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German Pages 346 Year 2014
Markus Hedrich Medizinische Gewalt
Histoire | Band 67
2014-08-05 13-16-39 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03dd373653288026|(S.
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4) TIT2802.p 373653288034
Markus Hedrich (Dr. phil.) lebt als freier Autor in Hamburg und arbeitet an diversen geschichtswissenschaftlichen Projekten.
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Markus Hedrich
Medizinische Gewalt Elektrotherapie, elektrischer Stuhl und psychiatrische »Elektroschocktherapie« in den USA, 1890-1950
2014-08-05 13-16-39 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03dd373653288026|(S.
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Dies ist die aktualisierte Version jener Arbeit, die im September 2013 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen wurde.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1. Einleitung | 9 2. Theorie | 31
2.1 Medikalisierung, Rassismen, totale Institutionen | 31 2.2 Epistem, Diskurs, Dispositiv und die Macht der Psychiatrie | 37 3. Grundlagen & die psychiatrische Elektrotherapie in den USA vor 1890 | 47
3.1 Von der Irritabilitätslehre zur Entdeckung der Bioelektrizität | 47 3.2 Die europäischen Elektrophysiologie(n) | 52 3.3 Beard|Rockwell und die private Elektrotherapie in New York City | 58 3.3.1 ‚Neurasthenie‘, ‚Nervenkraft‘, ‚Body Electric‘ | 58 3.3.2 Die elektrotherapeutische Praxis in der Madison Avenue | 62 3.4 Elektrotherapie im forensischen NY State Hospital-System | 70 3.4.1 Makro- und Mikrostrukturen der New Yorker Psychiatrie | 70 3.4.2 Frederick Peterson als Pionier der psychiatrischen Elektrotherapie | 76 3.4.3 Fazit: Das elektrische Dispositiv vor der Todesstrafenreform | 87 4. Medikalisiertes Töten – Die Erfindung des elektrischen Stuhls, 1888-1890 | 89
4.1 ‚Kriminalbiologie‘ und die New Yorker ‚Death Commission‘ | 89 4.2 Frederick Peterson und die Erfindung des elektrischen Stuhls | 96 4.2.1 Petersons erste Berührung mit dem Thema Todesstrafe | 96 4.2.2 Psychiater Peterson als elektrischer Tötungsexperte | 102 4.2.3 Frederick Petersons Konstruktionsplan des elektrischen Stuhls | 109 4.3 Die Eliten übernehmen – Dr. Carlos F. MacDonald und der elektrische Stuhl | 114 4.3.1 Dr. Carlos F. MacDonald, Psychiatrieminister | 114 4.3.2 Gegenschlag – Die Becker Hearings | 119 4.3.3 Bau und Test des elektrischen Stuhls | 128 4.4 ‚Euthanasia by Electricity‘ – Die Tötung William Kemmlers | 131
5. Elektrischer Stuhl und psychiatrische Elektrotherapie, 1890-1940 | 139
5.1 Duales Strafen – Die Vereinigung der zwei Dispositive | 139 5.1.1 Dr. Carlos F. MacDonald in der Todeskammer | 139 5.1.2 Der Death Chair und die Verschärfung der Anstaltselektrotherapie | 151 5.2 Der elektrische Stuhl von 1896 bis 1920 | 159 5.2.1 Der Aufstieg der ‚NY State Electricians‘ | 159 5.2.2 ‚Eugenik‘ und das Sing Sing State Prison als zentrale Tötungsanstalt | 164 5.3 Psychiatrische Elektrotherapie bis 1920 | 171 5.4 Der elektrische Stuhl, 1920 bis 1940 | 176 5.4.1 ‚Sing Sing Doctor‘ – Die Autobiographie Dr. Amos Squires | 176 5.4.2 ‚I am sorry to inform you‘ – Die demokratische Todesbürokratie | 184 5.5 Die psychiatrische Elektrotherapie am Vorabend der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ | 194 5.6 Exkurs: Die Geburt der drei ‚Schocktherapien‘ in Europa | 203 6. Psychiatrische ‚Elektroschocktherapie‘ (EST), 1940-1950 | 215
6.1 Die ‚Elektroschocktherapie‘ – Eine Annäherung | 215 6.2 Lothar Kalinowsky und die Einführung der EST in NY State, 1940 | 221 6.2.1 Kalinowsky am NY State Psychiatric Institute (PI) | 221 6.2.2 Das PI und die Distribution der EST in das NY State Hospital-System | 227 6.3 Aspekte der ElektroMacht | 233 6.3.1 ‚New Deal in nerve endings‘ – EST, New Deal, Kriegsanstrengungen | 233 6.3.2 ‚Behaviour Management‘ – EST als ärztliche Mikrojustiz | 238 6.3.3 Epistemische Verbindungen von EST und Death Chair | 242 6.4 Die OMH-Krankenakten – Ein kurzer Überblick | 245 6.5 ‚Elektroschocktherapie‘ im Willard State Hospital, 1943-1950 | 250 6.5.1 Die PatientInnen: Ankunft, Stationsalltag, Permission of Shock Treatment | 250 6.5.2 ‚I had it then‘ – EST im Willard State Hospital | 260 6.6 Weitere Fallgeschichten und Aspekte | 269 6.6.1 Das Muster: Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung | 269 6.6.2 ‚Aktive Unterwerfung‘ als behavioristische Utopie totaler Disziplin | 275 6.6.3 Memory-Defekte und die EST als Maximalrepression von Frauen | 277
6.7 ‚Can I be electrocuted when I take Rx.‘ – Der Leidensweg der Evelyn K. | 289 7. Fazit: Die ElektroMacht aus EST und Death Chair und das heimliche Comeback der EST | 299 Dank | 313 Anhang: Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis | 319
1. Einleitung MRS. GOLDFARM […] IF I CAN JUST GET YOUR JOHN HANCOCK […]. (REQUIEM FOR A DREAM)
SING SING […] [S]OUNDS MORE LIKE […] AN OPERA HOUSE […]. (BREAKFAST AT TIFFANY’S)
DIE JUSTIZ, DIE IM ASYL VON PINEL HERRSCHT, ENTLEIHT DER ANDEREN JUSTIZ KEINE DER
ARTEN
REPRESSION, SONDERN ERFINDET IHRE
EIGENEN.
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(MICHEL FOUCAULT)
In der US-amerikanischen HBO-Fernsehserie ‚OZ‘ (1997-2003), die in der Oswald State Correctional Facility, einem fiktiven US-amerikanischen ‚maximum security prison‘ spielt, wird in schonungslosem Realismus der Alltag in einem Hochsicherheitsgefängnis geschildert. Insbesondere die Death Row der Oswald State Correctional Facility erscheint als Ort der bedingungslosen Grausamkeiten; hier sitzt auch Cyril O’Riley, der zum Tode verurteilte geistig behinderte Bruder des Protagonisten Ryan O’Riley ein. Um die Exekution des geistig zurückgebliebenen Mörders ohne politischen Widerstand von Seiten der Öffentlichkeit durchführen zu können, drängt der fik-
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Requiem for a Dream (USA, 2000), 1:28:36; Breakfast at Tiffany’s (USA, 1961), 0:09:28; Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main, 1973, 524.
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tive Gouverneur James Devlin den Gefängnisdirektor, bei Cyril eine ‚ECT‘ – also eine ‚Electroconvulsive Therapy‘ – durchführen zu lassen: What’s ECT? Basicly the peacy way of saying electroshock.2
Nachdem die sogenannte ‚Elektrokonvulsionstherapie‘, ‚Elektrokrampftherapie‘ oder auch ‚Elektroschocktherapie‘ (EST) auf Druck des Gouverneurs angesetzt wurde, debattiert die Gefängnisgeistliche mit Cyrils besorgtem Bruder die elektrische ‚Behandlung‘; Ryan O’Riley folgert: That’s genius. [Governor] Devlin wants to electroshock Cyril to make him normal enough to electrocute him.3
Die ‚Elektroschocktherapie‘ soll Cyril also soweit normalisieren, dass er problemlos elektrisch getötet werden kann. Kurz nachdem Cyril die erste EST erhalten hat, wird seine Revision abgewiesen und richterlich der Hinrichtungstermin festgesetzt, wobei Cyril – wie noch heute in den US-Bundesstaaten Florida, Virginia und South Carolina üblich – zwischen elektrischem Stuhl und der Giftspritze wählen kann.4 Gefängnisärztin Dr. Nathan erläutert Cyrils Bruder Ryan O’Riley:
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OZ, Staffel 6, Folge 3, 36:35. Zur Problematik von Todesstrafe und geistiger Behinderung, siehe: http://www.deathpenaltyinfo.org/intellectual-disability-and-death-penalty (9. März 2013). In Atkins vs. Virginia, 536 U.S. 304, hat der United States Supreme Court im Jahr 2002 entschieden, dass die legale Tötung geistig zurückgebliebener Straftäter ‚cruel and unusual‘ und damit verfassungswidrig sei, was der Frage, ob ein individueller Täter mental retardiert ist, heute eine über Leben und Tod entscheidende Relevanz verleiht. http://www.law.cornell.edu/supremecourt/text/00-452/#writing-ZS (9. März 2013).
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OZ, Staffel 6, Folge 3, 41:23. OZ, Staffel 6, Folge 3, 56:27, http://www.deathpenaltyinfo.org/methods-execution (9. Januar 2013). In Alabama wird die Giftspritze appliziert, solange der Delinquent nicht explizit eine elektrische Tötung fordert; in Arkansas, Kentucky und Tennessee können Death Row-Insassen, die ihr Verbrechen vor dem 4. Juli 1983 (Arkansas), 31. März 1998 (Kentucky) bzw. 31. Dezember 1998 (Tennessee) verübt haben, zwischen Giftspritze und dem elektrischen Stuhl wählen, während bei allen später verübten Verbrechen ausschließlich die ‚lethal injection‘ angewendet wird (ebda.). Der elektrische Stuhl wird in diesen drei Staaten also sukzessive abgeschafft.
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Look, I was wondering if maybe the electric chair would be the better way to go. The chair? Why just don’t feed him to the […] lions? Think about it. I mean he has had electro-shock therapy, which isn’t such a far cry from electrocution. At least in his mind it wouldn’t have to be. By now, he is used to the straps and the electrodes, just tell him he is going in for a special session.5
In der HBO-Serie ‚OZ‘ erscheint der elektrische Stuhl als verlängerte ‚Spezialvariante‘ der ‚Elektroschocktherapie‘, die wiederum als ‚[not] such a far cry from electrocution‘ klassifiziert wird. Headwriter Tom Fontana und sein Autoren-Team haben in ihrer künstlerischen Produktion offensichtlich einen tieferen Zusammenhang zwischen ‚elektrischem Stuhl‘ und der sog. ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ erahnt, die sie als diskursiv verfugte Phänomene darstellen, die sich wechselseitig durchdringen. Exakt diesem Konnex soll in der vorliegenden Untersuchung nachgegangen werden, wobei das Handwerkszeug jedoch kein künstlerisches, sondern ein geschichtswissenschaftliches ist: Die vorliegende Arbeit analysiert die historischen Verflechtungen von psychiatrischer Elektrotherapie, dem elektrischen Stuhl und der sog. ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ in den USA, wobei hier davon ausgegangen wird, dass sich der erstmals 1890 im US-Bundesstaat New York eingesetzte elektrische Stuhl in den Jahren 1888/89 aus der psychiatrischen Anstalts-Elektrotherapie entwickelte – und dann katalysierend auf ebendiese zurückwirkte, was ab 1940 die Adaption der europäischen ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA beförderte: Der elektrische Stuhl entwickelte sich 1888/89 aus der psychiatrischen AnstaltsElektrotherapie – und wirkte ab 1890 verschärfend auf diese zurück, was ab 1940 die Adaption der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA beförderte. Der US-Bundesstaat New York stellt den Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklungen dar, weswegen die dichten Verflechtungen von psychiatrischer Elektrotherapie und dem elektrischen Stuhl hier am Beispiel New Yorks analysiert werden. Zugleich liegen für diese Untersuchung streng geheime, kurzzeitig freigegebene und inzwischen wieder unzugängliche psychiatrische Krankenakten des
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OZ, Staffel 6, Folge 6, 35:54.
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‚New York State Office of Mental Health‘ (OMH) vor, durch die der Staat New York abermals in den Fokus der Analyse rückt.6 Um den komplexen Bedingungszusammenhang zwischen psychiatrischer Elektrotherapie, elektrischem Stuhl und der vermeintlichen ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ adäquat beschreiben zu können, wird hier die Formierung zweier ‚elektrischer Dispositive‘ (psychiatrische Elektromedizin und elektrischer Stuhl) angenommen, die nach der Erfindung des elektrischen Stuhls im Jahre 1890 zu einer dispositiven ‚ElektroMacht‘ aus psychiatrischer Elektrotherapie und elektrischem Stuhl verschmolzen – und die ab 1940 durch die Einführung der ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA noch einmal deutlich an Kohäsion gewann. Dabei gravitierte das elektrische Dispositiv 1 (Elektrotherapie) ab spätestens 1885 um die mit bedeutenden Ressourcen ausgestatteten psychiatrischen NY State Hospitals, während das zweite elektrische Dispositiv (elektrischer Stuhl) bei vielfachen personellen Überschneidungen ab 1888/89 um die drei NY State Prisons flottierte. Mit der Erfindung des elektrischen Stuhls primär durch die NY State Hospital-Psychiater Dr. Frederick Peterson und Dr. Carlos F. MacDonald verbanden sich diese beiden elektrischen Dispositive um 1890 zu einer dispositiven ElektroMacht, die die psychiatrischen Anstalten wie die New Yorker Death Rows gleichermaßen umfasste, wobei in den NY State Hospitals Wahn mit pönaler Elektrizität therapiert wurde, während die TodeskandidatInnen in den NY State Prisons parallel mit elektrischen Schocks getötet wurden. Zugleich begann die dispositive ElektroMacht zwischen ihren institutionellen Basen zu oszillieren und sich von hier aus als elektrische Strafandrohung (Produktion von Ordnung) dispositiv in die Gesellschaft hin zu distribuieren:7
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Weitere Regionalstudien, etwa zur Geschichte der EST in Kalifornien, wären ausgesprochen wünschenswert.
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Erving Goffman formuliert zur makrogesellschaftlichen Strahlkraft totaler Institutionen: ‚Eine weitere variable Dimension totaler Institutionen ist das, was man als ihre Permeabilität oder Durchlässigkeit bezeichnen kann – d.h. der Grad, in dem die innerhalb der Institution geltenden Normen und die in der sie umgebenden Gesellschaft geltenden Normen einander beeinflussen.‘ (Erving Goffman, Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main, 1972, 118) Auch M. Michaela Hampf formuliert: ‚The military as an institution and military discourses contribute in manifold ways to the construction of femininity and masculinity in society. Military institutions utilize ›gender technologies‹ (DeLauretis) in order to foster an ideology of heterosexual masculinity that transgresses the boundary of the military and permeates civilian discourses.‘ (M. Michaela Hampf, Release a Man
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Ab 1885: Elektrisches Dispositiv 1 – psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie. Ab 1888: Elektrisches Dispositiv 2 – Elektroexekution. Ab 1890: Verknüpfung der beiden elektrischen Dispositive zu einer dispositiven ElektroMacht aus psychiatrischer Elektrotherapie, elektrischem Stuhl – und ab 1940 auch der ‚Elektrokonvulsionstherapie‘.
Dabei waren sowohl die ‚Geisteskranken‘ wie auch die ‚Kriminellen‘ seit den 1870er Jahren einer parallelen hereditären Ausgruppierung durch die rassistischsozialdarwinistischen Degenerationslehren ausgesetzt, die neben evolutionären Überlegenheitsphantasien auf feinziselierten wissenschaftlichen Schädelvermessungen (Kraniologie und Kephalometrie) basierten. Während sich die Medikalisierung der Kriminalität im 20. Jahrhundert nicht voll durchsetzte, erschienen die Phänomene ‚Wahn‘ und ‚Kriminalität‘ im Fin de Siècle durch die sogenannte ‚Kriminalbiologie‘ – mehr als heute – kongruent: The skulls of insane and criminals are found to be, as a rule, lower than normal. Hence an abnormally low skull may be considered as showing a tendency to crime or insanity.8
Durch anthropomorphisch-kraniologische Schädelvermessungen wurden ‚Geisteskranke‘ und ‚Kriminelle‘ – wie im obigen Zitat des Death Chair-Erfinders Frederick Peterson – wissenschaftlich ausgruppiert; ein biologistisches Macht/ Wissen, das beide Gruppen traf – und das die entstehende ElektroMacht von Beginn an epistemisch mit konstituierte.9 Periodisierung der ElektroMacht: Dr. Frederick Peterson, der konzeptionelle Erfinder des elektrischen Stuhls, führte in die USA weder die Elektrotherapie – populäre electric belts und eine ausgefeilte Elektrotherapie waren hier lange vor 1885 präsent – noch die sozialdarwinistischen Hereditätslehren (etwa der Besuch
for Combat – The Women’s Army Corps during World War II. Köln/Weimar/ Wien, 2010, 7/8). 8
Frederick Peterson, Some of the Principles of Carniometry. In: The Medical Record, Vol. 33, No. 25 (23. June 1888), 686.
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Norbert Finzsch formuliert: ‚[Macht/Wissen] kombiniert die Entfaltung der Macht und die Etablierung der Wahrheit zu einem vereinten Ganzen. Wissen/Macht kann nicht in zwei Bestandteile zerlegt werden, denn indem wir wissen, üben wir Kontrolle aus und durch die Kontrolle eignen wir uns Wissen an.‘ (Norbert Finzsch, Michel Foucault (1926-1984). In: Lutz Raphael (Hrsg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft – Band II. Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. München, 2006, 223).
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Herbert Spencers 1882 in New York) ein.10 Aber der junge Peterson brachte von seinem wissenschaftlichen ‚Post Doc‘-Forschungsaufenthalt u.a. in Leipzig und Wien den engen Konnex von ‚Kriminalbiologie‘ und (pönaler) Elektrotherapie mit, den er sich bei seinem Lehrer, dem ‚Kriminalbiologen‘ und Elektromediziner Prof. Dr. Moriz Benedikt, abgeschaut hatte. In New York avancierte der junge Peterson schnell zum First Assistant Physician – etwa: Leitender Oberarzt – des forensischen Hudson River State Hospitals in Poughkeepsie, New York, wo er eine elektrotherapeutische Abteilung eröffnete – und parallel kraniologische Schädelvermessungen an den internierten PsychiatriepatientInnen vornahm. In Petersons Umfeld verbanden sich wissenschaftliche Episteme (Elektrotherapie, Kriminalbiologie, Sozialdarwinismus), staatliche Ressourcen (Hudson River State Hospital) sowie staatliche Gewalt (Psychiatrie als notwendiges Instrument zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung) ab 1885 zu einem ersten diskursiven Amalgam (psychiatrische Elektrotherapie), in dessen diskursivem Halo Wahn mit harten elektrotherapeutischen Anwendungen diszipliniert wurde. Im Jahr 1888, die Debatte um die elektrische Todesstrafenreform war bereits im Gange, zog Frederick Peterson nach New York City, wo er augenblicklich seine Arbeiten an der Konzeption des elektrischen Stuhls zur Hinrichtung damals ebenfalls biologisch ausgruppierter ‚Krimineller‘ begann. 1888/89 entstand dann in New York ein mit reichen staatlichen Ressourcen, einer bedeutenden institutionellen Durchschlagskraft und hochkarätiger Expertise ausgestattetes zweites elektrisches Dispositiv (elektrischer Stuhl), unter dem die ‚euthanasia by electricity‘ bzw. ‚elektrische Euthanasie‘ – so die New York Times 1887 über das damals noch projektierte elektrische Töten – von knapp 50 Ärzten zur Anwendungsreife entwickelt wurde.11 Mit der ersten Elektroexekution am 6. August 1890 im Auburn State Prison, Upstate New York, begannen sich die beiden elektrischen Dispositive dann zur ElektroMacht zu verknüpfen. Fortan wirkte das elektrische Töten katalysierend auf die psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie (Verdopplung der Batterien in den NY State Hospitals) zurück, wodurch sich die dispositive ElektroMacht aus pönaler Elektrotherapie und den zunehmend routiniert verlaufenden elektrischen Tötungen weiter konsolidierte.
10 New York Times, Herbert Spencer’s Arrival. 22. August 1882; New York Times, Philosophy at Dinner – Herbert Spencer’s Gentle Reproof to America. 10. November 1882. 11 New York Times, Capital Punishment. 17. Dezember 1887.
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Um 1915, einem ersten Höhepunkt eugenischer Biomacht in den USA, fungierte das elektrische Töten dann kurzzeitig – und immer implizit – als medizinische ‚Reinigung‘ des body politic; ab spätestens 1920 gingen die biologischen Hereditätslehren dann zugunsten der Environmentalisten (Kriminalität und Wahn werden nicht vererbt, sondern entstehen im sozialen Umfeld) zurück, während Elektrotherapie und elektrisches Töten aber unvermindert fortgesetzt wurden.12 Die angebliche ‚Insulin-Schocktherapie‘ wurde 1933 von Dr. Manfred Sakel in Wien erfunden und führte durch intramuskuläre Injektion des Hormons Insulin eine lebensgefährliche Unterzuckerung (hypoglykämischer Schock) herbei, durch die die PsychiatriepatientInnen vermeintlich therapeutisch ‚bis an die Grenze von Leben und Tod‘ geführt wurden, was eine völlig neue Qualität an medizinischer Gewalt darstellte.13 Die 1935 in Budapest entwickelte ‚CardiazolSchocktherapie‘ induzierte durch Überdosierung des Analeptikums Cardiazol dann einen epileptischen Krampfanfall, der von einem tiefen ‚Vernichtungsgefühl‘ begleitet wurde. 1938 leitete Prof. Ugo Cerletti in Rom aus der ‚CardiazolSchocktherapie‘ dann die sogenannte ‚Elektroschocktherapie‘ (EST) ab, die den bei der Cardiazol-Schocktherapie zentralen tonisch-klonischen Krampfanfall kostengünstig durch einen elektrischen Schock an den Kopf erzeugte. Durch die US-Adaption der ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ ab 1940 verknüpfte sich die ElektroMacht in den USA zu maximaler Kohäsion, wobei speziell die disturbed wards der NY State Hospitals – bei fortlaufenden elektrischen Exekutionen im Sing Sing State Prison – durch ein harsches elektrisches ‚Verhaltensmanagement‘ befriedet wurden. Die ‚Elektroschocktherapie‘, die etwa an 70% weiblichen Patienten appliziert wurde und damit deutlich nach Geschlecht diskriminierte, löste teils schwere mnestische und kognitive Defekte aus, womit sie einer ‚elektrischen Lobotomie‘ glich, die das Gedächtnis der PatientInnen elektrisch annihilierte.14 Aufgrund des Quellenkorpus – aus New York liegen streng restringierte psychiatrische Krankenakten bis 1950 vor – endet der Untersuchungszeitraum hier 12 Für den wichtigen Hinweis auf den möglichen Zusammenhang von medikalisiertem Töten und medizinischer Reinigung des ‚Gesellschaftskörpers‘ bzw. body politic sei hier Uta Balbier gedankt. 13 Bernhard Richarz, Der Umgang mit psychisch kranken Menschen in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar von 1905 bis 1945. Univ. Diss., München, 1986, 118. 14 Psychiater Peter Breggin formuliert: ‚Since at least one electrode always lies over the frontal lobe, it is no exaggeration to call electroshock an electrical lobotomy.‘ (Peter R. Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry – Drugs, Electroshock, and the Psychopharmaceutical Complex. New York, NY, 2008, 237).
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mit dem Jahr 1950; zwischen 1950 und 1960 verschärfte sich die ‚Elektroschocktherapie‘ dann durch die in den USA vielfach applizierte ‚Intensive EST‘ um ein Weiteres, wobei diese ‚Annihilation Method‘ durch mehrfache zerebrale Elektroschocks täglich tiefe Verwirrungszustände bzw. ‚Regressionen‘ auslöste.15 Die 1960er und 1970er Jahre mit ihrer profunden Veränderung des politischen Klimas – Friedens- und Studentenbewegung, Vietnam-Kriegsopposition, allgemeiner ‚Linksruck‘ – führten in den USA dann zu einem 10-jährigen Todesstrafen-Moratorium;16 parallel konnte auch die ‚Elektroschocktherapie‘ durch die Erfindung wirksamer Psychopharmaka (Chlorpromazin, 1953) und die Entstehung einer Gegenbewegung, die u.a. vom New-Hollywood-Film ‚One Flew Over the Cuckoo’s Nest‘ (1975) bestärkt wurde, wirksam und nachhaltig zurückgedrängt werden.17 Mit der konservativen Restauration der 1980er Jahre kehrte dann auch die ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ wieder zurück, die heute in US-amerikanischen und deutschen Universitätskliniken eine – von Presse und Öffentlichkeit weitgehend unbeachtete – Renaissance erlebt, wobei die aktuelle EST im Fazit kurz geschildert wird.18 Forschungsstand: Zum Schnittpunkt von Körper, Medizin und Elektrizität vor bzw. um 1890 existieren diverse wissenschaftliche Monographien, unter 15 Frosch/Impastato/Wortis, Intensive Electroshock Treatment With Reiter Apparatus. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 108, No. 3 (1951), 204-207. 16 Die vorerst letzte Exekution fand im Juni 1967 in Colorado statt; mit der Hinrichtung des Raubmörders Gary Gilmore wurde die Todesstrafe 1977 in Utah dann wieder aufgenommen. (Executions in the U.S. 1608-2002: The ESPY File. Siehe: http://www. deathpenaltyinfo.org/documents/ESPYyear.pdf, 13. Januar 2013). 17 Edward Shorter/David Healy, Shock Therapy – A History of Electroconvulsive Treatment in Mental Illness. New Brunswick, NJ, 2007, 181-218; Timothy W. Kneeland/Carol A.B. Warren, Pushbutton Psychiatry – A Cultural History of Electroshock in America, Updated Paperback Edition. Walnut Creek, CA, 2008, 63. 18 Strukturell wurde die ElektroMacht von Psychiatrie- und Gefängnissystem (totale Institutionen) und epistemisch von der Medizinwissenschaft getragen, die das New Yorker Todesstrafensystem via Elektrophysiologie tiefgreifend medikalisierte. Entsprechend sind die Themenkomplexe ‚Medikalisierung‘ (Medizinisierung eines genuin nicht-medizinischen Gegenstandes) und ‚totale Institutionen‘ (Zwangsinstitutionen in denen Menschen durch eine zentrale Autorität verwaltet werden) hier äußerst relevant, da die ElektroMacht von New Yorks totalen Institutionen ausstrahlte und die Erfindung des elektrischen Stuhls das US-Todesstrafensystem über die psychiatrische Elektrotherapie lange vor Einführung der ‚lethal injection‘ tief medikalisierte.
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denen Philipp Sarasins ‚Reizbare Maschinen – Eine Geschichte des Körpers 1765-1914‘ hervorsticht.19 Sarasin, der mit ‚Reizbare Maschinen‘ eine Geschichte der ‚hygienischen Konstruktion von Individualität‘ schreibt, geht – u.a. inspiriert von Thomas Laqueur und Michel Foucault – davon aus, dass der menschliche Körper selbst ein Produkt diskursiver Konturierung – und somit kulturell volatil ist: [Marcel Mauss’] Beobachtung von unterschiedlichen Formen des Gehens, Schwimmens oder Laufens bei verschiedenen Völkern oder Nationen legte vielleicht zum ersten Mal den Gedanken nahe, dass es den Körper jenseits seiner kulturellen und historischen Modellierungen gar nicht gibt. […] Das, was den Schwimmenden oder Gehenden als ‚natürlich‘, als ihrem Körper ‚entsprechend‘ erscheint, ist ein kontingentes Stück Kultur.20
Folglich schreibt Sarasin eine Geschichte der den Körper als ‚soziale Tatsache konstituieren[den]‘ Diskurse, wobei die Generierung des Körpers (oder etwas zurückhaltender: spezifischer Körperpraktiken) durch die wissenschaftliche Hygiene den Fluchtpunkt seiner Untersuchung bildet.21 Obwohl Sarasin die Elektrotherapie nicht explizit thematisiert, ist sein Werk hier relevant, da die von ihm geschilderten Reiz- und Irritabilitätslehren, zwischen 1750 und 1850 en vouge, den historischen Rahmen und Nährboden der Elektrotherapie darstellten. So formuliert Sarasin etwa in Bezug auf den französischen Arzt und Philosophen Julien Offray de la Mettrie: ‚L’homme machine ist nichts anderes als eine ReizReaktions-Maschine.‘22 Reiz und Irritabilität wurden in der Schulmedizin des 18. Jahrhunderts als Essenz alles Lebendigen gedacht, was elektrotherapeutische Applikationen zur Beeinflussung der Irritabilität zu dieser Zeit hochgradig plausibel machte. Andreas Killen diskutiert in ‚Berlin Electropolis‘ die historischen Verflechtungen von Elektrizität, Nerven- und Modernitätskonzepten in Berlin, 18701930, wobei ihm die zivilisatorische Erschöpfungskrankheit ‚Neurasthenie‘ als Paradebeispiel für den historischen Konnex von Nervositätskonzepten und Elektrizität gilt.23
19 Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen – Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt am Main, 2001. 20 Sarasin, Reizbare Maschinen, 14/15. 21 Sarasin, Reizbare Maschinen, 15. 22 Sarasin, Reizbare Maschinen, 57. 23 Andreas Killen, Berlin Electropolis – Shock, Nerves, and German Modernity. Berkeley, CA [u.a], 2006.
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Laut Killen hat sich die Neurasthenie ab 1900 von einem Oberschichtsphänomen der Überreizung durch privilegierte Kopfarbeit zu einer ‚mass neurasthenia‘ entwickelt, wobei Killen die Ausweitung der ‚Neurasthenie‘ zum Massenphänomen plausibel mit ihrer krankenkassenmäßigen Institutionalisierung erklärt. Die deutschen Krankenkassen hätten ‚traumatic neurosis‘ ab 1889 anerkannt; nach der Streichung aus dem Katalog sozialer Leistungen 1926 verschwand die ‚Neurasthenie‘ dann so schnell, wie sie gekommen war – auch da sie – wie die aus Elektrizitätsangst resultierende ‚switchboard neurosis‘ der Berliner Telefonistinnen – mit dem Narrativ der Moderne nicht mehr kompatibel war.24 Carolyn de la Peña analysiert in ihrem Werk ‚The Body Electric‘ den diskursiven Konnex von ‚muscle-building machines, […] electric invigorators, such as electric belts‘ sowie der ab 1910 in den USA vielfach vertriebenen radioaktiven Elixiere, wobei ihre Untersuchung um den Schnittpunkt Mensch-Maschine bzw. ‚our current enthusiasm for cyber bodies‘ gravitiert.25 Carolyn de la Peña beschreibt die Elektrotherapie, die zwischen 1880 und 1920 ihr ‚Golden Age‘ erlebte, als vom ‚Neurasthenie‘-Diskurs inspirierten Springquell an Lebenskraft. Zunächst sei die Elektrotherapie stark von dem 1778 entwickelten Mesmerismus beeinflusst worden;26 in den USA habe Dr. George M. Beard dann mit der ‚Neurasthenie‘ den Konnex von Elektrizität und Körper (body electric, ursprünglich ein Zitat des Dichters Walt Whitman) hergestellt, wobei elektrischer Strom auch von Elektrikern als lebensspendende vitalistische Kraft aufgefasst worden sei:
24 Killen, Berlin Electropolis, 82. Ein deutscher Arzt formulierte 1926, hier nach Killen in englischer Übersetzung zitiert: ‚The causes of the emergence of the so-called accident neuroses lie in our laws.‘ (Killen, Berlin Electropolis, 82). Zur ‚switchboard neurosis‘ bzw. ‚telephonophobia‘, siehe: Killen, Berlin Electropolis, 164-167, zum Narrativ der Moderne, siehe: Killen, Berlin Electropolis, 213. 25 Carolyn de la Peña, The Body Electric – How Strange Machines Built the Modern American. New York, NY, 2003, 7 und 10. 26 De la Peña, Body Electric, 98 und 92/93. Norbert Finzsch formuliert: ‚The easy shift from mesmerism to electricity was possible because both phenomena seemed to affect the body in the same way. According to contemporary sources, animal magnetism and animal electricity were forces innate to the bodies of both animal and human actors.‘ (Norbert Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘ – Intersections between Bodies and Electrical Machines. In: Hampf/Snyder-Körber, Machine – Bodies, Genders, Technologies. Heidelberg, 2012, 254).
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One study, in which a schoolroom was fitted with a high frequency electric current for six month, found that children grew an average of 20 mm more than those unexposed to electricity.27
Norbert Finzsch analysiert in seinem Aufsatz ‚Henry Adams, Nikola Tesla, and the Body Electric‘ die ab 1890 zunehmende Entzauberung der mit zivilisatorischer Erhabenheit und ‚Lebenskraft‘ konnotierten Elektrizität: […] [T]he public discourse around electricity ceased to portray electricity as a sublime and simultaneously corporal force around and about 1890.28
Autor Henry Adams und Westinghouse Electric-Chefelektriker Nikola Tesla seien zunächst von der tradierten ‚romantic electricity‘ inspiriert worden, wobei Henry Adams die Elektrizität ‚persistently […] as sublime‘ charakterisiert habe, während Tesla als ‚popularizer of electricity‘ aufgetreten sei, der auch vor publikumswirksamen Übertreibungen nicht zurückschreckte.29 Adams und Tesla seien jedoch keine typischen Vertreter und hätten eher ‚borderlands of the electrical discourse‘ vertreten: Whereas Adams still clearly reflected on the hallowed intersections of the machinic with the corporeal in his texts about electricity, Tesla used the human body to demonstrate the harmlessness of electricity to a flabbergasted audience.30
Parallel setzte sich, so Finzsch, auch in populären Magazinen elektrizitätsbezüglich ein eher ‚factual tone‘ durch, der auf eine diskursive Profanisierung der Elektrizität ab etwa 1890 verweise.31 Diese drückte sich auch in den vermehrten Schadenersatz-Klagen nach Elektrizitätsunfällen aus:
27 De la Peña, Body Electric, 107, zu Whitman, siehe: Walt Whitman, I Sing the Body Electric. In: Walt Whitman, Leaves of Grass, Brooklyn, NY, 1855, 77-81. In ihrer Darstellung der Elektrotherapie weist De la Peña die von zeitgenössischen Ärzten berichteten Therapieerfolge als Placebo-Effekte aus. (De la Peña, Body Electric, 110). 28 Norbert Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘ – Intersections between Bodies and Electrical Machines. In: Hampf/Snyder-Körber, Machine – Bodies, Genders, Technologies. Heidelberg, 2012, 253. 29 Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘, 256, 257 und 258. 30 Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘, 260. 31 Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘, 260.
20 | M EDIZINISCHE GEWALT The high number of tort cases involving electric shocks or accidental electrocution […] reinforces the notion that electricity was no longer perceived as an anonymous threat of unknown origin or a godly intervention […]. To put it bluntly, one does not file a negligence complaint against the sublime.32
Zur Geschichte der Todesstrafe in den USA wird hier auf Stuart Banners ‚Death Penalty‘ sowie auf Jürgen Martschukats ‚Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika‘ zurückgegriffen.33 In ‚Death Penalty‘ beginnt Stuart Banner sein ‚Technological Cures‘ überschriebenes Kapitel zur Einführung des elektrischen Stuhls mit einem wichtigen Hinweis (‚For Americans in the late nineteenth century, electricity was therapeutic‘), ohne die medizinischen Aspekte der elektrischen Todesstrafenreform aber weiter zu analysieren.34 Auch Jürgen Martschukat ordnet das ‚technisiert[e] Töten mit Elektrizität‘35 in den größeren Rahmen der Technikgeschichte ein: Die Fähigkeit, Strom zu gewinnen und zu nutzen, brachte in den Augen der Zeitgenossen das Leistungspotential und die zivilisatorische Entwicklung eines strahlend hellen Amerika zum Ausdruck.36
Enthusiastische Elektrizitätsdiskurse seien auf die Todesstrafe übergesprungen, da es, so Martschukat, ‚Elektrizität in – im wahrsten Sinne des Wortes – jeder Lebenslage zu nutzen‘ galt.37 Gleichzeitig bringt Martschukat die Einführung des elektrischen Stuhls – plausibel und weit dezidierter als Stuart Banner – mit einer makrogesellschaftlichen Veränderung der Schmerzperzeption (Äther-Anästh-
32 Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘, 269. Finzsch formuliert: ‚Exit the sublime, enter the lawyers.‘ (Finzsch, Henry Adams, Nikola Tesla, and the ‚Body Electric‘, 273). 33 Stuart Banner, The Death Penalty – An American History. Cambridge, MA, 2002; Jürgen Martschukat, Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika – Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart. München, 2002. 34 Banner, Death Penalty, 177. Zu einem der Kernpunkte der vorliegenden Untersuchung – der psychiatrischen Anstalts-Elektrotherapie in NY vor Erfindung des elektrischen Stuhls, 1890 – existiert, soweit bekannt, keine einzige wissenschaftliche Publikation, weswegen die Elektrotherapie hier anhand der ‚Annual Reports‘ der NY State Hospitals überhaupt erst einmal positiv erhoben werden muss. 35 Martschukat, Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika, 87. 36 Martschukat, Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika, 85. 37 Martschukat, Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika, 92/93.
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esie) in Zusammenhang, worauf in der Schlussbetrachtung kurz zurückgekommen wird (siehe Kapitel: 7). Zur Einführung des elektrischen Stuhls existieren immerhin vier Monographien, die alle die Verstrickung des weltberühmten Thomas A. Edison, Erfinder von Phonograph und Glühbirne, in die Konstruktion des elektrischen Stuhls fokussieren: Die Involvierung Thomas A. Edisons in die elektrische Todesstrafenreform wurde 1958 von dem Historiker Thomas Hughes entdeckt; im berühmten ‚Battle of Currents‘, in dem sich die beiden Strommagnaten Thomas A. Edison (Gleichstrom) und George Westinghouse, Jr., (Wechselstrom) in scharfer Konkurrenz gegenüberstanden, wollte Thomas A. Edison seinen Konkurrenten Westinghouse durch die Einführung eines mit Wechselstrom betriebenen elektrischen Stuhls als Verfechter eines für die Kunden gefährlichen ‚Henkerstroms‘ diskreditieren.38 Craig Brandons Monographie ‚The Electric Chair’ kann heute als veraltet gelten; Richard Morans ‚Executioner’s Current‘ basiert auf einem umfangreichen Quellenkorpus und arbeitet minutiös die Verstrickung Thomas A. Edisons in die Konstruktion des elektrischen Stuhls heraus.39 Thomas Metzger hat mit ‚Blood and Volts – Edison, Tesla, & the Electric Chair‘ eine kurzes Werk vorgelegt, das sich ebenfalls um den Battle of Currents dreht, besonders im ersten Kapitel aber wichtige Hinweise zur Involvierung der medizinischen Eliten sowie zur Hygiene und den Hereditätslehren enthält: The concept of hygiene – the art of health – was pervasive in this period. […] Just as at the same time eugenic science was striving to purify the gene pool of America by preventing ‚dysgenic‘ procreation […]. […] [W]ith the invention of the electric chair [the death penalty] was increasingly thought of as a cleansing […]. It became less a penal and more a medical procedure.40
Trotz dieses interessanten Statements werden die medizinischen Aspekte der ‚euthanasia by electricity‘ bei Metzger jedoch nicht weiter analysiert.
38 Thomas P. Hughes, Harold P. Brown and the Executioner's Current – An Incident in the AC-DC Controversy. In: The Business History Review, Vol. 32, No. 2, (1958), 143-165. 39 Craig Brandon, The Electric Chair – An Unnatural American History. Jefferson, NC, 1999; Richard Moran, Executioner’s Current – Thomas Edison, George Westinghouse, and the Invention of the Electric Chair. New York, NY, 2003. 40 Thomas R. Metzger, Blood and Volts – Edison, Tesla, & the Electric Chair. New York, NY, 1996, 21.
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Mark Essig hat mit ‚Edison & the Electric Chair‘ eine überzeugende Monographie zum elektrischen Stuhl vorgelegt, in der er plausibel die Verwicklung Thomas A. Edisons in die Konstruktion des elektrischen Stuhls herausarbeitet: New York’s introduction of electrical execution was a momentous change that required the political, medical, and technological skills of many men […]. But because of his immense fame and powerful reputation, Thomas Edison’s opinions carried the greatest weight. […] Edison – more than any other single person – ensured that electrocution would be the state’s method of capital punishment.41
Dieses Statement, das den heutigen Forschungsstand zum Prozess der Einführung des elektrischen Stuhls markiert, soll hier durch die Analyse der Involvierung der medizinischen Eliten sowie der Wechselwirkungen zwischen psychiatrischer Elektrotherapie, elektrischem Stuhl und der ‚Elektroschocktherapie‘ (dispositive ElektroMacht) geschichtswissenschaftlich komplementiert bzw. vervollständigt werden.42 Timothy W. Kneeland und Carol A. B. Warren liefern mit ihrem kurzen Werk ‚Pushbutton Psychiatry‘ eine kritische Analyse der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA, die auch die psychiatrische Elektrotherapie vor 1940 einschließt.43 Die Autoren beginnen ihre Untersuchung mit Hinweisen auf die antiken Wurzeln der Elektrotherapie in der galenischen Medizin, um dann die ‚Electrical Psychiatry‘ des 18. Jahrhunderts zu schildern, die sie als medizinischen Vorläufer der späteren ‚Elektroschocktherapie‘ werten: Practitioners on both sides of the Atlantic experimented with the electrical treatment of madness, many claiming dramatic success. Some […] saw electricity as a kind of panacea, while others (like some twentieth-century ECT physicians) proposed it as a last resort.44
41 Mark Essig, Edison & the Electric Chair – A Story of Light and Death. New York, NY, 2003, 288. 42 Darüber hinaus ist Jill Jonnes ‚Empires of Light‘ relevant, das zwar den ‚Battle of Currents‘ zum Gegenstand hat, der Einführung des elektrischen Stuhls aber ein ausführliches Kapitel widmet. (Jill Jonnes, Empires of Light – Edison, Tesla, Westinghouse, and the Race to Electrifiy the World. New York, NY, 2004, 185-213). 43 Timothy W. Kneeland/Carol A.B. Warren, Pushbutton Psychiatry – A Cultural History of Electroshock in America, Updated Paperback Edition. Walnut Creek, CA, 2008. Der elektrische Stuhl wird von Kneeland und Warren allerdings nur im Nebensatz erwähnt. (Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, 38). 44 Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, 13.
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Für die Zeit des Fin de Siècle beziehen sich Kneeland/Warren primär auf Beard│Rockwells Elektrotherapie der ‚Neurasthenie‘ (siehe: Abschnitt 3.3); parallel wird die lokale Elektrotherapie an weiblichen Patienten von den Autoren als Ausdruck einer ‚patriarchal medicine‘ gewertet und in den Kontext pönaler chirurgischer Eingriffe wie der ‚clitoridectomy‘ (Beschneidung) gestellt: Throughout the history of electrical treatment gender has been at the center of the hierarchy of electrical patienthood […]. […] These genital techniques of treating women’s insanity, including clitoridectomy, continued into the early decades of the twentieth century.45
Für die 1920er und 1930er Jahre konstatieren Kneeland/Warren dann ein fast vollständiges Verschwinden der psychiatrischen Elektrotherapie (was weiter unten widerlegt werden kann, siehe die Kapitel: 5.3 und 5.5), um anschließend zur 1938 in Europa entwickelten ‚Elektroschocktherapie‘ zu kommen, die sie als ein den totalitären Regimen Europas entspringendes ‚tool of fascism‘ werten.46 Edward Shorter und David Healy liefern mit ihrem Werk ‚Shock Therapy – A History of Electroconvulsive Treatment in Mental Illness‘ die einzige vollwertige Geschichte der ‚Elektroschocktherapie‘, womit das Buch einen bedeutenden wissenschaftlichen Wert besitzt. Shorter und Healy bieten eine Geschichte der EST von ihrer Ableitung aus der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie über ihre US-Einführung, ihre Zurückdrängung nach der Entwicklung wirksamer Psychopharmaka ab 1953 und die Anti-Psychiatriebewegung in den 1960ern und 1970ern bis hin zu ihrem Wiederaufkommen als angebliche ‚New ECT‘ Ende der 1970er, das sie als Triumph ‚of research-physicians like Max Fink‘ zelebrieren.47 In dem sauber recherchierten, auf einem umfassenden Quellenkorpus basierenden Werk, wird die ‚Elektroschocktherapie‘ kritiklos verklärt: It was a small band of European émigrés – Italians, Germans and Austrians, and Jews for the most part – who saw the merits in electroconvulsive therapy and sustained its use de45 Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, xxiii, 33 und 34, zur ‚patriarchal medicine‘, siehe: Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, vii. Trotz der Auflegung eines Kapitels mit der Überschrift ‚Electrotherapy and Asylum Alienists‘ sei die psychiatrische Elektrotherapie in staatlichen Asylen um 1890 kaum angewandt worden (‚was not used routinely‘), was weiter unten (siehe den Abschnitt: 3.4) ebenfalls ausführlich widerlegt werden kann. (Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, 23). 46 Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, 38 und 49. 47 Edward Shorter/David Healy, Shock Therapy – A History of Electroconvulsive Treatment in Mental Illness. New Brunswick, NJ, 2007, 229.
24 | M EDIZINISCHE GEWALT spite professional antipathy and ostracism […]. They are unacknowledged heroes in the twentieth-century history of psychiatry. This book is in their memory.48
Das Werk ist Dr. Lothar Kalinowsky, Dr. David Impastato und Dr. Almansi gewidmet (siehe Abschnitt: 6.2); im ersten Kapitel insinuieren die Autoren, geschickter Weise mit einem Fragezeichen versehen, dass die ‚Elektroschocktherapie‘ das ‚Penicillin of Psychiatry?‘ sei.49 In ihrer Eloge auf die EST, die sich vermeintlich objektiv gegen eine ‚series of Hollywood horror images‘ richtet, erwähnen Shorter und Haley auch für EST-Verfechter unangenehme Tatsachen, wie etwa die Rolle, die Dr. Adolf Wahlmann, ab 1942 Direktor der T4Vernichtungsanstalt Hadamar, bei der Durchsetzung der Cardiazol-Schocktherapie in NS-Deutschland spielte.50 Die ‚powerful ECT lobby‘ der US-Ostküste wird heute im Wesentlichen von Dr. Max Fink geführt; Shorter/Healys Werk beginnt mit dem Satz ‚This book owes a special debt to Max Fink‘.51 Die Finanzierung des Buches wurde – so Max Fink in einem kurzen Gespräch mit dem Autor der vorliegenden Untersuchung während der Archivarbeiten in der Universitätsklinik der Cornell University, 2009 – maßgeblich von EST-Psychiater Max Fink organisiert. Shorter/Healys Werk diametral entgegengesetzt ist Peter R. Breggins ‚BrainDisabling Treatments in Psychiatry‘, in dem der Mediziner Breggin minutiös die hirnschädigenden Eigenschaften der ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ herausarbeitet. Breggins ausführliches EST-Kapitel beginnt mit dem Fall einer 55-jährigen Musiklehrerin, die nach diversen EST-Applikationen kündigen musste, da ihr ‚overall IQ‘ durch die EST um 20 Punkte gesunken war.52 Anschließend zitiert Breggin eine Studie des EST-Verfechters Dr. Harold Sackheim, der 2007 an 347 EST-PatientInnen ‚widespread losses not only in memory, but also in cognitive functioning‘ feststellte und widerspricht dann der Ansicht, dass die EST das beste Mittel gegen Selbstmord sei.53 48 Shorter/Healy, Shock Therapy, Widmung. 49 Shorter/Healy, Shock Therapy, 1-9. 50 Shorter/Healy, Shock Therapy, 61, zu Hollywood: Shorter/Healy, Shock Therapy, 8. 51 Peter R. Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry – Drugs, Electroshock, and the Psychopharmaceutical Complex. New York, NY, 2008, 222; Shorter/Healy, Shock Therapy, Acknowledgments. Zu Max Fink siehe: Shorter/Healy, Shock Therapy, 229-234, sowie: Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 228-229. 52 Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 220. 53 Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 223, zur Sackheim-Studie: Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 222. Diese und andere wissenschaftliche Ergebnisse würden vom psychiatrischen Establishment ‚umgedeutet‘; Peter
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Die Resultate der EST entsprächen exakt dem klinischen Bild einer Kopfverletzung (‚closed-head injury from ECT‘); die schweren mnestischen Defekte würden vom wissenschaftlichen Establishment heruntergespielt.54 Diverse Studien hätten die aus der EST resultierenden Hirnschäden – ‚widespread pinpoint hemorrhages and scattered cell death‘ – bewiesen, doch speziell die Berichte der American Psychiatric Association (APA) seien von den Einwänden kritischer KollegInnen gereinigt worden: ECT is presented as if no one in the profession has ever criticized it.55
Entsprechend habe sich Breggin nach langem Überlegen entschlossen, für ein Verbot der EST zu votieren: I believe that all concerned mental health professionals should support the banning of ECT.56
Quellenkorpus: Neben einer bedeutenden Fülle teils streng restringierter Archivalien (s.u.) basiert die vorliegende Untersuchung auf einem breiten Korpus publizierter Quellen, der zeitgenössische wissenschaftliche Monographien, klinische Literatur aus einschlägigen medizinischen Fachzeitschriften, die Tagespresse, Breggin konkludiert: ‚I have rarely seen so much outright fabrication in the psychiatric literature as I have seen in regard to ECT and lobotomy […]. Perhaps because these treatments are so violent and devastating, the doctors who perpetrate them, much like others perpetrators of violence, are especially prone to hide or to lie about the harmful effects of what they are doing.‘ (Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 224). 54 Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 231, zum Herunterspielen, siehe: Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 223-224. 55 Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 247. Zu den durch die sog. ‚Elektrokrampftherapie‘ induzierten Hirnschäden, siehe: Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 237. 56 Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 250. Zur Geschichte der Einführung der ‚Elektroschocktherapie‘ in NS-Deutschland existieren zwei medizinwissenschaftliche Dissertationen: Rudolf Nowak, Zur Frühgeschichte der Elektrokrampftherapie in der deutschen Psychiatrie (1937 bis Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts). Med. Diss., Universität Leipzig, 2000, sowie: Erik R. Heintz, Die Einführung der Elektrokrampftherapie an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität München 1941 bis 1945. Med. Diss., Ludwig-Maximilians-Universität München, 2004.
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autobiographische Schriften sowie eine Fülle publizierter staatlicher Verwaltungsberichte wie die Annual Reports der NY State Hospitals oder staatliche Sonderberichte wie den folgenden einschließt: State of New York, Report of Carlos F. MacDonald, M.D., on the Execution by Electricity Of William Kemmler, Alias John Hart[.] Presented to the Governor September 20, 189057
An klinischen Fachzeitschriften wird hier auf das 1844 als ‚American Journal of Insanity‘ gegründete ‚American Journal of Psychiatry‘ zurückgegriffen; außerdem wird das New Yorker ‚State Hospitals Bulletin‘, ab 1927 ‚Psychiatric Quarterly‘, konsultiert. Auf das ‚NY Medical Journal‘ oder den New Yorker ‚Medical Record‘ wird im Bedarfsfall ebenfalls zurückgegriffen; Dr. Frederick Petersons Aufstieg in der ‚Medico Legal Society of New York‘ (MLS) kann problemlos anhand des ‚Medico-Legal Journal‘ rekonstruiert werden, das u.a. ausführliche ‚Transactions‘ zu den monatlichen MLS-Sitzungen (plus Anwesenheitslisten) enthält. Außerdem wird hier die ‚New York Times‘ herangezogen. Einige der involvierten historischen Akteure publizierten autobiographische Monographien; Elektrotherapeut Dr. Alphonse Rockwell beschrieb in seinen ‚Rambling Recollections‘ auch seine Involvierung in die Erfindung des elektrischen Stuhls. Dr. Amos O. Squire lieferte mit seiner Autobiographie ‚Sing Sing Doctor‘ (1935) Erinnerungen an seine Zeit als Gefängnisarzt und NY State Electrician Robert Elliott publizierte mit ‚Agent of Death – The Memoirs of an Executioner‘ einen schaurigen Bestseller, der von Ghostwriter Albert R. Beatty verfasst wurde. Eine weitere wichtige Quelle stellen die jährlichen Annual Reports der einzelnen NY State Hospitals an die NY State Commission in Lunacy (Psychiatrieministerium, ab 1926: NY State Department of Mental Hygiene, heute: NY State Office of Mental Health, OMH) dar. Die Annual Reports der einzelnen NY State Hospitals beginnen mit einer Liste des Führungspersonals (‚Officers‘), dann folgt ein Statement der NY State Hospital-Manager sowie der zentrale ‚Report of the Superintendent‘, der Statistiken (Belegzahlen, Diagnosen, Herkunft der Patienten usf.), die wichtigsten Ereignisse (Unfälle, bauliche Erweiterungen usf.) sowie Trivia (Patientenbälle, Personalwechsel, Konzerte, usf.) enthält.58
57 Report of Carlos F. MacDonald, M.D., on the Execution by Electricity of William Kemmler, Alias John Hart - Presented to the Governor September 20, 1890. Albany, NY, 1890. 58 Außerdem publizierte auch die NY State Commission in Lunacy einen ausführlichen Annual Report, der alle wesentlichen Entwicklungen zusammenfasste und der auch
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Archivalien: Neben publizierten Quellen kann hier auf einschlägiges Archivmaterial – also meist handschriftliche Originaldokumente aus den damaligen Institutionen – zurückgegriffen werden, das primär in den New York State Archives in New Yorks Hauptstadt Albany eingesehen wurde. So liegen aus dem späten 19. Jahrhundert diverse Archivalien aus dem NY State Hospital-System wie etwa Sitzungsprotokolle der NY State Commission in Lunacy (‚State Commission in Lunacy Policy and Meeting Record‘), einige ‚Medical Certificates of Lunacy, 1890‘ sowie diverse Krankenakten (OMH Clinical Case Files, s.u.) vor. Parallel kann hier auf das ‚General Journal‘ des Auburn State Prison zurückgegriffen werden, das jede Einnahme und Ausgabe des Gefängnisses verzeichnete. So wurde Psychiatrieminister Dr. Carlos F. MacDonald im Februar 1891 für seine Expertendienste im Zuge der ersten elektrischen Tötung mit fürstlichen 250$ – damals das knappe Monatsgehalt eines NY State Hospital-Superintendent – vergütet und Dr. George E. Fell aus Buffalo lieferte im August 1890 persönlich Einzelteile des elektrischen Stuhls im Auburn State Prison ab: ‚Dr. George E. Fell Rubber Cup 15.00 [$]‘59 1916 wurde die Todesstrafe im New Yorker Hauptgefängnis Sing Sing zentralisiert; aus dem Sing Sing State Prison liegen u.a. die ‚Admission registers for prisoners to be executed, 1891-1946‘ (auch ‚Death House Receiving Blotter‘) sowie das ‚Log of actions relating to inmates scheduled for execution, 19151967‘ vor. Außerdem konnten die hochkarätigen ‚Sing Sing Execution Files‘, die im Sing Sing State Prison über die jeweiligen Todeskandidaten geführten historischen Originalakten, eingesehen werden. Die äußerst detaillierten ‚Execution Files‘ enthalten sämtliche den Delinquenten betreffende Dokumente wie Death Warrant bzw. Todesurteil, polizeiliche Identifikationsdokumente, Revisionsentscheide, fallbezügliche Kommunikation mit dem Department of Corrections, den Schriftverkehr zwischen der Gefängnisleitung und dem Todeskandidaten (Anfragen, Entwicklungen, Ankündigung der Hinrichtung), Listen der zur Tötung geladenen Zeugen – inklusive teils bizarrer ‚Bewerbungsbriefe‘ von am Erlebnis einer Hinrichtung interessierten Bürgern – sowie Totenscheine und Autopsieberichte.
von Dr. MacDonald erlassene Anordnungen an die NY State Hospital-Superintendents enthielt. 59 NY State Archives B1230: General Journal, Auburn Prison, 336 (‚January 1891‘). Zu Dr. George E. Fell, siehe: NY State Archives: General Journal, Auburn Prison, 289 (‚August 1890‘).
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Nach einem aufwendigen bürokratischen Bewerbungsprozess hat das NY State Office of Mental Health (OMH) – und damit die Nachfolgeorganisation der NY State Commission in Lunacy – dem vorliegenden Projekt im Mai 2009 eine Forschungserlaubnis erteilt (NY State OMH Central Office Institutional Review Board Approval) und damit den Zugang zu streng restringierten ‚OMH Clinical Case Files‘, also psychiatrischen Krankenakten aus den NY State Hospitals, gewährt. Die primär in den NY State Archives in Albany lagernden Akten sind laut § 33.13, NY State Mental Hygiene Law, geheim: Such information about patients [Clinical Records] […] shall not be a public record and shall not be released by the [OMH] offices or its facilities to any person or agency outside of the offices […].60
Die Akten sind der Öffentlichkeit also grundsätzlich verschlossen; in streng definierten Ausnahmefällen (Anwälte, Strafverfolgung, Wissenschaften) kann jedoch ein Antrag auf Akteneinsicht erfolgen. Für den wissenschaftlichen Gebrauch können die Akten freigegeben werden: [W]ith the consent of the appropriate commissioner, to: […] qualified researchers upon the approval of the institutional review board or other committee specially constituted for the approval of research projects […].61
Um Akten-Einsicht zu erhalten, muss die Erlaubnis einer OMH-Ethikkommission (Institutional Review Board) vorliegen, die der NY State Commissioner of Mental Health aktiv zu bestätigen hat, womit das OMH seine Patientenakten vollständig kontrolliert. Nach einem aufwendigen Bewerbungsprozess, in dessen Verlauf der Autor das Projekt u.a. vor dem Institutional Review Board des Hudson River Psychiatric Centers in Poughkeepsie, NY, vorstellte, konnten die Akten freigegeben werden, wobei sich viele Persönlichkeiten für die Forschungserlaubnis eingesetzt haben (siehe Danksagung). Dass der Zugang zu den hochsensiblen Akten für das vorliegende Projekt gewährt wurde, ist ein Beweis für die demokratische Transparenz der US-Gesellschaft, der mit Zuversicht und Vertrauen erfüllt. An EST-relevanten Akten des NY State OMH liegen an dieser Stelle vor:
60 NY State Mental Hygiene Law, §33.13, zitiert nach: http://codes.lp.findlaw.com /nycode/MHY/E/33/33.13. (21. September 2012). 61 NY State Mental Hygiene Law, §33.13, zitiert nach: http://codes.lp.findlaw.com /nycode/MHY/E/33/33.13. (21. September 2012).
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OMH Akten: • • •
Utica State Hospital, Shock Therapy Treatment Log, 1948-1949.62 Utica State Hospital, Ward Inspection Reports, 1953-1954.63 Willard State Hospital, Special Therapies Report, 1955-1967.64
OMH Clinical Case Files: •
•
Buffalo State Hospital: Zwei Insulin-Schockakten, zwei InsulinCardiazol-Schockakten sowie sechs ‚Elektroschocktherapie‘-Akten aus den 1940er Jahren.65 Willard State Hospital: 22 ‚Elektroschocktherapie‘-Akten aus den 1940er Jahren.66
Anhand der spektakulären OMH Clinical Case Files kann die ‚Elektroschocktherapie‘ im Stationsalltag der NY State Hospitals hier erstmals en détail analysiert werden. Anmerkungen und Vorgehen: Sämtliche Hervorhebungen und Unterstreichungen in den Quellen finden sich auch im Original, sodass die Quellen nicht verändert wurden. Auf die Einleitung (1) folgt ein kurzer Theorieteil (2); der eigentliche Hauptteil der Untersuchung gliedert sich dann in vier Abschnitte (3,4,5,6), auf die ein kurzes Fazit (7) folgt:
62 NY State Archives B1588: Utica State Hospital, Shock Therapy Treatment Log, 19481949. 63 NY State Archives B1589: Utica State Hospital, Ward Inspection Reports, 1953-1954. 64 Der ‚Special Therapies Report‘ enthält primär Informationen zur Erprobung des ersten Neuroleptikums Chlorpromazin ab 1955. (NY State Archives B1817: Willard State Hospital, Special Therapies Report, 1955-1967). 65 NY State Archives 14231-99: NY State Office of Mental Health, Buffalo Psychiatric Center Patient Case Files, 1920-1975. 66 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942.
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1. Einleitung 2. Theorie 3. Private und staatliche Elektrotherapie in New York vor 1890 4. Die Entwicklung des elektrischen Stuhls aus der psychiatrischen Elektrotherapie, 1890 5. Eine kombinierte Geschichte von elektrischem Stuhl und psychiatrischer Elektrotherapie in NY, 1890-1940 6. Die ‚Elektroschocktherapie‘ in New York, 1940-1950 7. Fazit
2. Theorie
2.1 M EDIKALISIERUNG , R ASSISMEN , T OTALE I NSTITUTIONEN Medikalisierung: Die Medikalisierung der Todesstrafe durch die psychiatrische Elektrotherapie bildet eine der Hauptvoraussetzungen der dispositiven ElektroMacht, wobei hier unter ‚Medikalisierung‘ die professionelle wissenschaftliche Medizinisierung eines genuin nicht in das Feld der medizinischen Wissenschaften fallenden Gegenstandes – und mithin eine Expansion der Medizin – begriffen wird: Medicalization describes a process by which nonmedical problems become defined and treated as medical problems, usually in terms of illnesses or disorders.1
Heute sind viele historische Medikalisierungsprozesse (Kriminologie, Sozialarbeit, usf.) wieder rückläufig; ein klassischer Topos für Medikalisierung ist die Geburt, die im 19. Jahrhundert ausschließlich in Laienhand war und heute nahezu vollständig in Krankenhäusern geleistet wird. Weitere Beispiele wären Alkohol- und Opiatsucht, Jugendkriminalität, Hyperaktivität (‚medicalization of childhood deviance‘), Kindesmissbrauch sowie Homosexualität, Kriminalität, Menopause, Alter und Tod.2 Aus Peter Conrads und Joseph Schneiders Werk ‚Deviance and Medicalization‘ sowie Peter Conrads Aufsatz ‚Medicalization and Social Control‘ lässt sich 1
Conrad/Schneider, Deviance and Medicalization – From Badness to Sickness. St. Louis/Toronto/London, 1980; Peter Conrad, Medicalization and Social Control. In: Annual Review of Sociology, Vol. 18 (1992), 209-232. Zum Zitat, siehe: Conrad, Medicalization and Social Control, 209.
2
Conrad/Schneider, Deviance and Medicalization, 73-109, 145-171, 172-214, 215-240.
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ein plausibles vierstufiges Medikalisierungsmodell ableiten, anhand dessen sich die elektrotherapeutische Medikalisierung des New Yorker Todesstrafensystems exakt rekonstruieren lässt: Stufe 1: ‚Medical Claim‘: Aufforderung zur Medikalisierung Stufe 2: ‚Medical Model‘: Entwicklung eines medizinischen Lösungsansatzes Stufe 3: ‚Institutionalization‘: Bürokratische Professionalisierung und Ausstattung mit (staatlichen) Ressourcen Stufe 4: ‚Interactional Level‘: Die Ärztliche Anwendung Ein zweiter wichtiger Aspekt ist das umgekehrte Phänomen, also die Demedikalisierung; Peter Conrad formuliert: Medicalization is a two-way process. Demedicalization refers to a problem that no longer retains its medical definition. In the late nineteenth century, masturbation was considered a disease and was the object of many medical interventions. By the twentieth century it was no longer defined as a medical problem nor was it the subject of medical treatment.3
Auch der elektrische Stuhl demedikalisierte sich nach seiner Erfindung durch die Spitzen des medizinisch-psychiatrischen Establishments zusehends; ab 1892 zogen sich die medizinischen Eliten sukzessive aus der Todeskammer zurück und spätestens ab 1920 hatte die einstige ‚elektrische Euthanasie‘ ihren medizinischen Nimbus nahezu vollständig verloren. Ausgruppierung/Rassismen: In seinem Werk ‚Rassismus‘ beschreibt George M. Fredrickson das Problem des Rassismus wie folgt: Meine Theorie […] des Rassismus hat […] zwei Komponenten: Differenz und Macht. Rassismus entspringt einer Denkweise, nach der ‚sie‘ sich von ‚uns‘ dauerhaft unterschei3
Conrad, Medicalization and Social Control, 224. In der jüngeren Forschung wird verstärkt die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen betont, wodurch Medikalisierung nicht mehr ausschließlich als durch eine hegemoniale Medizinalbürokratie oktroyierter Mechanismus erscheint, sondern plausibel als wechselseitiger Prozess begreiflich wird, in dem der Nachfrageseite eine bedeutende Rolle zukommt. (Eckart/ Jütte, Medizingeschichte. Köln/Weimar/Wien, 2007, 315-316) Auch im Prozess der Medikalisierung der Todesstrafe bestand eine deutliche ‚Nachfrage‘ an medizinischem Handeln, die sich in dem breit publizierten Wunsch nach einem ‚schmerzfreien‘ und ‚zivilisierten‘ Töten artikulierte. Peter Conrad formuliert: ‚[…] [M]edicalization is an interactive process and not simply the result of ›medical imperialism‹ […].‘ (Conrad, Medicalization and Social Control, 219).
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den, ohne daß es die Möglichkeit gäbe, die Unterschiede zu überbrücken. Dieses Gefühl der Differenz liefert ein Motiv beziehungsweise Rechtfertigung dafür, daß ‚wir‘ unseren Machtvorteil einsetzen, um den ethnorassisch Anderen auf eine Weise zu behandeln, die wir als grausam oder ungerecht ansehen würden, wenn Mitglieder unserer eigenen Gruppe davon betroffen wären.4
Rassismus entsteht, wenn eine (hegemoniale) Gruppe die Mitglieder einer zweiten Gruppe als die ‚Anderen‘ ausgruppiert (‚Du bist nicht wie wir‘); diese durch Othering konstruierte Differenz wird von der diskriminierenden Gruppe meist mit negativen Attributen versehen, um die Mitglieder der zweiten Gruppe zu diskreditieren (‚Du bist schlechter als wir‘). Die so entstehende qualitative Differenz erlaubt es den Angehörigen der diskriminierenden Gruppe, sich an den Angehörigen der diskriminierten Gruppe narzisstisch zu delektieren (‚Ich bin besser als du‘); gleichzeitig entsteht, besonders bei Ausstattung der Rassismen mit staatlichen Ressourcen (Staatsrassismus: Kolonialismus, Imperialismus, Sklaverei, NS-System, Apartheit)5 ein gewaltsames Top-Down-Verhältnis – und damit ein bedeutendes Maß an Macht.6 Können die Diskriminierten jedoch – etwa via Taufe – in die diskriminierende Gruppe wechseln, bleibt die angebliche qualitative Differenz fragil.7 Um den Rausch des Überlegenseins zu sichern, muss die Differenz vom Rassisten also ‚dauerhaft‘ (Fredrickson) etabliert werden, was im Falle des modernen Ethnorassismus durch die Konstruktion einer angeblich biologisch-hereditären – kurz: unabänderlichen – Differenz geschieht: Vergleichen wir den heutigen Culturmenschen mit dem noch heute lebenden Wilden, […] so fällt am meisten unsere stärkere Gehirnentwicklung auf und damit verbunden unsere höhere Intelligenz, die uns über die niedriger entwickelten Stämme hat siegen lassen. […] 4 5
George M. Fredrickson, Rassismus – Ein historischer Abriss. Stuttgart, 2004, 19. Fredrickson fasst einzig den ‚amerikanischen Süden der Jim-Crow-Ära‘, NS-Deutschland und ‚Südafrika unter der Apartheit‘ als ‚offen rassistisch[e] Regimes‘ auf, die Rassegesetze erließen und die installierten Schranken mit der vollen Wucht ihrer Staatsgewalt aufrechterhielten (bzw. erst etablierten). (Fredrickson, Rassismus, 25).
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Rassismus führt also beim Diskriminierenden zu einem erheblichen narzisstischen Lustgewinn, der unbedingt aufrecht erhalten werden muss, da das rassistische Ich sonst erodiert. Fredrickson formuliert: ‚Die Europäer konnten ihren Status und ihr Selbstwertgefühl erhöhen, wenn sie behaupteten, das Blut in ihren Adern sei dem von Menschen jüdischer Abstammung überlegen oder sie seien aufgrund ihrer Hautfarbe die natürlichen Herren der Afrikaner.‘ (Fredrickson, Rassismus, 68).
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Fredrickson, Rassismus, 14-15.
34 | M EDIZINISCHE G EWALT Nach Herbert Spencer ist das Gehirn des civilisierten Menschen um 30% schwerer als das des Wilden. […] Der Westarier hat das relativ schwerste, der Gorilla das relativ leichteste Grosshirn.8
Mit Schädelvermessungen (‚Kraniologie‘) wurde versucht, angebliche Differenzen zwischen den ‚Rassen‘ wissenschaftlich zu belegen, auch um das Gleichheitsprinzip der Aufklärung durch die wissenschaftliche Desavouierung ganzer Völker außer Kraft zu setzen.9 Durch die sozialdarwinistischen Hereditätslehren erweiterten sich die Foki der biologischen Rassismen seit den 1870er Jahren dann schlagartig auch auf Angehörige des eigenen Volkes und damit nach innen; 1879 formulierte Frederick Petersons Mentor Professor Moriz Benedikt: Budimcic Lukas, 27 Jahre alt, Serbe, Raubmörder, bildungsunfähig. Das Kleinhirn ist beiderseits, besonders rechts vom Hinterhauptslappen, nicht bedeckt. […] Die perpendiculäre Hinterhauptspalte (po) […] communiciert (1, Fig. II) mit der horizontalen (ho).10
Mit dem Aufkommen des Sozialdarwinismus, der Psychiatrieinsassen, Kriminelle, aber auch die eigenen Unterschichten (Francis Galton) ausgruppierte, wandte 8
Alfred Ploetz, Grundlinien einer Rassenhygiene – I. Theil: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Berlin, 1895, 19 und 95.
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Historische Voraussetzungen für den Rassismus europäischer Prägung war paradoxerweise das Gleichheitsgebot: ‚Daß der westliche Rassismus eine weltgeschichtlich so herausgehobene Bedeutung hatte, lag daran, daß er sich in einem Kontext entwickelte, in dem eine gewisse Form der Gleichheit der Menschen postuliert wurde. […] Wo egalitäre Normen existieren, bedarf es besonderer Gründe für die Ausgrenzung bestimmter Gruppen […]. Der einzige Grund für eine Ausgrenzung, den bürgerliche Nationalisten ohne weiteres akzeptieren konnten, war die Behauptung, bestimmten Gruppen fehle die biologische Eignung zur vollwertigen Staatsbürgerschaft.‘ (George Fredrickson, Rassismus, 23, 94 und 94/95) Auch Hannah Arendt formuliert: ‚[…] [I]t has been precisely this new concept of equality that has made modern race relations so difficult, for there we deal with natural differences which by no possible and conceivable change of conditions can become less conspicuous. It is because equality demands that I recognize each and every individual as my equal, that the conflicts between different groups, which for reasons of their own are reluctant to grant each other this basic equality, take on such terribly cruel forms.‘ (Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism. New York, NY [u.a.], 1962, 54).
10 Moriz Benedikt, Anatomische Studien an Verbrecher-Gehirnen – Für Anthropologen, Mediciner, Juristen und Psychologen bearbeitet. Wien, 1879, 49.
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sich der europäische Rassist – neben so gut wie allen anderen Völkern dieser Welt – auch gegen große Teile des eigenen Volkes – was die Katastrophe des 20. Jahrhunderts mit-determinierte. Ein aktuelles Beispiel für duale Rassismen nach innen und außen ist der Bestseller ‚Deutschland schafft sich ab‘ (2010) von Thilo Sarrazin. Beispiel 1: biologischer Rassismus nach innen (Unterschichten): Für einen großen Teil dieser Kinder [von Hartz-IV-Empfängern] ist der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt: Sie erben (1) gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern und werden (2) durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt […]. […] [M]angelhafte Bildung und unzureichende Arbeitsmarktorientierung […] sind bei der deutschen Unterschicht […] das Ergebnis einer negativen Auslese.11
Beispiel 2: biologischer Rassismus nach außen (Muslime/Islam): Besorgniserregend ist, dass die in der mangelhaften Beteiligung am Arbeitsmarkt und der hohen Transferabhängigkeit zum Ausdruck kommenden Probleme der muslimischen Migranten auch bei der zweiten und dritten Generation auftreten, sich also quasi vererben […]. Das Ergebnis ist eine negative Auslese innerhalb der muslimischen Parallelgesellschaften.12
Schnittpunkt des Rassismus nach innen und außen – und zugleich Gipfel an Vulgarität – ist Sarrazins Erzählfigur des ‚erbkranken‘ Muslim: Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist. […] So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen – bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten – eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlich hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.13
Thilo Sarrazin wurde mittlerweile zu Recht aus dem Kreis der bundesdeutschen Eliten exkludiert. 11 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München, 2010, 175 und 293. 12 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, 284 und 296. 13 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, 316 und 370.
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In unserem Zusammenhang ist vor allem die biologische Ausgruppierung von Psychiatriepopulation und Kriminellen (letztere setzte sich historisch nicht durch) wichtig, da es speziell die Erzählfigur der Erblichkeit des Wahns erlaubte, die PsychiatriepatientInnen – etwa via ‚Elektroschocktherapie‘ – ‚auf eine Weise zu behandeln, die wir als grausam oder ungerecht ansehen würden, wenn Mitglieder unserer eigenen Gruppe davon betroffen wären.‘ (Fredrickson) Totale Institutionen: Totale Institutionen sind laut Erving Goffman durch eingeschränkten ‚sozialen Verkeh[r]‘ von der Außenwelt getrennte Orte, in denen eine ‚gemanagt[e] Gruppe‘ von Menschen durch eine zentrale Autorität verwaltet wird:14 [Totale Institutionen] sind die Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern.15
Insbesondere jene totalen Institutionen, die – wie Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Umerziehungslager oder KZ’s – der Besserung dienen, sind ‚verhängnisvoll für das bürgerliche Selbst des Insassen‘, das durch ein ganzes Bündel kalkulierter Destabilisierungstaktiken zerschlagen wird.16 Eine der wichtigsten Erkenntnisse Goffmans ist das Zielen totaler Institutionen – und speziell psychiatrischer Anstalten – auf die Brechung des Willens der Insassen. Trotz permanenter Degradierungen und Beleidigungen: [wird] [v]om Patienten […] ‚Einsicht‘ verlangt, und man erwartet, daß er sich die Meinung der Klinik über sich selbst zu eigen macht oder wenigstens so tut als ob. […] Unter diesen unernsten und doch seltsam übertriebenen moralischen Bedingungen wird das Aufbauen und Zerstören des Selbst zu einem schamlosen Spiel […].17
In direkter Vorwegnahme der Theorien Michel Foucaults formuliert Goffman über die Subjekt-Effekte totaler Institutionen: Ein institutionelles Arrangement dieser Art unterstützt das Selbst weniger, als daß es dies konstituiert.18
14 Erving Goffman, Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main, 1972, 15 und 18. 15 Goffman, Asyle, 23. 16 Goffman, Asyle, 53. 17 Goffman, Asyle, 150, 153, 50, 163. 18 Goffman, Asyle, 166.
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2.2 E PISTEM , D ISKURS , D ISPOSITIV DER P SYCHIATRIE
UND DIE
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Knapp 30 Jahre nachdem Michel Foucault 1984 in Paris verstarb, hat sein Werk trotz initialer Widerstände in der Geschichtswissenschaft mittlerweile ‚Klassikerstatus‘ erreicht, wobei hier kurz Foucaults Konzepte von Epistem, Diskurs und Dispositiv umrissen werden sollen, um anschließend seine Theorien zu Psychiatrie und Wahn zu erläutern.19 Episteme: Episteme sind diskursive Wissens-Formationen, die eine für die jeweilige Geschichtszeit typische ‚empirische Ordnung‘ generieren, innerhalb derer sich das Wissen bzw. die professionellen Wissenschaften entwickeln: Unter Episteme versteht Foucault die Gesamtheit der Beziehungen innerhalb einer diskursiven Formation, die dem wissenschaftlichen Wissen Raum geben. […] Die Episteme erlaubt es […], den Binnenraum der Wissenschaften auf die Gesamtheit der ihm äußerlichen Elemente und Figuren zu beziehen […].20
Episteme beschreiben die Interaktion von Binnendiskursen der professionellen Wissenschaft und externen gesellschaftlichen (Laien-) Diskursen, wobei sich aus den Wechselwirkungen von Wissenschafts- und Laiendiskursen das in einer spezifischen Geschichtszeit jeweils ‚Sagbare‘ konstituiert. Foucault selbst formulierte in seinem Werk ‚Die Ordnung der Dinge‘, mit dem er ‚eine Geschichte der Episteme [zu] schreiben‘ gedachte: Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen,
19 Kammler/Parr/Schneider [Hrsg.], Foucault-Handbuch – Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar, 2008, 329. Zu den initialen Widerständen, siehe: Norbert Finzsch, Michel Foucault (1926-1984). In: Lutz Raphael (Hrsg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft – Band II. Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis. München, 2006, 227228. Foucault selbst fasste sich nicht als Begründer einer spezifischen Schule auf und verwahrte sich dagegen, dass er als Nestor einer durch ihren Schulcharakter fixierten Denkrichtung immer ‚der gleiche bleiben‘ solle. (Kammler/Parr/Schneider, FoucaultHandbuch, 9). 20 Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch, 248 und 249.
38 | M EDIZINISCHE G EWALT fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.21
Vom ontogenetischen Prozess der Ich-Werdung bis zu ihrer/seiner Verfeinerung in den Wissenschaften ist das Subjekt in einen epistemischen ‚Wissenshalo‘ eingeflochten, der den wissenschaftlichen Erkenntnis- und Artikulationshorizont der jeweiligen Epoche determiniert. Als Beispiele gelten Foucault Botanik und Medizin, die sich ihrem epistemologischen Erkenntnishorizont über die Geschichtszeit historisch verändern: [V]om Ende des 17. Jahrhunderts an muß z.B. ein Satz, um ein ‚botanischer‘ Satz zu sein, die sichtbare Struktur der Pflanze, das System ihrer nahen und fernen Ähnlichkeiten oder die Mechanik ihrer Flüssigkeiten betreffen (und er durfte nicht, wie noch im 16. Jahrhundert, ihre symbolischen Bedeutungen einbeziehen oder gar die Gesamtheit der Kräfte und Eigenschaften, die man ihr in der Antike zusprach). […] [V]om 19. Jahrhundert an war ein Satz nicht mehr medizinisch, ‚fiel aus der Medizin heraus‘ und galt als individuelle Einbildung oder volkstümlicher Aberglaube, wenn er zugleich metaphorische, qualitative und substanzielle Begriffe enthielt (z.B. die Begriffe der Verstopfung, der erhitzten Flüssigkeiten oder der ausgetrockneten Festkörper); er konnte aber, ja er musste Begriffe verwenden, die ebenso metaphorisch sind, aber auf einem anderen Modell aufbauen, einem funktionellen und physiologischen Modell (so die Begriffe der Reizung, der Entzündung oder der Degenerierung der Gewebe).22
Anders als im idealistischen Wissensbegriff des absolut ‚Wahren‘ sind die Wissenschaften also in einem epistemischen Bezugsrahmen zu denken – und damit selbst hochgradig diskursiv. An anderer Stelle erläuterte Michel Foucault: [Ich könnte] die Episteme […] als strategisches Dispositiv definieren, das es erlaubt, unter allen möglichen Aussagen diejenigen herauszufiltern, die innerhalb […] eines Feldes von Wissenschaftlichkeit akzeptabel sein können […]. Die Episteme ist das Dispositiv, das es
21 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main, 1974, 22. Zum ‚Geschichte der Episteme‘-Zitat, siehe: Michel Foucault, Dispositive der Macht – Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin, 1978, 123. 22 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses – Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt am Main, 2003, 23.
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erlaubt, nicht schon das Wahre vom Falschen, sondern das wissenschaftlich Qualifizierbare vom Nicht-Qualifizierbaren zu scheiden.23
Diskurs: Die Autoren des Foucault-Handbuchs definieren Foucaults Diskurskonzept wie folgt: Diskurs – so könnte eine vereinfachende Kurzdefinition lauten – meint […] eine Praxis des Denkens, Schreibens, Sprechens und auch Handelns, die diejenigen Gegenstände, von denen sie handelt, zugleich selbst systematisch hervorbringt.24
Diskurse sind also auf der Sprach- wie auch auf der Handlungsebene (diskursive Praxis) angesiedelte kollektive ‚Wirklichkeitsgeneratoren‘, die ihre Gegenstände überhaupt erst konstituieren: Diskurse werden […] als im strikten Sinne materielle Produktionsinstrumente verstanden, mit denen auf geregelte Weise solche sozialen Gegenstände wie ‚Wahnsinn‘ […], ‚Sexualität‘ […] oder ‚Normalität‘ […] und die ihnen entsprechenden individuellen und kollektiven Subjektivitäten hervorgebracht werden.25
Diskurse bringen die Subjekte – individuell und kollektiv – durch sprachliche und vorsprachlich-performative Generierung individualitätsrelevanter Tiefenkonzepte überhaupt hervor; prominente Beispiele für Diskurse als ‚Produktionsinstrumente‘ für soziale Realitäten wären alle psychiatrischen Diagnosen inklusive der ‚Neurasthenie‘, der von Philipp Sarasin analysierte tiefe Subjekt-Effekte 23 Foucault, Dispositive der Macht, 124. Finzsch formuliert zur Periodisierung des Foucault’schen Œuvres: ‚Man kann [Foucaults] Werk mit einiger Willkür in verschiedene Phasen unterteilen, man kann aber auch argumentieren, es sei von einem inneren Zusammenhang getragen, der eine derartige Zerstückelung verbiete. Die oft postulierte Einteilung in Phasen (›Archäologie‹ ›Genealogie‹) oder die Zuordnung Foucaults in das Feld der ›Strukturalisten‹, ›Post-Strukturalisten‹ oder ›Materialisten‹ offenbart eher das Bedürfnis der Leserinnen und Leser Foucaults, seiner Vielschichtigkeit und Komplexität durch die Einführung parzellierender Formprinzipien eine Handhabbarkeit zu geben.‘ (Finzsch, Michel Foucault, 217). 24 Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch, 234. Episteme sind gleichsam der innere und äußere Bezugsrahmen des produzierten Wissens, wobei die Termini Epistem und Diskurs bei Foucault untrennbar verbunden sind, da der Diskurs ‚den Begriff der ›Episteme‹ tendenziell ablös[te]‘. (Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch, 234). 25 Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch, 234.
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erzielende Hygiene-Diskurs sowie der weiter oben beschriebene ‚Rassismus‘Diskurs, der seinen Gegenstand etwa durch aufwendige Schädelvermessungen zur Etablierung einer dauerhaften qualitativen Differenz diskursiv überhaupt erst konstituierte.26 Diskurse sind also äußerst produktive ‚Verfahren der Wissensproduktion‘, die sich auf ‚spezielle Wissensausschnitte‘ beziehen; in ‚Die Ordnung des Diskurses‘ formuliert Michel Foucault: Ich möchte nur anmerken, daß es heute zwei Bereiche gibt, in denen […] die Verbote immer zahlreicher werden: die Bereiche der Sexualität und der Politik. Offensichtlich ist der Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem die Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befriedet, vielmehr ist er ein bevorzugter Ort, einige ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten. Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein nichts sein – die Verbote, die ihn treffen, offenbaren nur allzubald seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht.27
Diskurse erscheinen also auch als Orte, an denen sich Macht und Begehren entfalten; gleichzeitig stellen sie ‚als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen‘ sich selbst regulierende Formationen kollektiven Begehrens dar, die sich – etwa durch auf einer diskursiven Linie liegende Schriften und Praktiken – durch die jeweilige Geschichtszeit nach vorn entwickeln.28 Dispositiv: Philipp Sarasin definiert das Dispositiv als ‚spezifische Verschränkung von Diskursen, Praktiken und Institutionen‘, also gleichsam als ein aus Diskursen, Verhaltensweisen und staatlichen Institutionen amalgamiertes allumfassendes Diskursgeflecht.29 Foucault selbst erläuterte in einem Gespräch mit Psychoanalytikern der Universität Paris VII: Was ich unter dem [methodologisch funktionierenden Ausdruck ‚Dispositiv‘] festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanth26 Außerdem wären die Bereiche Wahnsinn und Sexualität zu nennen, wobei Foucaults ‚Diskurs‘ hier bereits in den noch durchschlagenderen, weil ein ganzes Bündel von Diskursen meinenden ‚Dispositiv‘-Begriff übergeht. 27 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 11. Zu ‚Verfahren der Wissensproduktion‘, siehe: Kammler/Parr/Schneider, Foucault-Handbuch, 234. 28 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 38. 29 Sarasin, Reizbare Maschinen, 16.
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ropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.30
Ein Dispositiv oszilliert zwischen Diskursen, Institutionen – staatlichen Maßnahmen, aber auch den physischen Bauten (Gefängnisse, Schulen, Psychiatrien) – sowie ‚wissenschaftlichen Aussagen‘ bzw. Epistemen und ist damit eine fluide bzw. polymorphe, in der Geschichtszeit voranschreitende Diskursformation, die die Gesellschaft makroskopisch umspannt.31 Dabei stehen die einzelnen Elemente des Dispositivs, Foucaults zweiter Punkt, wechselseitig in permanenter und dynamischer Interaktion: Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.32
30 Foucault, Dispositive der Macht, 119/120. 31 Mit seiner ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ (ANT) hat Bruno Latour eine ‚relativistische Soziologie‘ entwickelt, die – gleich Foucaults Dispositiv – auch die materiellen Dinge bzw. Artefakte mit einbezieht und die er durch eine scharfe Polemik von der klassischen ‚Soziologie des Sozialen‘ abgrenzt: ‚Soziologen wird oft vorgeworfen, Akteure als Marionetten zu behandeln, die durch soziale Kräfte manipuliert werden. Doch [Puppenspieler] werden wunderliche Dinge sagen, wie etwa: ›Meine Marionetten suggerieren mir manchmal, Dinge zu tun, auf die ich selbst nie gekommen wäre.‹‘ Latour fährt fort: ‚Die Hauptlehre der ANT lautet, daß die Akteure selbst alles machen, einschließlich ihres eigenen Rahmens, ihrer eigenen Theorien, ihrer eigenen Kontexte, ihrer eigenen Metaphysiken, sogar ihrer eigenen Ontologien. Daher lautet die einzuschlagende Richtung: mehr Beschreibung, es tut mir leid.‘ (Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft – Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main, 2007, 253, zur relativistischen Soziologie, siehe: Latour, Neue Soziologie, 28-29, zur Marionette und Akteuren, siehe: Latour, Neue Soziologie, 104). 32 Foucault, Dispositive der Macht, 120. Zum Punkt des ‚Nicht-Diskursiven‘ entspann sich auf der Veranstaltung eine angeregte Diskussion, in deren Verlauf Foucault formulierte, dass ‚[a]lles was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, und keine Aussage ist, kurz also: alles nicht-diskursive Soziale‘ eine Institution sei, woraufhin sein Gesprächspartner Jaques-Alain Miller – völlig zutreffend – einwarf: ‚Die Institution ist doch offensichtlich diskursiver Natur‘, was Foucault mit dem Statement: ‚Von mir aus‘ quittierte: ‚Aber für das, was ich mit dem Dispositiv will, ist es
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Als dritten Punkt führt Foucault an, dass Dispositive als spezifische (Diskurs-) Formationen einen zutiefst strategischen Charakter haben: Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.33
Als Beispiel gilt Foucault u. a. das ‚Dispositiv der Unterwerfung/Kontrolle des Wahnsinns‘;34 auch die hier analysierte dispositive ElektroMacht diente der strategischen Kontrolle des Wahns (plus Kriminalität), umfasste Institutionen, Wissenschaft, Gesetze, philanthropische Erwägungen (die schmerzlose ‚euthanasia by electricity‘) und schlug sich – etwa in der Planung elektrotherapeutischer Abteilungen und des ‚Death House‘ des Sing Sing State Prison – auch materiell in ihrer Geschichtszeit nieder. Die Macht der Psychiatrie: In seiner – zunächst abgelehnten – Dissertationsschrift ‚Histoire de la folie‘ (deutscher Titel: ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘) beschreibt Foucault den Wahn als die dialektische Rückseite der Vernunft: ‚Auf jeden Fall hat der Wahnsinn nur Sinn und Geltung im Feld der Vernunft selbst.‘35 Foucault beginnt seine ‚Geschichte des Wahnsinns‘ mit der – heute partiell widerlegten – These der ‚große[n] Gefangenschaft‘.36 Die ‚Irren‘ seien ab 1650 in ‚Ort[e] des Zwanges‘, die die alten segregierenden Leprosorien ablösten, inkaum von Bedeutung zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht.‘ (Foucault, Dispositive der Macht, 125). 33 Foucault, Dispositive der Macht, 120. 34 Foucault, Dispositive der Macht, 120. Dabei ist das Dispositiv – ein entscheidender Punkt – nicht durch die ‚strategisch[e] List irgendeines meta- oder transhistorischen Subjekts‘ gesteuert, sondern bewegt sich vom Zeitpunkt seiner Konturierung als dynamische ‚Readjustierung [seiner] heterogenen Elemente‘ im Prozess ‚einer ständigen strategischen Wiederauffüllung‘ durch die Zeit nach vorn. (Foucault, Dispositive der Macht, 121). 35 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main, 1973, 55. 36 So bemerkt der Historiker Roy Porter, die ‚große Gefangenschaft‘ habe zwar in Frankreich, nicht aber in Russland, Portugal oder England stattgefunden: ‚Foucaults Standpunkt ist eine gewisse Plausibilität zwar nicht abzusprechen, doch er ist zu einfach und zu verallgemeinernd.‘ (Roy Porter, Wahnsinn – Eine kleine Kulturgeschichte. Zürich, 2005, 94).
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terniert und nach dem ‚Modell der Animalität‘ (der Irre als Rasender) in Ketten gehalten worden.37 Durch mehrere diskursive Verschiebungen sei der Wahn kurz vor 1800 dann mehr und mehr als ‚psychologische Wirkung eines moralischen Fehlers‘ und damit als tiefe Form von Schuld gedeutet worden: ‚Die Psychologie als Heilmethode ordnet sich künftig um die Bestrafung.‘38 Durch die ‚Entstehung des Asyls‘, die Foucault mit der 1793 vom französischen Psychiater Philippe Pinel bewerkstelligten ‚Befreiung der Irren von den Ketten‘ sowie dem 1796 eröffneten ‚York Retreat‘ des britischen Quäkers Samuel Tuke ansetzt, sei ein weiterer Paradigmenwechsel eingetreten, da sich im Asyl nun ein Raum der Freiheit eröffnete, in welchem der Wahn nosologisch florierte:39 Den Irren in ihren Kerkern die Ketten abzunehmen heißt, ihnen das Gebiet einer Freiheit zu eröffnen, das gleichzeitig das einer Verifikation ist, heißt, sie in einer Objektivität erscheinen zu lassen, die nicht mehr in […] Tobsuchtsanfällen verhüllt wird; […].40
37 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 68-98 und 142. Foucault formuliert: ‚Die an den Mauern der Zellen Angeketteten sind nicht so sehr Menschen mit verirrter Vernunft, sondern Tiere, die einem natürlichen Toben unterworfen sind.‘ (Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 142). 38 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 331, zum ‚moralischen Fehler‘, siehe: Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 306. 39 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 482-536. 40 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 490/491.
