steiger (Hg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der frühen Neuzeit (Wolfenbüttler Arbeiten zur Barockforschung 43), Bd. 2, Wiesbaden, 692–704.

108

Anna Maria Krassnigg

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ? »Drama« bedeutet ursprünglich »Handlung«. Handlungen provozieren Konflikte. Konflikte erzeugen Emotionen. Die psychophysische Wahrheit dieses Zusammenhangs wird (nur  ?) am Theater erlebbar, dessen ursprünglicher Zweck und höchstes Ziel die Katharsis war. Hat dieser Ursprung anhaltende Relevanz für das zeitgenössische Theater  ? Subjektive Thesen zu Möglichkeiten und Wirkung des Theaters praktisch illustriert anhand des Festivals »ZORN   ! Dramatisches Erzählen Heute«.

Der vorliegende Text ist eine Transkription einer spontanen und subjektiven Selbstbefragung zum Gegenstand. Da diese (von einer klassischen Vorlesung naturgemäß in vielem abweichende) Form bewusst zum gemeinsamen Nachdenken gerade über die Begriffe »Drama« und »Gefühl« gewählt wurde, ist es mir wichtig, diesen Charakter auch in der Schriftform unbedingt weitestgehend zu erhalten. Ich bitte Sie daher, liebe LeserInnen, mir mit dem Öffnen der nachstehenden Anführungszeichen in den Fanny Hensel-Mendelssohn-Saal am 19. Mai 2011 um 14 Uhr zu folgen  : »Herzlich willkommen an diesem heißen Tag. Im Theater ist es ja so, in der Kunst überhaupt (und ich spreche natürlich von der Richtung, von der ich am meisten verstehe, also von der darstellenden Kunst), dass man als KünstlerIn danach strebt, Form und Inhalt in Deckung zu bringen – wobei die Deckung auch so aussehen kann, dass es einen krassen Widerspruch von Form und Inhalt gibt, was interessant sein kann, wenn es die dramaturgische Strategie erfordert. Ich werde mich an dieses künstlerische Gesetz halten. Ich kann gar nicht anders. Ich bin Regisseurin und Autorin und arbeite sozusagen auch hier, in unserem Zusammenhang, mit meinem eigenen Verfahren, weil ich denke, dass wir auf diese Weise am meisten Spaß miteinander haben werden beziehungsweise einander am besten begreifen werden. Bevor wir zum Kern meiner Überlegungen kommen, möchte ich Ihnen erzählen, was mir unterwegs passiert ist und was – wie so vieles, das einem unterwegs 109

Anna Maria Krassnigg

passiert – zentral auf unser Thema verweist. Gestern Abend ging ich mit meinem Zwölfjährigen nach Hause und traf eine flüchtige Bekannte auf der Straße, völlig aufgelöst. Man kennt das – nach Geschäftsschluss schnell, schnell vom Job zu den Kindern –, aber sie war ungewöhnlich aufgelöst. ›Was ist denn los  ?‹, so meine Frage, worauf sie unter Tränen antwortete, ihr kleiner Kater, an dem sie so hänge, müsse operiert werden. Das ist ein Tier, mit dem sie seit Jahren sehr verbunden ist, und das müsse jetzt operiert werden und es sehe sehr schlecht aus. Und ich habe gesagt  : ›Oh Gott, ja entsetzlich, Forza  ! Coraggio  ! Ich hoffe, dass das gut ausgeht.‹ Und heute bin ich auf dem Weg hierher ohne Kaufabsicht in ihre Boutique hineingestürmt und habe sie gefragt, was passiert ist, und sie stand in ihrem Laden, von diesen Fetzen umgeben, und sagte dreimal hintereinander  : ›Er ist tot.‹ Ich sage es jetzt nur einmal. Wenn ich es dreimal sagen würde, wäre es bereits Kitsch. Weil ich nicht diese Frau in dieser Situation bin. Dazu muss man erwähnen, dass ich ihre Situation gut kenne. Sie ist eine Frau in meinem Alter, sie arbeitet Tag und Nacht, sie hat zwei Kinder, sie hat dieses Tier, an dem sie hängt, und ich habe auch einen kleinen Kater, an dem ich sehr hänge, und auch grosso modo ähnliche Lebensumstände. So. Was diese Szene natürlich evoziert – es geht gar nicht anders –, ist Gefühl. Ein starkes Gefühl. Und diese kleine Szene, diese Urszene, die mich durch Zufall hierher begleitet hat, hat im Grunde schon alles, was wir brauchen, um über Drama und Gefühl am Theater zu sprechen. Warum  ? Das ist eine Szene über eine ewige Wahrheit  : Tod von einem geliebten, nahestehenden Wesen. Das gibt es von Aischylos bis heute. Es gibt aber auch dieses zeitgenössische Framing  : Sie steht in ihrem opulenten ›Fetzenlager‹, das ihr in dieser Sekunde so gar nichts nützt, ist eine Frau mit heutigen beruflichen Umständen und Imponderabilien. Ja, die Kostümierung, das Gewand, das Setting könnte zeitgenössischer und typischer gar nicht sein, der Schmerz könnte älter nicht sein. Und die dritte Komponente, das Publikum, in dem Fall ich, war zur Rezeption dieses Gefühls das ideale Publikum, weil ich ihre Umstände so gut kenne. Nicht nur, weil ich sie kenne, sondern weil ich in vergleichbaren Umständen lebe. Das heißt, diese kleine Szene wäre sozusagen ein Idealfall von Theater in Hinsicht auf eine geglückte ›Gefühlsproduktion‹, eine geglückte Nabelschnur zwischen ZuschauerInnen und denjenigen, die uns auf der Bühne etwas glauben machen wollen. Und jetzt kommt das Interessante für unseren Zusammenhang, nämlich genau, was ich Ihnen eingangs sagte  : Ich werde diese drei Sätze, die sie mir gesagt hat, nicht wiederholen. Denn obwohl ich Profi bin  : Es wäre nicht gut. 110

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

Ich müsste, um die drei Sätze in dieser Horváth’schen, simplen, elenden Qualität hinzubekommen, wochenlang proben. Die Szene müsste sehr gut gearbeitet werden, damit diese absichtslosen Sätze, die eben in keiner Weise ›emotional gesprochen‹ oder etwa durch heftiges Weinen begleitet waren, in mir als Betrachterin ein Gefühl auszulösen in der Lage wären. Ein Paradox – aber so ist es. Nehmen wir das als eine von drei basalen Wahrheiten. Basale Wahrheiten jedenfalls für mich und daher Basis der folgenden Überlegungen. Eine weitere solche Wahrheit beschreibt Peter Brook, wenn er sagt, das Entscheidende am Theater sei doch die Destillation (vgl. Brook 1998), das Entscheidende und gleichzeitig die größte Mühe. – Oder auch die größte Freude – wenn es denn glückt. Denn das, was wir so untertags ›hinfühlen‹, um beim zentralen Begriff zu bleiben, ›hinsprechen‹, ist doch zu 80 Prozent weder druckreif noch nachlebenswert noch vorzeigenswert. Schon gar nicht möchte jemand Eintritt dafür bezahlen, um sich das anzusehen. Das heißt, unsere Aufgabe am Theater ist es, aus diesen 80 Prozent Müll, oder nehmen wir, alles in allem, nehmen wir das Gold gleich dazu, aus diesen 100 Prozent das zu destillieren, was ereignishaft ist oder was, mit Goethe gesagt, die ›ungeheure Begebenheit‹ ausmacht (vgl. Goethe 1960). Denn das ist es, was uns bewegen kann, interessieren kann, in diesen Destillationen von drei oder vier Stunden. (Oder selbstverständlich auch von theatralen Formen, die von fünf Minuten bis zu vier Tagen dauern. Auch das sind selbstverständlich nur Destillate – in einem anderen Zeitmaß.) Diese künstlerische Notwendigkeit der Destillation hat große Auswirkungen auf die Gefühle, bedingt ihre Sonderstellung am Theater, das ja – wenn wir Brooks Annahme teilen – einfach hochkonzentriertes, hochprozentiges Leben ist. Die dritte Wahrheit, von der ich in allem Kommenden ausgehe, lasse ich Dennis Kelly beschreiben. Ich zitiere aus einem Interview mit dem »Standard«  : Der Standard  : Ich habe gelesen, dass Sie als Theaterzuschauer selbst gerne Angst spüren möchten. Kelly  : Nicht so ganz, ich halte Emotion für sehr wichtig. Intellekt ist am Theater eine gute Unterstützung, aber ich halte Theater generell für ein emotionales Medium. (Affenzeller 2011)

So weit Dennis Kelly, ein Dramatiker, den ich besonders schätze, der glücklicherweise sogar in sehr vernünftigen Übersetzungen auch hier im deutsprachigen Raum und jetzt auch in Österreich gesehen werden kann. Dies, epigrammatisch vorangestellt, ist auch meine Sicht. 111

Anna Maria Krassnigg

Nach dieser Einführung haben Sie die drei wesentlichen Prämissen für meine nun folgende Selbstbefragung  : Die Schwierigkeit der Re-Präsentation des Gefühls am Theater, die aufregende und schwierige Aufgabe der Destillation hin zur ›ungeheuren Begebenheit‹ und dass das Theater alles in allem ein vorwiegend ›emotionales Medium‹ (Kelly) ist. Dies nur, damit Sie wissen, wo ich stehe und von wo ich starte. Nachdem das geklärt ist, werde ich ein Interview mit mir selbst machen. Keine Angst, das ist jetzt keine Performance – auch dafür bräuchte ich eine längere Probenzeit, damit es eines Publikums würdig wäre. Ich werde mir einfach Fragen stellen. Ich bewege mich in einem Umfeld, das mir vertraut ist, oder  : über das ich gewohnt bin seit vielen Jahren nachzudenken, zu empfinden, nennen wir es einmal so, und in dem ich empirische Erfahrungen oder Kenntnisse sammeln konnte. Diese Fragen kommen freilich implizit in der eigenen Arbeit und im Unterrichtskontext vor, sie schimmern durch Arbeitshaltungen, Proben, Diskussionen, aber sie sind von so grundsätzlicher, fast möchte ich sagen im besten Sinn primitiver Natur, dass sie kaum je explizit gestellt werden. In diesem Sinn ist diese Selbsbefragung also eine Premiere. ›Drama und Gefühl‹ ist unser Thema – hängt das zusammen  ? Eine banale, eine rhetorische Frage. Also hängt das zusammen  ? Wie  ? Ich würde einmal sagen, das ist ja so  : Im Volksmund oder in dem, was ein Nicht-Theatermensch (um so eine komische Kategorie einzuführen) empfindet, ist das ja sehr verwandt. Also es gibt Dialekte und auch Sprachen – in den romanischen Sprachen ist das ganz stark so –, wo Drama und Gefühl fast dasselbe Wort ist oder zumindest dieselbe Wortumgebung. Dramatisch ist gleich emotionsgeladen. Das ist sogar hier in Zentraleuropa so. Und trotzdem ist es natürlich im eigentlichen Sinn keineswegs so. Es ist schon von der Wortherkunft nicht dasselbe. ›Drama‹ – so sehr das Wort sofort rote Mäntel, Teppiche, Blut und Messer unweigerlich evoziert – ist ursprünglich ein vollkommen unspektakuläres Wort. Es heißt einfach ›Handlung‹. Unschuldiger kann ein Wort eigentlich nicht sein. ›Drama und Gefühl‹, ›Handlung und Gefühl‹. Das ist für uns am Theater oder auch für mich in der Schauspiel- oder Regieausbildung ein ganz direkter Link, mit dem wir es tagtäglich zu tun haben. Und zwar nicht so sehr aufgrund der Ähnlichkeit und teilweise sogar Deckungsgleichheit des Begriffs (Drama = Handlung), sondern eher aufgrund eines theaterpraktischen Vorganges (übrigens auch eines theoretischen, wenn wir beispielsweise bei Stanislawski nachschauen). Im Grunde glauben wir in der praktischen Ausbildung an folgende Formel  : ›Handlung löst etwas aus.‹ (Ein großer Teil von Stanislawskis theoretischem 112

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

Werk fokussiert ja auf diesen Zusammenhang.) Jeder Mensch, der handelt, jedes Tier, das handelt, jede Existenz, die handelt, löst bei einem Gegenüber etwas aus. Oder löst (das sind die Sonderformen, die wir in der dramatischen Literatur meist als Monologe kennen) bei sich selbst etwas aus. Und dieses Selbst ist ja wiederum nichts anderes als die Sonderform eines Gegenübers. Handeln löst etwas aus, denn es ist ja selten so, dass eine Handlung konfliktfrei vor sich geht. Wir lösen, egal, was wir tun – das zeigt ja schon das sprichwörtliche Zertreten der Ameise –, gewollt oder ungewollt Konflikte aus. Ich verwende das Wort Konflikt hier ganz wertneutral. Wir lösen Zusammenstöße, welcher Art auch immer, aus. Das ist nicht zu vermeiden. Und diese Konflikte, je nachdem, wie groß sie sind, mit welchen PartnerInnen sie ausagiert werden, wie viel Anteil an Willen oder gar Strategie dahintersteckt, lösen zwangsläufig und unumkehrbar Gefühle aus. Das ist eine Kette, die im Schauspiel- und Regieunterricht von großer Bedeutung ist, weil sie, meiner Überzeugung nach (die ich mit vielen Kollegen und Kolleginnen teile), die verlässlichste ›Formel‹ ist, um etwas wie eine authentische Emotion auf der Bühne ganz selbstversändlich entstehen zu lassen – und nur dieses selbstverständlich, fast unvermeidlich Entstandene überträgt sich auf ein Publikum. Alles andere ist Kitsch und löst sofort ein Unwohlbehangen beim Zuschauer aus. Ein Unbehagen, das übrigens nichts mit bewusster Distanznahme zu tun hat, sondern schlicht mit dem enttäuschenden Gefühl (und Enttäuschung ist ein starkes und in keiner Spielart von der Bühne her beabsichtiges Gefühl  !), belogen, letztlich ›für dumm verkauft‹ worden zu sein. Das empfinden manche Menschen stärker als andere – wie überhaupt Gefühle und auch Schmerzen in unterschiedlichen Abstufungen wahrgenommen werden. Aber unbestritten sind wir zutiefst befremdet, wenn uns etwas als ›das Eigentlichste‹, ›das Gefühl‹ eben verkauft wird und wir es einfach nicht glauben, das heißt nicht annehmen können. Eine der Königsfragen des Theaters ist also, wie kriege ich das hin, dieses Gefühl, dieses glaubwürdige Gefühl  ? Am Gefühl selbst kann ich es nicht packen, das ist nicht möglich. Das ist wie Flöhe fangen. Was ich aber machen kann, ist, über den Umweg der Handlung, der ursprünglichen Bedeutung ›des Dramas‹, das Gefühl quasi als Abfallprodukt zu erhaschen – oder das Gefühl als unvermeidliche Blüte der Handlung entstehen zu lassen, um es ein bisschen poetischer auszudrücken. Gefühl wird in dem Moment, in dem ich handle – und eben durch mein Handeln unweigerlich einen Konflikt provoziere –, passieren. Das ist nicht zu vermeiden. Warum  ? Warum ist das so wichtig  ? Es ist am Theater deshalb so entscheidend, weil wir mit einer weiteren Herausforderung zu kämpfen haben. Das Gefühl auf der einen Seite und auf der anderen das Paradoxeste überhaupt  : die Wiederholbarkeit. Die Betrachtung des 113

Anna Maria Krassnigg

Gefühls am Theater oder im Film ist deshalb so elementar unterschiedlich, weil es diese zweite große (und der ersten entgegengesetzte  !) Herausforderung oder Hürde im Film nicht gibt. Selbstverständlich werde ich im Film (vorausgesetzt, ich kann und will es überhaupt und ich habe Menschen, die es können und wollen) durch die Schaffung von richtigen dramaturgischen und atmosphärischen Bedingungen, durch lautere oder unlautere Strategien – am wunderbarsten oft auch durch Zufall – ein einmaliges Gefühl, welches auch immer, der Angst, der Liebe, des Zorns, erzeugen können. Wenn ich einen guten Kameramann oder eine gute Kamerafrau habe und das Ganze dann noch gut manipuliert, sprich  : geschnitten, wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gefühl glaubwürdig rüberkommt, sehr, sehr hoch. Das reicht am Theater aber nicht. Und das ist das große Dilemma. Wir müssen dieses Gefühl wiederholen, also es wieder holen. Auf jeder Probe und dann weitere acht- bis 60-mal. Ein Albtraum. Und wir wollen, wenn wir überhaupt noch etwas wollen vom Theater oder am Theater, dass die 60. Vorstellung mindestens so gut ist wie die erste. Eigentlich muss sie viel besser sein, denn die Menschen bewohnen ja dieses Stück oder diesen Sachverhalt bereits 60-mal. Wenn sich da nichts getan hat, dann haben wir grundlegend etwas falsch gemacht. Wir beobachten aber sehr oft am Theater, dass das nicht eintritt. Ganz im Gegenteil, man kennt dieses Wort, dass eine Vorstellung ›abgespielt‹ ist. Dass man in die vielleicht erst zehnte Vorstellung geht und denkt, was ist denn das für eine hohle Veranstaltung  ? Und natürlich kann diese Hohlheit an vielen Dingen liegen, von der Konzeption bis zur schlechten Disponiertheit des Hauptdarstellers oder der Hauptdarstellerin, aber letztendlich ist das, was uns besonders abstößt oder traurig macht – oder wie Max Reinhardt das (in seiner berühmten »Rede über den Schauspieler«) nennt  : das Theater zu einem so billigen Gewerbe machen kann –, die Vortäuschung falscher (im Sinne von ›als wahr verkaufter‹) Gefühle. Selbstverständlich ist alles, was hier über ›richtige‹ und ›falsche‹, ›glaubwürdige‹ und ›unglaubwürdige Gefühle‹ gesagt wird, niemals als moralische Wertung und übrigens auch nicht als Identifikationsvorgabe für das Publikum gemeint. Ich spreche hier von einem emotionalen Netz, das die Tiefe des Textes oder der theatralen Vorgänge radikal (im Sinne von radex, radicis = die Wurzel) klar macht und ›über die Rampe‹ bringt in einer Weise, wie das eine rein intellektuelle Übertragung niemals leisten könnte. Das ist ja das Besondere am Theater. Ob ich mich dieser Botschaft dann hingeben oder entziehen will oder was von beidem ich als RegisseurIn beabsichtige, ist eine davon unabhängige Frage. Polemischer und einfacher  : Schlampiges, unbeteiligtes und distanziertes, schlicht dilettantisches Spiel ist nicht gleichzusetzen mit ›Lockerheit‹ oder ›Freiheit‹ für das Publikum. Hier gibt es viele Verwechslungen, die uns immer gelegen 114

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

kommen, wenn uns die Kraft, der Mut oder schlicht das Können zu einer tiefen Auseinandersetzung fehlen. Also  : Wie kriegen wir das hin, nicht falsche Gefühle vorzuspiegeln, obwohl wir etwas Perverses tun, nämlich einen Gefühlsmoment wiederholen. Eben durch das Herbeiführen von Konflikten durch konkrete psychophysische Handlungen, denn diese kann ich wiederholen. Und wenn ich das sehr gut mache, sehr genau, künstlerisch sehr wertvoll, im Sinne von aufrichtig und radikal, dann wird mich das Geschenk oder auch das Entsetzen – das sind ja oft entsetzliche Gefühle – des Gefühls überraschen. An dieser Schraube – sonst hätte man mit der Einführung des Films das Theater endgültig aufgegeben –, an dieser Schraube können wir sehr wohl drehen. Als Einschub eine Frage, die oft gestellt wird – mit Recht  : Kann das denn überhaupt gelernt werden, Regie oder Schauspiel  ? Zu einem Teil natürlich nicht. Die Begabung ist vorausgesetzt. Ja, hier eröffnet man gleich ein großes Feld  : Was ist Begabung  ? Das ist heute nicht unser Thema. Aber auch darüber ließe sich einiges im Zusammenhang mit dem Gefühl sagen. Ganz bestimmt hat Begabung auch zu tun mit Radikalität, Aufrichtigkeit und Öffnung. Also u. a. die drei schwierigsten Dinge, die es überhaupt gibt in der Kunst. Voraussetzungen, wie gesagt, an denen wir schwer drehen können. Wir können auch nicht an der grundsätzlichen psychophysischen Verfasstheit der Studierenden drehen – oder wir sollten es in einem modernen, respektvollen Kunstunterricht besser nicht tun. Aber an der Frage der Herstellung von Drama, von Handlung und Konflikt, der künstlerisch hochwertigen Verfertigung davon, daran können wir sehr wohl drehen, und wir können, was noch wichtiger ist, den Menschen, die das dann irgendwann berufsmäßig ausüben wollen, eine Art Werkzeugkoffer in die Hand geben, das dann selbst zu tun im Ernstfall – das heißt im Berufsfall. Da. Noch so eine quälend grundsätzliche Frage  : Wozu das Ganze  ? Ich meine, wozu, wozu all das  ? Wozu die Erzeugung eines Gefühls über den Umweg der Handlung  ? Man könnte auch sagen  : Wozu das Theater  ? Nach allen anderen oder mit allen anderen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen  ? Die Entstehungsgeschichte des Theaters bzw. die kanonische, klassische Formulierung will ja, dass durch (ich verwende die alten Worte, sie sind uns irgendwie lyrisch geläufiger) ›Furcht und Mitleid‹ der Mensch sozusagen in eine Erlebnisfähigkeit katapultiert wird, die ihm eine Katharsis, also eine Reinigung, schenkt. Das ist sozusagen die Definition des Sinns und Zwecks. Jetzt kann gefragt wer115