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Abbildung 1: Die berühmte ‚Befreiung der Irren von den Ketten‘ durch den französischen Psychiater Philippe Pinel wird von Foucault als die ‚große Gründungsszene der modernen Psychiatrie‘ beschrieben.
Auf dem ‚reine[n] Feld des Asyls‘ kann der ‚objektiv zugewiesen[e] Wahnsinn‘ unter (Auf-) Sicht der Direktoren nosologisch florieren und so verifiziert werden; von ‚der Animalität, zu der die Ketten ihn zwangen‘ befreit, durchläuft der Irre im Asyl ein ‚Universum der Beurteilung‘, das den Wahn als Erkenntnisgegenstand in einem ‚positive[n] Verfahren‘ erfasst:41 Das Asyl sanktioniert nicht mehr die Schuldhaftigkeit des Irren, sondern geht darüber hinaus, es organsiert sie. […] Es organsiert sie für den vernünftigen Menschen als Bewußtsein vom anderen […]. [Gleichzeitig] wird der Irre aufgefordert, sich in den Augen der vernünftigen Vernunft als vollkommener Fremder zu objektivieren.42
In der psychologischen (Macht-) Situation des Asyls wird der Irre in einem doppelten Klammergriff von Schuld und Strafandrohung fixiert – und in einem posi41 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 491, 490, 499 und 509. Bildnachweis, Abbildung 1: http://www.reprotableaux.com/kunst/charles_louis_lucien_muller/philippe_ pinel_1745_1826_rele_hi.jpg, (1. März 2013). Foucault-Zitat Bildüberschrift: Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie – Vorlesungen am Collège de France 1973-1974. Frankfurt am Main, 2005, 39. 42 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 506 und 509.
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tiv-verifizierenden epistemologischen Verfahren des Wissens als deviantes Subjekt (Objekt der Vernunft) überhaupt erst hervorgebracht. Denn: ‚Ohne den Irren wäre die Vernunft ihrer Realität beraubt‘:43 Gegenüber der Vernunft ist der Wahnsinn von doppelter Art; er ist zugleich auf der anderen Seite und unter ihrem Blick. […] [D]amit ist der Wahnsinn von den Strukturen des Rationalen erfaßt. […] Als reiner Unterschied, Fremder par excellence, ‚anderer‘ mit doppelter Kraft, wird der Irre in dieser Rückwärtsbewegung Objekt rationaler Analyse, der Erkenntnis dargebotene Fülle, evidente Perzeption; […].44
Auf dem reinen Feld des Asyls wird der ‚Irre‘ diskursiv als ‚Fremder par excellence‘ produziert, wobei das Asyl den Wahnsinnigen als Wahnsinnigen verifiziert und auf diese Weise als solchen individuiert. In seiner Vorlesung ‚Die Macht der Psychiatrie‘ (1973/74) nahm Foucault seine Psychiatriekritik wieder auf, wobei er die Psychiatrie nun dezidiert als ‚Dispositiv der Macht‘ auffasste:45 [D]ie disziplinarische Macht [der Psychiatrie ist] eine diskrete, aufgeteilte Macht; es handelt sich um eine Macht, die ihre Funktion im Geflecht erfüllt und die nur in der Folgsamkeit und im Gehorsam derjenigen sichtbar wird, auf die sie ausgeübt wird.46
Dabei fungiert die psychiatrische Klinik, so Foucault, nach Jeremy Benthams berühmtem Gefängnisplan des ‚Panopticons‘ als ‚panoptische Maschine‘, wobei sich das psychiatrische Heilverfahren im Wesentlichen aus Panoptismus, Isolierung, dämpfender Medikation, Disziplin/Strafe/Zwängen und pönalen ‚Therapien‘ zusammensetze.47 Hinzu komme, so Foucault, die machtvolle Figur des 43 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 351. 44 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 177, 178 und 179. 45 Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie – Vorlesungen am Collège de France 1973- 1974. Frankfurt am Main, 2005, 29. 46 Foucault, Die Macht der Psychiatrie, 42/43. 47 Foucault, Die Macht der Psychiatrie, 153 und 209. Das Panopticon sah einen runden Gefängnisbau vor, in dessen Mitte ein zentraler Wachturm stand, von dem aus jeder Gefangene in seiner Zelle permanent sichtbar und zu überwachen war. Foucault formuliert: ‚Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind.‘ (Michel Foucault, Überwachen und Strafen – Die Ge-
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Arztes, der die PatientInnen in einem ‚statutengemäßen Höhen- und Potentialunterschied‘ überragt: Der Patient muss sich unmittelbar vor etwas gestellt fühlen, in dem sich die ganze Realität konzentriert und zusammenfassen läßt, mit der er in der Anstalt zu tun haben wird; die ganze Realität ist konzentriert in einem fremden Willen, nämlich dem allmächtigen Willen des Arztes.48
burt des Gefängnisses. Frankfurt am Main, 1994, 256/257 und 259) Diese Anordnung ist heute – so könnte man thesenhaft formulieren – im Internet mit seiner Totalüberwachung u.a. durch die US-amerikanische ‚National Security Agency‘ (NSA) verwirklicht, wobei das Internet ebenfalls aus einer ‚Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken‘ besteht, in welcher die Individuen gefangen sind. 48 Foucault, Die Macht der Psychiatrie, 214, zum ‚Potentialunterschied‘: Foucault, Die Macht der Psychiatrie, 213.
3. Grundlagen & die psychiatrische Elektrotherapie in den USA vor 1890
3.1 V ON DER I RRITABILITÄTSLEHRE DER B IOELEKTRIZITÄT
ZUR
E NTDECKUNG
Bevor die bahnbrechende Entdeckung der Bioelektrizität durch Luigi Galvani beschrieben wird, sollen hier kurz die medizingeschichtlichen Grundlagen geschildert werden, die der Entdeckung nervlichen Aktionspotentials vorausgingen: In seinem Werk ‚De Homine‘ (1632) konzipierte René Descartes die Physiologie des Menschen als ‚Maschine‘ (mit Pumpen, Kraftwerken usf.), wobei das Blut laut Descartes im Gehirn einen ‚sehr feinen Hauch […], oder besser eine sehr lebhafte und reine Flamme [erzeugt], die man […] Spiritus animales nennt‘.1 Vom Gehirn jagen die cartesianischen Lebensgeister durch röhrenhafte Nerven, um die Muskeln zu bewegen, wobei sie das Medium einer ‚vernunftbegabte[n] Seele‘ bilden, die aktiv den bewegungsauslösenden ‚Verteiler‘ im Gehirn (Zirbeldrüse) bedient.2 Um 1700 wurde die cartesianische ‚Verdoppelung des Menschen‘ in Körper und Seele von Georg Ernst Stahl durch die Entwicklung der ‚Seelen-Psychologie‘ des Animismus komplettiert, wobei der Seele (Anima) nach Stahl jedoch die überragende Bedeutung im Verbund mit dem Körper zukam.3 ‚Die Seele baut sich den Körper, ernährt ihn und handelt in allem […] mit ihm auf ein be-
1
René Descartes, Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des Menschlichen Körpers (1648). Heidelberg, 1969, 54.
2
Descartes, Über den Menschen, 57.
3
Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen, 62.
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stimmtes Ziel hin‘. Die Seele erlebt Affekte, die sie in Bewegung umsetzt; Krankheit entsteht durch einen auf die Seele ausgeübten ‚Schock‘.4 Der Schweizer Arzt Albrecht von Haller setzte den Anhängern Stahls um 1750 dann die ‚Experimentalphysiologie‘ entgegen, die durch ihre exakte Arbeitsweise (Tierversuch) zu den Säulen der modernen Medizin avancierte. Im Mittelpunkt Hallers Forschungstätigkeit in Göttingen stand dabei die bereits erwähnte Reiz- bzw. Irritabilitätslehre. Albrecht von Haller wandte sich gegen Herman Boerhaaves tradierte FibernLehre, indem er die ‚Empfindlichkeit‘ (Sensibilität) strikt von der ‚Reizbarkeit‘ (Irritabilität) trennte und sich dabei einzig auf das Experiment verließ.5 Die revolutionäre Arbeitsweise seiner Experimentalphysiologie lässt sich am besten an Hand einer Versuchsreihe in seinem Göttinger Labor exemplifizieren: Ein Promovend Hallers vermutete, dass alle Muskelbewegungen durch einen ‚mechanical pull‘ (Steinke) der Nerven aktiviert würden, extrahierte den nervus phrenicus eines Hundes und reizte ihn mit Schwefelsäure, woraufhin sich der Nerv zusammenzog, was zu belegen schien, dass die Nerven die Muskeln wie die Fäden einer Marionette steuerten.6 1752 widersprach Haller seinem Schüler dann vehement: die Nerven selbst seien zwar hochgradig ‚empfindlich‘, ‚reizbar‘ (in heutiger Terminologie: kontraktibel) aber seien einzig die Muskeln, die durch ihre ‚Zusammenziehungskraft‘ in der Lage seien, aus sich selbst heraus zu kontrahieren.7
4
Georg Ernst Stahl, Über den mannigfaltigen Einfluss von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper. Leipzig, 1961, 37 und 31.
5
In Leiden hatte der große Kliniker Herman Boerhaave seine Physiologie der Fibern (Kleinstpartikel des Lebendigen) entwickelt, die permanent wie Saiten schwingen, wobei ihre Reizbarkeit bzw. Irritabilität als Essenz alles Lebendigen erscheint. Hubert Steinke formuliert: ‚The fibre was the morphological unit not only of the muscle, but of most of the parts of the body, and irritability was its quality.‘ (Hubert Steinke, Irritating Experiments – Haller’s Concept and the European Controversy on Irritability and Sensibility, 1750-90. Amsterdam/New York, NY, 2005, 24) Vor dem Hintergrund der Fibern-Lehre entwickelten die französischen Vitalisten eine eigene Physiologie, die sich bereits ‚um den Zentralbegriff der ›sensibilité‹ herum organisiert[e]‘ und die Irritabilität als ebenso grundlegende wie ‚vitale Funktion‘ des Lebens konzipierte. (Sarasin, Reizbare Maschinen, 58, Steinke, Irritating Experiments, 38/39).
6 7
Steinke, Irritating Experiments, 65/66. Albrecht von Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers. Leipzig, 1922, 33 und 55. Vorher hatte Haller in seinem Labortagebuch notiert, die Krümmung des Nervs in dem Experiment seines Schülers Johann Georg
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Auch bei Albrecht von Haller also erschien der Körper als ‚Reiz-ReaktionsMaschine‘ (Philipp Sarasin), in der die Muskeln auf nervlich vermittelte Reize hin kontrahieren. Konkreter Träger dieser ‚Reize‘ ist laut Albrecht von Haller ein im Gehirn produzierter ‚Saft‘, ‚der in die Nervenröhrchen fortgeht, und bis an die äußersten Enden der Nerven hingetrieben wird‘, um alle Bewegungen zu steuern.8 Während der Einfluss der cartesianischen ‚Lebensgeister‘ hier unverkennbar ist, hielt sich v. Haller bei der alles entscheidenden Frage nach der Konsistenz dieses ‚Nervensafts‘ aber zurück, wobei er die Möglichkeit, dass es sich hierbei um Elektrizität handeln könnte, jedoch verwarf: ‚[E]lectrische Materie‘, so Haller, sei zwar gut geeignet, Bewegungen hervorzubringen, bleibe aber ‚nicht auf die Nerven eingeschränkt, sondern durchdringt bei ihrer Mittheilung das ganze Thier‘, wodurch sie zur Informationsübertragung ungeeignet sei.9 An der berühmten Medizinischen Fakultät von Edinburgh ordnete der Mediziner William Cullen die ‚Reizbarkeit‘ der Muskeln dann der ‚Sensibilität‘ der Nerven unter: Cullen zufolge ist das Nervensystem ‚Wirkungsbereich der lebendigen Kräfte und daher Sitz aller wichtigen Lebensphänomene‘.10 Bei Cullen erscheint das Nervensystem erstmals als Steuerungs- und Bewusstseinsorgan, das erkranken kann; sein Œuvre gilt als Geburtsstunde der neurologisch orientierten modernen Psychiatrie.11 1780 publizierte Cullens Schüler John Brown mit seinem ‚Brownsianismus‘ dann eines der letzten großen monokausalen Systeme der Medizin, das gleichzeitig die Essenz der Reizlehren bildete, da Brown den ‚Reiz‘ ins Zentrum allen Seins stellte: The degree of stimulus, when moderate, produces health; in a higher degree it gives occasion to diseases of excessive stimulus; in a lower degree, or excessively weak, it induces
Zimmermann sei auf die Schärfe der Schwefelsäure zurückzuführen. (Steinke, Irritating Experiments, 66). 8
Albrecht von Haller, Grundriss der Physiologie für Vorlesungen. Berlin, 1788, 288.
9
Haller, Grundriss der Physiologie, 286.
10 Sergio Züllig, Luigi Galvani 1732-1789 der Entdecker der Bioelektrizität. Basel, 1969, 4. 11 William Cullen verwendete erstmals den Begriff ‚Neuroses‘, worunter er Krankheiten des Nervensystems wie ‚Convulsio‘, ‚Chorea‘, ‚Epilepsia‘, aber auch ‚Hysteria‘ verstand. (William Cullen, Nosology – Or, a Systematic Arrangement of Diseases. Edinburgh, 1800, passim).
50 | M EDIZINISCHE G EWALT […] debility. […] The general diseases, arising from excessive excitement, are called sthenic […]; those that originate from a deficient excitement, asthenic.12
Die Irritabilität determiniert Krankheit und Gesundheit; der Tod tritt ein, wenn sich das Irritabilitäts-Quantum des Lebens erschöpft. Dabei korrespondiert John Browns ‚Irritabilitätskonto‘ mit der sich verbrauchenden nervous force der ‚Neurasthenie‘; Browns Irritabilitätslehre des Brownsianismus ist der wesentliche medizingeschichtliche Vorläufer der von George M. Beard erstmals in New York beschriebenen ‚Neurasthenie‘ (Asthenie = Irritabilitätsdefizit). Ende des 18. Jahrhunderts amalgamierten sich medizinische Irritabilitätsund Nervenkonzepte mit den geistigen Strömungen der Epoche der Empfindsamkeit: René Descartes’ homme machine entwickelte sich zum homme sensible;13 ein ‚cult of sensibility‘ generierte einen ‚nervige[n] Mensch[en]‘, der, wie Christoph Wilhelm Hufeland bemerkte, ‚von dem Getrampel einer Mücke in Ohnmacht fällt, und von dem Geruch einer Rose Convulsionen bekommt‘.14 Die ‚Empfindsamkeit‘ wurde ungesund; das Nervensystem trat in den Schnittpunkt der Diskurse um ein zunehmend ‚nervöseres‘ Selbst. Im eigentlichen Sinne ‚elektrisch‘ wurde die Physiologie dann mit Luigi Galvani, dem berühmten Entdecker der Bioelektrizität: Mitte 1780 bemerkte ein Schüler des italienischen Anatomieprofessors Luigi Galvani, dass die Schenkel eines präparierten Frosches (freigelegtes Rückenmark) zuckten, wenn er mit einem Skalpell die Nervenenden berührte, während an einer dabeistehenden Elektrisiermaschine ein Funke übersprang. Galvani formulierte aus der Rückschau:
12 John Brown, The Elements of Medicine. London, 1795, 14/15 und 51. Zum Brownsianismus siehe auch: John Neubauer, Dr. John Brown (1735-88) and Early German Romanticism. In: Journal of the History of Ideas, Vol. 28, No. 3, (Jul. 1967), 368-370. 13 Sarasin, Reizbare Maschinen, 62; Sergio Moravia, From Homme Machine to Homme Sensible – Changing Eighteenth-Century Models of Man’s Image. In: Journal of the History of Ideas, Vol. 39, No.1 (Jan. 1978), 45-60. 14 Catherine J. Minter, Literary ‚Empfindsamkeit‘ and Nervous Sensibility in Eighteenth-Century Germany. In: The Modern Language Review, Vol. 96, No. 4 (Oct. 2001), 1017; Christoph Wilhelm Hufeland, Einige Ideen über die neuesten Modearzneyen und Charlatanerieen, zitiert nach: Sarasin, Reizbare Maschinen, 345. Siehe auch: Jessica Riskin, Science in the Age of Sensibility – The Sentimental Empiricists of the French Enlightenment. Chicago, 2002. Riskin konkludiert: ‚Sensibility transformed the practice of the sciences as well as the arts and literature.‘ (Riskin, Science in the Age of Sensibility, 283).
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The phenomenon always occurred in the same manner: violent contraction in individual muscles of the limbs […] were induced [when] sparks were discharged.15
Galvani hatte entdeckt, dass ein biologisches Nerv-Muskel-Präparat auf Elektrizität mit Kontraktionen reagierte – und plötzlich schien die Konsistenz des seit Descartes gesuchten Spiritus animales bekannt: die Elektrizität.16 Während der eilig initiierten Freiluft-Versuche entdeckte Galvani, dass spezielle Präparate (ein durch das Rückenmark gezogener Messinghaken) auf die übliche Art zuckten, wenn er den Haken mit einem Stück Eisen in Berührung brachte, das seinerseits mit dem feuchten Muskel (→ Elektrolyt) in Verbindung stand. Aus den augenscheinlich ohne äußerlich zugeführte Elektrizität einsetzenden Kontraktionen schloss Galvani, dass den Tieren selbst Elektrizität innewohne. Diese ‚animal electricity‘ entstehe im Gehirn, werde über die Nerven verteilt, in den Muskeln gespeichert und freigesetzt, indem die Nerven die geladenen Muskeln gleichsam kurzschlössen.17 Nach zehnjähriger Forschung verkündete Galvani in ‚De viribus electricitatis in motu musculari commentarius‘ (1791) die Entdeckung der ‚tierischen Elektrizität‘; eine Publikation, die auch Alessandro Volta, einen äußerst scharfen Denker, erreichte. Volta stellte Galvanis Versuche nach, deutete sie jedoch völlig anders: Die Muskelzuckungen, so Volta, wären auch erklärlich, wenn die beiden Metalle (Eisen und Messing) in Kombination mit der Feuchtigkeit der Muskeln (Elektrolyt) – ein entscheidender Punkt – Elektrizität selbst produzierten: Wird zwischen zwei heterogene Metalle ein Elektrolyt (feuchtes Stückchen Pappe) platziert, beginnt sich das unedlere der beiden Metalle zu zersetzen, was einen Elektronenüberschuss produziert, der als Gleichstrom genutzt werden kann (elektrische Batterie). Während der Überprüfung von Galvanis Ergebnissen hatte Alessandro Volta die elektrische Batterie entdeckt – und folgerte messerscharf, dass es Galvanis 15 Luigi Galvani/Robert M. Green, A Translation of Luigi Galvani’s De Viribus Electricitatis In Motu Musculari Commentarius. Cambridge, MA, 1953, 24. (Die vorliegende englische Ausgabe wird aufgrund ihrer ausgezeichneten Lesbarkeit verwendet.) Siehe auch: Marco Pera, The Ambiguous Frog – The Galvani-Volta Controversy on Animal Electricity. Princeton, NJ, 1992. 16 Auch Sergio Züllig folgert: ‚[Galvanis tierische Elektrizität] entspricht genau der von Cullen postulierten Nervenkraft.‘ (Züllig, Luigi Galvani, 25). 17 Galvani/Green, A Translation of Luigi Galvani, 60; K. E. Rothschuh, Geschichte der Physiologie – Mit 123 Abbildungen im Text. Berlin/Göttingen/Heidelberg, 1953, 87; Züllig, Luigi Galvani, 23-25.
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‚animal electricity‘ überhaupt nicht gebe. Denn die von Galvani in seiner dritten Versuchsreihe beschriebenen Muskelzuckungen resultierten laut Volta nicht aus ‚tierischer Elektrizität‘, sondern aus Gleichstrom, der beim Kontakt zweier verschiedener Metalle mit einem Elektrolyten entstand.18 In dem scharf ausgefochtenen Lagerkampf zwischen Galvani und Volta konnte Galvani am Ende reüssieren: in weiteren Versuchen (ein freigelegter Ischiasnerv wird mit einem gläsernen Isolierstab auf die Beinmuskeln gelegt → Muskelzucken) belegte er das Polarisationspotential des Muskels – und damit die Bioelektrizität.19 Um 1800 oszillierte der homme sensible zwischen den Polen ‚Nervosität‘ und ‚Irritabilität‘ und war diskursiv noch immer tief mit dem Konzept der ‚Lebenskraft‘ (Vitalismus) verknüpft, die göttlichen Ursprungs war und die, so Hufeland, mit der Elektrizität am nächsten ‚verwandt zu seyn scheint.‘20 Galvanis Entdeckung der Bioelektrizität dann transformierte den Menschen in einen body electric, dessen zentrales Steuerungssystem fortan ‚elektrisch‘ war.
3.2 D IE
EUROPÄISCHEN
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Ab 1800 erlebte die Physiologie vor allem in Frankreich weitere Quantensprünge: François Xavier Bichat gelang es, 21 verschiedene Gewebeklassen zu differenzieren (Histologie) und die Ärzte konnten aus den nun routinemäßig erfolgenden Autopsien entscheidende Erkenntnisse über den Sitz und Verlauf von Krankheiten gewinnen.21 Etwa gleichzeitig meldete sich der deutschsprachige Raum durch die Adaption der Naturphilosophie Schellings fast vollständig aus der Erforschung der
18 Züllig, Luigi Galvani, 33; Rothschuh, Geschichte der Physiologie, 88. Voltas Entdeckung der Batterie lieferte erstmals eine stetige Gleichstromquelle, die Chemie (→ Elektrolyse), Medizin (→Elektrophysiologie) und, wie zu zeigen sein wird, auch die Psychiatrie revolutionierte. 19 Züllig, Luigi Galvani, 33 und 37. 20 Hufeland, zitiert nach: Sarasin, Reizbare Maschinen, 67. 21 Rothschuh, Geschichte der Physiologie, 101/102; Weiner/Sauter, The City of Paris and the Rise of Clinical Medicine. In: Osiris, 2nd Series, Vol. 18, Science and the City (2003), 23-42.
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Biolektrizität ab. Empirie schien ‚out‘, die ‚romantische Medizin‘ produzierte so gut wie kein verwertbares physiologisches Wissen.22 Nach 1815 wurde die Naturphilosophie dann von der Gegenbewegung des Empirismus abgelöst.23 Kern dieser empirischen Medizin, die um 1850 ihren ersten Höhepunkt erlebte, bildete die experimentelle ‚Elektrophysiologie‘, die mit immer ausgefeilterer Messtechnik elektrischen Lebensphänomenen nachspürte und so das Wissen um den body electric wesentlich verfeinerte. Die europäische Elektrophysiologie versuchte den tradierten Vitalismus (Lehre einer göttlichen Lebenskraft) durch physiologische Experimente zu widerlegen; ihre wesentlichen Protagonisten waren Emil Du Bois-Reymond, Hermann von Helmholtz und der Pariser Psychiater Duchenne de Boulogne. Emil Du Bois-Reymond, 1818 in Berlin geboren, promovierte 1843 zum Doktor der Medizin.24 Ziel seiner experimentalphysiologischen Forschungen war es schon früh, das Konzept einer göttlichen Lebenskraft zu entkräften, indem er nachwies, dass die biologische Elektrizität in Geweben mit der physikalischen Elektrizität etwa in Gewitterwolken identisch war. Dafür fand er ein eindrückliches Experiment: sobald er zwei Elektroden berührte und einen Arm anspannte, schlug ein Galvanometer aus; Bioelektrizität bewirkte Induktionseffekte – und musste folglich mit der physikalischen Elektrizität identisch sein.25 Aus der Rückschau liegt Emil Du Bois-Reymonds wichtigster Beitrag jedoch nicht in einer spektakulären Einzelentdeckung, sondern in einer langjährigen mühsamen Verfeinerung der Messtechnik, wobei er etwa die Zahl der damals bei Galvanometern üblichen Windungen von 5000 auf 25.000 erhöhte.26 Außerdem 22 In seiner Naturphilosophie hatte Schelling die Welt in eine dinglich-wahrnehmbare ‚Natur‘ und eine dahinterliegende verborgene ‚Idee‘ getrennt, wobei ‚Natur‘ und ‚Idee‘ beide auf ein gemeinsames ‚Absolutes‘ zurückgehen und somit eine tiefe Einheit bilden. Ein dinglicher Baum wird zur materiellen Manifestation einer im Absoluten gründenden tieferen ‚Idee‘, die sein ‚wahres‘ Wesen ausmacht und die es deshalb – vor dem dinglichen ‚Baum‘ – zu erfassen gilt. Die Physiologie wurde irrelevant; die ‚romantische Medizin‘ betrieb die Jagd nach der hinter dem Körper liegenden ‚Idee‘. (Rothschuh, Geschichte der Physiologie, 94-101). 23 Rothschuh, Geschichte der Physiologie, 94. 24 Rothschuh, Geschichte der Physiologie, 130/131; Schwarz/Wenig [Hrsg.], Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond. Berlin, 1997, 32; Gabriel Finkelstein, M. du Bois-Reymond Goes to Paris. In: The British Journal for the History of Science, Vol. 36, No. 3 (Sep. 2003), 264. 25 Finkelstein, M. du Bois-Reymond Goes to Paris, 281-282. 26 Schwarz/Wenig, Briefwechsel, 37 und 39; Finkelstein, M. du Bois-Reymond Goes to Paris, 267. Bernard Katz kommentiert: ‚Sinusschwingungen von 50 bis 60 Hz sind be-
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brachte Du Bois-Reymond Froschschenkel-Präparate unter den Einfluss eines unterbrochenen Induktionsstromes, was ‚unipolare Inductionszuckungen‘ auslöste, die Du Bois-Reymond als ‚Muskeltetanus‘, also Muskelstarrkrampf, bezeichnete: Die Zuckungen sind […] so lebhaft, daß man leicht […] förmlichen Tetanus des stromprüfenden Schenkels erhält.27
Bereits bei Du Bois-Reymond stand das elektrische Auslösen von Krämpfen – allerdings zur Grundlagenforschung im Muskelpräparat – im Fokus der sich zunehmend elektrifizierenden Medizin. Du Bois-Reymonds Freund und Kollege Hermann von Helmholtz war ein Forscher von Weltrang;28 ab 1843 Militärarzt, dann Medizin- und schließlich Physikprofessor, formulierte Helmholtz den Energieerhaltungssatz und legte bedeutende physiologische Arbeiten zu Auge, Ohr und Muskel vor.29 Hermann v. Helmholtz’ elektrophysiologisch wichtigste Leistung war die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Konzise legte Helmholtz die nervliche Übertragungsgeschwindigkeit im Froschschenkel auf rund 27 Meter pro Sekunde fest, wobei die Kongruenz von Fragestellung und der resultierenden Entwicklung eines Messgerätes – des Myographen – bestechend ist: Ein Muskel wird vertikal in eine Versuchsanordnung gehängt, wobei an seinem unteren Ende ein Gewicht befestigt ist, das den Muskel dehnt. Von dem Gewicht geht ein horizontaler Draht ab, der – gleich einem Stift – auf eine konssonders wirksam und deshalb auch besonders gefährlich. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die öffentlichen Stromnetze gerade mit dieser Frequenz betrieben werden.‘ (Bernard Katz, Nerv, Muskel und Synapse – Einführung in die Elektrophysiologie. Stuttgart, 1974, 18) Parallel entdeckte Du Bois-Reymond die ‚negative Schwankung‘; versetzte er einen Muskel elektrisch in Dauerkontraktion, tendierte der Muskelstrom im Krampf gen Null und schwoll wieder an, sobald Entspannung eintrat. (Schwarz/Wenig, Briefwechsel, 41). 27 Emil Du Bois-Reymond, Untersuchungen über die Thierische Elektricität – Erster Band. Berlin, 1848, 430. Zu den ‚unipolare[n] Inductionszuckungen‘, siehe: Du BoisReymond, Untersuchungen über die Thierische Elektricität, 423. 28 Christa Kirsten [Hrsg.], Dokumente einer Freundschaft – Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond, 1846-1894. Berlin, 1986; Gruber/Gruber, Hermann von Helmholtz – Nineteenth-Century Polymorph. In: The Scientific Monthly, Vol. 83, No. 2 (Aug. 1956), 92-99. 29 Kirsten, Dokumente einer Freundschaft, 19-24; Gruber/Gruber, Nineteenth-Century Polymorph, 97.
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tant rotierende Walze schreibt, auf deren unterem Ende – bei inaktivem Muskel und gleichmäßiger Rotation der Walze – nun ein gerader Strich entsteht. Reizte v. Helmholtz den aufgehängten Muskel jetzt durch einen ‚Oeffnungsschlag‘ aus einer Batterie, kontrahierte der Muskel, hob das Gewicht – und der Draht zeichnete eine Verlaufskurve auf die Walze, wobei die x-Achse die Hubhöhe des Gewichts, die y-Achse die für den Kontraktionsvorgang benötigte Zeit in ihrer Proportionalität anzeigte.30 Helmholtz war es gelungen, den Verlauf einer Muskelzuckung graphisch darzustellen. Bei der Analyse der Muskelzuckungen bemerkte er, ‚dass erst eine Zeit nach der Reizung vergeht, ehe die Energie des Muskels überhaupt zu steigen anfängt […].‘31 Zwischen der Reizung des Muskels und seiner Reaktion existierte also ein zeitlicher Abstand. Diese ‚Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung‘ ermittelte Helmholtz mit einer ebenso schlichten, wie genialen Methode: nachdem er konstatiert hatte, dass die zeitliche Lücke zwischen Reizung und Reaktion umso größer ist, ‚ein je größeres Stück des Nerven sich zwischen der gereizten Stelle und dem Muskel befindet‘, legte er ein Elektrodenpaar ‚an den Nerven dicht bei seinem Eintritt in den Muskel [an], die zwei anderen [Elektroden] dagegen [weit] entfernt an den Beckentheil des Nerven.‘32 Kannte man nun die ‚Länge der durchlaufenen Nervenstrecke‘ – im Falle des unten angeführten Beispiels 43 Millimeter – konnte man die Nervenleitgeschwindigkeit durch den zeitlichen Reaktionsunterschied von naher und ferner Reizung exakt berechnen:
30 Hermann von Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, in Verbindung mit mehreren Gelehrten herausgegeben von Dr. Johannes Müller. Berlin, 1850, 280/281. 31 Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf, 308. Bezüglich der Muskeln stellte Helmholtz fest, dass ein Kontraktibilitätsmaximum existiert, bei dem ein steigender Strom keinen höheren Gewichtshub mehr bewirkt. Außerdem bemerkte er nach ‚kleineren Ueberlastungen […] lang anhaltende, krampfhafte Zusammenziehungen‘, die der Reizung folgten. (Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf, 325 und 303). 32 Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf, 328.
56 | M EDIZINISCHE G EWALT Daraus bestimmt sich endlich der Zeitunterschied wegen der Fortpflanzung: 0,00175 ± 0,00014 die Fortpflanzungsgeschwindigkeit: 24,6 ± 2,0 Mt. in der Sekunde.33
Durch diverse Versuchsreihen konnte v. Helmholtz die Nervenleitgeschwindigkeit auf 26,4 bis 27,0 Meter pro Sekunde eingrenzen – und etablierte zugleich einen neuen experimentellen Standard, der in der Folgezeit zu meistern war.34 Guillaume-Benjamin Duchenne studierte in Paris Medizin und praktizierte ab 1842 Elektromedizin. Dabei lernte er den jungen Psychiater Jean-Martin Charcot kennen, der ihn an das berühmte Pariser Hôpital de la Salpêtrière holte.35 Hier half Duchenne beim Aufbau einer elektrotherapeutischen Abteilung, wobei es ihm seine électrisation localisée (engl.: local faradization) erlaubte, das komplexe Zusammenspiel muskulärer Bewegungsabläufe in einer Art ‚lebende[r] Anatomie‘ zu erfassen.36 Parallel wirkte er an der Entwicklung der medizinischpsychiatrischen Anstaltsfotografie mit;37 Jens Jäger formuliert: 33 Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf, 340. Zur ‚Länge der durchlaufenen Nervenstrecke‘, siehe: Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf, 338/ 339. 34 Helmholtz, Messungen über den zeitlichen Verlauf, 354. 35 L. J. Hurwitz, L’Hôpital De La Salpêtrière, Paris. In: The British Medical Journal, Vol. 1, No. 5286 (1962), 1196-1197. 36 Duchenne war über das schmerzauslösende Potential der Elektrotherapie perfekt orientiert: ‚When the women at la Salpêtrière saw Duchenne coming along, […] they whispered with a sense of secrecy: here comes the little old man with his mischief box.‘ (Parent, Duchenne De Boulogne, 371) Am empfindlichsten sei das Gesicht; ‚die erregte Empfindung [könne] vom leisesten Kitzel bis zum heftigsten Schmerz gesteigert werden […]‘. (Duchenne de Boulogne/B.A. Erdmann, Die örtliche Anwendung der Elektricität in Bezug auf Physiologie, Pathologie und Therapie – Mit 69 eingedruckten Holzschnitten. Leipzig, 1856, 76). 37 André Parent, Duchenne De Boulogne – A Pioneer in Neurology and Medical Photography. In: The Canadian Journal of Neurological Sciences, Vol. 32, No. 3. (August 2005), 369/370. Susanne Regener formuliert über die in Charcots fotographischer Abteilung entstandenen Bilder: ‚Bekannt ist, dass die [fotographischen] Bewegungsstudien, die Charcot anfertigen ließ, Ergebnisse einer Inszenierung des Wahnsinns waren. Damit sollte ein Krankheitsbild bestätigt werden, das es nur in der Theorie und Klinik von Jean-Martin Charcot gab.‘ (Susanne Regener, Visuelle Gewalt – Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld, 2010, 64).
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Ein auffälliges Phänomen im 19. Jahrhundert war die zunehmende Verwendung fotografischer Techniken [in] Zwangsinstitutionen […]. […] Mit Fotografie wurde […] überwacht, markiert und definiert, wer als Bedrohung oder Gefährdung einer ‚Mehrheitsgesellschaft‘ angesehen wurde.38 Auch Susanne Regener konstatiert: Die fotographischen Ergebnisse [der psychiatrischen Bildproduktion] dokumentieren nicht in einem quasi objektiven Sinn Krankheit, sondern sie sind Repräsentationen einer Machtinstanz. […] Es ist die Blickkultur einer professionellen ärztlichen Praxis, die den Patienten als eingeschlossenen, kranken und anormalen Menschen konstituiert hat.39
Via psychiatrischer Bildproduktion entsteht ein visuelles ‚Wissen‘ vom Wahn, das die psychiatrische Ausgruppierung der PatientInnen legitimiert. Schnittpunkt von Anstaltsphotographie und Elektrophysiologie bildete Duchennes elektrische ‚Lebendanatomie‘. Hierbei affizierte Duchenne die Gesichtspartien seiner PatientInnen elektrisch, wobei die resultierenden Kontraktionen spezifische emotionale Mimiken bzw. Gesichtsausdrücke generieren sollten (z.B. Freude → Stimulation von Musculus zygomaticus und des unteren Musculus orbicularis oculi).40 Diese Versuche gipfelten in der Inszenierung ganzer ‚Theaterszenen‘, in denen Duchenne etwa eine erblindete Patientin die grausame Lady Macbeth vorspielen ließ, indem er ihr Gesicht nach Gutdünken elektrisierte. Der weiße, männliche Arzt spielte also die ‚wahnsinnige‘ Lady Macbeth durch den Körper seiner als ‚irre‘ gelabelten Patientin, die hier zivilisatorisch re-konfiguriert oder besser: neu be-schrieben wird, indem ihr Duchenne einen sublimen Wahn – Shakespeare’scher Provenienz – elektrisch implementiert.41
38 Jens Jäger, Fotografie und Geschichte. Frankfurt/New York, 2009, 163. 39 Regener, Visuelle Gewalt, 8. 40 Parent, Duchenne De Boulogne, 375. 41 Bildnachweise, Abbildungen 2 bis 4: Duchenne (de Boulogne), Mécanisme de la physionomie humaine – Deuxième édition. Paris [o.A.], Fig. 33, 62 und 70. Andreas Killen formuliert: ‚Using the electrode to turn the body into a surface on which signs could be elicited and captured, Duchenne created a semiotics of the living human body.‘ (Killen, Berlin Electropolis, 50).
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Abbildung 2 bis Abbildung 4: Duchennes ‚Lebendanatomie‘ der Emotionen, die er mit antiken Skulpturen in einen angeblich anthropologischen Kontext stellte.
Der Patient steht für einen kurzen Moment unter der elektrischen Kontrolle des Psychiaters, der das deviante Subjekt, ähnlich der späteren ‚Elektrokonvulsionstherapie‘, elektrisch in Bewegung versetzt – und so auf totale Weise kontrolliert.
3.3 B EARD │ R OCKWELL UND DIE PRIVATE E LEKTROTHERAPIE IN N EW Y ORK C ITY 3.3.1 ‚Neurasthenie‘, ‚Nervenkraft‘, ‚Body Electric‘ Während sich in Europa aus Albrecht von Hallers und Luigi Galvanis Entdeckungen die Elektrophysiologie entwickelte, stieg die am Hudson River gelegene Metropole New York City zur heimlichen Hauptstadt der westlichen Hemisphäre auf. Im Amerikanischen Bürgerkrieg betrug die Industrieproduktion New York Citys allein die der gesamten Südstaaten – und 1873 strahlte die erste globale Finanzkrise von der New Yorker Wall Street aus.42 James D. McCabe beschrieb in ‚Lights and Shadows of New York Life‘ die Extreme New Yorks, wo sich märchenhafter Reichtum akkumulierte, während die Armen in den Lower East SideSlums in baufälligen Wohnsilos, den notorischen tennements, vegetierten.43 Walt Whitman dichtete über die Great Metropolis New York City:
42 Burns/Sanders, New York – Die illustrierte Geschichte von 1609 bis Heute. München, 2005, 119. Zur Finanzkrise von 1873, siehe: Burns/Sanders, New York, 165-174. 43 James D. McCabe, Lights and Shadows of New York Life – Or, the Sights and Sensations of the Great City. Philadelphia/Cincinnati/Chicago/St. Louis, 1872. Zur Entste-
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A million people – manners free and superb – open voices – hospitality – […] The beautiful city! The city of hurried and sparkling waters! the city of spires and masts! […] my city!44
In New York praktizierten auch die Elektromediziner Dr. George M. Beard und Dr. Alphonse Rockwell; Kneeland und Warren formulieren in ‚Pushbutton Psychiatry‘: The publication of Beard and Rockwell’s A Practical Treatise on the Medical and Surgical Uses of Electricity (1867) marks the legitimation of electricity in treating mental illness in America.45
George M. Beard wurde 1839 in Connecticut geboren und konnte dank eines Stipendiums an der Yale University studieren. 1866 promovierte Beard am angesehenen College of Physicians and Surgeons der späteren Columbia University; in ‚Sexual Neurasthenia‘ (1884, posthum publiziert) definierte George M. Beard die erstmals von ihm beschriebene ‚Neurasthenie‘46 wie folgt: Neurasthenia is a chronic, functional disease of the nervous system, the basis of which is impoverishment of nervous force; […].47
hung des berüchtigten Lower East Side-Slums ‚The Five Points‘ mit seinen Mietskasernen, siehe: Burns/Sanders, New York, 88. 44 Walt Whitman, Mannahatta. In: The Poems of Walt Whitman (Leaves of Grass) – With Biographical Introduction by John Burroughs. New York, NY, 1902, 304. 45 Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, 28. 46 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität – Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München/Wien, 1998; Rebecca von Haken, Dr. George Miller Beard (18391883) und seine Lehre von der Neurasthenie. Univ. Diss., Heidelberg, 2004; Marijke Gijswijt-Hofstra (Hrsg.), Cultures of Neurasthenia from Beard to the First World War. Rodopi, 2001; Philip P. Wiener, G.M. Beard and Freud on ‚American Nervousness‘. In: Journal of the History of Ideas, Vol. 17, No. 2 (Apr., 1956), 269-274; Kevin J. Mumford, ‚Lost Manhood‘ Found – Male Sexual Impotence and Victorian Culture in the United States. In: Journal of the History of Sexuality, Vol.3, No.1 (1992), 33-57. 47 George M. Beard, Sexual Neurasthenia – Its Hygiene, Causes, Symptoms and Treatment. New York, NY, 1905, 36. Zu Beards Biographie, siehe: Rockwell, Rambling Recollections, 182-183, für eine ausführliche Kurzbiographie: Von Haken, George Miller Beard, 11-32.
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George M. Beards Erschöpfungskrankheit der ‚Neurasthenie‘ resultierte ätiologisch also aus dem übermäßigen Verbrauch an vitalistischer Nervenkraft; ein um 1870 längst überholtes Konzept, das stark mit John Browns um 1790 entwickeltem Brownsianismus korrespondiert.48 Durch das geschickte Postulat ‚American Nervousness is the product of American Civilization‘ versah George M. Beard die ‚Neurasthenie‘ zusätzlich mit einem diskursiven Überbau, der die ‚Neurasthenie‘-Diagnose für jeden, der sich als ‚zivilisiert‘ ansah, nahezu zwangsläufig machte: [C]ivilization in general + American civilization in particular (young and rapidly growing nation, with civil, religious, and social liberty) + […] overwork or overworry, or excessive indulgence of appetites or passions = an attack of neurasthenia […].49
Indem er die Erschöpfung an ‚Nervenkraft‘ ätiologisch in den komplexen Anforderungen der sich rapid verdichtenden Zivilisation lokalisierte, konnte Beard sie mit den Zeitläuften amalgamieren und so popularisieren: Dampfkraft, Tageszeitungen, Wissenschaft, ‚the mental activity of women‘, Uhren und Zivilisationslärm verbrauchten, so Beard, ein hohes Quantum nervous force – und seien damit die tieferen Ursachen der ‚Neurasthenie‘.50 Außerdem verwob Beard seine American Nervousness mit der tradierten Erzählfigur des homme sensible, denn der überzivilisierte ‚Neurastheniker‘ – von jugendlichem Antlitz und nervöser Fragilität – zeichnete sich auch durch seine gesteigerte Fähigkeit zur Liebe aus: Love, even when gratified, is a costly emotion […] drawing largely […] on the margin of nerve-force […].51
Zart, liebeskrank, anämisch, korrespondiert der ‚Neurastheniker‘ auffällig mit dem erzählerischen Archetypus der femme fragil, die Ende des 19. Jahrhunderts eine literarische Ikone war:
48 Beards erster Aufsatz zum Thema titelte ‚Neurasthenia, or Nervous Exhaustion‘ (1869) und versuchte, die Neurasthenie im Physiologischen zu fundieren: ätiologisch sei die Neurasthenie, so Beard zunächst, hereditären Ursprungs und bestehe neuropathologisch aus einer lokalen ‚Dephosphorisierung‘ der Nervensubstanz. (Von Haken, George Miller Beard, 130). 49 Beard, American Nervousness, 176. 50 Beard, American Nervousness, 96. 51 Beard, American Nervousness, 119.
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Äußerlich fällt [die Femme fragil] durch eine ‚überzartete oder kränkliche Schönheit‘ auf […]. […] [Die] literarisch[e] Inszenierung der Femme fragil [wird] mit Vorliebe im Bild ihrer bläulich schimmernden Schläfenadern zum Ausdruck gebracht […].52
Mit dem ‚Neurastheniker‘ schuf Beard der femme fragil, die in ‚schneeiger Blässe‘ und hinfälligem Schick punktgenau dem Fin de Siècle-typischen Schönheitsideal dekadenter Eleganz entsprach, ein korrespondierendes männliches Pendant, was der ‚Neurasthenie‘ erst ihren bedeutenden diskursiven Durchschlag gab.53 Schließlich fand Beard für das Nervensystem des ‚Neurasthenikers‘ das Bild des elektrischen Stromkreises, in dem das Gehirn als elektrischer Generator fungierte, der vergeblich versuchte, die sich durch die tagtäglichen zivilisatorischen Höchstleistungen verbrauchende Nervenkraft zu reproduzieren: The force in this nervous system […] is limited; and when new functions are interposed in the circuit, as modern civilization is constantly requiring us to do, there comes a period, […] when the amount of force is insufficient to keep all the lamps actively burning; […].54
Der ‚Neurastheniker‘ wird zum body electric, aus dem die hektische Zivilisation beständig Energie abzieht – die durch elektrotherapeutische Anwendungen gleichsam wiederaufzuladen war.55 52 Stephanie Catani, Das fiktive Geschlecht – Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg, 2005, 103/104; Ariane Thomalla, Die ‚femme fragil‘ – Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf, 1972. Thomalla klassifiziert Edgar Allen Poes Frauenfiguren als Vorform der ‚femme fragil‘: ‚In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts verlieh E.A. Poe […] der weiblichen Zartheit einen neuen mysteriösen Akzent. Seine ätherischen Schönen, alle von einer idealischen Geistigkeit und zugleich erschreckend morbide, haben trotz oder vielleicht aufgrund ihrer lichtvollen Ätherik einen Zug ins Unheimliche.‘ (Thomalla, Die ‚femme fragil‘, 18). 53 Thomalla, Die ‚femme fragil‘, 26. Dabei entwickelte sich die Neurasthenie bald zu einer Art ‚Männerkrankheit‘, die weitere Brisanz aus dem Konnex Onanie = Verlust von Lebensenergie generierte. (Joachim Radkau, The Neurasthenic Experience in Imperial Germany – Expeditions into Patient Records and Side-looks upon General History. In: Cultures of Neurasthenia, 184). 54 Beard, American Nervousness, 99. An anderer Stelle formulierte Beard: ‚There are millionnaires [sic!] of nerve-force.‘ (Beard, American Nervousness, 9). 55 Auch in medizinischen Werbeanzeigen der populären deutschen Blätter Gartenlaube und Simplicissimus wurde das Nervensystem immer wieder als sich potentiell verbrauchende elektrische Stromquelle bzw. Batterie beschrieben. (Heinz-Peter Schmie-
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3.3.2 Die elektrotherapeutische Praxis in der Madison Avenue 3.3.2.1 Praxisalltag und elektrotherapeutische Gerätschaften George M. Beards Praxiskollege Alphonse D. Rockwell, einer der drei wesentlichen Erfinder des elektrischen Stuhls, wurde 1840 in Connecticut geboren und machte 1864 sein Arzt-Diplom am Bellevue Medical College, woraufhin er am 914 Broadway eine kleine elektrotherapeutische Praxis eröffnete.56 Parallel arbeitete Verbindungsbruder George M. Beard in der DemiltFreiklinik, wo Beard und Rockwell Ende 1870 gemeinsam eine ‚elektrotherapeutische Abteilung‘ gründeten.57 Kurz darauf eröffneten Beard│Rockwell dann ihre elektrotherapeutische Gemeinschaftspraxis in der Madison Avenue, Ecke 30th Street.58 Beard│Rockwell praktizierten grundsätzlich auf dem elektrophysiologischen Wissensstand ihrer Zeit, den sie in ihrer Monografie ‚A Practical Treatise on the Medical and Surgical Uses of Electricity‘ detailliert rekapitulierten. Dabei ist jedoch zwischen den diversen Auflagen ihres ‚Practical Treatise‘ zu differenzieren, wobei speziell die erste Auflage des Werkes noch stark von George M. Beards Vitalismus geprägt war, dessen Residuen sich noch in der von Dr. Rockwell aktualisierten Auflage von 1888 finden:
debach, The Public’s View of Neurasthenia in Germany – Looking for a New Rhythm of Life. In: Cultures of Neurasthenia, 221). 56 Alphonse D. Rockwell, Rambling Recollections – An Autobiography. New York, NY, 1920, 13, 130, 180 und 194. 57 Rockwell, Rambling Recollections, 182. Beard│Rockwell formulieren: ‚One object in establishing the department was to afford opportunity for experiment.‘ (Beard│Rockwell, A Year of Experiment in Electro-Therapeutics – Including the First Annual Report of the Electro-Therapeutical Department of Demilt Dispensary. Louisville, KY, 1872, 3). Das Demilt Dispensary, 1851 eröffnet, wurde primär von der philanthropischen ‚Association for Improving the Condition of the Poor‘ (A.I.C.P.) getragen. Es war für den nord-östlichen Teil New York Citys zuständig und gehörte um 1870 zu den acht größten der 26 Freikliniken NYCs. (John Duffy, A History of Public Health in New York City, 1625-1866, New York, NY, 1968, 508; John Duffy, A History of Public Health in New York City, 1866-1966. New York, NY, 1974, 185). 58 1876 wurde die Praxis nach einem Streit aufgelöst, wobei Rockwell George M. Beards Rechte an dem gemeinsam verfassten Standardwerk ‚A Practical Treatise on the Medical and Surgical Uses of Electricity‘ erwarb, das insgesamt elf Auflagen erlebte. (Rockwell, Rambling Recollections, 210-213).
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[Nerves and muscles] conduct that mysterious vital agent, which, in lieu of definite knowledge, we are obliged to call nerve force.59
Doch der erste Anschein trügt, denn Alphonse Rockwell fügte dem elektromedizinischen Kompendium ein Kapitel hinzu, das die Frage ‚Is Electricity Transformed into Nerve Force‘ stellte – und deutlich verneinte.60 Im elektrotherapeutischen Behandlungsalltag verwendeten Beard│Rockwell medizinische Gleichstrombatterien, Induktionsspulen bzw. induction coils und ein ganzes Set aller nur erdenklichen Elektroden. Die Batterien waren in Koffern, Tischapparaturen oder ganzen Wandschränken (Kabinettbatterien) untergebracht und unterschieden sich durch ihre Elektrolyte oder Metallelemente, was ihre Vor- und Nachteile bestimmte. So zeichnete sich Daniell’s Battery, eine single cell Zink-Kupfer und Salpetersäure-Batterie, durch ihre Beständigkeit aus; Grove’s Battery war ähnlich, enthielt aber eine Kupfersulfatlösung und ein Zink-Platin-Element, was die elektromotorische Kraft vervielfachte. Bunsen’s Bichromate Battery war günstig, aber äußerst wartungsaufwendig; Walker’s Single-cell Zink-carbon Battery – ‚very widely used in electro-therapeutics‘ – erforderte aufwendige Säure-Rezepturen.61 Neben den Batterien kam batteriebetriebenen Induktionsspulen eine besondere Bedeutung im Praxisalltag zu.62 Induktionsspulen bestehen aus einem stabförmigen Eisenkern, zwei Wicklungen aus Kupferdraht (Primär- und Sekundärwicklung) und einem Unterbrecher: Die Primärwicklung ist um den Eisenkern gewickelt, die Sekundärwicklung wird, durch eine isolierende Schicht getrennt, darum gewunden. Leitet man nun einen schnell unterbrochenen Batteriestrom durch die Primärwicklung, ent59 Beard│Rockwell, A Practical Treatise on the Medical and Surgical Uses of Electricity – Including Localized and General Faradization; Localized and Central Galvanization; Franklinization; Electrolysis and Galvano-Cautery. New York, NY, 1888, 141. Die 6. Auflage von 1888 wird verwendet, da sie Rockwells Kenntnisstand zur Zeit der Erfindung des elektrischen Stuhls repräsentiert. 60 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 222. 61 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 36, zu den einzelnen Batterien, siehe: Beard │Rockwell, Medical Electricity, 32-40. Die Spannung der Batterien schwankte im
laufenden Betrieb beträchtlich, was eine exakte Dosierung des elektrotherapeutischen Stromes – anders als bei portionierbaren Arzneien – unmöglich machte. (Beard │Rockwell, Medical Electricity, 80).
62 Induktionsstrom war laut Rockwell jene Stromform, die in der zeitgenössischen Elektrotherapie am häufigsten verwendet wurde. (Beard│Rockwell, Medical Electricity, 60).
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stehen in der Sekundärwicklung beim An- und Ausschalten durch Induktion elektrische Hochspannungsimpulse, die als elektrische Schocks zur therapeutischen Faradisierung verwendet wurden. Die galvanischen Batterie- bzw. faradischen Induktionsströme wurden über Elektroden an den Körper appliziert, die entweder in metallenen Spitzen oder runden Metallscheiben ausliefen oder – wie Rockwell’s Brass Ball Electrode – in einer runden Messing-Kugel mündeten. Schwammelektroden (sponge electrodes) hatten einen mit Salzwasser befeuchteten Schwamm an der Spitze; metallene Bürstenelektroden (electric brushes), die auch im psychiatrischen Hudson River State Hospital unter Dr. Frederick Peterson Verwendung fanden, wurden meist über die Wirbelsäule geführt. Abbildung 5 und Abbildung 6: Bei der Central Galvanization hielt die Patientin den einen Pol, während Beard oder Rockwell Nacken oder Oberkopf mit dem zweiten Pol affizierten.
Außerdem gab es unzählige Vaginalelektroden wie Kidders Vaginal Electrode und spezielle Gebärmutterelektroden wie Beard’s Intra-Uterine Electrode, die der Faradization of the Uterus dienten.63 Erektionsstörungen und Impotenz be-
63 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 531, zur Elektrotherapie von Frauenkrankheiten, siehe: Beard│Rockwell, Medical Electricity, 529-544. Bildnachweise: Abbilung 5: Beard│Rockwell, Medical Electricity, 378 (Nacken); Abbildung 6: Beard│Rockwell, Medical Electricity, 376 (Oberkopf).
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handelten Beard│Rockwell mit general faradization, die durch lokale Faradisation, u.a. durch eine Harnröhrenelektrode, ergänzt werden konnte.64 Ben Barker-Benfield hat darauf verwiesen, dass die sprichwörtliche Prüderie des Viktorianischen Zeitalters vor dem Hintergrund solcher (Körper-) Techniken zu relativieren ist.65 3.3.2.2 ‚Central Faradization‘ und ‚Galvanization of the Brain‘ Die wohl wichtigste therapeutische Erfindung Beard│Rockwells war die general faradization, bei der es sich um eine Erweiterung von Duchennes feinziselierter électrisation localisée einzelner Nerven bzw. Muskeln handelte, die Beard│Rockwell als elektro-faradische Ganzkörperbehandlung auf den Gesamtkörper – allgemeine im Gegensatz zur lokalen Faradisierung – erweiterten: The object proposed in general faradization is to bring every portion of the body under the influence of the faradic current […].66
Um den gesamten Körper ‚under the influence of the faradic current‘ zu bringen, sei die erste Elektrode an den Füßen zu applizieren, während die zweite Elektrode über den Körper, meist Kopf und Wirbelsäule, zu führen sei: The patient should be seated on an ordinary stool, with his face toward the instrument, and his feet on the sheet of copper to which the negative pole is attached. […] The back of the head over the cerebellum will usually bear quite strong applications.67
Im Falle, dass – wie beim späteren elektrischen Stuhl – ein Strom von ‚unusual strength‘ verwendet werden solle, sei die untere Elektrode jedoch nicht an den Füßen, sondern am Steiß (coccyx) anzubringen:
64 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 559-570. 65 Ben Barker-Benfield, The Spermatic Economy – A Nineteenth Century View of Sexuality. In: Feminist Studies, Vol.1, No.1 (Summer 1971), 45. 66 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 347. Beard│Rockwell formulieren: ‚Our own attention was called to the subject of general faradization in 1866, and in that and the following year we introduced it to the profession, describing in a general way its powerful tonic effects and modus operandi.‘ (Beard│Rockwell, Medical Electricity, 213). 67 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 349 und 353.
66 | M EDIZINISCHE G EWALT […] [W]hen a current of unusual strength is to be employed, […] it is advisable to have the patient sit on the plate, or a sponge electrode with a broad surface may be applied to the coccyx.68
Abbildung 7: Central Faradization: Der Patient sitzt auf einem Hocker, während die erste Elektrode an den Füßen anliegt – und der Arzt mit der zweiten Elektrode den Nacken affiziert.
Die Elektrodenanordnung Kopf – Steiß entspricht dabei exakt der Elektrodenanordnung des von Dr. Alphonse Rockwell (mit-) entwickelten ersten elektrischen Stuhls.69 68 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 347. 69 State of New York. Report of Carlos F. MacDonald, M.D., on the Execution by Electricity of William Kemmler, Alias John Hart – Presented to the Governor September 20, 1890. Albany, NY, 1890, 5. Bildnachweis, Abbildung 7: Central Faradization mit galvanischen Batterieströmen kombiniert. Beard│Rockwell, Medical Electricity, 354.
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Aber auch die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ fand historische Vorläufer in der Fin de Siècle-Elektrotherapie, denn bei psychischen Störungen applizierten Beard│Rockwell elektrische Schocks auch an das Gehirn (‚Galvanization of the Brain‘).70 Bei schwachen Strömen führten diese zu einem ‚Füllegefühl‘ im Kopf, während bei steigenden Strömen motorische Unruhe und bei noch stärkeren Strömen Schwindel mit heftigen Bewegungen der Augen auftraten. Bezüglich der Elektrodenanordnung formulieren Beard und Rockwell: When a current of even feeble tension is passed from temple to temple, or from one mastoid bone to its fellow, very decided dizziness is at once perceived, which continues during the operation of the current, and becomes most decidedly manifested at the moment the circuit is broken.71
Die für das Gehirn sensibelste – und deshalb laut Beard│Rockwell mit äußerster Vorsicht anzuwendende – Elektrodenkonfiguration sei die von Schläfe zu Schläfe, was exakt der Elektrodenanordnung der späteren ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ entspricht. Parallel verknüpften Beard│Rockwell die Elektrotherapie des Wahns mit den darwinistischen Hereditätslehren, womit in New York eine erste epistemische Verdichtung entstand, in der sich pönale psychiatrische Elektrotherapie und die rassistischen Hereditätslehren diskursiv verbanden. Diese Verdichtung stellte gleichsam den Kondensationskeim des ersten elektrischen Dispositivs dar, aus dem sich die dispositive ElektroMacht ab 1890 überhaupt entwickelte: In the absence of precise knowledge we may assume that hysteria is an exaggeration of neurasthenia […] – a more advanced stage of nervous impoverishment, – a step lower in the process of degeneration.72
70 Zu elektrophysiologischer Grundlagenforschung am Gehirn vor 1890, siehe auch: Fritsch/Hitzig, Ueber die elektrische Erregbarkeit des Grosshirns. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, Vol. 37, 1870, 300-332 71 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 113. 72 Beard│Rockwell, A Practical Treatise on the Medical and Surgical Uses of Electricity – Including Localized and General Electrization. New York, NY, 1871, 312. Hereditätslehren wurden laut Volker Roelcke von Beard jedoch eher halbherzig appliziert: ‚In contrast to Beard’s lengthy considerations on the individual’s social environment, the ideas of heredity, and of degeneration were only of marginal importance to his conceptualization. Interestingly, the term degeneration is used quite inconsistently in both Nervous Exhaustion, and American Nervousness.‘ (Volker Roelcke,
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3.3.2.3 Elektrotherapie an der Grenze zum Wahn Wahrscheinlich noch in Alphonse Rockwells Praxis am Broadway wurden Beard│Rockwell von einem 25-jährigen Mann konsultiert, der angab, depressiv zu sein: We submitted him to general applications of a powerful faradic current, and also to occasional galvanization of the brain, cord, and sympathetic.73
Der Patient wurde einer elektrischen Faradisation mit Induktionsstrom unterworfen, die durch mehrere Galvanisierungen des Gehirns komplettiert wurde. Lange vor der Geburt der angeblichen ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ gehörten Applikationen an das Gehirn also zum Portfolio der – hier privaten – psychiatrischen Elektrotherapie. Nach der Elektrisierung von Kopf, Rückenmark und Sympathikus wurde die schmerzhafte Elektrotherapie mit einer Kombination von Gleichund Induktionsstrom fortgesetzt: The faradic current, full strength, from a Kidder apparatus, and at the same time the galvanic current from 15 cells of Bunsen's battery, were passed through and around the body, by the method of general electrization. Improvement was now remarkably rapid.74
Bei dem jungen Mann setzten Beard│Rockwell das volle elektrotherapeutische Arsenal ein, woraufhin – vielleicht auch, um weitere Applikationen zu vermeiden – schnell eine Besserung der Beschwerden eintrat. Eine zweite Patientin, die an ‚Hysterie‘ litt, wurde von Beard│Rockwell ebenfalls mit starken elektrischen Applikationen, diesmal auch am Intimbereich, therapiert: A most violent and persistent case of hysteria, in the person of a married lady, aged 40, came under our observation […]. The patient was in bed, suffering from violent paroxysms of alternate weeping and screaming. […] The menstrual period was delayed nearly two weeks, and to this circumstance it was possible, in part, to attribute the attack. […] The patient was submitted to thorough general faradization, and immediately after a galvanic current from eight cells was as nearly as possible localized in the uterus.75
Electrified Nerves, Degenerated Bodies – Medical Discourses on Neurasthenia in Germany, circa 1880-1914. In: Cultures of Neurasthenia, 180/181) 73 Beard│Rockwell, Medical Electricity, (1871), 309. 74 Beard│Rockwell, Medical Electricity, (1871), 306. 75 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 400.
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Die stark deviierte Patientin wurde zunächst mit der von Beard│Rockwell entwickelten general faradization therapiert, worauf eine pönale électrisation localisée des Uterus erfolgte, durch die es gelang, die renitente Patientin im Sinne einer ‚patriarchal medicine‘ (Kneeland/Warren) behavioristisch zu disziplinieren.76 Eine dritte Patientin, die 20-jährige ‚Miss W.‘ aus Harlem, stellte tatsächlich eine deutliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar: At times she was intensely violent in her demonstrations — screaming at the top of her voice and breaking every article of furniture within her reach; as a consequence she was confined in a room stripped of its furniture, and in her wildest moods the straitjacket was applied.77
Die tobende Patientin wurde mit stärksten elektrischen Anwendungen an den Kopf therapiert: […] [S]he was held firmly in position by several powerful assistants, and, after thoroughly moistening the hair of the head, we submitted her to the most thorough form of general faradization with the very smoothest current obtainable. The current was of great strength, but evidently in itself caused no discomfort to the patient. [F]or 48 hours thereafter [the patient] was perfectly obedient and tractable.78
Direkt nach der Applikation zeigte die Patientin eine gute Führung, die mit Burrhus F. Skinners Behaviorismus als Resultat bestraften Verhaltens zu werten ist (siehe Kapitel: 6.6.2). Ein Hinweis darauf, dass bereits Beard│Rockwells private Elektrotherapie als behavioristische Strafe ungebührlichen Verhaltens fungierte.79 76 Barker-Benfield formuliert: ‚One usually thinks of the last century as ‚Victorian‘ in its sexual mores, the sexes strictly segregated; yet, increasingly, men plunged their hands and instruments into women’s generative tracts. […] The coterminous rise of eugenics and of drastic gynecology were aspects of a renewed and more desperate attempt to control and shape procreative powers as if the American body politic were literally a body.‘ (Barker-Benfield, Spermatic Economy, 45 und 58). 77 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 418. 78 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 418. 79 Skinner formuliert: ‚Der unsichere Blick, das gedrückte Betragen, die schuldbewußte Art zu sprechen – sie sind emotionale Auswirkungen der konditionierten Stimuli, die durch bestraftes Verhalten hervorgerufen werden.‘ (Burrhus F. Skinner, Wissenschaft und menschliches Verhalten – Science and Human Behavior. München, 1973, 178).
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Dabei präfigurierte Beard│Rockwells Elektrotherapie nicht nur die psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie, sondern auch den von Dr. Alphonse Rockwell mitentwickelten elektrischen Stuhl und stellte damit das epistemische Fundament dar, auf dem sich die dispositive ElektroMacht aus paralleler elektrischer Züchtigung von Wahn und Kriminalität ab 1890 erst konstituierte.
3.4 E LEKTROTHERAPIE IM FORENSISCHEN NY S TATE H OSPITAL -S YSTEM 3.4.1 Makro- und Mikrostrukturen der New Yorker Psychiatrie 1896, dem letzten Amtsjahr Dr. Carlos F. MacDonalds als New York State Commissioner in Lunacy (Psychiatrieminister), bestand das NY State HospitalSystem neben der Lunacy Commission und dem gerade neu gegründeten pathologischen Forschungsinstitut (heute: NY State Psychiatric Institute, PI) aus 11 staatlichen Psychiatrien (in Klammern die Gründungsdaten): •
NY State Commission in Lunacy (1889)
• • • • • • • • • • • •
Utica State Hospital (1843) Willard State Hospital (1869) Hudson River State Hospital (1871) Middletown Homœpathic State Hospital (1871) Buffalo State Hospital (1880) Binghamton State Hospital (1881) St. Lawrence State Hospital (1890) Rochester State Hospital (1891) Long Island State Hospital (1895) Manhattan State Hospital (1896) Matteawan State Hospital for Insane Criminals (1892) Pathological Institute of the NY State Hospital System (PI, 1896)80
80 New York Times, Dr. Ira Van Gieseon Appointed. 24. Januar 1896. Die Belegungszahlen für den Stichtag 30. September bzw. 1. Oktober 1895 lauten wie folgt: Utica State Hospital: 999 (487 Männer und 512 Frauen, 1. Oktober 1894) / Willard State Hospital: 2.201 (1.028 Männer und 1.173 Frauen) / Hudson River State Hospital: k.A. / Middletown State Hospital: 1.115 (554 Männer und 561 Frauen) / Buffalo State Hospital: ‚1.160 under treatment‘ / Binghamton State Hospital: 1.226 (554 Männer und
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Abbildungen 8, 9, 10 und 11: Erst das düstere Buffalo State Hospital, dann das Willard State Hospital, als drittes das neo-gotische Binghamton State Hospital und ganz unten das 1871 eröffnete Hudson River State Hospital, in dem Frederick Peterson seine psychiatrischen PatientInnen elektrisch therapierte.
672 Frauen) / St. Lawrence State Hospital: k.A. / Rochester State Hospital: 479 (236 Männer und 243 Frauen) / Matteawan State Hospital for Insane Criminals: 550+ (NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, October 1, 1894, to September 30, 1895, 138-154). Zur Geschichte des Utica- und Willard State Hospitals, siehe: Ellen Dwyer, Homes for the Mad – Life Inside Two 19th-Century Asylums. New Brunswick, NJ, 1987, zum NY State Hospital-System: Ian Dowbiggin, ‚Midnight Clerks and Daily Drudges‘ - Hospital Psychiatry in New York State, 1890-1905. In: Journal of the History of Medicine, Vol. 47, No. 2 (April 1992), 130-152
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Die Errichtung staatlicher Asyle ging in den USA auf die Ante Bellum-Reformer um Dorothea Dix zurück, die von den Parlamenten der Einzelstaaten die Einrichtung professioneller Asyle forderten, um der unmenschlichen Behandlung der ‚Irren‘ in den County Poor Houses entgegenzuwirken.81 Die meist im neo-klassizistischen Stil errichteten Anstalten sollten moralische Größe suggerieren und galten als positiver Ausdruck einer benevolenten Zivilisation, die ihren ‚pauper insane‘ ein würdevolles (Anstalts-) Leben ermöglichen wollte.82 Formal stand den einzelnen NY State Hospitals ein ‚Board of Managers‘ vor, das aus acht oder mehr ehrenamtlichen Honoratioren bestand, die primär Kontrollfunktionen wahrnahmen.83 Der Superintendent hingegen war der ‚chief executive officer of the asylum‘; ihm oblag ,the general superintendence‘ der Anlage und ‚the direction and control of all persons therein‘.84 Er herrschte als patriarchaler Übervater nach innen und vertrat das Hospital nach außen; alle Macht in der totalen Institution ging von ihm aus.85 81 So formulierte Dix in Massachusetts: ‚I […] call your attention to the present state of insane persons confined within this Commonwealth, in cages, closets, cellars, stalls, pens! Chained, naked, beaten with rods, and lashed into obedience.‘ (Dorothea L. Dix, Memorial, Boston, 1843, 4) Bildnachweise, Abbildungen 8 bis 11: http://www.loc. gov/pictures/item/ny0207.photos.116449p/resource/ (Buffalo State Hospital, 18. Mai 2013); http://www.nytimes.com/imagepages/2008/03/25/science/25bookCA02 ready. html (Willard State Hospital, 4. Mai 2013), http://www.rootsweb.ancestry.com/~ asylums/binghamton_ny/shbing1905pc1.jpg (Binghamton State Hospital, 4. Mai 2013); http://www.kirkbridebuildings.com/blog/images/2008/07/24/1.jpg
(Hudson
River
State Hospital, 4. Mai 2013). 82 Dabei sollte die Asyl-Architektur schon aus sich heraus einen kurativen Effekt erzeugen, der als ‚one of the most powerful tools for the treatment of the insane‘ (Yanni) angesehen wurde. Parallel mussten die Asyle dem damaligen Stand der Medizin (Miasmenlehre) genügen, weswegen auf ausgeklügelte Ventilationssysteme entscheidender Wert gelegt wurde. (Carla Yanni, The Linear Plan for Insane Asylums in the United States before 1866. In: Journal of the Society of Architectural Historians, Vol. 62, No. 1 (Mar., 2003), 24 und 29). 83 Die Manager arbeiteten unentgeltlich; da ihnen allerdings die Kontrolle ‚of all the property […] of the institution‘ anvertraut war, hatten sie jedoch ausreichend Gelegenheit, sich im Zuge der damals weit verbreiteten Korruption an ihren NY State Hospitals zu bereichern. (The Revised Statutes of the State of New York – As Altered by Subsequent Legislation. Seventh Edition, Vol. 3, Albany/New York, 1882, 1909). 84 NY State Laws (1882), 1909/1910. 85 Dwyer, Homes for the Mad, 83.
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Direkt danach kam in der Anstaltshierarchie der First Assistant Physician, der das medizinische Tagesgeschäft leitete; die neben dem ärztlichen Personal wichtigste Berufsgruppe waren die Pflegerinnen und Pfleger (‚attendants‘), die meist nach ihrer körperlichen Robustheit ausgewählt wurden und die in den NY State Hospitals auch für die entsprechende Ordnung sorgten. Die Zwangseinweisung in ein NY State Hospital war durch ein Gesetz von 1874 geregelt, das zwei ärztliche Gutachten forderte, die einem hauptamtlichen Richter (Court of Record) vorzulegen waren, der daraufhin die Einweisung verfügte.86 Der Richter selbst konnte im Zweifelsfall einen Jury-Prozess durchführen; die Einweisung wurde meist durch einen Bittsteller aus dem Familien- oder Freundeskreis angeregt. Neben der Einweisungsorder enthielt das ‚Certificate of Lunacy‘ auch die Stellungnahmen der zertifizierenden Ärzte: Said […] that a mill owner has mesmerized her and is the author of all her trouble.87
Von den 1.813 im Haushaltsjahr 1889 in ein NY State Hospital eingelieferten PatientInnen waren 134 Analphabeten, 102 konnten lesen, 138 konnten lesen und schreiben, 1.130 hatten eine Common School besucht, 117 wurden als ‚Academic‘ und 27 als ‚Collegiate‘ eingestuft. Von den 5.017 PatientInnen, die sich am Stichtag des 30. September 1889 in einem der sieben NY State Hospitals befanden, waren 1203 (24%) zwischen 2 und fünf Jahren interniert, 1.035 (rund 20%) lebten zwischen fünf und zehn Jahren und 395 PatientInnen (knapp 8%) gar seit über 15 Jahren in ihrem NY State Hospital, was die New Yorker Psychiatrien deutlich als Verwahranstalten kennzeichnet.88 Hereditäre Ursachen des Wahns wurden bei 482 von 1813 PatientInnen (26.6%) angenommen; als weitere Gründe für das Entstehen der jeweiligen Geisteskrankheit wurden ‚General ill health‘, ‚Intemperance in drink‘, ‚Masturba-
86 Der entscheidende Passus des Gesetzes lautete wie folgt: ‚No person shall be committed to or confined as a patient in any asylum, public or private, […] for the care and treatment of the insane, except upon the certificate of two physicians, under oath, setting forth the insanity of such person. But no person shall be held in confinement in any such asylum for more than five days, unless within that time such certificate be approved by a judge or justice of a court of record of the county or district in which the alleged lunatic resides […].‘ (NY State Laws (1882), 1901/1902). 87 NY State Archives B1543: Utica State Hospital, Records of commitments, 18961901. Zur Möglichkeit eines Jury-Prozesses, siehe: NY State Laws (1882), 1902. 88 Lunacy Commission, First Annual Report, in Lunacy Commission, Seventh Annual Report, 847 und 853.
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tion‘, ‚Moral causes, including domestic trouble, loss of friends, […] etc‘ – und einmal auch ‚Electric shock‘ genannt.89 Die psychiatrische Behandlung in den NY State Hospitals bestand aus Internierung, entwurzelnden pönalen Verlegungen und mehr oder weniger starker Medikation, wobei entwurzelnde Verlegungen problemlos für das NY State Care-System nachzuweisen sind. Buffalo State Hospital: November 17, ’88. Patient […] has been transferred to D2. Is very destructive of clothing, and wears a full suit in consequence.
St. Lawrence State Hospital: 15-My-04
Easily excited, […] using very profane language […]
15-My-04
Trans D-F
12-Jl-04
Trans to D
Matteawan State Hospital for Insane Criminals: FEB. 25, 1903. To-day was put on 3 No[.] for throwing snow-balls at an old feeble man.90
Als Medikamente wurden primär Kaliumbromid, Chloral, Sulfonal, Digitalis, Opium/Laudanum und Alkohol verabreicht, die dämpfend auf das ZNS einwirken.91 Außerdem wurden Belladonna-Alkaloide aus Nachtschattengewächsen appliziert, die bei Überdosierung ‚Erregungszustände, Halluzinationen und klonische Krämpfe‘ zur Folge haben konnten.92 89 Lunacy Commission, First Annual Report, in Lunacy Commission, Seventh Annual Report, 847 und 834-835. 90 NY State Archives 14231-93: OMH, Buffalo State Hospital patient case files, 18811920, Male Patient Case Book, 1888, 29; NY State Archives 14231-03A: OMH, St. Lawrence State Hospital Patient Case Files, k.A.; NY State Archives A1500, Matteawan State Hospital, Inmate Case Files from Matteawan and Dannemora State Hospitals, ca. 1880-1960, k.A. 91 NY State Archives B1488: Utica State Hospital, Prescription register, 1889-1893. 92 NY State Archives B1488: Utica State Hospital, Prescription register, 1889-1893, 9 und 16; NY State Archives A1500, Inmate Case Files from Matteawan and Dannemora State Hospitals, ca. 1880-1960, k.A.; Hudson River State Hospital, Annual Report for the Year 1885, 67; Ernst Mutschler, Arzneimittelwirkungen – Ein Lehrbuch der
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Parallel wurden die PatientInnen in den NY State Hospitals ab spätestens 1885 auch mit pönalen elektrischen Applikationen therapiert, wodurch sich im NY State Hospital-System ein elektrisches Dispositiv entwickelte, das pönale Elektrotherapie, kriminalbiologische Episteme und staatliche Ressourcen in einem dichten dispositiven Halo verband. 3.4.2 Frederick Peterson als Pionier der psychiatrischen Elektrotherapie 3.4.2.1 Peterson im Hudson River State Hospital Die Rekonstruktion von Frederick Petersons Elektrotherapie im Hudson River State Hospital, aus der sich ab 1888 der elektrische Stuhl entwickelte, ist quellentechnisch äußerst schwierig; Dr. Roger Christenfeld, IRB-Chair und Forschungsdirektor des Hudson River Psychiatric Centers, formulierte 2009 in einer E-Mail an den Verfasser: I am regretful indeed to report the result of our record search on your behalf: We have in our archive only one record from before 1921 and that one, from 1898, mentions no special treatment and does not involve Dr. Peterson. The problem is that in 1965 there was a Statewide purging of old records and everything before a certain period was destroyed because of a lack of storage space. Our responsibility to the present sometimes conflicts with the needs of historical enlightenment and I am truly sorry that this is one such occasion.93
Die von Frederick Peterson geführten Krankenakten wurden 1965 eingestampft; dennoch kann Dr. Petersons psychiatrische Elektrotherapie hier durch eine dichte Indizienkette nachgewiesen werden, die primär auf den Inventarlisten der NY State Hospitals und den in ihnen verzeichneten elektrotherapeutischen Gerätschaften beruht. Dr. Frederick Peterson wurde 1859 in Minnesota geboren und studierte in Buffalo Medizin, wo er bereits 1879 graduierte. Anschließend absolvierte er einen zweijährigen Forschungsaufenthalt im deutschsprachigen Raum, worauf-
Pharmakologie für Pharmazeuten, Chemiker und Biologen. Stuttgart, 1975, 199. Reverend Hiram Chase, zu Bürgerkriegszeiten zwei Jahre in Utica interniert, formuliert: ‚[A]s to the medicine I had no doubt but it injured me, and I felt that I was like a candle burning at both ends, the pressure of the asylum on the one hand and the medicine on the other.‘ (Hiram Chase, Two Years and Four Months in a Lunatic Asylum – From August 20th, 1863, To December 20th, 1865. Saratoga Springs, NY, 1868, 164). 93 E-Mail an den Verfasser, 29. April, 2009.
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hin er nach Buffalo zurückkehrte, wo ihm 1883 als ‚Special Pathologist‘ des Buffalo State Hospitals der Einstieg in die New Yorker Psychiatrie gelang.94 1885 avancierte Peterson dann zum First Assistant Physician bzw. Leitenden Oberarzt des Hudson River State Hospitals in Poughkeepsie, NY, von wo aus er Anfang 1888 nach NYC ging, um in der Great Metropolis eine private Praxis zu eröffnen – und parallel den elektrischen Stuhl zu entwickeln.95 Ab 1889 publizierte Frederick Peterson dann diverse elektrophysiologische Fachartikel, von denen allerdings keiner vor Komplettierung des Konstruktionsplans des elektrischen Stuhls im Dezember 1888 erschien: • • • • • •
Frederick Peterson, Electrical Cataphoresis as a Therapeutic Measure. In: NY Medical Journal, 27. April, 1889 Frederick Peterson, A New Method of Accurate Dosage in the Cataphoretic Use of Electricity. In: NY Medical Journal, 15. Oktober, 1890 Frederick Peterson, Farther Studies in the Therapeutics of Anodal Diffusion. In: NY Medical Record, 31. Januar, 1891 Frederick Peterson, Introduction of Drugs into the Human Body by Electricity. In: Philadelphia Times and Register, 21. März, 1891 Frederick Peterson, Electricity in the Diagnosis of Nervous Diseases. Buffalo Medical Journal, Oktober, 1892 Frederick Peterson, Methods of Employing Electricity in Nervous Diseases. In: Buffalo Medical Journal, November, 1895
Ab 1889 entwickelte sich Frederick Peterson zu einem ausgewiesenen Elektrophysiologen, dessen Œuvre um Elektrodiagnostik und die Elektrotherapie von Nervenkrankheiten kreiste. Auf einer den elektrischen Stuhl betreffenden juristischen Anhörung (Becker Hearings, siehe Abschnitt: 4.3.2) erläuterte Peterson 1889, dass er ‚nervous diseases and medical electricity‘ in Wien, Straßburg und Leipzig studiert habe,
94 Der Annual Report des Buffalo State Hospitals für 1883 formuliert: ‚In January [1883] the board appointed Dr. Frederick A. Peterson, special pathologist to the asylum. The doctor is peculiarly fitted for the position from his previous study and present position as lecturer upon pathology in the Buffalo Medical College.‘ (Buffalo State Asylum for Insane, Annual Report, [For the Year 1883], 45). 95 Bernard Sachs, In Memoriam – Frederick Peterson, Sound Psychiatrist, Great Scholar, True Poet. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 95, No. 3 (Nov. 1938), 763-765; o.A. Frederick Peterson, Pioneer – An Appreciation. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 12, No. 1, 335-336.
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was belegt, dass die Interessen des späteren Death Chair-Erfinders schon früh um die medizinische Elektrizität kreisten.96 Ärztliches Forschen an deutschsprachigen Universitäten, das meist nach dem Abschluss in den USA absolviert wurde, war unter jungen US-Medizinern zwischen 1870 und 1914 äußerst en vogue.97 Speziell die Universität Leipzig genoss damals einen Spitzenruf;98 hier lehrte von 1880 bis 1883, also während Petersons Forschungsaufenthalts, mit Wilhelm Erb der vielleicht letzte große Elektrophysiologe.99 Erb formulierte in seinem ‚Handbuch der Elektrotherapie‘: Natürlich sind es besonders die Irrenanstalten, welche dazu berufen sind, die Pflege dieses Theils der Irrentherapie [Elektrotherapie] zu fördern […].100
Während eine direkte Verbindung Erb-Peterson zwar plausibel, quellentechnisch aber nicht nachzuweisen ist, kann zweifelsfrei belegt werden, dass Peterson in Wien bei dem Elektrotherapeuten und ‚Kriminalbiologen‘ Moriz Benedikt studierte: ‚I owe to my teacher Professor Moritz Benedikt […].‘101 Benedikt war Professor für Elektrotherapie und zugleich Pionier der kraniometrischen Schädelvermessungen; ein Feld, das er dermaßen beherrschte, dass Cesare Lombroso, Vorreiter des wissenschaftlichen Rassismus, dessen ‚Kriminalbiologie‘ im Abschnitt zum elektrischen Stuhl dargestellt wird, ihn als ‚›Pat96
[NY Supreme Court], The People of the State of New York, Ex Rel. William Kemmler, Appellant, Against Charles F. Durston, As Warden of the State Prison at Auburn, N.Y., Respondent. Vol. 1, Buffalo, NY, 1889, 241 [im Folgenden als: Becker Hearings].
97
Thomas N. Bonner, American Doctors and German Universities – A Chapter in International Intellectual Relations 1870-1914. Lincoln, NE, 1963, 3. Bonner formuliert: ‚Between 1870 and 1914 a high proportion of the most talented and ambitious of American medical men studied abroad in German universities. Upon their return they exerted a powerful influence on the direction of the science and practice of medicine in this country.‘ (Bonner, American Doctors, VII).
98
Bonner formuliert: ‚Leipzig and Strassburg, together with Breslau, were the favorite haunts of Americans deeply interested in the fundamental branches of medicine.‘ (Bonner, American Doctors, 35).
99
http://www.uni-leipzig.de/unigeschichte/professorenkatalog/leipzig/Erb_803/, (7. Januar 2012).
100 Wilhelm Erb, Handbuch der Elektrotherapie – Mit 39 Abbildungen im Text. Leipzig, 1886, 370. 101 Frederick Peterson, Some of the Principles of Carniometry. In: The Medical Record, Vol. 33, No. 25 (23. June 1888), 682.
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riarchen‹ der neuen Wissenschaft‘ bezeichnete.102 (siehe Kapitel: 4.1) Benedikt selbst formulierte: Wenn wir menschliche Gehirne untersuchen, die wir als tiefstehende anzusehen Grund haben, so fallen uns vor Allem ‚Thierähnlichkeiten‘ auf.103
Parallel zu seinen rassistischen Schädelvermessungen applizierte Benedikt stärkste elektrische Schocks.104 Abbildung 12: ‚[D]as ganze kathetometrische Instrumentarium‘, u.a. mit ‚Grundplatten-Kathetometer‘ und ‚Kraniofixator‘.
102 Moriz Benedikt, Aus meinem Leben – Erinnerungen und Erörterungen, Wien, 1906, 332. 103 Moriz Benedikt, Anatomische Studien an Verbrecher-Gehirnen, 113. Bildnachweis, Abbildung 12: Benedikt, Kraniometrie und Kephalometrie, 175, zur Bildüberschrift, siehe: Moriz Benedikt, Kraniometrie und Kephalometrie, 173. 104 So formulierte Benedikt etwa: ‚Dies ist der Grund, warum ich öfters die Behandlung in Chloroformnarkose vorgenommen habe, wobei ich jedoch eine grosse Scheu vor der Behandlung am Kopfe habe, obwohl ich es einmal ohne Schaden that.‘ (Moriz Benedikt, Elektrotherapie – I. Abtheilung. Mit 12 Holzschnitten und 1 lithographierten Tafel. Wien, 1868, 426).
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Nach seiner Rückkehr in die USA führte Peterson am Hudson River State Hospital eine Serie von ‚100 cephalometric and cephaloscopic examinations of people, mostly insane (from patients of mine in the Hudson River State Hospital)‘ durch, in deren Verlauf er an seinen PatientInnen ‚extreme variations from the physiological limits‘ feststellte.105 Im Juni 1888 publizierte Peterson dann einen kurzen Artikel unter dem Titel ‚Craniometry‘, in dem er formulierte: The skulls of insane and criminals are found to be, as a rule, lower than normal. Hence an abnormally low skull may be considered as showing a tendency to crime or insanity.106
Frederick Peterson, der spätere Erfinder des elektrischen Stuhls, hing in jungen Jahren deutlich den rassistischen Hereditätslehren an.107 Parallel entstand durch die Verflechtung von Elektrotherapie und ‚Kriminalbiologie‘ in Petersons psychiatrischer Elektrotherapie eine diskursive Verdichtung, die die spätere dispositive ElektroMacht epistemisch präfigurierte. 3.4.2.2 Psychiatrische Elektrotherapie im Hudson River State Hospital 1885, also exakt jenem Jahr, in dem Dr. Peterson zum First Assistant Physician des Hudson River State Hospitals avancierte, wurde den damals sieben NY State Hospitals gesetzlich aufgetragen, der Legislative in Albany ein genaues ‚inventory of each article of property […] in their possession‘ zu liefern.108 Damit waren alle NY State Hospitals verpflichtet, eine genaue Inventur vorzunehmen, die auch die medizinischen Abteilungen mit einschloss – und die sie, wie hier das Binghamton State Hospital, in ihrem jeweiligen Annual Report publizierten:
105 Frederick Peterson, Some of the Principles of Craniometry. In: The Medical Record, Vol. 33, No. 25 (23. June 1888), 685. Trotz einer Ankündigung wertete Peterson seine kraniometrischen Taxierungen nicht weiter aus; der Passus über die Forschungen an seinen Hudson River State Hospital-PatientInnen enthält die Fußnote: ‚To be especially studied when the collection is larger.‘ (ebda.). 106 Frederick Peterson, Some of the Principles of Craniometry, 686. 107 Ganz in diesem Sinne verfasste Peterson im Sommer 1889 dann ein – hier nicht vorliegendes – Vortragsmanuskript, dessen Titel keine Fragen offen lässt: ‚A Study of the Skulls of Criminals, by Frederick Peterson, M.D. of New York‘ (Medico-Legal Journal, Vol. 6, 471). 108 Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 3; Hudson River State Hospital, Annual Report for the Year 1885, 3; Willard State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 38.
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1 hypodermic syringe
[…]
1 Davidson’s syringe
[…]
50 [$]
1 stethescope [sic!]
[…]
3 00 [$]
4 laryngoscopes
[…]
3 00 [$]
1 microscope
[…]
15 00 [$]109
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2 50 [$]
In der Inventur von 1885 wurden auch die elektrotherapeutischen Batterien katalogisiert, wodurch sich die 1885 in den jeweiligen NY State Hospitals vorhandene elektrotherapeutische Hardware exakt rekonstruieren lässt: Middletown Homeopathic State Hospital, ‚Inventory of Personal Property belonging to the State Homœopathic Asylum […], October 1, 1885‘: Battery…
[…]
1
Bed pans…
[…]
6
Bedsteads, iron…
[…]
484110
Binghamton State Hospital, Inventur, ‚Medical Office‘, ‘Instruments, ect‘, 1885: 1 battery…
[…]
1 aspirator…
[…]
2 00 [$] 10 [$]
1 test case…
[…]
1 00 [$]111
Willard State Hospital, Inventory, ‚Medical Instruments and Sundries‘, 1885: Electric batteries…
[…]
3
Medicine trays…
[…]
8
Ophthalmoscope…
[…]
1112
Das von Dr. Carlos F. MacDonald geleitete Auburn State Hospital for Insane Criminals war von der Inventur ausgenommen, doch der Medical Director gab ausgerechnet 1885 einen (äußerst glücklichen) Hinweis:
109 Binghamton Asylum for the Chronic Insane, Annual Report, For the Year 1885, 80. 110 Middletown State Hospital, Annual Report, Transmitted to the Legislature, January 12, 1886, 66. 111 Binghamton Asylum for the Chronic Insane, Annual Report, For the Year 1885, 80. 112 Willard State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 46.
82 | M EDIZINISCHE G EWALT [N]eeded additions have also been made to the medical department, in the way of books, surgical instruments, electrical apparatus and ›instruments of precision‹ for diagnostic purposes.113
Dr. Carlos F. MacDonald, der neben Dr. Peterson wichtigste Arzt im Prozess der Einführung des elektrischen Stuhls, führte in seinem NY State Hospital also ebenfalls elektrische Applikationen durch, was auf die dichte Kohäsion des entstehenden elektrischen Dispositivs (elektrisches Dispositiv 1: psychiatrische Elektrotherapie) verweist. Das Buffalo State Hospital lieferte keine Inventur, doch 1887 formulierte Superintendent Dr. Judson B. Andrews: Electricity […] is now being used with more intelligent knowledge of its powers and of the class of cases in which it may prove useful.114
Ein Statement, das psychiatrische Elektrotherapie auch im Buffalo State Hospital wahrscheinlich macht. Das Utica State Hospital lieferte ebenfalls keine Inventarliste; das Hudson River State Hospital, in dem Frederick Peterson als Leitender Oberarzt praktizierte, listete unter der Rubrik ‚Medical Instruments […]‘: Galvanic batteries, 2…
[…]
$118 13
Galvano Faradic battery, 1…
[…]
14 00
Volta-Faradic battery, 1…
[…]
2 00
Faradic battery and brush, 1…
[…]
14 00115
Außerdem findet sich 1885 unter laufende Ausgaben der Eintrag: Electric dumb-bells and brush, 1…
[…]
[$] 14 00116
1886 wurde von Dr. Peterson dann unter der Rubrik ‚Medical and surgical instruments‘ eine weitere kleine Batterie angeschafft: 113 Auburn State Asylum for Insane Criminals, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1885, 10/11. 114 Buffalo State Asylum for Insane, Annual Report, For the Year 1887, 34, sowie: Buffalo State Asylum for Insane, Annual Report, For the Year 1885, passim. 115 Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 146. Zu Utica, siehe: Utica State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, passim. 116 Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 69.
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Battery, 1…
[…]
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[$] 2 03117
Unter Frederick Peterson war das Hudson River State Hospital zur Hochburg der psychiatrischen Elektrotherapie im Staat New York avanciert, wodurch das erste elektrische Dispositiv (psychiatrische Elektrotherapie) ab 1885 deutliche Kontur annahm.118 Tabelle 1: Zahl der elektrotherapeutischen Batterien im NY State HospitalSystem, 1885 Jahr
1885
Utica State Hospital Willard State Hospital
k.A. 3
Hudson River State Hospital Buffalo State Hospital Binghamton State Hospital
5 k.A. 1
Middletown State Hospital
1
Auburn / Matteawan State Hospital Gesamt
1+ 11
Bei den beiden im Hudson River State Hospital vorhandenen ‚galvanic batteries‘ handelte es sich um Flüssigkeitsbatterien der mittleren Preisstufe, die mit einem Wert von $118 die teuersten gelisteten medizinischen Gerätschaften im Hudson River State Hospital darstellten.119 Die Batterien waren für ‚allgemeine‘ und ‚lokale‘ Galvanisationen geeignet und für einen Transport zu schwer. Entsprechend mussten die PatientInnen zur Galvanisierung ins Medical Department kommen, womit unter Dr. Frederick Peterson ein spezifisches elektrotherapeutisches Behandlungszimmer existierte, das historisch die späteren EST-Units präfigurierte.