Anna Maria Krassnigg

den, wird das denn heute überhaupt noch gebraucht  ? Ist es eine kanonische, veraltete Formulierung oder ein pathetischer Wunsch  ? Schon diese Frage, wie alles, was hier in diesem Zusammenhang mit Gefühl und Drama oder Drama und Gefühl am Theater meinerseits laut gedacht wird, ist höchst anfechtbar und subjektiv. Ich würde vielleicht so antworten (nicht weil ich das möchte – das vielleicht auch –, aber weil es sich schlicht mit meinen empirischen Erfahrungen aus 20 Berufsjahren deckt)  : Die Möglichkeit eines kollektiven, gegenständlichen und realen Erlebens von – nehmen wir bewusst die großen und nicht ungefährlichen Worte – ›Reinigung‹ oder ›Erschütterung‹ ist etwas so ungeheuer Seltenes, dass ich sagen würde  : Schon allein der ›Artenschutz‹ würde mir zusprechen, dass es etwas ist, was unbedingt probiert und erhalten werden sollte  ; und vor allem auch Menschen ermöglicht werden sollte, die nicht mit einem nennenswerten Bildungshintergrund ausgestattet sind. Ich empfinde es geradezu als ein Menschenrecht, das der Staat ermöglichen muss  : dieses kollektive und reale Erlebnis der ›Öffnung der Kanäle‹, der (wenn auch noch so kurzen) Wahrnehmung von Transzendenz, der Wahrnehmung auch der realen Existenz von Dingen, die man nicht kaufen und verkaufen kann. Hat sich diese ursprüngliche Aufgabe des Theaters gewandelt  ? Ich glaube nicht, dass sich die Aufgabe gewandelt hat, sehr wohl aber die Umstände, die Rahmenbedingungen, die Präsentationsformen, auch die Themen zum Teil. Ich glaube daher, dass es von ungeheurer Wichtigkeit ist (darauf werden wir zum Schluss noch mal kommen), das Zeitgenössische des Theaters, also die Möglichkeit, es jetzt und hier zu rezipieren – auch für diejenigen, die keine TheaterwissenschaftlerInnen, keine BerufskollegInnen oder sonst im Elfenbeinturm wohnhaft sind –, ernst zu nehmen und aktiv herzustellen. Wir Theaterleute müssen die Brücke zum Publikum, zu den RezipientInnen als ZeitgenossInnen schlagen und dürfen weder NachbeterInnen von Vor-Gedachtem (= AnbeterInnen der Asche nach Gustav Mahler [s. Gustav-Mahler-Society Vienna/Forum]) noch PhrasendrescherInnen eines ubiquitär angesagten und publizierten Mainstreams werden. Welcher entscheidende Unterschied zum Film – neben der zentralen Crux der Wiederholbarkeit – ist für uns hier wichtig  ? Vielleicht jener, der dieser Crux zugrunde liegt und das Theater so besonders und kostbar, wie gesagt geradezu ›artenschutzwürdig‹, macht  : die Absturzgefahr. Absturzgefahr einmal hinsichtlich der Frage, ob denn die Übung, der Seiltanz gelingt, etwas wie Emotion zu wiederholen. Das ist erlernbar, verbesserbar, täg116

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

lich umkämpfbar. Aber es bleibt unberechenbar. Der Zwang zur Wiederholung liegt ja an der ganz banalen Tatsache, dass das Theater keine Konserve ist. Das Theater arbeitet mit Konserven – und zum Teil großartig, ich mag das manchmal sehr –, aber es ist keine. Es ist ein Live-Ereignis und die SchauspielerInnen vor allem, aber letztlich jeder Akteur oder jede Akteurin des Theaterabends ist permanent, im tiefsten Sinn, absturzgefährdet. Und das wissen wir. Selbst wenn wir nicht ständig daran denken und uns beim Kauf der Theaterkarte nicht sonderlich damit befassen, ist es in uns eingraviert in dem Moment, in dem wir an einem Theaterabend teilnehmen. Und diese Möglichkeit des Absturzes ist etwas sehr, sehr Gefährdetes und Gefährliches letztendlich. Auch wenn wir uns das nicht ständig vorsagen, empfinden wir es doch. Und das macht natürlich einen ganz, ganz großen Unterschied aus zum Kino und macht das Theater auch immer zu einem Raubtierkäfig. Gibt es so etwas wie geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung von Gefühlen  ? Eine interessante Frage  ! Ich persönlich glaube, es gibt so etwas wie universelle Gefühle. (Verzeihen Sie mir bitte die Abgegriffenheit der Worte – wir haben darüber gut und schlecht schon 2000 Jahre lang gesprochen, Berufenere als ich, also kann ich daher nur versuchen, abgegriffene Worte möglichst sinnstiftend zu kombinieren.) Gefühle also, die in ihrer Diversität und trotz der Diversität der RezipientInnen universell sind in ihrer Größe und in ihrer Wirkungsmacht. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist aber folgende (und das ist ein bisschen ähnlich wie mit jeder Frage nach den näheren Umständen eines Settings oder eines emotionalen Settings, wie schon das eingangs erwähnte Beispiel mit der Katze zeigt)  : Je mehr wir uns mit dem Agierten und den Agierenden identifizieren können, desto stärker wird der Eindruck sein. Das, was wir kennen, was wir nachempfinden können, gräbt eine tiefere Kerbe in unserer Bewusstsein als alles andere. Ich kann vielleicht, was die Geschlechterthematik betrifft, zwei Beispiele aus meinem Theaterleben nennen, wo eindeutig unterschiedliche GefühlsWahrnehmungen bei Frauen und Männern und daraus resultierende Urteile zu beobachten waren. Ich habe 2004 eine Inszenierung im Theater an der Josefstadt gemacht – ›Fräulein Else‹ in einer Neubearbeitung von mir, die dem üblichen Monolog das wesentliche Personal um Else herum, und vor allem ihre Eltern, zugesellt. Das in unserem Zusammenhang Interessante war, dass es ganz augenfällig ist (und übrigens auch der letzte Forschungsstand in der Germanistik, vgl. z. B. Lange-Kirchheim 1999), dass diese Else-Geschichte die Analyse einer Missbrauchsgeschichte ist, und zwar eine sehr, sehr genaue Analyse bis hin zu 117

Anna Maria Krassnigg

den Spiegelbildern von Vater und Dorsday und allen diesen Dingen, die heute als eindeutige psychologisch-medizinische Indizien erfasst und konnotiert werden. Und ich habe ganz einfach genau das, was mir immer so eingeleuchtet hat an dem Text, dass es nämlich um einen Inzestfall geht (wenn auch in den wohl gewählten Worten des Arztes und Dramatikers Artur Schnitzler), inszeniert. Ich habe durchaus versucht, mein Publikum abzuholen, also es gab keine Einspielungen von kopulierenden Kamelen oder dergleichen. Ich wusste schon, ich bin an der Josefstadt und ich wollte das Publikum von meiner Sicht auf die Dinge überzeugen oder sie damit entsetzen – also mit dem Inhalt, nicht mit dem Kamel. Und das Verrückte war, wie so oft, dass genau das manche Menschen total verstört hat. Also das Fanal, diese Geschichte als das auf die Bühne zu bringen, was sie ist  : nämlich ein Inzestdrama – das haben mir einige RezipientInnen einfach nicht verziehen. Viele mochten wiederum genau das. Aber das wirklich Interessante war, es gab zwei Besprechungen von Kritikerinnen (übrigens Menschen, die meine Arbeiten ansonsten zum Davonrennen finden, also es hatte nichts mit Sympathien zu tun, ganz im Gegenteil) – das waren echte Auseinandersetzungen, sogar Handreichungen. Ansonsten gab es hauptsächlich Verrisse männlicher Rezensenten. Und auch im privaten und KollegInnenkreis waren es großteils Männer, die entsetzt waren über die Möglichkeit einer solchen Interpretation – vor allem des Vaters, aber auch der unversöhnlichen Aggressivität und Autoaggressivität einer so gar nicht ›mädchenhaften‹ Else. Das war der eine Fall, in dem ich dieses Phänomen einer geschlechterdifferenten Wahrnehmung so vehement erlebt habe. Ein anderes Mal habe ich in der Schweiz ein Stück inszeniert, das ansonsten nicht so bekannt ist (vielleicht ändert sich das durch die Neuverfilmung des Stoffes1), in der Schweiz aber ein absolutes Kult- und Skandalstück war und ist – was ich damals in meiner Naivität nicht wusste. ›Sennentuntschi‹ heißt das Stück und es ist eine Sennenpuppensage – übrigens für den Gender-Zusammenhang hoch interessant dieser ganze Sagenkreis –, in der es darum geht, dass drei Senner eine Puppe basteln, diese Puppe taufen und mit dieser Puppe selbstverständlich alles tun, was Männer so auf einer Alp, allein, von Kühen umgeben, mit einer Puppe tun würden. Das ist das sogenannte Skandalöse an dem Stück. Zum Schluss wird diese Puppe lebendig und rächt sich in unterschiedlicher Weise an diesen drei übrigens archetypischen Männern. Jedenfalls war es in dem Fall so, dass Frauen, überwiegend Frauen, absolut entsetzt über meine Inszenierung waren. Und zwar lag das hauptsächlich an Folgendem  : Am Ende des Stücks gibt es verschiedene Verfahrensweisen oder Abrechnungsformen mit diesen Männern, und es gibt einen Mann, den die ›Puppe‹ – so heißt es in der Sage – ›häutet‹. Und 118

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

meine Inszenierung war jetzt nicht maßlos extrem für die damalige Zeit, bitte, vielleicht schon, aber es war an der Gessnerallee in Zürich, an einem der progressivsten Häuser überhaupt, nach wie vor, damals mehr im Schauspielbereich, und mir war das wichtig, dass das nicht in der Regiebemerkung zum Schluss verschwindet, dieser Vorgang. Und ich habe, unterstützt von tollen Musikern und einer wunderbaren Kostümbildnerin einfach zum Schluss diese Frau auftreten lassen – mit einer Haut. Also es war wunderbar gemacht, das war ein unglaubliches Kunstwerk der Kostümbildnerin. Diese Frau – ›das Sennentuntschi‹ –, die bis dahin nur in Mullbinden gewickelt ist, trägt diese geäderte transparente Haut wie einen viel zu großen Mantel um die Schultern und dazu gab es eine sehr schräge Adaption von ›Schlaf, Kindlein, schlaf‹. Bis dahin war gespannte Zustimmung zum Bühnengeschehen zu spüren, dann war es aus. Es war einfach aus. Und ich hab das dann sehr hinterfragt, es gab wirklich einen Skandal, es gab Riesenfernsehinterviews und so. Mir hat das sehr genutzt, ich hätte das nicht besser kalkulieren können – aber ich habe überhaupt nicht damit gerechnet  ! Und letztendlich war die Hauptaussage  : ›So etwas tut eine Frau nicht.‹ Das tut sie einfach nicht. Eine so konkrete Bebilderung eines Racheakts, der für diesen Bühnenmoment eben nicht nur im Metaphorischen verbleibt, löste – vor allem bei den Frauen – klare Ablehnung aus. Also bei vielen, vielen Diskussionen blieb das letztendlich übrig. Das nur als weiteres Beispiel dafür, dass es selbstverständlich Stoffe gibt oder Vorfälle, Interpretationen, die bei Männern und Frauen unterschiedlich intensive emotionale Reaktionen auslösen. Wie wirkt der Rezeptionsrahmen, also das Umfeld der Produktion, auf die Gefühle des Publikums  ? Stark. Das zeigt schon der atmosphärischen Unterschied zwischen Abenden an festen Häusern oder bei Festivals, selbst in ein und demselben Kulturkreis, ja sogar derselben Stadt. Das Wiener Publikum ist bei Veranstaltungen der Wiener Festwochen (auch und gerade solchen, die sich nicht wesentlich vom jahresüblichen Angebot der Stadt unterscheiden) ungleich ›emotional höher temperiert‹ als während der laufenden Saison. Ich arbeite bevorzugt international, das heißt, ich bin immer traurig, wenn eine Inszenierung von mir an einem Ort, und sei es der schönste auf der Welt, ›kleben bleibt‹. Ich finde, alle Beteiligen werden da um wesentliche Erlebnisse gebracht, und seit ich Theater machen darf, versuche ich zum allergrößten Teil Koproduktionen auf die Beine zu stellen, sowohl im freien Bereich als auch im Staatstheaterbereich (fast ein Ding der Unmöglichkeit). Das starke und wiederkehrende Erlebnis ist – wovon ja auch Brook in seinen ›Wanderjahren‹ erzählt –, 119

Anna Maria Krassnigg

dass es erhebliche Unterschiede in der Rezeption gibt, die von vielen Faktoren wie der Größe und dem Renommee des Ortes, der Theatergeschichte eines Landes, der politischen Gegenwart eines Landes und, und, und … abhängen und die auf die Entstehung und Übertragung von Gefühlen den denkbar größten Einfluss haben (vgl. Brook 1989). In Luxemburg zum Beispiel ist anlässlich meiner ›Leonce und Lena‹Inszenierung ein älterer Banker (wie sie ja gerade dort zuhauf anzutreffen sind) auf mich zugekommen. Er gehörte zu diesem Premierenpublikum, das man so kennt, er war von der Botschaft mitgenommen worden, und er sagte dann zu mir, er würde jetzt noch gerne bei der Premierenfeier bleiben, weil er irgendwie beeindruckt wäre, aber er könne mir nicht sagen – und das täte ihm aufrichtig leid –, dass ihm die Inszenierung gefallen hätte. Es hat ihm eigentlich nicht, wirklich nicht gefallen. Und dann habe ich ihn gefragt  : ›Ja, warum nicht  ?‹ Da hat er mir gesagt  : ›Wenn es mir gefallen hätte, dann müsste ich ja zugeben, dass ich selbst ein ›Kleinanleger‹ bin. Und meine Freunde auch‹. Zur Erklärung  : Wir hatten den Hof in eine Art Bankenwelt verlegt und statt ›Hofschranzen‹ war das Schimpfwort einfach ›Kleinanleger‹. Das war ein komisch-groteskes, ganz im Beckett’schen Sinn verwendetes Wort. Es hat aber den Mann so verletzt, dass er laut meiner Interpretation eigentlich vor sich selbst zugeben müsste, dass er das ist  : ein ›Kleinanleger‹. Das will er aber partout nicht sein, also hat er gesagt  : ›Auf Wiedersehen, schöne Feier‹ – was für mich eine unglaublich authentische Reaktion war. Dieser Aspekt der Inszenierung hat freilich generell in der Bankenhochburg Luxemburg wesentlich stärkere Reaktionen ausgelöst als in Wien. Das ist das, was mir das Reisen so kostbar macht, weil sich erst da die künstlerische Qualität einer Produktion in der Gesamtschau – so sehe ich das zumindest für meine Arbeit – zeigen kann. Ich sehe schon  : Wir werden hier – oder ich werde hier – nicht alle Fragen beantworten können. Daher erzähle ich Ihnen noch von einer Großunternehmung zum Thema ›Drama und Gefühl‹, der ich meine reichsten Erlebnisse als Lehrende verdanke. Wir konnten – aufgrund der wunderbaren mdw-Einrichtung der ›Uni-Vision‹2 – am Reinhardt-Seminar ein von mir entworfenes Festival – ZORN – veranstalten, dessen künstlerische Leiterin ich auch sein durfte – zusammen mit großartigen Kolleginnen und Kollegen. Und vor allem mit begeisterten Studierenden, die sechs Produktionen auf die Beine gestellt haben, deren Qualität Publikum, Presse und Kollegenschaft frappiert hat. Das war auch gar nicht meine Leistung. Die Idee kam von mir, der wesentliche Rest war die Leistung der Studierenden. Was diese sogenannten AnfängerInnen in Schauspiel 120

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

und Regie – nicht nur in der sprichwörtlichen Begeisterung der AnfängerIn oder des Anfängers, sondern schlicht und ergreifend im Können der Begabten und Entschlossenen – da gezeigt haben, war staunenswert und berührend im besten Sinn. ›ZORN‹, ein Festival mit einem Gefühl als keyword und mit dem Untertitel ›Dramatisches Erzählen Heute‹. Dieser Untertitel führt uns direkt zu einer stets aktuellen Frage des Theaters. Also ich werde oft gefragt, ob denn gerade die emotionale Beteiligung des Publikums an einem Theaterabend (in unserem Zusammenhang, wie schon erwähnt, unabhängig davon, ob das eine enthusiastische oder empörte emotionale Richtung einschlägt) etwas mit dem Faktum der Narration zu tun hätte. Ist die emotionale Involvierung des Publikums (nochmals  : Wenn sie denn gewollt wird) durch das – wie auch immer geartete – Erzählen einer Geschichte besser zu erreichen  ? Und ich sage dann immer voller Freude  : ›JA‹  ! Angesichts dessen, dass ich trotz meines vorgerückten Alters und einer über 20-jährigen Karriere so charmant wie hartnäckig unter ›innovativer Jungregisseurin‹ schubladisiert werde, hat das schon die größten Irritationen ausgelöst. Dennoch  : Ja, ich bin davon überzeugt, dass da ein enger Zusammenhang besteht. Ich subjektiv bin es. Und ich bekenne  : Es gibt nichts, was mich persönlich mehr interessiert als das höchst raffinierte, kunstvolle, kontroverse und schonungslose Erzählen von Geschichten – auch am Theater. Das Theater ist definitiv nicht mehr das wichtigste Medium dafür, darüber muss niemand traurig sein – auch das hat dem Theater spannende Entwicklungen beschert. Das ändert allerdings nichts an meiner persönlichen Überzeugung, dass das Theater nach wie vor ein äußerst geeignetes Medium für die Narration ist und dass es sich unglaublich selbst bestiehlt, wenn es diesen Auftrag, diese Kunst innerhalb der darstellenden Kunst, in die Mottenkiste verstaut. Ich spreche hier selbstverständlich von den unterschiedlichsten Formen des Erzählens. Also ich spreche nicht von einer linearen oder geschweige denn dogmatisch realistischen 08/15-Dramaturgie (die übrigens auch gute realistische Dramen niemals aufweisen). Das ist aber das, was das Wort ›erzählen‹ anscheinend in den meisten leider fälschlicherweise auslöst. Entscheidend ist freilich die sorgfältige, akribische Wahl der Mittel, das Zulassen auch noch gänzlich fremder (geistiger) Kontinente im Bereich der dramatischen Narration. Die Variationsbreite der Textgestalten, die uns heute zum Inszenieren vorliegen, ist ungeheuer groß, und die Frage, die verzweifelte Frage, bei der nicht aufgegeben werden darf, ist die Frage nach Wahl und Kombination der richtigen Mittel für die künstlerische Gestaltung des Stoffes, die muss einfach jeden Tag neu beantwortet werden. Und wann wird das schon bedingungslos gemacht  ? Es gibt Rahmenbedingungen am Theater, ›Zwänge‹, die Premiere muss raus et cetera, wir müssen ja – um überhaupt mit diesem merkwürdigen 121

Anna Maria Krassnigg

Beruf Geld zu verdienen – Kompromisse machen  ; das ist die Wahrheit. Und doch kann es nur Tag für Tag darum gehen, dass diese kleine oder kleinliche Wahrheit die große Wahrheit relevanter Bühnenereignisse nicht verstellt und vernichtet. Merkwürdigerweise ist ein Vehikel, um das zu verhindern oder es zumindest ernsthaft zu versuchen, eben der ›Zorn‹. Der Zorn, der Veränderung will, der sich mit Halbherzigkeiten nicht abfindet. Ein kräftiger, auf ein produktives Werden gerichteter Zorn war als Grundgedanke durchaus leitend für die Programmierung des Festivals. Wir wissen ja alle (und wir Lehrenden wissen es auch aus dem Rückblick auf uns selbst), dass niemand so kritisch ist wie die Kunststudierenden, wie der oder die angehende KünstlerIn. Klischee hin oder her, das ist gut so. Noch besser wäre, wenn wir das alle (wenn auch bereichert durch empirische Erfahrungen) später im Rahmen der sogenannten Karriere nicht gänzlich verlören. Der Wille zu einer echten, auch schmerzhaften Suche nach der künstlerischen Wahrheit innerhalb einer Produktion ist brennend bei meinen Studentinnen und Studenten, bei meinen ›AnfängerInnen‹. Das ist insofern vielleicht verwunderlich, weil man sich dann oft denkt am Theater  : Wo ist es denn geblieben – das Feuer, die Suche  ? Und das denke ich mir selbstverständlich auch bei Ausbildungsstätten oft, auch in unserem Institut. Ich nehme mal an, dass Sie das auch von Ihren Instituten kennen. An einer Kunstinstitution ist es natürlich besonders schmerzhaft, weil es unser Auftrag ist, etwas zu ermöglichen, wofür Menschen irgendwann Geld bezahlen, auf dass sie über die engen Grenzen ihres faktischen Daseins hinausgehoben werden. Also wie verhindern wir das, diese traurige Paradoxie  : das radikale Wollen eingangs und dieser Staub und diese Vermottung dann sehr oft, wenn wir uns etwas am Theater ansehen  ? Vielleicht durch ein gesunde Portion von Empörung, durch ein Nicht-Abfinden mit Zuständen in der Welt und also auch in der Kunst und also auch an einem Institut. Daher ›ZORN‹ als logischer Untersuchungsgegenstand für ein Festival zeitgenössischer Dramatik am Max Reinhardt Seminar. Mir war gerade die zeitgenössische Literatur – und vor allem an unserem Institut, das nicht als Erstes damit in Verbindung gebracht wird – in Verbindung mit dem titelgebenden Gefühl so besonders wichtig, weil, wie gesagt, die Ähnlichkeit der Bedingungen die Empfänglichkeit oder die Möglichkeit, eine Emotion zu empfinden, unendlich potenziert. Ganz einfach gesagt, der Klara in ›Maria Magdalena‹ von Hebbel würde man heute sagen  : ›Mädel, nimm die Pille, das gibt sich.‹3 Das wäre eine sehr unvornehme und übrigens überhaupt nicht von Hebbel intendierte Aufforderung, aber man könnte es heute sagen und man hätte es zu Hebbels Lebzeiten nicht sagen können. Insofern ist man dann sehr froh, so sehr ich das Stück liebe (ich habe es selbst inszeniert, und da gibt es dann 122

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

ganz andere Probleme, um eben diese Anbindung zu erreichen), wenn jemand wie z. B. Franzobel todbringende Leidenschaften im Liebes- und Familienleben in heutigem Gewand präsentiert. Wie etwa den Irrsinn eines fast terroristischen Liebeswunsches in ›Liebesgeschichte‹, einer unserer Uraufführungen am Festival. Und natürlich macht Franzobel das formal und inhaltlich ganz anders als eine Nino Haratischwili oder ein Daniel Kehlmann, und genau diese unglaubliche Diversität des zeitgenössischen dramatischen Erzählens konnte auf dem Festival erlebt werden. Da gab es wirklich alles von einer Novelle bis zu nahezu klassischem Stückaufbau, bis zu Textsteinbrüchen oder lyrisch-musikalischen Formen, und doch gab es diesen Zündfunken der Narration oder eben der ›ungeheuren Begebenheit‹. Tatsächlich war es dann so, dass die sechs Inszenierungsformen, die von meinen Studierenden gewählt wurden, dermaßen diametral auseinandergegangen sind, dass mich ganz viele Gäste gefragt haben, ob das denn möglich sei an einer Schule  ? Ja, offensichtlich ist es das. Das war jedenfalls in den letzten Jahren ein Credo innerhalb der Regieklasse  : ›Wir nehmen verschiedene Früchte auf, lass uns bloß aufpassen, dass nicht ›Obstsalat‹ dabei herauskommt.‹ Denn das interessiert mich persönlich überhaupt nicht. Wenn ich für mein Haus eine junge Regisseurin, einen jungen Regisseur suche, dann suche ich etwas Spezifisches, das ich idealerweise nicht bin und nicht kann. Und wenn ich dann noch eine zweite Regisseurin oder einen zweiten Regisseur brauche, weil das Kulturamt sich berappelt hat und mir eine Subventionserhöhung gibt, dann werde ich das Gegenteil von dieser begabten jungen Kollegin oder dem begabten jungen Kollegen suchen. Insofern müssen wir auf Basis von künstlerisch-handwerklichen Grundsätzen die größtmögliche Diversität ausbilden – und nicht etwa EpigonInnen der jeweils amtierenden ProfessorInnen. Das war einer meiner größten Glücksmomente bei diesem Festival, dass diese sechs Produktionen – von der (einzigen) Bearbeitung eines antiken Stoffes bis zur szenischen Lesung des (prämierten  !) dramatischen Erstlings eines Regiestudenten – dermaßen unterschiedlich waren, dass deutlich sichtbar wurde, von welch bunt gewebtem Teppich wir sprechen, wenn wir heute über das Erzählen auf der Bühne verhandeln. Lassen Sie mich meinen assoziativen Spaziergang zum Thema ›Drama und Gefühl‹ hier beenden. Gerne mit folgendem persönlichem Fazit  : Ich erlebe als Theatermacherin, als Autorin und als Rezipientin Tag für Tag, dass da, wo ›Drama‹ und ›Gefühl‹ verschwistert bleiben dürfen, das dreidimensionale, aus dem Augenblick geborene Erlebnis des Theaters seine größte Wirkung entfaltet. Wirkung eben nicht im Sinne des Effekts, sondern des Eindrucks. Der Transport 123

Anna Maria Krassnigg

auch komplexester und intelektuell nur schwer zu erfassender Inhalte und Phänomene ist gerade durch das Theater, das das Gefühl nicht scheut, sondern als kostbares und schwieriges Transportmittel begreift und zu nützen weiß, in einer ganzheitlichen Weise möglich, die sonst nur mehr der Musik im tiefsten Sinn zur Verfügung steht. So weit der Versuch meiner Selbstbefragung. Jetzt können Sie mich befragen. Studentin  : Ich habe eine Frage in Bezug auf Gefühl und Drama  : Kann es etwas wie ›echtes Gefühl‹ im Theater überhaupt geben bzw. wie definieren Sie ›wahres‹ oder ›falsches‹ Gefühl  ? ›Wahr‹ ist, was eine geglückte Übertragung auf das Publikum generiert. Ich muss glauben können, dass der Schauspieler, die Schauspielerin, diese Menschen ›da oben‹ oder zumindest ›da vorne‹ mit dem, was sie tun, was sie vor mir performativ behaupten, in Deckung sind. Oft sind sie auch ›in Deckung‹, wenn sie das Gegenteil von dem ausstrahlen bzw. übertragen, was sie behaupten. Das kann selbstverständlich aus guten Gründen von einem Konzept gewollt werden. Wenn das gelingt, bin ich vielleicht positiv verstört, aber nicht in meiner Intelligenz als ZuschauerIn beleidigt, weil mir etwas glauben gemacht wird, was offensichtlich unglaubwürdig ist – weil künstlerisch schlecht oder dilettantisch gelöst. Das Einfangen eines emotional glaubwürdigen Moments im konkreten Augenblick ist eben etwas ungeheuer Faszinierendes und Komplexes, eine Kunst – die darstellende eben, der unsere Universität ihre zweite eigenschaftliche Definition verdankt (Universität für Musik und DARSTELLENDE Kunst Wien). Je höher entwickelt diese Kunst ist (auf Seiten aller am Projekt Beteiligten), desto künstlerisch besser wird ein Moment auf der Bühne entstehen, der im Zuschauer, der Zuschauerin Gefühle auslöst. Genauso wie die künstlerische Qualität einer Vielzahl solcher Momente unsere Möglichkeit oder Lust (als Publikum), über das Ereignis eines Theaterabends nachzudenken, beeinflusst. Die Frage  : Wie handelt (Drama) der Schauspieler, die Schauspielerin und was löst das auf der Bühne und am allerwichtigsten in weiterer Folge beim Publikum aus, bleibt uns nie erspart – in keiner Spielart der darstellenden Kunst. Student  : Wenn ich in Wien (und nicht nur hier) ins Theater gehe, habe ich aber sehr oft den Eindruck von ›bloßem Affekt‹, der mich emotional nicht und intellektuell schon gar nicht anspricht – und zwar oft gerade an Repräsentationshäusern, wo unbestritten ›darstellende Künstler‹ agieren. Ich erlebe da auch eine starke Vereinheitlichung, einen Mainstream. Daher kann ich das, was Sie fordern, selbst oft eher in ganz andern Theaterformaten – z. B. auch mit Laien – wiederfinden. 124

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

Also ich kann grundsätzlich alles, was Sie sagen, zu 100 Prozent nachvollziehen. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Repräsentationskultur oder Unkultur des Theaters, ich sag das jetzt mal sehr vergröbert, das Eigentliche, zu dem Verstand wie Gefühl gehören, sehr, sehr stark behindert und zerstört. Und ich finde das ganz traurig. Mir geht es sehr oft so, wenn ich mit meinen Studierenden ins Theater gehe  : An vielen Orten, übrigens auch an solchen, wo Sie es gar nicht vermuten würden, empfinden die Schauspiel- oder Regiestudierenden ähnlich wie Sie. Ein ungeheuer großer Teil unseres Kulturbudgets steckt einfach in musealen und hierarchischen Hüllen, die der eigentlichen Aufgabe in keiner Weise mehr nachkommen, weil sie ihr aus verschiedenen Gründen gar nicht mehr nachkommen können oder wollen. Also ich sehe das so und ich finde das hochproblematisch. Und natürlich gibt es zeitgleich Menschen und Strömungen (und es hat sie auch in der Vergangenheit immer gegeben und sie haben dem Theater die entscheidenden neuen Impulse gegeben), die diesem Missstand, der leider ein ewiger am Theater ist, entgegenzuwirken versuchen, hervorragende Leute, die sehr unterschiedliche und interessante Ergebnisse präsentieren – übrigens innerhalb und außerhalb des von Ihnen angesprochenen ›Repräsentationstheaters‹ (nur eben mit erheblichen Unterschieden in den budgetären Mitteln). Studentin  : Ist für Sie das Gefühl am Repräsentationstheater nicht mehr da  ? Oder ist es zu wenig da  ? Ist es zu viel da  ? Wie stehen Sie zum postdramatischen Theater, wie würden Sie sich dazu positionieren  ? Es ist weder zu wenig noch zu viel da, sondern es wird in Ermangelung von Zeit, Wollen, der Möglichkeit, ein Ensemble im Wortsinn der bedingungslosen, uneitlen Zusammenarbeit zu bilden, mangels Interesse an der Findung und Entwicklung des für ein Projekt richtigen Spielstils, aufgrund der maßlosen Unterschätzung des Publikums, der Bequemlichkeit, der Anpassung an einen medial regulierten Mainstream gar nicht in einer Weise probiert oder auf einer Höhe verhandelt, die dem Gegenstand angemessen wäre. Und zwar wie gesagt in den verschiedensten Theaterinstitutionen. Ich spreche hier nicht vom Scheitern, das immer möglich sein muss (und oft starke Impulse gibt  !), sondern vom grundlegenden Willen zu künstlerischen Bedingungen. Umso wohltuender ist es, wenn ein Gegenbeweis, das ›Es geht ja doch‹ geliefert wird. Ich kann allen, auch jenen, die kein Wort Tschechisch verstehen, als praktisches Anschauungsbeispiel einen Besuch des Prager ›Divadlo Komedie‹ empfehlen, das Dusan David Parizek derzeit noch leitet. Von der Intelligenz und Kohärenz des Spielplans bis zur geistigen und emotionalen Radikalität der dort arbeitenden darstellenden KünstlerInnen könnte man auf hohem Niveau über 125

Anna Maria Krassnigg

›Handlung und Gefühl‹ am zeitgenössischen Theater berichten. Und es gibt natürlich einige Beispiele dieser Art. Sie zu suchen und aufzusuchen lohnt sich in jedem Fall, wenn Sie sich für Theater interessieren. (Verlassen Sie sich diesbezüglich nicht allzu sehr auf die Anleitung des Feuilletons – das betrachtet dieses ›Aufspüren unausgetretener Pfade‹ schon lange nicht mehr als relevante Aufgabe.) Ja, und dann die aktuelle Gretchenfrage nach der Postdramatik. Unser Thema ›Drama und Gefühl‹ hat ja das Postdrama oder das Postdramatische wortwörtlich nicht im Fokus. (Wobei in einer gesonderten Veranstaltung zu diskutieren wäre, ob das postdramatische Theater auch dem eigentlichen Wort-Sinn nach ein Theater ›ohne Handlungen‹ oder ›nach dem Handeln‹ ist …) Ansonsten empfinde ich, dass es bei Theaterprojekten, die unter dem Begriff des Postdramatischen firmieren, genau wie im sogenannten dramatischen Theater Produktionen gibt, die großartig und Tore öffnend sind, und solche, die grauenvoll sind. Mein subjektiver Zugang ist der  : Alles, was auf einer Bühne oder ›im Licht‹, in der Betrachtung eines Publikums steht und daraufhin auch angelegt ist, zeigt, behauptet, positioniert sich, überträgt, wird zwangsläufig nach-›empfunden‹. Und mich persönlich zieht die darstellende Kunst, in deren Fokus professionelle KünstlerInnen der Menschendarstellung agieren, deshalb stärker an, weil die Künstlichkeit, das eben gerade Nicht-Realistische des Theaters (im Gegensatz etwa zum Dokumentarfilm) im Prozess der professionellen Darstellung hochsubtil entwickelt, erfunden, definiert, ausgearbeitet werden kann. Das ist etwa mit Laien, die über ein (mehr oder minder gelungenes) inszenatorisches Framing ihrer eigenen, persönlichen Befindlichkeiten und Positionen nicht hinauskommen können, nicht möglich – und konsequenterweise (etwa im dokumentarischen Theater) ja auch gar nicht gewollt. Das soll nicht heißen, dass da nicht Erhellendes und Wegweisendes dabei herauskommen kann. Mich ganz persönlich interessiert es aus den oben genannten Gründen einfach weniger. Mir sind keine interessanten darstellenden KünstlerInnen bekannt, die sich ›einbilden‹ die Wirklichkeit abbilden oder gar ›nachspielen‹ zu können. Darum ist es auch in jeder ernst gemeinten Form von Theater niemals gegangen. Die Bandbreite aber der Deckung oder Differenz zwischen Sprache und Handlung, zwischen verbaler und körperlicher Behauptung, zwischen Form und Inhalt hat so viele Facetten wie ein Regenbogen und ist ebenso schwierig einzufangen. Das ist naturgemäß nicht das Anliegen, ist nicht im Zentrum des postdramatischen Theaters zu finden – es ist aber genau das, was mich persönlich als Theatermacherin und Zuschauerin am meisten interessiert. Dazu kommt, dass ich leider ein extrem ungeduldiger Mensch bin, der zudem eine gewisse Reizschwelle oder Reizqualität benötigt, um sich zu konzentrieren, 126

Drama und Gefühl – noch immer Geschwister  ?

auf etwas einzulassen. Wenn ein theatrales Ereignis, sei es nun dramatisch oder postdramatisch, glückt, be-glückt es (dieses ›Theaterglück‹ kann selbstverständlich auch das Gesicht des ›Entsetzens‹ im Sinne der Erkenntnis haben). Wenn es aber misslingt, kann ich mich am dramatischen Theater oft zumindest von einer Geschichte oder einem aufregenden Stück Literatur – selbst wenn es entstellend gespielt oder inszeniert ist – ernähren, ich kann mich in meiner Ungeduld und Unkonzentration an einem Fädchen anhalten, das ich für mich bereichernd weiterspinnen kann.«

Anmerkungen 1 Sennentuntschi 2010  : schweizerisch-österreichische Ko-Produktion. Regie  : Michael Steiner, Dreh­buch  : Michael S ­ teiner, Michael Sauter, Stefanie Japp, Kamera  : Pascal Walder, Musik  : Adrian Frutiger, SchauspielerInnen  : Roxane Mesquida, Andrea Zogg, Carlos Leal, Joel Basman, Nicholas Ofczarek u. a. 2 uni:vision ist ein Förderprogramm der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), in dem künstlerische, künstlerisch-wissenschaftliche und wissenschaftliche Projekte von UniversitätsmitarbeiterInnen gefördert werden. Vgl. z. B. Krassnigg 2011. 3 Die Geschichte  : Klara wird ungewollt schwanger – kein Ausweg sichtbar, am Ende Suizid. Ein Trauerspiel aus dem Jahr 1843.

Literatur Margarete Affenzeller (2011), »Dennis Kellys Stück Die Waisen ›Wir sind ohne Absicht enorme Lügner‹. Interview mit Dennis Kelly«, in  : Der Standard vom 4./5. März 2011, abrufbar unter http  ://derstandard.at/1297819586030/Dennis-Kellys-Stueck-Waisen-Wir-sind-ohne-Absichtenorme-Luegner (25.08.2011) Peter Brook (1989), Wanderjahre, Schriften zum Theater, Film & Oper 1946–1987, Berlin Peter Brook (1998), Das offene Geheimnis, Frankfurt a. M. Georg Büchner (2003 [1836]), »Leonce und Lena«, in  : Ders., Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgaben mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz hg. v. Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Unter Mitwirkung von Arnd Beise, Darmstadt J. W. von Goethe (1960), »Gespräche mit J. P. Eckermann, Gespräch vom 29. Januar«, in  : Goethes Werke, hg. v. Erich Trunz, Hamburg Friedrich Hebbel (2002 [1843]), Maria Magdalena, Stuttgart Astrid Lange-Kirchheim (1999), »Die Hysterikerin und ihr Autor«, in  : Thomas Anz (Hg.), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg Anna Maria Krassnigg [2011], »Die Folgen von ZORN! Dramatisches Erzählen Heute«, in  : Note intern. Sondernummer  : uni:vision 2. Zwischenbericht geförderter Projekte, (o.O. o. J.) [Wien]

127

Anna Maria Krassnigg

Max Reinhardt (1989), »Rede über den Schauspieler«, in  : Ders., Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern, hg. v. Hugo Fetting, Berlin Arthur Schnitzler (1961 [1924]), »Fräulein Else. Eine Novelle«, in  : Ders, Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften Band 2, Frankfurt a. M. Konstantin S. Stanislawski (1999 [1955]), Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle. Materialien für ein Buch, 3. Auflage, Berlin Konstantin S. Stanislawski (1999 [Bd. 1  : 1961, Bd. 2  : 1963]), Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Berlin (Bd. 1  : Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, 5. Auflage, Berlin, Bd. 2 Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns, 5. Auflage, Berlin)

Film Sennentuntschi (Michael Steiner, Schweiz/Österreich, 2010)

128

Monika Meister

Transformierte Emotionen Elfriede Jelineks Theater »Sind ja nur Texte, was glauben Sie, was los wäre, wenn das Menschen wären  ! […] Ich spreche nicht Menschen.« ( Jelinek 2004, o. S.)

Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen die ästhetischen Verfahrensweisen und Strategien in Hinblick auf die Darstellung von Gefühlen, von Leidenschaften, Affekten, Emotionen. Ausgehend von der Negation traditioneller theatraler Identifikationskonzepte setzt Elfriede Jelinek gezielt Verfahrensweisen gegen die Einfühlung des Schauspielers, der Schauspielerin in die Rolle und des Publikums in die dargestellte Figur ein. Der Zweck der antiillusionistischen Techniken der Verfremdung und ironischen Brechung liegt in der Herstellung lustvoller Distanz, die das scheinbar Gegebene der Realität kritisch kommentiert und Erkenntnis möglich macht. Kurz  : Die Emotionen sind in den Texten und im Theater Elfriede Jelineks als konstruierte markiert, als ready mades einer Mediengesellschaft, als vorgefertigte Schablonen, die kein authentisches Ich, keine mit sich identischen Figuren darstellen.

Emotions-Diskurse in der Kunst Es stellt sich die Frage nach den Strukturen der Emotionen, der Gefühle, wobei die Begriffe in ihrer großen Breite und Vielfalt zu denken sind. Zugleich ist es unmöglich, auch nur annähernd den Kategorien und Aspekten des Begriffvolumens der Emotion gerecht zu werden, ohne Eingrenzungen vorzunehmen. In jedem Falle lässt sich Gefühl definieren als »leiblich-seelisches Involviertsein, das Besonderheit qualitativ erfahrbar macht und so Wirklichkeitsbesetzung möglich macht« (Bohlken/Thies 2009, 308). Der Begriff der Emotion kommt von emovere (= herausbewegen, emporwühlen) und er betrifft den ganzen Menschen. Die neueste Forschung geht davon aus, dass »kognitive Zustände nicht nur das Ergebnis der Hirnarchitektur sind, sondern des gesamten Körpers, insbesondere 129

Monika Meister

seiner Motorik« (Grau 2011, N3). Und hierbei kommt den Gefühlen grundlegende Bedeutung für die Konstitution des Subjekts, des Selbstbewusstseins zu. Das Herz als Metapher ist ein Beispiel für die dem Innen, einer Innerlichkeit zugeschriebene räumliche Gefühlssemantik (ebd.). Die kulturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte setzte sich neu und intensiv aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Begriff der Emotion auseinander  : mentalitätshistorisch, psychologisch, psychologiehistorisch, die Modelle der Affekte in den Künsten erforschend, historiographisch (die Geschichtsschreibung betreffend), in der Kommunikationsforschung, die menschliche Interaktion umfassend, aus der Perspektive der Genderforschung, die Diskursanalysen, die inszenierten Formen der Emotion betrachtend, in Hinblick auf Produktion und Rezeption von Kunst und Kunstprozessen (siehe  : Frevert u. a. 2011). Zu denken gilt, dass Emotionen historisch bedingt sind, von anthropologischen und kulturellen Kontexten abhängig. Emotionen sind bestimmt durch kulturelle Codes und Verhaltensweisen, Werte und gesellschaftliche Zuschreibungen. Es existiert nicht das gleichsam »natürliche« Gefühl, sondern dieses ist immer schon konstruiert. Die Gender-Forschung hat dies eloquent nachgewiesen ( Judith Butler). In den Künsten finden und erfinden sich die Emotionen, sind als geschichtliche Formationen Archiv und Quelle der auch wissenschaftlichen Befragung. Dabei kann es nicht darum gehen, zu wissen, was Menschen in vergangenen Zeiten gefühlt haben. Zu erforschen ist aber, wie sich das Wissen über Gefühle, die Vorstellungen von der emotionalen Beschaffenheit des Menschen, der Konnex zwischen Körper und Psyche, die Wertvorstellungen, Verbote und Idealisierungen manifestieren. Wie Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter festhalten, geht es in den Künsten um spezifische Emotions-Diskurse  : In künstlerischen Medien werden Emotionen oft in all ihrer Widersprüchlichkeit, Intensität und Lust performativ aufgeführt bzw. repräsentiert und evoziert und entfernen sich so von den abstrakten ideologischen Konzepten, auf denen sie basieren. (Hammer-Tugendhat/Lutter 2010, 11f.)

In historisch konkret fassbaren Kulturen, wie beispielsweise jener der Aufklärung, gewinnt die Begrifflichkeit des Gefühls ein spezifisches Profil. So werden Gefühl und Leidenschaft differenziert  : Die Leidenschaften sind das nicht Beherrschbare, die Gefühle regeln die Vernunft und umgekehrt. Dem Theater kommt hier eine besondere Bedeutung zu, auch weil erkannt wurde, welchen exemplarischen 130

Transformierte Emotionen

Ort die Bühne als Kraftwerk der Gefühle darstellt. So denken Joseph Vogl und Alexander Kluge in einem Gespräch über das Theater als »Reinigungsbad der Gefühle« nach, nicht ganz im Gegensatz zum Theater als moralische Anstalt. Das Theater kann aber auch »eine Differenzanalyse von Gefühlen« sein. Was sind Gefühle im Haushalt und was sind Gefühle auf der Bühne  ? Das ­Theater oder die Bühne machen diese Differenzanalyse möglich. Sie produzieren Verwechslungen, um Unterscheidungen zu üben. Politische Leidenschaft und Liebespassion, dazu die Intrige, das muß am Ende wieder sortiert werden, mit einem Rationalismus der Emotionen, der auf Arbeitsteilung besteht. (Kluge/Vogl 2008, 81)

Dies beschreibt die Ökonomie des Melodramas, ein im 19. Jahrhundert boomendes Genre, das vor allem im Kino seine Fortsetzung findet. In Elfriede Jelineks Theater ist auch diese Ökonomie am Werk. Allein in der Anordnung eines sich überbietenden Pathos, das ironisch gebrochen wird, finden sich solche Verfahrensweisen. Das zentrale Moment ist die Erkenntnis in das »Unpersönliche« der Seelenkapazitäten«, das Begreifen, dass die Emotionen, wie Vogl sagt, »herauslösbar aus den Ich-Gefäßen« sind (ebd., 83). Im Theater werde die »Separationsfähigkeit von Affekteinheiten vorgeführt«. »Sie gehören nicht mir, sondern sie zirkulieren, sie können sich hier und dort niederlassen. Und der große Betrug bestünde darin, zu glauben, es seien meine Gefühle oder nur meine Gefühle. Nein, sie sind Verschiebmasse, Container, Affektcontainer, die man verladen kann.« (Ebd.) In meinen Ausführungen geht es um dargestellte Emotionen im Medium des Theaters. Das Theater ist seit seinen Anfängen der Ort der Verhandlung von Gefühlen. Es prägt die europäische Kulturgeschichte, die Subjektwerdung des Menschen. Von Beginn an waren die Emotionen Gegenstand der Darstellung und der szenischen Reflexion. In der »Poetik« des Aristoteles gilt die Transformation der Emotionen, genauer des eleos und phobos (Mitleid und Furcht, Jammer und Schrecken), als ästhetische Bestimmung der Tragödie. In der antiken Rhetorik, der Lehre der Rede, ist das Wissen, welche Elemente Gefühle erzeugen, grundlegend.

Verhandlungsweisen von Emotion Elfriede Jelineks Theatertexte sind als komprimierte Emotionsmaschinen zu lesen, deren vielfach von Gefühlsfragmenten überlagerte Reden das kritische Potenzial aufzeigen, das diesen innewohnt. Die Entwendung von Emotionen wird 131

Monika Meister

durch das Theater und im Theater öffentlich gemacht. Man könnte das Schreiben der Jelinek als Transformationsverfahren von Emotionen bezeichnen, denen die Enteignung des Subjekts eingeschrieben ist. Es sind Texte, die die Emotionen als von den Individuen abgelöste zeigen und zugleich darauf hinweisen, wie die Medien sich dessen bedienen. Das eminent Politische von Jelineks Theatertexten liegt genau hier  : in der von den Medien usurpierten Macht über alles und alle. Was sind dann die Gefühle, wenn sie nicht mehr mir gehören  ? Literarische Texte – und konkret auf mein Thema bezogen  : Theatertexte –, die in ihnen kodierten Emotionen und deren theatrale Präsenz evozieren das Interesse. Es sind immer mehrfach vermittelte Gefühle, dargestellte Emotionen, mit denen LeserInnen und ZuschauerInnen konfrontiert sind. Die Darstellung selbst verhandelt und verwandelt die Emotionen. Ein reflexiver und selbstreflexiver Vorgang findet auf der Bühne statt, der öffentlich ist und das Öffentliche in vielfachen Aspekten konfiguriert. Das Theater ist der Ort, an dem das Private öffentlich wird. Dieses Paradox einer Ununterscheidbarkeit lädt die Texte von Elfriede Jelinek auf, gibt ihnen ihre besondere Wirkung der Insistenz. Der Sprache wird auf den Grund gegangen. Vorgefertigte Versatzstücke aus der Realität – was ist die Wirklichkeit  ? –, den Medien, den Akten, dem historischen Material, das auf Recherchen beruht, etc. werden aus ihren Zusammenhängen genommen und neu konfiguriert. Das ist in Hinblick auf die theatrale Präsenz von Emotionen von Bedeutung. Auch hier geht die Autorin auf den Grund und zeigt die öffentliche Verfasstheit von Gefühlen, ent-deckt deren Gemacht-Sein. Man könnte auch sagen, deren Konstruiertheit.

Theatertext und Emotion »Diese Texte sind für das Theater gedacht, aber nicht für eine Theater­aufführung. Die Personen führen sich schon selbst zur Genüge auf.« ( Jelinek 1999, 85) So äußert sich Elfriede Jelinek in der »Nachbemerkung« zur »Kleinen Trilogie des Todes« und benennt damit einen grundlegenden Widerspruch ihrer Theatertexte. Diese galten einige Zeit als unspielbar, mittlerweile behaupten sie sich als höchst theaterwirksam, gerade weil sie in der Differenz zum konventionellen Theater einen Spiel-Raum konstituieren, in dem die Versuchsanordnungen Jelineks als theatrale Sprech-Partituren funktionieren. Sperrige, gegen jede dramatische Handlungskonvention gesetzte, insistierende Kunstfiguren eröffnen auf der Bühne vollkommen neue Perspektiven der szenischen Darstellung. Womit hängt dies zusammen  ? 132

Transformierte Emotionen

Die Theaterstücke Elfriede Jelineks stehen im Kontext des post­dramatischen Theaters. Will man die Spezifik ihrer Theatertexte bestimmen, gilt es, sich mit der den Texten zugrunde liegenden Konzeption auseinanderzusetzen, mit einer Theorie der szenischen Repräsentation. Die Dramatikerin Jelinek nämlich liefert gleichsam parallel zu den Theatertexten deren theoretische Grundlegung mit – ein fulminantes Beispiel gegenwärtigen, auch heftig attackierten Theater­ denkens. Wie also soll das Theater sein  ? Welche Verfahrensweisen verwendet Jelinek  ? Wie schlägt die Autorin »sozusagen mit der Axt drein«1  ? Es ist jedenfalls keine versöhnliche Position, von der aus ein Theater behauptet wird, das sich eigentlich gegen das Theater stellt. Durchstreichung der Repräsentation, HierSein und Weg-Sein zugleich. Im Abwesenden das Anwesende aufscheinen lassen. Diese paradoxen Konstellationen sind genauer zu betrachten. Das Paradoxe überhaupt ist hier Methode. Geht man diesem nach, eröffnen sich Perspektiven eines Theatralitäts­modells, das Theorie und Praxis ineinander verschränkt, sich kommen­tiert und sich zugleich entzieht. Die Parameter der Analyse können vielfache sein. Das Werk Jelineks lässt sich aus höchst unterschiedlichen Blickpunkten betrachten. Alle fokus­sieren ein kompositorisch aus Versatzstücken präzise gebautes Textkunst­werk, das mit Alliterationen, Rhythmen, Brüchen, Bedeutungs­verschiebungen und Kalauern arbeitet und diese beständig thematisch kontextualisiert (vgl. Carp 2006). Die maschinelle Sprache der Jelinek (das Schreiben wird als Technik gehandhabt) und der politische Zugriff bestimmen die Verfasstheit der Emotionen, deren Transformation in szenische Präsenz. Diese lässt die Repräsentation hinter sich und fungiert paradoxerweise zugleich als Kommentar der Repräsentation. Die Texte eignen sich deshalb fürs Theater, weil ihnen die Rezeption bereits eingeschrieben ist. Es ist gleichsam ein vorweg­genommener Dialog mit den RezipientInnen, dessen Regeln den in den öffentlichen Diskursen sedimentierten Machtstrukturen folgen. Nicht die Autorin, so Peter Weibel (vgl. 2007, 439), spricht über die Welt, sondern sie benützt Texte, die über die Welt sprechen. Das von Jelinek verwendete Material kommt aus dem sprachlichen Fundus der Medien. Sie arbeitet mit semantischen Verschiebungen, Mehrdeutigkeiten, Verdichtungen. Ihre literarische Technik besteht darin, dass sie nicht über die Welt spricht, sondern sich hineinbegibt in Texte über die Welt, diese montiert, weiterschreibt, verschiebt, verdichtet und so erst – jenseits moralischer Wertung – ihr scharfes Urteil fällt. Dies gelingt nur deshalb, weil das Sprachmaterial ein bereits vorgefertigtes ist, in das eingegriffen wird. Die Methode besteht in der Anwendung der avancierten Sprachtechniken auf die Massenmedien. Dadurch wird das 133

Monika Meister

in die Massenmedien Transformierte als Verdrängtes freigelegt. Deshalb trifft sie ins Zentrum öffentlichen Redens und deshalb wird ihr auch so massiv und aggressiv erwidert. Jelinek seziert gleichsam das von den Massenmedien Fabrizierte, indem sie in dieses Material mittels ihrer literarischen Technik Schneisen schlägt. Dabei kommt dem Undefinierten zentrale Bedeutung zu. Peter Weibel formuliert es so  : Wie sie [Elfriede Jelinek] zwischen den Lebenden und Toten nicht strikt trennen will, sondern das Zwielicht der Untoten bevorzugt, so bevorzugt sie auch sprachlich das Zwielicht der Undefinition. […] Sie de-definiert, was definiert scheint. Sie ent-definiert, d. h., sie befreit, was abgeschlossen scheint. (Weibel 2007, 441)

Joachim Lux, der Dramaturg der Uraufführung von »Das Werk« am Wiener Burgtheater, bezeichnet Jelineks Verfahren als eines der »permanenten Selbstübermalung« und der »Ausbeutung der sprachlichen ready mades, die die Welt täglich zur Verfügung stellt« (Lux 2006, 43). Das Handwerkszeug dieses Verfahrens ist der Computer. Die in Konsum­sprache artikulierte öffentliche Sprache, die mit Buchstabenfolgen, Phrasen und Bedeutungen spielt. Es ist dies als antimimetisches Verfahren des Zitierens von bereits »öffentlichem« Sprechen zu bezeichnen. Ulrike Haß analysiert diese Materialaneignung in Perspektive auf ein chorisches Sprechen, ein wie immer zurechtgerichtetes, kollektives, also öffent­liches Sprechen. Mit Haß ist als Grundlage solchen Verfahrens zu setzen  : »Unter­schreitung des auktorialen Ich, Durchstreichung des Ursprungs, Mythen­ dekonstruktion« (Haß 1999, 72).

Sprechen und Emotion Keine Autorin spricht mehr und dennoch wird geredet. Jelinek zeigt, dass die Sprache immer eine schon gesprochene ist. Sprache, Schrift und soziale Klasse sind bestimmend. In einem im Herbst 2004 (nach der Meldung der Verleihung des Nobelpreises an Elfriede Jelinek) geführten Radio­gespräch mit Elisabeth Scharang sagt Elfriede Jelinek zwei bemerkens­werte Dinge  : einmal, dass sie als etwa Vierjährige begriffen habe, was Buchstaben bedeuteten, das A beispielsweise, abgebildet und gesprochen, und sodann, dass sie bereits in der Volksschule schnell die gesellschaftlichen Klassenunterschiede erkannt habe. Die Differenz von geschriebener und gesprochener Sprache ist insbesondere die Struktur der Theatertexte bestimmend. Deshalb auch kommt der menschlichen Stimme zen134

Transformierte Emotionen

trale Bedeutung zu. Stefanie Carp bringt Jelineks Sprache und deren körper­liche Transformation auf den Punkt  : Die Sprache in den Theatertexten Elfriede Jelineks braucht den Körper. Das Sprechen ist körperlich. Die Stücke sind Körpertexte. Man muß sie laut lesen, um sie zu verstehen. […] Es ist eine körperliche Aktivität nötig, um die Texte zu sprechen, zu spielen. (Carp 2006, 52)

»Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.« ( Jelinek 1997, 9) Sie sind gleichsam hergerichtet als Sprechende und insofern wird das Gesprochene zu einem Sein. Das ist ein einzigartiger Vorgang oder Zustand und dieser definiert das Theater. Dieses grundlegende Paradox des Schauspielers wird für Jelinek zum immer neuen Anlass, die Kunst des Theaters zu denken und in ihren Texten weiterzuweben. Mehr noch, sie legt die Texte SchauspielerInnen in den Mund. »Auf dem Theater kann jeder sich selbst begegnen und doch achtlos an sich vorübergehen, weil er sich dabei noch immer nicht fest genug getroffen hat. Ich glaube, das Theater ist der einzige Ort, an dem dies möglich ist.« (Ebd., 10) Jelineks Theatertexte stehen schief zum konventionellen Theater, negieren eingespielte Handlungsdramaturgien und Darstellungsweisen, stellen monomanisch maschinenartig sprechende Kunstfiguren auf die Bühne, denen die psychologisch motivierte Nachahmung verweigert wird. Es geht um das Paradox der Repräsentation und ihrer Verweigerung zugleich. Wo könnte diese Ambivalenz besser gezeigt werden als dort, wo sie sich konstituiert, auf dem Theater. Und zugleich betrifft dies unmittelbar die Beziehung AkteurInnen und ZuschauerInnen/ZuhörerInnen.

Konstruktion und Zerlegung Oftmals ist Jelineks Theater als ein Theater der Dekonstruktion bezeichnet worden. Dekonstruktion bedeutet Zerlegung der Konstruktion des Theaters in seine Mikro- und Makrostrukturen. Zu welchem Zweck geschieht dies  ? Um zu erkennen, wie und woraus es gemacht ist. Um die Ideologie von Form und Inhalt kenntlich zu machen und damit Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse zu entdecken. Das ästhetische Verfahren der Dekonstruktion ist kein Selbstzweck, aber es steht auch nicht zu Diensten anderer Intentionen. Die Dekonstruktion steht im Dienste der »Dissemination des Sinns« (Lücke 2007, 68) und diese heißt bei Jelinek »Assoziationsfähigkeit«. 135

Monika Meister

Auf der Basis der Behauptung der Differenz von einem möglichen Theater und der konventionellen Theaterpraxis, angewidert von den realen Verhältnissen am Theater, besteht Jelinek auf einem antinaturalistischen Impetus, auf der artifiziellen Konstruktion des Theaters, der Kunst und Wirklichkeit in einer spezifischen Verschränkung inhärent ist  : Ich bin fasziniert von der Idee des Ortes, wo man Sprache und Figuren öffentlich ausstellen kann. Wo Sprache und Figuren, ähnlich wie schon beim antiken Theater, diese Übergröße in der Präsenz bekommen können, die sie im Film nicht haben. Im Film kann man zwar durch künstliche Sprache und Stilisierung arbeiten, wie zum Beispiel Jean Marie Straub  ; aber das ist dann schon wieder abgestempelt als »experimentell«. Nur das Theater wäre der Ort der allergrößten Wirklichkeit und der allergrößten Künstlichkeit. ( Jelinek zit. in  : von Becker 1992, 2)

Jelinek will in diesem Rahmen, diesem alten Baukasten Theater, die äußersten Möglichkeiten und Grenzen der Relation von Natur und Kunst gleichsam durchdeklinieren. Solcherart wird auch die Natur, die Wirklichkeit als konstruiert erkennbar. Deshalb auch existieren in ihren Stücken keine psychologisch begründeten Figuren, keine naturgetreuen Abbildungen von Wirklichkeit. Vielmehr arbeitet Jelinek mit der literarischen Technik der Montage, mit der Komposition von Versatzstücken, mit Alliterationen, Rhythmen, Unterbrechungen, semantischen Verschiebungen, Mehrdeutigkeiten und Kalauern. Jelineks Theater wirft nicht zuletzt deshalb die Frage der Rezeption in komplexer Weise auf, weil hier dem Publikum die identifikatorische Zustimmung verweigert wird.