117 Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1886, 83. 118 Willard State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 46; Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 146; Binghamton Asylum for the Chronic Insane, Annual Report, For the Year 1885, 80; Middletown State Hospital, Annual Report, Transmitted to the Legislature, January 12, 1886, 66; Auburn State Asylum for Insane Criminals, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1885, 10/11. 119 Hudson River State Hospital, Annual Report for the Year 1885, 146-148. Das nächst teurere Gerät war ein ‚Large microscope‘, das mit 100$ veranschlagt wurde (ebda.).
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Die ‚Galvano Faradic battery‘ für $14 war eine vergleichsweise kleine Batterie mit angeschlossener Induktionsspule, die beides, nämlich ‚galvanischen‘ Batteriestrom und ‚faradische‘ Schocks aus der integrierten Induktionsspule liefern konnte. Die kleinen, in einem Holz-Case integrierten Apparate waren transportabel, um z.B. bettlägerige PatientInnen - oder auch die ‚violent insane‘ in den ‚disturbed wards‘ - elektrisch zu affizieren. Die ‚Volta-Faradic battery‘ für günstige $2 bestand aus einem kleinen HolzCase mit Trockenbatterie, Spule und zwei (Scheiben-) Elektroden und erzeugte ausschließlich Induktionsstrom; bei der $14 teuren ‚Faradic battery and brush‘ handelte es sich wohl um eine Trocken-Batterie mit dazugehöriger Induktionsspule, die mit einer Bürstenelektrode versehen war. Elektrodentechnisch war das Hudson River State Hospital vermutlich perfekt ausgestattet; der Katalog eines New Yorker Anbieters von 1883 listet u.a.: […] Sharp brass point Electrode…
$ 3.00
[…] Carbon Electrode with round end…
[$] 2.00 […]
[…] Wooden Ball Electrode…
[$] 2.00120
Frederick Peterson, der spätere Erfinder des elektrischen Stuhls, verfügte im Hudson River State Hospital also über eine perfekt ausgestattete elektrotherapeutische Abteilung, die 1886 um eine weitere Batterie erweitert wurde. Die einzige im Hudson River State Hospital nachgewiesene Elektrode ist eine Bürstenelektrode; Beard│Rockwell formulieren: [E]lectricity applied by means of a metallic brush is far more painful than when applied with a broad metal or sponge.121
Im Hudson River State Hospital schaffte Dr. Peterson mit der ‚electric brush‘ also genau jene Elektrode an, deren Anwendung am meisten schmerzte – was auf behavioristische elektrische Züchtigungen im Hudson River State Hospital verweist.122 120 J. & H. Berge, Franklinism – Or the Treatment of Disease by Statical Electricity, With a Description of the necessary Apparatus and Appliances. Third Edition, June 1883, 12. Cornell University, Oscar Diethelm Library for the History of Psychiatry: 1883 F834. 121 Beard│Rockwell, Medical Electricity, 108. 122 Dr. Petersons psychiatrische Elektrotherapie kann hier außerdem durch einen weiteren schlagkräftigen Schriftbeweis belegt werden. Auf die ihm 1889 auf den Becker Hearings gestellte Frage, wie lange er schon elektrisch therapiere, antwortete Peter-
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Bezüglich der Stromstärke der von ihm verabreichten elektrischen Applikationen formulierte Frederick Peterson 1889: ‚How large – how much?‘, ‚About 25 or 30 milli-amperes.‘, ‚How many volts?‘, ‚Voltage of 50 to 75.‘123
Dr. George E. Fell, der ebenfalls führend in die Konstruktion des elektrischen Stuhls involviert war, erläuterte 1890: Any physician practically using galvanism in his medical work will find that 20 milliamperes will be generally painful to his patients. […] It depends to a great extent upon the portion of the body operated upon. If a mucous membrane, even 5 to 10 milliamperes may prove very painful.124
Im Hudson River State Hospital wurden also elektrische Schocks deutlich über der Schmerzgrenze appliziert. Neben den elektrotherapeutischen Batterien enthält die Inventur des Hudson River State Hospitals auch eine Liste der vorhandenen elektromedizinischen Monographien, die weitere Rückschlüsse auf Petersons psychiatrische Elektrotherapie kurz vor Erfindung des elektrischen Stuhls erlaubt: ‚Catalogue of Library‘, Hudson River State Hospital, 1885: Medical electricity, Tibbits […]
[$] 1 00
How to use galvanic battery, Tibbits […]
[$] 1 00
Medical electricity, [Alt]haus […]
[$] 3 00
Electricity in nervous diseases, [F]ieber […]
[$] 1 00
Electricity in surgery and medicine, Poore […]
[$] 1 00
Electric baths, Schweig […]
[$] 1 00125
son: ‚For five years – about.‘, was mit dem Datum seiner Ernennung zum Leitenden Oberarzt des Hudson River State Hospitals exakt übereinstimmt. (Becker Hearings, Vol. I, 241). 123 Becker Hearings, Vol.1, 246/247. 124 George E. Fell, Address of the President – The Influence of Electricity on Protoplasm. In: Proceedings of the American Society of Microscopists, Vol.12, Thirteenth Annual Meeting (1890), 11. 125 Hudson River State Hospital, Annual Report for the Year 1885, 144. Die vollen bibliographischen Angaben der Peterson vorliegenden elektrotherapeutischen Fachliteratur lauten wie folgt: Julius Althaus, A Treatise on Medical Electricity, Theoretical
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Dr. Friedrich Fieber, Oberarzt der Abteilung für Inhalationsmedizin und Elektrotherapie am Kaiserlich-Königlichen Krankenhaus Wien, erläutert in seinem Werk ‚Treatment of Nervous Diseases by Electricty‘, die PatientInnen empfänden die Elektrotherapie als eine Art ‚electro-flogging‘ und empfiehlt des Weiteren die elektrische Affizierung des Gehirns: ‚[…] I proceed not infrequently […] to the direct electrical treatment of the brain.‘126 George V. Poore wirbt dafür, bei Depressionen ‘very gentle […] applications of galvanism‘ an den Kopf zu applizieren127 und auch Herbert Tibbits formuliert in ‚How to Use Galvanic Battery‘: With these precautions the brain may be electrized [sic!] by well-moistened sponges applied to each mastoid process, to each temple, or to the frontal and occipital protuberances. The sponges must be held immoveable.128
Frederick Peterson standen also nicht nur elektrotherapeutische Batterien, sondern auch die passende Spezialliteratur zur Verfügung, was elektrische Applikationen an Kopf und Gehirn der PatientInnen im Hudson River State Hospital überaus wahrscheinlich macht.129 Ab Anfang 1888 übertrug Frederick Peterson and Practical – And Its Use in the Treatment of Paralysis, Neuralgia, and Other Diseases. Philadelphia, PE, 1860; Herbert Tibbits, A Handbook of Medical Electricity – With Sixty-Four Illustrations. London, 1873; Friedrich Fieber – The Treatment of Nervous Diseases by Electricity. New York, NY, 1874; George V. Poore, A TextBook of Electricity in Medicine and Surgery – For the Use of Students and Practitioners. London, 1876; George M. Schweig, The Electric Bath – Its Medical Uses, Effects, and Appliance. New York, NY, 1877; Herbert Tibbits, How to Use a Galvanic Battery in Medicine and Surgery – A Discourse Delivered Before the Hunterian Society. London, 1879. 126 Fieber, Treatment of Nervous Diseases, 19. Zum bezeichnenden Terminus ‚electroflogging‘, siehe: Fieber, Treatment of Nervous Diseases, 13. 127 Poore, Electricity in Medicine and Surgery, 114. 128 Tibbits, Galvanic Battery, 42/43. 129 Der New Yorker Elektromediziner Allan Hamilton – dessen Werk nicht für das Hudson River State Hospital nachgewiesen ist – formulierte bereits 1873: ‚[The galvanization of the brain] may be performed in several different ways. […] From ten to fifteen cells are all that will be necessary, though in some cases I have used even thirty cells of the large battery at the New York State Hospital for Diseases of the Nervous System. This great tension, however, will sometimes produce alarming symptoms – not only vertigo and pain, but even vomiting, convulsions, and other violent symptoms.‘ (Allan M. Hamilton, Clinical Electro-Therapeutics, Medical and
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seine psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie im Zuge der New Yorker Todesstrafenreform dann auf den elektrischen Stuhl, was das zweite elektrische Dispositiv (Elektroexekution) maßgeblich mitkonstituierte. 3.4.3 Fazit: Das elektrische Dispositiv vor der Todesstrafenreform Um 1885 entstand an der Ostküste der USA ein elektrisches Dispositiv aus psychiatrischer Elektrotherapie und hereditärer Ausgruppierung des Wahns, unter dem die PatientInnen psychiatrischer New Yorker ‚Landeskrankenhäuser‘ mit schmerzhaften elektrischen Anwendungen ‚therapiert‘ wurden. Dabei umfasste dieses erste elektrische Dispositiv (elektrisches Dispositiv 1: Anstaltselektrotherapie) elektrophysiologische Episteme, praktische psychiatrische Elektromedizin (Batterien zumindest im Middletown-, Binghamton-, Auburn-, Willard- und Hudson River State Hospital)130 sowie bedeutende staatliche Ressourcen (NY State Hospital-System) und wurde zugleich durch die rassistischen Hereditätslehren epistemisch katalysiert. Mit der federführenden Einbindung des Psychiaters Frederick Peterson dann auch in die Konstruktion des elektrischen Stuhls generierte sich ab 1888 auf Seiten des Todesstrafensystems ein zweites elektrisches Dispositiv (elektrisches Dispositiv 2: elektrischer Stuhl), das epistemisch ebenfalls von Elektrophysiologie und Hereditätslehren getragen wurde, institutionell aber um die drei NY State Prisons Auburn, Clinton und Sing Sing flottierte – und das sich ab 1890 mit dem ersten elektrischen Dispositiv zur umfassenden ElektroMacht aus psychiatrischer Elektrotherapie und der Praxis der Elektroexekution verband.
Surgical – A Hand-Book For Physicians in the Treatment of Nervous and Other Diseases. New York, NY, 1873, 49/50). 130 Das Buffalo State Hospital war traditionell perfekt ausgestattet und hatte mit Superintendent Andrews einen Chefarzt, der die psychiatrische Elektrotherapie stark favorisierte.
4. Medikalisiertes Töten – Die Erfindung des elektrischen Stuhls, 1888-1890
4.1. ‚K RIMINALBIOLOGIE ‘ UND ‚D EATH C OMMISSION ‘
DIE
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entwickelte sich mit der europäischen ‚Kriminalbiologie‘, die Kriminalität als vererbtes Phänomen ansah, ein positivistischer Machtdiskurs, der eng mit der Psychiatrie, aber auch mit Anthropologie und ‚Völkerkunde‘ verbunden war. Die ‚Kriminalbiologie‘ jedoch fokussierte nicht primär den ‚Irren‘, ‚Wilden‘ oder ‚Araber‘, sondern den ‚Kriminellen‘, den sie wissenschaftlich ausgruppierte und als den Anderen par excellence konstituierte, an dem primär männliche Weiße ein Gegenbild fanden, das sie der eigenen Superiorität versicherte. Neben Petersons Lehrer Moriz Benedikt war Cesare Lombroso der zweite wesentliche Protagonist der ‚Kriminalbiologie‘; in seinem Werk ‚Der Verbrecher‘ postuliert Lombroso eine ‚angeboren[e] Verbrechernatur‘ (permanente qualitative Differenz) und geht davon aus, dass man es beim Verbrecher mit einem Menschen zu tun habe: den entweder Entwicklungshemmung oder erworbene Krankheit, besonders der Nervencentren, schon vor seiner Geburt in einen anomalen, dem des Irren ähnlichen Zustand, versetzt hat, – kurz mit einem wirklich chronisch-kranken Menschen.1
1
Cesare Lombroso, Der Verbrecher – In Anthropologischer, Ärztlicher und Juristischer Beziehung. Hamburg, 1887, 253. Zur ‚angeboren[en] Verbrechernatur‘, siehe: Lombroso, Der Verbrecher, XVI. Unter dem Terminus ‚Kriminalbiologie‘ wird heute die ‚biologische Spurenkunde‘ begriffen: ‚Wir verstehen [unter ‚Kriminalbiologie‘] den Einsatz biologischer Methoden bzw. die Entwicklung biologischer Methodik zur Klä-
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Psychiatrie und Kriminologie vernetzten sich zu einem dichten Machtdiskurs, der Wahn und Kriminalität als biologisch analoge Phänomene klassifizierte, was das epistemische Fundament der späteren ElektroMacht generierte. Inspiriert durch Charles Darwins scharfsinniges Werk ‚The Descent of Man‘, in dem Darwin die ‚mental faculties‘ des Menschen vom Primaten herleitet, führte Cesare Lombroso den ‚Uranfang des Verbrechens‘ auf das ‚Verhalten der Pflanzen und Thiere‘ zurück: ‚Insektenfressende Pflanzen verüb[t]en an den Insecten wahre Morde‘, noch deutlicher aber sei die Analogie Tier – Verbrecher, wo die ‚Tödtung im Streite um den Genuss der Weibchen‘, Kriegslust (Ameisen, Termiten) und Kannibalismus das Verbrechen vorformten:2 [Ein schlagendes Beispiel von Notzucht wurde bei] einem Hahne beobachtet, der ein unreifes Hühnchen vergewaltigte […]. […] Die Papageien […] überfallen nicht selten andere Papageien und saugen ihnen mit dem Schnabel das Gehirn aus.3
Nur etwas über dieser effektvollen Psychopathica Sexualis der Tiere, die die Phänomene von Gewalt und Sexualität in die Welt der Tiere einschreibt, rangieren in Lombrosos biologistischem Tableau der (Minder-) Wertigkeiten die ‚Wilden‘, deren Existenz nach Lombroso ebenfalls ausschließlich um sex & crime flottiert: [Bei Tieren und bei Wilden] erscheint das Verbrechen nicht als eine Ausnahme, sondern fast als allgemeine Regel; […].4
Nach Ausführungen zur Prostitution (‚Kaum gibt es einen Unterschied zwischen den geräuschvollen Zusammenscharungen brünstiger Cynocephalen und denen der Australier‘), kaprizierte sich Lombroso abermals auf den Tod, wobei imperialistisch-orientalistischen Wunscherfüllungen folgend der Kannibalismus das Urverbrechen der ‚Wilden‘ ist: Der Cannibalismus ist unter den Bewohnern der Fidschi-Inseln eine uralte Gewohnheit. Wollen sie ein Ragout als höchst gelungen preisen, so sagen sie: ‚er ist weich, wie ein todter Mensch‘.5 rung kriminaltechnischer und forensischer Sachverhalte.‘ (Herrmann/Saternus, Biologische Spurenkunde – Band 1 Kriminalbiologie. Berlin/Heidelberg, 2007, IX). 2
Charles Darwin, The Descent of Man – And Selection in Relation to Sex. New York, NY, 1871, 67-102; Lombroso, Der Verbrecher, 1-35.
3
Lombroso, Der Verbrecher, 20 und 21.
4
Lombroso, Der Verbrecher, 35.
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Nun wendet sich Lombroso dem (europäischen) Kind zu, sofern sich in ihm die hereditären ‚Keime‘ des ‚moralischen Irreseins‘ und/oder ‚der Verbrechernatur […] vorfinden‘: [E]inem spätern [sic!] Vatermörder machte es Vergnügen, […] Hühner zu blenden und umherlaufen zu lassen.6
Den körperlichen ‚Keimen‘ der Kriminalität, die sich bereits ‚im ersten Lebensalter des Menschen‘ vorfinden, gelte es nun mit anthropometrischen Methoden nachzuspüren, um den gesellschaftlichen Gegenschlag gegen Wahn und Kriminalität auf eine solide medizinwissenschaftliche Basis zu stellen: Das anthropologische Studium des Verbrechers muss nothwendigerweise von jenen physischen Eigenthümlichkeiten ausgehen, die sich zunächst auf dem Seciertische erkennen lassen.7
Wichtige Größen auf der medizinischen Jagd nach dem ‚geborenen Verbrecher‘ sind laut Lombroso die ‚Schädelcapacität‘, der ‚Occipitalabschnitt des Schädelraums‘, der ‚Schädelumfan[g] der Verbrecher‘, die ‚Nasenwurzelcurve‘, der ‚Index frontalis‘ sowie diverse Schädelanomalien (‚fliehende Stirn‘, ‚hervorragender Hinterhauptshöcker‘), die sich für die aussagekräftige Vermessung von ‚Verbrecherschädel[n]‘ eignen.8 Dabei ist der Verbrecher dem ‚Gesunden‘ insbesondere bei der Schädelkapazität unterlegen:
5
Lombroso, Der Verbrecher, 41 und 68. Zur Verflechtung von Kolonialismus, Kannibalismus-Diskurs und Biomacht, siehe: Eva Bischoff, Kannibale Werden – Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit. Bielefeld, 2011. Bischoff formuliert über den Botaniker und Afrikareisenden Georg Schweinfurth: ‚[Die Schädel erlaubten] aus Sicht der Anthropologie, oder genauer der Kraniologie, die Bestimmung des evolutionären Entwicklungsstandes des jeweiligen Verstorbenen. Und da für Schweinfurth die Gleichung galt, je geringer der Stand der evolutionären Entwicklung eines ‚Naturvolks‘, desto wahrscheinlicher sei die Menschenfresserei, war in diesem Sinne Kannibalismus über die Messung von Körperdaten quantifizierbar.‘ (Bischoff, Kannibale Werden, 80/81).
6
Lombroso, Der Verbrecher, 111.
7
Lombroso, Der Verbrecher, 97 und 137.
8
Lombroso, Der Verbrecher, 137-163.
92 | M EDIZINISCHE G EWALT Sehr kleine Schädelräume finden sich bei 60 verbrecherischen Weibern und zwar weit häufiger als bei normalen Frauen, nämlich im Verhältnis von 41 : 29. […] Im Ganzen also ist der Schädelraum der Verbrecher […] kleiner als der der Gesunden und Irren; […].9
In direktem Anschluss weist Lombroso dem ‚Verbrecherschädel‘ Parallelen zu ‚niederen Schädeltypen‘ wie von Neandertaler oder Cro-Magnon-Mensch nach, wodurch er Kriminelle als paläontologische Relikte der Vorzeit ausgruppiert. Außerdem sei bei Verbrechern ‚das Schmerzgefühl herabgesetzt‘, wobei Lombroso dieses Phänomen mit elektrischen Schocks aus einem ‚Du Bois Reymond’schen elektrischen Apparat‘ taxierte: Garetti, 28 Jahre alt, dreimal wegen Diebstahls verurtheilt, simulirt [sic!] Irrsinn, ist aber wirklich irr. […] Ein starker elektrischer Strom bleibt ohne Wirkung, ein zweiter und dritter dagegen bewirkt Aufsteigen der Linie […]. Unter dem Schmerz in Folge des elektrischen Stromes folgt nochmals Herabdrücken [der Linie des Pulsbildes].10
Beim ‚Kriminellen‘ sei das Schmerzbewusstsein herabgesetzt, was implizit härtere Strafen an ‚stumpfen‘ Kriminellen rechtfertigt. Zugleich verflechten sich bei Lombroso – exakt wie bei seinem ‚Patriarchen‘ Moriz Benedikt – pönale medizinische Elektrizität und eine hereditäre Sicht des Wahns (elektrodiagnostischer Test auf erbliche Kriminalität durch Bestimmung der Schmerzempfindlichkeit), was die spätere Erfindung der Elektroexekution durch Benedikt-Schüler Peterson abermals präfiguriert. Im US-Bundesstaat New York begann sich bereits in den 1870er Jahren eine ärztliche Debatte um eine medizinische Verfeinerung der Todesstrafe zu entfalten, die primär von der in New York City beheimateten ‚Medico Legal Society‘ (MLS), einem aus Anwälten und Ärzten zusammengesetzten rechtsmedizinischen Think Tank, getragen wurde.11 So referierte Dr. Alonzo Calkins 1873 vor der Medico Legal Society über die Nachteile des Hängens und schlug, nach Überlegungen auch zur elektrischen Batterie (‚The Electric Battery is not altogether reliable‘), die Ablösung des Galgens durch Zyanid vor. Zugleich stellt Calkins Artikel den ersten mehrerer ‚Medical Claims‘ in Sachen Todesstrafe nach 9
Lombroso, Der Verbrecher, 140 und 144.
10 Lombroso, Der Verbrecher, 290. Zum ‚Du Bois Reymond’schen elektrischen Apparat‘, siehe: Lombroso, Der Verbrecher, 274. 11 Eine kurze Geschichte dieser ersten MLS-Debatte findet sich in: Clark Bell, Electricity and the Death Penalty. In: Medico-Legal Journal, Vol. 7, New York, NY, 1889, 201/202.
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Peter Conrads vierstufigem Medikalisierungsmodell (Stufe 1: ‚medical claim‘) dar.12 1878 wurde die ärztliche Todesstrafendebatte durch Medizinprofessor John Packard wiederaufgenommen, der sich von der Überlegung leiten ließ, dass Verbrecher die teilnahmslose Tötung durch die kühle Staatsgewalt (‚the calm, dispassionate […] working of […] justice‘) mehr als jede Folter fürchteten.13 Entsprechend schlug Dr. Packard die Ablösung des historisch obsoleten Hängens durch eine mit Kohlenmonoxid zu füllende Kammer vor, die den ‚quickest death known to science‘ herbeiführe, da die Tötung hier einer Ätheranästhesie gleiche.14 Im Januar 1885 wurde die andiskutierte medizinwissenschaftliche Todesstrafenreform von NY State Governor David B. Hill dann plötzlich auf die politische Agenda gehoben, indem Hill der staatlichen Legislative in seiner Regierungserklärung erläuterte: The present mode of executing criminals by hanging has come down to us from the Dark Ages, and it may well be questioned whether the science of the present day cannot provide a means for taking the life of such as are condemned to die in a less barbarous manner.15
David B. Hill forcierte eine wissenschaftliche Todesstrafenreform, um wahltaktisch an philanthropischem Profil zu gewinnen - und eröffnete gleichzeitig einen administrativen Leerraum, der ab 1888/89 vom elektrischen Dispositiv gefüllt wurde. Kurz darauf brachte NY State Senator Daniel H. MacMillan, zugleich einer der zehn Manager des Buffalo State Hospitals, einen Gesetzentwurf in den New Yorker Senat ein, der die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission vorsah, die dem Parlament eine neue wissenschaftliche Hinrichtungsmethode vorschlagen sollte.16 Ein Jahr später installierte Gouverneur Hill dann die dreiköpfige ‚Commission to Investigate and Report the Most Humane and Practical 12 Alonzo Calkins, Felonious Homicide – Its Penalty, and the Execution Thereof Judicially. In: Papers Read Before the Medico-Legal Society of New York – From Its Organization. Vol. 2, New York, NY, 1882, 273 und 274. 13 John H. Packard, The Mode of Inflicting the Death Penalty. In: Papers Read Before the Medico-Legal Society of New York – From Its Organization. Third Series, 1875 to 1878, Revised Edition. New York, NY, 1882, 519. 14 Packard, The Mode of Inflicting, 521 und 522. 15 New York Times, The Governor’s Message. 7. Janaur 1885. 16 Buffalo State Hospital, Annual Report, For the Year 1885, 4; New York Times, Westinghouse Is Satisfied. 7. August 1890. Siehe auch: Moran, Executioner’s Current, 71.
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Method of Carrying Into Effect the Sentence of Death in Capital Cases‘ (Death Commission), die aus Spitzen-Anwalt Elbridge T. Gerry, dem Juristen Matthew Hale und Zahnarzt und Eugeniker Dr. Alfred P. Southwick bestand – und die dem Staat New York eine neue, moderne und vor allem wissenschaftliche Tötungsmethode vorschlagen sollte.17 Während der Kommissionsvorsitzende Elbridge T. Gerry von Beginn an für Morphin-Injektionen via ‚hypodermic needle‘ votierte (siehe Kapitel: 4.3.2.1), ging der Vorschlag der Elektroexekution zunächst auf Alfred Southwick zurück, dem es Ende 1887 gelang, Elbridge T. Gerry auszumanövrieren und die Empfehlung des elektrischen Tötens durch die parlamentarische Todesstrafenkommission durchzusetzen.18 Um Dr. Southwick gruppierten sich früh die Buffaloer Mediziner Dr. George E. Fell, Dr. Joseph Fowler und Dr. Charles W. Daniels. Buffaloer Ärztenetzwerk: Dr. Alfred Southwick Dr. Joseph Fowler Dr. W. T. Nellis (ab 1890)
Dr. George E. Fell Dr. C. W. Daniels
Nachdem Gouverneur David B. Hill eine Humanisierung der Todesstrafe durch die (medizinischen) Wissenschaften auf seine politische Agenda gesetzt hatte, formierte sich in Buffalo ein kleines Ärztenetzwerk, das mit Hills politischem Alliierten NY-State Senator Daniel MacMillan zusammenarbeitete – und das für die Ersetzung des Galgens durch eine angebliche ‚elektrische Euthanasie‘ votierte. Um ein modernes Tötungsverfahren zu eruieren, versandte die GerryKommission zunächst Fragebögen an Richter, Anwälte, Ärzte und Elektriker, von denen etwa 200 Exemplare returniert wurden.19 75 der befragten Experten 17 New York Times, To Abolish Hanging. 24. Januar 1887; Gerry/Southwick/Hale, Report of the Commission to Investigate and Report the Most Humane and Practical Method of Carrying Into Effect the Sentence of Death in Capital Cases. Troy, NY, 1888. Zu Southwick als Eugeniker, siehe: Thomas Metzger, Blood and Volts, 29. 18 Dr. Southwick, 1826 geboren, war Mitglied des Board of Dental Examiners zur Zahnarzt-Zulassung und Begründer der NY State Dental Society, was ihn zu einem Zahnarzt hohen professionellen Standings machte. (Moran, Executioner’s Current, 70-71) Moran zufolge war Dr. Southwick ‚active in the eugenics movement and, like many of his peers, understood himself to be a visionary for an improved human race‘. (Moran, Executioner’s Current, 70). 19 Becker Hearings, Vol.1, 366.
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votierten für Elektrizität, während immerhin 81 die Beibehaltung des Hängens forderten.20 Da der Kommissionsvorsitzende Elbridge T. Gerry weiter für die Implementierung der ‚lethal injection‘ votierte, kontaktierte Dr. Southwick im November 1888 dann Thomas A. Edison, um von dem weltberühmten Erfinder der Glühbirne Unterstützung gegen Gerrys Plan tödlicher Morphininjektionen zu erlangen.21 Erst durch Alfred Southwicks Brief erkannte Thomas A. Edison (Vertrieb von Gleichstromsystemen) die Möglichkeit, die anberaumte New Yorker Todesstrafenreform gegen die Westinghouse Electric (Wechselstrom) zu instrumentalisieren. Am 19. Dezember antwortete Thomas A. Edison Dr. Alfred Southwick: Your points are well taken and though I would join heartily in an effort to totally abolish capital punishment, I at the same time realize that […] the system is recognized by the State […]. [Disposing of criminals] can be accomplished by the use of Electricity, and the most suitable apparatus for the purpose is that class of dynamo […] known as ‚alternating machines‘, manufactured principally in this country by Mr. Geo. Westinghouse […].22
Dieser Brief Thomas A. Edisons, der gleichzeitig den Auftakt des berühmten Stromkrieges bzw. ‚Battle of Current‘ bildete, brachte Elbridge T. Gerrys Meinung ins Wanken: ‚I have more confidence in the ability of certain electricians – Thomas A. Edison.‘23 Entsprechend schlug die Death Commission dem New Yorker Parlament am 17. Januar 1888 in ihrem Abschlussbericht die Ersetzung des Galgens durch Elektrizität vor: Perhaps the most potent agent known for the destruction of humane life is electricity. Death, as a result, is instantaneous upon its application.24
20 Becker Hearings, Vol.1, 370. 21 Alfred P. Southwick an Thomas A. Edison, 8. November 1887. The Edison Papers: D8704AEP. 22 Thomas A. Edison an Alfred P. Southwick, 19. Dezember 1887. The Edison Papers: LB026116. 23 Becker Hearings, Vol.1, 391. 24 Report, Death Commission, 75. Darüber hinaus schlug die Kommission vor, die Todesstrafe aus den Countys herauszulösen und in den drei New Yorker Staatsgefängnissen zu zentralisieren, was laut Jürgen Martschukat die ‚Geburtsstunde der modernen ›Death Rows‹‘ darstellte. (Report, Death Commission, 80; Martschukat, Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika, 90).
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Als elektrophysiologische Erklärung der postulierten Schmerzlosigkeit des elektrischen Tötens führte die Gerry-Kommission ein äußerst suggestives Argument an, das auf Hermann v. Helmholtz’ weiter oben beschriebener Vermessung der Nervenleitgeschwindigkeit (‚24,6 ± 2,0 Mt. in der Sekunde‘) basierte – und das zugleich das erste ‚Medical Model‘ des elektrischen Stuhls (Medikalisierungsphase 2: ‚medical model‘) konstituierte: [A]n electric shock of sufficient force to produce death cannot, in fact, produce a sensation which can be recognized. The velocity of the electric current is so great that the brain is paralyzed; is indeed dead before the nerves can communicate any sense of shock.25
Aufgrund der hohen Flussgeschwindigkeit des Stroms, die die Nervenleitgeschwindigkeit um ein Vielfaches übersteige, werde das Gehirn des Delinquenten paralysiert, bevor der tödliche Strom zu spüren sei. Durch dieses zwar jeder Alltagserfahrung widersprechende, doch äußerst persuasive Argument wurde dem elektrischen Stuhl der ärztliche Nimbus eines schmerzlosen Tötens verliehen, der das avisierte capital punishment by electricity in Presse und Öffentlichkeit überhaupt erst diskutabel machte.26
4.2 F REDERICK P ETERSON UND DIE E RFINDUNG DES ELEKTRISCHEN S TUHLS 4.2.1 Petersons erste Berührung mit dem Thema Todesstrafe 4.2.1.1 Vom Hudson River State Hospital nach New York City Im Dezember 1887 oder Januar 1888 – also genau zur Zeit der Veröffentlichung des Berichts der Death Commission – kündigte Frederick Peterson seine Stellung als Leitender Oberarzt des Hudson River State Hospitals, um in New York City (21st Street) eine private Praxis zu eröffnen und parallel an der Vanderbilt Clinic der Columbia University zu praktizieren.27 25 Report, Death Commission, 75. 26 Elbridge T. Gerry, Capital Punishment by Electricity. In: North American Review, Volume 149, Issue 394 (September 1889), 324. 27 Labortagebuch, Arthur Kennelly, 12. Juli 1888. The Edison Papers: NB044072A. Dr. Peterson führte den Briefkopf: ‚FREDERICK PETERSON, M.D. – 34 EAST TWENTY-FIRST STREET – OFFICE HOURS: 10 to 12, A.M.‘ (Frederick Peterson an Thomas A. Edison und Arthur Kennelly, 10. Dezember 1888. The Edison Papers:
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Im Februar 1888 trat Peterson dann der ‚Medico Legal Society of New York‘ (MLS) bei, die die New Yorker Todesstrafenreform durch die Artikel der Ärzte Calkins und Packard Jahre zuvor überhaupt erst angestoßen hatte.28 Auf der Februar-Sitzung 1888 war Neumitglied Peterson erstmals bei einer MLS-Sitzung dabei.29 Die typischen MLS-Vorträge der Zeit trugen Titel wie ‚Periodic Insanity Among Women‘, ‚Suicide and Legislation‘ oder ‚The Menopause‘; der erste Abendvortrag unter Anwesenheit Dr. Petersons wurde von dem jungen Arzt Dr. J. Mount Bleyer gehalten und hatte den Titel: ‚Best Method of Executing Criminals‘.30 Die Teilnahme Dr. Frederick Petersons am MLS-Treffen zwei Wochen nach Präsentation des Abschlussberichts der Gerry-Kommission kann kein Zufall sein; Elektrophysiologe Peterson hatte von dem Vorschlag der Elektroexekution durch die New Yorker Death Commission erfahren und trat der MLS bei, um die lokalen Eliten bei der Konstruktion eines elektrischen Tötungsgerätes zu unterstützen – wofür er als Psychiater und in Europa ausgebildeter Elektrophysiologe wie kein Zweiter qualifiziert war. J. Mount Bleyer eröffnete seinen Abendvortrag mit einem markanten ‚medical claim‘ in Sachen Todesstrafe:
D8828ADR). Die 1886 gegründete Vanderbilt Clinic fungierte als Freiklinik der Columbia University. (College of Physicians and Surgeons in the City of New York; Inauguration of the New Building of the College of Physicians and Surgeons and of the Sloane Maternity Hospital and the Vanderbilt Clinic – December 29th, 1887. New York, NY, 1888, 23) Die Klinikstellen wurden in der Regel nicht vergütet; die Ärzte arbeiteten dort, um klinische Erfahrung zu sammeln und Patienten für die eigene Praxis zu werben. (Rockwell, Rambling Recollections, 215). 28 Die MLS hatte Ende 1888 594 Mitglieder, die überwiegend Anwälte oder Ärzte waren. (Clark Bell, Ninth Inaugural Address. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 371). Die Selbstdefinition der MLS lautete wie folgt: ‚This Society is composed of Lawyers, Physicians, and Scientists, and is devoted to the investigation of Medico-Legal Science.‘ (The Medico-Legal Society of New York. In: MedicoLegal Journal, Vol. 7, New York, NY, 152). 29 February Session, 1888. In: Medico-Legal Journal, Vol. 5, New York, NY, 489. 30 J. Mount Bleyer, Best Method of Executing Criminals. In: Medico-Legal Journal, Vol. 5, No. 1 (1887), 425-441, zu den Titeln der Vorträge, siehe: March Session. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 489, sowie: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 1-36.
98 | M EDIZINISCHE G EWALT [I]t behooves the medical profession, which […] has knowledge of the processes of living and of dying, to consider the means adopted by the legal authorities for taking lives which have been forfeited to the State; […].31
Wie das Leben falle auch der Tod in den Bereich der Medizin, weshalb diese für die Entwicklung einer neuen Tötungstechnik prädestiniert sei; anschließend kam J. Mount Bleyer – in späteren Jahren ein äußerst scharfer Todesstrafengegner zum Thema ‚Death By Electricity‘.32 Zunächst wiederholte Bleyer das vom Buffaloer Ärztenetzwerk entwickelte Myographen-Argument, dass der elektrische Stuhl schmerzlos töte, um dann als Tötungsgerät ein ‚small wooden house, like a sentry box‘ vorzuschlagen, das mit einem metallenen Boden als Fußelektrode und einer von der Decke hängenden Kopfelektrode ausgestattet werden sollte: The electric current passes through the body of the criminal, and even before the bystanders have consciousness of the act of pressing the button all is over.33
Auch in Bleyers Rhetorik erscheint die ‚euthanasia by electricity‘ als blitzschneller Sekundentod. Auf den Vortrag folgte eine angeregte Diskussion, an der sich auch Frederick Peterson beteiligte: J. Mount Bleyer then read a paper upon the ‚Best Methods of Executing Criminals‘, which was discussed by Dr. Peterson, Mr. E. W. Chamberlain, Dr. Ira Russell, Dr. Wm. F. Holcombe, and the President.34
Dr. Peterson diskutierte angeregt über die Modalitäten des elektrischen Tötens von Schwerstkriminellen, wodurch sich der 1889 erfolgte diskursive Brücken31 Bleyer, Best Method of Executing Criminals, 427/428. 32 Später äußerte Bleyer in seinem ‚Plea for the Sentiment Against Capital Punishment‘, die Todesstrafe sei ein ‚relic of the dark ages‘, um fortzufahren: ‚In reality capital punishment is only legalized murder‘. (http://home.gwi.net/~dnb/read/electric_chair/ electric_chair.htm, 15. März 2012). 33 Bleyer, Best Method of Executing Criminals, 432. Zum Myographen-Argument, siehe: Bleyer, Best Method of Executing Criminals, 429/431 (430 ist: Abbildung). Schließlich wandte sich Bleyer der von Gerry heimlich favorisierten MorphinInjektion zu, wobei Subtext und Argumentationsgang vermuten lassen, dass Bleyer selbst – wie Elbridge T. Gerry – die ‚lethal injection‘ vorzog. (Bleyer, Best Method of Executing Criminals, 434-437). 34 February Session, 1888. In: Medico-Legal Journal, Vol. 5, New York, NY, 490.
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schlag zwischen psychiatrischer Elektrotherapie und elektrischer Todesstrafe andeutete, der die dispositive ElektroMacht ab 1890 überhaupt erst konstituierte. Anschließend wurde von MLS-Präsident Clark Bell ein offizielles Todesstrafenkomitee installiert, das die Frage einer neuen Exekutionsmethode innerhalb der MLS detailliert ergründen sollte.35 Peterson trat diesem Todesstrafenkomitee noch nicht bei, fungierte aber ab September 1888 als dessen Vorsitzender – und übte damit jene Funktion aus, in der er den elektrischen Stuhl erfand. Auf der März-Sitzung der ‚Medico Legal Society‘ votierte das MLSTodesstrafenkomitee dann für die zukünftige Implementierung der Todesstrafe durch elektrischen Strom; die Empfehlung wurde angenommen, womit sich die Medico Legal Society geschlossen hinter den Vorschlag der Gerry-Kommission stellte, das New Yorker Todesstrafensystem auf Elektrizität umzustellen.36 Im Frühjahr 1888 wurde das Electrical Execution Law, das das elektrische Töten gesetzlich sanktionierte, dann vom New Yorker Parlament in Albany verabschiedet; der entscheidende Passus lautete: § 505. The punishment of death must, in every case, be inflicted by causing to pass through the body of the convict a current of electricity of sufficient intensity to cause death, and the application of such current must be continued until such convict is dead.37
Das neue Todesstrafenstatut wurde am 4. Juni von Gouverneur David Hill unterzeichnet – und plötzlich gerieten die Eliten New Yorks unter Druck: Denn das Gesetz verfügte, dass ab dem 1. Januar 1889 alle in NY State zum Tode verurteilten Schwerverbrecher mit elektrischem Strom zu töten seien – wofür bislang einzig Dr. J. Mount Bleyers völlig undurchführbarer ‚wooden house‘-Plan zur Verfügung stand. Bevor jedoch die Konzeption des elektrischen Stuhls durch Frederick Peterson geschildert wird, muss hier kurz auf eine historische Figur eingegangen werden, durch die sich Thomas A. Edisons Wirtschaftsinteressen tief mit den medi35 February Session, 1888. In: Medico-Legal Journal, Vol. 5, New York, NY, 490. 36 New York Times, The Doctor was Unanimous – The Medico-Legal Society Indorses the Electrical Death Penalty. 15. März 1888; March Meeting. In: Medico-Legal Journal, Vol. 5, New York, NY, 493. Der Text des MLS-Statements lautete: ‚[W]e would recommend. 1. Death by the electric current, or 2. Death by hypodermatic, or other injection of poison, or, 3. Death by carbonic oxide gas injected into a small room […], giving our preference to the first, or death by electric current.‘ (Report of Committee on Best Methods of Executing Criminals. In: Medico-Legal Journal, Vol. 5, 443). 37 Electrical Execution Law, zitiert nach: Bell, Electricity and the Death Penalty, 208; Essig, Edison & the Electric Chair, 122-123.
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zinwissenschaftlichen Bemühungen um eine elektrische Todesstrafenreform verflochten. 4.2.1.2 Harold P. Brown, Edisons Krieger Harold P. Brown ist für die Entwicklung des elektrischen Stuhls äußerst relevant, da er gleichsam als Bindeglied zwischen Thomas A. Edison und dessen bedeutenden Ressourcen und New Yorks medizinischen Eliten fungierte; parallel diente er sich seinem Erfinder-Idol Thomas A. Edison ab Mitte 1888 als kompromissloser Paladin in der Marketing-Schlacht des ‚Battle of Currents‘ an: […] I have done all in my power to place Westinghouse apparatus in the prisons at Sing Sing, Clinton and Auburn.38
Harald P. Brown wollte die Death Rows der drei New Yorker Staatsgefängnisse Auburn, Clinton und Sing Sing mit Wechselstrom-Generatoren der Marke ‚Westinghouse‘ ausstatten, um Westinghouse PR-technisch zu schaden; ein dubioses Anliegen, mit dem Harold P. Brown in Edisons Auftrag reüssierte. Von 1876 bis 1879 lebte Harold P. Brown als ‚salesman‘ in Chicago, wo er den ‚Electric Pen‘, ein von Edison erfundenes Stanzkopiergerät, vertrieb.39 Nachdem Brown erfolglos versuchte, seinen Chef George Bliss zu übergehen, kündigte er – oder wurde gekündigt – um sich fortan als ‚independent electrical engineer‘ in NYC zu verdingen.40 Im August 1888 trug sein Briefkopf dann die Adresse W 54th Street, NYC, während er ein Jahr später 45 & 47 Wall Street lebte.41 Am 5. Juni 1888 – also am Tag nach Verabschiedung des Electrical Execution Law – trat Harold P. Brown erstmals öffentlich in Erscheinung, als er in der
38 Harold P. Brown, Electrical Distribution of Heat, Light and Power – With Partial List of Deaths From Electrical Lighting Apparatus, and Address by John Murray Mitchell, Counselor at Law, on Legislative Control of Dangerous Electrical Currents. New York, NY, 1889, 20/21. 39 Harold P. Brown, The Comparative Danger to Life of the Alternating and Continuous Electrical Currents – Third Edition of Five Thousand. Ohne Ort, 1889, xlix. The Edison Papers: QE003; Harold P. Brown an Thomas A. Edison, 29. Dezember 1879. The Edison Papers: D7923ZCI. 40 Harold P. Brown an Thomas A. Edison, 29. Dezember 1879. The Edison Papers: D7923ZCI; Brown, Comparative Danger, xlix. 41 Harold P. Brown an Arthur Kennelly, 4. August 1888. The Edison Papers: D8828ACS; Brown, Comparative Danger, iii.
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NY Evening Post einen als ‚Leserbrief‘ getarnten Artikel publizierte, der Edisons Gleichstrom als ‚always safe‘ apostrophierte, den von Westinghouse vertriebenen Wechselstrom jedoch als ‚constant danger from sudden death‘ denunzierte. Der Besitzer der Evening Post war mit Henry Villard ein langjähriger Edison-Investor und späterer Edison General Electric-Präsident; das Erscheinen des Artikels direkt am Tag nach Unterzeichnung des Electrical Execution Law verweist auf generalstabsmäßige Planung hinter den Kulissen. Brown formulierte: [T]he ,alternating‘ current can be described by no adjective less forcible than damnable. […] [T]he public must submit to constant danger from sudden death in order that a corporation may pay a little larger dividend.42
Harold P. Browns energischer Vorstoß zielte auf ein Gesetz zur Beschränkung der zulässigen Höchstspannung auf 300 Volt, wodurch der wesentliche Vorteil des Wechselstroms, seine elegante Transformierbarkeit in Hochspannung, verboten worden wäre.43 Um genau dieses zu erreichen, präsentierte Brown am 8. Juni 1888 vor dem NYC Board of Electrical Control einen diesbezüglichen Gesetzesvorschlag, den das Board mit der Bitte um Stellungnahme an alle ‚local electric light companies‘ weiterleitete, womit der Battle of Currents in vollem Gange war.44 Nachdem Edison in einem persönlichen Briefwechsel mit George Westinghouse ein Friedensangebot von dessen Seite ausschlug, musste die Westinghouse Electric PR-wirksam gegen Edisons Angriffe reagieren.45 Das Board of Electrical Control hatte seine nächste Sitzung am 16. Juni 1888 in die geräumige Lobby des 42 Brown, Comparative Danger, xi, zu Villard und der Edison Electric, siehe: Jonnes, Empires of Light, 166. 43 Gleichstrom ist nicht in Hochspannung transformierbar, wodurch er für die Übertragung über weite Strecken ungeeignet ist, wohingegen Wechselstrom in Hochspannung (hohe Spannung bei niedrigem Strom) transformiert werden kann, wodurch kleinere Leitungsquerschnitte der teuren Kupferleitungen ermöglicht werden. So kann AC außerhalb der Ballungszentren in beliebig erweiterbaren Großkraftwerken produziert, über Hochspannungsfernleitungen in die Städte gesendet und dort für die Verbraucher heruntertransformiert werden, was sehr effizient und kostengünstig ist. Gleichstrom, nicht in Hochspannung transformierbar, bietet diese Möglichkeit nicht. 44 Hughes, Harold P. Brown and the Executioner’s Current, 146. 45 George Westinghouse an Thomas A. Edison, 7. Juni 1888. The Edison Papers: D8828ABV; Thomas A. Edison an George Westinghouse, 12. Juni 1888. The Edison Papers: LB026270.
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Wallack’s Theater verlegt, wo den Wechselstrom-Kräften Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden sollte. Harold P. Brown blieb der Veranstaltung wohlweislich fern; auf einer hitzigen Versammlung wurde er von den Wechselstrombefürwortern Prof. Henry Morton und T. Carpenter Smith in Abwesenheit öffentlichkeitswirksam demontiert.46 Damit stand Brown im absoluten Rampenlicht des ‚Battle of Currents‘ und war zum radikalen Interessenvertreter seines Erfinderidols Thomas A. Edison avanciert. Harold P. Brown fand Gefallen an der Rolle und plante seinen nächsten Coup: Vordergründig entsetzt über den ‚violent personal abuse‘ durch die Westinghouse-Vertreter, wandte sich Brown mit der Bitte an Thomas A. Edison, in dessen Laboratorien elektrische Tierversuche vornehmen zu dürfen, um die absolute Tödlichkeit des Wechselstromes zu belegen – was genau auf Line der PRStrategie Thomas A. Edisons lag.47 Thomas Edison ließ Harold Brown gewähren, doch Brown besaß keinerlei medizinische Expertise, um die Gefährlichkeit des verhassten alternating current zu belegen. Entsprechend musste Brown Kontakt zu lokalen Ärzten aufnehmen, die sich aus eigenen Interessen mit den gefährlichen Eigenschaften des Stroms befassten – und Harold P. Browns Versuche zur höheren Gefährlichkeit des Wechselstroms wissenschaftlich professionalisieren konnten. 4.2.2 Psychiater Peterson als elektrischer Tötungsexperte 4.2.2.1 Die ersten Tierversuche Die entscheidende Verflechtung zwischen medizinischen Eliten und der Edison Electric fand in den Edison-Laboren in Orange County statt, die Thomas Edison als zentrale Erfinderwerkstatt dienten, nachdem er sein weltberühmtes Labor in Menlo Park aufgegeben hatte, um in das größere, dicht bei NYC gelegene West Orange-Labor umzuziehen. Das Labor, das Edison seine ‚invention factory‘ nannte, war nicht nur ‚the first significant industrial research laboratory in the United States‘, sondern, wie
46 Brown, Comparative Danger, xii. Siehe auch: Hughes, Harold P. Brown and the Executioner’s Current, 146 sowie Jonnes, Empires of Light, 169. Für eine ausführliche Replik Browns, siehe: Brown, Comparative Danger, xlviii-lviii. 47 Brown, Comparative Danger, xii.
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Historiker Thomas Hughes weiter formuliert, ‚an appropriate monument to the greatest invention of the nineteenth century – a method of invention.‘48 Während sich die Medico Legal Society in der Sommerpause befand und die New Yorker Presse – zunächst noch zaghaft – über das elektrische Töten debattierte,49 notierte Arthur E. Kennelly, Edisons Chefelektriker in Orange, am 12. Juli 1888 in sein Labortagebuch: Physiological Experiments […] Before Mr. H. P. Brown + in the presence of Dr. Peterson nerve specialist of the Vanderbilt Clini[c] Hospital.50
Harold P. Brown, Artur Kennelly und Frederick Peterson trafen sich zu elektrischen Tierversuchen in den Edison-Laboratorien; so vernetzten sich die Bemühungen der ‚Medico Legal Society‘ mit den Kapitalinteressen Thomas A. Edisons. Zugleich war Frederick Peterson zum wichtigsten MLS-Experten in Sachen capital punishment by electricity avanciert, wodurch sich der entscheidende diskursive Brückenschlag zwischen Elektrophysiologie, ‚Kriminalbiologie‘ und dem sich elektrisierenden Todesstrafensystem konstituierte (elektrisches Dispositiv 2). Harold. P. Brown, der spätere Harvard-Professor Arthur E. Kennelly und Psychiater Peterson trafen sich um 22 Uhr, um einen Foxterrier durch elektrischen Strom zu töten; als Elektroden dienten an den Läufen angebrachte nasse Baumwolllappen, die mit Draht umwickelt waren. Das Tier wurde nicht mit einer Induktionsspule, sondern mit einem dampfmaschinen-betriebenen Siemens-Dynamo getötet; eine Anordnung, die später für den elektrischen Stuhl übernommen wurde, der ebenfalls durch einen separaten Generator betrieben wurde. Kennellys Labortagebuch verzeichnet den Eintrag: ‚1000 volt momentary current fatal in 2 mins.‘51 Von einem schmerzfreien Sekundentod konnte keine
48 Essig, Edison & the Electric Chair, 21; Thomas P. Hughes, American Genesis – A Century of Invention and Technological Enthusiasm. New York, NY, 1989, 28. Zum Themenkomplex der Elektrifizierung der USA, siehe: David E. Nye, Electrifying America – Social Meanings of a New Technology, 1880-1940. Cambridge, MA, 1990. 49 New York Times, Death by Electricity. 5. Juni 1888; New York Times, Editorial, 5. Juni 1888. 50 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 74. The Edison Papers: NB044072A.
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Rede sein; nach der Tötung des Hundes wurde das Gewebe von Peterson mikroskopisch analysiert, wobei er schloss, dass Wechselstrom zu ‚more […] destruction of the nervous tissue‘ als Gleichstrom führe.52 Dies lag exakt auf PR-Line der Edison Electric (Wechselstrom = Henkersstrom), woraufhin Harold P. Brown beschloss, Petersons histopathologische Ergebnisse öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Entsprechend versammelten sich am 30. Juli 1888 ‚the best and brightest of New Yorks electrical community‘ sowie zahlreiche Journalisten an der New Yorker Columbia University, um einem, so Browns Plan, weiteren Streich der Edison Electric gegen die Wechselstromkräfte beizuwohnen.53 Unter den Anwesenden befanden sich die Chefredakteure von Electrical World und Electrical Review, ein hoher Gesandter des American Institute of Electrical Engineers sowie eine Delegation des NYC Board of Electrical Control.54 Die Präsentation begann mit einem kurzen Vortrag Frederick Petersons: In medicine our most important electric remedy is the continuous current. […] Whenever the continuous current is made or broken a contraction of the muscles […] takes place, the closure contraction at the cathode being strongest.55
Gleichstrom löse, so Peterson, beim Öffnen und Schließen des Stromkreises Muskelkontraktionen aus, die an der Kathode stärker als an der Anode seien. Wechselstrom hingegen führe zu Dauerzuckungen (Elektrotonus), die den stärkeren Zuckungen an der Kathode entsprächen: Hence an alternation of the direction of the current is twice as powerful, its shock twice as great […].56
51 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 74. The Edison Papers: NB044072A. 52 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 78. The Edison Papers: NB 044072A. Das Labortagebuch enthält den Eintrag: ‚Dr. Peterson […] found in […] dog no. 3 which had the direct current, a considerable degree of pathological alteration […] resembling the morbid condition of nerve disease.‘ (ebda.). 53 Essig, Edison & the Electric Chair, 146. 54 Essig, Edison & the Electric Chair, 146. Auf den Becker Hearings erläuterte Brown: ‚The room was full. I think there were nearly 800.‘ (Becker Hearings, Vol.1, 30). 55 Frederick Peterson, Report of Experiments Showing the Effect of Continuous and Alternating Electric Current on Living Animals. In: Brown, Comparative Danger, lx. 56 Peterson, Report of Experiments. In: Brown, Comparative Danger, lx.
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Wegen seines schnellen Polaritätswechsels sei Wechselstrom, so Peterson, doppelt so gefährlich wie Gleichstrom.57 Nach Petersons Vortrag fuhr Harold P. Brown mit der Tagesordnung fort, wobei die Veranstaltung dann schnell tumultartig zu kippen begann.58 Brown verschwand kurz hinter der Bühne, um mit einem Neufundländer zurückzukehren, den Kennelly und Peterson verkabelten.59 Anschließend begann Harold P. Brown, den Hund mit Gleichstrom aus einem Edison-Dynamo zu elektrisieren;60 die New York Times formuliert: ‚At 1,000 [volts the dog’s] body contorted with pain and the experiment became brutal.‘61 Teile der Anwesenden verließen fluchtartig den Raum, doch Harold P. Brown ließ sich nicht beirren: er äußerte den halbtoten Hund betreffend: ‚He will have less trouble […] when we try the alternating current‘ – und tötete das Tier dann mit einem 330 Volt-Schlag aus einem Wechselstrom-Generator.62 Als Brown einen zweiten Hund auf die Bühne zerrte, begann das Publikum zu revoltieren: ein NY World Reporter protestierte lautstark gegen das Quälen der Tiere, was ein anwesendes Mitglied der ‚Society for the Prevention of Cruelty to Animals‘ ermutigte, sich zu erheben und weitere Tests zu unterbinden.63 Elektriker Schuyler S. Wheeler vom ‚Board of Electrical Control‘ erläuterte aus der Rückschau: The commissioners [of the Board of Electrical Control] were so disgusted with the exhibition, that they retired […].64
Brown hatte ein PR-Desaster produziert und zugleich die Standesehre der Elektriker verletzt. Ein Brown-kritisches Pamphlet ‚was read amid great applause before the National Electric Light Association‘ und die Electrical Review erhob ihn in ihrer August-Ausgabe mit der Ballade ‚Mr. Brown and the Dog‘ zur Spottfigur der Zunft: 57 Peterson, Report of Experiments. In: Brown, Comparative Danger, lxi. 58 Jonnes, Empires of Light, 172-173. 59 New York Times, Died for Science’s Sake. 31. Juli 1888; Jonnes, Empires of Light, 172. 60 Brown, Comparative Danger, xlviii. 61 New York Times, Died for Science’s Sake. 31. Juli 1888. 62 New York Times, Died for Science’s Sake. 31. Juli 1888; Jonnes, Empires of Light, 172/173. 63 New York Times, Died for Science’s Sake. 31. Juli 1888. 64 Discussion Upon Judicial Executions by Electricity – December Meeting, 1888. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, 484.
106 | M EDIZINISCHE G EWALT No company employed him, and his motives he felt sure, Were thoroughly unbiased, philanthropic, and most pure.65
Harold P. Brown hatte sich für die schnelle und pietätvolle Konstruktion des elektrischen Stuhls als unfähig erwiesen. Am 3. August 1888 versammelten sich Dr. Cyrus Edson, NYC-Board of Health, Prof. Chas. F. Roberts, Bellevue Hospital Medical College, Dr. Frank Ingram, Blackwell’s Island Insane Asylum, H. A. Haubold, stud. med., und Dr. Frederick Peterson zu weiteren elektrischen Tötungsversuchen an der Columbia University. Die Tests fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt;66 neben den genannten Medizinern waren ein Hauptmann der US Army sowie zwei Professoren der Columbia University anwesend.67 Harold P. Brown, ebenfalls dabei, war nur noch Statist; die anwesenden Ärzte töteten in schnellem Rhythmus drei Hunde mit Wechselstrom, die Peterson und Edson anschließend sezierten: All of the physicians present expressed the opinion […] that all of these deaths were painless, as the nerves were probably destroyed in less time than that required to transmit the impression to the brain of the subject.68
Durch diese Columbia-2-Versuche begannen sich die Arbeiten am elektrischen Stuhl langsam zu institutionalisieren (NYC-Board of Health, Bellevue Hospital Medical College; Medikalisierungsphase 3: Institutionalisierung), was die 1889 erfolgte Einbindung des New Yorker Psychiatrieministeriums (NY State Commission in Lunacy) andeutete, durch die sich die ElektroMacht aus paralleler elektrischer Züchtigung von Wahn und Kriminalität ab 1890 dann voll konstituierte.
65 Zitiert nach: Essig, Edison & the Electric Chair, 148. Zum ‚Brown-kritischen Pamphlet‘, siehe: Brown, Comparative Danger, xvii. 66 New York Times, More Experiments on Dogs. 4. August 1888. 67 Brown, Comparative Danger, xvi; Becker Hearings, Vol. 2, 754. Zu stud. med. H.A. Haubold, siehe: New York Times, Bellevue Graduates. 12. März 1889. 68 Brown, Comparative Danger, xvi.
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4.2.2.2 Weitere Tests und das New Yorker Ärztenetzwerk Im September 1888 wurde Frederick Peterson offiziell zum Vorsitzenden des Todesstrafenkomitees der ‚Medico Legal Society‘ erhoben, womit sich das auf Seiten des Todesstrafensystems entstehende elektrische Dispositiv (elektrisches Dispositiv 2: elektrischer Stuhl) abermals verdichtete.69 Wechselstrombefürworter hatten nach den Columbia-2-Versuchen moniert, dass die getöteten Hunde zu klein waren, um Aussagen über die elektrische Tötung eines Menschen zuzulassen.70 Um diesen Einwand zu entkräften, wurden von Peterson und Brown weitere Tierversuche anberaumt; am 26. November 1888 schrieb ein Edison-Manager an Edisons Chefelektriker Arthur E. Kennelly: Dr. Peterson and Prof. Doremus have asked Mr. Brown where they could kill a horse by the alternating current. […] May I trouble you to call me up on the telephone tomorrow […] advising me whether you can undertake this […].71
Arthur E. Kennelly muss positiv geantwortet haben, denn am 5. Dezember versammelten sich Harold P. Brown sowie das gesamte MLS-Todesstrafenkomitee mit den Ärzten Prof. Ogden Doremus, Dr. Frank Ingram, Dr. J. Mount Bleyer und Dr. Frederick Peterson sowie die MLS-Mitglieder Prof. Chas. Doremus, M.D. und der Anwalt John Mitchel in den Edison-Laboren, um zwei Kälber und ein Pferd mit elektrischem Strom zu töten.72 Neben den MLS-Eliten waren bei 69 Das Medico-Legal Journal formuliert: ‚The President, with the consent of the Society, appointed the following members as the Committee on best method of inflicting the death punishment by electricity: Frederick Peterson, M.D., chairman; Prof. R. Ogden Doremus, Frank H. Ingram, M.D., J. Mount Bleyer, M.D., and Elbridge T. Gerry, Esq.‘ (Transactions – Medico-Legal Society. (September 1888). In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 330) Ende Dezember 1888 waren in der MLS 384 Ärzte organisiert. (Clark Bell, Ninth Inaugural Address. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, 372). 70 Brown, Comparative Danger, lxiv; New York Times, Surer Than the Rope. 6. Dezember 1888. 71 Frank S. Hastings an Arthur E. Kennelly, 26. November 1888. The Edison Papers: Document File Series, D8828ADL. 72 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 49 (Copy of Mr. H. P. Browns notes of the experiments on the 5th Dec.). The Edison Papers: NM023049. Brown fasst zusammen: ‚Those present were Elbridge T. Gerry, Professor R. Ogden Doremus, Chas. A. Doremus, Dr. Frederick Peterson, Dr. Frank A. Ingram, Dr. J. Mount Bleyer, […] Mr. John Murray Mitchell, […] and Mr. Thos. A. Edison, Mr. A. E. Kennelly, and Harold P. Brown.‘ (ebda.).
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diesen Tests auch Elbridge T. Gerry sowie Thomas A. Edison anwesend, was den Versuchen ein nie gekanntes Maß an Seriosität und Ernsthaftigkeit verlieh. Die Tests fanden am frühen Abend statt: ‚Two electrodes of metal covered with sponge were supplied by Dr. Peterson.‘73 Die Kälber und das Pferd wurden in Anwesenheit Gerrys, Edisons und der fünf MLS-Ärzte elektrisch getötet; Harold P. Brown folgerte: These experiments proved the head and spinal column to be the best points of application of the current […].74
Im Anschluss an die Tierversuche begann Peterson die Ergebnisse der bisherigen Tests in einem Konstruktionsplan eines elektrischen Stuhls zusammenzufassen, wofür ihm Arthur Kennelly in einem kurzen Brief noch einmal eine ‚high speed magneto alternating machine of 3000 volts‘ anriet.75 In der zweiten Hälfte des Jahres 1888 begann sich in NYC ein Ärztenetzwerk zu bilden, das unter der Führung des jungen Dr. Frederick Peterson ein elektrisches Tötungsgerät erarbeitete – und das das kleine Buffaloer Ärztenetzwerk schnell in den Schatten stellte: New Yorker Ärztenetzwerk: Dr. Frederick Peterson Dr. J. Mount Bleyer Prof. R. Ogden Doremus Dr. Cyrus Edson H. Haubold (stud. med.) Dr. F.W. Jones (MLS-Annual Meeting)
Dr. Frank H. Ingram Dr. Frank A. Ingram Dr. Chas. F. Stillman Dr. Charles F. Roberts Prof. Chas. A. Doremus
Schon Ende 1888 kreiste um die Konzeption des elektrischen Stuhls eine bedeutende ärztliche Expertise. Parallel begann sich die Entwicklung der Elektroexekution über die Einbindung des NYC-Board of Health, der Columbia University sowie des Bellevue Hospital Medical College langsam zu institutionalisieren (Medikalisierungsphase 3: ‚Institutionalisierung‘).
73 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 47. The Edison Papers: NM023047. 74 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 50 (Copy of Mr. H. P. Browns notes of the experiments on the 5th Dec.). The Edison Papers: NM023049. 75 Arthur E. Kennelly an Frederick Peterson, 6. Dezember 1888. West Orange Laboratory Record Series, Arthur E. Kennelly Letterbooks. The Edison Papers: LM111193.
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Das die Konstruktion des elektrischen Stuhls betreibende New Yorker Ärztenetzwerk listet sich Ende 1888 unter Einbeziehung des ab Sommer 1889 wieder deutlich aktiveren Buffaloer Ärztenetzwerks wie folgt: Das Ärztenetzwerk im Dezember 1888: Dr. Frederick Peterson Dr. J. Mount Bleyer Prof. R. Ogden Doremus Dr. Cyrus Edson H.A. Haubold (stud.med.) Dr. George E. Fell Dr. Joseph Fowler Dr. F. W. Jones (MLS-Annual Meeting)
Dr. Frank H. Ingram Dr. Frank A. Ingram Dr. Chas. F. Stillman Dr. Charles F. Roberts Prof. Chas. A. Doremus Dr. Alfred Southwick Dr. C. W. Daniels
Bis Ende 1888 waren 14 Ärzte und ein Medizinstudent aus den Städten Buffalo und New York City in die Entwicklung des elektrischen Stuhls involviert, was deutlich auf die Medikalisierung des Todesstrafensystems durch die projektierte ‚euthanasia by electricity‘ verweist. 4.2.3 Frederick Petersons Konstruktionsplan des elektrischen Stuhls Das MLS-Annual Bankett, das am 12. Dezember 1888 im gediegenen Palette Club stattfand, wurde im ‚Medico-Legal Journal‘ als schillernder Erfolg verbucht: A large and brilliant company sat down at 10 o'clock to the annual banquet. […] Speeches were made […]. The banquet was a decided success.76
Dem Festbankett war die wissenschaftliche MLS-Jahresversammlung im Fifth Avenue Hotel vorausgegangen, auf der Dr. Peterson den Abschlussbericht seines ‚Committee on the Best Method of Execution of Criminals by Electricity‘ präsentierte, der den letztlich vom Staat New York umgesetzten Bauplan des elektrischen Stuhls enthielt. Harold P. Brown formulierte 1889:
76 Annual Banquet [1888]. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, 350.
110 | M EDIZINISCHE G EWALT I understand that the authorities have adopted the suggestion made by the Medico-Legal Committee […].77
Abbildung 13: Das Logo der Medico-Legal Society, deren Jahresversammlung 1888 ganz im Zeichen des elektrischen Tötens stand.
Das Event wurde durch einen Vortrag des Anwalts Henry Carleton zum Thema ‚Death by Electricity in Capital Cases‘ eröffnet; anschließend präsentierte Frederick Peterson mit seinem ‚Report of the Committee of the Medico-Legal Society on the Best Method of Execution of Criminals by Electricity‘ den letztlich verwendeten Bauplan des elektrischen Stuhls.78 Die Frage des elektrischen Tötens erfordere, so Peterson, eingehende Erwägungen: Der elektrische Widerstand des menschlichen Körpers auf der Haut betrage ‚about 2,500 ohms‘ (siehe Kapitel: 4.3.2.1); die Applizierung großer Elektroden würde den Hautwiderstand, zugleich aber auch die Stromdichte verringern, kleinere Elektroden hingegen würden zu einer höheren Stromdichte und
77 So Harold P. Brown 1889 auf den Becker Hearings: Becker Hearings, Vol. 1, 36. 78 Henry G. Carleton, Death by Electricity in Capital Cases. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, 392. Bildnachweis, Abbildung 13: Annual Meeting [1888]. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 347.
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damit zu Verbrennungen führen.79 Die Größe der Elektroden sei entsprechend abzuwägen; als nächster Punkt sei die Position des ‚Kriminellen‘ während der elektrischen Exekution zu bedenken: In our opinion, the recumbent or the sitting position is best adapted to our purpose.80
Psychiatrische ‚Restraint chairs‘ waren in den NY State Hospitals zur Fixierung der ‚violent insane‘ üblich; anscheinend übertrug Peterson die ihm wohl aus dem Hudson River State Hospital bekannte Disziplinierungstechnik des ‚Fixierstuhls‘ auf den elektrischen Stuhl.81 Als Nächstes kam Frederick Peterson dann zu der wichtigen Frage, ‚to which part of the body the two poles should be applied‘: There can be no doubt that one electrode should be in contact with the head. […] A current passing from the top of the head to the small of the back will be diffused throughout a great part of the brain, and all of the tissues of the neck. The medulla oblongata – a part of the brain which is the most vital - together with all the nerves of the neck and the spinal cord, which exercise jurisdiction over the lungs and heart, will be thoroughly permeated by the current applied in this way.82
Durch das konkrete Zielen auf das Hirnareal der Medulla oblongata, die Blutkreislauf und Atmung regelt, legte Frederick Peterson ein zweites elektrophysiologisches ‚medical model‘ der ‚euthanasia by electricity‘ vor, das letztlich vom Staat NY auch akzeptiert wurde. Als Höhepunkt des Peterson-Vortrages folgte dann der vom New Yorker Psychiatrieminister Dr. Carlos F. MacDonald 1889/1890 umgesetzte Bauplan des elektrischen Stuhls:
79 Report of the Committee of the Medico-Legal Society on the Best Method of Execution of Criminals by Electricity. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 277. 80 Report of the MLS-Committee, 277/278. 81 So verfügte etwa das Middletown Homœopathic State Hospital neben einer elektrotherapeutischen Batterie im Jahr 1885 über sieben ‚Chairs, restraint‘, wobei die parallele Existenz von Zwingstühlen und elektrotherapeutischem Gerät in einem NY State Hospital bereits deutlich auf den elektrischen Stuhl verweist. (Middletown State Hospital, Annual Report, Transmitted to the Legislature, January 12, 1886, 67). 82 Report of the MLS-Committee, 278.
112 | M EDIZINISCHE G EWALT A stout table covered with rubber cloth […], or a strong chair should be procured. The prisoner lying on his back, or sitting, should be firmly bound upon the table, or in the chair.83
Als Elektroden seien, so Peterson, schwammbeschichtete Metallelektroden von 2,5 bis 10 Zentimeter (zwischen ‚one and four inches‘) zu verwenden; eine Elektrode solle so in der Rückenlehne des elektrischen Stuhls befestigt werden, dass sie an der Wirbelsäule zwischen den Schultern anliege; der Kopf des ‚Kriminellen‘ solle zugleich durch einen Helm mit integrierter Elektrode gehalten werden.84 Die Haare des Delinquenten seien, so Peterson, zu befeuchten; der für die ‚elektrische Euthanasie‘ notwendige Strom solle von einem ‚dynamo capable of generating an electro-motive force of at least 3,000 volts‘ geliefert werden: The alternating current should be made use of, with alternations not fewer than 300 per second. Such a current allowed to pass for from 15 to 30 seconds will insure death.85
Abbildung 14: Illustration aus Petersons Abschlussbericht; die erste Elektrode sollte am Oberkopf und die zweite Elektrode am Nacken platziert werden, um punktgenau die Medulla oblongata zu paralysieren.
83 Report of the MLS-Committee, 278. Bildnachweis, Abbildung 14: Report of the Committee of the Medico-Legal Society on the Best Method of Execution of Criminals by Electricity. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 279. 84 Report of the MLS-Committee, 278. 85 Report of the MLS-Committee, 278.
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Von der Elektrodenanordnung (nicht Kopf zu Nacken, sondern Kopf zu Steiß) abgesehen entspricht Frederick Petersons Vorschlag exakt dem ersten im Auburn State Prison installierten elektrischen Tötungsgerät. Damit ist der Psychiater, Elektrophysiologe und – in jungen Jahren – ‚Kriminalbiologe‘ Dr. Frederick Peterson der intellektuelle Vater des elektrischen Stuhls. Übrig blieb eine Personalie, die Frage nämlich, wer dem Empire State die von Peterson entwickelte Tötungsmaschine konstruieren sollte. Hier schlug Frederick Peterson niemand anderen vor als Edisons Krieger, Harold. P. Brown.86 Im Anschluss an Petersons Abschlussbericht folgte eine angeregte Debatte, an der sich viele honorige Elektriker beteiligten, die die Pläne der ‚euthanasia by electricity‘ scharf kritisierten.87 Elektriker Otto A. Moses formulierte: […] I was violently opposed to the prostitution of so useful an agent as electricity to such vile purpose as the one proposed.88
George M. Phelps monierte: The use of the electric current seems to me a rather sensational manner of despatching [sic!] criminals.89
Dr. F. W. Jones, ein Mediziner, der eigene Widerstandsmessungen am Kopf vorgenommen hatte, die er in ausführlichen Tabellen vorlegte – weshalb er hier zum New Yorker Ärztenetzwerk gezählt wird – gab den hohen elektrischen Widerstand des Schädels zu bedenken90 und Elektriker Ralph W. Pope schließlich formulierte: […] I should suggest gas […]. That is one method. It is not for me to teach physicians how to execute criminals.91
Trotz der Kritik wurde der Peterson-Report von der Medico Legal Society einstimmig angenommen; die Konzeptionsphase des elektrischen Stuhls war damit abgeschlossen.92 86 Report of the MLS-Committee, 280. 87 Annual Meeting [1888]. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 345/346. 88 Transactions, Discussion Upon Judicial Executions by Electricity – December Meeting, 1888. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 475. 89 Transactions, Discussion Upon Judicial Executions, 485. 90 Transactions, Discussion Upon Judicial Executions, 480. 91 Transactions, Discussion Upon Judicial Executions, 476.
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4.3 D IE E LITEN ÜBERNEHMEN – D R . C ARLOS F. M AC D ONALD DER ELEKTRISCHE S TUHL
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4.3.1 Dr. Carlos F. MacDonald, Psychiatrieminister Der Beginn des Jahres 1889 markiert einen bedeutenden Schritt im Prozess der Einführung des elektrischen Stuhls, da die Todesstrafenreform nun in die Hände der medizinischen Eliten des Empire State überging, was nicht nur die dritte Phase der Medikalisierung – Institutionalisierung – bedeutete, sondern parallel auch jenen entscheidenden Punkt darstellt, an dem sich auf Seiten des New Yorker Todesstrafensystems das zweite Elektrische Dispositiv (elektrischer Stuhl) konstituierte. Dieses Dispositiv basierte epistemisch auf Elektrophysiologie und ‚Kriminalbiologie‘ und wurde institutionell von den drei NY State Prisons Auburn, Clinton und Sing Sing, dem Superintendent of Prisons sowie der NY State Commission of Lunacy getragen, wobei die New Yorker Presse ab 1889 extensiv über die Entwicklungen berichtete – womit sich das elektrische Dispositiv 2 weit mehr als das elektrische Dispositiv 1 (psychiatrische Elektrotherapie) als pönale Strafandrohung in die Gesellschaft hineindistribuierte. Die ab Januar/Februar 1889 einsetzende Generierung des elektrischen Todesstrafen-Dispositivs fand wesentlich unter Führung Dr. Carlos F. MacDonalds, Direktor des Auburn Asylum for Insane Criminals, statt. 1889 wurde Dr. MacDonald zum Chef der staatlichen ‚NY State Commission on Humane Capital Punishment‘ ernannt, die die Installation der drei elektrischen Stühle in den NY State Prisons nach Petersons Plänen zum Ziel hatte. Kurz darauf wurde Dr. MacDonald dann von Gouverneur David B. Hill zum NY State Commissioner in Lunacy (Psychiatrieminister) erhoben – womit die Umsetzung der elektrischen Todesstrafenreform sowie das gesamte NY State-Hospital-System in den Händen Dr. Carlos F. MacDonalds lagen. Entsprechend stellte Dr. Carlos F. MacDonald neben Dr. Frederick Peterson die zweite wichtige Ärztepersönlichkeit im Prozess der Einführung des elektrischen Tötens dar, wobei Dr. MacDonald als New Yorker Psychiatrieminister jedoch zu den Spitzen des US-amerikanischen psychiatrischen Establishments zählte. Dr. Carlos F. MacDonald wurde 1845 in Niles, Ohio geboren. 1869 graduierte er am Bellevue Hospital Medical College, um anschließend im Flatbush Hos92 Annual Meeting [1888]. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 346.
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pital der City of Brooklyn zu praktizieren.93 1870 stieg MacDonald zum Oberarzt und 1873 zum Superintendent des Flatbush Insane Asylums auf, ‚being at that time the youngest asylum Superintendent in the United States.‘94 1876 wurde er dann zum Medical Director des Auburn Asylum for Insane Criminals ernannt, ein hochrangiger Posten auf Ebene der NY State Hospital-Superintendents, den MacDonald, mit kurzer Unterbrechung als Superintendent des Binghamton State Hospitals, bis zu seinem Aufstieg zum NY State Commissioner in Lunacy innehatte.95 Ein Kollege warnte Utica State Hospital-Superintendent Dr. G. Alder Blumer 1893 vor Psychiatrieminister Carlos F. MacDonald: Some of you years ago were warned that your [lunacy] commissioner was a veritable Prince of Darkness, but apparently you were too enamored, or too afraid of him to listen […]. [MacDonald] will stab any friend in the back to serve his own ends. He is a politician (in the worst sense of that word) […], and the knifing process comes perfectly natural to him.96
Dr. Carlos F. MacDonald war ein knallharter Politiker, der seine Ämter mit gesunder Härte ausfüllte. Mit dem Jahreswechsel 1888/89 trat das Electrical Execution Law in Kraft, und von nun an waren alle nach dem 1. Januar 1889 in New York zum Tode verurteilten Straftäter mit elektrischem Strom zu exekutieren. Trotz Frederick Petersons grundsätzlich praktikablem Death Chair-Bauplan war der Empire State allerdings weit davon entfernt, die notwendigen Tötungsinstrumente bereit zu
93 New York Times, State Commission in Lunacy. 13. Mai 1894. 94 New York Times, State Commission in Lunacy. 13. Mai 1894. 95 New York Times, State Commission in Lunacy. 13. Mai 1894. Im September 1887 hatte das Auburn Asylum 216 Insassen (202 männlich, 14 weiblich); für 1887 formulierte Dr. MacDonald: ‚The order and discipline of the house has been uniformly good; there has been no instance of successful escape, nor use of mechanical restraint, and the ordinary state of all the wards has been marked by comparative quietude.‘ (Auburn Asylum for Insane Criminals, Annual Report – For the Year Ending Sept. 30, 1887, 7 und 8). 96 Ian Dowbiggin, ‚Midnight Clerks and Daily Drudges‘ – Hospital Psychiatry in New York State, 1890-1905. In: Journal of the History of Medicine, Vol. 47, No. 2 (April 1992), 142.
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haben, wodurch die lokalen administrativen Eliten abermals unter Druck gerieten.97 Mit dem plötzlichen Inkrafttreten des Electrical Execution Law muss die Einführung des elektrischen Stuhls Anfang 1889 zur Chefsache erklärt worden sein, indem Gouverneur David B. Hill mit General Austin Lathrop, dem Superintendent of Prisons, ein Spitzengespräch führte, das zu dem Ergebnis gelangte, dass die Installation der drei elektrischen Stühle einem vertrauenswürdigen medizinischen Experten zu übertragen sei.98 Die Wahl fiel auf Dr. Carlos F. MacDonald, der einwilligte, offensichtlich aber die Bedingung stellte, dass er bei Erfüllung der ‚undesirable task‘ zum ersten Präsidenten der neuen NY State Commission in Lunacy ernannt werden würde – ein Kabinetts-Posten, der die Bedeutung des Superintendent of Prisons (drei NY State Prisons sowie die Forensik in Auburn) bei weitem überstieg (sieben, ab 1891 dann neun NY State Hospitals).99 Gouverneur David B. Hill stimmte zu und kurz darauf wurde die ‚New York State Commission on Humane Capital Punishment‘ installiert, die Dr. Carlos F. MacDonald unterstand und die die Installation der Tötungsgeräte in den drei NY State Prisons übernehmen sollte. Die NY State Commission on Humane Capital Punishment bestand aus Dr. Carlos F. MacDonald, Prof. Louis H. Laudy von der Columbia University (Columbia-Tests 1 & 2) – sowie niemand anderem als New Yorks prominentestem Elektrotherapeuten und Erfinder der central faradization, Dr. Alphonse Rockwell. Durch die Einbeziehung von George M. Beards ehemaligem Praxiskollegen Alphonse D. Rockwell wurde das elektrische Todesstrafendispositiv auf höchstem wissenschaftlichem Niveau elektrophysiologisch medikalisiert.100 97
Electrical Execution Law, zitiert nach: Bell, Electricity and the Death Penalty, 207. Das neue Electrical Execution Law verfügte: ‚The week [appointed for the infliction of the punishment of death] must begin not less than four weeks and not more than eight weeks after the sentence.‘ (Electrical Execution Law, zitiert nach: Bell, Electricity and the Death Penalty, 208).
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Zur Rolle der Gefängnisdirektoren, die die Installation der Geräte zuerst aus ihren eigenen Haushalten bestreiten sollten, siehe: New York Times, Ready for the Last Tests. 9. März 1889.
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Carlos F. MacDonald, The Infliction of the Death Penalty by Means of Electricity. In: The New York Medical Journal, Vol. LV (January to June 1892), 505.
100 New York Times, Machines That Will Kill. 12. Februar 1890. Die MacDonaldKommission hinterließ keine administrativen Verwaltungsdokumente, wurde von Arthur Kennelly schlicht ‚New York State Commission‘ und von den Archivaren der Edison Papers (Rutgers University) – vielleicht aus der Rückschau, doch eher aufgrund hier nicht vorliegender zeitgenössischer Quellen – ‚NY State Commission
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Am 20. Februar 1889 schrieb der Privatsekretär des Superintendent of Prisons an Harold P. Brown: Superintendent Lathrop directs me to say that he and Dr. MacDonald, Warden Brush [of Sing Sing Prison] and myself will be at the Gilsey House New York, Wednesday morning, the 27th […]. […] It is his present intention to spend Wednesday and Thursday in looking into the matter of machinery and appliances for executing criminals by electricity. After having informed himself fully he desires to make a contract for the furnishing of these appliances […].101
Der Superintendent of Prisons engagierte Harold P. Brown, um drei Generatoren für die elektrischen Stühle in den NY State Prisons Auburn, Clinton und Sing Sing zu beschaffen und delegierte die weitere Verantwortung in Sachen elektrischer Stuhl dann an Dr. Carlos F. MacDonald als Vorsitzenden der NY State Commission on Humane Capital Punishment. Anfang März 1889 wurden der MacDonald-Kommission vom New Yorker Parlament dann 10.000$ für die Anschaffung von drei elektrischen Dynamos bereitgestellt; schon vorher war Harold P. Brown mit Edison-Manager Frank Hastings in Kontakt getreten, um weitere elektrische Tierversuche in den Edison Laboren vorzubereiten, die Dr. Carlos F. MacDonald die überlegene Tödlichkeit des Wechselstroms demonstrieren sollten.102 Bei den Versuchen vom 12. März 1889 wurden in den Edison Laboren vier Hunde, vier Kälber sowie ein Pferd mit Wechselstrom getötet; neben Harold P. Brown waren u.a. der Physiologe Dr. Edward Tantum von der University of Pennsylvania, Dr. Carlos F. MacDonald sowie der Elektrotherapeut Dr. Alphonse Rockwell anwesend.103 on Humane Capital Punishment‘ genannt. (Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 90. The Edison Papers: NM023090). Rockwell formulierte: ‚My friend and comrade in the Sixth Ohio Cavalry, Dr. Carlos MacDonald, was at this time at the head of the Lunacy Commission of the state, and it was on his recommendation that I was appointed by the Commissioner of Prisons as one of a committee of three, to advise the state as to the best method of carrying out the provisions of the law.‘ (Rockwell, Rambling Recollections, 221). 101 Charles K. Baker an Harold P. Brown, 20. Februar 1889. The Edison Papers: D8933AAT. 102 New York Times, Ready for the Last Tests. 9. März, 1889; Frank S. Hastings an Arthur E. Kennelly, 25. Februar 1889. The Edison Papers: D8933AAS. 103 Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 90-91. The Edison Papers: NM023090; New York Times, Lightning for Criminals. 13. März 1889.
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Die Tiere wurden durch Strom über Schwamm-Elektroden getötet; die New York Times zelebrierte die Experimente unter dem Titel ‚Lightning for Criminals‘ als wegweisenden Zivilisationserfolg: From the experiments […] it is placed beyond doubt […] that electricity is a sure agent to take the place of the hangman’s rope […].104
Im Anschluss an die Versuche, durch die sich die medizinische Todesstrafenreform über die Anwesenheit Dr. Carlos F. MacDonalds voll institutionalisierte (Medikalisierungsphase 3: Institutionalisierung), wurde Harold P. Brown von Dr. MacDonald offiziell mit der Beschaffung dreier Wechselstrom-Dynamos für die drei NY State Prisons beauftragt: The New York State authorities have authorized me to purchase for them alternating current dynamos […] for the electrical execution plants.105
Harold P. Brown agierte nun im Staatsauftrag; gleichzeitig sollte er, wie Charles Durston, Direktor des Auburn State Prison, später formulierte, als erster elektrischer Henker fungieren: The contract provided, between Mr. Brown and the Superintendent of Prisons, that Mr. Brown was to superintend the first execution […].106
Am 14. Mai 1889 wurde William Kemmler, ein Straßenhändler aus Buffalo, als erster Mensch unter dem neuen Electrical Execution Law zum Tode verurteilt, nachdem er seine Lebensgefährtin Tillie Ziegler mit einer Axt erschlagen hatte.107 Damit war der Ernstfall eingetreten; laut Todesstrafenstatut musste die 104 New York Times, Lightning for Criminals. 13. März 1889. Zur Elektrodenanordnung, siehe: Arthur Kennelly, Technical Notes and Drawings, 90 und 91. The Edison Papers: NM023090. 105 Harold P. Brown an Thomas A. Edison, 17. März 1889. Document File Series, 1889. The Edison Papers: D8933AAN3. 106 Becker Hearings, Vol. 2, 1011. 107 New York Times, Kemmler the First. 15. Mai 1889. Siehe auch: Essig, Edison & the Electric Chair, 163-164 und Moran, Executioner’s Current, 119-122. Kemmler war geständig, der entscheidende Passus seines ‚Statements‘ lautet: ‚This morning, March 29th, ´89, between 7 and 8 o´clock, I struck Tillie on the head with a hatchet – I don´t know how many times – with the intention of killing her.‘ (Statement of William E. Kemmler, zitiert nach: Moran, Executioner’s Current, 134).
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Strafe spätestens acht Wochen nach Urteilsspruch – also bis 14. Juli 1889 – vollstreckt werden, wobei der Staat New York über entsprechende Gerätschaften aber noch gar nicht verfügte. Kurz darauf wurde Dr. Carlos F. MacDonald dann zum ersten NY State Commissioner in Lunacy ernannt, womit der ‚Sonderbeauftragte‘ für die Einführung des elektrischen Stuhls gleichzeitig zum Psychiatrieminister des Empire State avancierte.108 Der zum Stromtod verurteilte Mörder William Kemmler jedoch erhielt unerwartete Unterstützung: nachdem Harold P. Brown verkündete, dass es ihm gelungen sei, drei Westinghouse-Generatoren für die New Yorker Death Rows zu erwerben, holte George Westinghouse zu einem Gegenschlag aus, der auf juristischem Parkett geführt wurde – und der das längst verabschiedete Electrical Execution Law noch einmal ernsthaft in Gefahr brachte.109 Am 11. Juni 1889 stellte William Kemmlers Anwalt Charles S. Hatch einen Writ of Habeas Corpus (Haftprüfungsantrag) am Cayuga County Court, der die Begründung führte, William Kemmlers bevorstehende ‚execution by electricity‘ sei ‚cruel and unusual‘ – und damit verfassungswidrig.110 Im Zuge des anstehenden Grundsatzprozesses, der sich weniger um das Schicksal William Kemmlers als vielmehr um die Verfassungskonformität des elektrischen Tötens drehte, engagierte George Westinghouse mit dem StarAnwalt William Bourk Cockran den besten Strafverteidiger, der für Geld zu haben war, um das Electrical Execution Law auf dem Rechtswege zu kippen – und so die elektrische Exekution William Kemmlers mit einem WestinghouseGenerator zu verhindern. 4.3.2 Gegenschlag – Die Becker Hearings 4.3.2.1 Die Aussagen Elbridge T. Gerrys und Thomas A. Edisons Die von Juli bis September 1889 in New York und Buffalo stattfindenden Becker Hearings, auf denen mit Elbridge T. Gerry, Thomas A. Edison, Dr. Frederick Peterson und Dr. Alphonse Rockwell fast die gesamte Prominenz des Diskurses aussagte, stellten den Höhepunkt der öffentlichen Debatte um die Einführung des elektrischen Tötens im US-Bundesstaat New York dar.
108 New York Times, Dr. MacDonald’s Successor. 24. Mai 1889. 109 New York Times, Electrical Executions. 8. Mai 1889. 110 Moran, Executioner’s Current, 158. Zum Text der Habeas Corpus-Petition, siehe: Becker Hearings, Vol. 2, 1027-1028.
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Am 5. Juli 1889 wurde der Buffaloer Anwalt Tracy C. Becker vom zuständigen Richter Edwin Day als Referee installiert, um durch die Vernehmung von Zeugen und Experten eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten, auf der Richter Day eruieren konnte, ob ‚passing of an electrical current through the body of said William Kemmler‘ ein ‚cruel and unusual punishment‘ und damit verfassungswidrig sei.111 Der Staat New York, der das Todesurteil für William Kemmler – und damit das neue Todesstrafenstatut – verteidigte, wurde primär von Deputy AttorneyGeneral Post vertreten. William Post lud u.a. einen Elektroingenieur vor, der durch die Beschreibung tödlicher Elektrizitätsunfälle die Zuverlässigkeit des elektrischen Tötens untermauerte – und präsentierte mit Thomas A. Edison und den Spitzen der New Yorker Ärzteschaft hochkarätige medizinische Experten, die im Sinne des Staates NY die Zuverlässigkeit der ‚euthanasia by electricity‘ beschworen.112 Die Verteidigung oblag Kemmlers Strafverteidiger Charles S. Hatch, der von W. Bourke Cockran, einem Star-Anwalt von stratosphärischer rhetorischer Finesse, unterstützt wurde.113 In der Forschung gilt als sicher, dass Cockran von George Westinghouse engagiert wurde, um das Electrical Execution Law zu kippen und so das staatliche Töten mit Westinghouse-Generatoren zu verhindern.114 111 In the Matter of the Proceedings Upon a Writ of Habeas Corpus to Inquire Into the Cause of Detention of William Kemmler. In: Becker Hearings, Vol. 2, 1045. Das ‚electrical execution hearing‘, von der New York Times durch eine großangelegte Artikelserie flankiert, wurde am 8. Juli 1889 in NYC eröffnet und Judge Day am 11. September 1889 in Buchform präsentiert, der dann aufgrund der Vernehmungsprotokolle seine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Electric Execution Laws fällte. (New York Times, Mr. Gerry On the Stand. 19. Juli 1889; Becker Hearings, Vol. 1, 1; Becker Hearings, Vol. 2, 1049). 112 Becker Hearings, Vol. 1, I; Becker Hearings, Vol. 2, 839-842. 113 Becker Hearings, Vol. 1, I. W. Bourke Cockran immigrierte mit 17 aus Irland in die USA, wo er Rechtswissenschaften studierte. 1876 in den USA als Anwalt zugelassen, entwickelte sich Cockran schnell zu einem Tammany-Redner und SpitzenAnwalt, dessen Jahresgehalt in der Presse mit 100,000$ angegeben wurde. (http:// bioguide.congress.gov/scripts/biodisplay.pl?index=C000575, 15. April 2012; Moran, Executioner’s Current, 160). 114 Essig, Edison & the Electric Chair, 168; Moran, Executioner’s Current, 159; Jonnes, Empires of Light, 188. Cockran, der für sich in Anspruch nahm, Kemmler aus reiner Mildtätigkeit zu verteidigen, erläuterte der Electrical Review, aus Liebe zu seinem Hund zu handeln: Nachdem ihn seine Frau auf die West Orange-Tierversuche auf-
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Bourke Cockran war dermaßen perfekt eingearbeitet, dass er Dr. Alphonse Rockwell, mittlerweile ‚Professor of Electrotherapeutics‘, auf dessen Fachgebiet mit Leichtigkeit deklassierte: ,Did you use a condenser in connection with the galvanoscope?‘, ,Condenser was used.‘, ,How did you use the condenser, doctor?‘, ,[…] I simply used a simple galvanoscope.‘, […] ,You didn’t have a condenser?‘, ,No. I simply used the galvanoscope […].‘, ,Now, are you sure it was not an electroscope, and not a galvanoscope?‘, ,It was an electroscope; excuse me, it was simply an electroscope.‘115
Cockrans Hauptstrategie bestand darin, durch den Nachweis der Unzuverlässigkeit der Wheatstone Brücke zu belegen, dass der elektrische Widerstand des menschlichen Körpers nicht exakt zu messen sei.116 So wollte Cockran das elektrische Töten als unzuverlässig und damit ‚cruel and unusual‘ ausweisen, was dem Electrical Execution Law seine Verfassungskonformität entzogen hätte. Entsprechend stellte der Körper-Widerstand, den einige Experten mit 40.000 Ω, andere mit 1000 Ω angaben, den Kernpunkt der gesamten Hearings dar; Cockran soufflierte Westinghouse-Elektriker John H. Noble das Problem des variierenden Körperwiderstands wie folgt: [Doctor Peterson] has said that […] one ampere was all that was necessary to kill […]. […] Now, […] if one ampere of current is required to kill, musn’t a pressure be used of one volt for each ohm of resistance of the subject?‘ […], ,Yes, sir.‘, ,So if the resistance was 1,500 ohms with one ampere there must be 1,500 volts?‘, ,Yes, sir.‘, ,If the resistance is 2,000 ohms with one ampere, it must be 2,000 volts?‘, ,Yes, sir.‘117
merksam gemacht hätte, habe er gerufen: ‚The law providing for execution by electricity is unconstitutional. I’ll beat it if I can.‘ (zitiert nach: Moran, Executioner’s Current, 160). 115 Becker Hearings, Vol. 1, 570 und 605. Cockran präsentierte u.a. einen Familienvater, der am Esstisch den Einschlag eines Kugelblitzes überlebte, den Arzt eines Unfallopfers, der angab, sein Patient habe starke Schmerzen gelitten, als er nach der Berührung eines Starkstromkabels bewusstlos auf dem Boden lag sowie diverse Experten, die mit einer Wheatstone Brücke stark divergierende Widerstandsmessungen am menschlichen Körper vorgenommen hatten, was die Unzuverlässigkeit des elektrischen Tötens belegen sollte. (Becker Hearings, Vol. 2, 826-839; Becker Hearings, Vol. 2, 912; Becker Hearings, Vol. 1, 439; Becker Hearings, Vol. 2, 931-934). 116 Siehe u.a.: Becker Hearings, Vol. 2, 766. 117 Becker Hearings, Vol. 1, 288.
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Nach dem Ohmschen Gesetz, das den Stromfluss als Ergebnis der wechselseitigen Relation von Spannung U (Volt), Strom I (Ampere) und Widerstand R ), wäre bei höherem elekt(Ohm) beschreibt, (I = also: Ampere = rischem Widerstand eine höhere Spannung erforderlich, um die gleiche Stärke des Stromes (Ampere) zu garantieren, wodurch das elektrische Töten als Vabanque-Spiel erschien, da der elektrische Widerstand des menschlichen Körpers wissenschaftlich gar nicht festzustehen schien. So erläuterte etwa der Elektriker Francis W. Jones, von Cockran geladen, der elektrische Körperwiderstand variiere zwischen 1200 Ω und 40.000 Ω, sodass man für elektrische Exekutionen bei einem Ampere bis zu 40.000 Volt benötige;118 Schuyler S. Wheeler vom Board of Electrical Control, der schon bei den Columbia-1-Tests anwesend war, legte den Widerstand hingegen auf rund 1000 Ω fest.119 Anwalt Elbridge T. Gerry, als ehemaliger Vorsitzender der parlamentarischen New Yorker Death Commission geladen, wurde von Cockran gleich zu Beginn der Vernehmung gehörig unter Druck gesetzt: ‚You. To investigate and report the most humane and practical method of carrying into effect the sentence of death in capital cases?‘ […] ,[Y]es, sir.‘120
Nach Erläuterungen zu Guillotine und Garotte kam Elbridge T. Gerry auf die Applizierung einer tödlichen Dosis Morphium zu sprechen, die er selbst noch immer als neue Hinrichtungsmethode favorisierte: ‚My individual idea is that the dose of morphia would be most efficacious.‘, ‚But you surrendered your opinion on account of your associates?‘, ‚Yes.‘, ‚You still have that opinion?‘, ‚I see no reason why – yes.‘121 118 Becker Hearings, Vol. 1, 294-319. Zu den 40.000 Volt, siehe: Becker Hearings, Vol. 1, 305. 119 Becker Hearings, Vol. 2, 774. Thomas A. Edisons Chefelektriker Arthur E. Kennelly nahm eigens für die Becker Hearings an 259 Edison-Angestellten Widerstandsmessungen mit einer Wheatstone Brücke vor; die Arbeiter mussten ihre Hände ‚[f]or 30 seconds, as near as possible‘ in zwei elektrisch geladene Beckenelektroden halten. Der Widerstand flottierte um 1000 Ω mit Abweichungen um die 100 Ω bis 200 Ω (der gemessene Spitzenwert war 1.970 Ω); durch die Messungen erbrachte Kennelly also den Nachweis, dass der Körper-Widerstand ebenso konstant wie niedrig war. (Becker Hearings, Vol. 2, 656 und 658) Kennellys Messtabelle findet sich als ‚People’s Exhibit B.‘ in: Becker Hearings, Vol. 2, lxxxvi-xci). 120 Becker Hearings, Vol. 1, 346.
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Anschließend erläuterte Elbridge T. Gerry, Dr. Alfred Southwick habe die Elektrizität ins Spiel gebracht und verteidigte die Sache der elektrischen Exekution, die nicht die seine war, nach Kräften: ‚Do you know anything about [electricity]?‘, ,Mr. Cockran, I think my knowledge is about equal to your own – because the less you know about a subject the better you crossexamine.‘122
Die Vernehmung Thomas A. Edisons stellte den äußerlichen Höhepunkt der Hearings dar, den die New York Times unter dem Titel ‚Testimony of the Wizard‘ zelebrierte.123 Thomas A. Edison, der zunächst von Staatsanwalt Post befragt wurde, bezifferte den menschlichen Körperwiderstand auf ‚about 1,000 ohms‘ und erläuterte, Verbrennungen bei Elektrizitätsunfällen seien ausschließlich auf ‚bad contact […] between the flesh and the wire‘ zurückzuführen.124 Thomas A. Edison bestritt ‚any business connection‘ zwischen der Edison Electric und Harold P. Brown (‚Not that I know of‘),125 antwortete auf Posts Standardfrage, ob ein künstlich zugeführter Strom ‚death in every case‘ produzieren könne: ‚Yes, sir,‘, ‚Instant death?‘, ‚Yes, sir.‘, ‚Painless?‘, ‚Yes, sir‘126 – und schlug für den elektrischen Stuhl dann Becken- bzw. Flüssigkeitselektroden vor, um den tödlichen Strom über das Herz zu leiten: Put the criminal’s hands in a couple of jars of water – with a solution of potash.127
Im Kreuzverhör versuchte William B. Cockran sofort, Thomas Edison mit der Widerstandsfrage unter Druck zu setzen, wobei Edison die Variationen als ‚pretty close‘ beschrieb.128 Star-Anwalt Cockran zwang Edison das Geständnis ab, anatomischer Laie zu sein und steigerte sich schnell – die heimliche Rache des George Westinghouse – in eine stratosphärische Aggressivität: 121 Becker Hearings, Vol. 1, 367. Zu ‚Guillotine und Garotte‘, siehe: Becker Hearings, Vol.1, 364. 122 Becker Hearings, Vol. 1, 379. 123 New York Times, Testimony of the Wizard. 24. Juli 1889. Zu Gerry siehe: New York Times, Mr. Gerry On the Stand. 19. Juli 1889. 124 Becker Hearings, Vol. 2, 625 und 627, siehe auch: 628. 125 Becker Hearings, Vol. 2, 628, 629 und 630. 126 Becker Hearings, Vol. 2, 630. 127 Becker Hearings, Vol. 2, 630. 128 Becker Hearings, Vol. 2, 637.
124 | M EDIZINISCHE G EWALT ‚Now, you do not even know what the component parts of the human blood are, do you?‘, ‚Pretty near.‘, ‚What are they?‘, ‚Carbon, hydrogen, oxygen and nitrogen.‘, ‚Now you have mentioned pretty much every gas, haven’t you?‘129
Bourke Cockran, der sein Geld an diesem Tage Wert war, philosophierte über den elektrischen Widerstand eines metalldurchsetzten Lehmklumpen, was Edison als ‚nonsense‘ bezeichnete,130 erläuterte dem ‚Wizard‘ bissig, ‚I suppose you could cover several miles with your intellect, but with your hands you could cover only a few inches‘131 – und kam dann über die von Thomas A. Edison erwähnten Verbrennungen zur geplanten Exekution William Kemmlers: ‚Would there be [burning] anywhere else, Mr. Edison?‘, ‚You might put several thousand horse-power in a man and burn him up.‘, ‚That is what we were talking about. When you say you would burn him up, do you mean that you would have a bonfire with him?‘, ‚No, carbonize him.‘132
Anschließend verleitete Cockran Edison zu dem Statement, Kemmler würde durch den ‚wicked Westinghouse current‘, so Cockran, bei längerer Stromdauer nicht ‚carbonized‘, sondern ‚mummified‘ und attackierte: ‚You understand it, but we do not. Our minds are not as brilliant on that as yours‘.133 Dann bezichtigte er Edison, Harold P. Brown ein Empfehlungsschreiben an den Staat NY ausgestellt zu haben, woraufhin Edison antwortete: ‚I don’t remember one‘: ‚Do you know Mr. Lathrop, the Superintendent of State Prisons in this State?‘, ‚I do not think so.‘, ,Did he ever apply to you […] to furnish a man who would conduct executions with neatness, skill and despatch?‘, ‚I do not remember any such man. […].‘, ‚Did you ever give Mr. Brown a letter of recommendation recommending him as a person who could meet these requirements […]? […]‘, ,I don’t remember it if I did.‘134
Das von Thomas A. Edison für Brown erstellte Empfehlungsschreiben trägt das Datum 21. März 1889 und richtete sich wohl implizit tatsächlich an Dr. Carlos F. MacDonald – Superintendent Lathrop hatte die Installation der elektrischen Stühle längst an die NY State Commission on Humane Capital Punishment de129 Becker Hearings, Vol. 2, 638/639. 130 Becker Hearings, Vol. 2, 640 und 641. 131 Becker Hearings, Vol. 2, 641. 132 Becker Hearings, Vol. 2, 644. 133 Becker Hearings, Vol. 2, 645 und 647. 134 Becker Hearings, Vol. 2, 648/649.
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legiert – um sicherzustellen, dass Harold P. Brown den New Yorker Staatsauftrag erhielt und Generatoren der Marke Westinghouse in den drei NY State Prisons installierte.135 4.3.2.2 Die Ärzte-Statements Während Thomas A. Edison bei den Becker Hearings auftrat, um seine kommerziellen Interessen zu verfolgen, war die Anwesenheit von Ärzten, die als wissenschaftliche Experten die medizinische Reliabilität des elektrischen Tötens betonten, für die Becker Hearings noch entscheidender. Dr. Landon Carter Gray, Professor ‚of nervous and mental diseases‘ an der New York Polyclinic Medical School, war der wichtigste medizinische Experte, der auf Seiten William B. Cockrans auftrat und somit gegen den Plan des elektrischen Tötens Stellung bezog.136 Dr. Gray bestritt, dass man via Elektrizität einen schmerzlosen Sekundentod erzeugen könne und erläuterte, der französische Elektrophysiologe JacquesArsène D’Arsonval habe Hunde elektrisch getötet und anschließend wiederbelebt, was die Zuverlässigkeit der ‚euthanasia by electricity‘ in Zweifel zog.137 Dr. Alfred Loomis, Kardiologe mit 30 Jahren Berufserfahrung, bezweifelte ebenfalls, dass mit dem elektrischen Stuhls sicher und schnell zu töten sei, beschrieb Death Chair-Befürworter Dr. Alphonse Rockwell jedoch als hochkarätige Lokalkapazität: Dr. Rockwell is […] more completely a specialist in the use of electricity than any other gentleman in New York.138
Die überwältigende Mehrheit der involvierten Ärzte sagte für den Staat NY aus, um die elektrische Todesstrafenreform zu unterstützen. Hierzu lud Post diverse 135 Der Text des Schreibens lautet: ,To Whom It May Concern. I have during the past few months become acquainted with Mr. Harold P. Brown, having met him in connection with certain experiments which he has been conducting on behalf of the authorities of the State of New York. Mr. Brown is, in my opinion, a thoroughly competent Electrical Engineer, and all the reports prepared by him showing the results of his various experiments, which have been brought to my attention, I have found to be accurate and truthful. Thomas A Edison.‘ (Thomas Edison, General Letterbook Series, 21. März 1889. In: The Edison Papers: LB028748). 136 Becker Hearings, Vol. 1, 398; New York Times, Legal Points for Doctors. 15. März 1889. 137 Becker Hearings, Vol. 1, 398/399 und Becker Hearings, Vol. 2, 887-912. 138 Becker Hearings, Vol. 1, 522 und 524.
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Ärzte, die Autopsien an Opfern tödlicher Elektrizitätsunfälle vorgenommen hatten (Dr. Hoffmeyer,139 Dr. Rochster,140 Dr. Matzinger, Dr. Joseph Fowler141), was die Zuverlässigkeit des elektrischen Tötens untermauerte. Noch bedeutender waren die Aussagen Dr. Cyrus Edsons, Dr. George E. Fells, Dr. Frederick Petersons und Dr. Alphonse Rockwells, die allesamt elektrische Tierversuche vorgenommen hatten und damit massiv in die Konstruktion des elektrischen Stuhls involviert gewesen waren: Dr. Cyrus Edson vom NYC Board of Health erläuterte bezüglich der von ihm geleiteten Columbia-2-Tests, dass alle Hunde durch den ersten Stromschlag gestorben seien, womit das elektrische Töten medizinisch sicher sei.142 Bezüglich des projektierten elektrischen Stuhls erläuterte Edson: ‚600 to 1,000 volts will do the business‘; als Ursache des Stromtods gab er ‚paralysis of the blood‘ an, um das unter Cockrans Kreuzverhör jedoch schnell wieder zu relativieren.143 Dr. George E. Fell hatte durch seine ausgefeilte Expertise im Bericht der Gerry-Kommission maßgeblich zur elektrischen Todesstrafenreform beigetragen; Dr. Southwick befand sich in Europa, sodass Dr. George Fell das durch seine geographische Nähe zum Auburn State Prison von nun an wieder deutlich stärker auftretende Buffaloer Ärztenetzwerk vertrat.144 Fell erläuterte, ‚both mild and strong currents‘ in seiner medizinischen Praxis zu verwenden: My belief is that death can be produced by a sufficiently powerful electrical current in every instance, without any sensation being experienced by the culprit whatever […].145
Dr. Frederick Peterson, der intellektuelle Vater des elektrischen Stuhls, sagte auf den Becker Hearings aus, um seine Erfindung zu vertreten – und dem elektrischen Todesstrafendiskurs anschließend für immer den Rücken zu kehren. Frederick Peterson wurde zuerst von Staatsanwalt Post vernommen, um sofort das Myographen-Argument des ‚quicker than a thought‘ zu beschwören: ‚What is regarded […] to be the velocity of nerve sensations […]?‘, ‚About ninety feet per second.‘, ‚What is the velocity of the electric current?‘, […] ‚[It is] [i]nfinitely greater.‘146 139 Becker Hearings, Vol. 2, 939-942. 140 Becker Hearings, Vol. 2, 950-955. 141 Becker Hearings, Vol. 2, 955-960. 142 Becker Hearings, Vol. 2, 755. 143 Becker Hearings, Vol. 2, 756 und Becker Hearings, Vol. 2, 762. 144 So Gerry in: Becker Hearings, Vol. 1, 371. 145 Becker Hearings, Vol. 2, 978, zu den ‚mild and strong currents‘, siehe: ebda. 146 Becker Hearings, Vol. 1, 243, zu Petersons Hinzuziehung, siehe: Becker Hearings, Vol. 1, 240.
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Auf Posts Frage, ob ein elektrischer Strom ‚death in every case‘ produzieren könne, erwiderte Psychiater Peterson: ‚Yes, sir‘ und beantwortete die Frage, ob elektrische Tötungen ohne Verbrennungen durchzuführen seien mit der gleichen Antwort.147 Das Kreuzverhör wurde nicht von William B. Cockran, sondern von Kemmler-Anwalt Hatch geführt, der mit dem späteren NY State Commissioner in Lunacy und Columbia University-Professor in keiner Weise fertig wurde. Denn Hatch ließ zu, dass Dr. Fredrick Peterson seine überlegene psychiatrische Expertise entfaltete: ‚Have you ever seen a person […] that received a shock of electricity?‘, ‚I have given shocks of electricity myself to people very often.‘, ‚How large – how much?‘, ‚About 25 or 30 milli-amperes.‘, ‚How many volts?‘, ‚Voltage of 50 to 75.‘148
Frederick Peterson spielte auf seine psychiatrische Elektrotherapie im Hudson River State Hospital an; bezüglich therapeutischer Wechselstromschocks formulierte er: ‚It makes [patients] […] start – jump, as a foretic current would. […] [Alternating currents] are painful and are rarely used. It is never used in applications to the head, for instance, because it would produce dizziness and nausea.‘149
Dr. Alphonse Rockwell, neben Dr. Peterson und Dr. MacDonald der drittwichtigste Mediziner im Prozess der Einführung des elektrischen Stuhls, vertrat auf den Becker Hearings die NY State Commission on Humane Capital Punishment. Rockwell gab an, fachlich auf ‚nervous diseases and what we term electrotherapeutics‘ spezialisiert zu sein und erläuterte anschließend, in seiner inzwischen allein geführten Praxis elektrotherapeutische Anwendungen von immerhin 50 Volt und 100 Milliampere zu applizieren, auf die die PatientInnen unterschiedlich sensibel reagierten.150 Auf die Frage, inwieweit er an der Konstruktion des elektrischen Stuhls beteiligt war, erläuterte Rockwell: ‚The only part I took was at the suggestion of Dr. MacDonald, suggesting the placing of the electrodes in order to experiment as to the best position for deadly effects.‘151 147 Becker Hearings, Vol. 1, 244. 148 Becker Hearings, Vol. 1, 246/247. 149 Becker Hearings, Vol. 1, 248/249. 150 Becker Hearings, Vol. 1, 570, 571, 572 und 575. 151 Becker Hearings, Vol. 1, 577.
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Dr. Alphonse Rockwell, New Yorks prominentester Elektromediziner, griff auf Geheiß Psychiatrieministers Dr. Carlos F. MacDonald persönlich in die Entwicklung des elektrischen Stuhls ein. Im Kreuzverhör erläuterte Alphonse Rockwell ‚I think 1,000 volts would kill any man‘ – und wurde dann von William B. Cockran völlig demontiert: ‚I haven’t anything much to do with dead men.‘, ‚You deal in live men?‘, ‚Yes, sir.‘, ‚And those that come to you are supposed to continue to be alive?‘, ‚Yes.‘, ‚They are to be congratulated?‘, ‚Yes, sir.‘152
4.3.3 Bau und Test des elektrischen Stuhls Auch die zweite Hälfte des Jahres 1889 stand ganz im Zeichen Dr. Carlos F. MacDonalds und seiner staatlichen NY State Commission on Humane Capital Punishment. Bereits im Juni/Juli 1889 waren – parallel zu den Becker Hearings – drei von Harold P. Brown erworbene Westinghouse-Generatoren in den NY State Prisons Auburn, Clinton und Sing Sing eingetroffen, wobei der Stern Harold P. Browns in der zweiten Hälfte des Jahres 1889 aber rapide zu sinken begann.153 Bereits auf den Becker Hearings war Charles Durston, Direktor des Auburn State Prison, zu Harold Brown auf Distanz gegangen. Der von Brown gelieferte Westinghouse-Dynamo sei, so Durston, in schlechtem Zustand und vom Staat New York weder getestet noch akzeptiert worden.154 Zwar sei Brown vertraglich vorgesehen, die erste elektrische Exekution durchzuführen, diese Klausel sei aus Sicht Durstons aber ausgelaufen.155 Entsprechend hatte Brown einen Assistenten erhalten, bei dem es sich um niemand anderen als Edwin F. Davis, den späteren NY State Electrician bzw. elektrischen Henker des Empire State handelte.156 Am 5. August 1889 trafen Harold P. Brown und Edwin F. Davis im Auburn State Prison ein, um den für den elektrischen Stuhl vorgesehenen Generator aufzustellen; ein elektrischer Liegestuhl nach Browns Plänen befand sich laut Dr. George E. Fell aus Buffalo ebenfalls vor Ort:
152 Becker Hearings, Vol.1, 616. Zum Rockwell-Zitat: ‚I think 1,000 volts would kill any man‘, siehe: Becker Hearings, Vol.1, 615. 153 Becker Hearings, Vol. 2, 1008. 154 Becker Hearings, Vol. 2, 1009 und 1010. Durston formulierte den Generator betreffend: ‚No, sir; it has never been started up.‘ (ebda.). 155 Becker Hearings, Vol. 2, 1014. 156 Becker Hearings, Vol. 2, 1015. Zu Edwin F. Davis, siehe: Banner, 194-195.
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One [chair] illy adapted to the purpose was lying in the vaults of the prison, known as the Harold P. Brown chair.157
Aufgrund professioneller Defizite begann Harold P. Brown im hochsensiblen Todesstrafen-System untragbar zu werden.158 Am 9. Oktober verkündete Richter Day dann sein Urteil in Kemmlers Habeas Corpus-Prozess, für den die Becker Hearings stattgefunden hatten: A legislative act is not to be declared void upon a mere conflict of interpretation between the legislative and judicial power.159
Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz sei von der Judikative nur bei einem Verfassungsbruch ‚beyond a reasonable doubt‘ aufzuheben; zur Frage, ob es zweifelsfrei erwiesen sei, dass Elektrizität weniger schnell als der Strang zu töten vermöge, folgerte Day: ‚I believe not.‘160 Anwalt W. Bourke Cockran kündigte zwei Tage später Revision an, die am 30. Dezember 1889 abgewiesen wurde; die Judikative war auch in den Folgeurteilen nicht gewillt, die Einführung des elektrischen Tötens zu verhindern.161 Zum Jahreswechsel 1889/90 testeten Dr. Carlos F. MacDonald, Dr. Alphonse Rockwell und Prof. Louis H. Laudy die drei Generatoren in den Staatsgefängnissen Auburn, Sing Sing und Clinton; im Februar 1890 legte Dr. Carlos F. MacDonald dann den kurzen Abschlussbericht seiner NY State Commission on Hu-
157 George E. Fell, Address of the President – The Influence of Electricity on Protoplasm. In: Proceedings of the American Society of Microscopists, Vol. 12, Thirteenth Annual Meeting (1890), 21. Zu Brown und Davis in Auburn, siehe: New York Times, To Kill By Electricity. 6. August 1889. 158 Ende August 1889 wurden Teile des Briefwechsels zwischen Harold P. Brown und Thomas A. Edison der Presse zugespielt; die New York Sun titelte: ‚Disgraceful Facts About the Electric Killing Scheme; Queer Work for a State’s Expert; Paid by One Electric Company to Injure Another.‘ (Zitiert nach: Essig, Edison & the Electric Chair, 190). 159 Before S. Edwin Day, County Judge of Cayuga County. The People of the State of New York, Ex Rel. William Kemmler, Against Charles F. Durston, As Warden of the State Prison at Auburn, N.Y. – Opinion. In: Becker Hearings, Vol. 2, 1065. 160 Edwin Day, Opinion. Becker Hearings, Vol. 2, 1064. 161 New York Times, Kemmler’s Case Appealed. 12. Oktober 1889; New York Times, The Law Is Constitutional. 31. Dezember 1889.
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mane Capital Punishment vor, den die New York Times unter der Headline ‚Machines That Will Kill‘ zelebrierte.162 Die Kommission habe die maximale Spannung der Dynamos in Sing Sing mit 2.206 Volt, in Auburn mit 2.375 Volt und im Clinton State Prison in Dannemora mit 1.655 Volt gemessen, die Generatoren jedoch – ein Seitenhieb auf Harold P. Brown – nicht in betriebsfähigem Zustand vorgefunden, wodurch die Tests behindert wurden.163 Die von Brown gelieferten Generatoren seien in schlechtem Zustand, würden aber funktionieren und könnten – allerdings erst nach profunden Wartungsarbeiten - endgültig vom Staat New York abgenommen werden: From the tests of the dynamos […] together with the experiments on animals […] the committee entertains no doubt as to the efficiency of the three dynamoes at Sing Sing, Auburn, and Dannemora to accomplish the work for which they are intended. Carlos F. MacDonald, M.D. A. D. Rockwell, M.D. Louis H. Laudy, Ph.D.164
Damit war die Installation der Hardware für die elektrischen Tötungen – vom (Neu-) Design des Stuhls sowie der Elektroden abgesehen – abgeschlossen, wobei das Konzept von Dr. Frederick Peterson stammte und die Installation der ‚deadly dynamos‘ von Dr. Carlos F. MacDonalds NY State Commission on Humane Capital Punishment durchgeführt wurde.
162 New York Times, Test Made at Sing Sing. 29. Dezember 1889; New York Times, The Death Current Test. 1. Januar 1890; New York Times, Testing the Death Machines. 19. Januar 1890. Ende 1889 wurde im Gefängnishof des Sing Sing State Prison ein einstöckiges ‚death house‘ errichtet; die New York Times formuliert: ‚In this building the executions will take place. […] Wires already connect this building with the dynamo house, for conveying the death current, and other wires will be strung for signaling when the current shall be turned on and off.‘ (New York Times, Test Made at Sing Sing. 29. Dezember 1889) Mit Errichtung des neuen Death House im Sing Sing State Prison begann sich das elektrische Todesstrafen-Dispositiv auch architektonisch bzw. materiell in seiner Geschichtszeit niederzuschlagen. 163 MacDonald-Report, zitiert nach: New York Times, Machines That Will Kill. 12. Februar 1890. 164 MacDonald-Report, zitiert nach: New York Times, Machines That Will Kill. 12. Februar 1890.
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Dr. Alphonse D. Rockwell zelebrierte die Fertigstellung der Tötungsmaschinen in einem in der New York Times publizierten Leserbrief, der in dem Satz: ‚If the law must kill, let it kill decently‘ kulminierte.165 William Kemmler, vom Buffalo Express als ‚an excellent imitation of a man about to drop dead‘ beschrieben, saß derweil im Auburn State Prison, um seine Hinrichtung zu erwarten, die für die Woche beginnend am 28. April 1890 angesetzt war.166 Tatsächlich trafen die von Durston geladenen Zeugen und Experten – unter ihnen u.a. Dr. Southwick – zum angesetzten Exekutionstermin in Auburn ein, doch im letzten Moment erwirkte Anwalt Roger M. Sherman einen Aufschub, denn der Fall Kemmler sollte vor den US Supreme Court getragen werden.167 Statt William Kemmler wurde von den Gefängnisautoritäten ein Kalb getötet; das Herz des Tieres wurde an Prof. S. H. Gage, Cornell University, versandt, der mikroskopische Schnitte anfertigte, während das Gehirn des Tieres von William C. Krauss, ‚Professor of Pathology‘ an der Niagara University analysiert wurde, der eine ‚slight discoloration of the pia […] over the frontal and occipital lobes‘ feststellte, die er auf den elektrischen Strom zurückführte.168 So erweiterte sich das New Yorker Ärztenetzwerk kurz vor der ersten elektrischen Exekution noch einmal deutlich, da es neben den involvierten Graduate Schools New York Citys nun auch medizinische Fakultäten aus Upstate New York miteinbezog. Die elektrischen Tötungsmaschinen aber waren unter der Aufsicht des NY State Commissioner in Lunacy fertiggestellt worden – und New York war bereit für das große Experiment mit der ‚elektrischen Euthanasie‘.
4.4 ‚E UTHANASIA BY E LECTRICITY ‘ – D IE T ÖTUNG W ILLIAM K EMMLERS ‚Far Worse Than Hanging‘ titelte die New York Times am 7. August 1890, dem Tag nach der weltweit ersten elektrischen Exekution im Auburn State Prison, NY, um anschließend jeden zu attackieren, der auch nur entfernt mit dem elektrischen Töten zu tun hatte:
165 New York Times, Let the Law Kill Decently. 15. Februar 1890. 166 Buffalo Express, zitiert nach: Moran, Executioner’s Current, 122. Zu Kemmler, siehe: Essig, 237. 167 Essig, Edison & the Electric Chair, 240-244. 168 Fell, Influence on Protoplasm, 23 und 29-30.
132 | M EDIZINISCHE G EWALT A sacrifice to whims and theories of the coterie of cranks and politicians who induced [the Electrical Execution Law] was offered to-day in the person of William Kemmler, the Buffalo murderer. He died this morning under the most revolting circumstances, and with his death there was placed to the discredit of the State of New-York an execution that was a disgrace to civilization.169
Die erste elektrische Tötung im Auburn State Prison war ein Desaster; die New York Times kommentierte: Probably no convicted murderer of modern times has been made to suffer as Kemmler suffered. […] [The execution] was so terrible that the word fails to convey the idea.170
Von den Zeitgenossen – wie auch von der geschichtswissenschaftlichen Forschung – weniger beachtet wurde die Tatsache, dass die Kemmler-Exekution einem Ärzte-Kongress glich. Die Tötung wurde unter Leitung des New Yorker Psychiatrieministers Dr. Carlos F. MacDonald sowie des Neurologen Dr. Edward C. Spitzka durchgeführt; anwesend waren außerdem zwölf weitere Mediziner (s.u.), was die Medikalisierung der Todesstrafe wie kein zweites Faktum exemplifiziert. Gleichzeitig stellte die Tötung William Kemmlers unter der Aufsicht von 14 Ärzten die vierte und letzte Phase – ‚Interactional Level‘ bzw. Anwendung – in Peter Conrads Medikalisierungsmodell dar, womit die Medikalisierung des New Yorker Todesstrafensystems durch die Elektrotherapie mit der Kemmler-Tötung abgeschlossen war. Dr. George E. Fell gibt an, die Herstellung des endgültigen ‚elektrischen Stuhls‘ selbst veranlasst zu haben, nachdem der ‚Harold. P. Brown chair‘ bei allen beteiligten Experten durchgefallen war.171 Der elektrische Stuhl selbst war ‚an ordinary heavy oak arm-chair‘, dessen untere Rückenlehne entfernt war, um für die ‚spinal electrode‘ Platz zu machen. Über der Rückenlehne war ein ‚sliding arrangement shaped like a figure four (4)‘ angebracht, von dem die Kopfelektrode herunterhing; der Stuhl selbst war mit Lederriemen zur Fixierung versehen, für die allem Anschein nach die psychiatrischen Fixierstühle der NY State Hospitals Vorbild waren.172 169 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890. 170 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890. 171 Dr. Fell formuliert: ‚I explained to Gen. Austin Lathrop, superintendent of State prisons, my views relating to the features of the chair to be used.‘ (Fell, Influence on Protoplasm, 22). 172 Fell, Influence on Protoplasm, 5.
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Das Design der Elektroden befand sich laut Harold Brown ‚under the charge of some of the State physicians‘, womit Dr. Carlos F. MacDonald und Dr. Alphonse D. Rockwell von der Humane Capital Punishment-Kommission gemeint waren: The electrodes are circular, four inches in diameter. Each one is surrounded by a rubber cup […]. The electrodes are brass perforated plates covered with sponge […].173
Die wohl von Dr. Alphonse D. Rockwell nach Frederick Petersons Plänen entworfenen Elektroden entsprachen elektrotherapeutischen Schwammelektroden, die mit einem ‚rubber cup‘ umgeben waren und die – das war speziell – Öffnungen enthielten, durch die im Bedarfsfalle mit einer Pipette Kontaktmittel nachgefüllt werden konnte.174 Dr. Fell aus Buffalo engagierte sich auch hier, indem er die notwendigen Gummikappen (rubber cups) lieferte; das General Journal des Auburn State Prison listet für den August 1890: Dr. Geo. E. Fell
Rubber Cup
15,00 [$]175
Der elektrische Stuhl plus angeschlossenem Generator entsprach exakt dem von Dr. Peterson erstellten Konzept; einzig die Rückenelektrode war von MacDonald und Rockwell vom Bereich zwischen den Schulterblättern – so Petersons Vorschlag – zum Steiß verlegt worden, um nach dem Muster Alphonse D. Rockwells ‚central faradization‘ das gesamte Rückenmark zu affizieren. Die erste elektrische Exekution war ein Medien-Event der Superlative, das dem Saturday Globe zufolge dieselbe Aufmerksamkeit wie ein Präsidentschaftswahlkampf erfuhr.176 Die Western Union hatte am Bahnhof von Auburn ein temporäres Telegrafenamt eröffnet; bereits um vier Uhr morgens hatten sich 500 Menschen vor dem Auburn State Prison versammelt – und die Masse wuchs bald auf über tausend an: ‚Young men climbed telegraph poles and gazed eagerly toward the vine-clad prison.‘177
173 Fell, Influence on Protoplasm, 22. Zu den ‚State physicians‘, siehe: Becker Hearings, Vol. 2, 878/879. 174 Fell, Influence on Protoplasm, 22. 175 NY State Archives B1230: Auburn Prison, General Journal, 1888-1893, 289. 176 Brandon, Electric Chair, 181. 177 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890.
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Im Auburn State Prison betrat Direktor Durston Kemmlers Zelle, um das Todesurteil zu verlesen; anschließend wurde Kemmler in die ‚chamber of death‘ geführt.178 Der von Harold P. Brown beschaffte Westinghouse-Dynamo stand in einer Werkstatt ‚several hundred feet distant from the execution-room‘; der Dynamo wurde von dem Elektriker C. R. Barnes bedient, während Edwin F. Davis am Schaltpult stand. Harold P. Brown, nicht anwesend, war von Dr. Carlos F. MacDonald aufgrund seiner professionellen Defizite aus dem Todesstrafensystem exkludiert worden.179 Die anwesenden 25 Zeugen waren ausgesprochen nervös; kurz vor der Exekution hatte Gefängnisdirektor Durston die Meinung Dr. MacDonalds zur Länge des Schocks eingeholt: ‚I replied twenty seconds, but subsequently assented to ten seconds […].‘180 Der New Yorker Psychiatrieminister persönlich leitete die erste elektrische Exekution der Weltgeschichte. William Kemmler wurde auf dem Stuhl fixiert; als Edwin F. Davis den Schalter umwarf, krampfte jeder Muskel in Kemmlers Körper ‚to its highest tension‘: Drs. Spitzka and MacDonald stood in front of the chair, closely watching the dead or dying man. Beside them was Dr. Daniels, holding a stop-watch.181
MacDonald und Spitzka standen direkt vor dem Todesstuhl; nach einem 17sekündigen Schock wurde der Strom abgestellt und Direktor Durston signalisierte durch ein Glockensignal, dass der Generator in der Werkstatt heruntergefahren werden sollte. Etwa eine halbe Minute verging, ‚when there occurred a series of slight spasmodic movements of [Kemmler’s] chest, accompanied by the expulsion of a small amount of mucus from the mouth.‘182 William Kemmler lebte; einer der Reporter erlitt einen Zusammenbruch, ‚District Attorney Quimby groaned audibly‘ und verließ den Raum.183 178 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890. 179 MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 6; New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890. 180 MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 7. Zur Nervosität der Zeugen, siehe: MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 6. 181 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890. 182 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890; Carlos F. MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 8. 183 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890.
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Dr. Carlos F. MacDonald eilte zum Prison Shop, um das sofortige Wiederhochfahren des ‚deadly dynamos‘ zu veranlassen – was etwa zwei Minuten beanspruchte.184 Parallel saß William Kemmler auf dem funktionsunfähigen Todesstuhl; Dr. MacDonald formuliert: ‚The odor of the burning sponge was faintly perceptible in the room.‘185 Als der Generator wieder angelaufen war, applizierten die Anwesenden einen zweiten elektrischen Schock, doch dieser war mit 70 Sekunden viel zu lang: die Elektroden brannten aus, von der Rückenlehne stieg Rauch auf, William Kemmler war bei lebendigem Leib elektrisch verbrannt worden.186 Etwa drei Stunden nach der elektrischen Tötung folgte die Autopsie unter Psychiatrieminister Dr. Carlos F. MacDonalds persönlicher ‚supervision‘.187 Kemmlers Körper wurde von den Doktoren Spitzka, Shrady, Jenkins, Daniels und Fell obduziert, wobei sich die Autopsie insbesondere auf Gehirn und zentrales Nervensystem fokussierte.188 Prof. John A. Miller vom Medical Department der Niagara University erhielt Blutproben William Kemmlers zur mikroskopischen Analyse; die photomikroskopischen Aufnahmen des Blutes sieben Minuten nach der Tötung Kemmlers linker Schläfe entnommen, wiesen ‚[c]orpuscles markedly reduced in size […] and with irregularity of outline‘ auf.189
184 Die New York Times formulierte später: ‚[Dr. MacDonald] accidently went into the dynamo room and was promptly shoved out by somebody in there. This was during the interval between the first and second applications of the current to Kemmler.‘ (New York Times, The Kemmler Execution. 11. November 1890). 185 MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 8. 186 Carlos F. MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 8. 187 Carlos F. MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 9. 188 Carlos F. MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 9-13. 189 Fell, Influence on Protoplasm, 30 und 35.
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Abbildung 15 und Abbildung 16: Mikroskopische Vorher-Nachher-Aufnahmen des Blutes William Kemmlers. Links: Blutkörperchen aus der Wade Kemmlers, rund eine Stunde vor der elektrischen Exekution. Rechts: Blut aus der linken Schläfe Kemmlers, 7 Minuten nach dem Stromtod.
Gewebeproben William Kemmlers wurden an diverse medizinische Fakultäten New Yorks versandt; die Erkenntnisse zum Stromtod auf dem elektrischen Stuhl wurden später von EST-Psychiatern herangezogen, wenn ihre PatientInnen aus unbekannten Gründen nach der vermeintlichen ‚Elektroschocktherapie‘ verstarben.190 (siehe Kapitel: 6.3.3.) Die 14 bei der elektrischen Tötung William Kemmlers anwesenden Ärzte listen sich – in der von MacDonald angegebenen Reihenfolge – wie folgt: Dr. Louis Balch Dr. W. T. Nellis Dr. J. M. Jenkins Dr. W. T. Jenkins Dr. Henry A. Argue Dr. A. P. Southwick Dr. George F. Shrady
Dr. E. C. Spitzka Dr. Carlos F. MacDonald Dr. George E. Fell Dr. Joseph Fowler Dr. C. W. Daniels Dr. H. E. Allison Dr. T. K. Smith191
Mit Dr. H. Allison trat neben den lokalen Ärztenetzwerken und Medical Schools die letzte große – und in der Phase IV (Anwendung) zugleich wichtigste Ärzte-
190 Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid, Paralysis, Hallucinations, and Sudden Death. American Journal of Psychiatry, Vol. 106, No. 3 (1949), 210. Bildnachweise, Abbildungen 15 und 16: Fell, Influence on Protoplasm, 35. 191 Carlos F. MacDonald, Report on the Execution by Electricity, 4.
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Gruppe auf, nämlich die von Dr. MacDonald eingebundenen NY State HospitalPsychiater. Dr. Allison war als Dr. MacDonalds Protegé zum Medical Superintendent des Auburn State Hospitals for Insane Criminals avanciert, womit bei der ersten Elektroexekution nicht nur der NY State Commissioner in Lunacy, sondern auch ein NY State Hospital-Superintendent anwesend war – was die dichte dispositive Kohäsion der entstehenden ElektroMacht exemplifiziert. Das komplette Ärzte-Netzwerk bis 1890 inklusive Kemmler-Tötung und der an der histologischen Auswertung beteiligten Mediziner listet sich wie folgt: Dr. Alfred Southwick Dr. C. W. Daniels Dr. W.T. Nellis Dr. J. Mount Bleyer Prof. Ogden Doremus Dr. Cyrus Edson H. Haubold (stud. med.) Dr. F.W. Jones Prof. William Krauss Dr. J. M. Jenkins Dr. Henry A. Argue Dr. T. K. Smith Prof. John A. Miller
Dr. Joseph Fowler Dr. George E. Fell Dr. Frank H. Ingram Dr. Frank A. Ingram Dr. Chas. F. Stillman Prof. Charles Roberts Prof. Chas. Doremus Prof. S. H. Gage Dr. Louis Balch Dr. W. T. Jenkins Dr. George F. Shrady Dr. E. C. Spitzka Dr. H. E. Allison
Dr. Alphonse Rockwell Dr. Frederick Peterson Dr. Carlos F. MacDonald (Dr. Edward Tantum, Pennsylvania) (Prof. Dr. William Henry Howell, Baltimore) Inklusive der Tötung William Kemmlers waren mindestens 30 Ärzte in die Entwicklung des elektrischen Stuhls involviert, die Institutionen wie das NY State Board of Health oder distinguierte medizinische Fakultäten (Cornell, Niagara, John’s Hopkins, Columbia, Bellevue) vertraten – oder die, wie die Doktoren Jenkins und Fowler, Leichenbeschauer (Coroner) in NYC oder Buffalo waren. Zumindest Dr. Spitzka und Dr. Peterson hatten zu anthropometrischen Schädelvermessungen publiziert; Dr. Allison operierte als Chefarzt des Auburn Asylum for Insane Criminals im Zentrum staatlicher Gewalt, während Dr. MacDonald
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Ministerrang hatte – und als NY State Commissioner in Lunacy der ranghöchste Psychiater des Empire State war. Die Kemmler-Exekution aber war rundweg gescheitert; der zuständige New York Times-Reporter formulierte: As might have been expected, such of the so-called humanitarians as witnessed Kemmler’s fearful death still insist that their hobby will be a success ,under proper conditions.‘ [This] publication […] will probably prevent them from ever having another opportunity to prove their assertion.192
Im August 1890 war das Schicksal der angeblichen ‚elektrischen Euthanasie‘ für einen kurzen Moment wieder völlig offen.
192 New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August 1890.
5. Elektrischer Stuhl und psychiatrische Elektrotherapie, 1890-1940
5.1 D UALES S TRAFEN – D IE V EREINIGUNG DER ZWEI D ISPOSITIVE 5.1.1 Dr. Carlos F. MacDonald in der Todeskammer 5.1.1.1 Von Kemmler zu Loppy Allerspätestens mit der legalen Tötung des Mörders William Kemmler unter der Leitung Psychiatrieministers Dr. Carlos F. MacDonald begann sich auf Seiten des New Yorker Todesstrafensystems ein elektrisches Dispositiv zu konstituieren, das eng mit dem elektrischen Anstaltsdispositiv der psychiatrischen Elektrotherapie (elektrisches Dispositiv 1) korrespondierte. Dabei bezog das elektrische Dispositiv 2 nicht nur elektrophysiologische Episteme und sein federführendes Personal von der Anstalts-Elektrotherapie, sondern fand hier auch – elektrische Schocks in totalen Institutionen – seine generelle Folie vor, die es institutionell präfigurierte. Auch durch die Doppelfunktion Dr. Carlos F. MacDonalds begannen die beiden elektrischen Dispositive dann mit der Kemmler-Tötung zwischen den NY State Hospitals und den NY State Prisons zu oszillieren – und sich bis 1896 zur ElektroMacht aus paralleler elektrischer Züchtigung von Wahn und Kriminalität zu amalgamieren, die dispositiv in die Gesamtgesellschaft hineinwirkte. Direkt nach der in jeder Hinsicht desaströsen Tötung William Kemmlers brach unter den in Auburn versammelten Ärzten eine hitzige Debatte aus, die von gegenseitigen Schuldzuweisungen, aber auch von nachdenklichen Reformvorschlägen geprägt war. Dabei standen den Death Chair-Befürwortern wie George Fell und Alfred Southwick, der die erste elektrische Tötung als ‚[g]randest success of the age‘
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bezeichnete, Fundamental-Kritiker wie New York City-Leichenbeschauer Dr. Jenkins gegenüber, der formulierte, er würde lieber zehn Exekutionen am Galgen ‚than one such execution as this‘ bezeugen.1 Dr. George F. Shrady, der einflussreiche Herausgeber des ‚Medical Record‘, war der renommierteste Arzt, der die sofortige Wiederabschaffung des elektrischen Tötens forderte.2 Noch am Tag der Tötung verfasste George Shrady einen Artikel, in dem er formulierte, die medizinischen Wissenschaften hätten sich unter dem paradoxen Argument des humanen Tötens von einigen ‚world betterers‘ vom Kurs abbringen lassen; ‚cranks‘, ‚who imagined they could make legal murder a fine art‘.3 Zwischen Befürwortern und Fundamentalkritikern standen SpitzenNeurologe Dr. Edward C. Spitzka, Dr. Louis Balch, Chef des NY State Board of Health, und Lunacy Commissioner Dr. Carlos F. MacDonald, die den Fehlschlag eingestanden – aber dennoch am elektrischen Töten festhielten. Dr. Edward C. Spitzkas Aussage artikuliert die neue Qualität des ‚capital punishment by electricity‘ am besten: Never before have I felt as I do now. […] I have seen hangings that were immeasurably more brutal than this execution, but I have never seen anything so awful.4
Dr. Louis Balch vom New Yorker Gesundheitsamt widersprach Dr. Jenkins Angabe, aus Kemmlers Mund sei beim Atmen Rauch geströmt und formulierte dann das entscheidende Argument, um die Kemmler-Exekution in den Diskurs zivilisatorischer Empfindsamkeit einzuphasen: [F]rom the first shock the prisoner was virtually dead, suffered no pain, and had no return to consciousness.5
1 2
New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August, 1890. Dr. George Shradys ‚Medical Record‘ publizierte im Sommer 1888 Dr. Petersons Artikel zum Thema ‚Craniometry‘ und verhalf dem intellektuellen Vater des elektrischen Stuhls auf diese Weise zu einem prestigeträchtigen ‚kriminalbiologischen‘ Publikationserfolg.
3
New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August, 1890.
4
New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August, 1890. Unter dem Eindruck der ersten elektrischen Tötung forderte Dr. Edward C. Spitzka zunächst die Abschaffung des elektrischen Stuhls, wobei er diese Haltung allerdings schnell wieder revidierte.
5
New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August, 1890.
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Auf das Myographen-Argument des ‚quicker than a thought‘ rekurrierend, erläuterte Dr. Balch, William Kemmler sei vom ersten elektrischen Schock an ‚virtually dead‘ gewesen, was die Schmerzlosigkeit der ersten ‚elektrischen Euthanasie‘ nahelegte. Dr. Carlos F. MacDonald, als NY State Commissioner in Lunacy der politisch ranghöchste der involvierten Mediziner, gab sich nach der Tötung ausgesprochen nachdenklich: I don’t think that the execution was as successful as it should have been […]. When the execution was going on I could not find the official amount of voltage from the warden. […] The whole apparatus should be in the death chamber […]. Then the man in charge could see what was going on.6
Auch nach eigener Aussage war Psychiatrieminister Dr. Carlos F. MacDonald ‚the man in charge‘ der weltweit ersten Elektroexekution; trotz einiger Unzulänglichkeiten, so MacDonald weiter, habe das ‚Experiment‘ aber die Superiorität des elektrischen Stuhls über das Hängen bewiesen. Während der New York Times-Redakteur in Auburn vehement die Abschaffung des elektrischen Stuhls forderte, erschien in derselben Times-Ausgabe ein wohl in New York City verfasster Kommentar, der in eine gänzlich andere Richtung wies. William Kemmler habe nicht gelitten; hätte man den Strom nicht vorschnell abgeschaltet, wäre die Tötung ein ‚wonderful success‘ gewesen.7 Nach der Kemmler-Tötung hatte die professionelle Meinung Dr. Carlos F. MacDonalds eine besondere Relevanz, da der NY State Commissioner in Lunacy – und nicht der Superintendent of Prisons – dem New Yorker Gouverneur David. B. Hill persönlich über die erste elektrische Tötung berichtete, wobei MacDonald dem Gouverneur die Beibehaltung, aber auch die sofortige Wiederabschaffung des elektrischen Stuhls empfehlen konnte. Am 20. September 1890 legte Dr. MacDonald Gouverneur David B. Hill seinen ‚Report of Carlos F. MacDonald, M.D., on the Execution by Electricity of William Kemmler, Alias John Hart‘ vor, in dem er dem New Yorker Regierungschef die Beibehaltung des ‚capital punishment by electricity‘ empfahl. William Kemmler sei ‚duly‘ exekutiert worden; die nach dem ersten Stromschlag erfolgten leichten Bewegungen der Brust seien kein Beweis für die Rückkehr des Bewusstseins gewesen.8 Alles in allem sei die erste elektrische Tötung 6
New York Times, Far Worse Than Hanging. 7. August, 1890.
7
New York Times, A Bungling Experiment. 7. August 1890.
8
State of New York, Report of Carlos F. MacDonald, M.D., on the Execution by Electricity of William Kemmler, Alias John Hart – Presented to the Governor September 20, 1890. Albany, NY, 1890, 3 und 8. Die New York Times zelebrierte den MacDon-
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trotz kritischer Stimmen als ‚successful experiment‘ und ‚step in the direction of a higher civilization‘ zu werten; die aufgetretenen ‚defects of a minor character‘ könnten künftig abgestellt werden.9 Am 7. Juli 1891 versammelten sich elf hochrangige Mediziner, unter denen sich NY State Commissioner in Lunacy Dr. Carlos F. MacDonald, Elektrotherapeut Dr. Alphonse Rockwell sowie Dr. H. E. Allison, Superintendent des Matteawan State Hospitals for Insane Criminals – der Nachfolgeinstitution der inzwischen geschlossenen kleinen Forensik in Auburn – befanden, im Sing Sing State Prison, um die verurteilten Mörder James Slocum, Harris Smiler, Joseph Wood und Subihick Jugiro mit elektrischem Strom zu töten.10 Da eine ausführliche Berichterstattung über die Tötungen durch das sog. ‚Knebelgesetz‘ bzw. ‚gag law‘ verboten war, hatte Gefängnisdirektor Brown das Sing Sing State Prison hermetisch abgeriegelt und ein Flaggensystem erdacht, das – jedem Todeskandidaten wurde eine Bannerfarbe zugewiesen – die Journalisten vor dem Gefängnis durch das Hissen der jeweiligen Flaggen über die Tötungen informierte.11 Ärztlicherseits waren bei der Vierfach-Tötung anwesend: Dr. Alfred Southwick Dr. Alphonse Rockwell Dr. Franklin Townsend Dr. Henry Wilson Dr. H.E. Allison Dr. Carlos F. MacDonald
Dr. Charles Daniels Dr. Hiram Barber Dr. Samuel B. Ward Dr. L. V. Cortelyou Dr. Ira Van Gieson
ald-Bericht als ‚impartial and instructive paper‘. (New York Times, 9. Oktober 1890 (ohne Titel)). 9
MacDonald, Report on Kemmler Execution, 14.
10 New York Times, Four Men Die by the Law. 8. Juli 1891. 11 New York Times, Four Men Die by the Law. 8. Juli 1891. Der entsprechende Passus des Electrical Execution Law lautete wie folgt: ,No account of the details of any such execution, beyond the statement of the fact that such convict was on the day in question duly executed according to law at the prison shall be published in any newspaper.‘ (Bell, Electricity and the Death Penalty, 208) Das Gag Law ging auf die GerryCommission zurück, die in ihrem Bericht an das New Yorker Parlament die Einschränkung der – häufig recht reißerischen – Berichterstattung über staatliche Tötungen empfohlen hatte, da diese zum Aufbau von subversiven Heldenfiguren in den criminal classes führe. Mark Essig formuliert: ,The execution bill Gerry drafted tried to complete the movement that began with the shift to private executions in the 1830S.‘ (Essig, Edison & the Electric Chair, 122).
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Dr. Ira Van Gieson, ein als unstet, aber brillant beschriebener Neurohistologe der Columbia University, wurde von MacDonald 1896 zum ersten Direktor des ‚Pathological Institute‘ des NY State Hospital-Systems erhoben; die bald in NY State Psychiatric Institute umbenannte Großforschungseinrichtung avancierte schnell zum intellektuellen Gravitationszentrum der New Yorker Psychiatrie – und fungierte ab Sommer 1940 auch als Relaisstation der Einführung der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA.12 (siehe Abschnitt: 6.2) Damit waren bei der Vierfach-Tötung vom 7. Juli 1891 der NY State Commissioner in Lunacy, der Superintendent des Matteawan State Hospital for Insane Criminals sowie der spätere Direktor des NY State Psychiatric Institute anwesend, womit die administrativen Spitzen des NY State Hospital-Systems persönlich in der Todeskammer assistierten. Die vier Delinquenten wurden mit Spannungen von 1458 bis 1485 Volt getötet; die ‚spinal electrode‘ wurde von Dr. Carlos F. MacDonald und Dr. Alphonse Rockwell – eine Neuerung, die sich im 20. Jahrhundert durchsetzte – vom Steiß an den rechten Unterschenkel verlegt.13 James Slocum wurde durch einen 27-sekündigen und einen 26-sekündigen Schock getötet: […] [C]onsultation among the medical gentlemen present seemed to point to the unanimous feeling that it was quite possible that the long continuance of the current was not so important a factor […] as the sudden impact of making and breaking the contact, and for that reason the next execution was conducted a little differently.14
Die Ärzte begannen in der Todeskammer zu experimentieren; Harris Smiler wurde mit drei zehn-sekündigen Schocks und einem 19-sekündigen Schock getötet; Dr. Carlos F. MacDonald konkludierte: It would appear from this that the duration of the current was quite as important an item as the making and breaking of the contact.15
Joseph Wood wurde mit drei 20-sekündigen Schocks getötet: 12 New York Times, Dr. Ira Van Gieseon [sic!] Appointed. 24. Januar 1896. 13 Dr. MacDonald formuliert: ‚In all these cases one electrode was so applied as to cover the forehead and temples, and the other—a larger one—the calf of the right leg […].‘ (Carlos F. MacDonald, Report to Warden Brown, July 30, 1891 (ohne Titel). In: Electrical Executions (Editorial), Medico-Legal Journal, Vol. 9, No.1, 1891, 167). 14 MacDonald, Report to Warden Brown, 168. 15 MacDonald, Report to Warden Brown, 168.
144 | M EDIZINISCHE G EWALT [I]t was determined to make [the contacts] a little shorter in the next case.16
Subihick Jugiro erhielt drei 15-sekündige Schocks, nach denen ein schwacher Puls festgestellt wurde, der erst nach 15 Minuten erstarb.17 Dr. Carlos F. MacDonald folgerte aus den Versuchen, dass der Strom für 50 bis 60 Sekunden zu fließen habe; bedenklich sei, dass das Wasser in den Schwammelektroden zu kochen begänne. NY State Governor David B. Hill wurde von Sing Sing-Warden Brown telegraphisch über die ‚erfolgreiche‘ Vierfach-Tötung informiert, woraufhin er der New York Times erläuterte: This system of electrical execution has come to stay.18
Spätestens nach diesem Statement David B. Hills, für den eine Rückabwicklung der Todesstrafenreform eine politische Niederlage bedeutet hätte, war der elektrische Stuhl als neue Tötungsmethode fest etabliert. Nach den ersten fünf elektrischen Tötungen waren so gut wie alle New Yorker Zeitungen angeklagt, durch ihre detaillierte Berichterstattung gegen das ‚Knebelgesetz‘ verstoßen zu haben; die New York Times konterte bissig: That is not likely to deter any of them from printing all they can get concerning the next execution.19
Tatsächlich titelte die New York Times am 8. Dezember 1891, dem Tag nach der Tötung des Mörders Martin D. Loppy: ‚Scenes of Horror in Sing Sing Prison Death Chamber‘ und stufte das Geschehen als genauso ‚abstoßend‘ wie die Tötung William Kemmlers ein. Auch die sechste elektrische Tötung im Empire State führte nicht zu einem schmerzlosen Sekundentod; im Dezember 1891 deutete sich in NY erstmals das Schreckensszenario permanent scheiternder elektrischer Exekutionen an.
16 MacDonald, Report to Warden Brown, 169. 17 MacDonald, Report to Warden Brown, 169. 18 New York Times, A Success, Say the Witnesses. 8. Juli 1891. 19 New York Times, To Test the Chair Again. 2. Dezember 1891.
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Abbildung 17: Sing Sing State Prison, Verwaltungsgebäude mit dahinterliegendem Zellentrakt, um 1900.
Sing Sing Direktor Brown hatte das Gefängnis abermals hermetisch abgeriegelt;20 bei der Tötung Martin Loppys waren 14 Mediziner anwesend: Dr. Carlos F. MacDonald Dr. H. E. Allison Dr. Samuel B. Ward Dr. J. F. Barnes Dr. William Jenkins Dr. Wheelock Rider Dr. F. C. Hollister
Dr. Ira Van Gieson Dr. Hiram Barber Dr. J. Ransom Dr. Nathan E. Brill Dr. John C. Beekman Dr. W. E. Douglas Dr. Eugene Hodenpyl21
Der Mörder Martin Loppy wurde auf dem Stuhl fixiert; die New York Times dramatisiert:
20 New York Times, Gov. Hill’s Sixth Victim. 8. Dezember 1891. Bildnachweis, Abbildung 17: Sing Sing State Prison: http://www.loc.gov/pictures/resource/ggbain.13767/ (18.5.2013). 21 New York Times, The Official Story Now. 17. Dezember 1891.
146 | M EDIZINISCHE G EWALT Dr. MacDonald’s eyes dropped to his watch. He glanced at the doomed man. […] Dr. MacDonald […] nodded to the Warden, the switch was turned, and Loppy was struggling with death.22
Martin Loppy wurde mit vier Kontakten zwischen 10½ und 15½ Sekunden getötet; beim zweiten Kontakt brach ‚the left eyeball […] and the aqueous humor ran down the man’s cheek.‘23 Der zuständige New York Times-Reporter konkludierte entgegen der politischen Richtung seiner Zeitung, die Tötung sei grausamer als jede andere unter dem neuen elektrischen Hinrichtungsgesetz gewesen.24 NY State Commissioner in Lunacy Dr. Carlos F. MacDonald war nicht in der Lage, das Verfahren zu optimieren. Die Schwammelektroden brannten aus, die Zeugen waren verunsichert und die Opfer erlitten erhebliche Verbrennungen und zeigten alle Anzeichen schweren Leids. Von einem klinischen Sekundentod konnte keine Rede sein; ‚schneller als ein Gedanke‘, wie Elbridge T. Gerry 1889 formuliert hatte, war mit dem elektrischen Stuhl nicht zu töten. Entsprechend unternahm Dr. Carlos F. MacDonald einen letzten Versuch, die ‚euthanasia by electricity‘ zu optimieren. Bei der nächsten Tötung ließ er die von Thomas A. Edison vorgeschlagenen Beckenelektroden verwenden, um Verbrennungen zu vermeiden - und den tödlichen Strom über die Arme auf das Herz zu lenken. 5.1.1.2 Horror als Dauerzustand und erste De-Medikalisierungstendenzen Der Jahreswechsel 1891/92 brachte die Ablösung David B. Hills durch Gouverneur Roswell P. Flower, der in seiner Jahresbotschaft ausgiebig zum Thema ‚Execution by Electricity‘ Stellung bezog: ‚Expertenzeugen‘ hätten die neue Methode als befriedigend gewürdigt, da sie einen schnellen und schmerzlosen Tod produziere; das Berichterstattungsverbot sei aufzuheben, da die New Yorker To-
22 New York Times, Gov. Hill’s Sixth Victim. 8. Dezember 1891. 23 Carlos F. MacDonald, The Infliction of the Death Penalty by Means of Electricity – Being a Report of Seven Cases. In: New York Medical Journal, May 14, 1892, 508; New York Times, Gov. Hill’s Sixth Victim. 8. Dezember 1891. Die Times fährt fort: ‚There was a very perceptible smoking from the head electrode and considerable from the one of the leg. […] The sponges were burning out. […] A guard and one of the witnesses rushed from the room.‘ (ebda.). 24 New York Times, Gov. Hill’s Sixth Victim. 8. Dezember 1891.
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desstrafenreform weltweites Interesse errege und ‚secret methods of performing public duties‘ grundsätzlich skeptisch zu bewerten seien.25 Um die Installation von Flüssigelektroden vorzubereiten, war Dr. Alfred P. Southwick bereits im September 1891 mit Edisons Chef-Elektriker Arthur E. Kennelly in Kontakt getreten; Kennelly experimentierte an einem rohen Stück Fleisch, das er mit den beiden Enden in zwei Wannenelektroden platzierte – und das nach Anlegen des Stroms in der Mitte Feuer fing, während die Enden in den Wannen unversehrt blieben.26 Am 8. Februar 1892 traf NY State Commissioner in Lunacy Dr. Carlos F. MacDonald im Sing Sing State Prison ein, um die Hinrichtung des Raubmörders Charles McElvaine zu leiten; bei der elektrischen Tötung waren neun Ärzte anwesend: Dr. Ira Van Gieson Dr. Samuel B. Ward Dr. T. S. Robertson Dr. J. Marill Dr. J. Hasbrouck27
Dr. Carlos F. MacDonald Dr. L. A. Saxer Dr. Herbert F. Williams Dr. A. F. Carroll
Dr. Ira Van Gieson war die Autopsie zugedacht; außerdem war EdisonElektriker Arthur E. Kennelly dabei, der sich durch seine Versuche eine der begehrten Einladungen erarbeitet hatte.28 Dr. Carlos F. MacDonald hielt zunächst eine kurze Rede, in der er die neue Tötungstechnik erläuterte: It is proposed, gentlemen, to vary the method of contact in this case. The contact will be made through the hands and at the frontal process of the head, the hands being immersed in the cells which have been placed at the sides of the chair and filled with a warm solution of chloride of sodium.29
An den Seiten des elektrischen Stuhls waren zwei Beckenelektroden angebracht, in denen die Hände fixiert wurden und die zusammen den ersten Pol bildeten, während sich die zweite Elektrode an der Stirn befand, womit der Strom also 25 New York Times, Gov. Flower’s Message. 6. Januar 1892. 26 Essig, 260. Siehe auch: Alfred P. Southwick an Arthur Kennelly, 21. September 1891. The Edison Papers, General Letterbook Series, LB052357. 27 NY Evening Post, An Electric Execution – Mc’Elvaine Put to Death Instantly in Sing Sing Prison. 8. Februar 1892. 28 MacDonald, The Infliction of the Death Penalty, 541 und 509. 29 New York Evening Post, An Electric Execution. 8. Februar 1892.
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nicht, wie von Thomas A. Edison vorgeschlagen, ausschließlich über das Herz floss, sondern von den Händen zum Gehirn geleitet wurde. Charles McElvaine wurde zunächst mit ‚approximately 1,600 volts‘ bei 2 bis 3,1 Ampere durch die Beckenelektroden affiziert – doch der Versuch misslang.30 Die Ärzte entschieden sich blitzschnell für die alte Methode und nur 43 Sekunden später wurde McElvaine durch einen 36-sekündigen Kontakt (1500V, 7 Ampere) zwischen Kopf und rechter Wade getötet.31 Die Variante der Beckenelektroden war ebenfalls gescheitert; Dr. MacDonald musste auf die alte Methode zurückgreifen, ohne dass er den elektrischen Stuhl hatte optimieren können. Die Hinrichtung des Mörders Charles McElvaine war – bis zur Tötung des Präsidentenmörders Leon Czolgosz im Jahr 1901 – die vorerst letzte elektrische Exekution in Anwesenheit Dr. Carlos F. MacDonalds. Im Mai 1892 verfasste der NY State Commissioner in Lunacy dann einen Vortrag, der gleichsam sein Abschluss-Statement in Sachen ‚euthanasia by electricity‘ darstellte: The fact that the writer happens to be the only physician who […] witnessed all of the executions thus far had under the new law – not, however, from any zealous interest in the subject, nor even inclination to be present, but in obedience to the expressed desire of the chief executive of the State and other official superiors – furnishes the only excuse he
30 MacDonald, The Infliction of the Death Penalty, 508. Die NY Evening Post formuliert: ‚In a few seconds after the current was cut off by order of Dr. MacDonald, froth issued from the mouth, and almost simultaneously there was a quick gurgling exhalation and as quick a recovery, like a person strangling.‘ (New York Evening Post, An Electric Execution. 8. Februar 1892). 31 MacDonald, The Infliction of the Death Penalty, 509. Die Autopsieberichte, die Dr. Ira Van Gieson im Auftrag MacDonalds anfertigte, sind beschönigend ‚frisiert‘; MacDonald formulierte im Mai 1892 im New York Medical Journal bezüglich Spitzkas Kemmler-Autopsie: ‚[T]he ›cooked‹ appearance of the muscular tissue […] beneath the site of the electrode, and the […] so-called ›carbonized‹ state of the bloodvessels […] were due to the unduly prolonged second contact […]. All the subsequent autopsies […] were made by Dr. Ira Van Gieson, of the Pathological Laboratory of the College of Physicians and Surgeons […].‘ MacDonald hatte einen talentierten Pathologen angeworben, der die Autopsieberichte weniger kritisch als die Doktoren Spitzka oder Shrady verfasste – und den er im Gegenzug 1896 auf den zweithöchsten Posten des NY State Hospital-Systems (Direktor, Pathological Institute) hob. (MacDonald, The Infliction of the Death Penalty, 536, zu Van Giesons Autopsieberichten, siehe: MacDonald, Report to Warden Brown, 169-173).
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would offer for undertaking what otherwise might well be regarded as an undesirable task.32
Die ‚undesirable task‘, der Dr. Carlos F. MacDonald auch seinen politischen Aufstieg zum NY State Commissioner in Lunacy verdankte, sei aus humanitären Gründen notwendig gewesen; nach einer ausgiebigen Schilderung der weltweit ersten elektrischen Tötungen folgerte MacDonald: That a method of judicially inflicting the penalty of death in punishment of the crime of murder will ever be devised which in its operation shall be divested of that sense of awe and dread usually experienced […] is not to be expected; and even were it possible, the wisdom of such a method might well be questioned, so long as the welfare and protection of society require the infliction of such a penalty to deter men from committing murder.33
Statt des klinischen Sekundentods führt Dr. MacDonald erstmals ein gänzlich anders gelagertes Argument für den elektrischen Stuhl an, nämlich: dessen Abschreckungseffekt, womit die Konstruktion eines schmerzfreien elektrischen Tötungsgeräts gescheitert war. Nachdem im März 1892 in Sing Sing der italienische Einwanderer Jeremiah Cotto elektrisch getötet wurde, kam es Ende Juli 1893 im Auburn State Prison zur Katastrophe.34 Der Mörder William Taylor war auf dem Stuhl fixiert, doch während des ersten Kontakts riss die Fußstütze des elektrischen Stuhls ab: The body slipped perceptibly, and if the stout straps had not held it would have fallen upon the floor.35
William Taylor überlebte den ersten Stromschlag, doch als NY State Electrician Edwin F. Davis den Schalter für einen zweiten Kontakt umlegte, passierte nichts: eine Armatur des Westinghouse-Dynamos war ausgebrannt; während sich Taylor halb liegend auf dem Death Chair befand, musste NY State Electrician Davis den Anwesenden mitteilen, dass der Generator ad hoc nicht zu reparieren war. William Taylor – ‚now groaning aloud and moving his head from side to side‘ – wurde in den Nebenraum verbracht und mit Morphium sediert; eine Stunde spä-
32 MacDonald, The Infliction of the Death Penalty, 505. 33 MacDonald, The Infliction of the Death Penalty, 541. 34 New York Times, Five Currents Killed Him. 29. März 1892. 35 New York Times, Twice in the Death Chair. 28. Juli 1893.
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ter wurde Taylor durch einen Stromschlag aus dem Kraftwerk der Stadt Auburn exekutiert.36 Mit der Exekution William Taylors war das worst case scenario – Generatorenausfall nach dem ersten Schock – eingetreten, doch der elektrische Stuhl war längst zu einer allseits akzeptierten Realität geworden. Das vollständige Netzwerk der in die Konstruktion und Tests des elektrischen Stuhls von 1888 bis 1892 involvierten New Yorker Ärzte – ohne Dr. Tantum, Pennsylvania, Prof. Howell, Baltimore und Prof. Donaldson, Iowa – listet sich wie folgt: Dr. Alfred Southwick Dr. C. W. Daniels Dr. W.T. Nellis Dr. J. Mount Bleyer Prof. Ogden Doremus Dr. Cyrus Edson H. Haubold (stud. med.) Dr. F.W. Jones Prof. William Krauss Dr. J. M. Jenkins Dr. Henry A. Argue Dr. T. K. Smith Prof. John A. Miller Dr. L. A. Saxer Dr. Herbert F. Williams Dr. A. F. Carroll Dr. Hiram Barber Dr. J. F. Barnes Dr. John C. Beekman Dr. W. E. Douglas Dr. Eugene Hodenpyl Dr. Henry Wilson
Dr. Joseph Fowler Dr. George E. Fell Dr. Frank H. Ingram Dr. Frank A. Ingram Dr. Chas. F. Stillman Prof. Charles Roberts Prof. Chas. Doremus Prof. S. H. Gage Dr. Louis Balch Dr. W. T. Jenkins Dr. George F. Shrady Dr. E. C. Spitzka Dr. Samuel B. Ward Dr. T. S. Robertson Dr. J. Marill Dr. J. Hasbrouck Dr. Julius B. Ransom Dr. Nathan E. Brill Dr. Wheelock Rider Dr. F. C. Hollister Dr. F. Townsend Dr. L. V. Cortelyou
Dr. Alphonse Rockwell – Elektrotherapeut und Co-Erfinder der central faradization. Dr. H. E. Allison – Superintendent, Auburn/Matteawan State Hospital for Insane Criminals. 36 New York Times, Twice in the Death Chair. 28. Juli 1893.
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Dr. Ira Van Gieson – ab 1896: Direktor, NY State Psychiatric Institute. Dr. Frederick Peterson – Ex-Hudson River State Hospital-Oberarzt & Erfinder des elektrischen Stuhls. Dr. Carlos F. MacDonald – Präsident, NY State Commission in Lunacy & Vorsitzender der NY State Commission on Humane Capital Punishment. 48 teils hochkarätige Ärzte und ein Medizinstudent waren in die Konstruktion des elektrischen Stuhls eingebunden, was die ‚euthanasia by electricity‘ als genuin medizinische Erfindung ausweist. 5.1.2 Der Death Chair und die Verschärfung der Anstaltselektrotherapie 5.1.2.1 Die Batterienzahl verdoppelt sich Parallel zum Aufstieg des elektrischen Dispositivs auf Seiten des Todesstrafensystems begann sich die psychiatrische Elektrotherapie im NY State HospitalSystem massiv zu verschärfen, indem sich die zur Verfügung stehenden elektrotherapeutischen Batterien unter Psychiatrieminister Dr. Carlos F. MacDonald verdoppelten. Durch die vielfachen personellen, epistemischen und institutionellen Schnittmengen begann das elektrische Töten katalysierend auf die psychiatrische Elektrotherapie zurückzuwirken; die beiden elektrischen Dispositive verschmolzen sukzessive zu einer dispositiven ElektroMacht, die Wahn und Kriminalität dual elektrisch sanktionierte. Am 20. September 1891 traf sich die New York State Commission in Lunacy unter Leitung Dr. MacDonalds im Kapitol von Albany, um einheitliche Verwaltungsdokumente zu verabschieden, die künftig in allen NY State Hospitals wie dem Willard- oder auch dem Hudson River State Hospital zu verwenden waren. Im Vordruck des fortan obligatorischen ‚Physician’s Daily Report‘ folgte auf die Rubrik ‚Condition of sick‘ der Eintrag: ‚Special treatment (baths, electricity, massage, etc.)‘.37 Kurz nach Einsetzen der elektrischen Tötungen begann Lunacy Commissioner Dr. MacDonald die psychiatrische Elektrotherapie persönlich zu befördern, etwa, indem diese in den psychiatrischen New Yorker ‚Landeskrankenhäusern‘ künftig als wegweisende und fortschrittliche Spezialtherapie zu gelten hatte.
37 NY State Archives B 1491-96: State Commission in Lunacy Policy and Meeting Records, 1889-1932, Vol. 1, Verordnung, eingeheftet nach Seite: 191.
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1894 ließ MacDonald dann eine Umfrage unter den NY State HospitalSuperintendents durchführen, die dem New Yorker Psychiatrieministerium ihr medizinisches Gerät (‚medical appliances‘) auflisten sollten.38 Während das Binghamton- und das Rochester State Hospital keine elektrotherapeutischen Gerätschaften listeten, gab Middletown ‚1 galvono-Faradic battery; 1 Fleming’s battery; 1 Waite & Bartlett’s battery‘ sowie ‚1 electro-massage instrument‘ an, während St. Lawrence State Hospital diverse ‚faradic and galvanic batteries‘ aufführte. Das Willard State Hospital besaß ‚[o]ne galvanic battery, 2 Faradic batteries‘, das Buffalo State Hospital führte eine gewaltige ‚Barrett dry-cell galvanic battery (51 cells)‘ sowie eine ‚Barrett dry-cell Faradic battery (small)‘ plus ‚vaginal electrode‘ an und das Hudson River State Hospital, in dem sich die Elektrotherapie seit dem Weggang Dr. Frederick Petersons offensichtlich auf dem Niedergang befand, zählte ‚2 galvanic batteries (out of order); 1 Faradic battery (out of order); 1 galvano-Faradic battery (out of order)‘ auf, bei denen es sich um Petersons alte Batterien handelte, die mittlerweile verwaisten. 39 Das Matteawan State Hospital for Insane Criminals, das an der Schnittstelle der Doppel-Ausgruppierung ‚criminal insane‘ operierte, listete ‚batteries, faradic, 2; battery, galvanic, 1‘; Dr. H. E. Allison, der selbst an der elektrischen Tötung von sechs Kriminellen beteiligt gewesen war, betrieb in seinem forensischen NY State Hospital parallel also pönale psychiatrische Elektrotherapie, was auf die hohe Kohäsion der dualen ElektroMacht um 1894 verweist. Das Utica State Hospital listete: One McIntosh galvano-faradic battery (12-cell); 1 McIntosh faradic battery; 1 pocket battery (dry-cell); 1 vaginal electrode; 1 dental electrode; 1 urethral electrode; 1 wire brush electrode; 1 abdominal electrode.40
Auch durch MacDonalds Führungsposition wirkte der elektrische Stuhl katalysierend auf die psychiatrische Elektrotherapie zurück; während die Inventurlisten von 1885 elf elektrotherapeutische Batterien listeten, finden sich im NY State Hospital-System 1894 mindestens 21 Batterien, von denen die Mehrzahl ‚härtere‘ faradische waren:
38 NY State Commission in Lunacy, Sixth Annual Report. Albany, NY [?], 1895, 205. 39 NY State Commission in Lunacy, Sixth Annual Report, 205-211. 40 NY State Commission in Lunacy, Sixth Annual Report, 206.
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Tabelle 2: Elektrotherapeutische Batterien, NY State Hospital-System, 18851894 Jahr
1885
Utica
-
1894
k.A.
-
3
Willard
3
-
3
Middletown
1
-
3
k.A.
-
3
H.R.S.H.
5
-
(4)
Binghamton
1
-
0
Auburn / Matteawan
1
-
3
Rochester
Gründung später
-
0
St. Lawrence
Gründung später
-
2 oder mehr
11
-
21 oder mehr
Buffalo
Gesamt
1895 fragte Psychiatrieminister Dr. Carlos F. MacDonald dann direkt nach einer ‚itemized list of electro-therapeutical appliances‘ und bat die Chefärzte der NY State Hospitals gleichzeitig, den ‚value of electricity in the treatment of insanity‘ einzuschätzen.41 Das Utica State Hospital vermeldete dieselben drei Batterien, kommentierte allerdings, dass nur wenige PatientInnen von den elektrischen Anwendungen profitierten. Willard führte vier Batterien (eine Neuanschaffung) an, ohne die Elektrotherapie zu kommentieren; Middletown gab, wie gehabt, drei Batterien plus Massageinstrument an und lieferte ebenfalls einen skeptischen Kommentar.42 Das Buffalo State Hospital listete ‚[o]ne dry-cell Faradic battery (two cells); one dry-cell galvanic battery (fifty cells); one Barlett galvanic battery (twentyfour cells)‘ und ‚one Fleming battery‘ (zwei Neuanschaffungen), verhielt sich bezüglich der Elektrotherapie aber ebenfalls zurückhaltend:
41 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, Albany/New York City, 1896, 310. 42 Der Superintendent des Middletown State Hospitals formulierte: ‚We have experimented, to a limited extend, with electrical treatment for insanity in the years gone by, but with rather unsatisfactory results.‘ (NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 311).
154 | M EDIZINISCHE G EWALT We do not experience any particular special benefit from the use of electricity in insanity […].43
Das Hudson River State Hospital verwies auf ‚two or three old batteries, but they are out of order the greater part of the time‘; das Rochester State Hospital besaß nach wie vor keine Batterien, meldete allerdings dringenden Bedarf an: Among the insane, electricity, as used in cataphoric medication and electro-diagnosis, would seem to be of special value.44
Das Binghamton State Hospital, 1881 kurzzeitig von Dr. Carlos F. MacDonald geleitet, führte ‚three batteries‘ auf, die mit Erfolg verwendet würden: ‚I regard electricity as a valuable aid in the treatment of insanity.‘45 Das Matteawan State Hospital for Insane Criminals, das, soweit bekannt, einzige NY State Hospital, dessen Superintendent persönlich – und das mehrfach – in der Todeskammer assistierte, listete: One Faradic battery. One Jerome Kidder electro-magnetic machine. One thirty-six cell galvanic battery. One case electrodes, twenty-two pieces.46
Dr. Carlos F. MacDonalds Protegé Superintendent Dr. H. E. Allison kommentierte: [I]t has been our experience in observation that delusions of persecution have been found upon the use of electrical apparatus; so that great care has to be taken in its administration.47
Im Matteawan State Hospital for Insane Criminals entwickelten die PatientInnen aufgrund der schmerzhaften Elektrotherapie ‚Verfolgungswahn‘, was auf scharfe
43 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 311. 44 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 312. Zum Verweis des Hudson River State Hospitals, siehe: NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 311. 45 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 311. 46 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 312. 47 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 312/313.
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elektrische Schocks an der Schnittstelle der Doppelausgruppierung ‚criminally insane‘ verweist. Dr. Peter M. Wise, Superintendent des St. Lawrence State Hospitals und ab 1896 Dr. MacDonalds Amtsnachfolger als New Yorker Psychiatrieminister formulierte: The hospital possesses a Wimhurst-Holtz Static electrical machine of the latest construction; a stationary battery of fifty Leclanche cells, with carbon rheost[a]ts and galvanometers; four portable batteries of various types with the necessary electrodes.48
Neben dem Matteawan State Hospital for Insane Criminals war das St. Lawrence State Hospital zur Hochburg der Elektrotherapie im NY State Hospital-System aufgestiegen, nachdem Dr. Peter M. Wise von Dr. Carlos F. MacDonald mit der Evaluation der psychiatrischen Elektrotherapie für die gesamte New Yorker Psychiatrie beauftragt worden war.49 Die um 1895 im NY State Hospital-System vorhandenen elektrotherapeutischen Batterien listen sich wie folgt:
48 NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 312. 49 Einer der NY State Hospital-Superintendents formulierte: ‚[S]everal months ago […] it was decided to let the superintendent of the St. Lawrence State Hospital purchase a complete equipment and, after careful trial, report upon the value of electricity in the treatment of insanity.‘ (NY State Commission in Lunacy, Seventh Annual Report, 311) Dr. Peter M. Wises offizieller Bericht liegt nicht vor und kam aufgrund seiner Ernennung zu Dr. Carlos F. MacDonalds Nachfolger als NY State Commissioner in Lunacy im Jahr 1896 wahrscheinlich nie zustande.
156 | M EDIZINISCHE G EWALT
Tabelle 3: Elektrotherapeutische Batterien, NY State Hospital-System, 18851895 Jahr
1885
Utica
k.A.
-
3
3
3
-
3
4
Willard Middletown
-
1894
1895
1
-
3
3
k.A.
-
3
4
H.R.S.H.
5
-
(4)
2 oder mehr
Binghamton
1
-
0
3
Auburn / Matteawan
1
-
3
3
Rochester
Gründung später
-
0
0
St. Lawrence
Gründung später
-
2 oder mehr
Buffalo
Gesamt
11
-
21 oder mehr
6 28 oder mehr
Die Zahl der elektrotherapeutischen Batterien in den staatlichen New Yorker ‚Landeskrankenhäusern‘ nahm nach der Erfindung des elektrischen Stuhls deutlich zu; der zwischen 1888 und 1890 in New York entwickelte elektrische Stuhl wirkte katalysierend auf die lokale psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie zurück. 5.1.2.2 Pönale Elektrotherapie im St. Lawrence State Hospital 1896 gründete Dr. Carlos F. MacDonald das ‚State Hospitals Bulletin‘ (heute: Psychiatric Quarterly), das von der NY State Commission in Lunacy publiziert wurde – und mithin ganz seiner persönlichen Kontrolle unterstand: Editors, ex-officio: The PRESIDENT OF THE STATE COMMISSION IN LUNACY, The SUPERINTENDENTS OF THE STATE HOSPITALS, And the DIRECTOR OF THE PATHOLOGICAL INSTITUTE.50
Die Erstausgabe des ‚State Hospitals Bulletin‘ listete in der Inhaltsangabe folgende Artikel:
50 State Hospitals Bulletin – A Quarterly Report of Clinical and Pathological Work in the State Hospitals (for the Insane), and Their Pathological Institute. Vol. 1, Utica, NY, 1896.
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State Care and State Maintenance for the Dependent Insane in the State of New York. By Carlos F. MacDonald, A. M., M. D. The Stigmata of Degeneration. By Frederick Peterson, M. D. 51
The Use of Static Electricity in the Treatment of Insanity. By P. M. Wise, M. D.
In der ersten Nummer des ‚State Hospitals Bulletin‘ publizierten die administrativen und intellektuellen ‚Väter des elektrischen Stuhls‘ direkt hintereinander, woraufhin Dr. Peter M. Wises Artikel zur psychiatrischen Elektrotherapie folgte, was abermals die dichte dispositive Kohäsion der ElektroMacht um 1896 exemplifiziert. In seinem fachwissenschaftlichen Artikel zum Thema ‚The Use of Static Electricity in the Treatment of Insanity‘ fokussiert sich Superintendent Dr. Peter M. Wise auf die statische Reibungselektrizität, mit der er seine stationären PatientInnen elektrisch therapierte.52 Peter Wise schrieb der statischen Elektrizität ‚marked advantages‘ gegenüber galvanischen und faradischen Strömen zu: Its ease of administration, the pleasant and soothing effect of the frictional current, makes it also the least objectionable of the several forms for application.53
Die statische Elektrizität sei vergleichsweise schmerzfrei und galvanischen und faradischen Applikationen darüber hinaus durch die Dramatik ihrer Inszenierungsmöglichkeiten – die Reibungselektrizität erzeugte lange Funken - überlegen: Its use may be attended with dramatic skill that will stir up the slumbering senses to a realization of objective things. Nothing can divert a subjective mental state more effectually than an eight-inch spark; […].54
Dr. Peter M. Wise applizierte den ‚eight-inch spark‘ zur schmerzhaften ‚Konsolidierung der Lebensgeister‘ (Foucault); statische Elektrizität diente im St. Lawrence State Hospital 1896 zur elektrotherapeutischen Züchtigung des Wahns. 51 State Hospitals Bulletin, Vol. 1, iii. 52 Hierzu benutzte Dr. Wise eine ‚Wimhurst-Holtz Static electrical machine‘, die mit einem kleinen Elektromotor ausgestattet war, der einen Glaszylinder in Rotation versetzte, um auf diese Weise gleichmäßige Friktionselektrizität zu erzeugen. (Peter M. Wise, The Use of Static Electricity in the Treatment of Insanity. In: State Hospitals Bulletin, Vol. 1, Utica, NY, 1896, 331). 53 Wise, The Use of Static Electricity, 330. 54 Wise, The Use of Static Electricity, 330.
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Ein Farmer, ‚suffering from acute melancholia‘, ‚[a]lleged causes heredity‘, wurde im St. Lawrence State Hospital mit einer statischen ‚crown breeze‘, also einer elektrostatischen Applikation an den Kopf therapiert;55 einem älteren Patienten, bei dem eine chronische Melancholie diagnostiziert worden war, die Dr. Wise ebenfalls als vererbt (permanente qualitative Differenz) ansah, wurden zehnminütige elektrische Bäder appliziert: ‚During the first five minutes of application, patient’s hands trembled very noticeably but during the latter part of application became steady.‘ […] This evening started a conversation for the first time since admission.56
Wie bei der späteren ‚Elektroschocktherapie‘ wurden die PatientInnen durch elektrische Anwendungen gleichsam aufgeweckt, wobei Dr. Peter M. Wise einem depressiven Epileptiker auch faradische Elektroschocks an den Kopf applizierte: Commenced static electricity by daily séances of a static bath for 5 minutes, and a Faradic application to the crown for 10 minutes.57
Während in den drei NY State Prisons elektrische Exekutionen erfolgten, wurden in den NY State Hospitals faradische Schocks an den Kopf der hereditär ausgruppierten PatientInnen appliziert, was historisch die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ präfigurierte. Auch im Utica State Hospital wurde – spätestens ab 1897 – medizinische Elektrizität appliziert; der ‚Physician’s Daily Report‘ des Utica State Hospitals verzeichnet unter der Rubrik ‚Special treatment, operations, etc.‘: Electricity – Massage for melancholea […] patients.58 Massage + electricity used on [Ward] 7 for patients [Name], [Name], [Name] + [Name].59 [Name], [Name] electro-hydrotherapeutic treatment.60 55 Wise, The Use of Static Electricity, 332. 56 Wise, The Use of Static Electricity, 333. 57 Wise, The Use of Static Electricity, 332. 58 NY State Archives B1541: Utica State Hospital, Physician's daily reports, 1885-1902, 28. April 1897. 59 NY State Archives B1541: Utica State Hospital, Physician's daily reports, 1885-1902, 19. April 1897.
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DISPOSITIV | 159
Parallel zu den elektrischen Tötungen in den NY State Prisons verdoppelte sich die Zahl der elektrotherapeutischen Batterien in den NY State Hospitals; eine dichte dispositive ElektroMacht begann um New Yorks totale Institutionen zu flottieren - und als elektrische Strafandrohung dispositiv in die US-Gesellschaft hinein zu diffundieren.
5.2 D ER ELEKTRISCHE S TUHL VON 1896
BIS
1920
5.2.1 Der Aufstieg der ‚NY State Electricians‘ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte der Staat New York über drei separate Death Rows, die den Staatsgefängnissen Sing Sing, Auburn und Clinton/ Dannemora angegliedert waren: Das Auburn State Prison, berühmt für sein reformatorisches ‚Auburn System‘ (Schweigen, Arbeit, Einzelhaft), diente als Gefängnis West-New Yorks; mindestens bis 1846 wurden hier Körperstrafen (‚Paddled‘) oder scharfe KerkerHaft für Vergehen wie ‚Smoking‘, ‚Talking‘ oder ‚not doing his work‘ verhängt.61 Das Clinton State Prison in Dannemora, NY, war für den Norden New Yorks zuständig; das notorische Sing Sing State Prison, dreißig Meilen nördlich New York Citys gelegen, war das wichtigste New Yorker Staatsgefängnis, da es den Einzugsbereich der Great Metropolis bediente.62 Spätestens ab 1900 übernahmen die Gefängnisärzte sukzessive die Hauptverantwortung bei den elektrischen Tötungen; sie überwachten das Anlegen der Elektroden, gaben das Signal zum Umlegen des Schalters und befahlen – wie fast immer notwendig – einen zweiten oder dritten elektrischen Kontakt: ‚[…] Dr. Irvine signaled for another application of the current.‘63
60 NY State Archives B1541: Utica State Hospital, Physician's daily reports, 1885-1902, 12. März 1899. 61 NY State Archives A0780: Auburn Prison, Daily punishment reports 1836-1846. 62 Zahl der Insassen, Stichtag: 30. September 1900: Auburn State Prison: 1017; Clinton State Prison: 1050; Sing Sing State Prison: 1209; gesamt: 3276. (State of New York, Annual Report of the Superintendent of State Prisons, For the Year Ending September 30, 1900, 5) Zur Frühgeschichte der drei NY State Prisons, siehe: New York Times, Our State Institutions – No.I (Auburn), 11. November 1871; New York Times, Our State Institutions – VII. (Clinton), 2. Dezember 1871; New York Times, Our State Institutions – XIII. (Sing Sing Prison), 25. Dezember 1871. 63 New York Times, Buchanan Put to Death. 2. Juli 1895.
160 | M EDIZINISCHE G EWALT
Dr. Robert T. Irvine vom Sing Sing State Prison war Gefängnisarzt jenes New Yorker Staatsgefängnisses, in dem die meisten Exekutionen stattfanden. Hier war Dr. Robert Irvine an 64 Tötungen beteiligt, bevor er seinen Posten 1908 nach siebzehnjähriger Amtszeit wegen Korruptionsvorwürfen räumen musste.64 Das ‚Daily Log‘ des Prison Physician des Clinton State Prison in Dannemora, NY, gibt Hinweise auf den Arbeitsalltag der Gefängnisärzte zur Jahrhundertwende. Dr. Julius B. Ransom, der im Dezember 1891 an der Tötung des Mörders Martin Loppy partizipierte, verzeichnete für den 1. November 1898 einen ‚Daily Count‘ von 905 Insassen, von denen sich 41 um eine Behandlung bemühten. 39 wurden therapiert, zwei abgewiesen; von den 39 Behandelten wurden zwei krankgeschrieben und für den Tag von der Gefängnisarbeit freigestellt.65 Besondere Vorkommnisse waren Tod, Flucht, Verlegungen oder, mit Rotstift vermerkt, die Ankunft eines Todeskandidaten, wie hier im Juni 1899: ‚John Schmidt received from Columbia County for Murder 1st Deg. Sentence ›Death‹ July [1899]‘.66 Harold P. Browns ehemaliger Assistent Edwin F. Davis, wohnhaft in West Caton, NY, führte als NY State Electrician 240 elektrische Exekutionen durch, bevor er sich 1914 zur Ruhe setzte. Durch seine Sonderstellung als alleiniger elektrischer Henker New Yorks gelang es ihm, bedeutende Erfahrung zu sammeln, sodass er in der Todeskammer mit ihren komplexen Gerätschaften bald als unverzichtbar galt.67 Am 3. August 1897 konnte Edwin F. Davis beim United States Patent Office mit der Nummer 587,649 das erste Patent für den elektrischen Stuhl anmelden; von Dr. Carlos F. MacDonald angelernt, versuchte Edwin F. Davis allerdings nicht, den elektrischen Stuhl durch technische Verbesserungen zu demedikalisieren. Im Gegenteil: 64 New York Times, Says Electric Chair Kills. 3. Oktober 1908; New York Times,
Dr. Irvine Denies Sing Sing Charges. 30. September 1908. 65 NY State Archives: B1249. Clinton Prison, Physician's daily log of inmates received,
treated and discharged, 1898-1901. In der Nacht vom 1. auf den 2. November 1898 wurden sechs weitere Patienten behandelt; der Gefängnisarzt war also rund um die Uhr im Dienst (ebda.). 66 NY State Archives: B1249. Clinton Prison, Physician's daily log. Delinquent John
Schmidt wird im ESPY-File nicht als exekutiert aufgeführt und wurde folglich begnadigt. (Executions in the U.S. 1608-2002: The ESPY File Executions by State). 67 United States Patent Office, Edwin F. Davis, of West Caton, New York, Assignor of
One-Half to Quincy W. Wellington, of Corning, New York. Electrocution-Chair. No. 587,649, Patented Aug. 3, 1897; Banner, Death Penalty, 195.