Paradox der Präsenz und Absenz von Emotion In Jelineks Theater wird die vergebliche Suche nach einem Zentrum des Subjekts vorgeführt. Und es wird – könnte man sagen – gezeigt, wie die Gefühle nicht den Subjekten gehören. Authentizität ist nicht länger per se gegeben. Die Zirkulation der Gefühle verläuft in Kurven und Schleifen  ; nicht die Gefühle sind dargestellt, sondern die Darstellung figuriert als die Rede der/über Gefühle. Aber nicht im Sinne eines »Außerhalb« des Hier und Jetzt. Darin liegt das provozierende Potenzial der Texte. Die Emotionen sind zum Verschwinden gebracht, werden aber zugleich in diesem Prozess des Verschwundenseins sichtbar. Wie diese keinen Ort haben, wird gezeigt, die Leerstelle der Emotionen markiert. Deshalb kommen diese in den Blick und ins Gehör. 136

Transformierte Emotionen

»Über Tiere« ist ein monologischer Theatertext. Eine einzige Suada der Rede, ein Redefluss. Die Sprache geht durch die Figur hindurch, die Figur ist nicht identisch mit dem, was sie spricht, und sie führt vor, wie die vorgeführten Emotionen enteignet sind. In diesem Text ist eine in der Geschichte und kulturellen Codierung hochgradig interpretierte Formation von Emotionen gebündelt, nämlich die der »Liebe«, mit den ihr immanenten Wendungen und Verkehrungen ins Gegenteil. Damit kommt überdies die Thematik der gesellschaftlichen Geschlechterrollen in den Blick, die Machtpolitik beispielhaft anhand des Pornographie-Diskurses transparent werden lässt. Jelinek entwendet die Männersprache, legt sie gleichsam zur Probe der Frau in den Mund, um auf diese Weise mittels des O-Tons die Gewalttätigkeit und Zerstörung zu zeigen. Jelinek interessiert das »Außer-Sich-Geraten [sic  !] in der Liebe«, wie sie in einem Gespräch sagt ( Jelinek 2007, 30). Es ist dies die Ekstase, in die der Text mündet und die wieder »im zweiten Teil auf das Schrecklichste demoliert und demontiert wird« (ebd.). Der äußerste Rand der Liebe, das Extrem, zeigt das in seiner Unbedingtheit leere Zentrum. Die Liebe ist ein unheilbarer Fall, schreibt Jelinek (vgl. ebd.).

Emotion und Geschlecht »Über Tiere« ist eine in zwei Teile gegliederte, im Jahr 2005 entstandene und veröffentlichte Arbeit. Es ist ein radikaler Text. Dokumentarisches Material wird zu einem Korpus transformiert, der – könnte man mit Heiner Müller sagen – ein »Furchtzentrum« bildet, um das die Wahrnehmung fokussiert. Dieses Furchtzentrum ist der organisierte Frauenhandel mit seinen Marktgesetzen, hier spricht der »Herr die Sprache des Herrn« ( Jelinek 2007b, 32), »und er hat es nicht nötig, blumig drum herumzureden. Er sagt, was er will, er bestellt und bezahlt, und die Frau wird benutzt.« (Ebd.) Der erste Teil des Textes »Über Tiere« kann »als eine innerliche Ansprache der Hingabe an einen abwesenden Geliebten gelesen werden« (Gaigg 2007, 52) und schließt an Jelineks Projekt Mitte der 1980er-Jahre an, »eine eigene (weibliche) Sprache für das Begehren zu finden«. Beispielsweise führen ihr Roman »Lust« (1989) und der Text »Begierde und Spracherlaubnis (eine Pornographie)« (1986) das Scheitern einer weiblichen Sprache der Lust und Sexualität (die Darstellung des Obszönen ist vom männlichen Blick usurpiert) vor – Anti-Pornos, die die pornographische Sprache parodieren und auf die Spitze treiben, um so 137

Monika Meister

die Gewalt- und Machtverhältnisse offenzulegen. Davon ist in »Über Tiere« keine Rede mehr. Im diesem Text ist das Sprechen der Frau im ersten Teil ein »Außer-SichGeraten [sic  !] in der Liebe, bis in die (sprachliche) Abstraktion hinein« ( Jelinek 2007b, 30). Die Frau wird hier nicht gekauft, sondern sie ist eine, »die bereits verkauft ist, ohne es zu wissen« ( Jelinek 2007, 22). Der Ekstase, dem Außersich-Sein in der Liebe, dem Phantasma der Liebe gilt das Interesse. Die Ekstase wird im zweiten Teil wieder »demoliert und demontiert«, wie Elfriede Jelinek sagt. Der Text elaboriert, »wie weit ich Macht habe über mein eigenes Sprechen, und zwar mein Sprechen über meinen Objektstatus in der Liebe« ( Jelinek 2007b, 31)  ; es geht nicht um die Liebe selbst, sondern um das Sprechen darüber. Und  : Es geht um das Paradox der »Gewinnung«, des »Destillierens« eines »weiblichen sprechenden Subjekts aus der Unmöglichkeit seines Existierens« (ebd.). Die (unmögliche) weibliche Subjektwerdung ist »eine Überschreitung, die nicht vorgesehen ist« (ebd.). »Lieben ist eine bestimmte Art von Angewiesensein, mein sonderbarer Herr« – so beginnt der erste Teil von »Über Tiere«  ; auf dieses Angewiesensein antwortet der zweite Teil des Textes. Ausgangspunkt für diesen zweiten Teil waren die im »Falter« abgedruckten Auszüge von Abhörprotokollen einer noblen Wiener Begleitagentur, die vorwiegend osteuropäische Frauen, zum Teil Minderjährige, an »Wiens ›High Class Gentlemen›« (Klenk 2007, 24) vermittelt. »Diese Gespräche wurden im Rahmen eines Lauschangriffes […] geführt. Die Polizei zeichnete die Telefonate auf« (ebd.). Die Protokolle geben Einblicke in die Strukturen des organisierten Frauenhandels, die Bestellung, Aktionspreise, Wünsche etc. In diesem zweiten Teil findet ein Sprechen des Männlichen statt, das – in Bezug auf den Objektstatus der Frau gedacht – wenig überraschend ist. »Sie [die Abhörprotokolle] haben mir nichts gesagt, was ich nicht schon gewußt hätte«, so Elfriede Jelinek »Aber es hat mir die Sprache geliefert, die ich dafür nicht gehabt hätte.« ( Jelinek 2007b, 31) Jelinek zitiert das Material, fügt die Zitate in ihren Sprachfluss ein, verfremdet sie durch neue Kontextualisierung. Umso deutlicher wird das, wovon hier die Rede ist. Diese Protokolle haben mir eine ganz neue Sprachebene geliefert, sozusagen in Mitschrift, als Protokoll, neue Balken, die ich in die Decke einziehen konnte, sie sprechen sich selbst und für sich selbst, die Zitate. Ich hätte mir diese Sprache nicht ausdenken können, obwohl ich natürlich immer wußte, daß so über Frauen gesprochen wird. (Ebd., 32)

138

Transformierte Emotionen

Die Autorin hat sich aus dem Material herausgenommen, was sie brauchen konnte. Wie sie sagt  : […] die Texte sozusagen literarisiert durch selektive Auswahl und dann mit Eigenem verklebt. Das ist ja meine Methode, wenn ich mit fremdem Material arbeite  : Ich stoße herab wie ein Adler, ich meine eine Krähe, die einer anderen ein Auge aushacken will, und dann bohre ich mir halt den Teil heraus, den ich essen möchte. Ich habe am Schluss nur Aussprüche jener Frau eingefügt, die unter religiösem Wahn gelitten hat. ( Jelinek 2007c, 22)

Im zweiten Teil »spricht nun wirklich unverfälscht das Subjekt, und es spricht eine Art von Objektsprache, denn dieses Subjekt sucht ein Objekt, das er bearbeiten will. Dieser Kunde sagt, wie seine Bestellung aussehen soll, sie wird geliefert, bezahlt, bearbeitet und aus. Sozusagen Klartext.« ( Jelinek 2007b, 31) Diese »unverstellte Objektsprache«, der O-Ton, die Originalsprache, entspricht dem Sprechen von Männern über Frauen. So kommt die Kennzeichnung der Frau als Warenform, als Objekt des kapitalistischen Systems in den Blick, die Jelineks Schreiben von Anfang an bestimmt. Wie geht die Autorin mit dem in diesem Text durch das Material gegebenen Voyeurismus um  ? Die Zersetzung des Voyeurismus in Jelineks Text hat mit der Technik der Komposition, der Stimmenführung zu tun  : »Die Einfügung der sprachlichen ready mades aus der realen Situation des Männergesprächs in den Textfluss der Autorin raubt deren abbildende Kraft.« (Stegemann3 2007, o. S.) Die »Redseligkeit«, das Gefühl, dass das Sprechen der Figur unendlich weitergehen könnte, resultiert aus jenem oben angedeuteten Paradox der Unmöglichkeit der Subjektwerdung und der gleichzeitigen Überschreitung dessen. »Außer Sprechen bleibt der Frau ja nichts.« ( Jelinek 2007b, 31) »Und diese Sprache wird so gesprochen, dass sie kein Abbild des Sprechenden mehr erzeugt.« (Stegemann 2007, o. S.) Die Schauspielerin ist hergerichtet als Sprechende.

Poetik der Emotion Die Schlusssequenz des zweiten Teils von »Über Tiere« besteht aus montiertem Material eines authentischen Falls von Exorzismus (Anneliese Michel) aus den 1970er-Jahren. Die Sprache ekstatischer Besessenheit, der Vernichtung jeglichen Begehrens, wird verschränkt »mit den banalsten Sätzen der Kundenberatung« (ebd.) der männlichen Verkaufsgespräche und endet in totaler (Bild-)Zerstörung. 139

Monika Meister

Die Methode Jelineks rückt das Entfernteste in die Nähe  : Indem Teile dokumentarischen Materials »mit Eigenem verklebt« werden, schieben sich religiöser Wahn und Abhörprotokolle von Männergesprächen über Frauenmaterial ineinander. Die Differenz zwischen dem dokumentarischen Material und dem, was die Autorin den Figuren zuschreibt, öffnet einen Raum des emotionalen Aus- und Eindrucks. Hier knüpft Jelinek an Brecht an, an dessen Denken der Unmöglichkeit der puren Abbildung von Wirklichkeit  : So entstünden nur flache Abziehbilder der Realität. Deshalb muss eine »übertriebene, eine gebeugte Wirklichkeit« gebaut werden (Lux 2006, 49). Der Text will »Bericht erstatten«, wie der Regisseur Ruedi Häusermann sagt (Häusermann 2007, 45). Er verlangt idealerweise eine interpretationslose Erzählung, »d. h., dass die Erregungen und ihr Abflauen in den Worten selbst zum Tragen kommen und nicht nachgespielt werden« (ebd.). Antimimetische Impulse, die Verweigerung von Nachahmung, bestimmen die szenische Struktur. So erst – über verfremdete Darstellung, man könnte auch sagen  : über ausgesetzte Nachahmung – kommt die Wirklichkeit in den Blick. Nochmals  : Es handelt sich nicht um einen Text für ein dokumentarisches Theater, ganz ähnlich, wie es für das Stück »Ulrike Maria Stuart« gilt. Das dokumentarische Material, die sprachlichen ready mades, werden zerschnitten, die Teile zusammengefügt – ein geradezu technischer Vorgang, eine exzessive »permanente Selbstübermalung« (Lux 2006, 43), deren arbeitstechnische Bedingung der Computer ist. Der Effekt dieser Verfahrensweise ist bedeutend für die Kennzeichnung von Jelineks Theater und im Hinblick auf die zeitgenössische Bühne insgesamt  : Erst durch den Eingriff in das Realitätsmaterial – hier die Protokolle –, durch die Schnitte und Hinzufügungen entsteht der Jelinek’sche Sprachfluss. So gewinnt das, was wir hören und sehen, an geradezu unheimlicher Brisanz jenseits des üblichen Betroffenheitspathos. Im avancierten zeitgenössischen Theater findet keine plakative Verdoppelung des Textes statt  ; die fragmentierten Narrationen verunmöglichen dies weitgehend. Jedwede bloße Bebilderung, Illustration schließt sich aus, weil diese der Assoziationsvielfalt nicht standhalten könnte und die Sprache das Reservoir der Bilder ist. Jelineks Texte fordern zu szenischen Gegenentwürfen auf. Für die Autorin ist entscheidend, dass ihre »Vorstellung von Theater eben darin besteht«, dass sie den Regisseur, die Regisseurin als ihren Co-Autor oder ihre Co-Autorin betrachtet  : »Es liegt mir nichts daran, meine Vorstellungen realisiert zu sehen, denn von denen weiß ich ja, wie sie aussehen. Ich möchte über meine eigene Arbeit etwas erfahren, das ich vorher nicht gewußt habe.« ( Jelinek 2007b, 22) Das ist weit entfernt vom konventionellen Literaturtheater und kennzeichnet Jelineks Bezug zur zeitgenössischen Bühne  : Den Text als Sprech-Partitur, die 140

Transformierte Emotionen

Sprache in ihrer musikalischen Konstruktion zu verstehen – das ist die Voraussetzung der szenischen Arbeit, die sich dem Publikum als offen präsentiert.

Musikalische Struktur und Emotion Ruedi Häusermann hat im Mai 2007 in der Burgtheater-Inszenierung von »Über Tiere« eine solche Gegenwelt entworfen. Der sprachlichen Suada, dem Redefluss, Redezwang der Sprechenden, der Sprachkomposition, dem hochartifiziellen »Klang« von Jelineks Sprache stellt der Regisseur Ruedi Häusermann eine andere Klangwelt gegenüber, die sich aus zwölf auf der Bühne befindlichen Pianinos generiert, wobei die in ihrer Funktion als Möbelstücke meist immobilen Klaviere in Bewegung gebracht werden. Es ist eine musikalische Gegenwelt, »die auch eine Optik schenkt, die inhaltlich einen eigenen Wert transportiert und Assoziationen auslöst, mit denen ich spielen kann« (Häusermann 2007, 44).

Abb. 1 und 2  : Ensemble, Burgtheater 2007, Copyright  : Reinhard Werner

Links neben der Bühne drängeln sich elf abenteuerlich verkeilte Klaviere, die zugehörigen Pianisten werfen ihre Metronome an und stürzen sich hochkonzentriert, weil rhythmisch leicht verschoben, in Mozarts lieblich ausgeleierte d-moll [sic  !]-Fantasie, die in der folgenden halben Stunde mehrfach zerlegt, wieder zusammengesetzt und verschiedenen Klimastürzen ausgesetzt wird. Währenddessen rücken die Klaviere schubweise und ohne größere Kollisionen in den Bühnenkasten vor, angeführt von einer Frau im blauen Kleid (Annalis Derossi), die schließlich sicht- und hörbar den Ton angibt. Das war die musikalisch-optische Gegenwelt. (Wille 2007, 21.)

141

Monika Meister

Abb. 3 und 4  : Sylvie Rohrer, Burgtheater 2007, Copyright  : Reinhard Werner

In diesen Raum der Instrumente und Möbel und Klänge tritt die Schauspielerin Sylvie Rohrer im blauen Kleid. Sie betritt ganz rechts die Bühne  ; dort steht ein kleines Podium, darauf ein Sessel, eine Lampe. Die Schauspielerin nimmt ihre Position ein. Die Hände in den geöffneten Schoß gelegt. Der Körper zeigt keine Emotionen, ist ruhiggestellt, nur der Brustkorb bewegt sich, manchmal eine kleine Kopfbewegung. Keine Geste. Konträr dazu der Mund, die Sprechorgane  : Das rhythmisch strukturierte, schnelle, ununterbrochene Sprechen der Schauspielerin Sylvie Rohrer gibt den Ablauf der Zeit vor. Und das Metronom, die hörbare Zeitmessung, bestimmt den Sprech- und Klangraum. Keine Zeit für ein entspannendes Aufatmen. Es ist ein Sprachstrom, der in die Figur einfließt oder aus ihr herausfließt. Vom Atem strukturiert. Oder, wie Elfriede Jelinek in einem anderen Stückzusammenhang festhält  : »[…] vielleicht kann man auch besser sagen  : Luft.« »Sprache ist ja eh nichts andres  : Luft, die aus Mündern kommt.« ( Jelinek 2006, 9) Häusermann versteht den Text als Musik. »Deshalb müsse man dieser geschlossenen Komposition ›theatralisch die Stirn bieten und eine musikalische Welt entgegenstellen, die erst einmal nichts damit zu tun hat, aber eine eigene Optik und Qualität habe.« (Wille 2007, 21) Der Regisseur nennt seine Inszenierung »musi142

Transformierte Emotionen

kalische Durchquerung«, deren »Boden« die d-Moll-Fantasie von Mozart darstellt, eine jeder Hörerin, jedem Hörer vertraute und wunderschöne Melodie, konträr dem Text gesetzt. Von vertrautem Material aus – auch Klaviere sind vertraut – werden Schnitte an eben diesem Material vorgenommen, um eine Fremdheit und neue Dynamik entstehen zu lassen, »ein Gefühl des Bodenlosen« (ebd., 44). Auch Musik liefert ja Bilder. Durch eine kleine Drehung lässt sich diesen Bildern der Teppich wegziehen. […] Ich möchte auf jeden Fall eine Klangwelt schaffen, die an diesem Abend etwas Drittes neben Jelineks und Mozarts Stimme darstellt und die von etwas Konkretem in etwas Abstraktes führt. In den Zwischenräumen bzw. den Rändern dieser je eigenständigen Welten, [sic  !] wird die jeweilige andere umso klarer hervortreten. (Ebd.)

Das heißt, dass es konzeptionell um die Herstellung von Abstand, Distanz geht, Abstand vom Text – auch für die Schauspielerin keine Identifikation, sondern vielmehr gilt der Anspruch, die Worte wie Notenwerte zu behandeln.4

Atem und Emotion »Meine Stücke konstituieren sich aus Stimmen. Die ich Personen zuschreibe. Das ist, als ob man Schablonen ausmalen würde.« ( Jelinek 2006, 8) Die Luft, das Luftholen ist Bedingung des Lebens. Für das Sprechen am Theater körperlich, materielle Voraussetzung. Es ist bemerkenswert, wie in der theatralen Rede, der klanglichen Struktur von Reden und Schweigen, den Pausen und den Unterbrechungen das Luftholen gezeigt oder versteckt wird. Hier in der Inszenierung von Ruedi Häusermann wird diese Notwenigkeit des Luftholens durch die Form des Sprechens vollkommen transparent. Jelineks Figuren sind samt und sonders von einem gewaltigen Sprech-Impetus angetrieben. In ihrem 2005 veröffentlichten Text »Sprech-Wut« zeigt sie ausgehend von den Schiller-Figuren aus »Maria Stuart« – im Kontext der Entstehung von »Ulrike Maria Stuart« – deren Aufladung  : »Es wird geredet und geredet in meinen Theater-Vorstellungen. Es wird nichts als geredet, und die Redenden warten sofort, kaum haben sie ausgesprochen (nicht  : sich ausgesprochen), darauf, daß noch mehr Rede ankommt, die sie gleich weitergeben können.« ( Jelinek 2005, o. S.) Sylvie Rohrer spricht den Text gleichsam interpretationslos und gerade deshalb berührend, ohne Rührung. Es ist, als ob der Text durch die Schauspielerin 143

Monika Meister

hindurchginge. Der Körper ist das Klanggehäuse für die Sprache. Wie Franz Wille in »Theater heute« schreibt  : […] ein forttreibender Redestrom aus Sprachlust und Konzentration, der sich von Silbe zu Silbe weiterspült, bis die Zunge dem Denken davonläuft, dann wieder Tempo regelt, sich einholt, überholt, Zwischengedanken fasst, zum Assoziationssprung abhebt, bremst, kurz Luft holt, stutzt, neu denkt, weiterrast, mäandert, stoppt, überlegt, wieder sprudelt. Eine organische Umsetzung von Jelinekrede in Körperstimme. (Wille 2007, 21)

Hier wird sicht- und hörbar, dass Denken und Fühlen und Reden sich bedingen, überlagern, auseinanderlaufen, nicht übereinstimmen und sich dennoch treffen. Versprechen, das Silbenvertauschen, das im Reden markierte Denken mit seinen Abbrüchen und Assoziationen machen diese Vorstellung zum Parcours der die Rede strukturierenden Emotionen. Ein Kunststück im eigentlichen Sinn des Wortes. Die Emotion, der Ausdruck sitzt »nicht in der Gestaltung, sondern in der Abfolge der Töne« (Häusermann 2007, 45). Dadurch wird erfahrbar, dass es hier nicht darum geht, etwas nachzuspielen, sich mit Vorgegebenem zu identifizieren, sondern Stimme zu sein, Stimme als Körpermaterial einzusetzen, um Distanz zu gewinnen zum Text. Emotion entsteht durch den Entzug von Emotion, die gezeigte Leerstelle dessen. »Die Worte gehen durch einen Körper, werden Stimme  ; die erzeugt einen Klang, der die enorme erzählerische Kraft weiterträgt, die dieser Text hat.« (Ebd., 46) Für Häusermann geht es um die Gleichzeitigkeit dieser beiden eigenständigen Welten, der Text- und musikalischen Welt, um das Spiel mit der Schärfe und Unschärfe, die durch die Parallelität entsteht. Man könnte in Bezug auf Jelineks Theatertexte und konkret auf »Über Tiere« von spezifischen Energien sprechen, die die Rede strukturieren. Diese energetische Schubkraft ist in Gang gesetzt von einem Begehren, von emotionalen Formationen, die in der theatralen Transformation des Textes eine Aussagekraft gewinnen. In Ruedi Häusermanns Inszenierung geht es darum, Jelineks Text szenisch hörbar und sichtbar zu machen, seine sinnliche Qualität, seine subkutane Struktur zu erfassen, ohne zu dekorieren oder theatralisch zu überhöhen. Es ist hier eine Gegenwelt zum Text entworfen, in der das Publikum herausgefordert wird, sich als Teil der Performance wahrzunehmen, in einer Art gleichschwebenden Aufmerksamkeit dem Klangraum und dem visuellen Rhythmus in seinen ästhetischen Verfahrensweisen zu folgen und diese weiterzuführen. Das performative 144

Transformierte Emotionen

Potenzial des Textes »Über Tiere« liegt in seinem Körper- und Klangraum, in seinen Überschneidungen von Atmen und Sprechen, in der rhythmischen und musikalischen Struktur. Die dem Text zugrunde liegende Codierung der Emotionen, die politische Geste der Empörung, wird in der szenischen Übersetzung als hohe Körperkonzentration wahrnehmbar. Der stillgestellte Körper – die gleichsam durch die Sprachorgane und Atemwege evozierten Emotionen sind zurückgenommen – reduziert auf ein Minimum, aber in dieser Reduktion wird Emotion präsent.

Anmerkungen 1 Titel eines Textes von Elfriede Jelinek zum Theater aus dem Jahr 1984. 2 Die Choreographin und Regisseurin Christine Gaigg arbeitete in ihrer Inszenierung von »Über Tiere« mit 12 TänzerInnen (davon waren drei Männer) und 4 SchauspielerInnen (2 Männer, 2 Frauen). Produktion des Theaters am Neumarkt in Koproduktion mit 2nd Nature, Zürcher Festspiele und Tanzquartier Wien, 2007. 3 Bernd Stegemann war der Dramaturg der deutschen Erstaufführung von »Über Tiere« in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin im Mai 2007. 4 Sylvie Rohrer in der Diskussion am 21. 10. 2007 im Kasino am Schwarzenbergplatz.

Literatur Eike Bohlken, Christian Thies (Hg.) (2009), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart/Weimar Stefanie Carp (2006), »Die Entweihung der heiligen Zonen. Aktualisierte Rede zur Verleihung des Heinrich-Heine Preises an Elfriede Jelinek im Jahr 2002«, in  : stets das Ihre/Elfriede Jelinek. Theater der Zeit. Arbeitsbuch, hg. v. Brigitte Landes, Karl Baratta et al., Berlin, 48–52 Ute Frevert, Christian Bailey, Pascal Eitler, Benno Gammerl, Bettina Hitzer, Margrit Pernau, Monique Scheer, Anne Schmidt, Nina Verheyen (2011), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. Christine Gaigg (2007), »Die Vorgänge unterminieren«, in  : Elfriede Jelinek. Über Tiere. Programmheft des Theaters am Neumarkt in Koproduktion mit 2nd Nature, Zürcher Festspiele und Tanzquartier Wien, 4–9 Alexander Grau (2011), »Philosophie der Gefühle. Halbdinge«, in  : FAZ, Nr. 103, 04. 05. 2011 Daniela Hammer-Tugendhat, Christina Lutter (Hg.) (2010), Emotionen. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2010, Bielefeld Ruedi Häusermann im Gespräch mit Judith Gerstenberg (2007), in  : Programmheft Burgtheater, Wien, 43–46 Ulrike Haß (1999), »Im Körper des Chors. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks EIN SPORT-

145

Monika Meister

STÜCK am Burgtheater durch Einar Schleef«, in  : Transformationen. Theater der Neunziger Jahre, hg. v. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler (Theater der Zeit. Recherchen 2), Berlin, 71–82 Elfriede Jelinek (1984), »Ich schlage sozusagen mit der Axt drein«, in  : TheaterZeitSchrift 7, Berlin, 14ff. Elfriede Jelinek (1997), »Sinn egal. Körper zwecklos«, in  : Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder sie machens alle. Wolken.Heim, Reinbek b. Hamburg, 7–13 Elfriede Jelinek (1999), Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek b. Hamburg Elfriede Jelinek (2004), »Der Laufsteg«, Rede gehalten am 20. 06. 2004 in Mülheim/Ruhr, anlässlich des Mülheimer Dramatikerpreises 2004, abrufbar unter  : http  ://a-e-m-gmbh.com/wessely/flaufste. htm Elfriede Jelinek (2005), »Sprech-Wut«, abrufbar unter  : http  ://a-e-m-gmbh.com/wessely/fschille.htm Elfriede Jelinek (2006), »,Vier Stück Frau›. Vom Fliessen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek«, in  : »Ulrike Maria Stuart«. Programmheft Thaliatheater, Hamburg, 7–23 Elfriede Jelinek (2007), »Über Tiere« in  : Programmheft Burgtheater, Wien, 5–23 Elfriede Jelinek im Gespräch mit Judith Gerstenberg (2007b), in  : Programmheft Burgtheater, Wien, 30ff. Elfriede Jelinek (2007c), »Stolz ist mir sehr fremd«, in  : Falter, Nr. 18,Wien, 22f. Alexander Kluge, Joseph Vogl (2008), Soll und Haben, Zürich Florian Klenk (2007 [2005]), »Einfach hinklatschen«, in  : Falter Nr. 34, zit. in  : Programmheft Burgtheater, Wien, 24–29 Bärbel Lücke (2007), »Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren und das Theater der Dekonstruktion«, in  : Elfriede Jelinek  : »Ich will kein Theater«. Mediale Überschreitungen, hg. v. Pia Janke, Wien, 61–85 Joachim Lux (2006), »Die Heimat, der Tod und das Nichts. 42.500 Zeichen über die Heimatdichterin Elfriede Jelinek  : kurz und bündig«, in  : stets das Ihre/Elfriede Jelinek. Theater der Zeit. Arbeitsbuch, Berlin, 34–46 Bernd Stegemann (2007), »Über Tiere. Ja natürlich«, in  : Programmheft des Deutschen Theaters, Berlin (o. S.) Peter von Becker (1992), »Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz – Gespräch mit Elfriede Jelinek«, in  : Theater heute, Nr. 9, Berlin, 1–9 Peter Weibel (2007), »Mediale Montagen. Literatur im elektronischen Zeitalter zwischen Massenmedien und Subjektaussagen«, in  : Elfriede Jelinek  : »Ich will kein Theater«. Mediale Überschreitungen, hg. v. Pia Janke, Wien, 437–445 Franz Wille (2007), »Typisch Frauenfall«, in  : Theater heute, Nr. 7, Berlin, 20–23

146

Marie-Luise Angerer

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst It seems to me that alternative political action does not have to fight against the idea that power has become affective, but rather has to learn to function itself on that same level – meet affective modulation with affective modulation. (Massumi 2003)

Das bedeutet, so Brian Massumi, dass wir Politik stärker unter einem theatralischen und ästhetischen Gesichtspunkt sehen sollten  : Politik hat eine performative Verschiebung in sich aufgenommen, die sie zwingt, mit anderen Mitteln ihre Einsätze zu bestreiten. Wesentlich hierfür sind die Allgegenwärtigkeit der Medien und deren Entwicklungen, also das Schwinden des Einflusses der klassischen Massenmedien Fernsehen und Radio und die Erstarkung von Kommunikationstechnologien wie Internet, Smartphones sowie die Ausbreitung technischer agencies, technischer Handlungsträger oder Maschinen, die ohne menschliche Steuerung (z.B. Computer an Börsen) agieren. Parallel zu dieser technischen Entwicklung verläuft eine libidoökonomische, die die psychischkollektive Individuation entsprechend der ökonomisch-technischen Veränderungen um-schreibt. Von der Höhlenmalerei über die Keilschrift zur Photographie, zu Film und Fernsehen bis zu Computer, Internet und Smartphone muss die Geschichte der Menschheit, so der französische Medienphilosoph Bernard Stiegler, als eine seiner Zeitobjekte verstanden werden, die das verhandeln, was den Menschen, sein Gedächtnis und damit seine Geschichte ausmacht  : Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Heute jedoch, so Bernard Stiegler in »Das Denken bis an die Grenzen der Maschine«, erleben wir eine »Ekstase der Zeit« (Stiegler 2009, 69), die vor allem der Industrialisierung des 20. und 21. Jahrhunderts geschuldet ist. Das menschliche Subjekt, das sich wesentlich über seine Mnemotechniken, also Gedächtnistechniken, definiert, unterliegt nach Stiegler gegenwärtig neuen »Zeitigungsprozessen«, einer neuen Stufe von medialen Zugriffen auf sein Bewusstsein, die neue Individuationsprozesse einleiten, die Stiegler als »Industrialisierungsprozess des Gedächtnisses« (ebd., 70) beschreibt, eine »politische 147

Marie-Luise Angerer

und industrielle Ökonomie, die auf der industriellen Ausbeutung von Bewusstseinszeiten beruht« (ebd.). Die Konsumentenkörper als Egomassen bilden dabei die globalen Absatzmärkte einer Industrie, die das Bewusstsein dieser Körper degradieren und zerstören, vergleichbar der Ausrottung von Tierarten und der Zerstörung natürlicher Ressourcen. Noch nie hätte eine derart industrielle Bearbeitung der Wunschökonomie stattgefunden wie gegenwärtig durch user profiling und andere virale Marktstrategien. In dieser neuen Strukturierung der libidinösen Besetzungen verändert sich zentral die Stellung von Sexualität, die über zwei Jahrhunderte lang als Zugriff einer bevölkerungspolitischen Macht funktionierte, wie dies Michel Foucault in seinen Bänden zu »Sexualität und Wahrheit« (1977ff.) analysiert hat. Heute ist Fortpflanzung zu einem weltweiten medizinischen Geschäft mutiert, Sexualität als Erotik und Lust ist hingegen zu einem großen Markt zwischen Werbung und Medien geworden, wo es ausschließlich um den Einsatz und das Investment von Körpern geht. Schönheits-OPs, Wellnessfarmen, Yoga und Fitness sowie Partnerbörsen, Chatrooms und Facebook sprechen hierfür eine deutliche Sprache (vgl. Angerer/König 2008). An die Stelle von Sexualität ist seit den 1950er-Jahren der Affekt gerückt. Beispielhaft kann hierfür die Arbeit Silvan Tomkins’ angeführt werden, die 1995 unter dem Titel »Shame and its Sisters« von Eve Kosofsky Sedgwick und Adam Frank erstmals einem breiteren Publikum vorgestellt wird. Tomkins entwickelte seine Arbeit in den 1950er- und 1960er-Jahren in Yale und später in Princeton, er hatte eine psychoanalytische Behandlung abgebrochen und war mit den Ideen des französischen Pschoanalytikers Jacques Lacan vertraut, der in den 1960er-Jahren die Neuschreibung der Freud’schen Psychoanalyse im Sinne des Strukturalismus unternommen hatte. Tomkins entwickelte seine Affektlehre jedoch in expliziter Abgrenzung zur Psychoanalyse, weil diese seiner Ansicht nach mit ihrem Triebmodell ein zu kleines System als allumfassendes installiert und darüber hinaus die Scham als primären Affekt ignoriert hätte. Tomkins definiert seine Affekte in Anlehnung an die zu dieser Zeit aktuelle Systemtheorie, seine Ausgangslage bildet ein System von Affekt-Paaren  : Positive Affekte sind Interesse und Neugier, Freude und Aufregung, neutrale Affekte sind Überraschung und Bestürzung, negative Affekte sind Stress und Angst, Furcht und Schreck, Zorn und Wut, Ekel und vor allem die Scham. Diese Affekte stehen in dichotomer Relation zueinander, das heißt, je nachdem, ob die Intensität neuraler Stimulation zu- oder abnimmt, pendelt die affektive Lage ins Plus oder Minus. 1993 nun gibt Brian Massumi einen Band mit dem Titel »Politics of Everyday Fear« heraus, worin es um eine Analyse der speziell in den USA massenme148

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

Abb. 1  : Red Alert, 2007, triple screen video installation. Exhibition view © Hito Steyerl, Els Hanappe Photo  : Els Hanappe (Originalfarbe der Installation ist rot).

dial organisierten Angst geht, die eingesetzt wird, um politische Interventionen zu legitimieren. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat dieses Thema seine kriegerischen Konsequenzen in aller Deutlichkeit gezeigt. Und jeder und jede kann an sich feststellen, wie die Angst als Signal (vgl. Freud 1969 [1916/1917], 382f.) greift  : Ein leerer Koffer am Flughafen oder am Bahnsteig löst Unbehaglichkeit aus, man guckt sich die PassantInnen genauer an, stellt Verdächtigungen an usw. »Angst sagte die Farbskala« lautet der Titel eines weiteren Aufsatzes von Massumi zur Angst als politischem Instrument. 2002 führt das Heimatschutzministerium der Bush-Regierung ein farbcodiertes Terror-Warnsystem ein  : Grün bedeutet niedrige Gefahr, Blau heißt, dass die Überwachung anläuft, Gelb bedeutet erhöhte Gefahr, Orange ist hohe Gefahrenstufe und Rot bedeutet akute Gefahr. »Seit der Einführung tanzt die Nation zwischen Gelb und Orange.« (Massumi 2010, 105) Dieses Beispiel dient Massumi dazu, die Register der Affektmodulation und ihre politisch-theoretischen Implikationen auszuspielen. Gelb-Orange funktioniert als Signal, wodurch sich »zentrale Regierungsfunkti149

Marie-Luise Angerer

onen direkt und drahtlos mit dem Nervensystem jedes Einzelnen (verkoppeln)« (ebd., 106). Michael Foucault hat die Krise der Regierung, also der Führung der Menschen, bereits Ende der 1970er-Jahre wahrgenommen und lange vor dem 11. September 2001 die problematische Verkehrung der Disziplinartechniken in solche der Sicherheit vorweggenommen. Während die Disziplinartechniken von einer präskriptiven Norm ausgehen, »ist der Ausgangspunkt des Sicherheitssystems das (empirisch) Normale, das als Norm dient und weitere Differenzierungen erlaubt«, wie Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (2000) die heutige Situation in Anwendung der Foucault’schen Analyse bestimmen. Die Sicherheitstechniken unterscheiden nicht mehr zwischen erlaubt und verboten, sondern definieren vielmehr ein »optimales Mittel« (Bröckling u. a. 2000, 13). In Übertragung der Analyse der Regierung der Risiken von Thomas Lemke, worin dieser die Entwicklung von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität nachzeichnet, auf das hier verhandelte Thema der affektiven Modulation kann die Behauptung aufgestellt werden, dass mit der Angst als Signal ein affektiver Konjunktiv installiert wird, der das Auseinanderklaffen von Versprechen und realer Diagnose bedeutet. »Affektifizierung als Machtstrategie« (vgl. Lemke 2000, 230).

Vom Lauf der halben Sekunde Mitte der 1970er-Jahre konnten Studierende der Medien- und Kommunikationswissenschaften im deutschsprachigen Raum erstmals von Hertha Sturm und ihrem Forschungsteam hören, dass diese die »fehlende Halbsekunde« entdeckt hätten. Mit ihrem Befund wollte Sturm vor allem Fernsehmacher erreichen, damit diese aus ihren Untersuchungsergebnissen Konsequenzen ziehen konnten. Fazit  : Fernsehen müsse langsamere Bildfolgen senden, Audio und Video müssten größere Kongruenzen aufweisen, der Text oder die gesprochene Sprache sollten sich den Bildern anpassen oder umgekehrt und nicht zusätzliche Informationen liefern. Denn wie die ForscherInnen vor allem mit Kindern herausgefunden hatten  : Diese konnten die Überfülle an Informationen nicht ›richtig‹ verarbeiten und waren in ihren Reaktionen schlichtweg zu langsam für den Überfluss der Bilder. So reagierten die Kinder auf traurige Bildsequenzen ›fröhlich‹ und auf lustige Filmchen ›traurig›. Gemessen wurden die jeweiligen Stimmungen anhand der Puls- und Herzfrequenz und der Schweißbildung. Es wurde also eine physikalische Erregungskurve ermittelt, die Hoch- oder Tief150

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

stimmung anzeigte bzw. aus deren Verlauf diese Stimmungen herausgelesen wurden – langsame Körpererregung bedeutete dabei depressive Grundstimmung, eine hohe Frequenz dementsprechend Hochstimmung. Wie man leicht sehen kann, korrespondiert dieser Befund überraschend mit der kybernetisch angelegten Affektlehre von Silvan Tomkins, der ebenfalls, wie bereits ausgeführt, einen niedrigen Erregungsgrad als traurige und umgekehrt eine erhöhte Frequenz als lustige, fröhliche Stimmung interpretierte.1 Grund für die ermittelten MissStimmungen war, so Sturm und ihr Team, die ›fehlende halbe Sekunde‹, also eine Zeitspanne, die zwischen Wahrnehmung (Signal, Reiz) und Reaktion verging, ohne dass man feststellen konnte, was in dieser ›verlorenen Zeit‹ passierte. Als die Untersuchungen zum gestressten Fernsehzuschauer (posthum) publiziert wurden (vgl. Sturm 1991 u. 2000  ; Sturm u. a. 1979), fanden sie allerdings nur wenig Beachtung. Mit abfälliger Geste wurde diese Art empirischer Zuschauerforschung damals abgetan und stattdessen einer ideologiekritischpsychoanalytischen Theorie der Visuellen Lust (vgl. Angerer 1999) der Vorzug gegeben. Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass Hertha Sturm zu einem falschen Zeitpunkt (zu früh  ?) mit falschen Mitteln versuchte nachzuweisen, dass Medien wie das Fernsehen emotional wirken und dies maßgeblich für die Wahrnehmung ihrer verbalen und visuellen Inhalte ist. Was diese Wirkmächtigkeit der Emotionen so stark macht, so die Medienpädagogin, ist eine halbe Sekunde zwischen Reiz und Reaktion, die die Reaktion (der Zuschauer) irgendwie ›verrutscht‹ zutage treten lässt. Dieser ›verrutschte‹ Affekt wird jedoch zwanzig Jahre später in der Kulturtheorie des Affekts von Brian Massumi wieder auftauchen und einen regelrechten affective turn innerhalb der Cultural Studies und Medientheorien mitverursachen. Mit »the skin is faster than the word« (Massumi 1996, 219) umschrieb Massumi Mitte der 1990er-Jahre seine Definition des Affekts als eine Intensität, die einer ›anderen Ordnung‹ angehört  : »Intensity is embodied in purely autonomic reactions most directly manifested in the skin – at the surface of the body, at its interface with things.« (Ebd., 218f.) Neben der Affektdefintion von Gilles Deleuze, die sich wesentlich auf Spinoza und seine Lebenskraft (conatus) stützt und die Basis von Massumis Arbeit bildet, war jedoch noch etwas anderes im Spiel – Massumi referierte tatsächlich auf die ›fehlende Halbsekunde‹ von Hertha Sturm. Diese wird bei ihm nun jedoch zum Terrain des Affekts. Der Affekt ist nach Massumi eine Virtualität, die Aktualität (als die Dimension des Potenziellen) ermöglicht  : »[P]astnesses opening onto a future, but with no present to speak of. For the present is lost with the missing half-second, passing too quickly to be perceived, too quickly, actually, 151