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My object is to provide an apparatus which, while being efficient to carry out [sentences of electrocution], will make automatic registration of the various physical conditions of the criminal while he receives the electric current.68
Edwin F. Davis wollte den elektrischen Stuhl zu einem medizinischen Messinstrument verfeinern, das die Kontraktionen der verschiedenen Muskeln während des Stromtods exakt registrieren sollte. Dabei war Davis’ elektrischer Stuhl auch für nicht-letale medizinische Applikationen gedacht: Though mainly intended for the purpose described, my chair may be used in medical work in connection with less powerful currents, either for experimental purposes or in giving treatment.69
Knapp 35 Jahre vor der Geburt der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ mit ihrem Zentralprinzip des ‚Heilkrampfs‘ versuchte NY State Electrician Edwin F. Davis den elektrischen Stuhl zu einem Gerät zur Vermessung elektrisch induzierter Krämpfe zu verfeinern, was auf den dichten dispositiven Konnex von elektrischem Stuhl und der sog. ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ verweist. Prozess und Exekution des Anarchisten Leon F. Czolgosz, der am 6. September 1901 den US-Präsidenten William McKinley in Buffalo durch zwei Schüsse tödlich verwundete, stellte einen weiteren Höhepunkt der diskursiven Verflechtung von Psychiatrie und Todesstrafe dar, da sich die medizinischen Eliten in diesem spektakulären Fall noch einmal selbst reaktivierten.70 Der Prozess Leon Czolgosz’ fand Ende September 1901 in Buffalo statt; in Vorbereitung der Verhandlung hatte der zuständige Staatsanwalt drei Ärzte beauftragt, den Geisteszustand des Präsidentenmörders zu evaluieren: [Czolgosz] is not to be classed as a degenerate, because we do not find the stigmata of degeneration: his skull is symmetrical; his ears do not protrude, nor are they of abnormal size, and his palate is not highly arched. […] He is the product of anarchy, sane and responsible.71
68 US Patent Office, Edwin F. Davis, Electrocution-Chair. No. 587,649, Patented Aug. 3,
1897, 1. 69 US Patent Office, Edwin F. Davis, Electrocution-Chair. No. 587,649, Patented Aug. 3, 1897, 2. 70 New York Times, President Shot at Buffalo Fair. 7. September 1901. 71 New York Times, Czolgosz Not Insane. 3. November 1901.
162 | M EDIZINISCHE G EWALT
Anthropometrisch-kraniologische Vermessungen gehörten um die Jahrhundertwende zu den Standardprozeduren der Rechtsfindung; da Leon Czolgosz keine markanten Merkmale hereditärer ‚Degeneration‘ aufwies, musste er ‚normal‘ – und damit schuldfähig sein. Der von Czolgosz’ Verteidigern zu einem Gegengutachten hinzugezogene Psychiater war niemand anderes als Dr. Carlos F. MacDonald, der in Orange County, NY, mittlerweile ein Luxus-Asyl für reiche PsychiatriepatientInnen betrieb.72 Dr. Carlos F. MacDonald hielt Czolgosz ebenfalls für schuldfähig; Czolgosz, der den US-Präsidenten vor diversen Zeugen kaltblütig erschossen hatte und sich darüber hinaus selbst als ‚Anarchisten‘ bezeichnete, wurde in einem zweitägigen Prozess zum Tode verurteilt, wobei selbst Dr. MacDonald konstatierte, dass von Seiten der Jury eine ‚mental reservation‘ gegenüber des Attentäters bestand und dass so gut wie keine Verteidigung stattgefunden habe.73 Parallel wurde Dr. Carlos F. MacDonald von dem neuen Superintendent of Prisons, Cornelius V. Collins, als ‚the principle attending physician at the execution‘ installiert.74 Die Tötung des Präsidentenmörders fand am 29. Oktober 1901 im Auburn State Prison statt; Ex-Lunacy Commissioner MacDonald befand sich abermals in der Todeskammer, während Dr. Frederick Peterson, der sich nach seiner affirmativen Aussage auf den Becker Hearings vollständig aus dem Todesstrafendiskurs zurückgezogen hatte, am 13. Mai 1901 zum dritten Präsidenten der NY State Commission in Lunacy avanciert war.75 Dr. MacDonald beschreibt die elektrische Tötung Leon Czolgosz’ wie folgt: Two electrical contacts were made […]. In the first contact the electromotive pressure was maintained at 1800 volts for seven seconds, then reduced to 300 volts for twenty-three seconds, increased to 1800 volts for four seconds and again reduced to 300 volts for twen72 Carlos F. MacDonald, The Trial, Execution, Autopsy and Mental Status of Leon F. Czolgosz, Alias Fred Nieman, the Assassin of President McKinley. In: Journal of Mental Pathology, Vol. 1, Nos. 4-5 (December 1901, January 1902) 183; New York Times, Alienist Examines Czolgosz for Defense. 22. September 1901; Dr. MacDonald’s House – Formerly ‚Falkirk‘. Booklet, NY Academy of Medicine, Call Number: 58466. 73 MacDonald, The Trial, 183, zum Prozess, siehe: MacDonald, The Trial, 181-184. 74 New York Times, Plans for Execution of Assassin Czolgosz. 28. Oktober 1901. Vor der Tötung kam es zwischen MacDonald und Superintendent Collins zu einem Zwist um das Gehirn des Mörders, das MacDonald für kriminalbiologische Untersuchungen nach NYC mitnehmen wollte, was Collins verbot (ebda.). 75 New York Times, New Lunacy Commissioner. 14. Mai 1901.
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ty-six seconds […]. The second contact […] was maintained at 1800 volts for five seconds.76
Dr. Carlos F. MacDonald leitete den praktischen Teil der Tötung, während NY State Electrician Edwin F. Davis den Strom applizierte; bereits bei der Tötung der Mörderin Martha Place im März 1899 war der Strom zwischen den Schocks nicht mehr gänzlich abgestellt, sondern nur auf 300 Volt reduziert worden – eine Neuerung, die wohl auf Edwin F. Davis zurückging.77 Die Czolgosz-Autopsie wurde von Dr. Carlos F. MacDonald und dem jungen Dr. Edward A. Spitzka, Sohn Dr. Edward C. Spitzkas (Kemmler-Tötung), durchgeführt, der sich in der Folge zu einem enthusiastischen Befürworter der elektrischen Todesstrafe entwickelte. Dr. Edward A. Spitzka war Professor am College of Physicians and Surgeons der Columbia University und gehörte somit zum medizinischen Establishment; als überzeugter ‚Kriminalbiologe‘ vermutete der Gehirnanatom die Ursachen von Wahn und Kriminalität in hereditärer Rückständigkeit bzw. ‚Degeneration‘. Nach der Tötung Leon Czolgosz’ vermaß Dr. Edward A. Spitzka gewissenhaft den Kopf des Präsidentenmörders; anschließend wurde Czolgosz’ 1460 Gramm schweres Gehirn entnommen, das Spitzka auf hirnanatomische Abweichungen analysierte: So far as our knowledge of the correlation of brain-structure and brain-function extends, nothing has been found in the brain of this assassin that would condone his crime for the 78
reason of mental disease due to intrinsic cerebral defect or distortion.
An Gehirn und Schädel Leon Czolgosz’ waren keine ‚degenerativen‘ Abweichungen nachzuweisen; die ‚Kriminalbiologen‘ blieben ratlos zurück. 1908 publizierte Edward A. Spitzka dann einen kurzen Artikel zum Thema ‚Infliction of the Death Penalty by Electricity‘, der weitere Einblicke in die ärztliche Rolle bei elektrischen Tötungen erlaubt:
76 MacDonald, The Trial, 185. 77 MacDonald, The Trial, 184-185; New York Times, Mrs. Place Put to Death. 21. März 1899. 78 Edward A. Spitzka, The Post-Mortem Examination of Leon F. Czolgosz. In: Journal of Mental Pathology, Vol. 1, Nos. 4-5 (December 1901, January 1902), 206. Zur Kopf- und Schädelvermessung, siehe: Spitzka, The Post-Mortem Examination of Leon F. Czolgosz, 196-198.
164 | M EDIZINISCHE G EWALT The physician in charge observes the respiratory movements of the prisoner and signals to the electrician at a moment when the lungs contain the minimum quantity of air. At the moment that the contact is made the criminal's body stiffens in a state of tonic muscular spasm, restrained by the straps.79
Der ‚leitende Arzt‘ überwachte die Atmung und gab dem NY State Electrician das Signal zum Töten; bezüglich der Todesstrafe, so Spitzka weiter, sei jede Sentimentalität fehl am Platze.80 5.2.2 ‚Eugenik‘ und das Sing Sing State Prison als zentrale Tötungsanstalt Die rassistische Komponente der US-amerikanischen Todesstrafe gilt in der Forschung als gesichert; Stuart Banner formuliert: [T]he racial pattern of capital punishment in the South closely resembled that of lynching. Of the 771 people of identified race known to have been executed for rape between 1870 and 1950, 701 were black.81
Dieser generelle Zuschnitt der Todesstrafe erlaubt die Hypothese, dass die ‚euthanasia by electricity‘ - zumindest temporär - auch als (elektro-) medizinische Reinigung des ‚body politic‘ fungierte.82
79 Edward A. Spitzka, Observations Regarding the Infliction of the Death Penalty by Electricity. In: Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. 47, No. 188 (Jan. - Apr., 1908), 42. 80 Spitzka, Observations, 47. Spitzka formuliert weiter: ‚Our administration of justice has degenerated into a sort of ›rose-water penology.‹ […] The death penalty is a necessity and must not be abolished, else all discipline of society will be relinquished.‘ (Spitzka, Observations, 49) Spitzka feierte die Todesstrafe als Garant der Zivilisation, um selbst weiter an der Macht des legalen Tötens zu partizipieren. 81 Banner, Death Penalty, 230. Zur rassistischen Applikation der Todesstrafe generell, siehe: Banner, Death Penalty, 228-230. 82 Zum in den 1960er Jahren aufgenommenen Kampf des eng mit der ‚National Association for the Advancement of Colored People‘ (NAACP) affiliierten ‚Legal Defense Fund‘ gegen die Todesstrafe, siehe: Martschukat, Geschichte der Todesstrafe, 130135, zu den rassistischen Lynchings im Old South: Martschukat, Geschichte der Todesstrafe, 66-80.
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Bereits Ende 1899 publizierte die New York Times unter dem Titel ‚To Exterminate Criminals‘ einen kurzen Artikel, der die Tötung der gesamten USamerikanischen Gefängnispopulation mit Chloroform forderte: At a meeting of the Chautauqua Circle to-night, after a lecture on Socialism, the Rev. C. F. Wixon […] declared that as one of the solutions of puzzling economic problems, the criminal classes would eventually have to be exterminated. He did not think it right that the support of 100,000 criminals should be saddled on taxpayers. When asked how he would exterminate them, he declared he favored chloroform after two grave offenses.83
Die Gefängnispopulation sei aus ökonomischen Gesichtspunkten zu annihilieren; später allerdings machte Reverend Wixon eine weitere Bemerkung, die den ökonomischen Aspekt als Scheinargument entlarvte: [W]hen a man is twice convicted of grave crime he ought to be exterminated, because crime is hereditary.84
Reverend Wixon ging es nicht um Steuergelder, sondern um ‚Eugenik‘; durch die staatliche Tötung der Kriminellen sollte der – in Lingua Tertii Imperii – ‚Volkskörper‘ von schlechten Erbanlagen gereinigt werden. Die ‚Eugenik‘, so Jeremy H. Baron, ‚was warmly welcomed in the United States‘; zur Jahrhundertwende gab es in den USA bereits 70 eugenische Institute und Vereine.85 Im Jahr 1904 gründete der Biologe Charles Davenport auf Long Island, NY, dann die von Rockefeller und Carnegie unterstützte ‚Station for Experimental Evolution‘ und 1910 das mit 500.000$ finanzierte ‚Eugenic Record Office‘, das u.a. die Eugenical News publizierte, womit in New York eine wis-
83 New York Times, To Exterminate Criminals. 4. November 1899. Die Chautauqua war eine der ‚Volkshochschule‘ vergleichbare Laienbewegung. 84 Davenport Weekly Leader, Would Exterminate Criminals. 21. November 1899. Gleichzeitig forderte Wixon, der sich offensichtlich auf der linken Seite des politischen Spektrums befand, eine entschlossene Regulierung der ‚profits of trusts‘ (ebda.). 85 Jeremy H. Baron, The Anglo-American Biomedical Antecedents of Nazi-Crimes – An Historical Analysis of Racism, Nationalism, Eugenics, and Genocide. Lewiston, NY [u.a.], 2007, 61-62.
166 | M EDIZINISCHE G EWALT
senschaftlich-rassistische Infrastruktur bedeutender propagandistischer Durchschlagskraft entstand.86 Vor dem Hintergrund der aufkommenden Eugenik hatte der Arzt Dr. W. Duncan McKim bereits im Jahr 1900 eine massive Ausweitung der Todesstrafe gefordert: The enormity of these criminal lives is such that there is urgent need for their early extinction. […] [A]ll such, speaking generally, should receive the death sentence.87
McKim forderte die frühe Auslöschung aller Wiederholungstäter, wobei die Todesstrafe als medizinisches Instrument der Reinigung des ‚body politic‘ von gefährlicher Kriminalität fungieren sollte.88 Stewart Banner schreibt: The early twentieth century was the heyday of eugenics in the United States, but the death penalty was never widely perceived to have a eugenic basis.89
Ein allzu schönfärberisches Statement, das angesichts der oben zitierten anderslautenden Forderungen zu relativieren ist. Ab 1911 geriet das ‚capital punishment by electricity‘ im Empire State dann plötzlich in Gefahr: Der am 1. Januar 1911 inaugurierte demokratische NY State Governor John Alden Dix drängte Superintendent of Prisons Cornelius V. Collins aus dem Amt und installierte als dessen Nachfolger mit Colonel Joseph F. Scott einen erklärten Todesstrafengegner als ‚Strafvollzugs-Minister‘.90 Anfang 1912 bezog Gouverneur Dix dann auch persönlich gegen die Todesstrafe Stellung, deren Abschaffung er so auf seine politische Agenda hob: ‚I think the ends of justice would be better met by abolishing capital punishment […].‘91
86 Baron, Biomedical Antecedents of Nazi-Crimes, 64, siehe auch: Nancy Ordover, American Eugenics – Race, Queer Anatomy, and the Science of Nationalism. Minneapolis/London, 2003. 87 W. Duncan McKim, Heredity and Human Progress. London/New York, 1900, 192. 88 Für den Hinweis auf das medikalisierte Töten als medizinische Reinigung des body politic sei an dieser Stelle Uta Balbier gedankt. 89 Banner, Death Penalty, 213. Die höheren Beamten in Sing Sing waren um 1915 Anhänger der Environment-Theorie und lehnten sowohl Lombrosos Kriminalbiologie wie auch die Todesstrafe als Ganzes ab. (siehe Kapitel: 5.4.1). 90 New York Times, State Prison Head Resigns His Office. 27. April 1911; New York Times, State Prison Frauds May Lead to Suits. 12. Juni 1911. 91 New York Times, Dix Against Death Penalty. 12. Januar 1912.
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NY State Governor John A. Dix und der neue Superintendent of Prisons gaben sich keinerlei Illusionen hin, dass die Legislative in Albany das Todesstrafenstatut abschaffen würde, installierten in Sing Sing mit dem neuen Warden John S. Kennedy aber einen Gefängnisdirektor, der ebenfalls ein Gegner der Todesstrafe war. Die New York Times berichtete im November 1911 von einer elektrischen Dreifach-Hinrichtung: [Warden] Kennedy was present, but turned his back to the chair in each case and did not witness the death struggles of any of the murderers.92
Durch die Einsetzung John S. Kennedys als Direktor des Sing Sing State Prisons war die paradoxe Situation entstanden, dass ein Abolitionist rechtlich für den Vollzug der Todesstrafe verantwortlich war, deren Vollstreckung zu seinen Dienstpflichten gehörte.93 1912 publizierte Dr. Edward A. Spitzka gemeinsam mit dem Histologen Dr. Henry E. Radasch einen Artikel zum Thema ‚Brain Lesions Produced by Electricity As Observed After Legal Electrocution‘, in dem die Autoren ihre Forschungen an den Gehirnen von fünf elektrisch exekutierten Kriminellen präsentierten.94 Spitzka und Radasch fertigten histologische Schnitte der Gehirne zur mikroskopischen Analyse an, die als Befund deutliche Läsionen aufwiesen: A general examination of the slides thus prepared revealed at all levels peculiar areas, varying in size and number. These areas, unlike anything ever seen before by the authors, are circular in outline, ranging in diameter from 25 to 300µ. […] The maximum number of lesions are found in the most constricted parts of the brain stem in the path of the current […].95
92 New York Times, Three Die in Electric Chair. 21. November 1911. 93 Auch in der Folgezeit ging bedeutender bürokratischer Widerstand gegen die Todesstrafe von Sing Sing aus, wobei sich die Renitenz gegen das staatliche Töten unter Gefängnisdirektor Thomas M. Osborne noch verschärfte, indem Osborne Reden gegen die Todesstrafe hielt und das Gefängnis demonstrativ vor einer anstehenden Tötung verließ. (Denis Brian, Sing Sing – The Inside Story of a Notorious Prison. Amherst, NY, 2005, 85; Banner, Death Penalty, 221). 94 Spitzka/Radasch, The Brain Lesions Produced by Electricity As Observed After Legal Electrocution. In: American Journal of the Medical Sciences, Vol. CXLIV (1912), 341. 95 Spitzka/Radasch, Brain Lesions, 341 und 347.
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Spitzka und Radasch stellten an den Gehirnen Exekutierter kleine runde Läsionen fest. Diese ähnelten den später an Gehirnen von EST-PatientInnen gefundenen Läsionen, nachdem die PatientInnen – was äußerst selten vorkam – nach der EST plötzlich verstarben (siehe Kapitel: 6.3.3). Kurz nachdem die Einwanderung in die USA ihren Zenit überschritten hatte, titelte die New York Times im August 1912 dann mit einer Schlagzeile, die deutlich auf die rassistische Anwendung der Todesstrafe verweist: Seven Put To Death In Hour At Sing Sing […] Six Italians and One Negro96
Dem ‚Death House Receiving Blotter‘ des Sing Sing Prison zufolge wurden von den 100 zwischen 1914 und 1921 einsitzenden Death Row-Insassen 59 exekutiert; 41 wurden entweder begnadigt/ihr Urteil umgewandelt oder sie wurden ins Dannemora State Hospital for Insane Criminals transferiert. Von den 100 Death Row-Insassen waren 38 in den USA geborene Weiße, von denen 13 (34%) begnadigt wurden; zehn waren Schwarze, von denen 5 (50%) begnadigt wurden. Italiener stellten mit 24 die zweitgrößte Gruppe der Todeskandidaten dar; von den 24 in Italien geborenen Insassen wurden zehn exekutiert, 12 (50%) wurden begnadigt, einer beging Selbstmord, einer starb im Death House vor dem Vollzug der Todesstrafe.97 Bis 1913 hatten 26 US-Bundesstaaten eugenische Heiratsgesetze erlassen, die entsprechende Verbindungen zwischen einigen Ethnien für null und nichtig erklärten. Parallel sanktionierten die Gesetze auch Kontakte zwischen selbsternannter ‚good pedigree‘ und Ausgruppierten des eigenen Volks, sodass 24 Staaten die Heirat eines Psychiatriepatienten, 21 die von geistig Zurückgebliebenen und einer die von habituellen Kriminellen verboten.98
96 New York Times, Seven Put to Death in Hour At Sing Sing. 13. August 1912. 97 NY State Archives B0147: Sing Sing Prison, Admission registers for prisoners to be executed, 1891-1946. Die Zählung erfolgte ab Robert Kane, Nummer: 64775, der am 15. Februar 1915 exekutiert wurde und endet bei Frederick W. Lehman, Nummer 71722, der im Mai 1921 in das Dannemora State Hospital for Insane Criminals transferiert wurde. Bei dreien der ersten 100 Einträge sind einige Angaben unklar; diese Einträge wurden übersprungen, sodass die ersten 103 Einträge ausgewertet wurden. 98 der Death Row Inmates waren Männer, zwei waren Frauen, die beide (100%) begnadigt wurden. 98 Baron, Biomedical Antecedents, 108.
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Diese Biopolitik der progressiven medizinischen Vermachtung schlug sich auch in eugenischen Sterilisationsgesetzen nieder, die die Zwangssterilisationen primär von PsychiatriepatientInnen und Kriminellen verfügten.99 New York erließ am 16. April 1912 ein eugenisches Sterilisationsgesetz, das allerdings 1918 für verfassungswidrig erklärt wurde.100 Das Gesetz richtete sich primär gegen die Insassen von NY State Hospitals und NY State Prisons; die Sterilisationen wurden von einem Board of Examiners verfügt, das aus drei Ärzten bestand. Das Gesetz wurde in NY jedoch kaum umgesetzt; bis 1920 wurden im Gowonda State Hospital und im Buffalo State Hospital 41 Frauen und ein Mann aus eugenischen Gesichtspunkten sterilisiert.101 1916 wurde das elektrische Töten im Sing Sing State Prison zentralisiert; während die NY State Prisons in Dannemora und Auburn entlastet wurden, avancierte Sing Sing am Hudson River zur zentralen Tötungsinstitution des Empire State, in der fortan alle elektrischen Exekutionen durchgeführt wurden.102
99
Baron, Biomedical Antecedents,124-128. Bis 1937 erließen 30 US-Bundesstaaten entsprechende Gesetze; bis 1969 wurden in den USA 60.926 Menschen unter eugenischen Gesichtspunkten sterilisiert, wobei 20.011 Unfruchtbarmachungen allein auf Kalifornien entfielen. (Baron, Biomedical Antecedents, 127).
100 http://www.uvm.edu/~lkaelber/eugenics/NY/NY.html (18. Juni 2012). 101 http://www.uvm.edu/~lkaelber/eugenics/NY/NY.html (18. Juni 2012). E.S. Gosney und Paul Popenoe beschrieben die ‚Zuchtwahl‘ als ‚Hauptgebiet der Sterilisierung‘ und legten als primäre Zielgruppe für den Eingriff die ‚Dementia Praecox‘PatientInnen fest. (Gosney/Popenoe, Sterilisierung zum Zwecke der Aufbesserung des Menschengeschlechts. Berlin/Köln, 1930, 65 und 67-68). 102 Amos O. Squire, Sing Sing Doctor. Garden City, NY, 1935, 197.
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Abbildung 18: Die alte Todeskammer des Sing Sing State Prison um 1915. Mitte links: Die electrician’s niche, von der aus der jeweilige Staatselektriker den elektrischen Stuhl bediente.
Am Morgen des 13. Juni 1918 zählte der Oberaufseher des Sing Sing State Prison 1.116 Insassen, von denen sich 20 in den ‚Condemned Cells‘ befanden; unter der Rubrik ‚Occurences‘ vermerkte er: Electrocution: Alvah Briggs – 11.12 Stephen Lischuk – 11.24 Hyman Ostransky 11.38.103
Im Sommer 1918 war das elektrische Töten im Sing Sing State Prison längst zu einer professionell gehandhabten bürokratischen Routine geworden.
103 NY State Archives B1238: Sing Sing Prison, Principal Keeper’s Daily Journal, 1917-1918, 13. Juni 1918. Die Zahlen geben die Uhrzeit der elektrischen Tötung an. Bildnachweis, Abbildung 18: http://www.loc.gov/pictures/resource/cph.3a36054/ (17. Mai 2013).
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5.3 P SYCHIATRISCHE E LEKTROTHERAPIE
BIS
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1920
Parallel zu den elektrischen Tötungen wurde in den NY State Hospitals weiter mit pönalen elektrischen Anwendungen therapiert. Gleichzeitig schlug sich die ElektroMacht auch im Wahn der PsychiatriepatientInnen nieder: ‚[S]ilent and sits in rather fixed attitude; electricity in head and chair […].‘104 Knapp 25% aller Wahnbilder der NY State Hospital-Population hatten direkt mit Elektrizität zu tun, die meist als bedrohliches Agens der öffentlichen Ordnung auftrat, was die hohe dispositive Kohäsion der ElektroMacht auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts exemplifiziert (s.u.). Im Utica State Hospital, wo man 1897 u.a. hydroelektrische Bäder applizierte, wurde die Elektrotherapie um 1900 ausgeweitet; Acting Superintendent Dr. Harold L. Palmer schrieb im Annual Report für 1899 unter der Rubrik ‚Improvements‘: A Wilmshurst-Holtz [sic!] static electrical machine has been constructed by the electrician and is now in operation on the wards for the treatment of patients.105
1901 kommentierte Dr. Harold L. Palmer, inzwischen Superintendent des Utica State Hospitals: ‚Static electricity has been found of use in certain cases.‘106 Während Utica neben galvano-faradischen Batterien 1901 also auch eine statische Elektrisiermaschine verwendete, wurden im St. Lawrence State Hospital elektrotherapeutische Seminare ‚in […] use of Faradic battery and massage‘ angeboten.107 Im Long Island State Hospital, 1902 mit 2.687 PatientInnen (Stichtag: 1. Oktober 1902) ‚the largest Hospital in the State‘, wurden ebenfalls elektrotherapeutische Applikationen durchgeführt.108 Parallel mahnte der Superintendent in seinem Annual Report an den neuen NY State Commissioner in Lunacy, Dr. Frederick Peterson, unter der Rubrik ‚Suggestions and Further Needs‘ abermalige bauliche Erweiterungen an:
104 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1906, 118. 105 Utica State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1899, 21. 106 Utica State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1901, 27. 107 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1900, 33. 108 Long Island State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1902, 45 und 55.
172 | M EDIZINISCHE G EWALT Such a group of buildings should consist of a center building containing a clinical and pathological laboratory, a surgical operating room, rooms for static and other forms of 109
electricity, […] and on the second floor quarters for medical officers.
Die psychiatrische Elektrotherapie spielte im Long Island State Hospital also eine dermaßen große Rolle, dass sie beim Entwurf neuer Hospitalbauten berücksichtigt werden sollte, wodurch sich die ElektroMacht – neben dem eigens errichteten Death House des Sing Sing State Prison – abermals architektonisch in ihrer Geschichtszeit niederschlug. Zugleich war mit Dr. Frederick Peterson der Erfinder des elektrischen Stuhls auf den ranghöchsten Posten der New Yorker Psychiatrie avanciert: • • •
Erster New Yorker Psychiatrieminister: Dr. Carlos F. MacDonald, President, NY State Commission in Humane Capital Punishment. Zweiter New Yorker Psychiatrieminister: Dr. Peter M. Wise, Beauftragter zur Evaluation der psychiatrischen Elektrotherapie in NY State. Dritter New Yorker Psychiatrieminister: Dr. Frederick Peterson, Erfinder des elektrischen Stuhls.
Die drei ersten New Yorker Psychiatrieminister waren Pioniere der psychiatrischen Elektrotherapie und/oder die beiden führenden Ärzte im Prozess der Konzeption und Anwendung des elektrischen Stuhls. 1905, der in seiner kurzen Amtszeit glücklose Ex-Lunacy Commissioner Dr. Frederick Peterson zählte mittlerweile zum ‚Consulting Staff‘ des Long Island State Hospitals, formulierte der Long Island State Hospital-Superintendent: An electro-mechanical massage outfit, a galv[a]nic and faradic battery combined, and two additional personal weighing scales have been purchased. Our electrical engineer has constructed a high frequency electro-therapeutic and X-ray apparatus, for which two X-ray 110
tubes and the necessary vacuum electrodes and a milliameter have been purchased.
Während mit Dr. Peterson der intellektuelle Vater des elektrischen Stuhls im Long Island State Hospital praktizierte, wurde hier eine Batterie für galvanofaradische Applikationen angeschafft und eine Maschine zur Erzeugung von 109 Long Island State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1902, 55. 110 Long Island State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1905, 8. Zu Dr. Frederick Peterson, siehe: Long Island State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1905, 3.
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Hochfrequenzströmen konstruiert – was abermals auf die katalysierende Rückwirkung des elektrischen Stuhls auf die psychiatrische Elektrotherapie verweist. Auch im Hudson River State Hospital wurden 1906 elektrische Anwendungen appliziert: ‚Massage, electrotherapy and X-Ray are used as indicated.‘111 Im Buffalo State Hospital fanden in der Training School for Nurses 1910/11 Fortbildungen zum Thema ‚Electricity and Massage‘ statt und im Binghamton State Hospital wurde 1911 ebenfalls mit Elektrizität therapiert: ‚Electricity is also being used with good results.‘112 Führendes Zentrum psychiatrischer Elektrotherapie zwischen 1910 und 1920 war jedoch das auf Ward’s Island gelegene Manhattan State Hospital: We continue to use with considerable benefit in certain selected cases both hydrotherapy and electro-therapy, the principal forms of the former being the continuous bath, the Scotch douche, the needle bath and the hot and cold packs; while with electricity, the d’Arsonval, static wave, high frequency, and the sinusoidal currents are used.
113
Im Manhattan State Hospital wurden Hochfrequenz-Ströme, statische Elektrizität aus Elektrisiermaschinen sowie sinusförmige Wechselströme appliziert, womit – vom Galvanismus, also Gleichstrom, abgesehen – die ganze Bandbreite möglicher elektrotherapeutischer Anwendungen ausgeschöpft wurde. Die psychiatrische Elektrotherapie wurde hier auch 1917, 1918 und 1919 fortgeführt;114 zum ‚Board of Consulting Physicians and Surgeons‘ des Manhattan State Hospitals zählten mit Dr. Frederick Peterson und Dr. Carlos F. MacDo-
111 Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year Ended September 30,
1906, 14. Für 1908 berichtet der neue Superintendent Dr. Charles W. Pilgrim: ‚[O]ur chief reliance has been, as in the past, in hydrotherapy, general tonics, massage, electricity, rest, nutritious diet, regulation of habits and careful nursing.‘ (Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1908, 22). 112 NY State Commission in Lunacy, Annual Report, October 1, 1910, to September 30,
1911, 117. Zur Fortbildung im Buffalo State Hospital, siehe: Buffalo State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1910, 57. 113 Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Nine Month Ending June 30, 1916,
34. 114 Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1917, 24;
Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1918, 27; Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1919, 27.
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nald nicht nur zwei ehemalige New Yorker Psychiatrieminister, sondern auch die beiden wichtigsten Ärzte im Prozess der Einführung des elektrischen Stuhls.115 Schon kurz nach 1900 hatte sich Dr. Frederick Peterson der Freud’schen Psychoanalyse zugewandt, die psychische Störungen in einem komplexen, sich durch sprach- und bildhafte Symbole artikulierenden Unterbewussten verortete, das durch repressive Mechanismen wie der Triebunterdrückung vom Ich permanent in Schach gehalten werden musste. Das neu entdeckte Unbewusste drückte sich in den geheimnisvollen Symbolen der Träume aus, die psychische Friktionen artikulieren und laut Freud als reinigende ‚Wunscherfüllungen‘ fungieren.116 Diese bahnbrechende Erkenntnis wandte Freud auch auf den Wahn an, der sich laut Psychoanalyse aus der ungesunden Unterdrückung unbewusster Triebe generierte – und dessen Symptome wie ein Traum zu deuten waren. Durch die neue Psychoanalyse wurden die Äußerungen der PatientInnen plötzlich relevant. Die Ärzte begannen zuzuhören, um die Aussagen ihrer PatientInnen psychoanalytisch zu deuten. Das wahnhafte Verhalten wurde nun protokolliert und in regelmäßigen ‚Diagnostic Meetings‘ diskutiert: ‚Male; age, thirty-five; married; laborer; […] ideas of persecution; thinks he is full of electricity.‘117 In einem 1921 publizierten Artikel errechneten die Hudson River State Hospital-Psychiater Rodney Williams und Howard Potter, dass bei einer Testgruppe von 200 Schizophrenie-PatientInnen 23.5% der Wahnbilder Elektrizität zum
115 Siehe: Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September,
30, 1915, Rubrik ‚Officers‘, sowie: Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1920, 4. Die Liste des Personals für 1916 liegt nicht vor; in den Jahresberichten für 1917, 1918 und 1919 werden Peterson und MacDonald ebenfalls als ‚consulting Physicians‘ geführt. 116 Frederick Peterson, Some New Fields and Methods in Psychology. (1909) In: Col-
lected Papers by Frederick Peterson, M. D., 1896-1936. NY Academy of Medicine, Call Number: S.115; Frederick Peterson, The Psychology of Anticipation of Dreams. (1919) In: Collected Papers by Frederick Peterson, M. D., 1896-1936. NY Academy of Medicine, Call Number: S.115; Sigmund Freud, Die Traumdeutung – Nachwort von Hermann Beland. Frankfurt am Main, 1997, 136-146. 117 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1907, 112. Zu den ‚Diagnostic Meetings‘, siehe: NY State Archives 14231-03A: St. Lawrence State Hospital Patient Case Files; NY State Archives B1592: Utica State Hospital, Patient Diagnosis Meeting Notes, 1926-1932.
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Gegenstand hatten,118 wobei sich die Halluzinationen in die beiden Kategorien ‚Angst‘ und ‚Wunscherfüllung‘ gliedern lassen: Kategorie 1 – Angst: Male; age, forty-seven; single; laborer […]. […] [S]ystematized delusional trend in reference to communications from some unseen agency consisting principally of electrical shocks; […].119
Der St. Lawrence State Hospital-Patient empfing von einer fremden ‚agency‘ elektrische Schocks, die für ihn schmerzhaft und bedrohlich waren: [He] talked about his being tortured and of his going to be cut to pieces or filled with rubbish; says that the electricity comes from a light-house over in Canada and he can see it 120
shoot through the air and invading his body […].
Die gesamte Umwelt schien dem Patienten von pönaler Elektrizität durchzogen; ein Wahnbild, das punktgenau der dispositiven ElektroMacht entsprach. Ein anderer St. Lawrence State Hospital-Patient fürchtete, elektrisch getötet zu werden: [W]alking up and down the ward […] wringing his hands […]. In November he wrote that he was afraid some one [sic!] would kill him by electricity.121
Die psychiatrische Elektrotherapie induzierte bei den PatientInnen Angst vor dem Stromtod (ElektroMacht); eine weitere Patientin fühlte 1906 Elektrizität, die von einem Stuhl ausstrahlte:
118 Rodney Williams/Howard Potter, The Significance of Certain Symptoms in the
Prognosis of Dementia Præcox. In: State Hospital Quarterly, Vol. VI, No.3 (May 1921), 366. 119 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1907, 109/110. 120 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1907, 110. Das St. Lawrence State Hospital lag an der Grenze von NY State zu Kanada. 121 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1907, 225.
176 | M EDIZINISCHE G EWALT Female; high school education; married; two children; early life normal; age of 46 depression; […] peculiar feeling over body like electricity; […]. […] [S]ilent and sits in rather fixed attitude; electricity in head and chair […].122
Kategorie 2 – Wunscherfüllung: Male; forty-seven; American; married; collegiate education; physician; […] treating patients by electricity from his own body.
123
Der internierte Arzt heilte seine Patienten durch vitalistische elektrische Ströme, die als magische Kraft der Heilung direkt aus ihm selber kamen:
‚[I]n touch with God; […] marked ideas of electricity, describing himself as human dy124
namo […].‘
Der Patient fühlte sich als Human Dynamo; an der Schnittstelle von Körper, Allmacht und Erhabenheit erschien die Elektrizität als Medium der eigenen Vergöttlichung.
5.4 D ER ELEKTRISCHE S TUHL , 1920
BIS
1940
5.4.1 ‚Sing Sing Doctor‘ – Die Autobiographie Dr. Amos Squires In seiner Autobiographie ‚Sing Sing Doctor‘ beschrieb Dr. Amos Squire, ab 1911 im Sing Sing State Prison an 138 Exekutionen beteiligt, eine elektrische Tötung wie folgt: The guards step back. […] The signal is given, and a sound comes from the electrician’s niche – not unlike the sound from an X-ray apparatus […].125
122 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1906, 118. 123 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1907, 122/123. 124 St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30,
1907, 122/123. 125 Amos O. Squire, Sing Sing Doctor. Garden City, NY, 1935, 212. Zur Zahl der Tö-
tungen, siehe: Squire, Sing Sing Doctor, 1.
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Der Sound des elektrischen Stuhls – ähnlich einem Röntgenapparat. Durch den Vergleich des elektrischen Stuhls mit einem ‚X-ray apparatus‘ ordnete Dr. Amos O. Squire den elektrischen Stuhl dezidiert in den Bereich des Medizinischen ein, was abermals den dichten dispositiven Konnex der ElektroMacht exemplifiziert. Dr. Squire fährt fort: The face [of the convict] turns crimson. […] [T]he current is cut off. The doctor places the prongs of his stethoscope into his ears and applies the diaphragm to the chest of the man in the chair. […] The switch is thrown again – and after contact is broken, again the doctor listens. […] The body is […] removed to the autopsy room.126
Squire gab das Zeichen zur Hinrichtung, stellte offiziell den Tod fest, führte die Autopsie durch und trug damit – auch nach eigenem Empfinden – die Hauptlast des elektrischen Tötens: [W]hen I was chief physician, I was the only member of the prison staff who was compelled to watch the man in the chair every second, and I could not help but feel that in reality I, rather than the electrician who threw the switch, was the executioner.127
Die Gefängnisärzte leiteten die elektrischen Tötungen zumindest bis 1925 aktiv, sodass die ‚euthanasia by electricity‘ auch in den 1920ern als medikalisiertes Töten in Reinform erscheint. Dr. Amos O. Squire graduierte 1899 am College of Physicians and Surgeons und begann zur Jahrhundertwende in der Stadt Sing Sing/Ossining zu praktizieren, wo er 1901 ‚consultant‘ des örtlichen Gefängnisses wurde.128 1915 avancierte er zum Chief Physician des Sing Sing State Prison und blieb dem Gefängnis auch nach seinem Rücktritt im Jahre 1925 als ‚consultant‘ treu.129 Zu Cesare Lombrosos ‚Kriminalbiologie‘ formulierte er:
126 Squire, Sing Sing Doctor, 212. 127 Squire, Sing Sing Doctor, 199. 128 Squire, Sing Sing Doctor, 2. 129 Squire, Sing Sing Doctor, 14 und 4. Squire schreibt, er habe den Posten des Chief
Physician 1914 angetreten, doch sein Vorgänger Dr. Farr trat laut New York Times erst im Dezember 1915 zurück. (New York Times, Sing Sing Physician Resignes on Request. 8. Dezember 1915).
178 | M EDIZINISCHE G EWALT Lombroso’s conclusions were biased, and his errors were compounded by a lack of modern statistical methods. I have examined fully twenty thousand convicts and have been unable to find a single physical characteristic that is a certain indication of criminality.130
Gefängnisarzt Dr. Amos O. Squire fand keinerlei Hinweise auf den ‚geborenen Verbrecher‘ und stufte Kriminelle als ‚victims of their environment‘ ein, womit die ‚Eugenik‘ in Sing Sing gleichsam durchgefallen war.131 Anfang 1911 war Dr. Amos O. Squire dann erstmals an einer elektrischen Tötung beteiligt: In every way, the experience was horrible. Instead of the 2200 volts in use today, only 1400 volts were used, and […] [t]he sponges […] became dry and allowed the flesh to burn. After performing the autopsy, I went away with a feeling that there was room for improvement.132
Am 1. Januar 1920 trat Warden Lewis Lawes das Amt des Gefängnisdirektors in Sing Sing an; ein Posten, auf dem er 21 Jahre verblieb.133 Lewis Lawes fasste seine Rolle gegenüber den Insassen als ‚a firm, frank friend in need‘ auf, wobei Historiker Brian dessen Stil als einen ‚unpredictable mix of tough and tender‘ beschreibt. Lewis Lawes, der als Gefängnisdirektor alle Exekutionen in Sing 130 Squire, Sing Sing Doctor, 22. 131 Squire, Sing Sing Doctor, 38-55. Laut Squire spielt die Erziehung in einem ‚crow-
ded, economically harassed, or unintelligent home‘ den Hauptgrund für das Einschlagen eines kriminellen Lebenswegs. Mörder teilt Squire in die vier Gruppen ‚Insane‘, Affekttäter (Hass, Eifersucht, usf.), professionelle Killer sowie Mörder aus Habgier ein; die Todesstrafe sei in all diesen Fällen unwirksam, da die ‚Insane‘ den Tod nicht fürchteten, der Affekttäter im Augenblick des Verbrechens indifferent sei, Profis die Strafe einkalkulierten und der kaltblütige Mörder einen elaborierten Plan ausarbeite und glaube, er sei ‚too clever to be caught‘. (Squire, Sing Sing Doctor, 47 und 278). 132 Squire, Sing Sing Doctor, 15. Dr. Squires angedeutete Verbesserungen sind schwer
zu rekonstruieren; er verweist darauf, dass u.a. er beschlossen habe, den Strom bei geleerten Lungen zu applizieren, was laut Dr. E. A. Spitzka aber schon 1908 Usus war. (Spitzka, Observations, 42; Squire, Sing Sing Doctor, 198) Squire erläuterte weiter, in Sing Sing werde mit 2200 Volt bei zehn Ampere getötet, wobei die Temperatur der Elektroden ‚1.940 degrees F.‘ (1060º Celsius) und die des Körpers im Schnitt 138º F. (59º Celsius) erreiche. (Squire, Sing Sing Doctor, 216). 133 Zwischen Ende 1916 und 1920 hatte Sing Sing vier verschiedene Direktoren; unter
den Sing Sing-Insassen kursierte der Witz, ‚that the quickest way to get out of Sing Sing was to go in as warden.‘ (Brian, Sing Sing, 112).
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Sing direkt verantwortete, war zeitweise Präsident der ‚League to Abolish Capital Punishment‘, was ihm, wohl nicht ganz zu Unrecht, den Vorwurf der Heuchelei eintrug.134 1922 wurde in Sing Sing ein neuer Death Row-Komplex fertiggestellt, der über Küche, Hospital, Obduktionssaal, ‚excercise yards‘ unter freiem Himmel sowie eine Death Row mit 39 Zellen verfügte.135 Die Exekutionen im Sing Sing State Prison fanden donnerstags um 23 Uhr statt; am Tag der Tötung wurde der Delinquent in die Todeszelle verlegt, die anderen Death House-Inmates grüßten mit Sprüchen wie ‚So long, Old Timer […]!‘ oder ‚Keep your chin up!‘. Es folgten Bad und ein normaler Haarschnitt; dann wurde der Todeskandidat vom Gefängnisarzt visitiert und am Nachmittag von seinen Angehörigen besucht. Abends erhielt der Verurteilte seine Henkersmahlzeit, was Squire als ‚ironic generosity‘ beschreibt.136
134 Zitiert nach: Brian, Sing Sing, 118 und 145. Zur Kritik an Lawes, siehe: Banner, De-
ath Penalty, 225. 135 Squire, Sing Sing Doctor, 197; Brian, Sing Sing, 133. 136 Squire, Sing Sing Doctor, 171, 148 und 205-206. Obwohl die Todeskandidaten in
den meisten Fällen keinen Bissen aßen, orderten einige exquisite Speisen wie Wachteln oder frischen Spargel, wobei die Gefängnisleitung mitspielte und alles tat, um diese Wünsche zu erfüllen. (Squire, Sing Sing Doctor, 206/207).
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Abbildung 19: Innenaufnahme des neuen, 1922 fertiggestellten Sing Sing Death House; über der Tür prangt ein Schild mit der Aufschrift ,SILENCE‘.
Die um 22 Uhr eingetroffenen Zeugen saßen auf Bänken; Gefängnisdirektor Lewis Lawes stand neben ihnen, während Dr. Amos O. Squire direkt am elektrischen Stuhl positioniert war.137 Der Delinquent oder die Delinquentin wurde in die Todeskammer geführt und binnen 30 bis 45 Sekunden auf dem elektrischen Stuhl fixiert. Dann gab Dr. Squire das Signal zum Töten und aus der Ecke des NY State Electrician drang ein Geräusch – ‚not unlike the sound from an X-ray apparatus […].‘138 Die Tötungen belasteten Dr. Squire schwer; als er direkt nach einer Exekution bei einem Patienten einen entzündeten Blinddarm entfernen musste, geriet er in ein ethisches Dilemma:
137 Squire, Sing Sing Doctor, 210. Bildnachweis, Abbildung 19: Robert G. El-
liott/Albert R. Beatty, Agent of Death – The Memoirs of an Executioner. New York, NY, 1940, 65. 138 Squire, Sing Sing Doctor, 211. Squire formuliert: ‚Executions move forward with a
ceremonial precision that is intended to forestall any occurrence that might cause delay, create a disturbance, or increase the horror of the occasion.‘ (Squire, Sing Sing Doctor, 150) In der Todeskammer wurde also hektische Business-Atmosphäre erzeugt, um das staatliche Töten zu beschleunigen.
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[…] I contrasted the duty of participating in the destruction of life with the privilege of saving it. The chaplain […] understood what I was thinking, for he came to the hospital just as I was finishing the operating. He seemed to think that I would be needing him then, and as a matter of fact I did. I sat and talked with him the rest of the night.139
Diese Bemerkung ist das erste vorliegende ärztliche Statement aus dem New Yorker Todesstrafensystem, in dem ein involvierter Arzt durch das Töten in inneren Konflikt geriet. Während etwa Dr. Carlos F. MacDonald die Arbeit in der Todeskammer als ‚undesirable‘ beschrieb, fundamental aber nie in Frage stellte, artikulierte Dr. Amos O. Squire hier erstmals eine Haltung, in der die ‚Zerstörung von Leben‘ als den ärztlichen Pflichten widersprechend erscheint, was auf ein spezifisches Dilemma von Ärzten bei der Teilnahme an ‚legalen Tötungen‘ verweist.140 In der Folgezeit entwickelte Squire den immer stärker werdenden Drang, den Delinquenten während der Tötung zu berühren: [J]ust after I had given the signal for the current to be turned on – while the man in chair was straining against the straps […] – I felt for the first time a wild desire to extend my hand and touch him.141
Das ‚wilde Verlangen‘ wurde bei jeder Tötung stärker; Dr. Squire weihte einen Freund ein, der umgehend Squires Tochter alarmierte: She came to me […] and asked if what she had heard was true. I admitted that it was, and she pleaded with me to resign from my position as chief physician. So I did – and if I hadn’t, I might not be alive today.142
1925 wurde Squire von Gefängnisarzt Dr. Charles Sweet abgelöst; zeitgleich beschloss Gefängnisdirektor und Todesstrafengegner Lewis Lawes künftig selbst 139 Squire, Sing Sing Doctor, 213. 140 Dies entspricht auch der heutigen Auffassung der American Medical Association
(AMA Policy E-2.06 Capital Punishment): ‚An individual’s opinion on capital punishment is the personal moral decision of the individual. A physician, as a member of a profession dedicated to preserving life when there is hope of doing so, should not be a participant in a legally authorized execution.‘ http://www.amaassn.org/ ama1/pub/. upload/mm/369/e206capitalpunish.pdf (20.1.2013). 141 Squire, Sing Sing Doctor, 220. 142 Squire, Sing Sing Doctor, 221.
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das Signal zum Töten zu geben, um seinen Gefängnisarzt psychisch zu entlasten.143 1926 wurde der labile NY State Electrician John P. Hulbert, vormaliger Assistent Edwin F. Davis’, durch Henker Robert Elliott ersetzt, der mit 387 elektrischen Tötungen bis heute den unrühmlichen Rekord des legalen elektrischen Tötens hält.144 Robert Elliot, der später auch die elektrischen Stühle von fünf weiteren USStaaten bediente, wurde am 27. Januar 1874 in Hamlin, NY, geboren und konnte im März 1898 zum ‚assisstant electrician‘ und kurz darauf zum Chefelektriker des Clinton State Prison avancieren.145 Im Juni 1904 bot NY State Electrician Edwin F. Davis dem Elektriker Robert Eliott anlässlich einer Zweifach-Tötung in Sing Sing erstmals an, den tödlichen Schalter zu bedienen: My temples throbbed. The prison physician then gave the signal by a wave of his hand. […] ‚Now‘, whispered Davis. I threw the switch, and the condemned man stiffened under the straps.146
Erstaunlich ist die vermeintliche – oder auch tatsächliche – Bürgerlichkeit der elektrischen Henker Davis und Elliott: Edwin F. Davis, ein passionierter Imker, wurde von einem Todeskandidaten in Clinton als ‚the homeliest son-of-a-gun I’ve ever seen‘ beschrieben; Robert Elliot lebte ab 1918 mit seiner Familie auf Long Island in einem gediegenen dreistöckigen Haus mit weitläufigem Garten und vor der Tür geparktem PKW,
143 Brian, Sing Sing, 132. 144 Elliott, Agent of Death, 40; Squire, Sing Sing Doctor, 201; Banner, Death Penalty,
195. Zur Zahl der von Elliott vorgenommenen Tötungen, siehe: Elliott, Agent of Death, 14. Elliotts Vorgänger Hulbert tötete insgesamt 120 Menschen via ‚legal electrocution‘, bevor er 1925 in der Todeskammer einen Nervenzusammenbruch erlitt und daraufhin sein Amt niederlegte. Drei Jahre später verübte Hulbert Selbstmord. (Squire, Sing Sing Doctor, 201-203; Brian, Sing Sing, 139). 145 Elliott, Agent of Death, 14, 16 und 37. 146 Elliott, Agent of Death, 75, zu Edwin F. Davis’ Angebot, siehe: Elliott, Agent of
Death, 73. Der dramaturgische Kunstgriff, durch die Erzeugung von Druck auf den Protagonisten Empathie zu erzeugen, gelingt; durch Elliotts Memoiren wird das Publikum in die schaurige Rolle eines elektrischen Henkers versetzt, mit dessen Ängsten und Nöten es sich identifiziert.
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während ihm die $150 pro Tötung (multipliziert mit 387 = $58.050 ohne die teils erheblichen Spesen) einen affluenten bürgerlichen Lebensstil ermöglichten.147 Henker Robert Elliott rechtfertigte seine Tätigkeit mit dem Argument, dass die von ihm durchgeführten Tötungen von der Gemeinschaft beschlossen seien; er selbst sei Teil dieses Gemeinwesens – und trage deshalb auch nicht mehr Verantwortung als jeder andere Bürger des Staates New York.148 Robert Elliott leitete die Sonntagsschule der Methodist Episcopal Church in Dannemora; die Intervalle der von ihm applizierten tödlichen Stromstöße stoppte er mit einer Armbanduhr mit Sekundenzeiger, die ihm seine Frau geschenkt hatte.149 Seinen Lebensstil charakterisierte Henker Elliott wie folgt: Except when interrupted by the state’s order that I put another human being to death, my life is a prosaic and pleasant one. It differs little from that of the average man.150
Anders als etwa Dr. Amos O. Squire oder Henker John P. Hulbert litten die NY State Electrician Edwin F. Davis und Robert Elliott in keiner Weise unter dem Geschäft des elektrischen Tötens – im Gegenteil: sie lebten ein affluentes bürgerliches Leben, zogen aus dem Job des Henkers ein bedeutendes professionelles Selbstwertgefühl und wiesen – soweit die Quellen diese Aussage zulassen – keinerlei psychische Friktionen auf. Anscheinend gibt es zwei Sorten von Menschen, die auf das Töten anderer unterschiedlich reagieren: während John P. Hulbert und Dr. Amos O. Squire unter dem legalen Töten litten – und sich John P. Hulbert später sogar das Leben nahm – waren Edwin F. Davis und Robert Elliott dem Töten gegenüber völlig indifferent, was sie perfekt für den Job des Henkers geeignet machte.
147 Ein Foto von Elliotts Haus findet sich in: Elliott, Agent of Death, 116, zum ‚home-
liest son-of-a-gun‘-Zitat, siehe: Elliott, Agent of Death, 82. Nachdem Elliotts Identität bekannt geworden war, wurde 1928 ein Bombenattentat auf ihn verübt, das die bürgerliche Fassade kurzzeitig ins Wanken brachte. (Elliott, Agent of Death, 114127). 148 Elliott, Agent of Death, 14/15. 149 Elliott, Agent of Death, 45 und 147. 150 Elliott, Agent of Death, 286.
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5.4.2 ‚I am sorry to inform you‘ – Die demokratische Todesbürokratie Bis 1940 hatte sich im Staat New York ein ausgefeilter bürokratischer Tötungsapparat entwickelt, der diverse hochkarätige Instanzen einschloss, die in das legale elektrische Töten eingebunden waren. Seine demokratische Legitimation bezog dieser Apparat aus dem von der New Yorker Legislative erlassenen Todesstrafengesetz, das von frei gewählten Abgeordneten bzw. Senatoren aufrechterhalten wurde und damit eine unantastbare Legitimation besaß, da es dem Willen des Volkes bzw. seiner legitimen demokratischen Vertreter entsprach.151 Der Vollzug einer Todesstrafe wurde durch ein komplexes vertikales Netz institutioneller ‚checks and balances‘ kontrolliert, das – nach der erstinstanzlichen Verurteilung durch einen County Court – über den Court of Appeals und eine psychiatrische Gutachter-Institution bis zum NY State Governor persönlich reichte, wobei jede dieser drei Instanzen in der Lage war, ein etwaiges Todesurteil aufzuheben. Anhand der Sing Sing Execution-Files lässt sich dieses dichte Netz der vertikal intervenierenden Instanzen – am Beispiel des im September 1942 elektrisch getöteten Carlo Barone – exakt rekonstruieren: 10. Februar 1941: Der 27-jährige Carlo Barone ermordet Pietro Morsellino. 18. Dezember, 1941: Todesurteil, Murder in the First Degree, Hon. Samuel Leibowitz, County Judge, Kings County (Brooklyn) plus Death Warrant und Transfer nach Sing Sing. Mitte Dezember 1941: Psychiatrischer Test auf ‚insanity‘ in der ‚Classification Clinic, Department of Correction, Division of Psychiatry, Sing Sing Prison.‘ 26. Dezember 1941: Appeal durch Barones Anwälte vor dem NY State Court of Appeals ‚which automatically stays execution of sentence of death until such time as the Court of Appeals passes on that matter.‘
151 Wie erwähnt, lag die Chance einer wie auch immer gearteten Begnadigung um 1915
bei immerhin 40%. (NY State Archives B0147: Sing Sing Prison, Admission registers for prisoners to be executed, 1891-1946).
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29. Juli 1942: Bestätigung des Todesurteils durch den ‚State of New York in Court of Appeals‘. 10. August 1942: Psychiatrische Evaluation durch die ‚Governor’s Commission to examine condemned men‘, State of New York, Department of Mental Hygiene (Psychiatrieministerium). August/September 1942: Die Begnadigung durch Gouverneur Herbert H. Lehman bleibt aus. 10. September 1942: Tötung Carlo Barones in Sing Sing via ‚Legal Electrocution‘.152 Direkt nach Ankunft in Sing Sing wurde Carlo Barone in der Classification Clinic auf ‚insanity‘ getestet (psychiatrischer Check 1), kurz darauf lief seine juristische Revision (rechtlicher Check 1) an. Nach dem Wiederinkrafttreten des Todesurteils nach Ablehnung der Revision wurde Barone dann vom Department of Mental Hygiene untersucht (psychiatrischer Check 2), wobei der Gouverneur über jeden dieser Schritte schriftlich informiert wurde – und am Ende als letzte Instanz eine Executive Clemency bzw. Begnadigung aussprechen konnte. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, einen Revisionsantrag an den United States Supreme Court zu stellen, der Fundamentalurteile zur Todesstrafe vor 1962 jedoch routinemäßig ablehnte.153 152 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Carlo Barone: County Court, Kings County, Death Warrant, Carlo Barone; Warden Kirbys an Carlo Barone, 29. Dezember 1941; The State of New York in Court of Appeals, The People of the State of New York against Carlo Barone, alias Joseph LaSalle; Dr. John R. Ross, Chairman, Governor’s Commission an Warden Robert J. Kirby, 6. August 1942; Sing Sing Prison, Notice of Death, 10. September 1942. 153 Banner, Death Penalty, 248. Parallel wurde von der Presse teils extensiv über die
Prozesse berichtet, sodass bei spektakulären Fällen und insbesondere bei der anstehenden Exekution von Frauen ein erheblicher öffentlicher Druck auf den Gouverneur in Richtung einer auszusprechenden Begnadigung entstehen konnte. (Siehe u.a.: New York Times, No Mercy for Mrs. Place. 16. März 1899) Im Falle Martha Place wartete der damalige Gouverneur und spätere US-Präsident Theodore Roosevelt die Entscheidung sämtlicher Instanzen ab, trat mit dem Staatsanwalt und dem verurteilenden Richter persönlich in Verbindung und installierte ‚two doctors of the highest standing‘, die entscheiden sollten ‚whether she was or had been insane‘.
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Checks and Balances: • • • • • •
Todesurteil plus Death Warrant, County Court oder NYC Court Psychiatrischer Test 1, Classification Clinic Revision, NY State Court of Appeals Psychiatrischer Test 2, NY State Department of Mental Hygiene (US Supreme Court) NY State Governor, Begnadigung
Die ‚Classification Clinic‘ des Sing Sing State Prison ging auf Sing SingDirektor Thomas M. Osborne zurück, der 1916 innerhalb Sing Sings eine psychiatrische Instanz schuf, die – wie Historiker Brian schreibt – die Aufgabe hatte, ‚the feeble-minded […] and the mentally defective‘ von der übrigen Gefängnispopulation zu trennen.154 Dr. Amos T. Baker, Direktor der Classification Clinic, beschrieb seine Aufgaben 1928 wie folgt: We see all new cases coming to the prison, selecting those for examination who appear suspicious to us in any way.155
Außerdem arbeitete die Classification Clinic mit dem Begnadigungsausschuss des Staates New York zusammen und beriet die Gefängnisleitung bei der Einteilung der Insassen für den Arbeitsdienst.156 Eine Vorgehensweise, auf die die in den 1930er Jahren fest institutionalisierte Governor’s Commission aller Wahrscheinlichkeit nach zurückging. Schließlich musste Roosevelt seine Entscheidung, die Mörderin Martha Place nicht zu begnadigen, in einem Memorandum rechtfertigen, in dem er das Verbrechen – Martha Place hatte ihre Stieftochter mit Säure verätzt und anschließend erdrosselt – als ‚atrocity‘ bezeichnete (ebda.). 154 Brian, Sing Sing, 110; Lisa A. Callahan, Sing Sing Prison. In: McShane/Williams,
Encyclopedia of American Prisons. Ohne Ortsangabe, 2005, 721. 155 Amos T. Baker, The Psychiatric Clinic of Sing Sing Prison. In: Psychiatric Quarter-
ly, Vol. 2, No. 4 (1928), 464. 156 Baker, Psychiatric Clinic of Sing Sing Prison, 464-465. Ein von Dr. Baker in der
Classification Clinic angefertigter ‚Diagnostic Summary‘ eines – hier anonym gehaltenen – Todeskandidaten liest sich wie folgt: ‚This inmate is an undersized, not well nourished Italian-American about thirty years of age. He is the product of a broken home. He was reared in a congested and crime-breeding area. He did not receive proper supervision or training in his youth. His school history shows that he was slow to learn. His work record is not impressive. Since the age of 16 he has
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Die in Sing Sing wohl wichtigste psychiatrische Aufgabe, die abschließende Evaluierung der Todeskandidaten, war jedoch der 1919 als ‚Commission of Alienists‘ gegründeten ‚Governor’s Commission‘ vorbehalten, die dem Department of Mental Hygiene, also der Nachfolgeorganisation der NY State Commission in Lunacy, angegliedert war und die traditionell von einem NY State Hospital-Superintendent geleitet wurde.157 1938 wurde die Governor’s Commission von Dr. Robert Woodman, Superintendent des Middletown State Homeopathic Hospitals, geleitet, während sie 1942 von Dr. John R. Ross, Hudson River State Hospital, geführt wurde.158 Die ‚final examinations‘ wurden in Sing Sing vorgenommen, wobei Superintendent Dr. John R. Ross im Falle Carlo Barones mit seiner Kommission persönlich anreiste: The Governor’s Commission will convene at Sing Sing Prison on Monday, August 10th, at 11 a.m. for the purpose of making final examinations in the cases of Carlo Barone, Edward Hicks, James Clark, Lawrence Edwards and Manuel Jacinto. Would you kindly arrange for witnesses to be present.159
Laut ESPY-File, einer Liste sämtlicher bekannter in den USA vollstreckten Todesurteile seit 1608, wurden alle oben genannten Delinquenten im September 1942 exekutiert; die Governor’s Commisssion ging bei der Einstufung eines Death House-Insassen als geisteskrank also äußerst restriktiv vor, bildete aber den-
shown criminal tendencies and once served a term in this prison for assault. He was on parole for this crime when his present crime was committed. […] During our interviews with this inmate he has always been cooperative. He is serious. He has consistently declared that he is not guilty of the crime for which he is now awaiting execution. There is no disorder in his stream of talk. He gives adequate attention. His memory is good. He expresses no delusions or hallucinations. This inmate is not psychotic or mentally defective.‘ (NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-1963). 157 Squire, Sing Sing Doctor, 169. Squire schreibt, dass die schwere Entscheidung, ob
ein Todeskandidat ‚sufficiently competent […] to pay the death penalty‘ sei, ab 1919 einer ‚commission of alienists‘ übertragen wurde, die ihn von dieser Aufgabe entlastete (ebda.). 158 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Salvatore Gatti & Akte: Carlo Barone. 159 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Carlo Barone.
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noch eine wirksame Kontrollinstanz, die ein gerichtlich verhängtes Todesurteil mit dem Hinweis auf den Wahn des Kriminellen aufheben konnte.160 Anibal Almodovar wurde am 3. November 1921 in Ponce, Puerto Rico geboren. Im Juli 1938 immigrierte er via New York City in die USA, um sich in Harlem niederzulassen und u.a. als Page in verschiedenen Hotels zu arbeiten. Im Sommer 1942 heiratete der 21-Jährige die 24-jährige Sonntagsschullehrerin Louisa Almodovar, doch die Ehe verlief nicht wie geplant: Eifersüchteleien plagten das junge Paar; Louisa Almodovar verursachte einen Skandal, als sie zwei PuertoRicanerinnen verprügelte, die vermeintlich ihrem Mann nachstellten, der sich selbst längst in die 40-jährige Hausgehilfin Mary Nuñez verliebt hatte.161 Anibal verfasste Drohbriefe an seine Frau, das Paar trennte sich – und am 2. November 1942 wurde die nackte Leiche Louisa Almodovars im Central Park gefunden. Am 5. November 1942 wurde Anibal Almodovar durch Judge Mullen vom NYC Court of General Sessions in Untersuchungshaft genommen und in das House of Detention verlegt; am 23. Dezember gestand Anibal Almodovar, am Central Park auf Louisa Almodovar gewartet zu haben, mit ihr in den Park gegangen zu sein und sie dort in einem ‚fit of fury‘ 162 getötet zu haben: ‚I strangled her in a quarrel. There is no sense in my denying it any longer.‘163 Die Verhandlung fand vor dem ‚Court of General Sessions of the County of New York‘ statt; am 2. März 1943 wurde Almodovar ‚before George L. Donnellan, Esquire, Judge of the said Court […] by the verdict of a jury‘ des Mordes ‚in the First Degree of one Louisa Almodovar‘ für schuldig befunden – und am 10. März 1943 zum Tode verurteilt: [J]udgement was thereupon given in the said Court […], that the said ANIBAL ALMODOVAR suffer punishment of death in the mode and manner prescribed by the laws of the State of New York; […].164 160 Executions is the U.S. 1608-2002: The ESPY: File Executions by State. 161 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Anibal Almodovar: Alien Convict Report sowie undatierter Brief von Mary Nuñez an Anibal Almodovar; New York Times, Held in Wife’s Death. 5. November 1942; New York Times, Flaw in Alibi Puts Suspect in Jail. 25. Dezember 1942. 162 New York Times, Wife Slaying Admitted. 24. Dezember 1942. 163 New York Times, Flaw in Alibi Puts Suspect in Jail. 25. Dezember 1942. 164 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Anibal Almodovar: The People of the State of New York against Anibal
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Anibal Almodovar war nach dem Schuldspruch kollabiert und musste in die Psychiatrie des Bellevue Hospitals verlegt werden; das Todesurteil nahm er in Zwangsjacke entgegen und konnte nur durch neun Justizbeamte gebändigt werden.165 In dem ‚Warrant of Execution‘ wurde der Commissioner of Correction in NYC richterlich beauftragt, Anibal Almodovar binnen zehn Tagen in das Sing Sing State Prison zu überstellen, während Gefängnisdirektor Robert J. Kirby, dem Nachfolger Lewis Lawes, befohlen wurde, den Delinquenten aufzunehmen und ihn bis zur Vollstreckung des Todesurteils oder einer rechtsgültigen Entlassung in Einzelhaft zu halten und ohne richterlichen Beschluss nur Justizvollzugsbeamte, Almodovars Anwalt sowie, wenn gewünscht, einen Priester und direkte Familienmitglieder zu ihm vorzulassen. Die Vollstreckung des Todesurteils wurde richterlich für die Woche beginnend am 19. April 1943 festgesetzt – und der Gefängnisdirektor eindringlich mit dem Vollzug beauftragt: And you, the said Warden, are required and by these presents strictly commanded to do execution of the said judgment upon the said ANIBAL ALMODOVAR in the mode and manner prescribed by the laws […] and for so doing this shall be your sufficient warrant.166
Am 10. März traf Anibal Almodovar – noch immer in Zwangsjacke – im Sing Sing State Prison ein; während der routinemäßig angefertigten Fotos musste der Tobende von einem Beamten festgehalten werden: Since Almodovar’s admission his condition has improved; he talks rationally and no doubt, his picture could be taken now without any difficulty.167
Am 16. März verfasste Almodovar, mittlerweile ins Death House des Sing Sing State Prison verlegt, einen Brief an Warden Robert Kirby, in dem er um BeAlmodovar, Warrant of Execution. To the Commissioner of Correction of the City of New York. AND To the Warden of Sing Sing Prison at Ossining, New York. 165 New York Times, Wife Slayer Throws Court Into Uproar. 11. März 1943. 166 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Anibal Almodovar: The People of the State of New York against Anibal Almodovar, Warrant of Execution. To the Commissioner of Correction of the City of New York. AND To the Warden of Sing Sing Prison at Ossining, New York. 167 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-
1963, Akte: Anibal Almodovar: Direktor Kirbys an John A. Lyons, Commissioner of Correction, 23. März 1943.
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suchsrechte für sein ‚co[m]mom law wife‘, also seine Freundin Mary Nuñez, bat: I like her to visit me if you wish, her age is 40 years old and she is the only family I have. […] I[’]m in the C.C. [Condemned Cells]168
Zwei Tage später informierte die Gefängnisleitung Almodovar, dass ihn ‚no women, with the exception of members of your immediate family‘ besuchen dürften: However, if it is possible for your common-law wife to obtain a Court Order, she may then be permitted to visit after she has had her fingerprints taken and checked.169
Am 16. April 1943 wurde aus Sing Sing ein ‚Alien Convict Report‘ an Commissioner of Immigration, Ellis Island, N.Y.‘ versandt; schon vorher hatten Almodovars Anwälte einen Revisionsantrag beim Court of Appeals gestellt.170 Während die Tötung aufgeschoben war, konnte Mary Nuñez am 18. Mai 1943 eine Court Order des Court of General Sessions, NYC, erwirken, sodass ihr am 17. Juni das Besuchsrecht erteilt wurde.171 Am 22. Juli wurde das Todesurteil gegen Anibal Almodovar vom Court of Appeals bestätigt und der Vollzug für die Woche beginnend mit dem 13. September 1943 angeordnet, wovon Anibal Almodovar umgehend in Kenntnis gesetzt wurde:
168 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Anibal Almodovar an Warden Kirby, 16. März 1943. 169 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Gefängnisleitung an Anibal Almodovar, 18. März 1943. 170 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar, Sing Sing Prison, Alien Convict Report, The District Attorney of the County of New York an Warden Kirby, ohne Datum. 171 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Court of General Sessions of the County of New York, Order, 18. Mai 1943; Warden Kirby an Mary Nuñez, 17. Juni 1943.
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Dear Sir: I am sorry to inform you that I am in receipt of an order of the Court of Appeals fixing the week of September 13th, 1943 as the date for carrying into effect the original sentence of death in your case. Very truly yours, WARDEN172
Parallel wurden der NY State Governor, der Commissioner of Corrections und Dr. John R. Ross, Superintendent des Hudson River State Hospitals und Chairman der Governor’s Commission, von der anstehenden Tötung informiert.173 Derweil entspann sich zwischen Mary Nuñez und Anibal Almodovar ein leidenschaftlicher Briefwechsel, der schwierig zu datieren und noch schwieriger zu deuten ist. Vielleicht bereits im April 1943 schrieb Anibal Almodovar an Mary Nuñez: Distinguished friend:- […] I want you to remember this that a certain day that you were speaking to a certain friend at 125th Street […] and you took him to the Love Camp at 113th & Lenox where you went upstairs you whore. […] Did you worry about me when you knew that I had sacrificed even my life for you […].174
Mary Nuñez formulierte in ihrem – undatierten – Antwortschreiben: It is not my fault that you fell in love and married such a young girl, the crazy the both of you. I don’t think that she loved you whatever happened is her fault. […] I don’t believe that I can forget […] that night, it seems like a dream, I don’t go anywhere, I only go to church and pray to God that he will forgive me for what happened that night […]. […] My love I do not forget anything, of what happened that night. […] I feel sorrowful and repentent [sic] and all I do is pray for forgiveness, for what you did that night.175
172 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Warden Kirby an Anibal Almodovar, 22. Juli 1943. 173 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Warden Kirby an Thomas E. Dewey, Governor of the State of New York, 22. Juli 1943; Warden Kirby an John A. Lyons, Commissioner of Corrections, 22. Juli 1943; Warden Kirby an Dr. John R. Ross, Chairman, Governor’s Commission, 22. July 1943. 174 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Anibal Almodovar an Mary Nuñez, ohne Datum. 175 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Mary Nuñez an Anibal Almodovar, ohne Datum.
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Ob die immerhin 40-jährige Mary Nuñez, die den jungen Almodovar ganz offensichtlich liebte, so naiv war zu glauben, dass die Korrespondenz mit einem Todeskandidaten nicht geöffnet wurde – oder aber ob sie ihren jungen Lover absichtlich ans Messer lieferte – ist ebenso wenig zu eruieren wie das Datum des Briefes, der immerhin während Anibal Almodovars Revisionsverhandlung vor dem Court of Appeals verfasst sein könnte. Mit dem Brief, der offensichtlich auf die Mordnacht anspielte, war Almodovars Revision aussichtslos; zur Schadensbegrenzung schrieb Anibal Almodovar am 14. August sofort an seinen Anwalt: ‚When she write[s], she write[s] without points or comas after she finish a sentence.‘176 Ein weiterer, nicht zu datierender Brief von Mary Nuñez an Anibal Almodovar enthält die Worte: I do not go out with anybody, I stay home and write to you for I love you with all my heart […]. I am ashamed and suffering night and day I cannot forget thinking of you alone and that you are going to die. […] Receive kisses from yours who will not forget you, Yours Mary.177
Anibal Almodovar antwortete am 18. August 1943 wie folgt: Unforget[t]able Maria: – […] [F]or you I scarifi[e]d my life and everything I had, I suffer night and day for what you are doing. […] On the sixteenth I die, I don’t want you to come to see me. The day that I die there will be tears in my eyes for my mother and for my wife who is my love eternally. My heart will be anguished for the suffering that I gave her. […] It is your love that was fatal to me […]. […] Write me more often, let me know if you are on 114th Street, I want to know the truth the cruel truth. […] Yours who is going to die but will always love you. Anibal178
Am 11. September versandte Warden Kirby die Einladungen an die Zeugen für die fünf Tage später angesetzte Exekution; einer von ihnen antwortete am 14. September: 176 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Anibal Almodovar an Robert Mitchell, 14. August 1943. 177 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 9391963, Akte: Anibal Almodovar: Mary Nuñez an Anibal Almodovar, vor dem 16. August 1943. 178 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Anibal Almodovar an Mary Nuñez, 18. August 1943.
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For your kind invitation to be present at the execution in your prison on Sept. 16th, 1943, I wish to thank you and to say that I shall […] be present.179
Am 16. September 1943 wurde Anibal Almodovar kurz nach 22 Uhr auf dem elektrischen Stuhl getötet; in der ‚Notice of Death‘ wird als Todesursache ‚Legal Electrocution‘ angegeben.180 Die Autopsie nahm Dr. Joseph T. Boyle vor; nachdem Dr. Boyle die Leber Almodovars auf 1065 Gramm und das Gehirn auf 1100 Gramm taxiert hatte, schrieb er: The body was that of a well-developed, rather poorly nourished, Negro male of approximately twenty-two years of age. All organs were found to be in an apparent normal condition.181
Am 16. Oktober 1943 fragte die Musterungsbehörde nach dem Status des Delinquenten; die Todesbürokratie in Sing Sing antwortete zwei Tage später bezüglich Anibal Almodovars: In reply to your letter of October 16th I wish to advise that the above noted inmate was legally discharged by electrocution […].182
Eine rassistisch-biopolitische Applikation der Todesstrafe um 1940 ist, zumindest für die Todesbürokratie des Sing Sing State Prison, nicht zu konstatieren, denn der Handlungsspielraum der Akteure in Sing Sing war geradezu verschwindend gering. Sämtliche Entscheidungen – bis zum Hinrichtungstermin – wurden richterlich angeordnet; das New Yorker Todesstrafensystem fungierte als verlängerter Arm der Gerichte und die Akteure in Sing Sing konnten bezüg179 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Frederick A. Aston an Warden Kirby, 14. September 1943. 180 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Sing Sing Prison, Notice of Death. 181 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Sing Sing Prison, Autopsy Report. Der weiße Puerto-Ricaner Anibal Almodovar wurde von Dr. Joseph T. Boyle wohl aus latentem Rassismus als ‚Negro‘ eingestuft. 182 NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 19391963, Akte: Anibal Almodovar: Selective Service System, L. O. Rothschild, Chairman, Local Board No. 48 an Warden Kirby, 16. Oktober 1943; Warden, Sing Sing Prison an Selective Service System, Local Board #48, 18. Oktober 1943.
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lich der Vollstreckung – anders als bei Haftsträflern, die durch gute Führung ihre richterlich angeordnete Strafe auf Empfehlung der Gefängnisbürokratie erheblich verringern konnten – so gut wie nichts entscheiden.183
5.5 D IE PSYCHIATRISCHE E LEKTROTHERAPIE AM V ORABEND DER SOG . ‚E LEKTROSCHOCKTHERAPIE ‘ Das elektrische Dispositiv artikulierte sich auch im Film, der eine wichtige Kommunikationsachse darstellte, über die die ElektroMacht in die Gesellschaft hineindiffundierte. So wird etwa im Filmklassiker ‚Frankenstein‘ (USA, 1931) durch vitalistische Ströme eine neue Art des Lebens erschaffen, wobei Forscher Henry Frankenstein einen aus gestohlenen Leichenteilen zusammengesetzten Körper belebt, der das ‚degenerierte‘ Gehirn eines Verbrechers enthält.184 Frankensteins Hochspannungslabor, Blitze zucken vom Himmel, mittels elektrischer Strahlen erweckt Frankenstein den Körper zum Leben – woraufhin sich die Kreatur durch ihr ‚Verbrechergehirn‘ zum mordenden Monster entwickelt, das von der aufgebrachten Dorfgemeinschaft getötet wird.185 Im Hollywood-Klassiker ‚Frankenstein‘ liegen ‚body electric‘ und ‚Kriminalbiologie‘ exakt auf einer Linie; ‚Frankenstein‘ zeigt einen wahnsinnigen Wissenschaftler, der elektrisch einen ‚degenerierten‘ Kriminellen erschafft. Dabei ist die elektrische Belebung des Kriminellen nichts anderes als ein narrativ umgedrehter, mit vitalistischen ‚Lebensstrahlen‘ betriebener: elektrischer Stuhl. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts expandierte das NY State HospitalSystem kontinuierlich; bis 1913 hatte sich die Zahl der NY State Hospitals von sieben auf 14 erhöht, während die Zahl der internierten PatientInnen von 15.507 (1. Oktober 1889) auf 35.026 (30. September 1913) hochschnellte.186 Bis 1913 waren in New York drei Mammut-Psychiatrien entstanden, von denen das Manhattan State Hospital auf Ward’s Island, New York City, mit 4.747 Insassen (30. September 1913) die größte war. Das Kings Park State Hospital (4.101 Insassen) und das Central Islip State Hospital (4.700 Insassen) waren
183 Squire, Sing Sing Doctor, 79. 184 Frankenstein (1931), Timecode: 6:51. 185 Frankenstein (1931), Timecode: 25:00. 186 First Annual Report of the NY State Commission in Lunacy. In: NY State Commission in Lunacy, Annual Report, October 1, 1894, to September 30, 1895, o.A., 1896, 744; NY State Hospital Commission, Annual Report, October 1, 1912, to September 30, 1913, 4.
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fast genauso groß; die beiden isoliert auf Long Island gelegenen Hospitäler entwickelten sich bis 1950 zu den größten Psychiatrien der USA, die nur noch vom benachbarten, 1931 in Brentwood, NY, eröffneten Pilgrim State Hospital übertroffen wurden.187 (s.u.) 1912 wurde das Brooklyn State Hospital/Creedmore State Hospital eröffnet, 1924 folgte das Harlem Valley State Hospital in Wingdale, NY, welches später als Relaisstation bei der Einführung der sog. ‚Insulin-Schocktherapie‘ in NY State fungierte (siehe Kapitel: 5.6). 1927 begann dann der Bau des Rockland State Hospitals, das für eine Kapazität von 3.750 Betten ausgelegt war – und das später u.a. als Schauplatz des Films ‚The Snake Pit‘ (USA, 1948) einen äußerst schlechten Ruf erlangte.188 Nachdem die politische Frage: ‚Was it better to have five 2,000-bed hospitals, two 5,000-bed hospitals or one of 10,000 beds?‘ im Sinne der 10.000Betten-Lösung entschieden worden war, wurde am 1. Oktober 1931 mit dem Pilgrim State Hospital auf Long Island ein aus 74 Gebäuden bestehendes MegaAsyl eröffnet, das bis heute das größte jemals betriebene Hospital aller Zeiten darstellt:
187 Die hier verwendete Zusammenfassung der jeweiligen Annual Reports findet sich in: NY State Hospital Commission, Annual Report, October 1, 1912, to September 30, 1913, 338-435. Epistemisch wurde diese bedeutende progressive Vermachtung durch das von Clifford W. Beers 1908 initiierte ‚Mental Hygiene-Movement‘ getragen. Während die Eugenik auf die Prävention von Kriminalität und Wahn durch Sterilisation setzte, führte das Mental Hygiene-Movement Devianz auf die Erziehung bzw. das soziale Umfeld zurück, das durch sozial-präventive Maßnahmen ‚psychohygienisch‘ entschärft werden sollte. (Albert Deutsch, The Mentally Ill in America – A History of Their Care and Treatment From Colonial Times. New York, NY, 1946, 300-330). 188 Das Rockland State Hospital plante 1935 außerdem eine auf 150 Betten ausgelegte Kinderstation; zwischen 1930 und 1935 wurden insgesamt 462 Kinder unter 15 Jahren in psychiatrische NY State Hospitals eingeliefert, die auch mit ‚harten‘ Diagnosen wie ‚manisch-depressives Irresein‘ oder ‚Schizophrenie‘ belegt wurden. (Leo P. O’Donnell, Prevision of the Development of the New Children’s Unit of Rockland State Hospital. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 9, No.3 (1935), 428) Am 1. Juli 1931 wurde die ‚Marcy‘-Division des Utica State Hospitals dann vom Utica State Hospital abgetrennt und in das autarke Marcy State Hospital umgewandelt, womit ein weiteres NY State Hospital entstanden war. (Marcy Division to Become A State Hospital. In: Psychiatric Quarterly, Vol.5, No.2 (1931), 392).
196 | M EDIZINISCHE G EWALT Four groups of continued treatment buildings are placed in the four corners of the large square area […]. […] These continued treatment buildings (Nos. 1, 2, 4, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 189
12, 14, 15, 27, 28, 30, 31 on the plot plan) are shaped like large tuning forks […].
Am 31. März 1950 waren im Pilgrim State Hospital 12.951 Patienten interniert; photographische Bildquellen aus dem Pilgrim- und dem benachbarten, nur wenig kleineren Central Islip State Hospital zeigen lobotomierte Patienten, ‚Elektroschocktherapie‘, gigantische Hospitalbauten – und PatientInnen, die in Gärten Ball spielen.190 Abbildung 20: Das Pilgrim State Hospital in den späten 1930ern; hier nur einer der diversen Mammutbauten, die das Pilgrim State Hospital zum größten betriebenen Asyl aller Zeiten machten.
Anders als von der Forschung – aufgrund fehlender medizinwissenschaftlicher Publikationen in zeitgenössischen Fachjournalen – angenommen, verschwand die klassische psychiatrische Elektrotherapie (Galvanisierung & Faradisierung)
189 Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1932, 23 und 24, sowie: passim. 190 Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1950, 9; NY State Archives B1974-08: NY State Department of Mental Hygiene, Photographic Material.
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auch in den 1920ern und 1930ern nicht aus der New Yorker Psychiatrie.191 Das Manhattan State Hospital vermeldete 1921: Hydrotherapeutic and electrotherapeutic treatments have increased during the year and have only been limited by the lack of trained nursing personnel.192
Dabei verwies der Superintendent explizit darauf, dass die elektrischen Anwendungen die Zahl der Fixierungen senke, was die Elektrotherapie als ärztliche Mikro-Justiz deutlich in pönalen Kontext stellt.193 In Utica wurde im August 1927 ein neues ‚physical therapy department‘ eröffnet, das mit diversen elektrotherapeutischen Gerätschaften auch für die klassische Elektrotherapie ausgestattet war: 1 Alpine lamp, 1 carbon arc lamp, 1 infra-red deep therapy lamp, 1 high frequency machine, 1 Kromayer lamp, 1 static machine, improved hydrotherapy apparatus, 1 galvanic sinusoidal machine […] and new modern X-ray equipment.194
Neben Hardware zur diathermischen Hochfrequenztherapie und elektrischer Lichtbehandlung wurden also auch eine statische Elektrisiermaschine (‚crown breeze‘) sowie eine Gleich- und Wechselstrommaschine (‚galvanic sinusoidal machine‘) angeschafft, die auch für elektrotherapeutische Applikationen am Kopf der Patienten geeignet war, was zeigt, dass die psychiatrische Elektrotherapie im NY State Care-System keinesfalls verschwunden war. Der UticaAnnual Report von 1929 verrät:
191 Sander L. Gilman, Electrotherapy and Mental Illness – Then and Now. In: History of Psychiatry, Vol. 19, No. 3 (2008), 339. Gilman formuliert: ‚The development of an analogous treatment, ›Electro-Convulsive Therapy‹, by Ugo Cerletti and Lucio Bini in 1937, replacing insulin and camphor therapy for schizophrenia, appeared at a point when electrotherapy had fallen out of fashion.‘ (Gilman, 340). Bildnachweis, Abbildung 20: http://www.cardcow.com/images/set294/card00467_fr.jpg (5. Mai 2013). 192 Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1921, 23/24. 193 Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1921, 24. Der Fokus der Ausführungen lag hier allerdings deutlich auf der Hydrotherapie (ebda.). 194 Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1928, 14.
198 | M EDIZINISCHE G EWALT The [physical therapy] department in Utica has been working to its fullest capacity. […] At Marcy […] [a] new galvanic and sinusoidal apparatus was also added to the equipment.195
Noch 1929 wurden vom Utica State Hospital Apparate zur klassischen galvanofaradischen Elektrotherapie angeschafft und 1930 fanden hier nachweislich 376 galvanische Anwendungen statt.196 Parallel bildete die Malariatherapie, die Fieberschübe hervorrief und zu heftigen Krampfanfällen führen konnte, einen wesentlichen Vorläufer der auf dem ‚Heilkrampf‘ basierenden (Elektro-) Schocktherapie auch in den USA.197 Die Malariatherapie geht auf den Wiener Psychiater Dr. Julius Wagner-Jauregg zurück, der 1917 erstmals die künstliche Infizierung von Syphilis-Patienten mit Malaria vorgenommen hatte, um die Syphilis durch die von der Malaria ausgelösten Fieberschübe zu bekämpfen.198 Syphilis ist eine bakterielle Infektionskrankheit, die im finalen Stadium (Neurolues) zu einer Zerstörung des Zentralnervensystems führt, was motorische Ausfallerscheinungen, aber auch Halluzinationen und Wahn hervorruft, sodass Neurolues-PatientInnen traditionell zur Gruppe der Psychiatriepatienten zählten.199 Im St. Lawrence State Hospital wurde die Malaria-Therapie im November 1925 eingeführt, doch Dr. Harry Worthing, später federführend in die Einführung der ‚Elektroschocktherapie‘ in New York involviert (siehe Kapitel: 6.2.2),
195 Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1929, 13. 196 Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1930, 17. Daneben fanden u.a. 1.122 diathermische Applikationen und 599 Anwendungen des ‚Electric baker‘ statt, der im Annual Report nicht weiter spezifiziert wird (ebda.). 197 Kneeland/Warren, Pushbutton Psychiatry, 46. 198 Zu Wagner-Jauregg siehe: Kurt Eissler, Freud und Wagner Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen. Wien, 1979, passim. 199 Inspiriert durch Wagner-Jauregg startete Dr. George Kirby, Direktor des NY State Psychiatric Institute, im Mai 1923 die ersten Malaria-Versuche in NY; eine bald darauf im Kings Park State Hospital durchgeführte Studie wies positive Resultate auf: ‚There is considerable difference in death rates between the series treated with malaria and arsenicals and those treated with arsenicals only or untreated; […].‘ (John L. Haskins, Review of 100 Malarial-Treated Cases of General Paralysis. In: Psychiatric Quarterly, Vol.5, No.4 (1931), 733).
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begann schnell nach Alternativen zu der den Organismus schädigenden Malaria zu suchen.200 Entsprechend versuchte Worthing, das Fieber bei seinen Lues-PatientInnen elektrisch auszulösen, indem er sie durch diathermische Hochfrequenzströme erwärmte, was die Syphilisinfektion durch ‚elektrisches Fieber‘ (‚electropyrexia‘, von gr. pyr, Feuer, Pyrexie = Fieber) kurieren sollte.201 Vor der äußerst unangenehmen Behandlung musste Dr. Harry Worthing seine PatientInnen sedieren;202 bereits 1927 hatte Dr. Leland Hinsie vom NY State Psychiatric Institute versucht, die Malaria-Therapie auf die Heilung von Schizophrenie und Wahn zu übertragen: We were desirous of finding out what the physical and mental reaction of patients with schizophrenia might be to inoculated malaria.203 200 Harry J. Worthing, Diathermy in the Treatment of General Paralysis. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 7, No. 2 (1933), 246/247. Worthing formuliert: ‚During the winter of 1926-1927, an effort to study one of these questions [‚Was some antibody produced?‘] was made by an attempt to produce an increase of temperature in the brain by applying the electrode of a diathermy machine to the head.‘ (Worthing, Diathermy in the Treatment of General Paralysis, 245). 201 Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatten die französischen Forscher Jacques-Arsène d’Arsonval und Stéphane Leduc mit den Hochfrequenzströmen – klassischer Wechselstrom, der seine Polarität außergewöhnlich schnell (bis zu 14 Megahertz) wechselt – die letzte große Entdeckung der Elektrophysiologie präsentiert: Durch die Hochfrequenz verliert der Wechselstrom seine klassischen Wirkungen; Hochfrequenzspannung vermag keine Muskelkontraktionen zu produzieren und ist nervlich auch nicht zu erspüren, kann aber Wärme im affizierten Gewebe erzeugen, die in ‚diathermischen‘ Anwendungen therapeutisch genutzt wurde. Auch am NY State Psychiatric Institute wurde 1930 mit der Elektropyrexie – hier via ‚Radiothermie‘, also einer Wärmeauslösung durch Strahlung – experimentiert: ‚We have raised the normal rectal temperature of 99.6 degrees F to 104 degrees F [40º C] and 105 degrees F in from 60 to 80 minutes. In one instance a temperature of 106.5 degrees F [42º C] was recorded.‘ (Hinsie/Carpenter, Radiothermic treatment of general paralysis. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 5, No. 2 (1931), 216). 202 Worthing formuliert: ,In an interview with an appreciative and intelligent recovered patient who had first been treated with malaria and subsequently with diathermy, he most emphatically stated that he would rather have a full course of malaria than one treatment of diathermy.‘ (Worthing, Diathermy, 251). 203 Leland E. Hinsie, Malaria Treatment of Schizophrenia. In: Psychiatric Quarterly, Vol.1, No.2 (1927), 210.
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1927 wurden im NY State Psychiatric Institute 13 ‚hebephrenische‘ Frauen zwischen 17 und 42 mit Malaria tertiana infiziert; eine 25-jährige und eine 38jährige Patientin starben: Both of the patients who died during treatment developed acute brain symptoms (headache, vertigo, vomiting, delirium and finally coma) and died shortly thereafter. It appeared, from a study of blood smears, that the two cases were overwhelmed with malarial parasites.204
Obwohl die rechtlichen Umstände dieser klinischen Malaria-Versuche (Einverständniserklärung?) am PI nicht zu eruieren sind, liegt es nahe, die tödliche Infizierung ausgruppierter PsychiatriepatientInnen mit Malaria als Medizinverbrechen zu werten.205 Auch in den 1930er Jahren wurde im NY State Hospital-System weiter elektrisch therapiert. So wurden etwa im Harlem Valley State Hospital im Jahr 1932 diverse Gleich- und Wechselstrombehandlungen vorgenommen: This clinic is very active […]. Dr. Kovacs, consultant, visits monthly. The following table shows the cases treated: Infra red…
437 […]
Diathermy…
932 […]
Sinusoidal…
327
Galvanic…
244206
Der erwähnte Dr. Richard Kovacs befürwortete in einem 1938 publizierten Artikel elektrische Applikationen an das Gehirn (s.u.); eine Statistik der zwischen
204 Hinsie, Malaria Treatment of Schizophrenia, 213. Zu den 13 Patientinnen, siehe: Hinsie, Malaria Treatment of Schizophrenia, 211. 205 Bereits um 1785 wurden französische PsychiatriepatientInnen absichtlich mit Krätze infiziert; Michel Foucault formuliert: ‚Am Ende des [18.] Jahrhunderts wird man die Gewohnheit annehmen, in den hartnäckigsten Fällen von Manie die Krätze künstlich zu übertragen. Doublet empfiehlt in seiner Instruction von 1785 den Hospitaldirektoren, wenn die Aderlasse, Purganzen, Bäder und Duschen eine Manie nicht haben beenden können, zu ›Ätzungen, Haarseilen, oberflächlichen Abszessen und der Übertragung der Krätze zu greifen.‹‘ (Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 312/313). 206 Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1932, 16.
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1932 und 1940 im Harlem Valley State Hospital durchgeführten Gleich- und Wechselstromapplikationen liest sich wie folgt: Tabelle 4: Elektrische Applikationen, Harlem Valley State Hospital, 1932-1940 Elektrische Applikationen, Harlem Valley State Hospital. Jahr:
Mit Wechselstrom (‚Sinusoidal‘)
Mit Gleichstrom (‚Galvanic‘)
1932
327
244
1933
381
407
1934
k. A.
k. A.
1935
57
124
1936
69
51
1937
51
45
1938
40
152
1939
24
7
1940
0
0
Im Februar 1941 wurde hier dann mit der ‚Elektroschocktherapie‘ (EST) begonnen.207 Anders als im Harlem Valley State Hospital, wo die klassische Elektrotherapie ein Jahr vor Einführung der EST auslief, war der Übergang von der psychiatrischen Elektrotherapie zur sog. ‚Elektroschocktherapie‘ in Utica fließend. 1942 wurden im ‚Physiotherapy Department‘ des Utica State Hospitals noch 13 gal-
207 Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1933, 18; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1935, 19; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1936, 20; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937, 21; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938, 20; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939, 21; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 18; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 21.
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vanische und zwei sinusoidale Behandlungen durchgeführt; der Annual Report von 1943 dann verrät: ‚An electric shock machine has been purchased and will be used in the near future.‘208 Damit wurde die galvano-faradische Elektrotherapie im Utica State Hospital direkt von der Elektroschock-Therapie abgelöst. 1938 publizierte Robert Kovacs einen Aufsatz zum Thema ‚Physical Therapy‘, der dezidierte Hinweise auf die psychiatrische Elektrotherapie am Vorabend der Einführung der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ enthält. In seinem Artikel klassifizierte Dr. Kovacs, inzwischen Facharzt des Manhattan State Hospitals, das 1938 vorhandene elektrotherapeutische Instrumentarium wie folgt: Galvanic current. Surgical galvanism (electrolysis) Low-frequency currents. Electrodiagnosis High-frequency currents-medical and surgical diathermy Static electricity[.]209
Neben einer Elektrotherapie der ‚Neurasthenie‘ forderte Dr. Robert Kovacs in ausgewählten Einzelfällen auch die harte faradische Therapie u.a. der Hysterie; die Elektrotherapie des Wahns (Dementia Praecox) stand bei Kovacs – zwei Jahre vor Einführung der ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA – deutlich in pönalem Kontext: Dementia præcox cases, if not too far deteriorated, showed some improvement in their mental state and became more easily manageable following general stimulation by ultraviolet radiation or the static bath; postencephalitis cases became more alert and showed more emotional stability following the same measures, and in selected eases following cerebral galvanism.210
Bei Schizophrenie würde die psychiatrische Elektrotherapie die ‚Patientenführung‘ erleichtern, wobei Dr. Kovacs der klassischen psychiatrischen Elektrotherapie hier exakt jenen Positiveffekt zusprach, den die EST-Verfechter kurz darauf auch der angeblichen ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ zuschrieben (siehe Kapitel: 6.3.2).
208 Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 21; Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Period Ending March 31, 1943, 22. 209 Richard Kovacs, The Role of Physical Therapy in the Treatment of Nervous and Mental Diseases. In: Psychiatric Quarterly, Vol.12, No.1 (1938), 125. 210 Kovacs, Physical Therapy, 134. Zur elektrischen Therapie der ‚Neurasthenie‘, siehe: Kovacs, Physical Therapy, 132, zur Hysterie, siehe: Kovacs, Physical Therapy, 133.
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5.6 E XKURS : D IE G EBURT DER DREI ‚S CHOCKTHERAPIEN ‘ IN E UROPA Die Insulin-Schocktherapie wurde 1933 durch Dr. Manfred Sakel in Wien, die Cardiazol-Schocktherapie 1935 durch Dr. Ladislaus von Meduna in Budapest und die Elektroschocktherapie 1937/38 von Dr. Ugo Cerletti und Dr. Lucio Bini in Rom entwickelt.211 Die medizinische Ratio – spätestens ab 1936 auch der Insulin-Schocktherapie – bildete der künstlich ausgelöste ‚Heilkrampf‘, ein generalisierter tonisch-klonischer epileptischer Krampfanfall, der den Wahn durch ungeklärte Mechanismen ‚therapeutisch‘ kurieren sollte.212 Ladislaus v. Meduna erläuterte 1937: ‚It is not the camphor or the Metrazol that cures the patients but the convulsion produced by those drugs.‘213 Der tonisch-klonische Krampfanfall steht also im Zentrum der sog. ‚Schocktherapien‘; NS-Psychiater Dr. Anton v. Braunmühl, Oberarzt der bayrischen T4Zwischenanstalt Eglfing-Haar, erklärt die Genese des Terminus ‚Heilkrampf‘ wie folgt: Von Anbeginn sind wir dafür eingetreten, das Kind beim Namen zu nennen: Wir machen Krämpfe und zwar Heilkrämpfe, keinen ‚Shock‘, erst recht keinen ‚Krampfschock‘.214
211 Holger Leinfelder, Die Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie in der Psychiatrie von 1922 bis 1945. Ulm, Univ. Diss., 2003; Matthias Hamann-Roth, Die Einführung der Insulinschocktherapie im Deutschen Reich 1935 bis 1937. Wetzlar, 2001; Shorter/Healy, Shock Therapy – A History of Electroconvulsive Treatment in Mental Illness. New Brunswick, NJ, 2007; Erwin H. Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie. Stuttgart, 1957, 97-98. 212 Bei der Insulin-Schocktherapie stand zunächst ausschließlich die Erzeugung eines hypoglykämischen Komas im Vordergrund. Nach Erfindung der CardiazolSchocktherapie und der damit erfolgten Deklarierung epileptischer Krampfanfälle als ‚heilsam‘, wurde dann auch die Insulin-Schocktherapie entsprechend umgestellt: ‚Nachdem […] Krampfanfälle als therapeutisches Mittel bei Geisteskrankheiten […] eingesetzt wurden, ging man auch bei der Insulinbehandlung noch einen Schritt weiter und führte die Insulinkomatherapie konsequent bis zur Auslösung von Krämpfen fort, welche man zunächst zu vermeiden suchte.‘ (Rudolf Nowak, Zur Frühgeschichte der Elektrokrampftherapie in der deutschen Psychiatrie (1937 bis Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts). Univ. Diss., Leipzig, 2000, 12). 213 In englischer Übersetzung zitiert nach: Shorter, Shock Therapy, 36. 214 Anton v. Braunmühl, Insulinschock und Heilkrampf in der Psychiatrie – Ein Leitfaden für die Praxis. Stuttgart, 1947, 127.
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Durch den geschickten semantischen Kunstgriff des ‚Heilkrampfes‘, der ‚bis an die Grenze des Todes gehend[e]‘ Konvulsionen als ‚therapeutisch‘ deklarierte, schuf Anton v. Braunmühl eine Erzählfigur, die das ‚Vernichtungsgefühl‘ als Heilung apostrophiert – und die Grenzerfahrung des Todes in die (NS-) Psychiatrie einführte.215 Bezüglich der Cardiazol-Schocktherapie formulierte Psychiatriepatient Walter T.: [M]an hatte natürlich eine Riesenangst davor […] es löste ein Angstgefühl aus, wie bei Herzleiden. […] Es ist, es ist… ich habe mir immer dann vorgestellt, wie wenn man da verschossen wird, wie eine Exekution, vom Militär.216
Von diesen quälenden Angstgefühlen des Verschossenwerdens wussten auch die behandelnden Ärzte wie etwa Dr. Max Müller, Direktor der Schweizer Heil- und Pflegeanstalt Münsingen, zu berichten:
215 Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 9. Peter Sandner formuliert: ‚Im Zentrum der nun angestrebten aktiven psychiatrischen Therapie standen insbesondere die in den zurückliegenden Jahren entwickelten Schockverfahren (›Konvulsionstherapie‹), die zum einen auf der Eingabe von Mitteln wie Cardiazol oder Insulin basierten und die zum anderen mit so umstrittenen Methoden wie dem Elektroschock arbeiteten. […] Gerade in den Nachkriegsprozessen versuchten Ärzte, die wegen Mordes angeklagt waren, sich ihre Therapieneigung und ihre angeblichen Heilanstrengungen als Pluspunkte anrechnen zu lassen, wobei opportunistische ‚Trittbrettfahrer‘ hierin eine Möglichkeit sehen mochten, mildernde Umstände zu erreichen. Offenbar fiel es den Justizbehörden dabei mitunter schwer, Anspruch und Wirklichkeit realistisch einzuschätzen. Dies zeigte sich beispielsweise im Urteil über den Eichberger Arzt Dr. Walter Schmidt, dem das Landgericht Frankfurt seinen (angeblichen) therapeutischen Aktivismus zugute hielt – er habe sich ›in besonders aktiver Weise für die Heilung der Geisteskranken eingesetzt‹ – und der deshalb eine mildere Strafe für die nachgewiesenen Morde erhielt.‘ (Peter Sandner, Verwaltung des Krankenmordes – Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus. Gießen, 2003, 546 und 547/548). 216 Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 60 und 61. Die Behandlung wurde nach 1950 in einer bundesdeutschen Psychiatrie durchgeführt; Walter T. fährt fort: ‚Also bei den schlimmeren Fällen, die renitent in der Anstalt waren, die bekamen meistens Cardiazol.‘ (Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 61).
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Gelang es nicht, das Medikament so zu dosieren, daß sofort ein voller epileptischer Anfall erfolgte […], so traten bei den Patienten qualvolle Todesangst und Vernichtungsgefühl auf, an die sie sich nachher erinnerten. Kein Wunder, daß sie sich oft sehr heftig gegen eine Wiederholung sträubten. […] Von daher mag es kommen, daß die Krampfbehandlung im Publikum wenig Anklang fand und das Odium einer Foltermethode nie recht los wurde.217
Speziell die Cardiazol-Schocktherapie wurde von den PatientInnen als ‚Foltermethode‘ empfunden, die einer Scheinhinrichtung gleichende ‚Vernichtungsgefühl[e]‘ auslöste; in Eglfing-Haar wurde der daraus resultierende Widerstand rücksichtlos gebrochen: Die Bestimmtheit des Therapeuten und der Ernst der ihn unterstützenden Hilfskräfte sollen dem Kranken zeigen, daß das Unabänderliche zu seinem Nutzen geschieht.218
Gleichzeitig hatte die Schocktherapie, wie Dr. Max Müller in seinen Erinnerungen formuliert, auch Negativeffekte auf die sie applizierenden Ärzte: Zum Barbarischen gehörte aber auch das Erlebnis des Zuschauers. Ich muss hier etwas bekennen, dessen ich mich als Feigheit schäme, gegen das ich aber nicht ankam: Der Anblick des künstlich erzeugten epileptischen Anfalls, insbesondere des verzerrten, blau gefärbten Gesichts war mir so schrecklich, daß ich mich davor zu drücken suchte, wo ich nur konnte.219
Dr. Müller überließ die ‚barbarische‘ Cardiazol-Schocktherapie lieber Kollegen, die nach eigener Aussage ‚robuster, nicht so zimperlich‘ wie er selbst waren.220 Wie das elektrische Töten, das auf seine Protagonisten völlig unterschiedlich wirkte, gab es also auch bei den angeblichen ‚Schocktherapien‘ Ärzte, die, wie Anton v. Braunmühl, völlig indifferent auf das von ihnen produzierte Leid reagierten – und andere, die wie Max Müller darunter litten. Die Geburt von Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie in Europa: Manfred Sakel wurde am 6. Juni 1900 in Galizien als Sohn jüdischer Eltern geboren, stu217 Max Müller, Erinnerungen – Erlebte Psychiatriegeschichte 1920-1960. Berlin [u.a.], 1982, 244. 218 Anton von Braunmühl, Insulinshock und Heilkrampf in der Psychiatrie – Ein Leitfaden für die Praxis. Stuttgart, 1947, 126. 219 Müller, Erinnerungen, 244. Die Blaufärbung des Gesichts resultierte aus dem den angeblichen ‚Heilkrampf‘ begleitenden Atemstillstand (Apnö). 220 Müller, Erinnerungen, 245.
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dierte in Brünn und Wien Medizin und wechselte 1927 nach Berlin, wo er schnell zum leitenden Psychiater eines Privatsanatoriums avancierte. Hier sammelte er Erfahrungen mit der Insulin-Applikation bei Morphium-Entzug; nachdem er bei seinen PatientInnen nach Unterzuckerung ‚charakterologische Veränderungen‘ feststellte, übertrug er das Auslösen von Hypoglykämien auf die Psychiatrie: [D]ie Tatsache, daß ich in einzelnen Fällen verblüffende psychische, ja charakterologische Veränderungen nach schweren hypoglykämischen Schocks beobachtete, […] veranlaßten mich einen Weg zu suchen, mittels schwerer hypoglykämischer Zustände Psychosen […] zu behandeln.221
Insulin ist ein Hormon, das den Blutzuckerspiegel regelt, indem es Gewebezellen anregt, Glukose aus dem Blut zu ziehen, was den Blutzuckerspiegel senkt. Nach Insulin-Applikation sinkt also der Glukoseanteil im Blut, wodurch bei Überdosen eine Unterzuckerung eintritt. Symptome dieser ‚Hypoglykämie‘ sind Hunger, Schweißausbrüche, Verwirrtheit und Somnolenz; nach ‚InsulinGrenzdosen‘ kommt es zu einem ‚hypoglykämischen Schock‘, der mit einer Bewusstseinstrübung eingeleitet wird und über Muskelzuckungen, Krampfanfälle und Koma zum Tode führen kann. Um ‚charakterologische Veränderungen‘ bei den hereditär ausgruppierten Psychiatrie-PatientInnen auszulösen, wurden von Dr. Manfred Sakel Insulindosen appliziert, die an der Grenze zwischen Leben und Tod liegende hypoglykämische Schocks auslösten; der Arzt und Medizinhistoriker Bernhard Richarz 221 Zitiert nach: Hamann-Roth, Die Einführung der Insulinschocktherapie, 11. Zu Manfred Sakels ersten Erfahrungen mit Insulin, siehe: Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 9; Hamann-Roth, Die Einführung der Insulinschocktherapie, 8-11. Insulin war schon vor Sakel in der Psychiatrie eingesetzt worden. Zu den Pionieren gehörten Paul Schmidt aus Frankfurt a. M., der 1928 über die ‚Insulindarreichung bei den verschiedensten Geisteskrankheiten‘ berichtete, Benno Slotopolsky, der Insulin ‚bei nahrungsverweigernde[n] Geisteskranke[n]‘ zur Appetitanregung verwendete, sowie H. Steck aus Lausanne, der ab 1929 Psychosen durch Unterzuckerung therapierte und nach Max Müller als ‚direkter Vorläufer Sakels‘ gelten kann. (Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 7-8) Nach der Machtusurpation durch die Nationalsozialisten emigrierte Manfred Sakel nach Wien; hier publizierte er am 10. November 1933 einen Artikel, der die Schizophrenie-Therapie mit ‚Insulin-Grenzdosen‘ schilderte und der die Geburtsstunde der Insulin-Schocktherapie markiert. (Hamann-Roth, Die Einführung der Insulinschocktherapie, 11-13).
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formuliert: ‚[Der Psychiater] versuchte [seinen Patienten] zu heilen, indem er ihn bis an die Grenze von Leben und Tod führte.‘222 Das Insulin wurde intramuskulär in den Gesäßmuskel injiziert; in der ersten Stunde erfolgten Schweißausbrüche, Speichelfluss und Schlafbedürfnis, in der zweiten Bewusstseinseintrübung und/oder Erregungszustand (‚Hungerkrawall‘), in der dritten Stunde Bewusstlosigkeit mit ‚Primitivbewegungen wie Saugen, Lecken der Lippen oder Zwangsgreifen‘; die vierte Phase beschreibt Richarz wie folgt: Wellenförmig liefen zu Beginn der vierten Stunde in steter Wiederholung […] Spasmen über den Körper, wobei die Arme und Hände gebeugt, die Beine gestreckt und die Füße nach innen gedreht waren. Sie konnten so stark werden, daß der Körper wie ein Bogen gespannt, nur noch auf Hinterkopf und Ferse ruhte.223
Mit der Insulin-Schocktherapie war eine völlig neue Qualität medizinischer Gewalt erreicht; als therapeutisches Ziel seiner Insulin-Schocktherapie gab Sakel an, dass der Schock eine ‚bis fast an die Grenze der Vernichtung reichende Erschütterung der Zelle‘ produziere, durch die ‚jede noch nicht fest fixierte Bahnung in derselben gelockert (vernichtet)‘ werde, was zu einer ‚Aktivierung der bereits überschatteten (versenkten) Bahnen‘ führe.224 222 Bernhard Richarz, Der Umgang mit psychisch kranken Menschen in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar von 1905 bis 1945. Univ. Diss, München, 1986, 118. 223 Richarz, Eglfing-Haar, 94/95. Das Koma kann – in der Regel – durch die Gabe einer Traubenzucker-Lösung unterbrochen werden, wobei der Zucker per Magensonde oder intravenös verabreicht werden muss, da der Schluckreflex während des Komas unterdrückt ist. 224 Zitiert nach: Leinfelder, 13 und 69. Max Müller qualifizierte Sakels WirkweisenModell als ‚ganz unhaltbar[e], hirnmythologisch[e] Theorie‘. (Müller, Erinnerungen, 146). ‚[S]pätestens Anfang August 1935‘ wurde die Insulin-Schocktherapie durch Dr. Wilhelm Ederle an der psychiatrischen Klinik der Universität Gießen eingeführt; im Februar 1936 folgte die Universitätsklinik Frankfurt a. M., im März eine Bonner Privatklinik, im April 1936 die Universität Tübingen und gleichzeitig mit der Heilund Pflegeanstalt Neustadt die erste psychiatrische Großanstalt. Im August 1936 hatten 24 Kliniken im nationalsozialistischen Deutschland die Insulin-Schocktherapie eingeführt, darunter die Badische Heil- und Pflegeanstalt Illenau, die später mit Eglfing-Haar das zweite wesentliche Zentrum der Schocktherapie in NSDeutschland bildete. (Hamann-Roth, 44-55, Leinfelder, 13). Die Einführung der Schocktherapie in der Illenau wurde von Dr. Egon Küppers geleitet, der sich bei Alfred Hoche, einem der zwei Verfasser der Schrift ‚Die Freigabe der Vernichtung le-
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Dr. Josefa Wiedeking, Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, die sich für ihre Dissertation einer Insulin-Schocktherapie unterzog, beschrieb die Aufwachphase wie folgt: ‚Wo bin ich denn nur? Hat man mir etwas angetan? – Wer ist denn da, und was soll das alles bedeuten?‘ Dann folgte das Glücksgefühl des (Wieder-) Lebendigseins: ‚Bin ich froh, daß ich wieder hier bin, bin ich froh, daß ich wieder bei euch bin!‘225
Die ab 1935 in die NS-Psychiatrie eingeführte ‚bis fast an die Grenze der Vernichtung reichende‘ Insulin-Schocktherapie stellte eine pönale Performanz des Todes dar, die historisch die sog. ‚Aktion T4‘ präfigurierte. Ladislaus von Meduna, der Erfinder der Cardiazol-Schocktherapie, wurde 1896 in Budapest geboren, wo er Medizin studierte und 1921 promovierte. 1934 stieg Meduna zum Oberarzt der Staatlichen Irren- und Nervenheilanstalt Budapest auf; hier forschte er an den Ursachen der Epilepsie beim Menschen und führte gleichzeitig Versuche an Meerschweinchen durch, bei denen er mit Kampfer-Injektionen epileptische Anfälle auslöste.226 Bereits 1929 hatten Medunas Kollegen Nyirö und Jablonszky die Beobachtung publiziert, dass Schizophrenie auf die Epilepsie eine positive Wirkung entfalte;227 entsprechend stellte Meduna die Hypothese auf, dass Epilepsie und bensunwerten Lebens‘, habilitiert hatte. Illenau-Direktor Dr. Hans Roemer, der 1937 mit v. Braunmühl und Küppers persönlich auf Max Müllers Insulinkonferenz in Münsingen vortrug, war Mitherausgeber der ‚Zeitschrift für psychische Hygiene‘, eine Ehre, die er sich mit Ernst Rüdin sowie Prof. Dr. Paul Nitsche, Direktor der Vernichtungsanstalt Sonnenstein bei Pirna und – mit SS-Oberführer Viktor Brack und Dr. Herbert Linden – führender Kopf der sog. ‚Aktion T4‘, teilte. (HamannRoth, 71-86; Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 27; Zeitschrift für Psychische Hygiene, Band 12 (1939), Deckblatt). 225 Richarz, Eglfing-Haar, 96-97. Zur ‚Sphäre der Wiedergeburt‘ in der mythologischen Überlieferung, siehe: Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main, 1999, 91. 226 Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 21-22. 227 Meduna formuliert: ‚Im Verlauf unserer Untersuchung fiel es uns auf, daß bei den Fällen von Schizophrenie, die mit Epilepsie kombiniert waren, die epileptischen Anfälle sehr oft vollständig verschwanden oder nur sehr selten auftraten.‘ Zitiert nach: Ladislaus v. Meduna, Versuche über die biologische Beeinflussung des Ablaufes der Schizophrenie – I. Campher- und Cardiazolkrämpfe. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Vol. 152 (1935), 236. Entsprechend versuchte Nyirö, Schizophrenie durch Bluttransfusionen von Epileptikern zu kurieren. (Kalinow-
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Schizophrenie ‚antagonistisch‘ seien, sich also gleichsam gegenseitig ausschlössen: [Es war] nicht uninteressant zu untersuchen, ob künstlich hervorgerufene epileptische Anfälle irgendeine Wirkung auf den Verlauf der Schizophrenie haben.228
Ladislaus v. Meduna wollte Schizophrenie durch das Erzeugen ‚antagonistischer‘ epileptischer Anfälle heilen; als Krampfauslöser griff er auf das 1923 entwickelte Pentamethylentetrazol (→ Handelsname Cardiazol) des Ludwigshafener Pharmakonzerns ‚Knoll‘ zurück, das bei Überdosierung zuverlässig als ‚Krampfgift‘ wirkte – und zugleich die oben beschriebenen ‚Vernichtungsgefühle‘ auslöste.229 Die generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfälle konnten dermaßen stark sein, dass der Körper seine eigenen Knochen brach: Chirurgische Komplikationen begegnen uns bei der Heilkrampfbehandlung erfahrungsgemäß am häufigsten dort, wo kräftige Muskelmassen ein mehrachsiges Gelenk überbrücken und damit leicht Riß- und Scherwirkungen am Skelett ausüben können.230
Dr. Anton von Braunmühl verglich hypoglykämische Insulinschocks mit der stetig anstürmenden ‚Infanterie‘, während er die Cardiazol-Schocks als die mächtigere ‚Artillerie‘ beschrieb, die jeden noch so tiefen Wahn als mythologische Panazee heilt: In der 8. Woche – nach 8 Halbshocks und 22 tiefen Insulinshocks – wird der erste Cardiazolblock gelegt. Am 2. Blocktag völlige Durchbrechung des Stupors. Die Kranke ist gesky/Hoch, Shock Treatments – And Other Somatic Procedures in Psychiatry. New York, NY, 1950, 4). 228 Meduna, Versuche, 237. 229 Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 23. 230 Braunmühl, Insulinshock (1947), 162. Im Frühjahr 1937 fand in der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Münsingen ein von Max Müller organisierter internationaler Kongress zu den neuen Schocktherapien statt, an dem 300 Psychiater teilnahmen, unter denen sich Manfred Sakel, Ladislaus v. Meduna sowie Anton v. Braunmühl befanden – und auf dem ein gewisser F. Georgie erstmals die Kombination von Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie im ‚Summationsverfahren‘ vorschlug, bei dem durch Cardiazol generalisierte Krampfanfälle während des Insulinkomas ausgelöst wurden, wodurch sich die Schockwirkung potenzierte. (Leinfelder, Geschichte der Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 26-28).
210 | M EDIZINISCHE G EWALT ordnet, frei, zeigt Krankheitseinsicht. Das gute psychische Befinden bleibt auch bei Führung durch Blocks von tiefen Insulinshocks gut.231
Abbildung 21 und Abbildung 22: Die von v. Braunmühl publizierten Fotografien aus der Fotostelle der Anstalt Eglfing-Haar sind deutlich inszeniert; vor der Schocktherapie erscheinen die Patientinnen nackt, desorientiert, fahrig; anschließend mit geordnetem Haar, bürgerlich gekleidet und mit festem, freundlichem Blick.
Ende 1936 wurde Dr. Manfred Sakel von Dr. Frederick W. Parsons, NY State Commissioner of Mental Hygiene, nach New York eingeladen, um im Harlem Valley State Hospital einen Fortbildungskurs abzuhalten, auf dem ausgewählte Psychiater des NY State Hospital-Systems die Insulin-Schocktherapie erlernen sollten. Manfred Sakel sagte zu; in der Einleitung des Harlem Valley State Hospital-Annual Reports für 1937 zelebrierten die NY State Hospital-Manager: Through the splendid cooperation of the Commissioner of Mental Hygiene, Dr. Frederick W. Parsons, Harlem Valley State Hospital was selected as an experimental center in hypoglycemia, which may prove to be the greatest forward step so far attained in the treatment of mental illness.232
231 Anton v. Braunmühl, Die kombinierte Shock-Krampfbehandlung der Schizophrenie am Beispiel der ‚Blockmethode‘. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Band 164, Berlin, 1939, 74. Siehe auch: Anton von Braunmühl, Die Insulinshockbehandlung der Schizophrenie (unter Berücksichtigung des Cardiazolkrampfes) – Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin, 1938. Bildnachweise, Abbildungen 21 und 22: Braunmühl, Kombinierte Shock-Krampfbehandlung der Schizophrenie, 74 und 78. 232 Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937, Report of the Board of Visitors, o.A.
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Das Harlem Valley State Hospital fungierte als Relaisstation bei der Einführung der sog. Insulin-Schocktherapie in New York, wobei die Adaption der Schocktherapie vom NY State Commissioner of Mental Hygiene, Dr. Frederick Parsons, zentral gesteuert wurde. Im Utica State Hospital wurde die Insulin-Schocktherapie am 10. Februar 1937 an zehn ‚[s]uitable women patients‘ erprobt; da die vermeintliche Therapie ‚not entirely free from danger‘ sei, wurde vor Behandlungsbeginn eine ‚Permission of Shock Treatment‘ eingeholt, auf die weiter unten noch zurückgekommen wird.233 (siehe Kapitel: 6.5.1) Am 27. Februar 1937 wurde die Insulin-Schocktherapie erstmals im Manhattan State Hospital erprobt; im berüchtigten Rockland State Hospital wurde augenblicklich eine ganze ‚Schockstation‘ eröffnet, wobei man schnell das härtere Cardiazol favorisierte, das in den USA unter dem Markenamen ‚Metrazol‘ im Handel war: Owing to our desire to bring therapy to a larger number of dementia præcox patients metrazol became the method of choice.234
Im Willard State Hospital, für das OMH Clinical Case Files vorliegen, wurde die Insulin-Schocktherapie am 2. März 1937 eingeführt; mit der Metrazol/CardiazolSchocktherapie wurde hier am 31. Januar 1938, also ein knappes Jahr später, begonnen: Because of the liability to injury from metrazol therapy, only a small number of patients was treated and later on it was discontinued entirely.235
Die Cardiazol-Schocktherapie wurde im Willard State Hospital als zu gefährlich eingestuft und augenblicklich wieder eingestellt; zwischen dem 1. Januar 1937
233 Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937, 11. 234 Rockland State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938, 25. Zum Manhattan State Hospital, siehe: Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937, 26. 235 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939, 17. Zur Einführung der Insulin-Schocktherapie, siehe: Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937, 15. Zur Cardiazol-Schocktherapie, siehe: Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938, 17.
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und dem 1. Oktober 1942 wurden im NY State Hospital-System rund 5.500 Patienten einer ‚Insulin-Schockbehandlung‘ unterzogen.236 Die Geburt der ‚Elektroschocktherapie‘ im faschistischen Italien: Die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ löste den generalisierten tonisch-klonischen ‚Heilkrampf‘ durch einen über die Schläfen applizierten zerebralen Elektroschock aus: Elektrische Wechselströme oder unterbrochenen Gleichstrom läßt man mittels an dem Schädel angelegter Elektroden auf das Gehirn einwirken, um dadurch Heilkrämpfe auszulösen.237
Schon Beard│Rockwell wussten, dass sich mit Elektrizität Krämpfe erzeugen ließen; ebenfalls in den 1880er Jahren löste B. Albertoni bei Versuchstieren elektrische Krampfanfälle aus, um durch die Gabe verschiedener Medikamente die ‚Krampfschwelle‘ zu erhöhen und so ein Mittel gegen Epilepsie zu finden.238 1922 führte Erich Schilf an der Universität Berlin ganz ähnliche Versuche durch, wobei er die Elektroden auf den Augäpfeln der Tiere platzierte.239 Schilf versuchte bei seinen überzeugenden Forschungen nach eigener Aussage erfolgreich, die Krampfschwelle durch die Gabe von Brom zu erhöhen, um ebenfalls ein Antiepileptikum zu entwickeln; zur Erzeugung der Krampfanfälle applizierte Erich Schilf eine Wechselspannung von 20 bis 40 Volt für 0.5 Sekunden: Das Tier fährt im Augenblick des Stromschlusses mit kurzem Bellen zusammen; […] Krämpfe sind jetzt noch nicht zu beobachten; erst nach einer Latenz von 2 - 5 Sekunden 236 NY State Temporary Commission of State Hospital Problems – Progress Report, November 30, 1942, 5. New York State Library, Call Number: HOS,810-4,INSST, 6616 36. Im Buffalo State Hospital wurde 1937 mit den Schocktherapien begonnen. (Buffalo State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938, 16). 237 v. Braunmühl, Insulinshock und Heilkrampf, 1947, 157. Auch EST-Psychiater Edward Bink aus dem Utica State Hospital formuliert: ‚Electric shock therapy consists essentially in the use of electricity in the production of a convulsion.‘ (Edward N. Bink, Electric Shock Therapy. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 20, Supplement 1 (1946), 233). 238 Beard│Rockwell, 202; Erich Schilf, Über experimentelle Erzeugung epileptischer Anfälle durch dosierte Starkstromenergie – Einfluß von Maßnahmen pharmakologischer, chirurgischer und serologischer Art auf die künstlich erzeugte Epilepsie. In: Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin, Vol. 29, No. 1 (1922), 129. 239 Schilf, Experimentelle Erzeugung, 130 und 133.
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treten zuerst Schnauzenkrämpfe auf, dann folgt ein tonischer Streckkrampf der gesamten Muskulatur. Hierauf beginnt ein klonischer Krampf aller Muskeln, wobei sehr oft die Extremitäten geordnete Laufbewegungen ausführen. Harn und Kot lassen die Tiere während des Anfalles unter sich. […] Nach dem Anfall ist das Tier meist benommen und schläfrig. Sehr häufig ist aber auch motorische Unruhe zu bemerken.240
Die von Schilf für seine Versuchstiere beschriebenen Reaktionen entsprechen exakt denen der Menschen auf einen krampfauslösenden Elektroschock (siehe Kapitel: 6.1). Ugo Cerletti, der spätere Erfinder der sog. ‚Elektroschocktherapie‘, wurde 1877 im norditalienischen Conaglino geboren, studierte in Turin, Heidelberg und Rom Medizin, graduierte 1901 und konnte 1925 zum Professor für Psychiatrie an der Universität Bari und 1935 zum Lehrstuhlinhaber an der Universität Rom avancieren.241 Max Müller formuliert: [M]it seiner hageren und großgewachsenen Statur imponierte er als vollendeter südländischer Kavalier, von dem gleichzeitig viel Herzlichkeit ausging. Sehr bedeutend möchte ich ihn nicht nennen.242
1935 begann Ugo Cerletti Forschungen, die die Rolle des Hirnareals Hippocampus im Verlauf eines epileptischen Anfalls fokussierten.243 Dabei induzierte Cerletti bei Versuchstieren epileptische Krämpfe, um deren Hippocampus-Gewebe anschließend mikroskopisch zu analysieren.244 Nachdem Ladislaus v. Meduna 1935 den angeblichen ‚Heilkrampf‘ ins Zentrum der psychiatrischen Schizophrenie-Therapie gestellt hatte, machte Cerletti den nächsten Schritt: Er folgerte, dass wenn sich die Krampfanfälle durch elektrische Schocks auslösen ließen, ein einfacheres und kostengünstigeres Mittel zur Krampfauslösung gefunden sei. Cerletti-Assistent Dr. Lucio Bini und der deutsch-jüdische Emigrant Dr. Lothar B. Kalinowski, ebenfalls im Lehrstuhl-Team, reisten nach Wien, um bei Manfred Sakel die Insulin-Schocktherapie zu erlernen; Dr. Lothar B. Kalinowski (siehe Abschnitt: 6.2) formuliert:
240 Schilf, Experimentelle Erzeugung, 134. 241 Shorter/Haley, Shock Therapy, 32-34; Lothar Kalinowsky, Ugo Cerletti, 1877-1963. In: Comprehensive Psychiatry, Vol. 5, No. 1 (1964), 64. 242 Müller, Erinnerungen, 245. 243 Shorter/Haley, Shock Therapy, 34. 244 Shorter/Haley, Shock Therapy, 34.
214 | M EDIZINISCHE G EWALT Als wir […] zurückkamen und unserem Chef Cerletti über Krampfbehandlung mit Cardiazol berichteten, war seine erste Frage, warum von Meduna nicht die viel einfachere elektrische Induzierung von Krämpfen anwandte.245
Im Mai 1937 hielt Dr. Bini auf der von Max Müller ausgerichteten Schocktherapie-Konferenz in Münsingen einen Vortrag unter dem Titel ‚Experimental Researches On Epileptic Attacks Induced by the Electric Current‘, der auf der Konferenz zwar völlig unbeachtet blieb, aber dennoch die intellektuelle Geburtsstunde der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ darstellte, da er erstmals das Prinzip des Auslösens von ‚Heilkrämpfen‘ durch elektrische Schocks propagierte.246 Wieder in Rom frequentierten Dr. Lucio Bini und Ugo Cerletti das örtliche Schlachthaus, wo zu schlachtende Schweine mittels einer am Kopf angelegten Elektrodenzange betäubt wurden.247 Hier führten Cerletti und Bini elektrophysiologische Versuche durch, die die tödliche Elektrizitätsdosis für Schweine auf 400 Volt (60 bis 150 Sekunden), die Krampfschwelle, ebenfalls bei Schweinen, auf 120 Volt (unter einer Sekunde) festlegte. Nachdem Cerletti und Bini der Abstand zwischen tödlicher Dosis und Krampfdosis ausreichend groß erschien, um die Sicherheit ihrer psychiatrischen PatientInnen zu gewährleisten, beschlossen sie, die elektrische Induzierung vermeintlicher ‚Heilkrämpfe‘ am Menschen zu testen: Als am 11. April 1938 ein erster Versuch misslungen war – laut Binis Aufzeichnungen rief der Patient (in englischer Übersetzung) ‚Attention! Another time is murderous!‘, erlitt aber keine Krampfanfälle – gelang es am 20. April 1938 bei demselben Patienten durch einen 0.5-sekündigen zerebralen Elektroschock von 92 Volt einen generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall auszulösen – womit die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ geboren war.248
245 Ludwig J. Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen – Lothar B.Kalinowsky. Bern/Stuttart/Wien, 1977, 154. 246 Müller, Erinnerungen, 245; Leinfelder, Geschichte der Insulin- und CardiazolSchocktherapie, 26. Zitiert ist die die englische Übersetzung des Vortragstitels im American Journal of Psychiatry: Lucio Bini, Experimental Researches On Epileptic Attacks Induced by the Electric Current. In: Americal Journal of Psychiatry, Vol. 94, No. 6, Supplement (May 01, 1938), 173. Zur ‚Schock‘-Konferenz selbst, siehe: Müller, Erinnerungen, 245; Shorter/Haley, Shock Therapy, 35-36. 247 Shorter/Haley, Shock Therapy, 36. 248 Shorter/Haley, Shock Therapy, 42.
6. Psychiatrische ‚Elektroschocktherapie‘ (EST), 1940-1950
6.1 D IE ‚E LEKTROSCHOCKTHERAPIE ‘ – E INE ANNÄHERUNG Die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde im US-Bundesstaat NY augenblicklich adaptiert, was die dispositive ElektroMacht aus psychiatrischer Elektrotherapie, elektrischem Stuhl und nun auch der EST auf ihren historischen Zenit brachte. So wurden in den NY State Hospitals um 1950 hunderttausende ESTAnwendungen jährlich appliziert, während im Sing Sing State Prison weiter auf dem elektrischen Stuhl exekutiert wurde. Durch die Integration der neuen, vor der Folie der tradierten psychiatrischen Elektrotherapie vielfach potenzierten ‚Elektroschocktherapie‘ verdichtete sich die ElektroMacht zu maximaler Kohäsion, wobei die ElektroMacht durch Presse, Film und die Permeabilität der totalen Institutionen in die Gesellschaft hineindiffundierte – und diese als elektrische Strafandrohung dispositiv überspannte und durchdrang. Im März 1944 wurde Lettie G., 39 [Name geändert], dreifache Mutter, ‚nervous and high-strung‘, in das psychiatrische Willard State Hospital eingeliefert: On admission the patient felt herself quite superior to the other patients. […] She had complained of pressure and pain in the top of her head, and her eyes fill with tears of selfpity as she talks about her troubles.1
Am 22. Mai 1944 wurde Lettie G. in den Behandlungsraum des Willard State Hospitals geführt und in Rückenlage auf einer Liege platziert. Anschließend wurde ihr von Willards EST-Psychiater Dr. Angelo J. Raffaele ein elektrischer 1
NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary.
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Schock von 130 Volt und 800 Milliampere an den Kopf appliziert, der in einer ‚Immediate Con[vulsion]‘ resultierte.2 Dr. Angelo J. Raffaele protokollierte in der Krankenakte (OMC Clinical Case File): E.S.T.#3 POST-TREATMENT EXCITEMENT. For about one half hour after each treatment this patient has been extremely restless, somewhat fearful and has been crying very loudly. For this reason she will be given sedation about one half hour before treatment from now on.3
Die Patientin reagierte auf den zerebralen Elektroschock von 10%iger Stromstärke des elektrischen Stuhls mit Panik (‚extremely restless, somewhat fearful and […] crying very loudly‘), weswegen sie bei den Folgeanwendungen sediert wurde. Mit der Einführung der ‚Elektroschocktherapie‘ in den USA begann sich die tradierte psychiatrische Elektrotherapie – Gleich- oder Wechselstrom, weit unter 50 Milliampere – schlagartig auf 650 bis 1000 Milliampere – Faktor zehn bis zwanzig, immer Wechselstrom, immer an den Kopf – zu potenzieren und auf diese Weise historisch präzedenzlos zu entgrenzen.4 Die drei ‚Schocktherapien‘ wurden in den NY State Hospitals meist in sog. ‚Shock Units‘ konzentriert; die Krämpfe selbst wurden durch industriell produzierte Elektroschockmaschinen ausgelöst, die äußerst robust und preiswert waren.5 Die ersten in den USA verwendeten ‚Konvulsatoren‘ waren den frühen ita2
NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Permission of Shock Treatment‘, Seven Day Note, ‚Electric Shock Treatment‘Chart.
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NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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Dr. Nathaniel J. Berkwitz verwendete für seine ‚subkonvulsive Elektroschocktherapie‘, zu der er erstmals 1939 publizierte, 20 Milliampere, wobei er seine PatientInnen schon bei diesen vergleichsweise niedrigen Strömen sedierte. (siehe Kapitel: 6.3.3).
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Worthing/Brill et al., The Organization and Administration of a State Hospital Insulin-Metrazol-Electric Shock Therapy Unit. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 99, No. 5 (1943), 692. Die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde in den NY State Hospitals meist den bereits bestehenden Insulin- und Cardiazol-Stationen (‚Shock Therapy Units‘) angegliedert; im Pilgrim State Hospital konnten ‚12 to 20 individuals‘ pro Stunde mit krampfauslösenden Elektroschocks ‚therapiert‘ werden (ebda.). PIDirektor Dr. Nolan Lewis formulierte bezüglich der Gerätschaften: ‚The apparatus used at the Psychiatric Institute is […] a rather simple apparatus with apparent sturdiness of construction […]. It sells commercially for single sets, at $250 including elec-
D IE ‚E LEKTROSCHOCKTHERAPIE‘
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lienischen Arcioni-Maschinen nachempfunden und bestanden aus dem eigentlichen via Steckdose an das Stromnetz angeschlossenen Schockgerät sowie den beiden an den Schläfen anzubringenden Elektroden.6 Die Maschinen waren mit einem Volt- und einem Milliampere-Meter ausgestattet und verfügten über einen automatischen ‚clock interrupter‘, durch den sich die Dauer des zerebralen Stromstoßes – von 0.1 bis 0.5 Sekunden – exakt bestimmen ließ.7 Im August 1939 erläuterte Dr. Lucio Bini auf einem Kongress in Kopenhagen, zur Erzeugung epileptischer Krämpfe sei Wechselstrom von 130 bis 145 Volt und zwischen 350 bis 1300 Milliampere bei einer Frequenz von 30 und 175 Hertz zu verwenden, der für eine Zehntelsekunde (oder länger) an die Schläfen zu applizieren sei.8 Der EST-Apparat war meist auf einem fahrbaren Rollgestell platziert; Anton v. Braunmühl hingegen bevorzugte in Eglfing-Haar ein mit 23 Meter langen Kabeln ausgestattetes Gerät, das stationär war, während er mit den Elektroden durch den Behandlungssaal schritt, um ‚das Unabänderliche‘ zu vollziehen.9
trodes, all ready to operate.‘ (Nolan D.C. Lewis, The Results of Electric Shock Therapy at the New York State Psychiatric Institute and Hospital. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 15, S1 (1941), 293). 6
Kalinowsky/Barrera, Electric Convulsion Therapy in Mental Disorders. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 14, No. 4 (1940), 720. Die erste professionell konstruierte ElektroSchockmaschine wurde in Italien von der Mailändischen Firma Arcioni konstruiert und im Oktober 1938 Prof. Ugo Cerlettis Laboren in Rom übergeben. (Shorter/Haley, Shock Therapy, 44-45).
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Lothar B. Kalinowsky formuliert: ‚The writers’ lowest current necessary to produce a convulsive seizure was 60 volts. Their highest – 130 volts, applied for 0.1 or 0.15 seconds – was enough to produce a grand mal attack in almost all cases […].‘ (Kalinowsky/Bigelow/Brikates, Electric Shock Therapy in State Hospital Practice. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 15, No. 3 (1941), 451).
8
Faedda/Becker [u.a], The Origins of Electroconvulsive Therapy – Prof. Bini's first report on ECT. In: Journal of Affective Disorders, 120 (1-3), Jan. 2010, 14. Im Willard State Hospital wurde um 1945 eine Spannung 110 bis 130 Volt bei 500 bis 1000 Milliampere und 60 Hz verwendet. (Faedda/Becker et. al., Origins of ECT, 14; NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, passim).
9
v. Braunmühl, Insulinshock und Heilkrampf, 146 und 126.
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Die verwendeten Elektroden variierten; es gab Elektrodenzangen, mit der Hand an den Schädel zu pressende Elektroden oder einfache Metallscheiben, die mit einem Gummiband am Kopf fixiert wurden.10 Vor der Elektroschocktherapie hatten sich die PatientInnen zu entleeren; für die EST wurde er/sie in Rückenlage, die Wirbelbrüche verhindern sollte, auf dem Behandlungstisch platziert: The electrodes are then […] applied bilaterally to the frontotemporal region slightly above and anterior to the ears.11
Nun folgte der krampfauslösende Elektroschock; im Jahre 1944 stoppte Friedrich Ruttner, Universitätsklinik Innsbruck, 121 ‚Heilkrämpfe‘, die er mittels eines ‚Konvulsator[s] der Firma Siemens & Reiniger‘ auslöste, mit einer Stoppuhr ab.12 Nach einem ‚blitzartig einsetzenden Kontraktionszustand der gesamten Körpermuskulatur (›initiale Zuckung‹)‘ kam es zunächst zur ‚tonischen Phase‘, deren Dauer zwischen 5 und 30 Sekunden, ‚im Mittel 13,2 Sek.‘ betrug.13 Ein Zittern der Augenlider zeigte den Übergang zur ‚klonischen Phase‘ des angeblichen ‚Heilkrampfs‘ an, die rund 29.5 Sekunden dauerte: Die Gesamtdauer des Krampfstadiums betrug also im Durchschnitt 42,7 Sekunden […]. Diese Werte lassen sich gut mit den von Ewald und Haddenbrock aus 25 Vollanfällen ermittelten Zahlen vergleichen, die als Dauer der tonischen Phase 13,8, der klonischen Phase 26,7 und des gesamten Krampfstadiums 40,5 Sek. fanden.14
10 Kalinowsky/Barrera, Electric Convulsion Therapy, 720; v. Braunmühl, Insulinshock und Heilkrampf, 144/145; Kalinowsky/Hoch, Shock Therapy, 107. Wie beim elektrischen Stuhl war die Größe der Elektroden exakt abzuwägen: ‚Large electrodes are used in order to avoid local burning of the scalp and to afford a greater radius of current passage through the brain.‘ (Kalinowsky/Barrera, Electric Convulsion Therapy, 720). 11 Kalinowsky/Barrera, Electric Convulsion Therapy, 722. 12 Friedrich Ruttner, Über den Elektrokrampf – Neurologische Beobachtungen. In: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Vol. 157 (1944), 170/171. 13 Ruttner, Über den Elektrokrampf, 170. 14 Ruttner, Über den Elektrokrampf, 172.
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Die Durchschnittsdauer des ‚Heilkrampfes‘ betrug also etwas mehr als 40 Sekunden. Mit Abschluss der ‚grand mal seizure‘ setzte ‚schnarchend die Atmung wieder ein‘, die während der Konvulsionen ausgesetzt hatte (Apnö).15 Neben dem generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall konnte es zu einer kleineren Reaktion kommen, die, ebenfalls an die Beschreibung epileptischer Krämpfe angelehnt, ‚petit mal‘-Reaktion bzw. ‚petit mal seizure‘ genannt wurde: This response […] is essential characterized by mere unconsciousness accompanied by apnea. […] [P]atients under this form of treatment become more and more terrified. […] Some articulate senseless sentences; others scream.16
Im Fall, dass kein elektrischer ‚Heilkrampf‘ mit Bewusstseinsaussetzer erzeugt wurde, führte die ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ – wie die Cardiazol-Schocktherapie – bei den PatientInnen zu schweren Angstzuständen. Der eigentliche Haupteffekt der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ bestand in schweren Memory-Defekten sowie einer ‚Verschlechterung verbaler und nonverbaler Leistungen‘; im Willard State Hospital notierten die PflegerInnen nach einer EST: ‚Returning from E.S.T. said, ›I [a]m lost‹ […]. Did not know his age.‘17 Die EST löscht das Gedächtnis als – so Gedächtnisforscher Hans Markowitsch – ‚Basis unserer Persönlichkeit‘ aus, wobei die via EST induzierten Memory-Defekte weiter unten ausführlich beschrieben werden (siehe Kapitel: 6.6.3).18 An dieser Stelle ist zunächst entscheidend, dass die PatientInnen die 15 Ruttner, Über den Elektrokrampf, 172. Auf den generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall folgte ein ‚postparoxysmale[s] Koma‘ mit anschließendem halbstündigem ‚confusional state‘ (ebda., sowie: Hoch/Kalinowsky, Shock Therapy, 114). 16 Hoch/Kalinowsky, Shock Therapy, 114. Im Stationsalltag wurde die Krampfart – petit mal- oder grand mal seizure – genau dokumentiert, um die angebliche ‚Elektroschocktherapie‘ zu evaluieren. 17 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Zur Verschlechterung der kognitiven Leistungen, siehe: Ines Noack, Der Einfluss von Neuroleptika auf klinische und elektrophysiologische Wirksamkeitsparameter einer Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten. Univ. Diss., München, 2005, 21. 18 Hans J. Markowitsch, Das Gedächtnis – Entwicklung, Funktionen, Störungen. München, 2009, 7. Zur Definition des Phänomens Gedächtnis zitiert Markowitsch den Forscher Rainer Sinz: ‚Unter Gedächtnis verstehen wir die lernabhängige Speicherung ontogenetisch erworbener Information, die sich phylogenetischen neuronalen Struktu-
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‚Elektroschocktherapie‘ aufgrund der resultierenden retrograden Amnesie nicht memorierten: ‚E.S.T.#5 […] Wanted to know how he got here and what kind of a treatment he had.‘19 Die EST wurde von den PatientInnen nicht erinnert, wodurch Dr. Lother B. Kalinowsky die ‚Elektrokrampftherapie‘ als schmerzlos deklarieren konnte: The immediate loss of consciousness, associated with the painless electric shock and complete amnesia throughout the treatment, removes many of the subjectively disagreeable elements in the pharmacologically produced convulsion. […] No patients maintained any unfavorable attitudes toward subsequent procedures of the same type.20 Of
Der ‚painless electric shock‘ würde aufgrund der resultierenden Amnesie vergessen, was anhand der OMH Clinical Case Files bestätigt werden kann; dass die PatientInnen die EST in den NY State Hospitals aber widerstandslos akzeptierten (‚[n]o […] unfavorable attitudes‘), ist eine Fehldarstellung, die weiter unten widerlegt werden kann.21 (siehe die Kapitel: 6.5.2 & 6.7) Die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde immer in einem sog. ‚Shock Course‘ von zehn bis 40 Anwendungen appliziert, der ein langanhaltendes Dauerunwohlsein verursachte, das perfekt geeignet war, die PatientInnen behavioristisch zu disziplinieren (siehe Kapitel: 6.6.2). Wie bei der Cardiazol-Schocktherapie konnte es ren selektiv artgemäß einfügt und zu beliebigen Zeitpunkten abgerufen, d.h. für ein situationsangepasstes Verhalten verfügbar gemacht werden kann. Allgemein formuliert, handelt es sich um koordinierte Veränderungen der Übertragungseigenschaften im neuronalem ›Netzwerk‹, wobei unter bestimmten Bedingungen den Systemmodifikationen (Engrammen) entsprechende neuromotorische Signale und Verhaltensweisen vollständig oder teilweise reproduziert werden können.‘ (ebda.) Markowitsch fügt dieser Definition von 1979 hinzu, dass das Gedächtnis in ‚Subsysteme‘ unterteilt ist und gleichzeitig eine ‚zeitliche Dynamik der Informationsverarbeitung‘ aufweist. (Markowitsch, Das Gedächtnis, 8). 19 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 20 Kalinowsky/Barrera, Electric Convulsion Therapy, 719 und 726. 21 Pilgrim State Hospital-Superintendent Dr. Harry Worthing formulierte über die EST: ‚The transient retrograde amnesia immediately following treatment need occasion no concern. Indeed it is precisely this amnesia which is responsible for the excellent cooperation which exists universally in patients receiving electric shock therapy in direct contrast to that of the patients subjected to metrazol.‘ (Harry J. Worthing, A Report On Electric Shock Treatment at Pilgrim State Hospital. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 15, S1 (1941), 308).
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– allerdings etwas seltener – auch bei der EST durch die Wucht der Krämpfe zu Knochenbrüchen kommen (siehe Kapitel: 6.5.2.); Dr. Lothar Kalinowsky kommentiert: The recognized concept of nil nocere remains the basic concept for every physician, but it is not meant to lead to therapeutic nihilism.22
6.2 L OTHAR K ALINOWSKY UND DIE E INFÜHRUNG DER EST IN NY S TATE , 1940 6.2.1 Kalinowsky am NY State Psychiatric Institute (PI) Historische Schlüsselfigur bei der Einführung der EST in NY State war Dr. Lothar B. Kalinowsky, der als Ugo Cerlettis Assistent in Rom direkt in die Konzeption der EST involviert gewesen war. Lothar B. Kalinowsky wurde 1899 in Berlin geboren, wo er 1922 sein Medizinstudium abschloss. Kurz darauf konnte er eine Stelle in der Anstalt HamburgFriedrichsberg antreten, die – in direkter Kooperation mit dem Hamburger Institut für Tropenmedizin – in der Weimarer Republik eine Führungsrolle in Sachen Malariatherapie einnahm.23 Nach Promotion und Forschungsaufenthalt in Wien bei Julius WagnerJauregg wechselte Kalinowsky vor 1926 an das Universitätsklinikum HamburgEppendorf, wo er unter dem bekannten Neurologen Prof. Dr. Max Nonne forschte. Max Nonne hatte im 1. WK die sog. ‚Kaufmann-Kur‘, die elektrische Züchtigung von ‚Kriegszitterern‘, betrieben24 und hing den darwinistischen Hereditätslehren an; eine von ihm applizierte ‚Kaufmann-Kur‘ beschrieb Nonne wie folgt: 22 Hoch/Kalinowsky, Shock Therapy, 142. Zu den Frakturen, siehe: Hoch/Kalinowsky, Shock Therapy, 143-148. Ein entsprechender Fall aus den OMH Clinical Case Files wird weiter unten geschildert. (siehe Kapitel: 6.6.2). 23 Ludwig J. Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen – Lothar B. Kalinowsky. Bern/Stuttgart/Wien, 147-164. Kalinowsky formuliert: ‚Es war die in der Psychiatrie ganz neue Möglichkeit, bestimmte psychotische Patienten auch therapeutisch zu beeinflussen, die […] auch zur Wahl meines nächsten Arbeitsplatzes, der Wiener Universitätsklinik unter Wagner-von Jauregg, dem Entdecker der Malariatherapie, führte.‘ (Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 148). 24 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 149 und 151. Kalinowsky kommentiert: ‚[Nonnes] umstrittene Methode, hysterische kriegsbedingte Lähmungen mit schmerz-
222 | M EDIZINISCHE G EWALT Im Halbdunkel […] liegt ein alter Hysteriker […] auf dem Behandlungstisch. […] [P]lötzlich, […] [e]in steifer Blick, ein verzerrtes Gesicht, die Muskeln wie Stricke angespannt […]. […] [D]ie Zähne klappern, die Haare sträuben sich, der Schweiß tritt auf das blass gewordene Gesicht.25
Dr. Lother B. Kalinowskys Interesse an psychiatrischer Elektrotherapie wurde schon früh durch seine akademischen Lehrer Wagner-Jauregg und Max Nonne geweckt. 1927 wechselte Kalinowsky an die Berliner Charité, doch die geplante Habilitation kam aufgrund der Zeitläufte nicht mehr zustande: Bald nach der Machtergreifung 1933 wurde mir klar, daß ich als ‚Mischling‘ beruflichen Beschränkungen unterworfen war, die eine Auswanderung nahelegten.26
Kalinowsky emigrierte nach Italien und konnte im Oktober 1933 an der römischen Universitätsnervenklinik beginnen; als Ugo Cerletti 1935 den dortigen Lehrstuhl für Psychiatrie übernahm, war Kalinowsky in die Geburt der EST dann direkt involviert: Das Ende begann mit dem Besuch Hitlers bei Mussolini, dem 1939 auf Drängen der Gestapo der Entzug des Ärztediploms für ausländische Nichtarier folgte.27
haften faradischen Strömen zu heilen, wies in der Tat Erfolge auf.‘ (Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 151) Max Nonne war ein Schüler Wilhelm Erbs; zu Erb und Nonne, siehe: Killen, Berlin Electropolis, 52/53. 25 Wolfgang U. Eckart, Kriegsgewalt und Psychotrauma im Ersten Weltkrieg. In: Seidler/Eckart, Verletzte Seelen – Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen, 2005, 97/98. Nonne formulierte bezüglich des Ersten Weltkriegs: ‚Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert.‘ (Eckart, Kriegsgewalt und Psychotrauma im Ersten Weltkrieg, 87). Wolfgang Eckart deutet diese Form der medikalisierten Folter als ‚gespenstische Szene totaler psychischer und physischer Gewalt des Therapeuten über seinen Patienten‘, wobei zu bedenken ist, dass sich die Psychiatrie mit der Einführung der ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ ab 1938 um ein Weiteres entgrenzte. (Eckart, Kriegsgewalt und Psychotrauma im Ersten Weltkrieg, 98). 26 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 153/154. Zu Kalinowskys geplanter Habilitation, siehe: Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 152. 27 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 155.
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Entsprechend emigrierte Kalinowsky mit Frau und Kindern nach Paris, wo er ‚einige Wochen lang‘ in der Salpêtrière praktizierte; nach Aufenthalten u.a. in Brüssel ließ er sich im Juli 1939 in London nieder: Meine Bemühungen, in London zu bleiben, waren […] durch die inzwischen verschärften Zulassungsbestimmungen für ausländische Ärzte ergebnislos. So verließen wir am 1. März 1940 schweren Herzens England und damit Europa, um in New York eine neue Existenz zu begründen.28
Mit einem Empfehlungsschreiben an den von Dr. Frederick Peterson installierten ehemaligen Direktor des NY State Psychiatric Institute, Prof. Dr. Adolf Meyer, ausgestattet,29 suchte Kalinowsky diesen augenblicklich an der John’s Hopkins University, Baltimore, auf: [D]a eine Approbation von Ausländern damals fast nur im Staate New York möglich war, [wurde ich] von Adolf Meyer an Nolan D. C. Lewis, Professor der Psychiatrie an der Columbia Universität und Direktor des New York State Psychiatric Institute, empfohlen. In diesem Institut, […] erhielt ich eine Position, die mir das Arbeiten auf dem Gebiet der somatischen Behandlungen [also den Schocktherapien, M.H.] ermöglichte […].30
1896 von Lunacy Commissioner Dr. Carlos F. MacDonald als ‚Pathological Institute of the NY State Hospital System‘ gegründet, stellte das NY State Psychiatric Institute (PI) das intellektuelle Gravitationszentrum der New Yorker Psychiatrie dar und hatte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer psychiatrischen Großforschungseinrichtung von Weltrang entwickelt, deren ärztliches Personal die Elite des psychiatrischen Ostküsten-Establishments stellte. Dr. Nolan D.C. Lewis, Direktor des NY State Psychiatric Institute, war Pionier der alternativen ‚orthomolekularen Medizin‘, die Pathologien mit hochdosierten Vitaminen therapierte (‚orthomolecular psychiatry‘); stellvertretender Di28 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 156. Zu London, siehe: Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 155. Kalinowsky formuliert: ‚Im Hôpital Ste. Anne in Paris interessierte man sich für die Konstruktion eines [EST-] Apparates […]. In Holland […] ließ sich eine Gruppe von Kollegen […] in die Methode einführen. In England hat J. P. Rees […] mich an der Einführung der Heilkrampfbehandlung teilnehmen lassen.‘ (Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 156). 29 New York Times, Dr. Adolf Meyer Appointed. 18. Dezember 1901. 30 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 157. Dr. Adolf Meyer wurde 1902 von Lunacy Commissioner Dr. Frederick Peterson als PI-Direktor installiert. (New York Times, Treatment of the Insane. 7. Dezember 1902).
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rektor war der an der Malaria-Therapie forschende Dr. Leland E. Hinsie (siehe Kapitel: 5.5). Des Weiteren forschten am PI fünf ‚Clinical Psychiatrists‘, 14 ‚Residents in Psychiatry‘, 14 ‚Assistants in Psychiatry‘ sowie acht weitere Abteilungsleiter, denen je ein Assistent sowie diverse Drittmittelforscher assoziiert waren.31 Die Insulin- und Cardiazol/Metrazol-Schocktherapie war dem Department of Psychiatry angegliedert; am PI wurde u.a. mit der neuartigen Elektroenzephalografie (EEG) gearbeitet, die elektrische Potentialschwankungen des Gehirns durch an die Kopfhaut angebrachte Elektroden aufzeichnete.32 Im Sommer 1940 wurde Dr. Lothar B. Kalinowsky dem ‚Department of Psychiatry‘ des NY State Psychiatric Institute assoziiert, wo augenblicklich mit Forschungen auf dem Gebiet der EST begonnen wurde: Another interesting method of shock therapy was initiated at the Institute during the year, that of the electric shock method of producing convulsions.33
Dr. Lother B. Kalinowsky, der ehemalige Assistent Ugo Cerlettis, führte die ‚Elektroschocktherapie‘ im NY State Psychiatric Institute ein und begann kurz 31 A. Hoffer, Dr. Nolan D.C. Lewis 1889-1979. In: Orthomolecular Psychiatry, Vol. 9, No. 2 (1980), 151-152. Das ‚NY State Psychiatric Institute and Hospital‘ gliederte sich in das eigentliche, in zehn Departments unterteilte Institut sowie ein angeschlossenes Mini-NY State Hospital; allein das ‚Department of Psychology‘ unterhielt sieben größere Forschungsprojekte zu Themen wie ‚Sex factors in the development of the personality‘ und ‚the verbal factor in deterioration‘, während das ‚Department of Biochemistry‘ im Tierversuch an Themen wie ‚the metabolism of brain lipids with deuterium‘ oder ‚cholesterol esterase in brain and liver‘ arbeitete. Das dem PI angeschlossene Forschungskrankenhaus therapierte Community-Patienten aktiv, klassifizierte die Fälle allerdings nach ihrem Wert für die Wissenschaften, wobei unspektakuläre Fälle schnell in gewöhnliche NY State Hospitals transferiert wurden. ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 3-5, 39-51 und 19) Die ‚daily average population‘ des PI-Forschungskrankenhauses betrug 1939/1940 148 PatientInnen, darunter diverse Kinder im sog. ‚Children’s Service‘. (PI, Annual Report, 1940, 69 und 20/21). 32 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 15. 33 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 8. Kalinowsky kommentiert: ‚Meine Tätigkeit war zunächst ganz auf die Schockbehandlung beschränkt.‘ (Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 157).
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darauf in das gigantische Pilgrim State Hospital, Long Island, zu pendeln, um hier mit hospitalisierten Langzeit-PatientInnen zu arbeiten.34 Damit ging die Einführung der ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ in New York in die zweite Phase über, da die EST – zunächst zu Forschungszwecken – vom NY State Psychiatric Institute auf das erste NY State Hospital übersprang.35 Das Pilgrim State Hospital (10.008 PatientInnen, Stichtag: 30. Juni 1941) wurde mittlerweile von Superintendent Dr. Harry J. Worthing geleitet, der Ende der 1920er im St. Lawrence State Hospital ausgiebig mit der ‚Elektropyrexie‘ experimentiert hatte und entsprechend gut mit elektrotherapeutischen Anwendungen vertraut war.36 Dr. Worthing formuliert im Pilgrim State HospitalAnnual Report für 1941: In November, 1940, electric shock therapy was introduced by Dr. Lothar Kalinowsky […]. During the period of this report, 250 cases were treated with 305 courses of shock. […] The therapies were distributed as follows: with insulin with metrazol with electric shock
132 courses of treatment 48 courses of treatment 125 courses of treatment37
34 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 157. 35 Für die Einführung der EST in NY State existiert eine zweite, unbedeutendere Linie, die mit den Namen Dr. David J. Impastato und Dr. Renato Almansi verbunden ist: Almansi, ein weiterer Assistent Cerlettis in Rom, immigrierte 1939 – eine ESTMaschine italienischer Produktion im Gepäck – nach New York, wo er auf den italienisch-stämmigen Dr. David J. Impastato stieß, der seit 1910 in den USA lebte. Anfang Februar 1940 führten Almansi und Impastato im Columbus Hospital, NYC, an der 29jährigen Josephine G., ‚a female schizophrenic‘, die erste belegte EST-Applikation New Yorks, wahrscheinlich der US-Geschichte, durch. Kurz darauf nahm der inzwischen in New York eingetroffene Kalinowsky – laut Impastato – Kontakt zu Almansi und Impastato auf. Während Kalinowsky im staatlichen Mental Hygiene-System aufstieg, gingen Impastato und Almansi einen anderen Weg und eröffneten – vom sich ebenfalls in NYC befindlichen Manfred Sakel inspiriert, der mit überteuerten ‚Insulinkuren‘ Millionen verdiente – eine private EST-Praxis. (Shorter/Healy, Shock Therapy, 74; Impastato-Papers, Oscar Diethelm Library for the History of Psychiatry, Cornell University, ohne Call-Number). 36 Pongratz, Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 157; Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 9. 37 Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 22.
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Direkt nach der Einführung der EST lag die Zahl der Elektro-Schockserien im Pilgrim State Hospital nur knapp unter der der Insulin-Schockserien und war mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der Cardiazol-Schockserien; die ökonomisch kostengünstige und direkt auf der dispositiven Linie der ElektroMacht liegende EST begann in den USA augenblicklich, die tradierten Schocktherapien zu verdrängen. Die historischen Hauptakteure der Einführung der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ waren am NY State Psychiatric Institute (PI): Dr. William Horwitz Associate Clinical Psychiatrist, PI Dr. S. Eugene Barrera Principal Research Psychiatrist, PI Dr. Nolan D. C. Lewis, PI Director, PI sowie im Pilgrim State Hospital: Dr. Peter V. Brikates Senior Assistant Physician, Pilgrim State Hospital Dr. Henry A. Brill Senior Assistant Physician, Pilgrim State Hospital Dr. Newton J. T. Bigelow First Assistant Physician, Pilgrim State Hospital Dr. Harry J. Worthing Superintendent, Pilgrim State Hospital Dr. Lothar B. Kalinowsky PI, assoziiert / Medical Interne, Pilgrim State Hospital38 38 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 7; [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 9/10; Nolan D.C. Lewis, The Results of Electric Shock Therapy at the New York State Psychiatric Institute and Hospital. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 15, S1 (1941), 292-297; Kalinowsky/Bigelow/Brikates,
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6.2.2 Das PI und die Distribution der EST in das NY State Hospital-System Aufgrund ihrer punktgenauen Verflechtung mit der ElektroMacht begann die EST die tradierten Insulin- und Cardiazol-Schocktherapien sofort zu verdrängen; der Jahresbericht des NY State Psychiatric Institute für 1941 konstatiert: The main form of shock therapy, utilized in the [Department of Psychiatry] during the year, was the electric shock method.39
1941 erhielt etwa ein Viertel aller PatientInnen des kleinen PI-Forschungskrankenhauses einen elektrischen ‚Shock Course‘: The establishment of the Psychiatric Institute as a sort of central point for the electric shock therapy seemed well accepted during the year. A great number of psychiatrists from New York State and other states came to view the treatment as it is used here.40
Das NY State Psychiatric Institute fungierte als zentrale institutionelle Schnittstelle der Einführung der EST in das NY State Hospital-System und stellte gleichzeitig eine entscheidende Relaisstation für die Distribution der EST an der US-Ostküste dar.41
Electric Shock Therapy in State Hospital Practice. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 15, No. 3 (1941), 450-459; Worthing/Brill et al., The Organization and Administration of a State Hospital Insulin-Metrazol-Electric Shock Therapy Unit. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 99, No. 5 (1943), 692-697. 39 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 7. 40 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 8. Im Haushaltsjahr 1940/1941 durchliefen 426 PatientInnen das PI-Forschungskrankenhaus, von denen 122 einen elektrischen Shock Course erhielten. ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 68 und 7). 41 Darüber hinaus war das NY State Psychiatric Institute 1941 stark auf der Jahresversammlung der American Psychiatric Association in Richmond, Virginia, vertreten, wo Kalinowsky-Koautor Dr. Barrera an einer ‚roundtable discussion‘ zum Thema EST teilnahm und die drei PI-Psychiater William Horwitz, Eugene Barrera und Lothar Kalinowsky ‚an exhibit on the method‘ präsentierten. ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 8). Lucie
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Während die einzelnen NY State Hospitals die ‚Elektroschocktherapie‘ ab 1941 sukzessive adaptierten, wurde im PI hochkarätige medizinische Grundlagenforschung – etwa zum Einfluss der EST auf Hirnströme, Blutstatus und Vitaminspiegel sowie hirnpathologische Langzeitstudien an Primaten – betrieben. Das NY State Psychiatric Institute begann sich in einem Paradigmenwechsel auf die EST zu fokussieren: Electroencephalographic observations were exceedingly interesting. The electroencephalographic studies were made by Drs. Barrera and Pacella and included observations on the changes in the electroencephalograms during individual seizures of the minor or generalized type […]. In general, the results showed that both types of seizures produce, as individual seizures, temporary changes in the brain electrophysiologically, as manifested in the electroencephalogram in the form of changes commonly associated with epilepsy in its various forms.42
Die tonischen und klonischen Krampfphasen der EST waren dem EEG zu entnehmen, wobei die beobachteten Potentialschwankungen denen der Epilepsie entsprachen; gleichzeitig erlebte der Terminus ‚Elektrophysiologie‘ in NY eine bedeutende Renaissance, was abermals auf die hohe Kohäsion der dispositiven ElektroMacht verweist. Als vielleicht wichtigstes Projekt fanden am PI elektrische Tierversuche statt, um mögliche aus der EST resultierende Hirnschäden zu eruieren: A study dealing with this question was concluded during the year by Doctors Barrera, Lewis, Pacella and Kalinowsky. Monkeys were subjected to electric shock procedures in every way comparable to those utilized in the human patient. The nervous systems were studied neuropathologically with the usual available techniques. Even in monkeys subjected to long series of seizures produced at the upper limit of clinically utilized voltages and current passage times, little pathology was seen and the findings were limited to occasional changes in nerve cells.43
Jessner, eine ehemalige Assistentin Max Müllers, führte die EST in der Region Boston ein; zur Einführung der EST im Raum Philadelphia, siehe: Impastato-Paper, 7-8, zu Chicago, siehe: Impastato-Paper, 14-15. 42 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 9. 43 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 9/10.
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1943 wurden die EEG-Forschungen am NY State Psychiatric Institute fortgesetzt: The electroencephalographic observations confirmed the earlier findings of Drs. Pacella and Barrera, demonstrating the existence of a definite but reversible electrophysiological disturbance occurring during the treatment which disappears within a matter of months following cessation of the treatment […].44
Noch Monate nach der EST waren bei den PatientInnen durch EEG also ‚electrophysiological disturbances‘ in den aufgezeichneten Hirnstromwellen festzustellen, die allem Anschein nach langsam wieder verschwanden. 1941/1942 wurden im Pilgrim State Hospital 280 Elektro-, 199 Insulin- und 100 Metrazol-Behandlungszyklen appliziert, womit die EST das Insulin als wichtigste ‚Schocktherapie‘ ablöste; im Harlem Valley State Hospital wurde mit der EST im Februar 1941 und im berüchtigten Rockland State Hospital im Herbst 1941 begonnen.45 Am Manhattan State Hospital wurde die EST im Januar 1942 eingeführt, nachdem ‚[o]ne of the staff members‘ im Brooklyn State Hospital an einem einmonatigen ‚refresher course‘ teilgenommen hatte: In January, electric shock treatment was introduced and 36 patients were treated. Of these, 10 recovered, 3 were much improved, 9 improved and 14 were unimproved; 15 patients receiving this treatment were paroled. Electric shock therapy has practically replaced metrazol.46
44 [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Period Ending March 31, 1943, 8. Bereits ab 1942 wurde im NY State Psychiatric Institute versucht, die ‚Elektroschocktherapie‘ zu verfeinern, um die angebliche ‚Therapie‘ durch die Verwendung vermeintlich sanfterer Stromarten und die Verabreichung von Muskelrelaxantien (Curare) zu entschärfen. (PI, Annual Report, 1942, 9-10). 45 Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 24; Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 21; Rockland State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 24. Die EST wurde bei 185 PatientInnen angewandt; dabei kam es im Rockland State Hospital 1941/1942 anscheinend zu einem Todesfall, wozu allerdings keine weiteren Angaben vorliegen; die EST-Tabelle enthält unter der Spalte ‚Died‘ lediglich den Eintrag ‚1‘. (Rockland State Hospital, Annual Report, 1942, 25). 46 Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 18.
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Im Manhattan State Hospital verdrängte die EST die Cardiazol-Schocktherapie augenblicklich; parallel verlief die Distribution der EST nicht nur über das PI, sondern auch von NY State Hospital zu NY State Hospital, wodurch ein Netz mit dem PI als ‚center point‘ und den NY State Hospitals an der Peripherie entstand, in welchem die NY State Hospitals untereinander wiederum kommunizierten. Parallel findet sich im Utica State Hospital-Annual Report von 1944 ein erster Hinweis auf ein folgenschweres Phänomen, das die Geschichte der ‚Elektroschocktherapie‘ als konstituierendes Element von Anfang an mitbestimmte: During the year there were 18 patients given this treatment […]: Dementia præcox Males – 2 Females – 6 Manic-depressive Males – 0 Females – 7 Involution psychosis Males – 0 Females – 2 Psychoneurosis Males – 0 Females – 147
Im Utica State Hospital waren 16 der 18 ersten EST-PatientInnen weiblichen (89%) und nur zwei männlichen (11%) Geschlechts; die Tatsache, dass die EST weit überproportional an Frauen durchgeführt wurde – und wird – und damit nach Geschlecht diskriminiert (im Schnitt: 70% Frauen, 30% Männer) wird weiter unten ausführlich analysiert.48 (siehe Kapitel: 6.6.3) Die ‚präfrontale Lobotomie‘: Mit der sog. ‚Lobotomie‘ wurde im PI 1947 begonnen; der operative neurochirurgische Eingriff in das Gehirn, durch den die Hirn-Substanz des präfrontalen Kortex durchtrennt bzw. zerstört wurde, ging auf den portugiesischen Medizinprofessor und Politiker António Egas Moniz zurück,
47 Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944, 20. 48 Im Hudson River State Hospital wurde die EST ebenfalls im Juli 1943 eingeführt. (Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944, 20).
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der für diesen zunächst ‚Leukotomie‘ genannten Eingriff 1949 – völlig unverständlicherweise – den Nobelpreis für Medizin erhielt.49 Die präfrontale Lobotomie erfolgte – hier an der Standardprozedur im Pilgrim State Hospital geschildert – unter intravenöser Sodium Amythal-Narkose mit Skopolamin- und Morphiumzusatz; nach Hauteinschnitten über dem seitlichen Schädel kurz vor den Schläfen wurde die vordere Knochennaht Sutura coronalis identifiziert, ein Bohrloch angebracht, durch dieses die Hirnhaut eröffnet, offene Gefäße eventuell mit Elektrokauterisation verschlossen – und dann eine ‚ventricle needle‘ sieben bis acht Zentimeter waagerecht in das Gehirn eingeführt. Anschließend wurde ein rund sechs Zentimeter langes sog. ‚Leukotom‘ – im Prinzip ein dünner Eisenstab – oberhalb der Nadel, die als Führung diente, in das Gehirn gebracht und die Nadel dann unter Einspritzung von Mohnöl aus dem Schädel entfernt: ‚The leukotome is then swung laterally as far as it will go.‘50 Nach der Zerstörung von großen Teilen des präfrontalen Kortex durch das seitliche Schwingen des ‚Leukotoms‘ wurde das einem Eispickel gleichende Gerät aus dem Schädel herausgezogen, um dann abermals in das Gehirn geführt und nun auf der medialen Achse (‚swung medially‘) geschwungen zu werden: There is usually a small amount of bleeding which is easily controlled by additional coagulation of the cortical vessels. No effort is made to replace the dura or to place anything in the burr hole. The skin incision is then closed with two layers of interrupted black silk sutures.51
Nach diesen rechtlich völlig unkontrollierten Aktivitäten hatte der Patient aufgrund schwerer Hirnschäden jeden aktiven Willen verloren; das Personal des Binghamton State Hospitals führte die ersten ‚Lobotomien‘ zwischen Mai 1946 und Dezember 1947 an 27 PatientInnen durch, die durch ihre ‚assaultiveness‘ auffielen: ‚There is a predominance of women (21) in this group – but only by coincidence.‘52 Von den ersten 27 Patienten, die im Binghamton State Hospital eine Lobotomie erlitten, waren 21 Frauen (77%); im Pilgrim State Hospital wurden zwischen Mai 1947 und Juli 1949 350 Lobotomien durchgeführt, wobei von den Pa49 [NY State] Psychiatric Institute, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1947, 16. 50 Worthing/Brill/Wigderson, 350 Cases of Prefrontal Lobotomy. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 23, No. 4 (1949), 629. 51 Worthing/Brill/Wigderson, 350 Cases of Prefrontal Lobotomy, 629. 52 Herman B. Snow, A Review of 27 Prefrontal Lobotomy Patients. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 23, No. 1 (1949), 26.
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tienten 105 männlich (30%) und 245 weiblich (70%) waren.53 Dabei entspricht die Rate der Diskriminierung nach Geschlecht exakt derjenigen der ‚Elektroschocktherapie‘; die Gefahr, eine Lobotomie zu erleiden war – bei gleichem Stationsverhalten – für Frauen also deutlich höher. Bezüglich der historischen Verflechtungen von Lobotomie und den Schocktherapien formulierten Hoch│Kalinowsky in ihrem Standard-Werk ‚Shock Therapy‘: The relationship between the two methods is not yet clearly established. […] Although the introduction of the operation followed closely the invention of the shock treatments, it was entirely unrelated to them.54
Im Behandlungsalltag wurde die Lobotomie jedoch ausschließlich an der ‚shockresistant group‘ durchgeführt, womit die Lobotomie als verlängerte Schocktherapie gelten kann.55 Die Ärzte, die sich in Sachen Lobotomie hervortaten und mithin an der äußersten Grenze medizinischer Gewalt operierten, waren grundsätzlich dieselben wie bei Einführung der EST, nämlich: Dr. Lothar B. Kalinowsky, Dr. Henry Brill und Pilgrim State Hospital-Superintendent Dr. Harry Worthing, was auf die tiefe diskursive Verflechtung von Lobotomie und ‚Elektroschocktherapie‘ verweist.56 Außerdem ist es wichtig zu erwähnen, dass sowohl die ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ wie auch die Lobotomie auf den präfrontalen Cortex zielen; die kalifornischen EST-Psychiater Dr. Mervin Shoor und Dr. Freeman Adams formulierten 1950: We are impressed with the resemblance that some of our patients who receive large amounts of electric shock treatment daily for many weeks bear to the lobotomized patient.57
53 Worthing/Brill/Wigderson, 350 Cases of Prefrontal Lobotomy, 619. Die erste ‚Lobotomie‘ im Pilgrim State Hospital wurde am 20. März 1945 vorgenommen. (Worthing/Brill/Wigderson, 350 Cases, 617). 54 Hoch/Kalinowsky, Shock Therapy, 217. 55 Worthing/Brill/Wigderson, 350 Cases of Prefrontal Lobotomy, 627. 56 Worthing/Brill/Wigderson, 350 Cases of Prefrontal Lobotomy, passim. 57 Shoor/Adams, The Intensive Electric Shock Therapy of Chronic Disturbed Psychotic Patients. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 107, No. 4 (1950), 281.
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6.3 ASPEKTE
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6.3.1 ‚New Deal in nerve endings‘ – EST, New Deal, Kriegsanstrengungen Die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde in der US-Psychiatrie 1940/41 sofort adaptiert und muss sich folglich in ein diskursives Set historischer Grundkonstellationen eingefügt haben, das ihre schnelle Einführung erst ermöglichte. Die dispositive ElektroMacht mit ihrer Tradition des elektrischen Strafens stellt mit Sicherheit die wichtigste dieser Grundkonstellationen dar: gewohnt, Devianz in New Yorks totalen Institutionen elektrisch zu disziplinieren, konnten die federführenden Eliten New Yorks die ‚Elektroschocktherapie‘ als konsequente Weiterentwicklung der lokalen elektrotherapeutischen Traditionen auffassen, weshalb sich die EST schlagartig mit der ElektroMacht amalgamierte. Daneben sollen hier zwei weitere Aspekte erwähnt werden, um die Einführung der EST auch in den Grundströmungen der US-amerikanischen Geschichte zu verorten: die historische Konstellation der New Deal-Ära sowie der 2. Weltkrieg, dessen Zwänge und Nöte darauf drängten, alle Arbeitskräfte zu mobilisieren: New Deal und ElektroMacht: Mit dem New Yorker Börsen-Crash von 1929 und der resultierenden präzedenzlosen Weltwirtschaftskrise geriet die in den Boom-Jahren der 1920er Jahre überhitzte US-Wirtschaft in einen ökonomischen Abwärtssog, der weite Teile der amerikanischen Gesellschaft in einem kollektiven Trauma demoralisierte.58 Bis 1932 sank die Industrieproduktion auf 54% und das Bruttosozialprodukt auf dramatische 43,5% (!) des Ausgangswertes von 1929; parallel begannen die Preise für Landwirtschaftsprodukte rapide zu fallen, wodurch die Agrarier ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, was auch das Bankwesen in die Krise riss: zwischen 1929 und 1933 fallierten über ein Drittel aller US-amerikanischen Banken, darunter die New Yorker Großbank Bank of the United States, was Ende 1930 einen panikartigen run auf die Spareinlagen auslöste.59 Am wirtschaftlich und auch mental fatalsten allerdings wirkte sich die hohe Arbeitslosigkeit aus, deren Härten durch das ohnehin rudimentäre Sozialnetz kaum aufgefangen
58 Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika. München, 1966, 111-113. Zu den vorangegangenen industriellen Produktionssteigerungen, siehe: Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 82-86, zu den Verlierern des beispiellosen Booms der 1920er: Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 96-98. 59 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 112-113.
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wurden und die auf dem Höhepunkt der Krise 1932/33 ein Viertel der arbeitsfähigen US-amerikanischen Bevölkerung erfasste. Olaf Stieglitz formuliert: In der Weltwirtschaftskrise […] traten die Versäumnisse des [US-amerikanischen] Wohlfahrtssystems in aller Deutlichkeit zum Vorschein. Das Ausmaß des industriellen und finanziellen Kollaps sowie das massive Anwachsen der Arbeitslosigkeit führten rasch zur Erschöpfung aller bislang üblichen Hilfsressourcen, und die Hoffnung auf einen baldigen zyklischen Aufschwung wurde enttäuscht.60
Die erdrutschartige Erosion des wirtschaftlichen Wohlstands führte zu einer ‚Stimmung […] trostloser Apathie‘ (Angermann), die das Land vielfach überzog. Im März 1933 avancierte dann der ehemalige NY State Governor Franklin D. Roosevelt zum US-Präsidenten, nachdem er dem tief verunsicherten amerikanischen Volk vorher einen ‚New Deal‘, eine grundlegende Neuverteilung der ökonomischen Karten, versprochen hatte.61 Franklin D. Roosevelt initiierte schnell ein 100-Tage-Programm staatlicher Interventionen (erster New Deal), das durch entschlossenen Aktionismus eine schnelle Beendigung der Krise erwirken sollte: So setzte die RooseveltAdministration preisstabilisierende Produktionsdrosselungen in der Landwirtschaft durch, versuchte, die brachliegende Industrie durch den ‚National Industry Recovery Act‘ (NIRA) zu stabilisieren und regulierte ebenso energisch wie erfolgreich das Bankensystem, was verlorengegangenes Vertrauen wiederherstellte.62 Außerdem wurde Ende März 1933 mit dem ‚Civilian Conservation Corps‘ (CCC) ein Arbeitsbeschaffungsprogramm initiiert, das zwischen 1933 und 1942 in ‚zeitweise über 2.000 Camps […] insgesamt fast drei Millionen‘ primär junge weiße Jugendliche beschäftigte, die für einen Tagessatz von 1$ öffentliche 60 Olaf Stieglitz, 100 Percent American Boys – Disziplinierungsdiskurse und Ideologie im Civilian Conservation Corps, 1933-1942. Stuttgart, 1999, 53. 61 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 117. Zu den verzweifelten Versuchen Hoovers, die ‚Great Depression‘ zu überwinden, siehe: Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 113-121. 62 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 131-139. Zur Periodisierung des ‚New Deal‘, siehe: Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 130/131, zur teilweise von der Roosevelt-Administration mitverschuldeten Krise von 1937, siehe: Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 168-169. Trotz des gewaltigen Maßnahmenbündels des ‚New Deal‘ konnten erst die Rüstungsausgaben des Zweiten Weltkriegs die desaströse Krise beenden und die US-Wirtschaft in die ballistischen Höhen der ‚Affluent Society‘ katapultieren. (Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 131).
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Arbeiten im Erosionsschutz leisteten und parallel staats- und geschlechterpolitisch geformt wurden (CCC = ‚Builde[r] of Men‘).63 Ab 1935 wurde die großangelegte Reform des ‚New Deal‘ dann durch ein weiteres Maßnahmenbündel (u.a. ‚Social Security Act‘) komplettiert.64 (zweiter ‚New Deal‘) Franklin D. Roosevelts Formel des ‚New Deal‘ wurde schnell zur Chiffre eines aktiven Neuanfangs, an dem die vielfach krankende US-Gesellschaft real und metaphorisch gesunden sollte. Bereits 1932 hatte US-Präsident Roosevelt die Notwendigkeit ‚to inject life‘ in das kränkelnde Wirtschaftssystem betont und schon von den Zeitgenossen wurde die Wirtschaftskrise als ‚Great Depression‘ empfunden; ein Terminus, der die ökonomischen, aber auch die psychischen Verwerfungen der ‚New Deal‘-Epoche in einer zumindest partiell psychologischen Metapher reflektiert.65 Auch die ‚Schocktherapien‘, die individuellen psychischen Krisen durch den an der Grenze zwischen Leben und Tod angesiedelten ‚Heilkrampf‘ mit einem wiederauferstehungshaften ‚Neuanfang‘ entgegensteuerten, basierten auf der energischen Neu-Konfiguration des gestörten Systems, was das Narrativ der ‚Schocktherapie‘ mit den diskursiven Tiefenströmungen der ‚New Deal‘-Epoche dispositiv kompatibel machte. So publizierte die New York Times im November 1939 einen Artikel zu Versuchen mit Cardiazol/Metrazol, die der Anatomie-Professor Dr. Speidel aus Virginia unternahm, indem er Kaulquappen nach der Applikation von Cardiazol mikroskopisch analysierte. Nachdem der Forscher festgestellt hatte, dass die vom Cardiazol verursachten Veränderungen an den ‚nerve endings‘ den typischen Verletzungen durch ‚electricity, alcohol, […] cutting or bruising‘ entsprachen, beobachtete er, dass sich die Nerven nach dem Schock neu verknüpften: ‚New nerve endings grow out to establish new connections which are different from those found before the metrazol treatment,‘ the Virginia anatomist said. ‚In other words, the metrazol treatment has brought about a ‚new deal‘ in nerve endings.‘66
63 Stieglitz, 100 Percent American Boys, 96 und 203. 64 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 152-164. Außerdem installierte Roosevelt die gigantische Tennessee Valley Authoroty (TVA), die den Tennessee River koordiniert mit Dämmen, Schleusen und E-Werken versah, um die darbende Region zu re-vitalisieren. (Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 139). 65 So Roosevelt im Mai 1932 vor der Oglethorpe University, nach: http://newdeal. feri.org/speeches/1932d.htm (8. März 2013). 66 New York Times, New Centrifuge Perfects Serums. 19. November 1939.
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Prof. Speidel präsentierte die (Cardiazol-) Schocktherapie als ‚new deal in nerve endings‘, als eine mit dem ‚New Deal‘ korrespondierende Neuverknüpfung der Seele, wodurch sich die Schocktherapien mit der energischen Re-Vitalisierung der USA durch Roosevelts ‚New Deal‘ narrativ verflochten. Auch die ‚Elektroschocktherapie‘, kurz nach Speidels Interview eingeführt, wäre – gerade mit dem von ihr verursachten Gedächtnisverlust und dem anschließenden ‚Wiedererwachen‘ – zu deuten als performativer elektrischer ‚reboot‘ – als ein dem ‚New Deal‘ entsprechender radikaler ‚Neustart‘ des krisengeschüttelten bzw. kranken (psychischen) Systems.67 ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ und Kriegswirtschaft: Mit dem Scheitern der britischen ‚Appeasement‘-Politik und dem antisemitischen Pogrom von 1938 war Franklin D. Roosevelt restlos desillusioniert und begann ab 1939 energisch den Kampf gegen NS-Deutschland vorzubereiten.68 Nach Ausrufung einer maritimen Sicherheitszone um Nord- und Südamerika gingen die USA dann spätestens ab März 1941 in den verdeckten Kriegszustand über, indem sie den Gegnern der Achsenmächte überlebenswichtiges Kriegsgerät vermieteten (→ ,LendLease‘), was Hitler veranlasste, den USA nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor den Krieg zu erklären.69 Der US-amerikanische Kriegseintritt hatte eine ungekannte Mobilisierung der gewaltigen wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen der USA zur Folge: 16 Millionen US-Amerikaner dienten in den Streitkräften, darunter eine Million Afro-Amerikaner und 140.000 Frauen im ‚Women’s Army Corps‘, zu denen bis Ende des Krieges zahllose Krankenschwestern sowie 94.000 WAVES (Women Accepted for Volunteer Emergency Service, U.S. Navy) kamen.70 Die US67 Für den Hinweis auf den möglichen diskursiven Konnex von Schocktherapie und New Deal-Ära sei an dieser Stelle Norbert Finzsch gedankt. 68 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 189-193. 69 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 191/192 sowie 197/198. 70 M. Michaela Hampf, Release a Man for Combat – The Women’s Army Corps during World War II. Köln/Weimar/Wien, 2010, 31 und 32 (Zahl der WAVES: Offiziere und Mannschaften). Im Gegensatz zu homosexuellen Soldaten männlichen Geschlechts wurde bei gleichgeschlechtlich orientierten weiblichen Soldatinnen interessanterweise häufig ‚ein Auge zugedrückt‘; M. Michaela Hampf formuliert: ‚Psychiatrists sought to apply their concepts of transference and sublimation to the women soldiers. Trainees who had ›potential homosexual tendencies,‹ they advised, could be ›deterred from active participation‹ in sexual relations and should be encouraged to sublimate their desires into a ›hero-worship‹ type of reaction or into ›a definite type of leadership.‹ This attempt to desexualize women’s relationships by redirecting their sexual energy into to military purposes stood in stark contrast to the military’s traditional and official po-
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Wirtschaft begann unter den kriegsbedingten Rüstungsaufträgen zu florieren, indem neue High-Tech-Bereiche entstanden und seit der Great Depression brachliegende Kapazitäten neu genutzt wurden. So wuchs die US-Industrieproduktion ‚fast auf das Zweieinhalbfache der Vorkriegsjahre‘; wie Roosevelt Ende 1940 in einer seiner berühmten Radioansprachen (‚Fireside Chats‘) prophezeit hatte, waren die USA durch ihre gewaltigen Ressourcen zum ‚Arsenal of Democracy‘, zum Waffenarsenal der Freien Welt geworden.71 Naturgemäß war auch die Psychiatrie in diese beispiellose Mobilisierung des US-amerikanischen Wirtschaftspotentials eingebunden, da es schon in Friedenszeiten zu ihren – neben der Verwahrung unbotmäßiger Individuen – wichtigsten Aufgaben gehörte, deviante PatientInnen zu re-normalisieren, damit sie in die Gesellschaft zurückkehren konnten, um ihre gesellschaftlichen Aufgaben wieder zu erfüllen. Diese wichtige Teilaufgabe der Psychiatrie gewann in Kriegszeiten, in denen die ‚Arbeit‘ zu einem überlebenswichtigen Faktor avancierte, deutlich an Relevanz, wobei die Einführung der EST in NY State (1940 bis 1943) genau in jene Zeit fällt, in der die Psychiatrie gehalten war, möglichst viele deviante Individuen zu kurieren, um sie in die ‚work force‘ der Heimatfront zu re-integrieren. Entsprechend formulierte Dr. Harry Worthing, Superintendent, Pilgrim State Hospital, 1943 im Psychiatric Quarterly: The present lack of labor is the strongest reason for intensification of any process by which the sick can be returned to health and to industry in larger numbers. The personnel saved by suspending shock therapy would soon be exhausted as a result of the consequent increased hospital retention rate.72
In der nationalen Notlage seien die Schocktherapien am besten geeignet, PsychiatriepatientInnen in den kriegswichtigen Wirtschaftskreislauf zu reintegrieren. In der mobilisierten Kriegsgesellschaft erfüllte die ‚Elektroschocktherapie‘ also auch die Aufgabe, die PatientInnen – ähnlich der sog. ‚KaufmannKur‘, die ‚Schüttler‘ bzw. ‚Kriegszitterer‘ im 1. WK elektrisch an die Front zurückzwang – zur Rückkehr in den Wirtschaftskreislauf zu ‚motivieren‘.
sition that (male) homosexuality threatened morale and discipline and was incompatible with military service.‘ (Hampf, Release a Man for Combat, 263). 71 Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika, 209; http://www.presidency.ucsb. edu/ws/index.php?pid=15917 (8. März 2013). 72 Worthing/Brill et al., The Organization, 696.
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Parallel konnte durch die elektrische Befriedung der NY State Hospitals leistungsfähiges Psychiatriepersonal für die Front bereitgestellt werden; der Willard State Hospital Annual Report für 1945 formuliert: At the end of the fiscal year 5 of our physicians and 95 of our employees were in various branches of the military service. […] First Lt. Donald H. Moon […] died on Palu Island on September 29. T/Sgt. Jack E. Kearns, formerly employed at this hospital, has been awarded the air medal for meritorious achievement while participating in heavy bombardment missions over enemy-occupied Europe. He is an aerial engineer on an Eighth Air Force B-24 Liberator.73
Auch durch das via EST maßgeblich vereinfachte ‚Patientenmanagement‘ konnte Psychiatriepersonal für den Militärdienst freigesetzt werden und so an den existenziellen Kriegsanstrengungen partizipieren. 6.3.2 ‚Behaviour Management‘ – EST als ärztliche Mikrojustiz Bevor die angebliche ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ hier anhand der streng restringierten OMH Clinical Case Files erstmals en détail analysiert werden kann, soll zunächst ein kurzer Blick auf die Publikationen der EST-Psychiater geworfen werden, um auch deren Sicht der ‚Elektroschocktherapie‘ zu rekonstruieren. Die ärztliche Kommunikation über die EST in klinischen Fachpublikationen, die zwar zuweilen hermetisch, aber prinzipiell doch jedermann zugänglich waren, erforderte ein gewisses sprachliches Geschick, da der Pönalcharakter der EST einerseits kaschiert werden musste, um keine gesellschaftlichen Gegenreaktionen zu provozieren, andererseits aber auch Klarheit über die Verwendung der EST als Strafe im Stationsalltag herrschen musste, um über diesen wichtigen Aspekt fachlich zu kommunizieren. Folglich bedienten sich die Psychiater diverser ausgefeilter Euphemismen, um die disziplinierende Wirkung der EST zu umschreiben. Wohl am geschicktesten hat sich hier Max Müller aus Münsingen ausgedrückt, der bezüglich der Schocktherapien von den ‚psychodynamischen Aspekte[n] der körperlichen Behandlung‘ sprach; eine meisterhafte Chiffre, die ohne jeden Hinweis auf die produzierten ‚Mißempfindungen‘ (v. Braunmühl) auskam und doch jedem, der genau zu lesen vermochte, die aus den Elektroschocks re-
73 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1945, 5.
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sultierende Unterwerfung als einen aus einer Körperstrafe resultierenden ‚psychodynamischen‘ Effekt erklärte.74 Auch in den USA verwendeten die Psychiater beschönigende Euphemismen, um die Wirkung der EST zu verhüllen. So sprachen sie im Kontext der EST von ‚hospital adjustment‘, vom ‚management of acute excitement states‘, von der Erziehung zu ‚better ›ward citizens‹‘ oder dem ‚improve[ment] of ward behavior‘, von der Applizierung der EST ‚as indicated by behavior response‘ oder als ‚aid in preventing development of […] bad habits‘.75 Während die PatientInnen die Schocktherapien als ‚Foltermethode‘ (Max Müller, hier zur Cardiazol-Schocktherapie) bzw. eine ‚form of punishment‘ bewerteten, formulierte Dr. Walter A. Thomson, EST-Psychiater am berüchtigten Rockland State Hospital, im American Journal of Psychiatry:76 The beneficial effects appear to be on a reality basis and due to the associated discomfort.77
Die EST wirke also durch den ‚associated discomfort‘, der als die eigentliche Ratio der ‚Elektroschocktherapie‘ erscheint – womit die (hier: subkonvulsive) EST expressis verbis über die von ihr ausgelösten Schmerzen wirkt. Vor dem Hintergrund einer von ihm erprobten Elektroden-Anordnung am Oberkopf erläuterte Thomson weiter: This had little appreciable effect, it being attributed to the fact that transmission of the current through the brain only was comparatively painless and innocuous.78 74 Müller, Erinnerungen, 411. 75 Walter A. Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment of the Psychoses. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 99, No. 3 (Nov. 1942), 385 (‚hospital adjustment‘); Shoor/Adams, The Intensive Electric Shock Therapy of Chronic Disturbed Psychotic Patients. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 107, No. 4 (1950), 279 (‚management of acute excitement states‘); Shoor/Adams, Intensive Electric Shock Therapy, 280 (‚better ›ward citizens‹‘); Shoor/Adams, Intensive Electric Shock Therapy, 279 (‚improve[ment] of ward behavior‘); Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 382 (‚as indicated by behavior response‘); Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 386 (‚aid in preventing development of […] bad habits‘). 76 Walter Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 384. Zu Thomsons Funktion, siehe auch: Rockland State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 3. 77 Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 386. 78 Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 382.
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Bei der Elektrodenanordnung am Oberkopf war kaum eine Wirkung zu erzielen, da der Stromschlag hier vergleichsweise ‚schmerzfrei und harmlos‘ sei, was den Umkehrschluss provoziert, dass der Effekt der EST in den produzierten Schmerzen bzw. Schäden lag. Im ‚women’s acutely disturbed service‘ des Rockland State Hospitals wurden die Patientinnen von Dr. Thomson für die EST wie folgt ausgewählt: ‚[P]atients were given shocks as indicated by the behavior response.‘79 Nicht die Nosologie des Wahns, sondern das Stationsverhalten war wesentliche Indikation für die EST; im Stockton State Hospital in Kalifornien wurden die PatientInnen ebenfalls einzig aufgrund ihres Stationsverhaltens ausgewählt: Patients were selected for intensive maintenance electric shock treatment on the basis of their ward behavior.80
Die EST wurde nicht nach Diagnose (medizinische Therapie), sondern nach Stationsverhalten (Strafe) appliziert; gleichzeitig konnten die tradierten Anstaltsstrafen wie Fixierlaken oder Einzelhaft (‚seclusion‘) durch die EST deutlich reduziert werden, was zeigt, dass die EST diese ablöste bzw. ersetzte. Schon 1941 formulierte Pilgrim State Hospital-Superintendent Dr. Harry Worthing: It was observed […] that the patients under [electric shock therapy] became quieter and more manageable. […] If these results can be confirmed, this therapy will effect a considerable saving of personnel, clothes and sedatives.81
Bereits die ersten EST-Applikationen im Pilgrim State Hospital 1940/41 ergaben, dass sich die PatientInnen durch die EST besser führen ließen; auch die Psychiater des Stockton State Hospitals in Kalifornien formulierten: As a result [of intensive electric shock treatment] restraint was reduced roughly 90%, seclusion roughly 66%, and sedation roughly 90%. Patients in general became better ‚ward citizens.‘82
79 Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 382. Zum Terminus ‚women’s acutely disturbed service‘, siehe: Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 384. 80 Shoor/Adams, Intensive Electric Shock Therapy, 279. 81 Worthing, Electric Shock Treatment at Pilgrim State Hospital, 308 und 309. 82 Shoor/Adams, Intensive Electric Shock Therapy, 282.
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Durch den forcierten EST-Einsatz konnte ein dichtes Feld der Ordnung etabliert werden, das perfekt geeignet war, die PatientInnen der ‚disturbed wards‘ behavioristisch zu disziplinieren. Entsprechend wurde die EST nicht zur Heilung, sondern zur ‚Verhaltenskontrolle‘ appliziert, was einige EST-Psychiater auch deutlich artikulierten: Subconvulsive electric shock therapy does not cure mental illnesses, but it became evident that it was of value in controlling antisocial behavior, including destructiveness, combativeness, untidiness, self-mutilation and at times, although rarely, hallucinations and delusions.83
Auch die Kollegen im kalifornischen Stockton State Hospital formulierten: ‚Our goals were not curative; they were limited to the level of improved ward behavior.‘84 Die EST funktionierte, indem sie Ordnung produzierte; die kalifornischen EST-Psychiater beschrieben die durchschlagende Wirkung der ‚Intensive Electric Shock Therapy‘ wie folgt: Within 2 weeks from the beginning of our intensive electric shock treatment the character of the ward changed radically from that of a chronic disturbed ward to that of a quiet chronic ward. Combative behavior of the patients diminished dramatically. Physical labor of the attendants was cut in half. For example, individual tray service for 40 to 50 patients per meal was abolished. Soiling and smearing were also markedly reduced. Patients in general became better ‚ward citizens,‘ and in the words of one attendant ‚began to act like human beings.‘ There was a general heightening of the morale of both attendants and patients.85
Via ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ wurde im Stationsalltag also ein dichtes Feld der totalen Ordnung erzeugt, das die PsychiatriepatientInnen durch wiederholte Elektroschocks behavioristisch disziplinierte.
83 Walter Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 384. 84 Shoor/Adams, Intensive Electric Shock Therapy, 279. 85 Shoor/Adams, Intensive Electric Shock Therapy, 280. Im Stockton State Hospital wurde die ‚Intensive EST’ bzw. die ‚Annihilation Method‘ verwendet, die aus mehrfachen EST-Applikationen täglich bestand und darauf zielte, die PatientInnen durch ein ‚konfusional treatment‘ zu destabilisieren (ebda.).
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6.3.3 Epistemische Verbindungen von EST und Death Chair Obwohl die EST-Psychiater versuchten, die ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ als ‚Heilkrampf‘-basierte neue ‚Schocktherapie‘ zu deklarieren, um auf diese Weise jede Konnotation mit der alten Elektrotherapie zu vermeiden,86 ist die EST historisch tief mit der klassischen psychiatrischen Elektrotherapie verbunden.87 Medizingeschichtlicher Hybrid aus der tradierten Faradisierung des Gehirns und der EST ist dabei die sog. ‚subkonvulsive Elektroschocktherapie‘; Dr. Nathaniel J. Berkwitz aus Minneapolis, Minnesota, formulierte 1942: A high frequency (faradic) current averaging from 10 to 20 milliamperes is passed through Cambridge E.K.G. electrodes placed over each temple. The current is produced by an induction coil (Model T Ford), energized by a six volt dry cell battery of the ‚A‘ type. Fifteen brief shocks of one-half second’s duration are given at half-second intervals. A 5 per cent solution of pentothal sodium is slowly injected intravenously while the series of shocks are given.88
Mit einer Induktionsspule wird ein faradischer Strom von 10 bis 20 Milliampere an den Kopf appliziert; Nathaniel Berkwitz’ nicht-konvulsive ‚Electric (Faradic) Shock Therapy‘ entspricht, von der Narkose abgesehen, also in etwa der psychiatrischen Elektrotherapie aus der Ära der Erfindung des elektrischen Stuhls. Wie erwähnt, wurde auch die ‚subkonvulsive EST‘ im NY State HospitalSystem appliziert; die von Dr. Walther Thomson im Rockland State Hospital hierzu verwendete Elektrodenanordnung entsprach dabei exakt der Elektrodenanordnung des elektrischen Stuhls: 86 Eine Ausnahme bildete EST-Psychiater Edward N. Bink aus Utica, der u.a. Wilhelm Erb zumindest kurz erwähnte. (Edward N. Bink, Electric Shock Therapy. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 20, Supplement 1 (1946), 233). 87 Schon Beard│Rockwell hatten auf elektrische Applikationen ‚from temple to temple‘ verwiesen. (Beard│Rockwell, Medical Electricity, 113). 88 Nathaniel J. Berkwitz, Non-Convulsive Electric (Faradic) Shock Therapy of Psychoses Associated With Alcoholism, Drug Intoxication and Syphilis. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 99, No. 3 (1942), 364/365. Auf dem Primat des ‚Heilkrampfes‘ bestehend, attestierte Dr. Lothar B. Kalinowsky Dr. Nathaniel Berkwitz schnell, dass sein Faradic Shock Treatment ‚entirely unrelated to the usual […] electric convulsive therapy‘ sei, schob die von Berkwitz reklamierten Therapieerfolge auf die applizierten Narkosemittel und insinuierte darüber hinaus ironischerweise, dass die ‚subkonvulsive EST‘ einzig zur Kontrolle von ‚destructiveness‘ diene. (Hoch/Kalinowsky, Shock Treatments, 212-213).
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One [electrode] is connected to the scalp of the patient (the so-called head electrode), the other to a distant portion of the body, such as the leg (the leg electrode).89
Der elektrische Stuhl wirkte in puncto Elektrodenanordnung also auf die subkonvulsive ‚Elektroschocktherapie‘ zurück. Parallel gibt es einen – nicht abschließend geklärten – Hinweis auf Applikationen der ‚Elektroschocktherapie‘ im Sing Sing State Prison, wobei dieser Themenkomplex hier nur angerissen werden kann, da keine Akten aus der psychiatrischen Classification Clinic des Sing Sing State Prisons vorliegen. Außerdem findet sich der Hinweis nur in einer einzigen, quellenkritisch zudem nicht ganz integren Akte, weswegen die folgenden Ausführungen nur unter Vorbehalt getätigt werden können: Anfang 1955 fand im Brooklyn State Hospital eine seminaristische Fortbildungsveranstaltung zur ‚Pastoralen Psychiatrie‘ statt, die der teilnehmende Anstaltsgeistliche des Willard State Hospitals gewissenhaft protokollierte.90 Hier wurde auch der Topos Kriminologie (‚Penology‘) zum Thema erhoben; ein ‚Dr. Glueck (Sing Sing)‘ erläuterte: [In Sing Sing State Prison] is also the opportunity for surgery, plastic and ordinary. It has been found that if the disfigurement is repaired, the anti-social behavior will often cease. From all over the State men are referred to Sing Sing for unusual physical repair (psychosurgery, etc.), as well as for electric shock therapy.91
89 Thomson, Subconvulsive Electric Shock Treatment, 382. 90 NY State Archives B1477: Willard State Hospital, Chaplains Record, Protokoll der Fortbildung in ‚Pastoral Psychiatry‘, 1. 91 NY State Archives B1477: Willard State Hospital, Chaplains Record, Protokoll der Fortbildung in ‚Pastoral Psychiatry‘, 24. Bei dem Referenten wird es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Dr. Bernard C. Glueck, Jr., gehandelt haben, der zu diesem Zeitpunkt als Direktor des ‚NY State Sex Delinquency Research Project‘ fungierte. (Bernard C. Glueck, Jr., An Evaluation of the Homosexual Offender. In: Minnesota Law Review, Vol. 41 (1956/1957), 187). Dr. Bernhard C. Gluecks Vater war allem Anschein nach Dr. Bernhard Glueck, Oberarzt des psychiatrischen St. Elizabeths Hospitals, der auf Geheiß Warden Osborns ab 1916 die Classification Clinic des Sing Sing State Prisons aufgebaut hatte. 1936 absolvierte Dr. Glueck Senior einen Forschungsaufenthalt im schweizerischen Münsingen, wo er von Max Müller in die Insulin-Schocktherapie eingeführt wurde. (Bernard Glueck, The Hypoglycemic State in the Treatment of Schizophrenia. In: Journal of the American Medical Association, Vol. 107, No. 13 (1936), 1029).
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Sollte die ‚Elektroschocktherapie‘ in den 1950er Jahren tatsächlich im Sing Sing State Prison appliziert worden sein, wäre die EST vollends als Körperstrafe desavouiert, weil sich im Sing Sing State Prison per definitionem keine psychisch kranken Straftäter befanden, da diese von der Classification Clinic in eine forensische Spezialklink zu überweisen waren. Im September 1949 publizierten die Psychiater W. Riese und G. S. Fultz im American Journal of Psychiatry einen Artikel, in dem sie den plötzlichen Verfall einer EST-Patientin beschrieben: Her first electroshock treatment was given on April 30, with grand mal seizure. On May 2, in the morning, she was given her second electroshock with convulsion.92
Direkt nach dem zweiten Schock begann die 44-jährige Patientin plötzlich zu verfallen (‚Lying on floor room‘, ‚Voided involuntarily‘, ‚[W]ill not get up‘); nach zwei weiteren Elektroschocks setzten Halluzinationen und Lähmungserscheinungen ein, woraufhin die Patientin am 10. Mai 1947 verstarb.93 Die Autopsie förderte folgenden Hirnbefund zu Tage: Cellular changes in the Nissl picture were marked in the frontal regions of the cortex. […] Finally, there were several necrotic areas of various shapes. One in the occipital lobe and one in the parietal region were stellate, another in area 10 was circular; all were located in the cortex.94
Im präfrontalen Cortex der EST-Patientin fanden sich exakt jene ‚peculiar areas […] circular in outline‘, die Dr. Edward A. Spitzka und Dr. Henry E. Radasch 1912 bei Opfern des elektrischen Stuhls beschrieben hatten (siehe Kapitel: 5.2.2). Fultz und Riese folgern: While the circular areas described by Spitzka and Radasch in the brain of electrocuted criminals were ascribed by these authors to a ‚liberation of bubbles of gas due to the electrolytic properties of the current […]‘ […] the rents or cracks are considered by Hassin as
92 Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid Paralysis, Hallucinations, And Sudden Death. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 106, No. 3 (1949), 207. 93 Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid Paralysis, 207. 94 Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid Paralysis, 207/208.
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purely mechanical in origin, namely, the result of the direct injury set by the electric current.95
Abbildung 23: Mikroskopische Aufnahme der sternförmigen Läsionen im Gehirn der verstorbenen 44-jährigen EST-Patientin.
Im Falle des ‚sudden death‘ ihrer PatientInnen griffen die EST-Psychiater auf das an elektrisch Exekutierten produzierte Wissen aus dem New Yorker Todesstrafendiskurs zurück, was abermals die dichte dispositive Kohäsion der ElektroMacht exemplifiziert.96
6.4 D IE OMH-K RANKENAKTEN – E IN KURZER Ü BERBLICK Wie erwähnt, liegen für diese Untersuchung streng restringierte Office of Mental Health-Clinical Case Files aus der Zeit der Einführung der ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ im US-Bundesstaat New York vor, anhand derer sich die EST hier erstmals en détail geschichtswissenschaftlich analysieren lässt. 95 Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid Paralysis, 210. 96 Bildnachweis, Abbildung 23: Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid Paralysis, 210.
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Die OMH Clinical Case Files, während eines kurzen Zeitfensters gesammelt, konnten nicht repräsentativ ausgewählt werden, sodass eine Auswertung unter statistischen Kriterien, die ohnehin eine größere Datenmenge erfordern würde, an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.97 Dennoch erlauben die vorliegenden OMH-Akten aus dem Willard State Hospital einen tiefen qualitativen Einblick in die frühe Geschichte der EST in den USA, da nicht nur die zuständigen Psychiater das Verhalten der PatientInnen vor und während der EST in den Akten protokollierten, sondern das Pflegepersonal zudem auch das Benehmen der PatientInnen direkt nach der EST festhielt, wodurch sich ein einmaliger Blick auf die EST in NY State eröffnet, wie er quellentechnisch überhaupt nicht besser zu gewinnen ist. Das Utica State Hospital ‚Shock Therapy Treatment Log‘: Das ‚Electric Shock Book No. 8‘ des Utica State Hospitals enthält Einträge über die rund 3000 EST-Applikationen, die in Utica zwischen Juni 1948 und Juni 1949 stattfanden.98 Das ‚Shock Book‘ ist tabellarisch aufgebaut; auf den Namen der PatientInnen folgt die Gesamtzahl der bisher erhaltenen ‚Behandlungen‘ (Rx. = Behandlung), unter ‚I‘ und ‚U‘ die Strom- und Spannungswerte der jeweiligen Applikation und unter ‚P.M.‘ und ‚G.M.‘ die Zahl der bisher elektrisch ausgelösten ‚petit mal‘- bzw. ‚grand mal seizures‘: Name
No.Rx.
I.
U.
[?]
P.M.
G.M.
Remarks
[P1]
36
.4
120
[…]
2
34
d. rx.
[P2]
No Rx
absent – at party
[P3]
No Rx
Ill99
Die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ fand in Utica in Intervallen von drei bis vier Tagen statt, womit eine gewisse Routine von EST und anschließender Erholung 97 Interessante quantitative Fragen wie: haben schwarze PatientInnen in einem bestimmten NY State Hospital mehr EST-Applikationen erhalten als weiße, wurden für PatientInnen aus bestimmten race/class/gender Gruppen oder deren Intersektionen eher eine ‚Permission of Shock Therapy‘ eingeholt (oder auch von Angehörigen erteilt) als bei anderen Gruppen oder hatte etwa der Bildungsstand Auswirkungen auf die EST, können hier also nicht beantwortet werden. 98 Tagesschnitt 8,2 Applikationen bei 1900 PatientInnen, Stichtag: 1. April 1949. (Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1950, 10). 99 NY State Archives B1588: Utica State Hospital, Shock Therapy Treatment Log, 19481949.
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vorherrschte (Schock → Erholung, Schock → Erholung);100 relevant ist vor allem die Spalte Bemerkungen, in der primär die Entschuldigungsgründe für ein (temporäres) Aussetzen der ‚Elektroschocktherapie‘ aufgeführt wurden: [M]enses, ate dinner, Tooth extracted, Head injury, Ill, No Rx comfortable, No Rx pregnant?, Terminated Per request of relatives, No more Rx today – bleeding from mouth.101
Dabei ist zu erwähnen, dass eine Schwangerschaft trotz des oben zitierten Gegenbeispiels keine generelle Kontraindikation für die EST darstellte.102 Die Office of Mental Health Clinical Case Files: Die hochrelevanten Clinical Case Files beginnen mit einem ‚Statistical Data‘-Sheet, das auf einen Blick die persönlichen Daten enthält.103 Hierauf folgt als erster Hauptteil der Akten der hochrelevante ‚Clinical Summary‘, der zwei bis sechs Seiten umfasst und sich in die Abschnitte ‚Family History‘, ‚Personal History‘/,Personality‘, ‚Onset of the Present Attack‘, eine kurze Einschätzung der ‚Condition on Admission to Willard State Hospital‘, die ‚Mental Examination‘, den ‚Physical Status‘ sowie die Abschnitte ‚Progress in Hospital‘, ‚Discussion‘, ‚Statistical Classification‘ (Diagnose), ‚Prognosis‘, ‚Treatment‘ sowie ein kurzes Abschluss-Statement (discharged, died usf.) unterteilt.104
tientInnen voll ausgelastet, während an EST-freien Tagen – ausnahmslos – keine Therapien stattfanden. (NY State Archives B1588: Utica State Hospital, Shock Therapy Treatment Log, 1948-1949). 101 NY State Archives B1588: Utica State Hospital, Shock Therapy Treatment Log, 1948-1949. 102 Emma M. Kent, Shock Therapy During Pregnancy. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 21, No. 1 (1947), 102-106; Doan/Huston, Electric Shock During Pregnancy – A Report of Seven Cases. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 22, Numbers 1-4 (1948), 413417; Hoch│Kalinowsky, Shock Treatments, 161. Hoch & Kalinowsky schreiben: ‚We have treated several women in various stages of pregnancy without damage to mother or child (Polatin and Hoch).‘ (ebda.) Dr. Emma M. Kent, eine der wenigen EST-Pychiaterinnen im NY State Hospital-System, formuliert trotz einer kritischen Haltung zur Insulin-Schocktherapie in der Schwangerschaft: ‚Pregnancy should not necessarily be considered an indication to deprive a psychotic woman of needed shock therapy.‘ (Kent, Shock Therapy, 106). 103 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942. 104 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942.
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Das eigentliche Hauptdokument der Clinical Case Files ist die ‚Seven Day Note‘, die von den verantwortlichen Stationsärzten zu führen war.105 Hier wurden alle Entwicklungen während der Hospitalisierung (‚Transferred‘, ‚EST Permission Received‘, ‚Considered For Parole‘) festgehalten, was die ‚Seven Day Note‘ zum wesentlichen Hauptteil der OMH Clinical Case Files macht: Patient is a very dull, disinterested, self-absorbed, dreamy individual, who appears to be absorbed with hallucinations […].106
Integraler Bestandteil der Seven Day Note ist der von Willards EST-Psychiater Dr. Angelo J. Raffaele geführte Abschnitt zur ‚Elektroschocktherapie‘: ‚February 17, 1943: EST PERMISSION RECEIVED.‘107 105 Auf den ‚Clinical Summary‘ folgt eine Fülle von Verwaltungsdokumenten wie ‚Anamnesis‘, Arztbriefe, die ‚Physical Examination Outline‘ (somatische Krankengeschichte), ein ‚Immunization Sheet‘ (Pocken, Diphterie, Typhus; fehlende Impfungen wurden im Willard State Hospital unentgeltlich nachgeholt), Urinanalysen, Röntgenbefunde und die ‚Permission of Shock Treatment‘, die von Angehörigen vor Ausführung der EST zu erteilen war. (siehe Kapitel: 6.5.1) Außerdem enthielten die Akten ein ‚Heredity Chart‘ mit Stammbaum, in dem psychisch kranke Familienmitglieder einzutragen waren; das ‚Heredity Chart‘ ist in keiner der vorliegenden Akten ausgefüllt und wurde vom Staff des Willard State Hospitals folglich ignoriert. Bei weiblichen Patienten wurde außerdem ein überaus ausführliches ‚Gynecological Chart‘ angefertigt, das u.a. die Menstruationszyklen sowie die Beschaffenheit der Scham en détail beschrieb und dem kein korrespondierendes Gegenstück – etwa eine urologische Evaluation – bei männlichen Patienten entsprach. Neben dem medizinischen Aspekt diente die obligatorische Intim-Untersuchung auch als rite de passage in die totale Institution, die durch erzwungene Nacktheit performativ die Auf- und Abgabe bürgerlicher Rechte erwirkte. Auf die Funktion der Intimuntersuchung als Passage-Ritus verweist der Fall einer jungen Patientin, deren Vater als Professor an einer weltbekannten Spitzen-Universität reüssierte und die selbst einen BachelorDegree derselben Universität führte. Der Fall der äußerst rabiaten Patientin, der die freiwillige Selbstentblößung anscheinend keinerlei Probleme bereitete (‚Patient tore off nightgawn and lay on bed nude with feet on wall‘) ist die einzige vorliegende Willard-Akte, die kein Gynecological Chart enthält, was darauf verweist, dass sich die junge Frau der denigrierenden Intim-Untersuchung aufgrund ihres hohen sozialen Status entziehen konnte. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 1892-1942). 106 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942.
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Kurz nachdem die ‚Permission of Shock Treatment‘ erteilt war, wurden die PatientInnen in das EST Unit im Südflügel des Willard State Hospitals verlegt, wobei die Krankenakte mitwanderte und EST-Psychiater Dr. Raffaele die Führung der ‚Seven Day Note‘ während des Shock Course übernahm. Dr. Raffaele verwendete in Willard eine Elektroschockmaschine der Firma Rahm, die mit einem Messschreiber ausgestattet war, der EST-Scheiben beschrieb, die Dr. Raffaele nach jeder Anwendung in die Krankenakte einklebte, wobei er die Anwendungen – wie hier im Fall der Patientin Evelyn K. (Name geändert, siehe Kapitel: 6.7) – häufig flankierend kommentierte: April 19, 1943. E.S.T. #8 This patient remains agitated, depressed and fearful without any retardation. Her sensorium is clear but insight and judgment are lacking. Her productions are as follows ‚They tell me I’ll never go home. I have three beautiful children and I’ll never go home, – Oh, God help me. Oh, God help me[.] He is going to put me out of my mind.‘ Dr. Raffaele / J-2SW108
Außerdem enthalten die OMH Clinical Case Files – neben einer Fülle weiterer fallbezogener Dokumente – die zur Rekonstruktion der EST höchstrelevanten ‚Ward Notes‘ der PflegerInnen, die das Stationsverhalten der PatientInnen akribisch protokollierten. Nicht alle Case Files enthalten Ward Notes und sind diese handschriftlichen Einträge dennoch vorhanden, ist keinesfalls gewiss, dass sie die – im Verhältnis zur Gesamtdauer der Hospitalisierung – recht kurze Zeitspanne der EST protokollierten. 107 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942, Anonyme Akte, Seven Day Note. 108 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942, Anonyme Akte, Seven Day Note. Auf die Seven Day Note folgt abermals ein ganzes Kaleidoskop an von Akte zu Akte variierenden Dokumenten: eine ‚Prescription Record‘ mit applizierten Medikamenten, ein ‚Electric Shock Treatment‘-Chart, das noch einmal tabellarisch jede EST-Anwendung mit Strom- und Spannungswerten aufführte, eine ‚Ward Admission Record‘, die Besitztümer der PatientInnen auflistete, Korrespondenzen mit Angehörigen (Permission of Shock Treatment, allg. Fragen, Planung von Besuchen) oder dem Department of Mental Hygiene (Finanzund Vormundschaftsfragen). In seltenen Fällen finden sich Briefe von PatientInnen an den Willard-Superintendent, Briefe von Patient zu Patient – die, in die Akte geklebt, nie ankamen – sowie fallbezogene Zeitungsausschnitte wie diese Privatanzeige aus einem Lokalblatt: ‚My wife having left my bed and board, I will not be responsible for any debts contracted by her.‘ (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 1892-1942).
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Sind aber dennoch Ward Notes aus der Zeit der EST vorhanden, stellen sie eine wichtige Quelle dar, anhand derer sich die Reaktion der PatientInnen auf die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ exakt rekonstruieren lässt: 6/25/42 E.S.T. Treatment II Conv[ulsion] @ 11.25 Face flushed. Restless climbing all over the bed. Appearance a little more tidy. Crying frequently saying no one liked her.109
6.5 ‚E LEKTROSCHOCKTHERAPIE ‘ IM W ILLARD S TATE H OSPITAL , 1943-1950 6.5.1 Die PatientInnen: Ankunft, Stationsalltag, Permission of Shock Treatment Die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde im Willard State Hospital Ende März 1942 eingeführt; auch in Willard war der Druck des Krieges zu verspüren, da immer mehr Angehörige des Personals ihre Stellungsbefehle erhielten: The declaration of war on December 8, as the result of the sneak attack by the Japanese at Pearl Harbor on December 7, has affected the hospital routine in several ways. […] The Treatment of patients during the year has been greatly handicapped by the shortage of physicians and the continually increasing shortage of nurses and attendants.110
Mit 3.292 PatientInnen (1.632 männlich und 1.660 weiblich, Stichtag: 30. Juni 1942) war das Willard State Hospital 1942 eine mittlere Provinz-Psychiatrie;111 im Vergleich zu den drei Mega-Asylen auf Long Island mit ihren harten Insulinund Cardiazol-Kombinations-Schocktherapien und später auch Lobotomien war Willard ein recht humanes State Hospital, das die Insulin-Schocktherapie 1937
109 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942. 110 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 5 und 16. Zur Einführung der EST in Willard, siehe: Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 16. 111 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 7. 1944 waren es noch 3.048 (1.501 männlich und 1.583 weiblich); Willards Psychiatriepopulation war zu Kriegszeiten also leicht rückläufig. (Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944, 8).
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nur zögerlich adaptierte und die im Januar 1938 an sieben PatientInnen (fünf Frauen, zwei Männer) erstmals applizierte Cardiazol-Schocktherapie als – soweit bekannt – einziges NY State Hospital 1939 unverzüglich wieder aus dem Therapieplan strich.112 Auch die Insulin-Schocktherapie wurde hier schnell wieder eingestellt; das Willard State Hospital war von 1939/1940 bis März 1942 das wohl einzige NY State Hospital, das keine ‚Schock-Therapien‘ applizierte.113 1941 avancierte Dr. Kenneth Keill, ehemals Leitender Oberarzt des Kings Park State Hospitals, L.I., zum Superintendent des Willard State Hospitals, wo auch eine Abteilung für Musik-Therapie existierte.114 Die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde in Willard von EST-Psychiater Dr. Angelo J. Raffaele appliziert; von 1939 bis Ende Juni 1940 konnte Dr. Raffaele die vielversprechende Position eines ‚Resident in Psychiatry‘ (Assistenzarzt in Facharzt-Ausbildung) am NY State Psychiatric Institut (PI) bekleiden, wo er, vielleicht bei dem kurz zuvor eingetroffenen Dr. Lothar B. Kalinowsky, die ‚Elektroschocktherapie‘ erlernte.115 112 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937, 15; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938, 17; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939, 17. 113 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 17. 114 Kenneth Keill, M.D. In: Psychiatric Quarterly, Vol. 15, No. 2 (1941), 397; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 5; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942, 20. 115 ‚The residents also are assigned to the insulin, metrazol, and electric shock services, so that they are carefully trained in the administration of these therapies.‘ ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 19) In der zweiten Jahreshälfte 1940 wechselte Raffaele dann an das Willard State Hospital, um hier als Medical Intern/Arzt im Praktikum zu wirken. Ab 1943 stieg Dr. Raffaele dann in schneller Folge zum ‚Assistant Physician‘, ‚Physician‘ (1944) und ‚Senior Psychiatrist‘ (1945) auf; Willards EST-Psychiater gewann in dem NY State Hospital also zunehmend an Einfluss bzw. strukturellem Gewicht. ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939, 3; [NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 3 und 5; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 3; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Period Ending March 31, 1943, 3; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944, 3; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1945, 3).
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Willards EST-Unit war im South Wing des NY State Hospitals untergebracht, wo Dr. Angelo J. Raffaele eine EST-Maschine der ‚Rahm Instruments Inc., New York‘ verwendete.116 Firmengründer Walter E. Rahm, Jr. war bis 1940 Elektrotechniker am NY State Psychiatric Institute gewesen,117 wo er u.a. als Spezialist für die Elektroenzephalografie (EEG) fungierte. Wohl von Dr. Lothar Kalinowsky auf den künftigen US-Bedarf an EST-Maschinen aufmerksam gemacht, machte Walter Rahm sich dann mit der ‚Rahm Instruments Inc.‘ selbstständig, die EST- und EEG-Geräte produzierte.118 Ankunft: Patientin 1 (‚Michigan‘), eine 30-jährige Hausfrau syrischer Abstammung, wurde im Februar 1944 auf richterliche Anordnung ‚on a regular order of commitment‘ in das Willard State Hospital eingeliefert: On admission she was neat and tidy in appearance and appeared to be in good physical condition. She was depressed and complained about insomnia.119
Die Patientin begann früh in einem Salzwerk zu arbeiten und war allgemein als harte Arbeiterin geschätzt: When she was 14 years of age a cousin took advantage of her and had intercourse with her. […] The incident made a great impression on her and she has had it constantly on her mind ever since.120 116 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 18921942. Parallel sind auch EST-Anwendungen in der Elliott Hall, Willards Klinik für körperlich kranke PatientInnen, belegt (ebda.). 117 In dieser Funktion bot Rahm u.a. im Frühjahr 1940 zusammen mit Dr. S. Eugene Barrera an der Columbia University einen Kurs zur Messung der Hirnströme an, an dem auch Dr. Paul Hoch, der spätere Mental Hygiene-Commissioner und Kalinowsky-Koautor, teilnahm. ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940, 18/19). 118 Shorter, Shock Therapy, 77. Ein Schreiben Walter Rahms an EST-Psychiater Dr. Joseph Wortis vom 28. September 1940 trägt den Briefkopf: ‚Rahm Instruments Inc. 12 West Broadway, New York City, Makers of Electroencephalographs ElectroShock Apparatus Experimental Equipment Stimulators‘. (Walter E. Rahm, Jr. an Dr. Joseph Wortis, 28. September 1940. In: Impastato-Papers, Oscar Diethelm Library for the History of Psychiatry, Cornell University, ohne Call-Number) Dr. Kalinowsky verwendete im Pilgrim State Hospital ebenfalls eine Rahm-Maschine. (Kalinowsky et. al., Electric Shock Therapy in State Hospital Practice, 451). 119 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary.
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Im Oktober 1942 heiratete Patientin 1: Martial life was said to have been congenial. […] They moved to Michigan because of her husband’s work.121
In Michigan war Patientin 1 jedoch derart unglücklich, dass schnell psychische Störungen eintraten: It is stated that immediately after the birth of the baby there was a change in her personality. She became increasingly nervous and restless. […] When the husband was away she was unable to keep up her house work […]. […] She kept her worries to herself until one day she threatened suicide and told Dr. [NAME] […]: ‚I hate my life. I am going out and shoot myself.‘122
Die Suizidandrohung hatte die sofortige Einweisung in das Willard State Hospital zur Folge; in der ‚Mental Examination‘ wurde die Patientin wiederholt als ‚retarded and depressed‘ beschrieben: She elaborated on feelings of guilt centering around sexual relations at the age of 14. She stated that she had been very lonesome in Michigan and became very nervous and worrysome during her pregnancy.123
Patient 2 (‚very nervous‘), ein 25-jähriger Arbeiter, der u.a. im Civil Conservation Corps tätig gewesen war, wurde im Mai 1942 auf eigenen Wunsch ins Willard State Hospital eingeliefert, da er zunehmend an nervöser Erschöpfung litt:
120 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 121 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 122 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 123 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. Der ‚Clinical Summary‘ der Patientin 1 (‚Michigan‘) wurde von EST-Psychiater Dr. Raffaele verfasst, der in Fällen, in denen er selbst die Aufnahmeprozedur übernahm, wesentlich häufiger als etwa Dr. Eugene Davidoff eine EST vorschlug, was darauf verweist, dass sich die Chancen, eine EST zu erhalten, durch einen aufnehmenden Arzt mit entsprechenden Präferenzen erhöhte.
254 | M EDIZINISCHE G EWALT The mother stated that the boy has been nervous and expressed feelings of inferiority since the age of 12. […] He continued to complain of nervousness, insomnia, easily fatigability […].124
Vor Ausbruch der Beschwerden war der junge Patient als freundlich und beliebt beschrieben worden; die Nervosität verfestigte sich jedoch derart, dass der angehende Familienvater seine familiären Pflichten vernachlässigte: He became increasingly indecisive, assumed no responsibility regarding his home and his wife who was pregnant.125
Bei Ankunft in Willard formulierte Patient 2: ‚I have be[en] nervous for about three years […]‘126
Patientin 3 (‚catatonic postures‘), eine 31-jährige Hausfrau italienischer Abstammung, wurde erstmals 1937 nach Willard verbracht: Happy and a good mixer. She made friends with both sexes. […] She was employed as a machine operator in the knitting mills and was an efficient worker.127
Die Krise begann im September 1937; die Patientin ‚wandered about her home town and kept the family awake at night‘: She moved things from place to place aimlessly, pulled the curtains up and down and talked all the time.128
Nach der Einweisung wurde die Patientin dann wie folgt beschrieben: 124 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 125 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. Die Akte führt weiter aus: ‚Married life is said to have been congenial and sexual relations normal.‘ (ebda.). 126 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 127 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 128 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary.
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Overactive, overproductive, untidy, and noisy. She is cooperative with the nurses but antagonistic and abusive toward the other patients. […] She has delusions of sin, sex, and religion.129
Entsprechend wurde die damals 24-jährige in Willard einer der wenigen hier applizierten ‚Insulin-Schockkuren‘ unterzogen.130 Im Juli 1945, die Patientin hatte inzwischen geheiratet und ihr zweites Kind geboren, stellten sich erneut Probleme ein, woraufhin die Patientin zum zweiten Mal nach Willard kam.131 Patient 4 (‚truck business‘) wurde Ende Oktober 1939 in das Willard State Hospital eingeliefert: […] [P]atient became […] overactive and overtalk[a]tive and stopped his usual work. He expressed many grandiose delusions, believed he was wealthy, that he was operating a big truck business and put ads in the newspapers for secretaries and stenographers. […] He put in telephone calls for the navy yards, state police, and other officials. He was very excited and noisy.132
Der Patient wurde von der Polizei nach Willard eskortiert: He was a large, obese man about 40 years of age. He was careless in his appearance and over active […]. His productions were definitely grandiose in nature.133
Patientin 5 (‚deaf mute‘), eine Taubstumme, die 1912 an der Buffalo County Mute School graduierte, wo sie als ‚one of their brightest pupils‘ galt, hatte bereits eine lange Anstaltskarriere hinter sich, als sie im März 1944 nach Willard kam:
129 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 130 Im Jahr 1937 waren es 38, im Jahr 1938 46 und in der ersten Hälfte 1939 29 PatientInnen. (Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938, 17; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939, 17). 131 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 132 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 133 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary.
256 | M EDIZINISCHE G EWALT Husband stated she would talk with her hands as usual but there was no sense to what she said. She prayed a lot and thought she was going to die.134
Die Patientin führte unverständliche Gesten in der Gebärdensprache aus und hatte Angst, plötzlich zu sterben: [Patient] was brought from her home in Syracuse in hospital car. Enroute she talked constantly with her hand (deaf mute). On admission she was a frail pale little woman. She nearly fainted after admission and her mouth was dry.135
Stationsalltag: Nach der Aufnahme war der Stationsalltag im Willard State Hospital zu meistern, wobei das Verhalten der PatientInnen wesentlich über die Verordnung der ‚Elektroschocktherapie‘ entschied. Patientin 1 (‚Michigan‘), die die Occupational Therapy besuchte, erläuterte in einem Interview: Every morning I’d get up nervous and feel lonely and blue. I always think my husband doesn’t want me. He acts awful funny.136
Patient 2 (‚very nervous‘), der Civil Conservation Corps-Arbeiter, klagte, ohne zu halluzinieren, über diverse kleinere Beschwerden: This patient has made very little improvement […]. He states he is unable to fully relax at times and has a tired feeling at the base of his brain and between his shoulder blades.137
Patientin 3 (‚catatonic postures‘), die zweifache Mutter italienischer Abstammung, verhielt sich auf Station vergleichsweise stuporös:
134 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. Die Akte fährt fort: ‚The husband [a deaf mute] has been sleepless, devoted in his care, and was tearful at the idea of sending his wife to a hospital.‘ (ebda.). 135 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 136 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 137 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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This young woman continues to be very depressed. […] Stands in the halls in a statue like position, gazing straight ahead of her with a fixed stare. […] Assists with some of the light ward duties.138
Patient 4 (‚truck business‘) gab sich in den ersten Tagen nach seiner Ankunft im Willard State Hospital undiszipliniert (‚caused considerable disturbance on the ward‘), begann dann aber, sich in den Stationsalltag zu integrieren: […] [T]alking of big business deals […]. […] He has a religious trend, is happy and elated, but in spite of this he cooperates fairly well and helps with the ward routine.139
Patientin 5 (‚deaf mute‘) gestikulierte weiter in ihrer Gebärdensprache und verweigerte beharrlich die Nahrung: This patient is a deaf mute [showing] motor hyperactivity with many grotesque and purposeless movement of her body […]. […] [She] continued to show restless and continual talking in her sign language. […] [H]er eyes become wide with an associated fearful […] expression when she observes she is about to be tube fed.140
Permission of Shock Treatment: Bei allen diesen PatientInnen wurde im Willard State Hospital ein Elektro-Schock Course appliziert. Vorher allerdings war eine ‚Permission of Shock Treatment‘ von den nächsten Angehörigen einzuholen, die die ‚Therapie‘ legitimierte und gleichzeitig die Verantwortung für die EST auf die Verwandten distribuierte: To the Superintendent, Willard State Hospital. I hereby give my permission for the following treatment: Insulin shock therapy Electric shock therapy Metrazol shock therapy 138 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 139 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 140 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary und Seven Day Note.
258 | M EDIZINISCHE G EWALT in the case of – [NAME] – and agree to accept all responsibility. I have had explained to me all the possible dangers including fractures of extremities, vertebrae, and all other types of fractures and other injuries and the possibility of death. I nevertheless wish this treatment given and accept all responsibility. Name Address Relationship Witness141
Durch die Unterschrift übernahmen die Angehörigen die Verantwortung für die Prozedur, was die Psychiater in Willard juristisch entlastete. Wie erwähnt, wurden in Willard keine Insulin- oder Cardiazol/Metrazol-Schocktherapien praktiziert, sodass die entsprechenden Passagen mit Kugelschreiber gestrichen waren, was den Angehörigen den Eindruck vermittelte, nicht das volle Arsenal zu sanktionieren und ein Mindestmaß an Kontrolle auszuüben.142 Falls die Angehörigen die ‚Permission of Shock Treatment‘ verweigerten, wurde teils erheblicher Druck durch das Willard-Personal ausgeübt, um die begehrte EST-Erlaubnis zu erlangen. Im Falle der Patientin 1 (‚Michigan‘) weigerte sich der Ehemann zunächst standhaft, die vermeintliche ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ zu erlauben: Electroshock therapy has been recommended, but relatives remain somewhat hesitant about granting this permission.143
Anfang März notierte dann ein anderer, offensichtlich erboster Arzt in der Seven Day Note:
141 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte. 142 Sobald der behandelnde Willard-Psychiater eine EST plante, trat das NY State Hospital schriftlich mit den Angehörigen in Kontakt, um die ‚Permission of Shock Treatment‘ einzuholen. Im Falle der taubstummen Patientin 2 wurde die ‚Permission‘ von dem ebenfalls taubstummen Ehemann eingeholt, der für 25$ die Woche Matratzen flocht und seine Frau innig liebte: ‚He takes care of [her]. They are attached to each other‘. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Willard State Hospital an anonymen Angehörigen, 9. März 1944). 143 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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The advisability of shock therapy has been talked over with her husband and although he agrees heartily that it is a good idea, he always for[gets] to sign the permission. With an exopthalmic [sic] expression on his face [he] bobs his head back and forth, agrees with everything that is said, and invariably closes the interview by saying, ‚I need to be in a place like this myself. I tell my wife that all the time.‘144
Bei einer Weigerung wurden die renitenten Angehörigen also massiv pathologisiert. Wie erwähnt, hielt der Ehemann der Patientin 1 (‚Michigan‘) dem Druck nicht stand: ‚Permission was received today for electroshock therapy in regard to this patient.‘145 In einem weiteren Fall weigerten sich die Angehörigen trotz des Drängens des Willard-Personals bis zuletzt, die ‚Permission of Shock Therapy‘ zu erteilen: Electroshock therapy is strongly indicated. To date permission for this has been refused by both her sister and her husband.146
In diesem Fall wurde keine EST appliziert; die standhafte Weigerung der Angehörigen, eine ‚Elektroschocktherapie‘ zu erlauben, wurde vom Willard-Personal also, wenn auch widerwillig, respektiert.147
144 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 145 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 146 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 147 Es ist zumindest ein Fall bekannt, in dem die ‚Permission of Shock Treatment‘ durch Willard-Superintendent Dr. Kenneth Keill erteilt wurde, da die Familie jeglichen Kontakt mit dem Patienten verweigerte. Hier war in der ‚Permission‘ eine Notiz beigefügt, die den Sachverhalt erklärte. Dieser Fall darf nicht überbewertet werden; in den – auch im Archiv ausgewerteten, aber nicht kopierten – OMH Clinical Case Files stellt er die absolute Ausnahme dar und die Weigerung der Angehörigen, eine EST zu erlauben, wurde in der Regel akzeptiert. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Permission of Shock Treatment).
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6.5.2 ‚I had it then‘ – EST im Willard State Hospital Am 30. März 1944 wurde Patientin 1 (‚Michigan‘) in das Behandlungszimmer des Willard State Hospitals geführt und in Rückenlage auf dem Therapietisch platziert. Anschließend wurde ihr ein elektrischer Schock von 130 Volt und 900 Milliampere an den Kopf appliziert, der in einer ‚Immed[iate] Conv[ulsion]‘ resultierte.148 Die PflegerInnen protokollierten im Aufwachzimmer: 3/31/44 EST#1 Has been [throwing] herself out [unleserlich], banging her head + trying to tie camisole [straps] about her neck. Very fearful at the Rx. time.149
Die Patientin reagierte auf den Elektroschock von 10%iger Stromstärke des elektrischen Stuhls mit einem doppelten Suizidversuch; Dr. Raffaele formulierte anlässlich der zweiten EST (130 Volt, 800 Milliampere) vom 3. April 1944: Since treatment was started this patient has attempted suicide on two occasions. On one occasion she tried to tie the camisole straps around her neck. On another occasion she tried to strike her head forcefully against the wall. To date she has not suffered any injury.150
Die Patientin versuchte offensichtlich, sich der ‚Elektroschocktherapie‘ durch Selbstmord (Strangulieren mit den Gurten der Zwangsjacke, Stoßen des Kopfes gegen die Wand) zu entziehen.151
148 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 149 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 150 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Zur Stärke des zerebralen Elektroschocks, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 151 Peter Breggin formuliert: ‚Overall, there is little or nothing in the literature to suggest that ECT ameliorates suicide, whereas a significant body of literature confirms that it does not, and the most thorough study shows that it increases the overall suicide rate, including a major increase within the week after the last ECT.‘ (Peter Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 224) Dass die EST direkt in einem Suizidversuch resultieren kann, kann hier anhand der OMH Clinical Case Files – wenn auch an einem Einzelfall – bestätigt werden.
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Die meisten EST-PatientInnen reagierten auf die sog. ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ mit dem Verhaltensmuster Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung, das weiter unten analysiert wird (siehe Kapitel: 6.6.2). An dieser Stelle sei jedoch bereits darauf verwiesen, dass Patientin 1 die Stufen 1 und 2 dieses Reaktionsmusters in einem verzweifelten Widerstand durch Suizidversuch kombinierte. Nach der zweiten EST vom 3. April 1944 wurde der ‚shock course‘ am 7. April mit der dritten ‚Anwendung‘ von 130 Volt und 800 Milliampere fortgesetzt,152 wobei die Patientin – ein entscheidender Punkt – begann, sich unter den wiederholten Elektroschocks zu wandeln: Little neater in appearance. Appears to gradually quite down after one visiting day + by that time it is visiting day again. Has not tried to injure herself the past few days.153
Nach Verinnerlichung der Tatsache, dass die EST durch Selbstverletzung nicht abzubrechen war, gab die Patientin ihren initialen Widerstand gegen die alle zwei, drei Tage erfolgenden zerebralen Elektroschocks auf, legte mehr Wert auf ihr Äußeres und fieberte den Besuchstagen entgegen, zu denen ihr Mann aus Michigan anreiste. Nach der vierten ‚Behandlung‘ vom 10. April (130 Volt, 760800 Milliampere, ‚Immediate Conv[ulsion]‘) formulierte Dr. Angelo J. Raffaele: [T]his patient has been quiet and cooperative, more active and talkative. She is well oriented in all spheres. She now discusses her illness more freely in an optimistic manner.154
Unter der EST begann die Patientin aktiv mit den Autoritäten des Asyls zu kooperieren, wobei sie ihr Seelenleben preisgab und ihre Erkrankung offen mit Dr. Raffaele diskutierte: She discussed the feelings of guilt about having had sexual relations with a cousin and then said, ,[…] The treatments [are] waking me up. Now I can think clearly. I am sleeping good and have a good appetite.‘155 152 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 153 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 154 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Zur Stärke des Schocks, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart.
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Bereits nach der vierten EST-Applikation zeigte sich Patientin 1 ‚optimistisch‘ und in ‚kongenialer‘ Unterwerfung. Außerdem wurde die EST von der Patientin aktiv gelobt, was den einzigen Weg darstellte, den Abbruch der ‚Behandlung‘ zu erwirken. Am 14. April 1944 notierte eine Schwester in den Ward Notes: Smiles + laughs occasionally. Said she thought she would be punished for something. Believes she let her husband down. Apologized for pounding her head + asks: ‚What [makes] me do those terrible things. I’m awful to do these things + to antagonize you people.‘156
Unter den wiederholten Elektroschocks (‚thought she would be punished for something‘) entschuldigte sich die Patientin – ostentativ, aktiv und von sich aus – beim Willard-Personal auf diversen Ebenen (familiäre Unzulänglichkeiten, Suizidversuche, renitentes Stationsverhalten). Dabei lobte Patientin 1 die EST ausdrücklich, zeigte ‚Krankheitseinsicht‘ (‚real insight‘) und gab sich ‚aktiv‘, ‚fröhlich‘ und ‚kooperativ‘, was, ein Musterbeispiel an ‚aktiver Unterwerfung‘, die einzige Möglichkeit war, die ‚Elektroschocktherapie‘ zu beenden: Since the 3rd. treatment this patient has shown a progressive improvement […]. She became cheerful, optimistic, active and cooperative. […] She has developed real insight and shows good judgment. […] Treatment was today discontinued.157
Kurz nach Einstellung der ‚Behandlung‘ wurde bei der Patientin, die bereits nach der dritten EST über Rückenprobleme ‚between her shoulders‘ geklagt hatte, eine Röntgenuntersuchung durchgeführt; Dr. Raffaele formuliert: [A] routine X-ray of her cervical and thoracic vertebrae was done and revealed a compression fracture of the 3rd and 5th dorsal vertebrae. At the present time the patient states that at times she has some backache.158
155 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 156 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 157 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 158 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Zu den vorausgegangenen Problemen ‚between her shoulders‘, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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Der dritte ‚Heilkrampf‘ hatte bei Patientin 1 zu Brüchen des 3. und 5. Halswirbels (C3 und C5) geführt, die unentdeckt blieben, weswegen die ‚Elektroschocktherapie‘ fortgesetzt worden war. Patient 2 (‚very nervous‘), der scheue 25-jährige ‚Neurastheniker‘, erhielt seine erste EST am 3. August 1942, nachdem seine Ehefrau am 19. Juli 1942 die ‚Permission of Shock Treatment‘ erteilt hatte.159 Bereits Anfang Juni 1942 hatte ein Stationsarzt dem Patienten ‚restlessness and agitation, particularly after a noon meal‘ bescheinigt und ihn als ‚likely candidate for shock therapy‘ klassifiziert.160 Am 30. Juli 1942, also elf Tage nach Erhalt der ‚Permission of Shock Treatment‘, formulierte Dr. Angelo J. Raffaele im ‚Pre-Treatment Status‘: Patient was uncooperative, self absorbed and compla[ined] of tension in his head. […] Recently he has worried about his sexual relations with his wife and his sexual immaturity.161
Am 3. August 1942 wurde Patient 2 in den ‚treatment room‘ des Willard-ESTUnits geführt. Die erste 0.1-sekündige EST-Anwendung von 90 Volt führte zu einer ‚Immed. Conv.‘ und war von einem ‚severe excitement‘ begleitet.162 Die PflegerInnen notierten kurz nach der ersten EST (‚G.M.‘ = ‚grand mal seizure‘): 159 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Permission of Shock Treatment. Der Fall liegt chronologisch also zwei Jahre vor dem oben geschilderten und stellt eine der ersten EST-Behandlungen im Willard State Hospital dar. 160 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 161 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. In der ‚Fin de siècle‘-Terminologie handelte es sich also um ein Paradebeispiel der ‚Sexual Neurasthenia‘, die Dr. Alphonse Rockwell ebenfalls mit (faradischen) Schocks behandelt hätte, was die hohe Kohäsion und Kontinuität der ElektroMacht artikuliert. 162 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. Zum Terminus ‚treatment room‘, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Auf die Tendenz zu Schläfrigkeit oder aber zu ‚motorischer Unruhe‘ nach dem Schock hatte Erich Schilf bereits 1922 anhand seiner Versuchstiere verwiesen; dasselbe Muster findet sich auch in den OMH Clinical Case Files, wobei einige PatientInnen nach dem ‚Heilkrampf‘ schliefen, andere sich jedoch – ‚banging head‘ (Patientin 1), ‚severe excitement‘ (Patient 2), ‚emotional instability‘ (Patient 4) – massiv agitierten.
264 | M EDIZINISCHE G EWALT EST#1 @ 12:10. G.M. [‚]I don’t remember anything about the last treatment. I was all mixed up. […] I feel lighter when I walk.‘163
Die erste EST-Applikation wurde aufgrund der ausgelösten Memory-Defekte nicht erinnert; die zweite Anwendung folgte kurz darauf: E.S.T.#2 @ 11.35 am. GM. Severe excitement. Confused. Very restless when brought to dormitory. Asked what he was doing here. When told he had a treatment wanted to know if they knocked him out cold.164
Auch die zweite EST ließ den Patienten ratlos zurück, resultierte nun aber in dem unheimlichen Gefühl, er sei ‚plötzlich k.o. gegangen‘. Der Folgeeintrag in anderer Handschrift unter demselben Datum (Spätschicht) erläutert: Confused and agitated after reaching ward – Rested in bed one hour, with headache. Unable to think clearly. Slept better at night.165
Die EST führte zu Kopfschmerzen und tiefer Konfusion (‚[u]nable to think clearly‘); am 8. August 1942 erlebte Patient 2 dann, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bei der EST, sondern im Stationsalltag, den epileptischen Anfall eines Mitpatienten: Very nervous – at lunch refused his meal and was on the verge of tears. Very agitated […] – Visited by Dr. Davidoff. Says he has not felt very well since shock treatment […].166
Der Patient, der sich nach Beobachtung eines epileptischen Krampfanfalls offensichtlich selbst auf dem ‚Behandlungstisch‘ imaginierte, erklärte dem ‚Director of Clinical Psychiatry‘ Dr. Eugene Davidoff, dass die EST für ihn schädlich sei und versuchte anschließend vergeblich ihre Fortsetzung auch über Dr. Angelo J. 163 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 164 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 165 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 166 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Die Formulierung lautet: ‚after seeing another patient have a convulsion‘ (ebda.).
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Raffaele zu verhindern: ‚Requested to see Dr. Raffaele. Says he is worse than before the treatment.‘167 Am 8. August 1942 folgte die dritte EST-Applikation (80 Volt), die abermals zu einer ‚grand mal seizure‘ führte. Von nun an begannen die Gedanken des Patienten mehr und mehr um die EST zu kreisen: E.S.T.#3 […] Patient stated that he was very nervous and wondered when he would get his treatment. […] Refuses to stay in bed. Can’t see why he don’t get his treatment. […] Can’t see why he had his cloth on wanted to take them off before he had his treatment. 168
Vor der dritten Applikation drängte der Patient plötzlich deutlich auf eine EST und plante, sich für die Konvulsionen in Erwartung sexueller Hochgefühle zu entkleiden; auch der vierte Schock wurde nicht erinnert, was den Patienten dann zunehmend beunruhigte: E.S.T.#4 […] Asked what time it was. Told him and he said ‚Did I have my operation?‘ Told him he had his treatment and he said ‚I had it then.‘ […] [W]orrying about his treatment tomorrow […]. E.S.T.#5 […] Very talkative. Wanted to know how he got here and what kind of a treatment he had. […] 8/18/42 […] Discusses his treatment frequently. Cannot remember preceding events before last treatment. […] E.S.T.#6 […] Very restless. Says he doesn’t feel as if he had treatment. Wanted to go back on ward. Said he felt nervous, didn’t think treatment was helping him. […] Very restless […] followed writer about ward discussing his treatment.169
Die ‚Behandlung‘ wird nicht erinnert und ist doch Teil jeder Äußerung; einmal gefordert, ein anderes Mal kritisiert, stellt sie das neue Zentrum dar, um das die Existenz des Patienten im Willard State Hospital flottiert.170
167 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 168 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Zur ‚grand mal seizure‘, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 169 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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Patientin 3, die zweifache Mutter italienischer Abstammung, wurde am 14. September 1945 in den ‚treatment room‘ des Willard State Hospitals geführt, wo ihr Dr. Angelo J. Raffaele einen elektrischen Schock von 130 Volt und 760 Milliampere an den Kopf applizierte, der in einer ‚Immediate Convulsion‘ resultierte.171 Die zweite EST folgte drei Tage später: Patient was taken to the treatment room on [ward] 7 for E. S. therapy this morning. Since return from treatment, patient has been more talkative and elated. Recalls only a small part of the procedure – that is, the fact that she had a feeling of intoxication as a result of it.172
Der zerebrale Elektroschock wurde auch in diesem Fall nicht memoriert; die EST führte hier schnell zu einer diensteifrigen Beflissenheit, die das so entlastete Willard-Personal positiv registrierte: ‚No Shock. Patient swept floor, made her bed. Went to store in afternoon.‘173 Trotz ‚guter Führung‘ wurde der Shock Course fortgesetzt, wobei bei Patientin 3 schnell die Memory-Defekte der retrograden Amnesie auftraten: Patient down for E.S.T. today. She can not remember what she did with her candy […] which her husband gave her Sunday.174 Patient had E.S.T. this morning[.] […] She could not remember where her bed was. She was lying down a while after dinner then sat in the recess listening to the radio.175 170 Während Raffaele eine deutliche Besserung feststellte (‚more optimistic, cheerful and active‘), die den Abbruch der EST begründete, wurde die EST laut Ward Notes zunächst wegen Fiebers ausgesetzt und dann nicht wieder aufgenommen: ‚8/21/42 Elevation in temperature. No treatment given. […] Treatment discontinued.‘ (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes). 171 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. Die ‚Permission of Shock Treatment‘ war von ihrem Ehemann bereits anlässlich der Einweisung erteilt worden. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Permission of Shock Treatment). 172 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 173 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 174 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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Patientin 3, die bis zum 8. Oktober 1945 sieben krampfauslösende Elektroschocks erhielt, war nach der EST dermaßen desorientiert, dass sie das eigene Bett nicht fand.176 Die vorliegende Akte ist deshalb spektakulär, weil sie – als einzige der vorliegenden Case Files –‚Mental Notes Following [S]hock‘ enthält, in denen die PflegerInnen die Patientin nach der EST interviewten: When asked how she felt after the treatment she replied, ‚Oh, about the same.‘ She is doing some Occupational Therapy work, and does it well. Her greatest desire is to go home to care for her two children. She kept asking, ‚Am I going to have treatment tomorrow, am I going to have many more treatment[s]?‘, in an anxious manner. When asked if she always spoke in that [anxious] manner she replied, ‚Yes[,] I always speak like this,‘ it is sort of a whispering monotone.177
In der ‚Welt des Asyls‘ regiert das ‚Prinzip der Angst‘ (Foucault); der Behaviorist Burrhus F. Skinner (siehe Kapitel: 6.6.2) formuliert: Der unsichere Blick, das gedrückte Betragen, die schuldbewußte Art zu sprechen – sie sind emotionale Auswirkungen der konditionierten Stimuli, die durch bestraftes Verhalten hervorgerufen werden.178
Die EST wurde am 24. Oktober mit der zwölften Anwendung (130 Volt, 760 Milliampere) fortgesetzt: Complained of some dizziness after treatment. Does not know whether they help her or not. She does not like them, but is very willing to take them if they will aid her in returning home.179
175 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 176 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 177 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 178 In deutscher Übersetzung zitiert nach: Burrhus F. Skinner, Wissenschaft und menschliches Verhalten – Science and Human Behavior. München, 1973, 178. 179 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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Ende Oktober trat die Patientin in die höchste Unterwerfungsstufe ein, indem sie die angeblichen ‚Behandlungen‘ billigte (‚she is willing to take them‘); das Behandlungslob (‚real insight‘) allerdings war nur von kurzer Dauer: She seems very cooperative but somewhat reluctant toward EST. She states she ‚takes them only because I believe they are going to help me get well.‘180 She says she ‚hopes this is my last treatment as they make me dizzy afterward‘.181 She talked very sensibly and seemed a most kind and sincere person. She believes shock therapy helps her, but hopes there won’t be too many more treatments.182
Das abermalige Lob der ‚Therapie‘ führt zu einer charakterlichen Bestnote; als der Shock Course jedoch am 14. November mit der 16. Applikation fortgesetzt wurde, erfolgte der Zusammenbruch: Patient has relapsed since her last shock treatment. She is overly anxious to go home. Her husband visited her today and she demanded her release. She became excited, screamed and cried. She prayed some too and talked about religion. She told her husband that if he didn’t take her home he would be sorry. It was necessary to get help to take her from Ward [?] to Ward 2 and after a time she became quiet. The husband said that she didn’t belong here and he was sorry that he had ever brought her here.183
Nachdem die Therapie trotz – temporären – Wohlverhaltens fortgesetzt wurde, brach die Patientin zusammen und forderte ihren Ehemann ultimativ auf, sie aus dem Willard State Hospital zu befreien.184 Am 7. Dezember 1945 erfolgte dann 180 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 181 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 182 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 183 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Zur vorausgegangenen 16. Applikation, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 184 In diesem Fall war die Therapie, die zwar eine schwankende, aber doch immerhin deutlich wahrnehmbare Verbesserung des Stationsverhaltens bewirkte, zu lang. Burrhus F. Skinner formuliert: ‚Wenn wir entdecken, daß sich ein Verhalten nicht
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mit 130 Volt und 720 Milliampere der letzte Schock; am 31. Januar 1946 wurde die Patientin, auch aufgrund der ‚numerous requests‘ ihres Ehemanns, auf Bewährung entlassen.185
6.6 W EITERE F ALLGESCHICHTEN UND ASPEKTE 6.6.1 Das Muster: Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung Die allermeisten PatientInnen reagierten auf die sog. ‚Elektroschocktherapie‘ mit dem Handlungsmuster Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung. Nach den ersten Elektroschocks setzten die PatientInnen der EST aufmüpfigen Widerstand entgegen, der jedoch in allen Fällen fruchtlos blieb (Phase 1 – Widerstand). Als die PatientInnen dann erkannten, dass der behavioristische Shock Course durch ihre Renitenz nicht abzubrechen war, reagierten sie auf die fortgesetzten Elektroschocks mit ostentativ zur Schau getragener Verzweiflung (Phase 2 – Verzweiflung), was ebenfalls vergeblich blieb, da das WillardPersonal sich nicht rühren ließ. Schließlich – und hier liegt der positive Effekt der EST als funktionales Instrument der Ordnung – traten die PatientInnen in einen Zustand der aktiven Unterwerfung (Phase 3 – aktive Unterwerfung) ein, in der sie die Regeln des Asyls voll internalisierten und in bedingungsloser Unterwürfigkeit aktiv replizierten. Das Handlungsmuster Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung, das viele, aber nicht alle PatientInnen als Reaktion auf die EST entwickelten, lässt sich am deutlichsten an Patient 4 (‚truck business‘) exemplifizieren, da die einzelnen Phasen hier – anders als etwa bei Patientin 1 (‚Michigan‘), die die Stufen 1 und 2 mit einem doppelten Suizidversuch verband und dann sehr schnell und erfolgreich in die Stufe 3 (aktive Unterwerfung) eintrat – deutlich getrennt aufeinander folgten: Patient 4 (‚truck business‘), dessen Stationsalltag von exaltiertem Größenwahn geprägt war, erhielt seine erste EST am 18. Februar 1943, wobei der 120 Volt/600 Milliampere-Schock augenblicklich zu einer ‚grand mal seizure‘ führte.186 Vor der zweiten Applikation musste der Patient leicht sediert werden, da mehr ›lohnt‹, neigen wir immer weniger dazu, uns so zu verhalten.‘ (Skinner, Wissenschaft und menschliches Verhalten, 73). 185 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart & Seven Day Note. 186 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart.
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die erste EST bei ihm eine ‚emotional instability‘ auslöste;187 den fünften Schock – in diesem Fall liegen keine Ward Notes vor – kommentierte Dr. Angelo J. Raffaele dann wie folgt: Since treatment started this patient has continued to show an increase in elation […]. At the present time he has a mild grandiose trend and a paranoid trend toward the employees, whom he accuses of abusing patients, adding ‚I’ll kill any of them who try to push me around.[‘]188
Nach den ersten Schocks verhielt sich der Patient also ausgesprochen renitent, bezichtigte das Willard-Personal der Gewalttätigkeit – und drohte anschließend jeden zu töten, der versuchen würde, ihn herumzukommandieren. Der Patient setzte der EST also zunächst entschlossenen Widerstand entgegen; als dieser jedoch fruchtlos blieb, da das Willard-Personal ihn einfach überging und die EST unbeeindruckt fortsetzte, traten bei dem Patienten schnell deutliche Anzeichen der Verzweiflung auf, die sich in intensivem Selbstmitleid manifestierten: Following each treatment he has been quiet for a short period, following which he has been very unstable, crying a great deal and indulging in self pity.189
Nach dem erfolglosen Widerstand gegen die EST trat der Patient in die zweite Phase (Verzweiflung) ein, indem er unter den regelmäßigen Elektroschocks selbstmitleidig resignierte (‚crying a great deal and indulging in self pity‘). Spätestens nach der elften Applikation wechselte Patient 4 (‚truck business‘) dann in die Phase 3, die aktive und bedingungslose Unterwerfung über, in der er täglich in der Wäscherei arbeitete, dem Willard-Personal alle Wünsche von den Lippen ablas – und sich, durch die elektrischen Schocks in demütige Subordination gezwungen, geflissentlich kontrollierte:
187 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 188 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Die Applikation löste eine ‚petit mal‘-Reaktion mit 45sekündigem Atemstillstand und ‚fixed pupils‘ aus. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart). 189 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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[F]ollowing his 11th application he was improved sufficiently to be able to work daily in the laundry. […] At the present time, the patient is quiet and cooperative and congenial […]. […] He is well oriented in all spheres. […] Treatment was today discontinued.190
Patientin 5 (‚deaf mute‘), die jede Nahrungsaufnahme verweigerte und folglich zwangsernährt werden musste, disziplinierte sich bereits nach der ersten ESTApplikation vom 15. März 1944 (Doppelanwendung) dermaßen gründlich, dass sie nach den ersten beiden Elektroschocks sofort wieder Nahrung zu sich nahm: E.S.T.#1-2: During the relaxation phase following the second application the patient drank six cups of eggnog.191
Nach der sechsten EST-Applikation vermerkte Dr. Raffaele: [Patient] has been eating regularly without urging since her 6th. treatment and has shown a great deal of physical improvement. She has shown marked improvement in her behavior and is now interested in her personal appearance […].192
Bei anderen PatientInnen konnte das typische Reaktionsmuster Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung dynamisch fluktuieren. Patientin 6 (‚busybody‘) wurde im April 1942 in Willard eingeliefert; die 30-jährige Frau (‚mental defective‘, ‚hard to manage‘, ‚very determined to have boy friends‘) konnte Zuhause trotz mütterlicher Fürsorge nicht mehr kontrolliert werden: In her better moments she busies herself with the care of other patients […]. Despite her ‚busybody‘ attitude she is quite liked by the ward personnel who do not interfere with her nursing activities provided she does not carry them too far.193
Die erste EST fand am 23. Juni 1942 statt; zwei Tage später folgte in den Ward Notes der Eintrag:
190 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 191 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 192 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 193 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
272 | M EDIZINISCHE G EWALT 6/25/42 Patient very disturbed and agitated. She talks frequently about giving signals and getting electricity from unusual manner.194
Die Patientin reagierte auf die EST also nicht mit Widerstand, sondern mit elektrischen Visionen, mit denen sie versuchte, die ‚Elektroschocktherapie‘ zu rationalisieren (‚getting electricity from unusual manner‘). Dabei glichen die elektrischen Wahn-Bilder denjenigen der PatientInnen des St. Lawrence State Hospitals um 1910 (‚electricity in head and chair‘), was abermals die Kontinuität der ElektroMacht exemplifiziert. Die zweite ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ erfolgte am 25. Juni 1942: [EST 2] Face flushed. Restless climbing all over the bed. Appearance a little more tidy. Crying frequently saying no one liked her.195
Während die Patientin zunächst keinen Widerstand leistete, gab sie sich nach dem zweiten Schock verzweifelt (‚[c]rying frequently saying no one liked her‘); nach der vierten EST ließ die Patientin eine hohe Unterwerfungsstufe erkennen (‚[t]alks very sensible today […] [c]ooperative‘).196 Die fünfte Anwendung führte dann zu maximaler Unterwerfung – bei gleichzeitiger Verzweiflung: [EST 5] Patient says that everyone is so nice to her. […] Talked about making signals and sending messages. Very depressed. Says she is just where people wanted her. Crying.197 194 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 195 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 196 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Gleichzeitig erscheint die Patientin, die sich nach dem zweiten Schock im Bett herumwirft, dem Willard-Personal ‚a little more tidy‘, was auf ein autosuggestives Element der EST als ‚self fulfilling prophecy‘ verweist, die es gleich einer heiligen Instanz vermag, zu reinigen. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes) Bei einem schwarzen EST-Patienten von 18 Jahren notierte Dr. Raffaele: ‚Since his last treatment the patient has been performing simple tasks upon request. […] His skin appears clearer.‘ Die EST sorgte hier offensichtlich für eine Aufhellung der Haut, die für Dr. Raffaele eine ‚Besserung‘ markierte. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note). 197 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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Aktive Unterwerfung (‚says everyone is so nice to her‘) und Selbstmitleid traten bei Patientin 6 parallel auf; nach der zwölften EST stellte sich – von der retrograden Amnesie gedämpft – dann eine leichte Renitenz ein: Wouldn’t believe she had had her treatment. Said she was waiting for the Dr. to come in that she wanted to talk to him alone. Seems more determined but a little more unpleasant in her manner of talking.198
Im Aufwachzimmer verlangte die Patientin energisch, Dr. Raffaele zu sprechen; nach der 16. EST notierte eine Pflegerin: [Patient] told me to-day, this hospital was just like Auburn prison […].199
Widerstand, Verzweiflung und Unterwerfung konnten ineinander übergehen und sich wechselseitig durchdringen, wobei in den allermeisten Fällen aber die aktive Unterwerfung am Ende der sog. ‚Elektroschocktherapie‘ stand (Patientin 1, Patient 4, Patientin 5). Neben dem Handlungsmuster Widerstand → Verzweiflung → Unterwerfung finden sich zwei weitere markante Reaktionsmuster auf die EST. Erstens das Sprechen über die eigene Familie, um Verbündete anzuführen und zweitens der Versuch, sich die ‚Elektroschocktherapie‘ nicht anmerken zu lassen, um die eigene Würde zu wahren. Punkt 1, Familie: Patient 2 (,very nervous‘): I would have given anything to have my mother or wife with me.200
Patientin 3 (‚catatonic posture‘): [S]tates that ‚she always feels cranky after shock […].‘ […] [T]alks about her love for her mother + father.201 198 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 199 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 200 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 201 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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Patientin 6 (‚busybody‘): [EST 3] Face flushed. Talking constantly about familiy affairs. Says she has a sister 3 years old. [EST 4] Said she wished her mother would come and see her.202
In der Aufwachphase nach dem Elektroschock wurden harmonische Familienbilder evoziert, um das Willard-Personal durch die Erzeugung einer persönlichen Dimension (verwalteter Insasse → leidensfähiges Individuum mit familiärem Hintergrund) zu rühren. Außerdem versuchten diverse PatientInnen, die EST durch zur Schau gestellte Gleichgültigkeit zu bagatellisieren; so ignorierte eine weitere Patientin – eine Lehrerin (,In class, she began to scream and made a disturbance before her pupils‘) – die EST geflissentlich: Treatment – Assisted in dining room today. Conversed with the other patients. Neat + tidy in habit + appearance. Treatment today. […] Seems content to stay in + take care of her mending […].203
Die Patientin, der an diesem Tag ein zerebraler Elektroschock von fast einem Ampere an den Kopf appliziert worden war, versuchte, die EST zu ignorieren; auch Patientin 6 (,busybody‘) formulierte direkt nach der EST: [EST 16] When questioned as to how she felt she said ‚pretty good.‘ Cooperative and congenial.204
Die Nachricht, dass sich die Patientin – trotz des Schocks von 110 Volt – ‚pretty good‘ fühle, wurde vom Willard-Personal mit spöttischer Bewunderung protokolliert.205
202 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 203 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Zur ‚disturbance before her pupils‘, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 204 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
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6.6.2 ‚Aktive Unterwerfung‘ als behavioristische Utopie totaler Disziplin Der ‚Behaviorist‘ Burrhus F. Skinner hat bei seinen Versuchen an der University of Harvard festgestellt, dass nicht die punktuelle Körperstrafe den größten Disziplinierungseffekt erzeugt, sondern im Gegenteil die plötzliche Abwesenheit von Strafe, was Skinner vor dem Hintergrund seiner Theorie der behavioristischen Konditionierung als ‚Entzug‘ eines ‚negativen Verstärkers‘ beschreibt. Dabei gibt es laut Skinner grundsätzlich zwei Wege der behavioristischen Verhaltenslenkung bzw. ‚Verstärkung‘: Bei manchen Verstärkungen wird der Situation etwas hinzugefügt – zum Beispiel Nahrung, Wasser oder sexueller Kontakt; wir haben es mit einer Darbietung oder Präsentation von Stimuli zu tun. Diese Verstärkungen bezeichnen wir als positive Verstärker. Bei anderen Verstärkungen findet ein Entzug statt, wird der Situation etwas entzogen – beispielsweise lauter Lärm, grelles Licht, starke Hitze oder Kälte, ein elektrischer Schock. Diese Verstärkungen bezeichnen wir als negative Verstärker. In beiden Fällen ist der Verstärkungseffekt derselbe – das heißt, die Reaktionswahrscheinlichkeit wird gesteigert.206
Während die ‚Konditionierung‘ zur erwünschten ‚Reaktionswahrscheinlichkeit‘ durch ‚positive Verstärker‘ das Prinzip der Belohnung umschreibt, kann die Verhaltensänderung auf negativem Weg am elegantesten nicht durch eine spektakuläre Einzel-Züchtigung erreicht werden, sondern durch den Abbruch einer über längere Zeit aufrecht erhaltenen Dauerstrafe, die sich am besten durch einen ‚elektrische[n] Schock‘ erzeugen lässt.207 Die angebliche ‚Elektroschocktherapie‘ nun wurde absolut, ausschließlich und ohne jede bekannte Ausnahme nach der Methode des ‚Entzugs‘ eines ‚negativen Verstärkers‘ angewandt: Es ist aus den Quellen kein einziger Fall bekannt, in dem die EST als pönale Einzelanwendung appliziert worden wäre; die EST wurde immer in einem längeren, im Normalfall aus zehn bis 40 Applikationen bestehenden ‚Shock Course‘ 205 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 206 Burrhus F. Skinner, Wissenschaft und menschliches Verhalten – Science and Human Behavior. München, 1973, 76/77. 207 Erving Goffman formuliert: ‚[Totale Institutionen] sind die Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern.‘ (Goffman, Asyle, 23).
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verordnet, der sich über Wochen und Monate hinzog – und dessen Länge vom Willard-Personal fast beliebig zu variieren war. Somit produzierte die EST ein aus dem Rhythmus Schock → Erholung, Schock → Erholung bestehendes lang anhaltendes Dauerleid, wobei der vorzeitige Abbruch der EST exakt Skinners behavioristischem ‚Entzug‘ eines ‚negativen Verstärkers‘ oder anders, dem Abbruch einer Dauerstrafe nach erfolgter Konditionierung bzw. ‚Verhaltensverstärkung‘ entspricht: She became cheerful, optimistic, active and cooperative. […] She has developed real insight and shows good judgment. […] Treatment was today discontinued.208
Daraus folgt jedoch nicht, dass die EST nicht als Strafe für einen punktuellen Verstoß gegen die Stationsdisziplin verwendet worden wäre. Es heißt vielmehr, dass auf ein spezifisches Vergehen nicht mit einer pönalen Einzelanwendung (Vergehen → Strafe), sondern mit einem ganzen elektrotherapeutischen ‚Shock Course‘ (Vergehen → Dauerstrafe) geantwortet wurde, wobei die potentiell unbegrenzte Fortsetzung der EST die Patientenkontrolle nach Skinners behavioristischem Konditionierungsmodell überhaupt erst ermöglichte. Dass die EST als Strafe für Vergehen gegen die Stationsdisziplin appliziert wurde, kann hier anhand der OMH Akten erstmals zweifelsfrei bewiesen werden: ‚[Patient 1] – Attacked [Patient 2] […] – E.S.T. Today‘.209 Der Patient attackiert einen Mitpatienten, wofür er mit einem elektrischen ‚Shock Course‘ diszipliniert wird; die Ursache-Wirkung-Relation ist hier eindeutig, wodurch die EST als Maximalstrafe im psychiatrischen Stationsalltag erscheint. Wie erwähnt, reagierten die meisten PatientInnen auf die wochen-, meist monatelang aufrechterhaltene EST mit einer aktiven Unterwerfung, in der sie ihre ‚kooperative‘ Diensteifrigkeit ‚kongenial‘ inszenierten. Auch vor dem Hintergrund des – seine Erkenntnisse sehr vorsichtig präsentierenden Behavioristen 208 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 209 NY State Archives B1589: Utica State Hospital, Ward Inspection Reports, 19531954, Vol.1, 1953. Ein weiterer Eintrag in den Utica-Ward Inspection Reports (15. Juni 1954) lautet wie folgt: ‚[Patient] – Upset – Refuses Food – Start E.S.T. in AM.‘ (NY State Archives B1589: Utica State Hospital, Ward Inspection Reports, 19531954, Vol. 2, 1954). Weitere Einträge lauten: ‚[Patient] – Quiet Since E.S.T.‘, ‚[Patient] – Very Cooperative Since E.S.T.‘ Wie im Willard State Hospital gelang es also auch im Utica State Hospital, die PatientInnen mit zerebralen Elektroschocks behavioristisch zu disziplinieren. (Utica, Ward Inspection Reports, Vol. 1, passim).
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Burrhus F. Skinner – erscheint die ‚Elektroschocktherapie‘ als dystopischer Mechanismus einer voll durchkonditionierten Gesellschaft, in der durch eine elektrisch implementierte Dauerstrafe eine vollständige und totale Unterwerfung rücksichtslos erzwungen wurde. 6.6.3 Memory-Defekte und die EST als Maximalrepression von Frauen Die angebliche ‚Elektroschocktherapie‘ beeinträchtigte das Gedächtnis der PatientInnen derart massiv, dass große Teile der Erinnerungen temporär oder permanent verschwammen: The major side effect of ECT is memory loss. Memory of events both before ECT treatments (retrograde amnesia) and afterwards (anterograde amnesia) is affected, sometimes permanently.210
Die elektrisch induzierten Amnesien stellten mithin den Haupteffekt der EST dar, wobei die Löschung ganzer Gedächtnisformationen den psychischen Leidensdruck tatsächlich minimierte, da die Ursache der persönlichen Malaise nicht mehr erinnert wurde – und folglich an Relevanz verlor (s.u.). Durch die EST konnte akutes seelisches Leiden also gelindert werden, wobei der Mechanismus freilich darin bestand, weite Teile der Erinnerung der ausgruppierten PatientInnen – ob temporär oder permanent ist anhand der OMH Clinical Case Files nicht zu eruieren – elektrisch zu annihilieren.211 Auch im Willard State Hospital führte die ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ zu schweren mnestischen Defekten. So hatte etwa die recht beliebte Patientin 6 (‚busybody‘), die sich mit Erlaubnis des Willard-Personals um ihre MitpatientInnen kümmerte, nach der vierten EST die Nummer des Aufwachzimmers ver-
210 David Whitcomb, The Regulation of Electroconvulsive Therapy in California – The Impact of Recent Constitutional Interpretations. In: Golden Gate University Law Review, Vol. 18, No. 2 (1989), 474. 211 Bereits der Annual Report des NY State Psychiatric Institute von 1940/1941 hatte den ‚memory defect‘ erwähnt und von der Auflegung eines Forschungsprojekts gesprochen, das Mittel und Wege aufzeigen sollte, etwaige Gedächtnisschäden zu minimieren. ([NY State] Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941, 10).
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gessen: ‚Patient asked what number this room was […]. Said she wished her hair was curly.‘212 Direkt nach der sechsten EST hatte Patientin 6 dann auch den Namen der sie überwachenden Schwester vergessen: Confused after treatment. Lay in bed looking out of window. Asked, ‚What’s your name, nurse?‘213
Der Name der Schwester wurde von der Patientin nicht mehr erinnert, was bei ihr eine beunruhigende Lücke hinterließ, die sie durch Nachfragen bzw. Wiedererlernen zu schließen versuchte. Neben spezifischen Signifikaten aus dem lokalen Umfeld (Namen, Zimmernummern) konnte auch das Kurzzeitgedächtnis betroffen sein, wie bei der im Willard State Hospital internierten Lehrerin, die so geflissentlich versuchte, die EST zu ignorieren: Confused for a short time following treatment. […] At times seems to forget when asked questions but answers correctly after a little hesitation.214
Das Ausmaß der Amnesie nahm mit steigender Zahl an EST-Applikationen zu. So wurde über einen 55-jährigen Eisenbahn-Inspektor, der insgesamt 29 ESTApplikationen erhielt (‚told his wife that he had been practicing self-abuse and was not worthy to associate with her and the children‘), direkt nach der sechsten EST vermerkt: He remains mute except for a period following treatment at which time he asks ‚Where am I? What am I doing here[?‘]215
212 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 213 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 214 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 215 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Die EST fand im Jahre 1943 statt; zur Anamnese, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary.
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Nach der 24. Applikation formulierte der Patient: ‚I know this is Willard, but I don’t know how I got here, or what happened.‘216 Die gesamte Vorgeschichte des Patienten wurde durch die angebliche Therapie evaporiert (retrograde Amnesie); wie die weidende ‚Herde‘, die Friedrich Nietzsche als Bild für das unhistorische, ‚an den Pflock des Augenblicks‘ gebundene Tier evoziert, war der Patient nach der EST völlig ohne eigene Geschichte – und befand sich damit zugleich in totaler Abhängigkeit vom Asyl: ‚Returning from E.S.T. said, ›I [a]m lost‹, seemed quite confused. Did not know his age.‘217 Ein anderer ebenfalls männlicher EST-Patient (‚assaultive‘, ‚frequently annoys other patients‘) begann nach der EST, die Personen in seinem nächsten Umfeld zu verwechseln: ‚He is found to misidentify people.‘218 Namen wurden memoriert, aber falsch verknüpft; auch im Falle eines jungen schwarzen Patienten, der vergeblich versuchte, die EST durch eine Beeinflussung der PflegerInnen abzuwenden (‚He told one of the Attendants that he was afraid we were going to hurt him‘), traten massive Störungen des räumlichen Erinnerungsvermögens ein: ‚He needs supervision. At night he still does not find his own bedroom without help.‘219 Der stark retardierte Patient war also – zumindest auch aufgrund der EST – nicht in der Lage, das eigene Bett zu finden, was abermals die annihilierende Wirkung der EST exemplifiziert. Die stärkste – und radikalste – Folge der EST war die mit Gedächtnisverfall beginnende und bis zum völligen körperlichen Kontrollverlust reichende totale Verwirrung, wie sie – ungewollt – im folgenden Beispiel auftrat: Im vergleichsweise humanen Willard State Hospital wurde das sog. ‚Confusional Treatment‘ bzw. die ‚Annihilation Method‘, die durch die Erzeugung von 216 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 217 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Frankfurt am Main, 1989, 12; NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Hans J. Markowitsch verweist darauf, dass das Gedächtnis im Tierreich als ‚Geruchsgedächtnis‘ entstand: ‚[…] [D]as Geruchsgedächtnis [sichert] das Überleben des Individuums: Für Tiere – aber natürlich auch für den Menschen – ist es von Überlebensvorteil, sich den Geruch von giftiger ebenso wie den von wohlschmeckender, gesunder Nahrung langfristig merken zu können […].‘ (Markowitsch, Das Gedächtnis, 20). 218 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 219 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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‚very severe amnestic reactions‘ durch mehrfache Schocks täglich auf eben diesen ‚Vernichtungszustand‘ zielte, bis 1946 nicht praktiziert – weswegen der Shock Course von Dr. Raffaele hier vorzeitig beendet wurde: He […] showed a marked decrease in his psychomotor activity and toward the end of the course of treatment [became] very confused, generally retarded and began to wet and soil his clothing. This was not on the basis of his confusion. He could not find his own bed and needed assi[stance] in dressing. […] Because of the confusion treatment was today discontinued.220
Bei dem Patienten trat durch die EST ein gefährlicher körperlicher Verfall mit Stasis, Inkontinenz und völliger Verlangsamung ein, woraufhin die vermeintliche ‚Elektroschocktherapie‘ abgebrochen wurde. Dr. Raffaele und die PflegerInnen waren sich der via EST ausgelösten Memory-Defekte durchaus bewusst, weswegen sie direkt nach der EST durch spezifische Fragen versuchten, die Tiefe der verursachten Gedächtnislücken zu eruieren. Auch die PatientInnen bemerkten die Beeinträchtigung ihres eigenen Gedächtnisses; über Patientin 6 (‚busybody‘) ist nach ihrer elften EST vermerkt: [W]hen asked how she felt said, that she felt O.K. and that she remembered me very well.221
220 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Frosch/Impastato/Wortis formulieren: ‚Bini […] in 1942 suggested the repetition of electric shock treatments many times a day for certain patients. He named this technique the ›Annihilation Method.‹ It resulted in very severe amnestic reactions that he thought had a good influence on obsessive states, psychogenic depressions, and some paranoid conditions. The patient would be shocked daily for 3 or 4 days followed by a 3-day rest. Lowenbach […] also administered intensive shock therapy with the express purpose of inducing confused states. He called his treatment the ›Confusional Treatment.‹‘ (Frosch/Impastato/Wortis, Intensive Electroshock Treatment with Reiter Apparatus. In: American Journal of Psychiatry, Vol. 108, No. 3 (1951), 204). 221 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Direkt nach der EST war die Patientin über zehn Minuten bewusstlos; der vollständige Beginn des mit Rotstift verfassten Ward Note-Eintrags lautet: ‚E.S.T. IX 11.45 AM Head rolling. Uncon[s]cious[.] Apparently awake @ 11.58 AM[.] [W]hen asked how she felt said, that she felt O.K. and that she remembered me very well.‘ (ebda.).
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Die Patientin freute sich beim Erwachen sichtlich, die anwesende Schwester überhaupt zu memorieren. Im Oktober 1978 fand im New Yorker Kapitol in Albany eine parlamentarische Anhörung zum Thema ‚Electric Shock Treatment‘ statt, nachdem die EST in Kalifornien durch eine obligatorisch von den PatientInnen einzuholende Einverständniserklärung gesetzlich zuvor eingeschränkt worden war.222 Vor dem Ausschuss trat neben Dr. Lothar B. Kalinowsky auch die Ökonomin Marlyn Rice aus Washington D.C. auf, die Spitzenbeamtin des USHandelsministeriums gewesen war. Nach dem Einsetzen einer Depression wurde Marlyn Rice in einem psychiatrischen Krankenhaus mit einer ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ behandelt, die sie großer Teile ihres Gedächtnisses – und damit ihres lebenslang erworbenen professionellen Fachwissens – beraubte: [N]o matter what the problem is, the shock really will cure it, at least temporarily, because it wipes out memory of the circumstances causing the trouble […]. The body relaxes, appetite returns, sleep is refreshing. This is perfectly real and perfectly predictable […]. At the end of a shock curse, the patient awakens with very little in his head except his early vocabulary and a knowledge of who his close relatives are.223
Die PatientInnen erwachen aus der EST fast vollständig ‚gelöscht‘: Then the patient remains in the hospital for about three weeks, during which time the broad outlines of his life slowly emerge. Then he goes home and begins learning again, by reminders, things he used to know. […] But, what was delicate in the mind does not return, and there is no such thing as learning anew what a scholarly person has put into the closets and drawers of his memory over three decades of adult life.224 222 NY State Legislature, Assembly, Committee on Mental Health, Public Hearing on Electric Shock Treatment. New York, NY, 1978. Zur erfolgten gesetzlichen Einschränkung der EST in Kalifornien, siehe: Whitcomb, The Regulation of Electroconvulsive Therapy in California, passim. Withcomb formuliert: ‚The fundamental proscription of the California ECT laws consist of a ban on the treatment unless the patient gives his or her informed consent.‘ (Whitcomb, The Regulation of Electroconvulsive Therapy in California, 476). 223 NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 40 und 41. Rice fährt fort: ‚That is the way it was with me when I found myself unaccountably in a hospital; and my state must have been typical for no doctor or nurse showed any surprise at it.‘ (NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 41). 224 NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 41.
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Die groben Umrisse des Ichs können nach der EST wiedererlernt bzw. neu entdeckt werden, doch die persönlichen und professionellen Feinheiten, all jenes ‚what was delicate in mind‘ kommt nicht zurück, womit sich die ‚Behandelten‘ selbst ratlos gegenüberstehen. Die als geisteskrank gelabelten PatientInnen werden durch die EST also gleichsam elektrisch (aus-) gelöscht; Marlyn Rice beschrieb den aus der EST resultierenden Memory-Defekt wie folgt: [I]t is exactly the opposite of normal forgetting, the amnesia is the thickest at the near end of the memory and tapers toward the past, not in a messy way, with kind of a mathematical smoothness.225
Dies entspricht exakt dem Stand der gegenwärtigen Gedächtnisforschung, die im Ribot’schen Gesetz die (Alters-) Regression des Gedächtnisses in einer ‚Vergessenskurve‘ beschreibt, wobei kürzlich ‚engrammierte‘ Ereignisse bei beginnender Demenz schnell wieder verlorengehen, während sich sehr lange gespeicherte Informationen (Kindheit und Jugend) als ‚außerordentlich ›löschresistent‹‘ erweisen können (‚last in, first out‘).226 Markowitsch formuliert zu den Gründen des umgekehrten Erinnerns nach einer Amnesie: Informationen, die ‚zu Herzen gehen‘ oder die affektgeladen sind, werden besonders gut eingespeichert, und in Kindheit und Jugend wird vieles als bedeutend angesehen.227
Während Dr. Lothar B. Kalinowsky vor dem Parlamentsausschuss betonte, dass die Amnesien temporär seien (‚I advise [patients] of the fact that they will have a temporary memory impairment‘), sind die Memory-Defekte laut Marlyn Rice permanent und lebenslang – und treten ausnahmslos bei allen EST-PatientInnen auf: I know that Doctor Kalinowsky has told you that memory always fully returns. It doesn’t. It never does. Others may say that it returns for some people and some not, but they are mistaken. […] I look upon myself as the victim of a legalized mass atrocity.228 225 NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 42. 226 Markowitch, Das Gedächtnis, 13. 227 Markowitch, Das Gedächtnis, 13/14. 228 NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 41/42 und 44, zum Kalinowsky-Zitat, siehe: NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 20, zu Rice’ Verlust ihrer Position, siehe: NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 45-46. Marlyn Rice erläutert weiter: ‚I think of one wom[a]n, whom I asked, how did you spend last Thanksgiving and she
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Lou Reed, der spätere Sänger der Band ‚The Velvet Underground‘, der als 14Jähriger 1956 im berüchtigten Rockland State Hospital eine ‚Elektroschocktherapie‘ gegen seine Bisexualität erhielt, äußerte sich ähnlich wie Marlyn Rice: They put the thing down your throat so you don't swallow your tongue, and they put electrodes on your head. That's what was recommended in Rockland County then to discourage homosexual feelings. The effect is that you lose your memory and become a vegetable. You can't read a book because you get to page 17 and have to go right back to page one again.229
Auch wenn hier keine NY State OMH Clinical Case Files aus dem Rockland State Hospital vorliegen, verweist das Lou Reed-Zitat darauf, dass die EST in den 1950er Jahren auch zur zwangsweisen Implementierung der heteronormativen Ordnung bei Jugendlichen verwendet wurde.230 Bei geschlechterstatistisch etwa gleichen Belegungszahlen des Willard State Hospitals 1943 bis 1953 (rund 45% Männer und 55% Frauen), liest sich die Anzahl der via EST ‚therapierten‘ weiblichen und männlichen Patienten – nach Einzelanwendungen, nicht nach Shock Course – wie folgt:
said complacently, ›We always go to my sister’s for Thanksgiving‹, and her husband was there and he said ›Except the year when we won a turkey‹, and she said, ›What do you mean, won a turkey?‹‘ (NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 43). 229 McNeil/McCain, Please Kill Me – The Uncensored Oral History of Punk. New York, NY, 1996, ¾. 230 Noch heute wird die EST zur Therapie angeblicher oder tatsächlicher sexueller Störungen wie etwa der erstmals 2001 beschriebenen sog. ‚Persistent Genital Arousal Disorder (PGAD)‘ appliziert: ‚Herein we report the follow-up of a patient with bipolar disorder type II suffering from secondary PGAD who has been treated successfully with electroconvulsive therapy (ECT).‘ (Korda/Pfaus/Kellner/Goldstein, Persistent Genital Arousal Disorder (PGAD) – Case Report of Long-Term Symptomatic Management with Electroconvulsive Therapy. In: Journal of Sexual Medicine, Vol. 6, No. 10 (2009), 2902).
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Tabellen 5 und 6: EST-Anwendungen nach Geschlecht, Willard State Hospital, 1943 bis 1953 12000
10000 8000 6000 4000 2000 0 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 Male Female Total
Jahr
EST Frauen
EST Männer
1943
878
1944
EST Gesamt
Belegung Frauen
Belegung Männer
Belegung gesamt
565
1.443
1.650
1.590
3.240
1.212
1.158
2.370
1.583
1.501
3.084
1945
k. A
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
2.844
1946
1.943
1.012
2.955
1.580
1.471
3.051
1947
2.958
1.323
4.281
1.513
1.393
2.906
1948
3.263
2.162
5.325
1.511
1.382
2.893
1949
2.457
1.393
3.850
k. A.
k. A.
3.357
1950
2.604
1.255
3.859
k. A.
k. A
3.847
1951
6.877
914
7.791
k. A.
k. A.
k. A.
1952
6.996
1.444
8.440
1542
1413
2.955
1953
9.747
1.538
11.285
k. A.
k. A.
k. A.
Während Frauen im Willard State Hospital im Jahr 1943 878 und Männer 565 Elektroschocks erhielten und die Geschlechterstatistik 1944 so gut wie ausgeglichen war, schnellte die Zahl der an weiblichen Patienten applizierten Elektroschocks 1945/1946 plötzlich auf den doppelten Wert der Männer hoch. 1951 er-
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| 285
hielten weibliche Patienten 6.877 Schocks (88%), die männlichen nur 914 (12%), während 1952 knapp 7000 Schocks bei weiblichen (83%) und 1.444 Schocks an männlichen Patienten (17%) appliziert wurden.231 1953 erfolgten 9.747 EST-Applikationen an weiblichen und 1.538 an männlichen Patienten, was einem Prozentsatz von 87% Frauen und 13% Männern entspricht. Gleichzeitig waren Willards EST-Psychiater – Dr. Angelo J. Raffaele und ab 1946 dann Dr. Jacob Schneider, der nun auch ‚Intensive EST‘ durchführte und die EST ‚Blitz‘ nannte – zu 100% männlichen Geschlechts.232 Die für Willard 1943-1953 erhobenen Gender-Daten decken sich mit den Zahlen aus den 1970er Jahren und dem Jahr 2000; die kanadische Gelehrte Bonnie Burstow formuliert: Throughout the history of ECT, one statistic remains constant: Women are subjected to electroshock two to three times as often as men.233 231 Belege, EST-Anwendungen, Willard State Hospital, 1943 bis 1953: Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending March 31, 1943, 7 und 16; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944, 8 und 13; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1945, 8; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1946, 16 und 23; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1947, 25; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1948, 30; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1949, 12 und 13; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1950, 22 (Belegung: o. A.); Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1951, 32; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1952, 23; Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1953, 23. 232 Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1946, 3. Dr. Raffaele quittierte 1946 seinen Dienst, um in Syracuse eine private Praxis zu eröffnen. (Willard State Hospital, Annual Report, 1946, 13) Die Überschrift eines von Raffaele-Nachfolger Dr. Schneider verfassten Seven Day Note-Eintrags aus dem Jahr 1953 lautet wie folgt: ‚SLIGHTLY IMPROVED BY BLITZ BUT STILL IRRITABLE AND IMPULSIVE AT TIMES.‘ Schneider fährt fort: ‚This patient has not shown any striking response to the intensive EST, which she has been receiving since February 1952.‘ (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 1892-1942, Anonyme Akte, Seven Day Note). 233 Bonnie Burstow, Understanding and Ending ECT – A Feminist Imperative. In: Canadian Women Studies/Les Cahiers de la Femme, Vol. 25, No. 1 & 2 (2006), 116.
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Laut Bonnie Burstow waren 1974 69% aller EST-Patienten in Massachusetts weiblichen Geschlechts, während in Ontario in den Jahren 1999 und 2000 71% aller EST-Patienten Frauen waren.234 Die aktuellen Zahlen aus Deutschland sind dementsprechend.235 (siehe Kapitel: 7) Frauen wurden – und werden – bezüglich der EST also ungefähr im Verhältnis 70 zu 30 diskriminiert, wobei auch heute laut Burstow 95% aller ESTPsychiater Männer sind.236 Dabei entspricht die Rate der Diskriminierung von Frauen exakt den historischen Daten der Lobotomie sowie aller Wahrscheinlichkeit nach auch der sog. ‚Aktion T4‘: [A]usschlaggebend für die Einbeziehung in die Tötungsaktion ‚T4‘ waren sowohl eine negative Verhaltensbewertung innerhalb der Anstalt, als auch eine Aufenthaltsdauer von mehr als vier Jahren. Frauen waren zudem in signifikant größerer Gefahr, für die Ermordung selektiert zu werden.237
Frauen scheinen in totalen Institutionen traditionell mehr Gewalt als Männer zu erleiden; die von der Abgeordneten Connelly gestellte Frage, ‚why more women are administered ECT than men‘, beantwortete Dr. Lother B. Kalinowsky 1978 wie folgt: That is easily explained because the illness we are treating, so called, [a]ffective psychosis, which are most apt, most responsive to ECT, are more frequent in female patients.238 Siehe auch: Bonnie Burstow, Electroshock as a Form of Violence Against Women. In: Violence Against Women, Vol. 12, No. 4 (2006), 372-392 (Beide Artikel sind relativ deckungsgleich.). 234 Burstow, Understanding and Ending ECT, 116. Auch Assemblywoman Elizabeth A. Connelly erläuterte 1978 als eine von ihr als ‚very disturbing‘ beschriebene Tatsache: ‚The number of women administered ECT is almost twice that of men […].‘ NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 6). 235 Ines Noack, Der Einfluss von Neuroleptika auf klinische und elektrophysiologische Wirksamkeitsparameter einer Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten. Univ. Diss., München, 2005, 35. 236 Burstow, Understanding and Ending ECT, 116. 237 Herwig Czech, NS-Medizinverbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging – Hintergründe und historischer Kontext, 10. Publiziert vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands: http://www.memorialgugging.at/pdf/B_Czech_ MedizinverbrechenGugging.pdf (8.März 2013). 238 NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 26. Über Patientin 6 (,busybody‘) ist vermerkt: ‚She further said the only reason Dr. Raffaele was
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Mediziner der Universitätskliniken München und Aachen formulieren über die ‚affektive Psychose‘, zu der auch die Depression zählt: Das Geschlechterverhältnis von 2:1 (Frauen:Männer) konnte kulturübergreifend und konsistent bestätigt werden.239
Psychiater erklären, dass der höhere Anteil an EST-Patientinnen aus der geschlechtsspezifischen Verteilung der Depression resultiert, die 67% Frauen und 33% Männer beträfe, was auf dem medizinwissenschaftlichen Forschungsstand basiert. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Diagnose – zumindest im Willard State Hospital – bei der Behandlungsentscheidung für die EST so gut wie keine Rolle spielte.240 Es zählten vielmehr das Stationsverhalten sowie die Einverständniserklärung der Angehörigen, die – ungeachtet der Diagnose – eingeholt wurde, sobald das Stationsverhalten dies gebot.241 Bonnie Burstow formuliert: Overwhelmingly, it is women’s brains and lives that are being violated. Overwhelmingly, it is women’s brains, memory, and intellectual functioning that are seen as dispensable. […] And almost all the people making the determinations and wreaking the damage are men.242
Vieles spricht für eine solche Interpretation auch der EST in NY State: so fiel etwa die Verdoppelung der EST-Rate für Frauen im Willard State Hospital 1945/1946 genau in jene Zeit, als die Soldaten aus dem Krieg zurückkehrten, um ihre tradierte Rolle als ‚Ernährer‘ und hegemonialer ‚pater familias‘ zurückzuerobern, während die Frauen durch ihre Einbindung in die Kriegswirtschaft nice to her was because he wanted to do treatments to her but now the course is finished he isn’t nice to her any more.‘ (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes). 239 Meisenzahl/Scheuerecker/Habel, Geschlechtsunterschiede bei funktionellen Psychosen – Evidenz aus der MRT-Forschung? In: Blickpunkt: Der Mann – Wissenschaftliches Journal für Männergesundheit, Vol. 6, No. 3 (2008), 24. 240 Burstow formuliert: ‚[A]s the Electroconvulsive Therapy Review Committee found, women are electroshocked two to three times as often as men irrespective of diagnosis.‘ (Burstow, Understanding and Ending ECT, 117). 241 So wurden etwa von den 22 EST-Fällen, in denen OMH Clinical Case Files vorliegen, überhaupt nur sechs PatientInnen als ‚Manic Depressive‘ (affektiver Formenkreis) diagnostiziert. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records). 242 Burstow, Understanding and Ending ECT, 116.
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längst eine ökonomische Unabhängigkeit erlangt hatten, die die tradierten Rollenmuster emanzipatorisch unterminierte.243 Burstow führte diverse Interviews mit weiblichen kanadischen ESTPatientinnen, die das aus den OMH Clinical Case Files gewonnene Bild medizinischer Gewalt bestätigen: Every time I saw [the shock doctor] coming down the hall, I’d shake with fear.… I’d say, ‚I can’t … take it any more. I don’t think this is doing me any good. I feel worse.‘ And he’d walk down the hall a little way and put his arm on my shoulder and say, ‚Come on now, lassie, you know you’re going to do it.‘244
Eine andere kanadische Patientin beschrieb die EST wie folgt: All the therapy in the world is not going to erase the scars of being dragged into a room, having a band on your head, and having your brains fried. People say there’s no torture in Canada. That’s pure bullshit. And excuse my language. There is torture being paid for by the Ministry of Health.245
Am beunruhigendsten an Burstows Interviews scheint die Tatsache, dass die EST nicht einfach als behavioristische Körperstrafe, sondern als annihilierendes Kontrollinstrument erscheint, das die höheren Geistesfunktionen der PatientInnen durch die Induzierung kognitiver Dauerdefekte paralysiert: 243 M. Michaela Hampf formuliert: ‚The war had a profound impact on the lives of American women […]. Marriage and birth rates dropped significantly. Mobilization and the wartime labor market also had an impact on popular discourses in women’s sexuality. With roughly twenty million women who were not in their proverbial place, traditional notions of femininity and respectability were challenged. Still, single women were supposed to be sexually abstinent while simultaneously increased mobility and movement towards the cities provided greater autonomy for women and relaxed the social constrains found in the pre-war years‘. (Hampf, Release a Man for Combat, 237) An anderer Stelle erläutert Hampf: ‚On the other hand, the male ego of the returning combat veteran was fragile.‘ (Hampf, Release a Man for Combat, 151) Entsprechend wäre die Verdopplung der EST an Frauen 1945/46 als rigide Form medizinischer Sozialkontrolle zu deuten, durch die versucht werden sollte, die tradierten Vorkriegs-Geschlechterrollen – zumindest innerhalb der psychiatrie-relevanten Klientel – durch harsche elektrische Züchtigungen zu reimplementieren. (‚They certainly diminished me‘, s.u.). 244 Burstow, Understanding and Ending ECT, 118. 245 Burstow, Understanding and Ending ECT, 117.
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I was a trained classical pianist […] Well, the piano’s in my house, but … it just sits there. I don’t have that kind of ability any longer.… None of these things stay in my memory. People come up to me … and they tell me about things we’ve done. I don’t know who they are. I don’t know what they’re talking about…. Mostly what I had was … modified shock, and it was seen as effective. By ‚effective‘, I know that it is meant that they diminish the person. They certainly diminished me.… I work as a payroll clerk for the Public Works Department. I write little figures, and that’s about all.… And it’s the direct result of the treatment.246
‚They certainly diminished me‘; die vermeintliche ‚Elektroschocktherapie‘ wird durch die induzierte ‚Verschlechterung verbaler und nonverbaler Leistungen‘ verwandt, um deviierte Frauen – aber auch Männer – ihrer höheren geistigen Funktionen zu berauben und sie so, im Sinne einer elektrischen Lobotomie, kognitiv zu annihilieren.247
6.7 ‚C AN I BE ELECTROCUTED WHEN I TAKE R X .‘ – D ER L EIDENSWEG DER E VELYN K. Evelyn K. [Name geändert] wurde im Jahr 1900 in Syracuse, NY, geboren und heiratete 1920 einen ‚commercial artist‘, mit dem sie gemeinsam drei Kinder hatte.248 Obwohl Evelyn K.’s Kindheit ‚not too happy‘ war, scheint die Ehe zunächst harmonisch verlaufen zu sein.249 Ab 1938 verschlechterte sich die Lage jedoch zusehends, da Evelyn K., wie nun auch die Tochter zugab, deutliche Verhaltensauffälligkeiten zeigte:
246 Burstow, Understanding and Ending ECT, 117. 247 Zur ‚Verschlechterung verbaler und nonverbaler Leistungen‘, siehe: Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 21. 248 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Anamnesis. 249 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary (Syracuse Psychopathic Hospital) und Anamnesis. ‚[Her daughter] described her as being quiet, even tempered [and] liked [by] everyone.‘ (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Anamnesis).
290 | M EDIZINISCHE G EWALT […] [S]he has been observed […] carrying on conversations with imaginary people. […] She argues with the children constantly […].250
Als ihr Ehemann dann einen ‚perfectly useless trailer‘ verkaufte, beschäftigte sich Evelyn K. noch nach Monaten mit dem veräußerten Anhänger: ‚She jumps up in the middle of the night to wake the family up to talk about the trailer.‘251 Hals- und Nackenschmerzen stellten sich ein; mehrere Besuche bei einem Chiropraktiker führten zu keiner Besserung: She became increasingly restless, especially at night […]. She was very emotionally unstable, crying frequently. Because she could not be taken care of at home she was admitted to Syracuse Psychopathic Hospital.252
Nach der Aufnahme in das Syracuse Psychopathic Hospital im Oktober 1942 gerierte sich Evelyn K. im Stationsalltag ‚exceedingly restless‘: She is untidy in personal appearance, disinterested in the environment, usually absorbed in hallucinations. […] Q. Why here? A. Don’t know – just nervous – that’s all. I just [went] all to pieces […].253
In Syracuse wurde Evelyn K. mit der Diagnose ‚Dementia Praecox‘ belegt und kurz darauf – nun unter einer richterlich verfügten Einweisung – in das Willard State Hospital transferiert.254 Die Patientin wurde von zwei Schwestern in Willards ‚state car‘ abgeholt; in Willard, wo EST-Psychiater Dr. Angelo Raffaele die Aufnahme vornahm, gab sich Evelyn K. ‚tearful, agitated, depressed 250 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary (Syracuse Psychopathic Hospital). 251 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary (Syracuse Psychopathic Hospital). 252 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 253 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary (Syracuse Psychopathic Hospital). Beim Syracuse Psychopathic Hospital handelte es sich nicht um ein NY State Hospital, sondern um eine mit der Syracuse University affiliierte Anstalt, die aber vom NY State Department of Mental Hygiene lizensiert – und mithin Teil des Mental Hygiene-Systems war. http://library.upstate.edu/collections/history/local/hospitals.php (30. Oktober 2012). 254 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary.
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and anxious‘: ‚She did not discuss her trend except to say that she slept poorly at night.‘255 Kurz nach der Aufnahme wurde die Schizophrenie-Diagnose in ‚Involutional Psychosis, Melancholia‘ gemildert, da die Patientin keinerlei Anzeichen von Halluzinationen, Inkohärenz oder klassischem Wahn aufwies (‚She is well oriented in all [spheres]‘), weswegen selbst Dr. Angelo J. Raffaele eine ‚Elektroschocktherapie‘ vorerst für unnötig hielt: [A]t the present time she is showing a rapid spontaneous remission. Hence, occupational therapy and routine hospital care appear to be all that is indicated.256
Nach der Aufnahme wurde Evelyn K. auf Station 5 verlegt, wo sie bei den Passage-Riten kooperierte (‚[r]emoved her clothes willingly‘), sich später aber zunehmend besorgt zeigte: Patient very restless wandering about the corridors, wondering how she could get home to her children.257
Ende Dezember 1942 wurde Evelyn K. das Amphetaminpräparat ‚Benzedrin‘ verordnet, das ihre Aufregung allerdings verschärfte: She insists that she could get along home and can’t understand why she should be punished by being kept here.258
255 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary & Admission Note (‚state car‘). Nach Hinweis auf die Menopause (‚She realized that she was depressed and associated this with her ›change in life.‹‘) wurde mehrfach – auch von der 20-jährigen Tochter – versucht, Einzelheiten zu Evelyn K.’s Menstruationszyklus zu erfragen; außerdem wurde die Patientin bei Ankunft in Willard unentgeltlich durchgeimpft. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary und Anamnesis). 256 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Clinical Summary. 257 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 258 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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Evelyn K. kritisierte ihre Hospitalisierung als ‚punishment‘, womit sie – ihr erster Fehler – die Entität des Asyls attackierte. Der zweite Fehler unterlief ihr kurz darauf: Unless watched carefully she will hold the medicine in her mouth, spitting it out when she thinks no one is looking.259
Evelyn K. verurteilte ihren Anstaltsaufenthalt als Strafe und verweigerte zugleich die Medikation, indem sie Medikamente ausspie und sich dabei beobachten ließ. Der dritte – und letzte – Fehler unterlief ihr wenig später: She talks to herself a great deal repeating about the same things, ‚Oh dear, I’ve got to get out of here, I[’]m not crazy and I should have never gone to the psychopathic.‘260
Wegen ‚mangelnder Krankheitseinsicht‘ in Verbindung mit der Verweigerung der Medikation wurde Evelyns K.’s Ehemann kurz darauf bezüglich einer ‚Permission of Shock Treatment‘ kontaktiert, die am 10. Februar erteilt wurde, wobei ihr Mann Evelyn K. persönlich über die anstehende ‚Elektroschocktherapie‘ informierte.261 Evelyn K. billigte die Behandlungsentscheidung zunächst (‚she seemed to accept it very well‘), doch als sie am nächsten Tag via ‚Flurfunk‘ von einem Mitpatienten über die ‚Elektroschocktherapie‘ aufgeklärt wurde, erlitt sie eine Panikattacke: [T]he next day she went into an acute panic […], […] and was unable to do her work in the diet kitchen. She said a patient told her that they were painful and harmful and one became worse after the treatment.262
Über die EST informiert, versuchte Evelyn K. den Stationsarzt davon zu überzeugen, dass ihr Zustand einzig aus ihrer Menopause resultiere, was offensicht259 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 260 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 261 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Willard State Hospital an den Ehemann Evelyn K.s [Name geändert], 3. Februar 1943; NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 262 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note.
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lich schon in den 1940ern kein geeignetes Argument war, die EST abzuwenden.263 Kurz darauf wurde Evelyn K. zwecks EST in den South Wing des Willard State Hospitals verlegt, wo Dr. Raffaele den ‚Pre-Treatment Status‘ erhob: This 42 year old female is agitated, depressed and fearful. […] At the present time she denies auditory hallucinations, self-accusatory ideas and ideas of reference. Her only thought expressed is her fearfulness of treatment.264
Durch die Feststellung, dass Evelyn K. Wahnideen verneine, insinuierte Dr. Raffaele deren Vorhandensein; parallel ergriff Evelyn K. vor der anberaumten ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ eine tiefe Furcht: Since March 1st […] she has been very depressed, crying a lot about her children and because she does not want to take E.S.T. […]265
Am 3. März 1943 wurde Evelyn K. in das Behandlungszimmer des Willard State Hospitals geführt, in Rückenlage auf dem Therapietisch platziert – und ihr ein elektrischer Schock von 110 Volt und 500 Milliampere an die Schläfen appliziert, der in einer ‚petit mal‘-Reaktion mit zehn-sekündigem Atemstillstand resultierte. Aufgrund des Ausbleibens der ‚grand mal seizure‘ brachte Dr. Raffaele direkt im Anschluss einen zweiten, stärkeren Elektroschock von 120 Volt und 590 Milliampere an, der nun zu einer ‚atypical [convulsion] – tonic, no clonic‘ führte – was Dr. Raffaele als ‚grand mal‘-Reaktion wertete: E.[S.]T. application by Dr. Raffaele, Patient very confused when she returned to [ward], walked up + down the [ward] a lot but was very quiet. Complains of head ache[,] aspirin
263 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. Marlyn Rice formuliert: ‚[L]ater […] the shock doctor explained very candidly, that I was shocked because of my age and sex. He said that they shocked – I was 49 at the time, and he said that they shocked women of menopause age by definition.‘ (NY State Legislature, Public Hearing on Electric Shock Treatment, 39). 264 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 265 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes.
294 | M EDIZINISCHE G EWALT […] given[,] appetite good, cooperates in every way, states she does not mind the treatments as much as she thought she would […].266
Nach der EST verhielt sich die Patientin leise und kooperativ und gab an, dass die angebliche ‚Therapie‘ nicht so schlimm wie befürchtet gewesen sei (aktive Unterwerfung), was sich am Folgetag, an dem keine EST stattfand, jedoch schnell ins Gegenteil verkehrte: Patient continues depressed […], said treatment made her feel worse than she did, said head has never stopped aching, aspirin […] given, […] always worrying about something. Will do what she is told, but forgets it as soon as you stop talking to her […].267
Die Patientin klagte über Kopfschmerzen (‚treatment made her feel worse than she did‘); gleichzeitig setzte nach der ersten Doppel-Anwendung der MemoryDefekt der anterograden Amnesie ein, der auch das Kurzzeitgedächtnis betraf, sodass Evelyn K. die ihr erteilten Befehle augenblicklich vergaß. Während der Behandlung hatte sich die Patientin auf dem Therapietisch äußerst widerständig geriert (‚resistive at the time of treatment‘); zwei Tage nach der ersten EST erfolgte – aufgrund ihrer Renitenz ebenfalls in Doppelanwendung – der dritte und vierte zerebrale Elektroschock: Patient very confused, unable to understand anything, walks up + down the [ward] all day, talking to other patients about treatments, worrying + crying because she has to take the treatments […].268
Nach der EST versuchte Evelyn K. weitere ‚Behandlungen‘ durch die Bildung einer gemeinsamen Front mit ihren MitpatientInnen zu verhindern; gleichzeitig mischte sich in den Widerstand nun Verzweiflung (Phase 2), durch deren betonte 266 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Zur Stärke der Schocks und Art der Konvulsionen, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 267 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 268 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Zum ‚resistive‘-Zitat und der Doppelanwendung, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note, sowie: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart.
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Inszenierung Evelyn K. versuchte, das Willard-Personal zu rühren (‚crying because she has to take the treatments‘). Widerstand und Verzweiflung traten also parallel auf, wobei sich die Verzweiflung nun weiter verschärfte: ‚Patient continues depressed, walked up + down the [ward] all day, crying about E.S.T. […].‘ Der Folgeeintrag lautete: Patient continues depressed, […] crying about children, + E.S.T. said treatments make her feel worse th[a]n she ever did.269
Wie bei Patient 2 (‚very nervous‘) begannen Evelyn K.’s Gedanken um die ‚Therapie‘ zu kreisen, während ihre Verzweiflung immer manifester wurde. Nach der fünften und sechsten EST (ebenfalls in Doppelanwendung) klagte die Patientin über Kopfschmerzen und gab sich tief verstört, wobei sie – paradoxerweise muss die EST gelobt werden, um ihren Abbruch zu erreichen – den Grund ihrer Verzweiflung nun aus taktischen Erwägungen verschwieg (‚would not say what she was crying about, just looks when you speak to her‘).270 Die siebte EST führte dann aus Willard-Sicht zu einer ungeahnten ‚Besserung‘, die in einer vollständigen Annihilation Evelyn K.s bestand: E[S]T application by Dr. Raffaele, Patient more rational when she returned to [ward], th[a]n any time since she was admitted, asked if this was Willard State Hospital, why she was here, who br[o]ught her here, what Dr. sent her here, how long she had been here, + where her family was, + if she had been in Syracuse Hospital.271
Die angebliche Besserung bestand in einer retrograden Komplett-Amnesie, durch die die Patientin ihre Situation durch geschicktes Fragen eruieren musste, was seitens der Anstalt als ‚rational‘ gedeutet wurde.272
269 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 270 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes, zur Doppelanwendung: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘Chart. 271 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 272 Gleichzeitig begannen sich die Memory-Defekte gefährlich zu verschärfen: ‚Patient crying all day + very confused. Can’t remember anything […].‘ (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes).
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Am 12., 14. und 19. März 1943 erhielt Evelyn K. drei weitere zerebrale Elektroschocks; anschließend wurde die EST aufgrund eines Hardware-Defektes ausgesetzt: ‚Although this patient is under less tension she still objects to treatment […].‘273 Evelyn K. reagierte auf die EST zunächst mit kooperativer Konfusion, zeigte sich dann äußerst widerständig (‚resistive at the time of treatment‘) und entwickelte parallel eine tiefe Verzweiflung (‚crying about E.S.T.‘), wobei es ihr nicht gelang, in die Phase der aktiven bzw. ‚kongenialen‘ Unterwerfung einzutreten, die den einzigen Weg darstellte, die EST zu beenden. Der zufällige ‚Behandlungsabbruch‘ führte zu einer vierwöchigen Ruhephase, in der sich Evelyn K. zwar moralisch reuig zeigte (‚tells the nurses that she has done something terrible for which she is very sorry‘), sich aber weigerte, die EST zu loben: She will not admit that the electro-shock treatments benefitted her.274
Nachdem sich Evelyn K. geweigert hatte, die an ihren Kopf applizierten Elektroschocks von 10%iger Stromstärke des elektrischen Stuhls als ‚heilsam‘ zu loben, wurde die ‚Elektroschocktherapie‘ nach Reparatur der Schockmaschine am 19. April 1943 fortgesetzt, wobei es zu dramatischen Szenen kam, bei denen Dr. Angelo J. Raffaele im Sinne Frantz Fanons – der Folterer ist der Hauptgeschädigte der Folter275 – zum eigentlichen Opfer der Situation mutierte: 273 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note, zu den Daten der Elektro-Schocks, siehe: NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, ‚Electric Shock Treatment‘-Chart. 274 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 275 In seinem Werk ‚Die Verdammten dieser Erde‘ arbeitet der franko-algerische Psychiater Frantz Fanon anhand der französischen Gräueltaten in Algerien die seelischen Schäden heraus, die dem Folterer durch sein Geschäft entstehen. So gibt Fanon das Gespräch mit dem Polizisten einer ‚Anti-F.L.N.-Brigade‘ wieder: ‚[N]ach einigen Wochen arbeitet er fast ständig auf dem Kommissariat. Hier hat er Gelegenheit, Verhöre durchzuführen, was niemals ohne ›ein paar Rempeleien‹ abgeht. ›Weil die ja nichts gestehen wollen.‹ ›Manchmal‹, erklärt er, ›möchte man ihnen sagen, daß sie, wenn sie etwas Mitleid mit uns hätten, sprechen würden, ohne uns zu zwingen […] ihnen die Informationen Wort für Wort aus der Nase zu ziehen. […] [S]ie brüllen zu sehr. Anfangs machte mir das Spaß. Aber dann fing es an, mir durch Mark und Bein zu gehen. Heute brauche ich nur einen schreien hören, und ich kann Ihnen
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This patient remains agitated, depressed and fearful without any retardation. Her sensorium is clear but insight and judgment are lacking. Her productions are as follows ‚They tell me I’ll never go home. I have three beautiful children and I’ll never go home, – Oh, God help me. Oh, God help me[.] He is going to put me out of my mind.‘276
Wie die eingangs zitierte Patientin Lettie G. (‚extremely restless, somewhat fearful and […] crying very loudly‘), geriet Evelyn K. unter den wiederholten Elektro-Schocks in Panik;277 die ‚Elektroschocktherapie‘ wurde von Dr. Angelo J. Raffaele am 21. April 1943 fortgesetzt: genau sagen, wie weit er ist […]. Ein Kerl, der zwei Faustschläge und einen Schlag mit dem Knüppel hinter die Ohren bekommen hat, hat eine ganz bestimmte Art zu reden, zu schreien […]. Wenn man ihn zwei Stunden an den Knöcheln aufgehängt hat, hat er eine andere Stimme. Nach der ›Badewanne‹ wieder eine andere Stimme. Un[d] so weiter. Aber vor allem nach der Elektrizität, da wird es unerträglich. Man möchte jeden Augenblick meinen, daß der Kerl abkratzt.‹‘ Der entscheidende Punkt ist dabei, dass der Folterer den Gefolterten um Mitleid bittet. (Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde – Vorwort von Jean-Paul Sartre. Frankfurt am Main, 1981, 223). 276 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Seven Day Note. 277 1940 sammelte Meddard Boss die Träume Schweizer und deutscher EST-Psychiater, die er 1941 veröffentlichte: ‚Ich war der Kommandant einer deutschen Schocktruppe, die gegen die Maginotlinie anzustürmen hatte. Ich und alle meine Soldaten trugen anstelle des Tornisters einen Elektroschockapparat. Die Elektrozange war ein Flammen- und Blitzwerfer, [den] wir nur gegen die Feinde auszustrecken brauchten, um sie und alles Lebende ringsherum, auch die Pflanzen, nieder zu sengen. Das Grauenvolle an dem Traume war, dass hinter uns die Feindesleichen sich immer weiter in epileptischen Zuckungen wanden […]‘. Die EST-Maschine wird zum Vernichtungsinstrument; ein weiterer EST-Psychiater träumte, er werde in einen OP gefahren; der rechte Arm solle ihm amputiert werden, wogegen der Psychiater im Traum mit dem Argument protestiert, dass dies sein ‚Schaltarm‘ sei: ‚Dies hatte im Traum die Bedeutung, dass der Arm krebsig erkrankt war, und in der Tat sah ich darauf an meinem rechten Zeigefinger ein rotes Gewächs, von dem ich auch schon im Traum wu[ß]te, da[ß] es der rote Druckknopf am Elektroschockapparat war […].‘ Die EST kontaminiert den ‚Schaltarm‘ des Psychiaters als Sühne für das elektrisch zugefügte Leid; ein weiterer Traum begann wie folgt: ‚Ich hatte eine großartige Erfindung zur Heilung aller Geisteskrankheiten gemacht. Sie bestand aus einem aus einer besonderen Masse hergestellten Radiergummi, mit dem man nur die Schläfen des Patienten kräftig einzureiben brauchte, und die Geisteskrankheit war mit Sicher-
298 | M EDIZINISCHE G EWALT ‚Resistive when on Rx-table [...] + say ‚My children need me. Don’t let me be killed.‘278 ‚Always saying ‚I want to go home.‘ Asked ,Can I be electrocuted when I take Rx.[…]‘279
Direkt vor der EST glaubte Evelyn K., sie werde via ‚electrocution‘ getötet; die ElektroMacht verdichtet sich zu maximaler Kohäsion, indem die vermeintliche ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ als elektrische Scheinhinrichtung fungiert – und parallel mnestische und kognitive Defekte induziert, durch die sie die psychiatrischen PatientInnen elektrisch annihiliert.
heit geheilt.‘ Im Traum meldete der EST-Psychiater seine Erfindung beim Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum an, das begeistert antwortete, jedoch statt ‚Radiergummi‘ beständig ‚Sadiergummi‘ (de Sade) schrieb, was den Träumenden derart erzürnte, dass er von seiner Erfindung nichts mehr wissen wollte – und erwachte. Die Annihilation wurde hier gleichsam als sadistischer Radiergummi visualisiert; ein weiterer Psychiater träumte, dass einer Patientin während einer von ihm applizierten ‚Insulinschocktherapie‘ der Kopf platzt: ‚Sofort stürzen Polizisten herbei, führen mich ab und beginnen, mich langsam in eine bloß etwa handgroße Insulinampulle hineinzupressen. Das war eine unsägliche Folter und es hieß, das sei die Strafe für das größte Verbrechen aller Zeiten. Ich erwachte mit einem lauten Angstschrei und war tropfnass vor Schweiß.‘ (Leinfelder, 62-65). 278 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. 279 NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, Ward Notes. Das vollständige Zitat lautet: ,Always saying ›I want to go home.‹ Asked ›Can I be electrocuted when I take Rx. if Dr. R. should happen to turn on the switch to[o] much?‹ (ebda.). Die vermeintliche ‚Elektroschocktherapie‘ wurde von Dr. Raffaele aufgrund des Widerstands für 15 (!) weitere Applikationen fortgesetzt; ein Jahr später wurde Evelyn K. nach der mehrfachen Intervention ihres Ehemannes aus dem Willard State Hospital entlassen. (NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, Anonyme Akte, passim).
7. Fazit: Die ElektroMacht aus EST und Death Chair und das heimliche Comeback der EST
Das Fazit dieser Untersuchung ist auf diversen Zeit-, Abstraktions- und Erkenntnisebenen angesiedelt, die vielfach miteinander verflochten sind und sich wechselseitig durchdringen: Der elektrische Stuhl hat sich aus der psychiatrischen Elektrotherapie entwickelt: Im 18. Jahrhundert formte sich aus René Descartes‘ Spiritus animales über die Experimentalphysiologie, Reiz- und Irritabilitätslehren und die Entdeckung der Bioelektrizität ein diskursiver body electric, dessen nervliches Steuerungssystem seit Luigi Galvanis Entdeckungen elektrisch zu denken war. Die Elektrophysiologie, die das physiologische Wissen um die Bioelektrizität ab 1850 u.a. durch die Vermessung der Nervenleitgeschwindigkeit auf höchstem wissenschaftlichen Niveau verfeinerte, etablierte dann das Basiswissen auch für die spätere psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie sowie für den elektrischen Stuhl. Im New York der 1870er Jahre verflochten Dr. George M. Beard und Dr. Alphonse Rockwell tradierte Versatzstücke des Brownsianismus mit vitalistischen Elektrizitätskonzepten zur ‚Neurasthenie‘, einer zivilisatorischen Erschöpfungskrankheit, die sie als Vorstufe des Wahns deklarierten und mit elektrotherapeutischen Applikationen zur Wiederaufladung der angeblich zivilisatorisch verbrauchten ‚Nervenkraft‘ therapierten. Mit dem Aufstieg der Anstalts-Elektrotherapie in der staatlichen New Yorker Psychiatrie, die nicht nur, aber auch von dem jungen Psychiater Dr. Frederick Peterson befördert wurde, entstand an der US-Ostküste dann ein aus elektrophysiologischen Epistemen, darwinistischen Hereditätslehren und staatlichinstitutioneller Gewalt getragenes erstes elektrisches Dispositiv (elektrisches Dispositiv 1: psychiatrische Anstalts-Elektrotherapie), das die epistemischen und
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institutionellen Grundlagen der ElektroMacht darstellte, auch, da es den Übergang der psychiatrischen Elektrotherapie auf das New Yorker Todesstrafensystem historisch präfigurierte. Mit der Konzeption des elektrischen Stuhls konstituierte sich dann auf Seiten des New Yorker Todesstrafensystems ein zweites Dispositiv (elektrisches Dispositiv 2: elektrischer Stuhl), das epistemisch ebenfalls von Elektrophysiologie und ‚Kriminalbiologie‘ getragen wurde, institutionell allerdings um die drei NY State Prisons Auburn, Clinton und Sing Sing gravitierte. Dabei ging die AnstaltsElektrotherapie sukzessive auf die entstehenden drei New Yorker Death Rows über, wobei der Prozess der Entwicklung des elektrischen Stuhls – vom Peterson-Report über die MacDonald-Kommission bis zur Kemmler-Tötung 1890 und den sechs Folgetötungen – von über 50 Ärzten getragen und gesteuert wurde. Auch durch die prosopographischen Verflechtungen der involvierten medizinischen Eliten erfolgte ab 1890 dann eine Annäherung der beiden elektrischen Dispositive. Die psychiatrische Anstaltselektrotherapie (Dispositiv 1) und die Elektroexekution (Dispositiv 2) begannen, zu einer dispositiven ElektroMacht zu fusionieren, die zwischen den NY State Hospitals und den NY State Prisons oszillierte – und drohend in die US-Gesellschaft hineindiffundierte. Der elektrische Stuhl wirkte ab 1890 katalysierend auf die psychiatrische Elektrotherapie zurück, wodurch sich eine dispositive ElektroMacht konstituierte, die ab 1940 die Einführung der EST in die USA beförderte: Parallel zu den ersten elektrischen Exekutionen begannen sich die beiden elektrischen Dispositive ab 1890 zu einer umfassenden ElektroMacht zu verknüpfen. Auch durch die strukturelle Doppelfunktion Dr. Carlos F. MacDonalds als Psychiatrieminister (1889-1896) und ‚Sonderbeauftragter der elektrischen Todesstrafenreform‘ (1889-1892) verfestigte sich die ElektroMacht bis 1896 zu bedeutender dispositiver Kohäsion. Ein wichtiger Gradmesser ist dabei die Zahl der elektrotherapeutischen Batterien im NY State Hospital-System, die sich von 1885 bis 1895 verdoppelte. Im 20. Jahrhundert schlug sich die Elektrizität als bedrohliche Kraft in den Wahnbildern der PsychiatriepatientInnen nieder; parallel vermehren sich die Hinweise auf psychiatrische Elektrotherapie immer dann, wenn die wichtigsten Ärzte im Prozess der Einführung des elektrischen Stuhls – Dr. Frederick Peterson und Dr. Carlos F. MacDonald – beratend zum Personal der entsprechenden Institutionen zählten. Gleichzeitig wurde in den NY State Prisons – ab 1916 dann ausschließlich im Sing Sing State Prison – weiter elektrisch exekutiert, wobei die Gefängnisärzte das elektrische Töten leitend überwachten und bis 1925 auch das Signal zum
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Töten gaben. Zugleich bildete sich eine ausgefeilte Todesbürokratie mit diversen rechtlichen und psychiatrischen Kontrollinstanzen heraus. Die ‚Elektroschocktherapie‘ fungierte als behavioristische Anstaltsstrafe, deren Einführung den Zenit der ElektroMacht in den USA markierte: Mit der schnellen Einführung der sog. ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ verdichtete sich die dispositive ElektroMacht aus tradierter psychiatrischer Elektrotherapie und dem elektrischen Stuhl ab 1940 in den USA dann zu maximaler Kohäsion: die EST löste bei den PatientInnen durch einen zerebralen Wechselstromschock einen tonisch-klonischen ‚Heilkrampf‘ aus, der an der ‚Grenze zwischen Leben und Tod‘ (Richarz, zur ‚Insulin-Schocktherapie‘) angesiedelt war und sich perfekt eignete, die psychiatrischen PatientInnen behavioristisch zu disziplinieren. In NS-Deutschland fungierten die ‚Schocktherapien‘ als Bindeglied zwischen tradierter Psychiatrie und der NS-Vernichtungspsychiatrie, wobei ‚Insulin‘- und ‚Cardiazol-Schocktherapien‘ als eine die ‚Aktion T4‘ einleitende pönale Performanz des Todes dienten.1
1
Holger Leinfelder, Insulin- und Cardiazol-Schocktherapie, 61. Zu der höchstrelevanten Frage nach den historischen Konnexionen der angeblichen ‚Schocktherapien‘ mit der sogenannten ‚Aktion T4‘ ist ein separater geschichtswissenschaftlicher Artikel projektiert, der der Frage nachgehen soll, ob die Insulin- und Cardiazol-Schocktherapien als an der Grenze von Leben und Tod angesiedelte Scheinhinrichtung die erste Stufe zur Vernichtung des größeren Teils der deutschen Psychiatriepopulation darstellten. Parallel soll die reichsweite Einführung der angeblichen ‚Elektroschocktherapie‘ durch die T4-Administration analysiert werden: Am 24. Januar 1942 verbot Dr. Herbert Linden, mit Viktor Brack und Prof. Paul Nitsche führender Kopf der ‚T4‘, in einem Rundschreiben den deutschen Heil- und Pflegeanstalten aufgrund kriegsbedingter Insulinknappheit die Insulinschocktherapie und schlug als Alternative die ‚Elektroschocktherapie‘ vor. Am 24. August 1942 formulierte Linden in einem weiteren Rundschreiben: ‚In meiner Anordnung über die Insulinverwendung in Heil- und Pflegeanstalten vom 24. Januar […] hatte ich bereits auf die Elektroschocktherapie hingewiesen. Ich halte es für unerlässlich, daß diese Art der Therapie bei allen Fällen, die noch Aussicht auf Besserung bieten, zur Anwendung kommt und wäre auch bereit, entsprechende Ausbildungskurse zu organisieren. Die Beschaffung der hierfür nötigen Apparate stößt aber z. Zt. auf Schwierigkeiten. Wie die Firma Siemens mitteilt, kann die Herstellung entsprechender Apparate (Convulsator) nur in Frage kommen, wenn sie in einer größeren Serie hergestellt werden können.‘ Der Vertrag zwischen Siemens und der ‚Tiergartenstraße‘ konnte realisiert werden und Ende 1943 waren die deutschen Heil- und Pflegeanstalten mit EST-Apparaten der Firma Siemens ausgestattet.
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In den USA, wo die rassistischen Erblehren allerspätestens seit dem Krieg gegen NS-Deutschland in einem breiten gesellschaftlichen Konsens abgelehnt wurden, waren die Schocktherapien hingegen mit der Metaphorik der ‚New Deal‘-Epoche verwoben. Parallel fungierte die ‚Elektroschocktherapie‘ als kostengünstiges Mittel, um die US-Psychiatriepopulation in der Krisensituation des Zweiten Weltkriegs zur Mitwirkung an den Kriegsanstrengungen zu motivieren. Im Stationsalltag diente die EST als ärztliche Maximalstrafe, die in den allermeisten Fällen in einer ‚aktiven Unterwerfung‘ der PatientInnen resultierte, in der sie ihre Unterwürfigkeit vor dem Psychiatriepersonal in vorauseilendem Gehorsam ‚aktiv‘ und ‚kongenial‘ inszenierten. Die angebliche ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ wurde an 70% Frauen und 30% Männern – im Willard State Hospital in den Jahren 1951, 1952 und 1953 an knapp 90% Frauen – appliziert und diskriminierte damit deutlich nach Geschlecht; gleichzeitig löste die EST schwere kognitive und mnestische Defekte aus, die dermaßen gravierend sein konnten, dass die PatientInnen das eigene Bett nicht fanden. Die ElektroMacht als Gegenbeweis der Geschichtsphilosophie Michel Foucaults?: Im Zuge der geschichtswissenschaftlichen Rezeption der Schriften Foucaults hat sich ein arrivierter Forschungsstand entwickelt, der auf Foucaults in ‚Überwachen und Strafen‘ vertretenen Thesen eines ‚Verschwindens der Martern‘ bei gleichzeitiger Entstehung einer modernen ‚Disziplinargesellschaft‘ basiert. Foucault dreht die bis dahin gültige Geschichtsschreibung (das Abendland wird durch kontinuierlichen Fortschritt immer humaner) um; das ‚Verschwinden der Martern‘ ist laut Foucault nicht Effekt einer fortschreitenden aufklärerischen Humanisierung, sondern einer neuartigen Macht bzw. Disziplin, die vom Körper auf die Seele übergeht und die die Bevölkerung anhand panoptischer Mechanismen nur umso fester kontrolliert. Vor dem Hintergrund dieser Theorie markiert das ‚Verschwinden der Martern‘ einen entscheidenden Punkt, der auch von der Forschung zur Geschichte der Todesstrafe übernommen wurde: So sei der Schmerz, bis tief ins 19. Jahrhundert hinein eine unausweichliche Konstante der menschlichen Existenz, durch die gewaltigen medizinischzivilisatorischen Fortschritte ‚besiegt‘ worden, wobei speziell die erstmals 1848 im Boston Memorial Hospital durchgeführte Äther-Anästhesie als Triumph gewertet wird, durch den es gelungen sei, den Skandal des Schmerzes aus der menschlichen Realität zu verbannen.2 (Bundesarchiv Berlin, R 96 I / 3 RAG: Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten). 2
Martschukat, Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika, 84 und 168-169.
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Die Elimination des Schmerzes habe sich auch auf die Todesstrafe ausgewirkt, die als ‚Selbstentwurf des modernen Staates‘ (Martschukat) vom Schmerz gereinigt werden musste, um weiter als zivilisiert zu gelten.3 Durch das als ‚[r]uhig, unsichtbar, bürokratisch, in antiseptischer Umgebung und geradezu unkörperlich‘ projektierte elektrische Töten sollte die Elimination des Schmerzes auch im Todesstrafensystem umgesetzt werden, wodurch die US-amerikanischen Todesstrafenreform(en) das Paradigma der Schmerzlosigkeit in einem ‚körperlosen Töten‘ nachvollzogen, das ostentativ auf Martern verzichtete.4 Zunächst ist dem sicher zuzustimmen: so spielte die Schmerzfreiheit im öffentlichen Diskurs um die New Yorker Todesstrafenreform die absolute Schlüsselrolle; ‚quicker than a thought‘ sollte das Leben des Delinquenten durch eine ‚euthanasia by electricity‘ ausgelöscht werden, wobei die Schmerzfreiheit im Fokus sämtlicher Bemühungen stand. Auch Lothar B. Kalinowsky sprach bezüglich der ‚Elektroschocktherapie‘ von einem ‚painless electric shock‘, womit das Diktum der Schmerzlosigkeit im öffentlichen Diskurs auch hier entscheidend war. Andererseits wurde – nun Foucault selbst umdrehend – mit der Elektrizität als Mittel der Todesstrafe & psychiatrischen Sanktion exakt jenes Medium gewählt, das am meisten schmerzte: [V]or allem nach der Elektrizität, da wird es unerträglich. Man möchte jeden Augenblick meinen, daß der Kerl abkratzt.5
In den historischen Folterkellern von Algerien bis Abu Ghraib scheint Elektrizität gleichsam die Endstufe aller Züchtigungen darzustellen; die Wahl der Elektrizität als primäres Disziplinierungsmittel in Psychiatrie und Todesstrafe spricht also nicht für ein Verschwinden der Martern – sondern eher für deren umfassende Renaissance. Folglich wäre zu überlegen, ob das berühmte ‚Verschwinden der Martern‘ mit seiner Skandalisierung des Schmerzes überhaupt stattfand – oder ob sich nicht umgekehrt, hinter zivilisatorischen Lippenbekenntnissen, eine vielfach gesteigerte und brutalisierte Kultur des elektrischen Züchtigens verbarg bzw. ver-
3
Jürgen Martschukat, ‚The duty of society‘ – Todesstrafe als Performance der Modernität in den USA um 1900. In: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold [Hrsg.], Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘ – Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln/Weimar/Wien, 2003, 247.
4
Martschukat, The duty of society, 253.
5
Fanon, Die Verdammten dieser Erde, 223.
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birgt – was weitreichende Konsequenzen, u.a. auch für das Foucault’sche Weltbild hätte.6 Zum Schluss dieser Untersuchung soll hier ein kurzer Blick auf den heutigen Stand von elektrischem Stuhl und ‚Elektroschocktherapie‘ geworfen werden, um die gewonnenen historischen Erkenntnisse mit der Gegenwart zu verknüpfen: Während die letzte elektrische Tötung im Staat New York im Jahr 1963 stattfand und New York die Todesstrafe 2004/2005 gänzlich abschaffte, ist der elektrische Stuhl heute noch immer in sieben US-Bundesstaaten (Alabama, Arkansas, Florida, Kentucky, South Carolina, Tennessee, Virginia) in den Todesstrafenstatuten verankert – und stellt also weiterhin eine Form des legalen staatlichen Tötens dar.7 Alle genannten Staaten applizieren die ‚lethal injection‘ jedoch als Hauptmethode, wobei die ‚Death Row‘-InsassInnen entweder – wie der fiktive Cyril O’Riley in der HBO-Fernsehserie OZ – zwischen ‚lethal injection‘ und elektrischem Stuhl wählen können oder der elektrische Stuhl lediglich als Ersatzmethode für den eventuellen Fall der Erklärung der Verfassungswidrigkeit der ‚lethal injection‘ fungiert.
6
Diese Hypothese muss allerdings sofort wieder relativiert werden, denn elektrische Exekutionen werden heute weitgehend durch die ‚lethal injection‘ ersetzt, die – trotz heftiger Diskussionen auch um diesen Punkt – wohl tatsächlich schmerzfrei tötet, da zunächst ein starkes Sedativum (Barbiturat) gespritzt wird. Die EST löste sicherlich den größten anzunehmenden Schmerz aus, der allerdings – ein perfider Trick, der wiederum auf Foucaults Linie des ‚Verschwinden der Martern‘ liegt – nach der Applikation durch die retrograde Amnesie sofort wieder vergessen wurde. Amnesty International USA formuliert zum Thema ‚lethal injection‘: ‚Lethal injection can cause excruciating pain. […] Some executions have lasted between 20 minutes to over an hour and prisoners have been seen gasping for air, grimacing and convulsing during executions. Autopsies have shown severe, foot long chemical burns to the skin and needles have been found in soft tissue.‘ http://www.amnestyusa.org/our-work/issues/ death-penalty/lethal-injection (23. November 2012).
7
http://www.deathpenaltyinfo.org/methods-execution (23. November 2012). Oklahoma erlaubt eine elektrische Exekution nur, falls das ‚lethal injection‘-Statut für ungültig erklärt wird, womit die Tötung durch Gift hier aktuell die einzige Form der Todesstrafe darstellt (ebda.).
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Laut Angaben des Death Penalty Information Center fanden zwischen 1979 und 2010 in den USA 157 elektrische Exekutionen statt, von denen die meisten auf die Staaten Georgia, Florida und Virginia entfielen.8 In Georgia wurde das elektrische Töten im Oktober 2001 durch die Giftspritze ersetzt und damit abgeschafft; Florida hat die Giftspritze im Januar 2000 als wählbare Option eingeführt – und in Virginia kann seit 1994 ebenfalls die ‚lethal injection‘ gewählt werden.9 Die bislang letzte elektrische Hinrichtung in den USA fand am 18. März 2010 in Manassas County, Virginia, statt.10 Während die Zahl der elektrischen Exekutionen stark rückläufig ist und der elektrische Stuhl im Laufe dieser Dekade wahrscheinlich ganz verschwinden wird, hat die angebliche ‚Elektroschocktherapie‘ seit den 1980er Jahren ein heimliches Comeback erlebt: Heute unterhalten die Kliniken der weltbesten Universitäten wie Harvard, Yale, Princeton oder Cornell ein ‚ECT Unit‘; auf der Homepage der Universitätsklinik Mainz findet sich der Hinweis, das allgemeine Risiko der EST sei ‚nicht höher als das allgemeine Narkoserisiko bei kleineren operativen Eingriffen oder z.B. bei einer Zahnextraktion.‘11 Auch im NY State Hospital-System wird die EST heute noch immer praktiziert, wobei fünf der 27 inzwischen in ‚Psychiatric Centers‘ umbenannten NY State Hospitals die vermeintliche ‚Elektroschocktherapie‘ verwenden:
8 9
http://www.deathpenaltyinfo.org/views-executions (23. November 2012). http://www.dc.state.fl.us/oth/deathrow/; http://m.deathpenaltyinfo.org/some-examples -post-furman-botched-executions;
http://www.deathpenaltyinfo.org/methods-execut
ion (23. November 2012). 10 http://www.deathpenaltyinfo.org/views-executions (23. November 2012). Nebraska, das den elektrischen Stuhl als letzter Staat bis immerhin 2008 als alleinige Tötungstechnik vorsah, die Todesstrafe jedoch äußerst selten appliziert, hat 2009 als alleinige Hinrichtungsmethode die ‚lethal injection‘ eingeführt. (http://www.deathpenaltyinfo. org/methods-execution (23. November 2012). 11 http://www.mclean.harvard.edu/patient/adult/ect.php; http://www.ynhh.org/yale-newhaven-psychiatric-hospital/medical-services/specialized-services.aspx;
http://www.
princetonhcs.org/phcs-home/what-we-do/princeton-house-behavioral-health/what-wedo/electroconvulsive-therapy-ect.aspx;
http://wo-pub2.med.cornell.edu/cgi-bin/Web
Objects/PublicA.woa/4/wa/viewService?servicesID=1368&parent=Disorders+and+ +Areas+of+Concern&website=nyp+psych&wosid=FHJPTG42RKMVCjfsmRNeSM; http://www.unimedizin-mainz.de/psychiatrie/patienten/weitere-therapieangebote/+ elektrokonvulsionstherapie-ekt/ekt-definition.html#c41290 (25. November 2012).
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Creedmoore Psychiatric Center Manhattan Psychiatric Center Pilgrim Psychiatric Center Rockland Psychiatric Center NY State Psychiatric Institute (PI)12
Die EST wird also in NY gegenwärtig in nur wenigen Psychiatrien appliziert: A total of 134 (1.3%) individuals of the approximately 10,000 adult patients served in OMH’s inpatient service (adult and forensics) received ECT during calendar year 2000.13
Die EST wird zumindest in New York also äußerst restriktiv angewandt und darf nur nach Einwilligung der PatientInnen erfolgen; gilt diese oder dieser als zu inkompetent, um über die angebliche ‚Behandlung‘ zu entscheiden, kann der zuständige Arzt eine Therapieerlaubnis bei einem Gericht beantragen; es gilt also die hohe Hürde des Richtervorbehalts.14 In deutschen Psychiatrien wird die sog. ‚Elektrokrampftherapie‘ (EKT) – auch aufgrund der deutschen NS-Psychiatrieverbrechen – ebenfalls (noch) zurückhaltend angewandt.15 Eine entsprechende Anfrage der Landtagsabgeordneten Pothmer (GRÜNE) an die niedersächsische Landesregierung vom 16. August 2000 (‚Von Betroffenen, ihren Angehörigen und Menschenrechtsorganisationen wird die Nichtanwendung von Elektroschocks in der Psychiatrie als eine Frage der Einhaltung von Menschenrechten angesehen, zumal eine solche Behandlung unweigerlich Assoziationen mit den Folterpraktiken diktatorischer Regime hervorruft‘) wurde von der niedersächsischen Landesregierung wie folgt beantwortet: Seit 1995 sind einer Elektrokrampftherapie unterzogen worden: in der MHH Hannover
ca. 1 bis 2 Patientinnen/Patienten pro Jahr,
im DRK-Krankenhaus Seepark
0 Patientinnen/Patienten,
im Nds. Landeskrankenhaus Osnabrück ca. 7 Patientinnen/Patienten pro Jahr, im Nds. Landeskrankenhaus Wehnen
1 Patientin/Patient im Jahr 1995,
12 http://www.omh.ny.gov/omhweb/ect/ (9. März 2013). 13 http://www.omh.ny.gov/omhweb/ect/ (9. März 2013). 14 http://www.omh.ny.gov/omhweb/ect/ (9. März 2013). Zur ECT-Guideline, also den ECT-betreffenden OMH-Richtlinien für die einzelnen NY State Hospitals bzw. OMH Psychiatric Center, siehe: http://www.omh.ny.gov/omhweb/ect/guidelines.htm (9. März 2013). 15 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9158937.html (25.November 2012).
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in der Privatnervenklinik Dr. Fontheim
0 Patientinnen/Patienten,
im Städt. Klinikum Braunschweig
3 Patientinnen/Patienten i. d. Jahren 1995, 1997,
1998 und in der Universität Göttingen
ca. 3 bis 5 Patientinnen/Patienten pro Jahr.16
Diese Zahlen sind als gering einzustufen; während in den mit den NY State Hospitals korrespondierenden forensischen Landeskrankenhäusern bezüglich der EST – zumindest in Niedersachsen – also Zurückhaltung geübt wird, erlebt die EST in den Universitätskliniken jedoch ein bedeutendes Comeback. Am Klinikum der Ludwig-Maximilians Universität München (LMU) wurde die EST im Zeitraum zwischen 1995 und 2002 massiv ausgebaut; von den 10.528 PatientInnen aller Diagnosen, die die psychiatrische Universitätsklinik in diesem Zeitraum durchliefen, erhielten 468 PatientInnen eine ‚Elektrokrampftherapie‘, wobei sich der Prozentsatz aller mit EST ‚therapierten‘ stationären PatientInnen von 2,2% (1995) auf 9% (2002) mehr als vervierfachte.17 Die Zahl der EST-PatientInnen hat sich zwischen 1995 und 2002 von etwa 30 auf rund 60 pro Jahr verdoppelt; gleichzeitig nahm die Zahl der Einzelapplikationen von unter 250 auf mehr als 800 per anno zu.18 65.7% der zwischen 1995 und 2002 Therapierten waren weiblich und 33.3% männlich; die Zahl der männlichen Schizophrenie-Patienten, die eine EST erhielten, war im selben Zeitraum rückläufig, womit sich die traditionelle Diskriminierung weiblicher Patienten an der LMU weiter verschärft.19 16 Niedersächsischer Landtag – 14. Wahlperiode, Drucksache 14/2053 (Kleine Anfrage ‚Elektroschockbehandlungen in psychiatrischen Krankenhäusern‘ mit Antwort). Die Antwort zu Frage 2 fährt fort: ‚Eine Sonderstellung nimmt die 1998 in Betrieb genommene psychiatrische Abteilung des Reinhard-Nieter-Krankenhauses in Wilhelmshaven ein, die sich zu einer überregional in Anspruch genommenen zentralen Behandlungsstätte für EKT-Behandlungen entwickelt hat. Dort werden jährlich ca. 30 bis 40 EKT-Behandlungen durchgeführt.‘ (ebda.). 17 Ines Noack, Der Einfluss von Neuroleptika auf klinische und elektrophysiologische Wirksamkeitsparameter einer Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten. Univ. Diss., München, 2005, 32. 18 Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 33. Die Länge des ‚Shock Course‘ bzw. der ‚Behandlungsserien‘ nahm zwischen 1995 und 2002 ‚von 9,1 auf ca. 12 Einzelbehandlungen‘ zu. (Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 38). 19 Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 35. Ab 2001 wurde/wird die EST mit einem Thymatron System-IV. der Firma ‚Somatics‘ durchgeführt, das ‚bipolare Rechteckimpulse von 0,25 bis 1,0 Millisekunden (ms) Dauer bei
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Zwischen 1995 und 2002 zeigte sich eine ‚signifikante Steigerung‘ der ‚durchschnittlich verwendeten Stimulationsenergie […] von 49,6 % (250 mC) auf über 64,9 % (327 mC) bzw. 72,8 % (367 mC)‘ der ‚ursprünglichen Gerätemaximalleistung‘; die Dosissteigerung entspräche ‚den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, die zukünftig von einer Dosierungsempfehlung, welche die 15 bis 20fache Krampfschwelle erreichen könnte, ausgeht.‘20 Am Klinikum der LMU wird die EST – hier exemplarisch für die aktuelle EST auch in den USA geschildert – bei Überwachung durch diverse MonitoringVerfahren (EEG, EKG, Blutdruckmessung) unter Kurznarkose und dem Einsatz von Muskelrelaxanzien appliziert: Initial wird dem Patienten das erste Relaxans, meist Atracurium (‚Präcurarisierung‘) verabreicht. Danach wird er mit einem Barbiturat (Propofol oder Trapanal oder Brevimytal) sediert. Nun erfolgt die forcierte Beatmung bis zur Hyperoxygenierung. Bei unproblematischer Maskenbeatmung relaxiert man den Patienten mit einem weiteren Muskelrelaxans, z.B. Succinylcholin. Mit Erreichen der maximalen Sauerstoffsättigung wird die EKT durchgeführt.21
Aufgrund der auf den Schock folgenden Apnö wird vor der EST der Sauerstoffgehalt des Blutes angereichert; der angebliche ‚Heilkrampf‘ wird durch die Muskelrelaxation derart gedämpft, dass er kaum wahrnehmbar ist. Hier kann allerdings ein Arm oder ein Bein via Stauschlauch ausgenommen werden; ‚[e]in generalisierter Krampfanfall (tonisch-klonischer Anfall) kann dann durch die Muskelkontraktion der gestauten Extremität beobachtet werden.‘22 Die Elektroden werden entweder ‚unilateral‘ (Schläfe – Oberkopf) oder ‚bilateral‘ (Schläfe – Schläfe) platziert, wobei die ‚bilaterale Elektrokonvulsionstherapie‘ härter ist, da das ‚Risiko zur Verschlechterung verbaler und nonverbaler Leistungen […] bei der bilateralen Stimulation höher [ist].‘23 einer zugeführten Ladung zwischen 25,2 und 1008 mC (Energie:5-200 Joule) in einem Frequenzbereich zwischen 30-70 Hertz (Hz)‘ produziert, wobei die ‚maximale Flusszeit des konstanten Stroms (900mA)‘ 8 Sekunden beträgt (Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 17). 20 Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 36 und 56 (‚mC‘ = Milli-Coulomb). 21 Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 25. 22 Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 27. 23 Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 21-23 und 36. ‚Üblicherweise können bei ca. 1/3 der elektrokonvulsiv behandelten Patienten kognitive Nebenwirkungen auftreten‘, wobei ‚kognitive Einschränkungen‘ vor allem ältere Pa-
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Eine 2011 an der Ludwig-Maximilians Universität München eingereichte Dissertation erläutert unter dem Titel: Einfluss der transkraniellen Gleichstrombehandlung (transcranial direct current stimulation, tDCS) auf kognitive Leistungen und BDNF-Serumkonzentrationen bei Patienten mit therapieresistenter Depression
neben der klassischen ‚Elektrokrampftherapie‘ auch deren neueste modische Desiderate, wie etwa die ‚transkranielle Magnetstromstimulation‘ (TMS) oder die im Titel erwähnte, nicht krampfauslösende ‚transcranial direct current stimulation‘ (tDCS).24 Bei der ‚transkraniellen Magnetstromstimulation‘ (TMS) wird ‚durch den Stromfluss in einer Spule ein Magnetfeld erzeugt‘, das ‚wiederum einen Stromfluss auf neuronaler Ebene‘ induziert. Der Strom wird hier also durch elektrische Induktion im Gehirn selbst erzeugt; ‚üblicherweise [wird] der linke dorsolaterale präfrontale Kortex hochfrequent stimuliert‘, was Auswirkungen auf den Spiegel von ‚Dopamin, Serotonin und Noradrenalin‘ haben soll.25 Die ‚transkranielle Gleichstromstimulation‘ (tDCS) wird von der Autorin als ‚eine neue, nicht-invasive Methode zur Hirnstimulation‘ beschrieben; bei der tDCS wird, wie der Name verrät, ein konstanter Gleichstrom (konstante Amperezahl) transkraniell (also: durch den Schädel) in das Hirn geleitet:
tientInnen träfen. (Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 57). ‚[K]ünstlerisch tätige[n] Personen, die eine vorübergehende rechtshemisphärische Dysfunktion nicht tolerieren wollen‘ räumt die psychiatrische Klinik der LMU kulanterweise das Privileg ein, sich ‚linksseitig unilatera[l]‘ stimulieren zu lassen, da die rechte Hirnhälfte laut Hemisphärenmodell für die Emotionen zuständig ist. (Noack, Elektrokonvulsionstherapie bei schizophrenen Patienten, 21). 24 Zoé Fintescu, Einfluss der transkraniellen Gleichstrombehandlung (transcranial direct current stimulation, tDCS) auf kognitive Leistungen und BDNF-Serumkonzentrationen bei Patienten mit therapieresistenter Depression. Univ. Diss., München, 2011. 25 Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 5. Zur TMS allgemein, siehe auch: Shorter/Healy, Shock Therapy, 255-259. Peter Breggin formuliert: ‚Even psychosurgery is nowadays sometimes justified on the grounds that it corrects biochemical imballances. One advocate looks forward to delivering serotonin ›psychosurgically‹ to ›serotonin-depleted sites‹ in the brain.‘ (Peter Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 245).
310 | M EDIZINISCHE GEWALT Mit Hilfe eines Stimulators, bei welchem es sich um eine mikroprozessorgesteuerte Konstantstromquelle handelt, und zweier Elektroden, einer Kathode und einer Anode, kann die Stimulation eines Hirnareals erfolgen. Dabei wird mit einer Stromstärke von 1-2mA stimuliert. Bis zu 45% des Stroms kann durch die Schädeldecke in das Gehirn gelangen, wenn die Elektroden auf den entgegengesetzten Seiten des Kopfes liegen.26
Bei der tDCS handelt es sich also – bei leichter Weiterentwicklung (Konstantstromquelle) – um nichts anderes als die seit mindestens 150 Jahren bekannte ‚galvanization of the brain‘. Laut Zoé Fintescu wirke die tDCS ‚neuromodulierend‘;27 die wesentliche analytische Stoßrichtung Zoé Fintescus Dissertation ist die Wirkung der transkraniellen Gleichstromstimulation auf den sog. ‚Brain-derived neurotrophic factor‘ (BDNF) oder ‚Wachstumsfaktor BDNF‘, einen körpereigenen Signalstoff, der u.a. die adulte Neurogenese, also die Bildung neuer Nervenzellen aus Stamm- oder Vorläuferzellen beim erwachsenen Menschen reguliert: Untersuchungen des BDNF im Serum und in verschiedenen Hirnstrukturen ergaben bei vielen psychiatrischen Störungen verminderte BDNF-Konzentrationen; dies betrifft die Depression, die Manie, die Schizophrenie und Essstörungen. […] Bildgebende Verfahren und postmortale Analysen depressiver Patienten zeigten einen leichten Volumenverlust des Hippokampus, des präfrontalen Kortex, des Gyrus cinguli und des Cerebellums. Gleichzeitig ist in diesen Untersuchungen auch eine Verkleinerung der Nervenzellen beobachtet worden.28
Bei Depression, Manie und Schizophrenie ‚schrumpfen‘, so Fintescu, Gehirn und Nervenzellen; ein medizinwissenschaftlicher Forschungsstand, der auffällig mit der historisch obsoleten ‚Kriminalbiologie‘ (PsychiatriepatientInnen haben kleinere Gehirne) korrespondiert. Zoé Fintescu nun analysiert die Auswirkungen der ‚transkraniellen Gleichstromstimulation‘ auf den BDNF-Spiegel, um das bei ‚Schizophrenie‘, ‚Manie‘ und ‚Essstörungen‘ angeblich geschrumpfte Gehirn durch zerebro-elektrische Gleichstromapplikationen über einen BDNF-Anstieg wieder zum Wachsen zu bringen:
26 Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 7. Zur ‚neue[n], nichtinvasive[n] Methode zur Hirnstimulation‘, siehe: Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 6. 27 Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 7. 28 Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 25.
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Die tDCS verursachte bei den meisten Patienten eine leichte BDNF-Abnahme statt einer BDNF-Zunahme oder gleich bleibende Werte. Auch bei Stimulation mit 2 mA sank bei den meisten Patienten nach Verum-tDCS der BDNF-Spiegel (Abnahme des BDNFSpiegels bei 6 von 9 Patienten im ersten Patientenkollektiv und bei 6 von 10 Patienten im zweiten). Es handelt sich jedoch um keine bedeutende Abnahme der Werte, sodass die tDCS-Behandlung in dieser Studie insgesamt kein[en] Einfluss auf den BDNF-Spiegel hat.29
Die tDCS-Gleichstromapplikationen an das Gehirn führen ‚bei den meisten Patienten‘ laut Fintescu allerdings zu einer ‚leichte[n] BDNF-Abnahme statt einer BDNF-Zunahme‘ und damit tendenziell zu einem Schrumpfen des Gehirns, wodurch sich die ‚transkranielle Gleichstromstimulation‘ bezüglich des BDNF als eher schädlich für die elektrisch therapierte Klientel herausgestellt hat. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint die vermeintliche ‚Elektrokonvulsionstherapie‘ als ärztliche Maximalstrafe, die auch in deutschen Universitätskliniken und Landeskrankenhäusern appliziert wird, um die psychiatrischen PatientInnen zu disziplinieren.30 Dabei diskriminiert die EST mit geradezu mathematischer Präzision nach Geschlecht (70% Frauen, 30% Männer); während die angebliche ‚Stimulationsenergie‘ kontinuierlich steigt, wird das Erspüren der Marter (nicht aber die Marter selbst) durch die Kurznarkose unterbunden, womit heute als Haupteffekt der EST primär die induzierten ‚kognitiven und mnestischen Defekte‘ bleiben, die die PatientInnen im Sinne einer elektrischen Lobotomie annihilieren. Der US-amerikanische Psychiater Peter Breggin formuliert: 29 Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 84. Fintescu formuliert: ‚Wegen unerwarteter Erfahrungen und trotz Anwendung der Sicherheitsleitlinien von Nitsche et al, wurden im Laufe der Studie einige Bedingungen an die neuen Erkenntnisse angepasst. So wurde, nachdem eine Intensität von 2 mA als sicher beschrieben wurde, die Stimulationsintensität für das zweite Patientenkollektiv von 1 mA auf 2 mA hochges[e]tzt. Nach dem Auftreten von Hautkrusten unter der Kathode bei der Stimulation mit 2 mA wurde statt Wasser zum Tränken der Elektroden nur noch NaCl verwendet.‘ (Fintescu, Einfluss der tDCS auf kognitive Leistungen, 79). 30 Zur Erblichkeit der Depression formulieren die Autoren Willeit und Praschak-Rieder: ‚Der Grad der Heredität für die rezidivierende Major Depression (MDD) allgemein liegt je nach Studie zwischen etwa 30 und fast 80 Prozent.‘ Willeit/Praschak-Rieder, Molekularbiologische Befunde bei saisonal abhängiger Depression. In: Kasper/Möller, Herbst-/Winterdepression und Lichttherapie. Wien/New York, 2004, 301. Die Autoren fahren fort: ‚Wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen liegt auch bei der MDD kein einfacher Mendelscher Erbgang vor.‘ (ebda.).
312 | M EDIZINISCHE GEWALT I believe that all concerned mental health professionals should support the banning of ECT.31
31 Breggin, Brain-Disabling Treatments in Psychiatry, 250.
Dank
Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner am 4. Juli 2013 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln eingereichten Dissertation, deren erfolgreiches Zustandekommen sich großer Unterstützung verdankt: Ich danke Ulrich Beckmann, Christoph Drave, Michael Eschle, Sören Lewis, Thomas Schlegel und Marco Trautmann; Lisa Urban hat die aufwendigen Mühen des Projekts mit Verve unterstützt. Uta Balbier und Frauke Scheffler danke ich für ihre wichtigen Anregungen, die in die Arbeit eingeflossen sind; ganz besonders danke ich Anna Luise Böhm für ihre so wichtige Hilfe bei der Korrektur der Druckfahne sowie Eva Bischoff für die konstruktive Diskussion des Manuskripts. Carolin Bierschenk vom transcript-Verlag hat den Publikationsprozess freundlich und professionell begleitet; Barbara Lüthi war kurzfristig bereit, mich zu prüfen, wofür ihr ebenfalls mein ganz besonderer Dank gebührt. Außerdem möchte ich meinen Eltern Beate und Eberhard Hedrich für ihre wunderbare Unterstützung danken. Die vorliegende Forschungsarbeit wurde vom Deutschen Historischen Institut Washington D.C. (DHI) sowie den NY State Archives durch die Finanzierung zweier Forschungsreisen gefördert: Ich danke Richard F. Wetzell und Philipp Gassert vom DHI Washington; auf Seiten der NY State Archives möchte ich mich bei Judy P. Hohmann und James D. Folts bedanken. Ich danke den Mitarbeitern der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, der Ärztlichen Zentralbibliothek des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, der Bibliothek des Ärztlichen Vereins Hamburg sowie der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin in Köln. In New York danke ich den freundlichen MitarbeiterInnen der Diethelm Library for the History of Psychiatry, Cornell University, der New York Acadamy
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of Medicine-Library, der NY State Library in Albany, der Research Division der New York Public Library sowie der Health Sciences Library der Columbia University. Mein spezieller Dank gilt den Mitarbeitern der NY State Archives um Bill Gorman, die den Autor in den schwierigen Wochen ohne Forschungserlaubnis täglich ertrugen – und die nach erfolgter Zugangsberechtigung zu den restringierten OMH Clinical Case Files mehrfach in die entlegene storage facility der NY State Archives fuhren, um die georderten Krankenakten zu bergen. Der Erfolg der Forschungsreise hing ganz wesentlich von dem NY State Office of Mental Health IRB-Approval, also dem Zugang zu den streng restringierten psychiatrischen Krankenakten, ab: Ich danke Susan Delano, Research Foundation for Mental Hygiene, Inc., sowie dem Institutional Review Board des Hudson River Psychiatric Centers, vor dem ich mein Forschungsprojekt vorstellen durfte; außerdem danke ich Sheila A. Donahue, Chairperson, NY State Office of Mental Health Central Office IRB, die die Forschungserlaubnis, im Konsens mit dem Office of Mental Health Medical Director, schließlich erteilte. Richard F. Wetzell und Uwe Spiekermann vom DHI in Washington sowie Norbert Finzsch, Universität zu Köln, haben mehrfach positiv beim NY State Office of Mental Health interveniert, während sich James D. Folts, Head of Reference, NY State Archives, ebenfalls unermüdlich für ein IRB-Approval einsetzte. Nachdem der Antrag auf Akteneinsicht nach sieben Wochen noch immer anhängig war, hat James D. Folts mit Robert J. Freeman schließlich den Direktor des NY State Committee on Open Government eingeschaltet; parallel hat sich Dr. Roger Christenfeld, IRB-Chair, Hudson River Psychiatric Center, gleichsam ‚von innen‘ für eine Forschungserlaubnis eingesetzt, woraufhin das OMH Central Office IRB-Approval erteilt wurde. Robert J. Freeman, Roger Christenfeld und James D. Folts gebührt deshalb mein besonderer Dank. In Daniel Kehlmanns Roman ‚Die Vermessung der Welt‘ macht der junge Alexander von Humboldt nach Abschluss der Planungen für seine große Südamerika-Reise eine Stippvisite in Weimar, wo er auf einer Abendgesellschaft zu Gast ist: Er werde in die Neue Welt reisen, sagte Humboldt. Das habe er noch keinem verraten. Niemand werde ihn abhalten, und er rechne nicht damit, lebend zurückzukehren.1
1
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Reinbek bei Hamburg, 2009, 44/45.
D ANKSAGUNG
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Johann Wolfgang von Goethe nimmt den jungen Forscher beiseite, führt ihn an ein hohes Fenster und schärft ihm wiederholt ein, die südamerikanischen Vulkane zu untersuchen: Goethe verschränkte die Arme auf dem Rücken. Und nie solle er vergessen, von wem er komme. Humboldt verstand nicht. Er solle bedenken, wer ihn geschickt habe. Goethe machte eine Handbewegung in Richtung […] der Männer, die sich im Salon mit gedämpften Stimmen unterhielten.2
Christoph Wieland, Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller: Von uns kommen Sie, sagte Goethe, von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer.3
Mein größter Dank gilt Margit Szöllösi-Janze und Norbert Finzsch. Sie haben dieses Projekt von Beginn an unterstützt; sie sandten mich als ihren Schüler ‚übers Meer‘.
2
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Reinbek bei Hamburg, 2009, 45.
3
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Reinbek bei Hamburg, 2009, 45.
Anhang
Der Anhang der vorliegenden Untersuchung bietet einen Überblick über die verwendeten Quellen plus Forschungsliteratur; der erste Abschnitt listet zunächst die Archivalien, dann die publizierten Quellen auf, während der zweite Abschnitt die herangezogenen Forschungsarbeiten – zuerst Monographien, dann wissenschaftliche Fachartikel – aufführt. Publikationen, die zugleich als Quellen und Forschung dienen, was ausschließlich auf die aktuellen EST-Studien zutrifft, werden in beiden Abschnitten, also doppelt, gelistet; zum Schluss werden dann die konsultierten Internet-Seiten sowie die Bild- und Filmquellen aufgeführt.1
ARCHIVALIEN NY State Archives 14231-03A: NY State Office of Mental Health, St. Lawrence State Hospital Patient Case Files. NY State Archives 14231-93: NY State Office of Mental Health, Buffalo State Hospital Patient Case Files, 1881-1920. NY State Archives 14231-99: NY State Office of Mental Health, Buffalo Psychiatric Center Patient Case Files, 1920-1975. NY State Archives 19069: Willard Psychiatric Center, Medical Records, ca. 1892-1942. NY State Archives A0780: Auburn Prison, Daily Punishment Reports 18361846. 1
Briefe sowie die zitierten New York Times Artikel werden chronologisch geordnet; Auszüge aus Quellen und wissenschaftlicher Literatur, die der Forschung entnommen sind und folglich nicht im Original vorlagen (Hinweis: zitiert nach), werden im Anhang nicht gesondert aufgeführt.
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NY State Archives A1500, Matteawan State Hospital, Inmate Case Files from Matteawan and Dannemora State Hospitals, ca. 1880-1960. NY State Archives B0145: Case Files of Inmates Sentenced to Electrocution, 1939-1963. NY State Archives B0147: Sing Sing Prison, Admission Registers for Prisoners to be Executed, 1891-1946. NY State Archives B1230: General Journal, Auburn Prison. NY State Archives B1238: Sing Sing Prison, Principal Keeper’s Daily Journal, 1917-1918. NY State Archives B1249: Clinton Prison, Physician's Daily Log of Inmates Received, Treated and Discharged, 1898-1901. NY State Archives B1477: Willard State Hospital, Chaplains Record. NY State Archives B1488: Utica State Hospital, Prescription Register, 18891893. NY State Archives B1491-96: State Commission in Lunacy Policy and Meeting Records, 1889-1932. NY State Archives B1541: Utica State Hospital, Physician's Daily Reports, 1885-1902. NY State Archives B1543: Utica State Hospital, Records of Commitments, 1896-1901. NY State Archives B1588: Utica State Hospital, Shock Therapy Treatment Log, 1948-1949. NY State Archives B1589: Utica State Hospital, Ward Inspection Reports, 19531954. NY State Archives B1592: Utica State Hospital, Patient Diagnosis Meeting Notes, 1926-1932. NY State Archives B1817: Willard State Hospital, Special Therapies Report, 1955-1967. NY State Archives B1974-08: NY State Department of Mental Hygiene, Photographic Material. Impastato-Papers, Oscar Diethelm Library for the History of Psychiatry, Cornell University, (ohne Call-Number). Bundesarchiv Berlin, BArch R 96 I / 3 RAG: Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten.
A NHANG
ARCHIVALISCHE B RIEFE T HE E DISON P APERS
UND
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L ABORAUFZEICHNUNGEN –
Alfred P. Southwick an Thomas A. Edison, 8. November 1887. The Edison Papers: D8704AEP. Thomas A. Edison an Alfred P. Southwick, 19. Dezember 1887. The Edison Papers: LB026116. Frank S. Hastings an Arthur E. Kennelly, 26. November 1888. In: The Edison Papers: D8828ADL. Arthur E. Kennelly an Frederick Peterson, 6. Dezember 1888. In: The Edison Papers: LM111193. Frederick Peterson an Thomas A. Edison und Arthur E. Kennelly, 10. Dezember 1888. In: The Edison Papers: D8828ADR. Charles K. Baker an Harold P. Brown, 20. Februar 1889. In: The Edison Papers: D8933AAT. Frank S. Hastings an Arthur E. Kennelly, 25. Februar 1889. In: The Edison Papers: D8933AAS. Harold P. Brown an Thomas A. Edison, 17. März 1889. In: The Edison Papers: D8933AAN3. Thomas Edison, To Whom It May Concern (Empfehlungsschreiben für Harold P. Brown), 21. März 1889. In: The Edison Papers: LB028748. Alfred P. Southwick an Arthur E. Kennelly, 21. September 1891. In: The Edison Papers, LB052357. Arthur E. Kennelly, Technical Notes and Drawings. In: The Edison Papers: NB044072A. Arthur E. Kennelly, Technical Notes and Drawings (Copy of Mr. H. P. Browns notes of the experiments on the 5th Dec.) In: The Edison Papers: NM023049. Walter E. Rahm, Jr., an Dr. Joseph Wortis, 28. September 1940. In: ImpastatoPapers, Oscar Diethelm Library for the History of Psychiatry, Cornell University (ohne Call-Number). United States Patent Office: Edwin F. Davis, Electrocution-Chair. No. 587,649, Patented Aug. 3, 1897. sowie: Dr. MacDonald’s House – Formerly ‚Falkirk‘. Werbebroschüre, NY Academy of Medicine, Call Number: 58466.
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P UBLIZIERTE Q UELLEN Auburn State Asylum for Insane Criminals, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1885. Auburn State Asylum for Insane Criminals, Annual Report, For the Year Ending Sept. 30, 1887. Binghamton Asylum for the Chronic Insane, Annual Report, For the Year 1885. Buffalo State Asylum for Insane, Annual Report, [For the Year 1883]. Buffalo State Asylum for Insane, Annual Report, For the Year 1885. Buffalo State Asylum for Insane, Annual Report, For the Year 1887. Buffalo State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1910. Buffalo State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1932. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1933. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1935. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1936. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940. Harlem Valley State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941. Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1885. Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1886. Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year 1887. Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year Ended September 30, 1906. Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1908.
A NHANG
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Hudson River State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944. Long Island State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1902. Long Island State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1905. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September, 30, 1915. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Nine Month Ending June 30, 1916. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1917. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1918. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1919. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1920. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Year Ending June 30, 1921. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937. Manhattan State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942. Middletown Homœopathic Asylum for the Insane, Annual Report, Transmitted to the Legislature, January 12, 1886. NY State Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939. NY State Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1940. NY State Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941. NY State Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942. NY State Psychiatric Institute and Hospital, Annual Report, For the Fiscal Period Ending March 31, 1943. NY State Psychiatric Institute, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1947. NY State Commission in Lunacy, First Annual Report, 1889, in: NY State Commission in Lunacy, Annual Report, October 1, 1894, to September 30, 1895. Albany/New York City, 1896. NY State Commission in Lunacy, Sixth Annual Report. Albany, NY [?], 1895. NY State Commission in Lunacy, Annual Report, October 1, 1894, to September 30, 1895. Albany/New York City, 1896.
322 | MEDIZINISCHE GEWALT
NY State Hospital Commission, Annual Report, October 1, 1912, to September 30, 1913. Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1932. Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1941. Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942. Pilgrim State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1950. Rockland State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938. Rockland State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942. St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1900. St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1906. St. Lawrence State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1907. Utica State Hospital, Annual Report, For the Year 1885. Utica State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1899. Utica State Hospital, Annual Report, For the Year Ending September 30, 1901. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1928. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1929. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1930. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1942. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Period Ending March 31, 1943. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1944. Utica State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ended March 31, 1950. Willard Asylum for the Insane, Annual Report, For the Year 1885. Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1937. Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1938. Willard State Hospital, Annual Report, For the Fiscal Year Ending June 30, 1939.
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T ABELLEN Tabelle 1: Zahl der elektrotherapeutischen Batterien im NY State HospitalSystem, 1885. Tabelle 2: Elektrotherapeutische Batterien, NY State Hospital-System, 1885-1894. Tabelle 3: Elektrotherapeutische Batterien, NY State Hospital-System, 1885-1895. Tabelle 4: Elektrische Applikationen, Harlem Valley State Hospital, 1932-1940. Tabellen 5 und 6: EST-Anwendungen nach Geschlecht, Willard State Hospital, 1943 bis 1953.
ABBILDUNGEN UND B ILDNACHWEISE Abbildung.: 1: Die Befreiung der Irren von den Ketten (Charles Louis Lucien Muller). Bildnachweis: http://www.reprotableaux.com/kunst/charles_louis_
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lucien_muller/philippe_pinel_1745_1826_rele_hi.jpg (1.März 2013). Abbildung 2 bis 4: Duchenes ‚Lebendanatomie‘. Bildnachweise: Duchenne (de Boulogne), Mécanisme de la physionomie humaine - Deuxième édition. Paris [o.A.], Fig. 33, 62, 70. Abbildung 5 und Abbildung 6: Central Galvanization nach Beard│Rockwell. Bildnachweise: Beard│Rockwell, Medical Electricity, 378 (Nacken), Beard│Rockwell, Medical Electricity, 376 (Oberkopf). Abbildung 7: Central Faradization. Bildnachweis: Beard│Rockwell, Medical Electricity, 354. Abbildung 8: Buffalo State Hospital. Bildnachweis: http://www.loc.gov/pic tures/item/ny0207.photos.116449p/resource/ (18. Mai 2013). Abbildung 9: Willard State Hospital. Bildnachweis: http://www.nytimes.com/ imagepages/2008/ 03/25/science/25bookCA02ready.html (4. Mai 2013). Abbildung 10: Binghamton State Hospital. Bildnachweis: http://www.rootsweb. ancestry.com/~asylums/binghamton_ny/shbing1905pc1.jpg (4. Mai 2013). Abbildung 11: Hudson River State Hospital. Bildnachweis: http://www.kirk bridebuildings.com/blog/images/2008/07/24/1.jpg (4. Mai 2013). Abbildung 12: Das ‚ganze kathetometrische Instrumentarium‘. Bildnachweis: Moriz Benedikt, Kraniometrie und Kephalometrie. Vorlesungen gehalten an der Wiener Allgemeinen Poliklinik. Wien/Leipzig, 1888, 175. Abbildung 13: Logo der Medico Legal Society. Bildnachweis: Annual Meeting [1888]. Bildnachweis: Medico-Legal Journal, Vol.6, New York, NY, 347. Abbildung 14: Illustration der Death Chair-Blaupause. Bildnachweis: Report of the Committee of the Medico-Legal Society on the Best Method of Execution of Criminals by Electricity. In: Medico-Legal Journal, Vol. 6, New York, NY, 279. Abbildung 15 und Abbildung 16: Blutpartikel William Kemmlers vor und nach der Exekution. Bildnachweis: George E. Fell, Address of the President – The Influence of Electricity on Protoplasm. In: Proceedings of the American Society of Microscopists, Vol. 12, Thirteenth Annual Meeting (1890), 35. Abbildung 17: Das Sing Sing State Prison um 1900. Bildnachweis: http://www. loc.gov/pictures/resource/ggbain.13767/ (18.5.2013). Abbildung 18: Alte Todeskammer, Sing Sing State Prison. Bildnachweis: http:// www.loc.gov/pictures/resource/cph.3a36054/ (17. Mai 2013). Abbildung 19: Innenaufnahme des 1922 fertiggestellten Sing Sing Death House. Bildnachweis: Robert G. Elliott/Albert R. Beatty, Agent of Death – The Memoirs of an Executioner. New York, NY, 1940, 65. Abbildung 20: Das gewaltige Pilgrim State Hospital. Bildnachweis: http:// www.cardcow.com/images/set294/card00467_fr.jpg (5. Mai 2013).
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Abbildung 21 und 22: Vorher-Nachher-Aufnahmen, Eglfing Haar. Bildnachweise: Anton v. Braunmühl, Die kombinierte Shock-Krampfbehandlung der Schizophrenie am Beispiel der ‚Blockmethode‘. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Band 164, Berlin, 1939, 74 und 78. Abbildung 23: Sternförmige Läsionen im Gehirn einer verstorbenen ESTPatientin. Bildnachweis: Riese/Fultz, Electric Shock Treatment Succeeded by Complete Flaccid Paralysis, Hallucinations, And Sudden Death. American Journal of Psychiatry, Vol. 106, No. 3 (1949), 210.
Histoire Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs Februar 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) November 2014, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden November 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2528-8
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Histoire Sophie Gerber Küche, Kühlschrank, Kilowatt Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945-1990 Dezember 2014, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2867-8
Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall Dezember 2014, ca. 430 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1
Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.) Das Jahr 1913 Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs September 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2787-9
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Ulrike Kändler Entdeckung des Urbanen Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960
Wolfgang Kruse (Hg.) Andere Modernen Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs Januar 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2626-1
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Sibylle Klemm Eine Amerikanerin in Ostberlin Edith Anderson und der andere deutschamerikanische Kulturaustausch
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988
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Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre
Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland
November 2014, ca. 430 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2
Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 Februar 2014, 322 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2435-9
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Peter Stachel, Martina Thomsen (Hg.) Zwischen Exotik und Vertrautem Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten Dezember 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2097-9
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