Marie-Luise Angerer

to have happened.« (Ebd., 224) Die fehlende halbe Sekunde ist bei Massumi im Unterschied zu Sturm nun keine Zeitspanne mehr, in der nichts passiert, sondern im Gegenteil eine Dauer, in der sich zu viel ereignet. Mitte der 1980er-Jahre haben die beiden Kinobücher von Deleuze (1989 u. 1991), das Bewegungs- und das Zeit-Bild, eine große Verschiebung innerhalb der Filmtheorie eingeleitet, die weit über diese hinaus ihren Einfluss geltend macht. In der Theorie von Deleuze ist Wahrnehmung der amodale, asubjektive Part, Gedächtnis hingegen die Bewegung (nach Kant), die sich selbst affiziert, die eine Art Selbst-Berührung vornimmt. Bild und Bewegung fallen ineinander und sind nicht wirklich zu trennen. Damit hat Deleuze neben Spinoza vor allem die Wahrnehmungs- und Bildtheorie von Henri Bergson für die Film- und Medientheorie wiederentdeckt, die heute vor dem Hintergrund medientechnischer Entwicklungen eine neue Gewichtigkeit erlangt. Mit Bergson sind wir nun aber auch im auslaufenden 19. Jahrhundert angelangt, dessen zweite Hälfte von der fehlenden Zeit geradezu besessen war. In »A Tenth of a Second« (2010) hat Jimena Canales die Geschichte der Erforschung bzw. die Suche nach dieser fehlenden Zeitspanne rekonstruiert und in Experimentalpsychologie, Astronomie, Physik und Messtechnik gleichermaßen ein enormes Interesse an ihr feststellen können. Sigmund Freud war von ihr ebenso angetan wie Wilhelm Wundt in seinem Leipziger Psychologie-Institut. Andere wie Frances Galton sahen in der Erforschung der fehlenden Zeitspanne die Schädelmessungen auf anderer Ebene fortgeführt  : Wer langsam reagiert, ist eine sensible Persönlichkeit, wer schnell reagiert, eine aggressive, intelligentere. Das Interesse an der Messung der Zeitreaktion oder des personal equating oder personal error, der individuellen Zeitdauer, ging allmählich auch auf die Künste über. Etienne-Jules Marey und seine Chronophotographie sind hier zu nennen sowie die Kinematographie von Eadweard Muybridge. The second half of the 19th century was marked by a burst of new research in these topics. […] Many scientists in France and elsewhere publicised numbers for the speed of nerve transmissions not only in animals, but also in humans. […] Various instruments came into use  : Pouillet’s chronoscope  ; Helmholtz’s rotating drums  ; Arago’s chronometers […]  ; Donder’s noematachometer […], Marey’s drums  ; […] In the span of a few years, reaction time experiments shifted from being largely criticized by the scientific community to becoming foundational for a new discipline. (Canales 2010, 28)

All dies hatte mit Hermann von Helmholtz begonnen, der 1850 schrieb  : 152

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

Ich habe gefunden, dass eine messbare Zeit vergeht, während sich der Reiz, welchen ein momentaner elektrischer Strom auf das Hüftgeflecht eines Frosches ausübt, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wadenmuskel fortpflanzt. (Zit. nach Schmidgen 2009, 74)

Helmholtz war Schüler von Johannes Müller, der 1826 das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien formulierte, das besagt, dass jedes Sinnesorgan auf Reize verschiedener Qualität nur in der ihm eigenen Weise reagiert. So reagiert das Auge z. B. auf Druck mit einer Lichtempfindung. Hieraus zog Müller den Schluss, dass die objektive Realität nicht erkannt werden kann, sondern dass Wahrnehmung immer subjektiv ist, da der Körper und seine Sinnesdaten die Basis für diese Wahrnehmung bilden. In den »Techniken des Betrachters« (1995) von Jonathan Crary kommt Müller ein prominenter Platz zu, da er Auge und Sehen als von körperlichen Reizen abhängig definierte und somit, wie Crary hervorhob, die Hegemonie eines neutralen Sehapparats kippen ließ. Helmholtz entdeckte bei seinen Messungen jedoch nicht nur eine verschwundene Zeit, sondern er maß vor allem auch die Verzögerung von Energie, d. h., auch die Energie eines Muskels entwickelt sich nicht im Augenblick der momentanen Reizung vollständig, »sondern grössthenteils erst nachdem diese schon aufgehört hat« (Schmidgen 2009, 93). Das heißt, zwischen Stimulation und Kontraktion vergeht Zeit (und Energie) – nicht viel, aber doch deutlich erkennbar. Die bis dahin angenommene Unmittelbarkeit erwies sich somit als »ein Intervall, als eine Spanne, ein gleichermaßen umschriebener wie leerer Zeitraum – eine ›Zwischenzeit‹, eine temps perdu« (ebd.). Nun war der Autor der »Suche nach der verlorenen Zeit«, Marcel Proust, mit Henri Bergson verwandtschaftlich verbunden – Bergson war mit einer Cousine Prousts verheiratet. Über Bergson wird berichtet, dass er in seiner Ablehnung der Sprache nur Proust als Schriftsteller akzeptieren konnte, dessen Zeitsuche mit der Suche nach den sprachlichen Ausdrücken Hand in Hand ging. Bergson hat auf dem Höhepunkt seiner Karriere einen nie gelösten Streit mit Einstein zur Frage der Zeit ausgefochten. Der Philosoph des elan vital und Autor von »Materie und Gedächtnis« (1991 [1896]) war von seinem Standpunkt, dass Zeit subjektiv ist, nie abgerückt, während Einstein Zeit bekanntlich als unabhängig von individueller Wahrnehmung bestimmt hat. Bergson hat die Welt als Bild verstanden, in dem wir uns, selbst ein besonderes Bild, bewegen. »Es gibt«, schreibt er, »keine Wahrnehmung, die sich nicht in Bewegung fortsetzt.« (Ebd., 84f.) Doch genau dieses Moment der Noch-nichtBewegung, das Intervall, das Bergson zwischen der einen und der anderen Be153

Marie-Luise Angerer

wegung setzt, hat Gilles Deleuze als das Moment des Affekts bezeichnet und Massumi sodann als die fehlende halbe Sekunde interpretiert. Der Affekt ist das, was das Intervall in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen. Er taucht plötzlich in einem Indeterminationszentrum auf, das heißt in einem Subjekt. […] Es gibt also eine Beziehung des Affekts zur Bewegung im allgemeinen, […] aber gerade hier, im Affekt, hört die Bewegung auf. (Deleuze 1991, 17)

Affektive Medientechnologien Bis heute sind technische und lebendige Prozesse getrennt verlaufen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein spurten das Leben und die Technik jeweils gesonderte Bahnen und wurden auch in der Theorie auseinandergehalten. Doch Mediendiagnosen, wie sie Donna Haraway (1990 [1985]) bereits Anfang der 1980erJahre vorgelegt hat, und die von N. Katherine Hayles (1999) sowie Alexander Galloway und Eugene Thacker (2007) u. a. weitergeführt worden sind, stimmen darin überein, dass die Medien längst nicht mehr als Prothesen zu bestimmen sind, die die Sinne verstärken, sondern dass sie vielmehr eine neue immersive Dimension erreicht haben, dass sie unsere Sinne ersetzen, dass sie diese gleichzeitig intensiver und subjektiver, intimer und technischer werden lassen, dass Wahrnehmung, Gedächtnis und Affekt zu einer Frage technischer Modalitäten werden. Mit Haraways Cyborg war eine Denkfigur eingeführt worden, die die technische Voraussetzung des Lebens denk- und theoretisch begreifbar machen sollte. Im Vergleich zur Zeit des »Cyborg-Manifesto« (Haraway 1990 [1985]) Mitte der 1980er-Jahre ist die technische Allgegenwärtigkeit heute jedoch noch um ein Vielfaches gestiegen  : Das Netz ist, wie Galloway und Thacker schreiben, zu etwas Elementarem geworden – zu einer unsichtbaren, allumfassenden Voraussetzung gesellschaftlicher, sozialer und psychischer Prozesse. Neokybernetische Ansätze kreisen heute um eine Frage, die George Canguilhem sich bereits in seinem Aufsatz »Maschine und Organismus« gestellt hatte, wo er für ein Technikverständnis plädierte, das diese als universales biologisches Phänomen begreifen sollte. 1946–1947, als Canguilhem seine Vorlesung hielt, meinte er abschließend, es gäbe seit wenigen Jahren – am Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter dem Namen bionics – Versuche, biologische Modelle und Strukturen zu erforschen, die in der Technologie als Modelle verwendet werden könnten. »Die Bionik ist die hochgelehrte Kunst der Informa154

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

tion«, schreibt Canguilhem, »die bei der lebendigen Natur in die Lehre geht.« (Canguilhem 2009, 231) Heute werden Medien mit Insekten, Strahlen, Instinkten, Reizen und Reflexen gleichgesetzt (vgl. Parikka 2010), Nachahmungstheorien aus der Tierwelt werden auf die politischen und sozialen Massen- und Schwarmbildungen von Menschen übertragen. Nicht, dass die Vergleiche zwischen Tier- und Menschenwelt sonderlich neu wären, neu ist nur der Umstand, dass sie heute ernst gemeint sind, dass die anthropologische Vormachtstellung des Humanen ihre Sonderstellung im gegenwärtig technisch-organischen Gesamtgefüge durch nichts mehr aufrechterhalten kann. Als Canguilhem seine Forderung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg artikulierte, um vor den Reduktionismen der Kybernetik von Norbert Wiener zu warnen, der diese als alles umfassende Gesellschaftstheorie verstanden haben wollte, stieß er ähnlich wie Hertha Sturm mit ihrer fehlenden halben Sekunde auf eher taube Ohren. Technik und Biologie oder Technik als Biologie war aus vielen Gründen keine mögliche Gleichsetzung. Heute jedoch lässt sich eine neue Liaison feststellen, die sich aus der Verbindung von biologischem und informationstechnischem Ansatz herstellt, eine Verbindung, die sich über die Zeit, über das Leben als Zeit sowie eine originäre Verspätung aufspannt. Dabei kann der Affekt als Medium der Verbindung bzw. als dieses Intervall betrachtet werden, das Leben und Technik bzw. Leben als Technik vermittelt.

Körper in Bewegung2 Nicht zufällig treten daher in den letzten Jahren jene Felder und Praxen verstärkt ins Zentrum eines medien- und kulturwissenschaftliche Interesses, die sich immer schon mit der Verbindung von Körper und Bewegung beschäftigt haben, wie z. B. der Tanz. Das Interesse an diesem von Seiten der Medien und Theorie ist auffällig und umgekehrt erwarten sich die TänzerInnen von Seiten der Theorie und Technik neue Impulse. »One Flat Thing reproduced« von William Forsythe ist ein Tanzprojekt, das 2000 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde und als Basis für eine Tanz-Notation diente, die von Forsythe gemeinsam mit Maria Palazzi und Norah Zuniga Shaw entwickelt wurde. Diese Notation liegt nun auch als Online-Fassung3 vor und bietet interessante Einblicke in die Bewegung der Körper der Tänzer und Tänzerinnen, in ihre Kommunikationsbahnen und -loops, ihre Signalstrukturen und -bewegungen, die Verdichtungen ihrer Bewegungen sowie das Volumen ihrer in Bewegung befindlichen Körper. Ein basales, die Bewegungen anleitendes 155

Marie-Luise Angerer

Element sind die sogenannten cues, also Hinweise, die sich die TänzerInnen untereinander geben, um aufeinander reagieren zu können  ; Verweise, die wir als BeobachterInnen nicht wahrnehmen können, da sie derart minimal sind und derart schnell ausgetauscht werden, dass die Körper der Tanzenden intuitiv zu reagieren scheinen – wie in Trance erfassen sie die Bewegungen der anderen, die ihre eigenen steuern. Brian Massumi hielt zur Eröffnung der ISEA 20104 (International Symposium on Electronic Art) in Essen einen Vortrag über Tanz, Wahrnehmung, den Affekt und die Bewegung der Körper. »Synchronous Objects« war dort als Installation zu sehen. Dabei ging es um subliminale Wahrnehmung, um ein direktes und unsinnliches Fühlen, um Mikroperzeption u. a. m. Diese Themen verweisen auf die Prozess-Philosophie von Alfred N. Whitehead, die insbesondere für Massumi und andere MedientheoretikerInnen heute von größter Aktualität geworden ist, um Empfindungen und Wahrnehmungen ohne Bewusstsein und Subjekt theoretisch in den Griff zu bekommen. Whitehead definiert physikalische Wahrnehmung als immer emotional, sie ist, wie es bei ihm heißt, ein »blindes Gefühl« und werde rezipiert, »als werde sie anderswo, in einem anderen Ereignis empfunden« (Whitehead 1979, 303). Es handelt sich dabei um keine Datenakkumulation, sondern immer um eine Datenrelation. Das wahrnehmende Subjekt existiert nicht vor der wahrgenommenen Welt, sondern taucht durch und im Wahrnehmungsprozess auf  : (D)as Empfinden ist subjektiv in der Unmittelbarkeit des gegenwärtigen Ereignisses verwurzelt  : Es ist das, was das Ereignis für sich selbst empfindet, indem es seinen Ursprung in der Vergangenheit hat und mit der Zukunft verschmilzt. (Ebd., 304)

Wie sehr die Philosophie von Whitehead und Deleuze gegenwärtig die Auseinandersetzung zu Körper, Bewegung, Affekt und Medien beeinflusst, kann in »Relationscapes« (2009) von Erin Manning nachvollzogen werden. Manning, die mit Brain Massumi im Sense-Lab in Montréal zusammenarbeitet sowie die Buchreihe »Technologies of Lived Abstractions« herausgibt, beschreibt dort, wie Sehen mit Fühlen gleichzusetzen ist und dieses als Bewegung-mit verstanden werden muss  : Affect passes directly through the body, coupling with the nervous system, making the intervall felt. This feltness is often experienced as a becoming-with. This becoming-with is transformative. It is a force out of which a microperceptual body 156

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

begins to emerge. This microperceptual body is the body of relation. While affect can never be separated from a body, it never takes hold on an individual body. Affect passes through, leaving intensive traces on a collective body-becoming. This body-becoming is not necessarily a human body. It is a conglomeration of forces that express a movement-with through which a relational individuation begins to make itself felt. (Manning 2009, 95)

In diesem Zitat ist der ganze Prozess von Wahrnehmung über Affekt bis zu den sich bewegenden und bewegten Körpern beschrieben, der auch deutlich macht, dass es nicht um individuelle Körper geht, sondern um Körper mit anderen Körpern, und dass diese nicht unbedingt oder ausschließlich humane Körper sein müssen. Wenn wir jetzt nochmals an den Beginn meiner Ausführungen zurückkehren, wo Stiegler die gegenwärtigen technischen Entwicklungen beschreibt und dabei die Wunschökonomie als durch ihre industrielle Bearbeitung erschöpft sieht, dann haben wir am Ende meiner Ausführungen eine ähnliche Konstellation, nur sind die Entwicklungen mit einem positiven Vorzeichen versehen. Während Stiegler den Körper und das Bewusstein im Klammergriff einer umfassenden Technik und eine negative Affektmodulation am Werk sieht, die in einer massenhaften Gleichschaltung der Individuen kulminiert, zelebriert Manning vor dem Hintergrund von Deleuze und Whitehead einen Körper in Bewegung und ständiger Mutation, dessen Reaktionen über die Intervalle gesteuert werden. Die fehlende Halbsekunde taucht nun nämlich auch in diesem Kontext auf. Subjektivität ereignet sich nach Whitehead in jener Zone der verlorenen Zeit, das Leben ist »in den Zwischenräumen jeder lebenden Zelle und in den Zwischenräumen des Gehirns verborgen« (Whitehead 1979, 206). Auch Bergson hatte das Gehirn bereits als den Ort beschrieben, in dem das Intervall zu Hause ist. Im Unterschied zum aktuellen Forschungsstand seiner Zeit erklärte Bergson das Gehirn nämlich zur Tabula rasa, zu einer »Zone der Indeterminiertheit« (vgl. Schmidgen 2008, 108  ; Bergson 1991 [1896], 17 u. 24) und definierte es als zeitliche Lücke, als »unterschiedlich große […] Spanne […] zwischen Reiz und Reaktion« (Schmidgen 2008, 109).

Resümee In Theorie, Politik und Kunst lässt sich gleichermaßen ein Interesse an affektiven Modulationen beobachten, das sich jedoch mit unterschiedlichen Erwartungen 157

Marie-Luise Angerer

verknüpft. Gilt das affektive Moment der Politik als Zugriffsmöglichkeit, um den viel beschworenen common sense sichtbar zu machen, ist die Medien- und Kulturtheorie darauf bedacht, die aktuellen Entwicklungen zu fassen, ohne hinter diesen nachhinken zu wollen. Bei vielen Diagnosen fragt man sich derzeit also zu Recht  : Fakt oder Fiktion  ? Wobei die Antwort meist ambivalent ausfallen muss  : sowohl – als auch. Wissenschaft selbst unterliegt dem kapitalistischen Zwang, Neues zu produzieren, für dieses die größtmögliche Aufmerksamkeit sowie entsprechende Gratifikationen zu bekommen. In der Kunst sieht die Lage auf den ersten Blick etwas anders aus. Hier könnte man glauben, es gehe um experimentelle Vorgehensweisen, die entsprechend die Theorien veränderten. Doch Kunst ist gegenwärtig als neuer Schauplatz von Forschung entdeckt worden (Stichwort  : art & research) bzw. hat sich auf diese Weise neue Legitimität erworben. In der Auseinandersetzung von Kunst und Wissenschaft wird Wissen neu verteilt bzw. der Anspruch auf Wissensproduktion neu verhandelt. So trafen sich im Juni 2010 auf Einladung von Bruno Latour Jimena Canales, Elie During und Olafur Eliasson im Centre Pompidou, um die EinsteinBergson-Debatte wieder aufzugreifen und aus heutiger Sicht neu zu bewerten. Zur Debatte stand (wieder einmal) das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, von Philosophie und Wissenschaft, von der Zeit als messbarer und der Zeit als »gefühlter Dauer«. In den 1920er-Jahren, als Bergson mit Einstein darüber diskutierte, wurde er als Verlierer dieser Debatte betrachtet, heute, meinte Latour in seiner Eingangsrede5, sei der Ausgang der Debatte durchaus wieder offen.6 Bergson kann nämlich als Bewunderer der fehlenden halben Sekunde betrachtet werden, der, anstatt sich für seine Bestimmung des Gehirns – wie an früherer Stelle ausgeführt – ganz auf »evolutionstheoretisch fundierte Einsichten« zu stützen, für seine Funktionserklärung das Reiz-Reaktions-Schema der experimentellen Psychophysiologie vorzog. Das Gehirn wird bei Bergson zur […] Telephonzentrale  : seine Aufgabe ist, »die Verbindung herzustellen« – oder aufzuschieben. […] [Aber, ML. A.] in Wahrheit [ist es] eine Zentralstelle, wo der peripherische Reiz Anschluß an diesen oder jenen motorischen Mechanismus gewinnt, den er sich jetzt wählt und nicht mehr aufdrängen läßt. […] seine [des Gehirns, ML. A.] Funktion [besteht] in der Vermittlung und Zerteilung von Bewegung. (Bergson 1991 [1896], 14f.)

Bruno Latour feierte 2003 im Katalog zur Ausstellung von Olafur Eliassons »Weather Project« diesen euphorisch als neuen Künstlertypus, der zum Laboratoriumsmitglied werde, das unsere Lebensbedingungen erforscht – »simply to 158

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

explore the nature of the atmospheres in which we are all collectively attempting to survive« (Latour 2003, 30). Und Jonathan Crary schrieb zum gleichen Ausstellungsereignis, dass Eliasson mit William Turner zu vergleichen wäre, dessen »Sonnenuntergang« die Wahrnehmung der BetrachterInnen neu strukturiert hätte. Die Kunst von Eliasson bespiele die Wahrnehmung der BesucherInnen ebenfalls auf neuartige Weise, er unternehme die Reorganisation der sinnlichen Wahrnehmung mit Hilfe neuer Techniken (vgl. Crary o.J.). Dass der affektiven Überwältigung oder Modulation der ZuschauerInnen hierbei eine besondere Rolle zugesprochen wurde, muss nicht besonders betont werden (vgl. Angerer 2007, 27).

Anmerkungen 1 Auch Baruch Spinoza, dem sich der Deleuze’sche Affektbegriff vor allem verdankt, sprach von der Hemmung des Tätigkeitsvermögens und entsprechender Traurigkeit sowie Freude bei entsprechender Beweglichkeit. So heißt es bei ihm  : »Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen.« (Spinoza 1989) 2 Dieses Kapitel ist Teil einer groß angelegten Debatte, die seit Mitte der 1990er-Jahre auch die feministische Diskussion maßgeblich betrifft. Ausgehend von Judith Butlers »Gender Trouble« über Elizabeth Grosz’ »Volatile Bodies« bis zu Rosi Braidottis »Nomadic Subjects« kann eine parallele Linie ausgemacht werden, an deren vorläufigem Ende heute die Auflösung oder besser die Absage an jede identitäre Setzung steht. Parallel zur Verwerfung von Signifikation und damit Repräsentation im Fall der bewegten Körper im Tanz passiert in der Gender-Debatte die Verwerfung von Subjekt und geschlechtlicher Identität. Hatte Butler noch von einem doing gender gesprochen, in welchem sich ein geschlechtlich markiertes Subjekt herausschält, fokussieren Grosz und Braidotti nur mehr auf die Körper und deren Vermögen, immer etwas anderes zu werden und mehr zu können, als jede Kultur ihnen zugestehen kann. Vgl. Butler 1990  ; Braidotti 1994  ; Grosz 1994  ; vgl. ebenso Angerer in Vorbereitung. 3 http  ://synchronousobjects.osu.edu/content.html# (08.07.2011) 4 http  ://www.isea2010ruhr.org (28.07.2011) 5 Selon Bruno Latour, http  ://www.youtube.com/watch  ?v=EHswlIzk61k (09.01.2011) 6 »Man hat Bergson immer wieder vorgeworfen, Einstein nicht verstanden zu haben, und das ist wahr. Bergson hat die Relativitätstheorie nicht verstanden. Doch Einstein hat Bergson ebenso wenig verstanden  ! Die grundlegende Idee Bergsons war die einer gerichteten Zeit. Nun wollte aber Einstein keine gerichtete Zeit. Und da Bergson auf der Irreversibilität der Zeit bestand – die ›Schöpferische Entwicklung‹ ist eben gerade eine gerichtete Zeit –, wandte er sich der Metaphysik zu, weil es in der damaligen Physik nichts gab, was erlaubt hätte, eine gerichtete Zeit ins Auge zu fassen. Für Einstein ist die Richtung der Zeit eine Illusion.« (Prigogine 1999)

159

Marie-Luise Angerer

Literatur Marie-Luise Angerer (1999), Body Options. Körper.Bilder.Medien.Spuren, Wien Marie-Luise Angerer (2007), Vom Begehren nach dem Affekt, Berlin/Zürich Marie-Luise Angerer (in Vorb.), »Gender und Performance«, in  : Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny und Tobias Klass (Hg.), Leiblichkeit. Begriff, Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen Marie-Luise Angerer, Christiane König (Hg.) (2008), Gender goes Life. Die Herausforderung der Gender Studies durch die Lebenswissenschaften, Bielefeld Henri Bergson (1991 [1896]), Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg Rosi Braidotti (1994), Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.) (2000), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. Judith Butler (1990), Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York/London 1990 (dt.  : Das Unbehagen der Geschlechter (1991), Frankfurt a.M.) Jimena Canales (2010), A Tenth of a Second. A History, Chicago/London George Canguilhem (2009), »Maschine und Organismus«, in  : ders., Die Erkenntis des Lebens, Berlin, 183–232 Jonathan Crary (1995), Techniken des Betrachters. Über Sehen und Modernität im 19. Jahrhundert, Dresden Jonathan Crary (o.J.), Your colour memory  : Illuminations of the Unforeseen, abrufbar unter http  :// www.olafureliasson.net/publications/download_texts/Your_colour_memory.pdf (10.01.2011) Gilles Deleuze (1989), Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt a.M. Gilles Deleuze (1991), Das Zeit-Bild, Kino 2, Frankfurt a.M. Michel Foucault (1977/1986/1986), Sexualität und Wahrheit, 3 Bde., Frankfurt a.M. Sigmund Freud (1969 [1916–1917]), »Die Angst«, in  : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Und Neue Folge, Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt a.M. 1969, S. 382f. Alexander R. Galloway, Eugene Thacker (2007), The Exploit. A Theory of Networks, London Elizabeth Grosz (1994), Volatile Bodies. Toward A Corporeal Feminism, Bloomington Donna Haraway (1990 [1985]), »A Manifesto for Cyborgs  : Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s (1985)«, in  : Linda J. Nicholson (Hg.), Feminism/Postmodernism, New York/ London 1990, 190–233 (dt.  : »Ein Manifest für Cyborgs«, in  : dies. (1995), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York, 33–72). N. Katherine Hayles (1999), How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago/London Eve Kosofsky Sedgwick, Adam Frank (Hg.) (1995), Shame and its Sisters. A Silvan Tomkins Reader, Durham/ London Bruno Latour (2003), »Atmosphère, Atmosphère«, in  : Ausstellungskatalog The Weather Project (The Unilever Series ed. by Susan May), Tate Modern, 16.10.03–21.03.04, London Thomas Lemke (2000), »Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität«, in  : Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M., 227–264

160

Affektive Modulationen in Politik, Theorie, Medien und Kunst

Erin Manning (2009), Relationscapes, Movement, Art, Philosophy, Cambridge (Mass.)/London Brian Massumi (Hg.) (1993), The Politics of Everyday Fear, Minneapolis/London Brian Massumi (1996), The Autonomy of Affect, in  : Deleuze  : A Critical Reader, hg. v. Paul Patton, Cambridge (Mass.), 217–239 Brian Massumi (2003), »Navigating Moments«, Interview with Mary Zanazi, in  : 21C Magazine Brian Massumi (2010), Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin Jussi Parikka (2010), Insect Media. An Archaeology of Animals and Technology, Minneapolis/London Ilya Prigogine (1999), »Vom Sein zum Werden« (im Gespräch mit Edmond Blattchen), in  : Lettre International, Heft 45, 1999, abrufbar unter http  ://www.lettre.de/archiv/45_prigogine.html (10.01.2011) Marcel Proust (2004), Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Werke, Frankfurt a. M. Henning Schmidgen (2008), »Leerstellen des Denkens. Die Entdeckung der physiologischen Zeit«, in  : Bernhard J. Dotzler und Henning Schmidgen (Hg.), Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion, Bielefeld, 107–124 Henning Schmidgen (2009), Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin Baruch Spinoza (1989), Sämtliche Werke, Bd. II, hg. von Carl Gebhardt, Hamburg Bernard Stiegler (2009), Denken bis an die Grenzen der Maschine, Berlin/Zürich Hertha Sturm (1991), Fernsehdiktate  : Die Veränderung von Gedanken und Gefühlen. Ergebnisse und Folgerungen für eine rezepientenorientierte Mediendramaturgie, Gütersloh Hertha Sturm (2000), Der gestreßte Zuschauer, Stuttgart Hertha Sturm u. a. (1979), Wie Kinder mit dem Fernsehen umgehen, Stuttgart Technologies of Lived Abstractions, MIT Series, Boston Alfred North Whitehead (1979), Prozeß und Realität, Frankfurt a.M.

161

AutorInnen und Herausgeberinnen Marie-Luise Angerer, Professorin für Medien- und Kulturwissenschaften an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM)  ; 2007–2009 Rektorin der KHM. Publikationen (Auswahl)  : Body Options  : Körper. Spuren. Medien. Bilder, Wien 1999  ; Herausgeberin (mit Kathrin Peters und Zoë Sofoulis) von Future Bodies. Visualisierung von Körper in Science und Fiction, Wien/New York 2002  ; Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich/Berlin 2007  ; Herausgeberin (mit Christiane König) von Gender goes Life. Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies, Bielefeld 2008  ; Humans & Others, Zeitschrift für Medienwissenschaft, 2011, Heft 4 (Redaktion gem. mit Karin Harrasser). Mehr Informationen  : http  ://wissenschaft.khm.de/wpersonen/mla/marie-luise-angerer/ – EMail  : [email protected] Andrea Ellmeier, Mag.a Dr.in, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, Lehr-

beauftragte an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie war Koordinatorin der Forschungsplattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck (www.geschlechterforschung.at) und ist Koordinatorin für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Publikationen  : Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film (mdw Gender Wissen Bd. 2), Wien 2011 (hg. mit Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl)  ; »mdw goes gender. Koordinationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw)«, in  : Sarah Chaker, Ann-Kathrin Erdélyi (Hg.), Frauen hör- und sichtbar machen – 20 Jahre »Frau und Musik« an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Wien 2010. »,Wie im ganz normalen Leben auch  !‹ Gleichbehandlung in Kunst und Kultur  ?«, in  : Erna Appelt (Hg.), Gleichstellungspolitik in Österreich, Wien/Innsbruck 2009. Mehr Informationen  : http  ://mdw.ac.at/gender – E-Mail  : [email protected] Andreas Holzer, Mag., Dr., Studium Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und

Gesang in Graz, seit 1993 am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). 163

AutorInnen und Herausgeberinnen

Forschungsschwerpunkte  : Studien zum österreichischen Musikleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts  ; Untersuchungen zur neuen Musik (Monographie  : Zur Kategorie der Form in neuer Musik, 2011)  ; Biographik im Lichte jüngerer kulturwissenschaftlicher Perspektiven (Arbeit an einer Monographie über Galina Ustvolskaja in der Reihe »Europäische Komponistinnen«) Mehr Informationen  : http  ://www.erg.at/iatgm/iatgm-holzer.shtml – E-Mail  : [email protected] Doris Ingrisch, Univ.-Prof.in Dr.in, ist Professorin für Gender Studies am Institut

für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Arbeits- und Forschungschwerpunkte  : Cultural sowie Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte, Exil-/Emigrationsforschung sowie Qualitative Methoden. Veröffentlichungen u. a.  : »Anschluss« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Wien/Berlin 2008 (mit Herbert Posch und Gert Dressel)  ; Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film (mdw Gender Wissen Bd. 2), Wien 2011 (hg. mit Andrea Ellmeier und Claudia Walkensteiner-Preschl)  ; Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne. Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen als Inspirationen für ein neues Denken, Bielefeld 2012. Mehr Informationen  : http  ://www.mdw.ac.at/ ikm – E-Mail  : [email protected] Kordula Knaus, Priv.-Doz.in Dr.in, Studium Konzertfach Gitarre an der Kunst-

universität Graz und Musikwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Daneben Dramaturgie- und Regieassistenz am Opernhaus Graz. Seit Juli 2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Graz, seit Januar 2010 Assistenzprofessorin. Promotion 2003 über Alban Bergs »Lulu« (publiziert 2004 bei Rombach unter dem Titel »Gezähmte ›Lulu‹«). Frühjahr 2007 Gastprofessur am New York City College. Herbst 2010 Habilitation im Fach Musikwissenschaft mit einer Arbeit über gegengeschlechtliche Besetzungspraxis in der Barockoper (publiziert 2011 im Franz Steiner Verlag unter dem Titel »Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800«). Mehr Informationen  : http  ://www.uni-graz.at/kordula. knaus/ – E-Mail  : [email protected] Anna Maria Krassnigg, geb. 1970 in Wien, studierte Schauspiel und Regie am

Max Reinhardt Seminar, Wien. Seit 1990 verantwortete sie zahlreiche Regiearbeiten (darunter überwiegend Klassiker in eigenen Textfassungen) an deutschen und österreichischen Stadt- und Staatstheatern, Parallel realisierte sie mit dem 164

AutorInnen und Herausgeberinnen

eigenen Ensemble iffland & söhne in Zürich, Wien und Luxemburg vorwiegend Uraufführungen zeitgenössischer AutorInnen und eigener Texte, meist als internationale Koproduktionen. Von 1998 bis 2011 war sie Gastprofessorin für Regie und Rollengestaltung am Max Reinhardt Seminar, Wien. Seit 2007 leitet sie den Salon5, einen neuen Theater-Kunst- und -Kommunikationsraum in Wien. 2009 kuratierte sie das Festival »ZORN – Dramatisches Erzählen Heute« im Rahmen der »uni:vision 2«. In der Spielzeit 2011/12 inszeniert sie zwei Uraufführungen im Rahmen der Kooperation Salon5/Les Théatres de la Ville, Luxembourg, und bereitet ihren ersten Spielfilm »PASADA« vor. Mehr Informationen  : http  ://www. ifflandundsoehne.com/team/t_krassnigg.htm – E-Mail  : [email protected] Monika Meister, ao. Univ.-Prof.in Dr.in, Studium der Theaterwissenschaft, Ethno-

logie und Philosophie an der Universität Wien. Dissertation über den Theaterbegriff Robert Musils, 1992 Habilitationsschrift »Zur Katharsis im Theoriediskurs der Jahrhundertwende«. Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit  : Theater der Antike, Theater der Klassik und Romantik, Wiener Moderne und Psychoanalyse. Theoriegeschichte des Theaters, Theater und Ästhetik, Dramaturgie des Gegenwartstheaters. Publikationen (Auswahl)  : Mitherausgeberin der Zeitschrift »Maske und Kothurn«, jüngste Publikation  : Theater denken. Ästhetische Strategien in den szenischen Künsten, Wien 2009. Mehr Informationen  : http  ://tfm.univie.ac.at/personal/tfm-staff/monika-meister/ – E-Mail  : [email protected] Peter Röbke, o. Univ.-Prof. Dr., studierte Schulmusik, Musikwissenschaft, Ger-

manistik und Erziehungswissenschaft in Essen und Bochum. Er war Chor- und Orchesterleiter, Geigenlehrer an mehreren Musikschulen, Assistent an der Hochschule der Künste Berlin, zehn Jahre Direktor einer Musikschule in Berlin. Seit 1994 ist er Professor für Instrumental- und Gesangspädagogik, seit 2006 Vorsitzender der Studienkommission für die Studienrichtung Instrumental- und Gesangspädagogik und seit Oktober 2010 Vorstand des Instituts für Musikpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift »Üben und Musizieren«. Regelmäßige Lehrtätigkeit in Lissabon, London und Berlin. Lehrerfortbildung in Deutschland und Österreich sowie enge Zusammenarbeit mit einigen österreichischen Landesmusikschulwerken. Wichtigste Veröffentlichungen  : Der Instrumentalschüler als Interpret. Musikalische Spielräume im Instrumentalunterricht, Mainz 1990  ; Vom Handwerk zur Kunst. Didaktische Grundlagen des Instrumentalunterrichts, Mainz 2000  ; Musikschule. 165

AutorInnen und Herausgeberinnen

Wozu  ?, Atzenbrugg (NÖ) 2004 sowie Vom wilden Lernen, Mainz 2009 (hg. gemeinsam mit Natalia Ardila-Mantilla). Mehr Informationen  : http  ://www.musiceducation.at/das-institut/personen/roebke-peter/ – E-Mail  : [email protected] Heide Schlüpmann, Univ.-Prof.in em. für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Publikationen  : Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift »Frauen und Film« und Mitbegründerin der Kinothek Asta Nielsen. Monograpien u.a.  : Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des Frühen deutschen Kinos, 1990 (englisch 2009 unter dem Titel »The Uncanny Gaze«)  ; Abendröthe der Subjektphilosophie. Eine Ästhetik des Kinos, 1998  ; Öffentliche Intimität. Die Theorie im Kino, 2002  ; Ungeheure Einbildungskraft. Die dunkle Moralität des Kinos, 2007  ; Asta Nielsen, Bd. 1  : Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino, 2009  ; Bd. 2  : Nachtfalter. Asta Nielsen, ihre Filme, 2010 (hg. zusammen mit Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Michael Wedel). – E-Mail  : [email protected] Claudia Walkensteiner-Preschl, ao. Univ.-Prof.in Dr.in, ist Professorin für Film-

wissenschaft am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), Habilitation (Venia Filmwissenschaft) Universität Frankfurt am Main 2010. 2007–2011 Vizerektorin für Lehre und Frauenförderung an der mdw. Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit  : Kulturwissenschaftlich-orientierte Filmgeschichtsschreibung, Frühes Kino, Feministische Filmtheorie, Geschlechterforschung, Ästhetik und Medien. Publikationen  : Lachende Körper. Komikerinnen im Kino der 1910er-Jahre (Filmmuseum-Synema-Publikationen Bd. 8), Wien 2008  ; »Die Schlager der Groteske«, in  : Karola Gramann, Eric de Kuyper, Sabine Nessel, Heide Schlüpmann, Michael Wedel (Hg.), Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933, Wien 2009  ; »Publikumsgeschmack und soziales Engagement. Zur Pionierin Louise Veltée/Kolm/Fleck aus filmhistorisch-feministischer Perspektive«, in  : Doris Kern, Sabine Nessel (Hg.), Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann, Basel/Frankfurt a. M. 2008. Mehr Informationen  : http  ://www.mdw.ac.at/ikm – E-Mail  : walkenstei ner-preschl@ mdw.ac.at

166

AndreA ellmeier, doris ingrisch, cl AudiA WAlkensteiner-Preschl (hg.)

screenings Wissen und geschlecht in musik · theAter · Film mdW gender Wissen, bAnd 1

Der Band bietet Einblicke in Gender-Analysen an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Gefragt wird nach den Bedeutungen der Kategorie Geschlecht in der Musik, im Theater und im Film. Die Beiträge thematisieren die Musikwissenschaft als Feld der Reproduktion des sozialen Geschlechts, geschlechtstypische Unterschiede zwischen Musiklehrern und Musiklehrerinnen, Gender-Aspekte in der Ethnomusikologie, Feminismus und Popkultur, die ›Güte‹ der Frauen in Gender-Pirouetten, das Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies und nicht-normative Männlichkeit im Film. 2010. 165 S. 25 S/w-abb. br. 155 x 235 mm. iSbn 978-3-205-78520-0

»Mit der Vielfalt an Beiträgen liegt nicht nur ein gebündeltes Dokument ausgewählter Gender-Aktivitäten vor, sondern die Beiträge fügen sich auch in die Reihe der musikspezifischen Genderbeiträge der letzten Jahre ein.« Musicologica Austriaca

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43 (0) 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

AndreA ellmeier, doris ingrisch und cl AudiA WAlkensteiner-Preschl (hg.)

gender PerformAnces Wissen und geschlecht in musik. theAter. film. mdW gender Wissen, BAnd 2

»mdw Gender Wissen« ist eine Buchreihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw. Die Publikationen dieser Reihe möchten dazu beitragen, die Wirkmächtigkeit von Gender (soziales Geschlecht) in Wissensund Kunstproduktionen an der mdw sichbar zu machen. Ein zentrales Anliegen ist es, Kunst, Wissenschaft und Geschlecht/Gender zusammen zu denken. Band 2 der Reihe »mdw Gender Wissen« thematisiert und reflektiert Gender Performances in Musik, Theater und Film. Die Gendertheorie geht heute von einer performativen Konstitutierung von Gender aus, d.h. die wiederholende Praxis konstituiere erst das Geschlecht/Gender, die jeweilige Geschlechterzugehörigkeit. Demgemäß betont das Motto der Reihe »mdw Gender Wissen« Potenziale und Möglichkeiten: »Alles, was einmal geworden ist, kann sich im Interesse einer Geschlechterdemokratie auch wieder (ver)ändern.« 2011. 184 S. Br.33 S/w-ABB. 155 x 235 mm. ISBN 978-3-205-78651-1

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43 (0) 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar