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German Pages [428] Year 2016
Arbeiten zur Geschichte des Pietismus
Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Herausgegeben von Hans Schneider, Manfred Jakubowski-Tiessen, Hans Otte und Hans-Jürgen Schrader Band 61
Vandenhoeck & Ruprecht
Irmtraut Sahmland / Hans-Jürgen Schrader (Hg.)
Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache In memoriam Christa Habrich
Vandenhoeck & Ruprecht
Wir danken der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD für die Ermöglichung der hier dokumentierten Tagung sowie der Publikation ihrer Erträge. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind wir dankbar für die Gewährung der erforderten Druckbehilfe.
Mit 2 Abbildungen Umschlagabbildung: Christus anatomicus, T Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0858 ISBN 978-3-647-55844-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de T 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt
Inhalt
Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Pietismus und Heilkunst. Ethik, pansophisch-alchimistische und magnetische Traditionen Irmtraut Sahmland Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“ – eine medizinethische Anleitung von Johann Samuel Carl .
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Vera Faßhauer ,,< stultam sapientiam!“ Zum Verhältnis von pietistischer Selbsterkenntnis und weltlicher Gelehrsamkeit in den Tagebüchern des jungen Johann Christian Senckenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Veronika Marschall Johann Christian Senckenberg (1707–1772) und die „Pietas Medici“ . .
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Annemarie Kinzelbach und Marion Maria Ruisinger Pietistische Medizin? Die Praxis des Nürnberger Arztes Johann Christoph Götz (1688–1733)
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Konstanze Grutschnig-Kieser „Tingire du uns noch mit göttlicher Tinctur / Und heile durch und durch Natur und Creatur!“ Zum Wirken des inspirierten Mediziners Johann Philipp Kämpf (1688–1753) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Rita Wöbkemeier Johann Friedrich Struensee (1737–1772) als Arzt und Mediziner . . . . 143
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Inhalt
Anne Lagny Adam Bernds Selbstanalyse seiner Leibesanfechtungen und Heilungsbemühungen im Lichte pietistischer Psychagogik (Eigene Lebensbeschreibung, 1738) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Hans-Jürgen Schrader Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Jeff Bach Heilung, Medizin und Alchimie in Ephrata, Pennsylvania Conrad Beissel, Samuel Eckerlin, Jacob Martin . . . . . . . . . . . . . . 211 Ulf Lückel Medizinisch-alchimistische Traditionsmitgiften im Pietismus Friedrich Christoph Oetinger – Johann Friedrich Metz – Johann Wolfgang Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Christoffer H. Grundmann „Jesus ist Sieger!“ Heilungen im Wirken des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt (1805–1880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Musik, Literatur und Sprache Markus Matthias Geistliche Liebestöne. Beobachtungen zur Lyrik Gottfried Arnolds (1666–1714) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Wolfgang Miersemann „anstößige und höchst verdächtige Redens=Arten“. Orthodoxe Kritik an sprachlicher „Neurung“ in Liedern des Pietismus . . . . . . . . . . 279 Rüdiger Kröger Die Gemeintage, Form und Funktion Beobachtungen zu einer Textsorte des Herrnhuter Pietismus . . . . . . 303 Alfred Messerli Das Tagebuchführen bei Ulrich Bräker zwischen jüdisch-christlichen Voraussetzungen und pietistischer Schreibpraxis . . . . . . . . . . . . 317
Inhalt
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Ruth Albrecht Blut-Theologie und Blut-Mystik bei Charles Huddon Spurgeon, Elias Schrenk und Adeline Gräfin Schimmelmann . . . . . . . . . . . . . . . 341 Reinhard Breymayer „Dees ischd a’ Abbild dessa’ davon …“ Zum pietistischen Sprachgebrauch in einer schwäbischen Erbauungsstunde des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Zur Erinnerung an Christa Habrich Christoph Friedrich, Wolf-Dieter Müller-Jahncke und Sabine Anagnostou Zum Tod von Professor Dr. Dr. Christa Habrich . . . . . . . . . . . . . 401 Marion Maria Ruisinger und Thomas Schnalke Zum Gedenken an Christa Habrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Hans-Jürgen Schrader Pietistische Sympathetik Grußwort zur Gedenkfeier für Christa Habrich im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt, 14. Nov. 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader
Vorwort
Zur Einführung Im Zentrum der Arbeit der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den theologischen Impulsen und reformerischen Tendenzen in der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte vom 17. bis ins 19. Jahrhundert sowie die Förderung einschlägiger Quelleneditionen und Arbeitsmittel. Wo immer der Pietismus in seinen kühnsten Unternehmungen und Institutionen hatte Anstoß geben wollen zu einer ,Weltveränderung‘ aus der Kraft eines tatkräftig-innigen Glaubens, gehörte zu seiner Erforschung stets die seiner historischen Einbettung, seiner Bedingungsfaktoren und gesellschaftlichen Auswirkungen. Verstärkt seit den späten 1970er Jahren hat sich der Blickwinkel darüber hinaus systematischer auf die mannigfachen Auswirkungen in der gesamten Kultur- und Geistesgeschichte der protestantischen Länder und Regionen erweitert, in denen pietistische Frömmigkeit zu einem mehr oder weniger dominanten Faktor erwachsen konnte. Als Kommissionsvorsitzender hat Gerhard Schäfer diese Ausweitung des Blickkreises über das rein theologische Feld hinaus maßgeblich befördert. Seit dem nach der deutschen Vereinigung konsequenten Ausbau der in ihrem Ausgriff in die Welt einst wegweisenden pietistischen Institutionen besonders in Halle und Herrnhut zu Forschungseinrichtungen ist der interdisziplinäre Ausgriff Standard der Forschung. Pietistische Anstöße, Traditionen und Wirkungen werden als Teil der Sozial- und Institutionengeschichte (etwa auch im Bereich der Diakonie), als wichtiger Impuls für spezifische Geschichts- und Gendertheorien, in der Sprach- und Literaturgeschichte, in der Geschichte des Buchs und des Lesens, in der Musikgeschichte, Kunst- und Architekturgeschichte, in ihrer Wirkung auf die Philosophie und Ethik, auf gesellschaftliche Verhaltensmuster, Sexual- und Ehelehren sowie auf die Entstehung einer wissenschaftlichen Psychologie als Erfahrungsseelenkunde erforscht. Der Pietismus war aber auch ein wirkungsreicher Faktor in der Medizin- und Pharmaziegeschichte. Für Forschungsimpulse in diesem in seinen Dimensionen noch wenig ausgeleuchteten Bereich, dem auch noch nie ein eigenes Kommissionssymposion gewidmet worden war, ist nach den Fachleuten aus geistesgeschichtlichen Disziplinen, den Allgemeinhistorikern, Literatur- und MusikForschern im Jahr 2000 Christa Habrich aufgrund ihrer Mehrfachkompetenz
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Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader
in allgemeiner Naturkunde, Medizin- und Pharmaziegeschichte mit einem Schwerpunkt auch in der pietistischen Traditionsanalyse in die Kommission berufen worden. Sie hat den maßgeblichen Anstoß für die hier vorrangig dokumentierte wissenschaftliche Tagung Pietismus und Heilkunst. Ethik, pansophisch-alchimistische und magnetische Traditionen gegeben, die jedoch am 11. und 12. April 2014 in Frankfurt am Main (Evangelischer Regionalverband, Dominikanerkloster) ohne sie hat stattfinden müssen. Am 6. September 2013 ist sie inmitten der Vorarbeiten einem schon überwunden geglaubten Herzleiden erlegen, wenige Wochen, nachdem sie unseren Tagungsplan in allen Einzelheiten der Kommission erläutert und Billigung dafür gefunden hatte. Wir konnten das getreu ihren Anregungen konkret ins Werk gesetzte interdisziplinäre Symposion, bereits angekündigt unter dem auch für den vorliegenden Band verwendeten Titelbild jenes wohl aus dem 18. Jahrhundert stammenden „Christus anatomicus“, den sie selbst als vormalige Direktorin für das Deutsche Medizinhistorische Museum hatte erwerben können, nurmehr ihrem Andenken widmen. Dem Eintreten der ebenfalls mit Arbeiten über pietistische Ärzte und Medizintheorien ausgewiesenen und ihr durch mehrere gemeinsame Projekte langjährig verbundenen Marburger Medizinhistorikerin Irmtraut Sahmland in die Mitverantwortung war es zu verdanken, dass die von Christa Habrich zusammen mit dem in der Planung für die geistesgeschichtlichen Aspekte und Themenfelder zuständigen Genfer Germanisten Hans-Jürgen Schrader kompetent realisierbar wurde. Ein Kolloquium nur zweier Tage mit bloß elf nach unserem Konzept durchweg in forscherliche terra incognita vorstoßenden Pilotstudien, denen für die Publikation kontexterweiternd noch einige ergänzende Beiträge zur Seite gestellt werden konnten, kann natürlich das Riesenfeld der mit dem Tagungsthema aufgerufenen Exponenten und Traditionen der pietistischen Heilkunst und Heilmittel sowie der zugrunde liegenden psycho-physischen Theorien und ethischen Maximen in keiner Weise ausloten. Sogar die Frage, ob sich aus den Anschauungen und heilpraktischen Verfahren der aus verschiedenen Regionen und religiösen Gruppen stammenden pietistisch engagierten Ärzte ein mehr oder minder einheitliches Bild einer „pietistischen“ Medizin erheben lässt, konnte nur aufgeworfen, kaum noch gültig beantwortet werden. Ganz offenbar sind von den untereinander durch Ausbildung, persönliche Kontakte und Schülerschaften, korrespondenzlichen Erfahrungsaustausch und mutuelle Zusendungen ihrer häufig aus alchimistischer Praxis oder auf pflanzlicher Basis gewonnenen Medikamente, aber auch durch ihre religiöse Vernetzung in der pietistischen (bzw. in pietistischer Tradition stehenden) Ärzteschaft wirkungsreiche Anstöße ausgegangen. Um deren Aktualität zu betonen, sind als heutige Näherungsbegriffe die einer psychosomatisch-ganzheitlichen „sanften Medizin“ genannt worden – im Gegensatz zu den zeitgenössisch verbreiteten ,heroischen‘ Kuren mit drastischer Medikation und extensivem Aderlass –, naturanalogische Reflexion und auf ho-
Vorwort
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möopathische Prinzipien vorausweisende Rezepturen, überdies eine auf nachhaltige Heilung setzende psychische Anamnese und Sinnstärkung, intensive Begleitung der Patienten in komplementärer Gesprächstherapie unter Einbezug ihres sozialen Umfelds sowie Unterstützungen der Selbstheilungskräfte des Körpers. In anderen Belangen freilich erscheint die Heilkunst pietistischer Ärzte recht zeitgebunden. Ihre verbreitete Suche nach Heilmitteln, womöglich Panazeen, mittels alchimistischer Experimente hat sicher zur Entstehung der modernen Chemie und Pharmazie beigetragen, ihre Wirkungen aber waren – oft verbunden mit Geheimnistuerei – nicht allemal heilsam. Für die Tagung geplant war, nicht die durch schon verfügbare umfassendere Forschungsarbeiten bereits einigermaßen überschaubaren Erträge der tonangebenden Medizinschule der Universität Halle rings um Georg Ernst Stahl (1660–1734), Friedrich Hoffmann (1660–1742), Johann Juncker (1679–1759) und Michael Alberti (1682–1757) sowie den in den Franckeschen Anstalten wirkenden Arzt und Liederdichter Christian Friedrich Richter (1676–1711) zu rekapitulieren oder neu zu diskutieren, sondern ergänzend tragfähige Forschungsansätze für das weitere Feld der pietistischen Praktiker in den unterschiedlichsten Territorien vorzulegen, die als Stadt- und Landärzte, häufig auch als Hofmedici der zahlreichen pietistischen Kleinfürstentümer wirkten. Die derzeit an der Frankfurter Universitätsbibliothek aufgenommene Transkription und Erschließung des bislang unüberschaubaren medizinischen Nachlasses und der persönlichen Tagebücher von Johann Christian Senckenberg (1707–1772) eröffnet dafür ein reiches Quellenmaterial. Forschungskontakte mit den für diese Arbeit Verantwortlichen hatten Christa Habrich dazu bestimmt, Frankfurt als Tagungsort vorzuschlagen und sie um eine Einführung in diesen Quellenschatz zu bitten, die am Vorabend der Tagung stattfinden konnte. Von hier aus lag es nahe, den Fokus auf andere wichtige Medizinalreformer besonders im westlichen Deutschland zu konzentrieren, die wie Senckenberg selbst phasenweise oder dauerhaft dem radikalen Pietismus zuneigten, einer philadelphischen Vereinigung der Erweckten aus allen Konfessionen oder der ekstatisch-prophetischen Gemeinschaft der Inspirierten angehörten und häufig ebenfalls alchimistisch laborierten oder nach Panazeen fahndeten (bekanntlich war auch in Halle der ausgebreitete Handel mit der von Richter erzeugten „Essentia dulcis“ eine wichtige wirtschaftliche Grundlage der Franckeschen Stiftungen). Nächst dem von Senckenberg bewunderten, nach seinem abenteuerlichen Leben u. a. als Hofalchimist des schwedischen Hofs in Berleburg lebenden Johann Conrad Dippel (1673–1734) war hier v. a. der dortige Hofarzt Johann Samuel Carl (1677–1757) bedeutsam, der schon in seiner Jugend im württembergischen Hohenlohe eine philadelphische Ärztevereinigung gegründet hatte und ein auch literarisch hochproduktiver Exponent der Berleburger Philadelphischen Gemeinschaft, zeitweilig auch der Inspirierten war (neben medizinisch-naturwissenschaftlichen hat er erbauliche und exegetische Bücher geschrieben,
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Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader
u. a. den VI. Teil der Historie Der Wiedergebohrnen herausgegeben und die radikalpietistische Zeitschrift Geistliche FAMA gegründet). Später konnte er als Hofarzt in Kopenhagen die Reform des dänischen Medizinalwesens initiieren, ein Theatrum anatomicum erbauen lassen, ist früh für den Einsatz anatomischer Modelle in der medizinischen Ausbildung eingetreten. Als dänischer Hofmedicus folgte ihm zwei Gererationen später sein Enkel Johann Friedrich Struensee (1737–1772) nach, der allgemein weniger als renommierter Seuchenforscher als durch die ihn stürzende und aufs Schafott bringende Hofintrige bekannt geblieben ist. Wenngleich er in seinem politischen Einsatz eher als Aufklärer gilt, blieb seine Beeinflussung durch die pietistische Medizin des verehrten Großvaters näher zu erkunden. Wie Struensee ist auch der Nürnberger Arzt Johann Christoph Götz (1688–1733) ein Beispiel für Überkreuzungen und Amalgame pietistischen und aufklärerischen Denkens in der Medizin. In Berleburg wurde Carls Nachfolger (übrigens auch als Editor des Abschlussteils der Historie Der Wiedergebohrnen) jener Johann Conrad Kanz (1680–1764), dem auch die Gesamtausgabe der Werke Dippels und einer Haupt=Summa Derer theologischen Grund=Lehren dieses auch für Senckenberg wegweisenden Alchimisten und Theologen zu verdanken ist. Verbindungen von Carl und Senckenberg führen zu den drei als Hofärzte in Homburg, Ems und Neuwied wirkenden, wiederum den Inspirierten nahestehenden Kämpf, Vater (Johann Philipp K., 1688–1753) und Söhne (Johann K., 1726–1787, Wilhelm Ludwig K., 1732–1779, als Badearzt Gesprächspartner Goethes), auch zu den radikalpietistischen Exulantenkolonien in Nordamerika. In Johann Conrad Beissels (1690/91–1768) pietistisch-täuferischer Klostergründung Ephrata in Pennsylvania wurde die medizinischalchimistische Erbschaft weitergepflegt, ebenso wie bei den mit den Berleburgern in gleichermaßen engem Austausch stehenden quietistischen Brüderschaften an der Ruhr (um Gerhard Tersteegen, 1697–1769) und im Siegerland (Karl Sigismund Prueschenk von Lindenhofen, ca. 1686–1744). Der in Offenbach bei Frankfurt wirkende Johann Friedrich Metz (1721–1782), der außer durch seine akademische Ausbildung in Halle markant vom Denken des mit seinem Vater eng verbundenen schwäbischen Theosophen Johann Friedrich Oetinger (1702–1782, seinerseits ein Schüler des älteren Kämpf) beeinflusst war, hat bekanntlich den jungen Goethe mit selbstgefertigter Wundermedizin kuriert und zusammen mit der geistlichen Freundin Susanna Catharina von Klettenberg (1723–1774) zu eigenen alchimistischen Experimenten angeregt. Der Zusammenhang von pietistischer Seelen- und medizinischer Körper-Symptomanalyse wird in der selbstquälerischen Autobiographie des Adam Bernd (1676–1748) sichtbar, die in der Tagung nicht nur in literaturwissenschaftlicher Untersuchung, sondern auch im Beiprogramm in Jürgen Stenzels fulminanter Rezitation (umrahmt durch die von Wolfgang Miersemann eingespielten Lieder der pietistischen Ärzte Christian Maximilian Spener und Christian Friedrich Richter) zur Geltung kam. Schließlich
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Vorwort
gehen mannigfache, noch viele weitere Fallstudien erfordernde Brücken aus den hier beleuchteten Kreisen der geistlich erweckten Medizinergemeinschaft zur Romantik. Ohne den Hintergrund des pietistischen naturkundlichen Analogiedenkens mit seiner Weiterreichung und Transformation alter pansophischer Traditionen wären das Weltbild und die Werke der Friedrich Wilhelm von Schelling und Franz von Baader, des Novalis, Gottfried Heinrich Schubert und Justinus Kerner kaum zulänglich verstehbar. Die ganzheitlichspirituellen Heilungsideen und -methoden Johann Christoph Blumhardts (1805–1880), die Umdeutungen pietistischer Lebenszeugnisse zu Fallbeispielen für (ihrerseits bereits pietistisch präformierte) romantische Magnetismustheorien können solche Konnexe nur exemplarisch andeuten. Die Übersicht der angeleuchteten Fallstudien der Frankfurter Tagung – Exempla für in größerer Breite noch intensiv zu Erforschendes – zeigt allenthalben den engen Konnex der pietistisch orientierten Heilkunst und Ethik und der neu zu Geltung gebrachten pansophisch-arkanen und sympathetischen Traditionen nicht nur mit der Frömmigkeitsgeschichte, sondern auch mit den im spezifischen Gattungsspektrum der Literatur und in der Sondersprache des Pietismus sowie fallweise in der pietistischen Musik zutage tretenden Eigenarten, Sichtweisen und Argumenten. Deshalb haben wir uns entschlossen, diese Zusammenhänge durch die Präsentation hierauf bezogener, noch unveröffentlichter Erträge einer früheren, von Hans-Jürgen Schrader in Zusammenarbeit mit Christian Bunners und Johannes Anderegg verantworteten Tagung der Historischen Kommission im Deutschen Literaturarchiv / Schiller-Nationalmuseum Marbach über „Sprache und Literatur des Pietismus“ (Oktober 2006) anzureichern, die nun von den Beitragenden zur Publikation revidiert und im Forschungszugriff aktualisiert wurden. An die impulsgebende Leistung Christa Habrichs, deren Andenken der Band gewidmet ist, wird zu dessen Abschluss in drei Nachrufen erinnert – aus den unterschiedlichen Perspektiven ihrer Fachkollegenschaft bzw. auch namens der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus anlässlich einer am 24. November 2013 vom Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt ausgerichteten Gedenkfeier. Hans-Jürgen Schrader
Medizingeschichtliche Einkreisung Die Geschichte des Pietismus und der pietistischen Frömmigkeitsbewegung ist ein wahrlich interdisziplinäres Forschungsfeld. Das stellt sich etwa in den Tagungsbänden der bereits mehrfach ausgerichteten Internationalen Kongresse für Pietismusforschung unmittelbar dar. In den Reigen der am Pietismus interessierten Disziplinen gehört fraglos auch die Medizingeschichte.
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Und dies ist der besondere Fokus der Tagung, die zum Thema „Pietismus und Heilkunst“ im April 2014 in Frankfurt am Main stattfand und deren Forschungserträge hier vorgelegt werden. Daher seien noch einige Überlegungen zur Einkreisung dieses Themenfeldes aus medizinhistorischer Sicht beigefügt. Die dominierende Assoziation in der Perspektive dieser Disziplin ist der Hallesche Pietismus, der im Bewusstsein der Medizingeschichte eine feste Größe darstellt. Dies hat mehrere Gründe: August Hermann Francke hatte in früher Zeit innovative Konzepte der Fürsorge vertreten, die in seinem Waisenhaus eine praktische Umsetzung erfuhren. Die Waisenhaus-Apotheke und der internationale Arzneimittelvertrieb sind von pharmazie- und medizinhistorischem Interesse. Aber nicht nur die Ärzte um Francke (Christian Friedrich Richter, Michael Alberti oder Johann Juncker) sind es, die den Blick der Forschung nach Halle richten ließen: Sowohl Friedrich Hoffmann wie Georg Ernst Stahl wirkten als Medizinprofessoren an der Universität Halle, beide vertraten medizintheoretische Modelle, die sich geradezu antithetisch gegenüberzustehen schienen und wissenschaftsgeschichtlich von großer Bedeutung waren. Während Hoffmann ein iatromechanisches Körperkonzept vertrat, favorisierte Stahl einen insbesondere in seiner Theoria medica vera (1708) ausgeführten animistischen Ansatz. Zum Verständnis physiologischer Körpervorgänge und Deutung von Krankheitsprozessen postulierte er ein Leib-Seele-Verhältnis unter dem Primat der Seele. Gern wurde Stahls theoretisches Medizinkonzept für den Pietismus vereinnahmt, schien es doch in besonderer Weise pietistischen Glaubensauffassungen zu entsprechen, ja geradezu eine stringente Konsequenz im Bereich einer anwendungsorientierten Wissenschaft darzustellen. Während der Hallesche Pietismus auch unter medizinhistorischen Fragestellungen recht gut bearbeitet ist – wobei sich auch die Vertreter und Vertreterinnen des Faches in Halle durch Publikationen und Initiativen zu Tagungen um „ihren“ Pietismus sehr verdient gemacht haben –, ist die medizinhistorische Forschung zum Pietismus anderer Regionen nach wie vor weitgehend ein Desiderat. Dabei sind es gerade die pietistischen Strömungen, die sich in Württemberg, in Hessen und Norddeutschland, aber auch über die Grenzen Deutschlands hinweg in der Schweiz, in Skandinavien und in Übersee ausgebildet haben, die eine ausgesprochene Vielfalt in ihren Positionen verkörpern und für viele zeitgenössische Wissensdiskurse anschlussfähig waren. Die Beiträge, die diese pietistischen Zirkel und Gemeinschaften für die Medizin geleistet haben, gilt es in vielfältiger Hinsicht noch aufzuarbeiten; die Ärzte, die ihnen zuzuordnen sind, sowie die Rezeption und tatsächliche Wirkung, die von ihnen ausging, sind in weiten Bereichen noch zu erschließen. Einen bemerkenswerten Anfang hat Christa Habrich mit ihrer umfassenden Arbeit über Johann Samuel Carl bereits 1981 geliefert, und sie hat diesen Arzt in seinen pietistischen Glaubenskontext gestellt und dezidiert festgestellt, dass er und seine Schriften auch nur in dieser Weise adäquat verstanden werden können. Mit ihren zahlreichen weiteren Forschungser-
Vorwort
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trägen, unter anderem auch zur Kräutermedizin Tersteegens, und durch die damit verbundene Präsentation des umfangreichen Quellenmaterials hat sie das Potential dieses Forschungsfeldes aufgezeigt. Leider hat sie in der Medizingeschichte bislang wenig Nachfolger gefunden. Über einzelne Ärzte aus dem westdeutschen Raum wissen wir etwas besser Bescheid. Hervorzuheben wäre hier etwa Johann Conrad Dippel, der nicht zuletzt ob seines eigenwilligen, schonungs- und rücksichtslosen Auftretens traditionell immer sehr viel Aufmerksamkeit erregt hat. Prominent zu nennen ist auch Johann Christian Senckenberg, der insbesondere in seiner nachhaltigen Wirkmächtigkeit der Senckenbergischen Stiftungen im lokalen Rahmen Frankfurts gegenwärtig ist. Hinzuweisen wäre auch etwa auf den Laienophthalmologen Johann Heinrich Jung-Stilling, der über seine Autobiographie mehr als andere im allgemeinen Wissenshorizont präsent ist. Anders als in Halle ist die Situation in anderen Regionen nicht ähnlich konzentriert erfassbar, sondern es ist eher eine disparate Streuung. Weil die pietistischen Gemeinschaften teilweise sehr radikal ausgelegt und als Separatisten in kleineren Gebieten vermeintlich isoliert waren, wäre es möglich, dass auch der forschende Zugang etwas verstellt blieb, einzelne Arztpersönlichkeiten nur selektiv betrachtet und aufgrund des Herausschälens aus ihrem Hintergrund oder durch die fehlende Rückbindung an diesen Hintergrund nicht adäquat verstanden wurden. Um den Pietismus als eine religiöse Strömung und als einen sehr wesentlichen Kulturfaktor synoptisch besser erfassen und begreifen zu können, muss die Brücke zwischen den Disziplinen hin zu einer wirklichen Interdisziplinarität noch fester gebaut werden. Tatsächlich wurden aus der christlich-pietistischen Frömmigkeit heraus Positionen bezogen, die als Stellungnahmen zu diversen Lebensbereichen der Gesellschaft verstanden werden können. Die Medizin ist ein Teil dieses Panoramas. In diesem Sinne könnten einzelne Fragen z. B. sein: Was bedeutet eine pietistisch ausgerichtete Ethik für die ärztliche Deontologie? Was bedeutet das Prinzip der Toleranz, das die Pietisten historisch bereits sehr früh vertraten, für die Medizin? In welcher Weise nahm der Pietismus die Funktion der Bewahrung alter Werte in einer sich wandelnden Zeit wahr, etwa in Bezug auf das Bild des Kranken? Wo zeigen sich innovative Potenziale – und wo stand eine pietistisch geprägte Medizin dem „Fortschritt“ entgegen? Hier sind Begriffe wie „ganzheitliche“ und „sanfte“ Medizin, „psychosomatische“ und „psychosoziale“ Ansätze in die Debatte gebracht worden und bleiben zu überprüfen. – Es warten viele spannende Fragen auf Antworten, und es dürfen noch viele Schätze vermutet werden, die es zunächst zu heben gilt. Auch in dieser Perspektive ist es daher sehr bedeutsam, dass in Frankfurt nun die Tagebücher Johann Christian Senckenbergs transkribiert und der Forschung verfügbar gemacht werden. In Anerkennung und als Unterstützung dieses so verdienstvollen wie ehrgeizigen Projektes wurde als Tagungsort Frankfurt am Main gewählt, und zwei Beiträge in diesem Band referieren
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Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader
bereits erste Arbeitserträge. Wie zu Senckenberg, so wählen auch die übrigen Beiträge ihren Zugang vorzugsweise über Einzelpersonen. Es werden pietistische Ärzte vorgestellt, ebenso aber auch pietistische Laienheiler und „Patienten“. Dabei wird ein Zeitstrahl von den Anfängen des ausgehenden 17. Jahrhunderts bis in das ausgehende 19. Jahrhundert verfolgt, wobei der Schwerpunkt deutlich auf dem 18. Jahrhundert liegt. Es wird ein Facettenreichtum der Beziehungen medizinischen Denkens und praktischen Handelns präsentiert, der sowohl die Bezüge zu den je zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Strömungen, Tendenzen und Diskursen aufnimmt, als auch die Vielfältigkeit der dieser Medizin immanenten Elemente der pansophischen, alchimistischen und magnetischen Traditionen aufruft. Dabei werden sowohl die geistesgeschichtlichen Verflechtungen im Zeitverlauf wie auch die personalen Vernetzungen im geographischen Raum erkennbar. Damit wird das Phänomen des Pietismus jenseits seiner Halleschen Prägung auch für medizinhistorische Fragestellungen in neuer, erweiterter Dimension sichtbar. Die grundlegende Frage, ob es eine spezifische, von anderen Formen abgrenzbare pietistische Medizin gab (speziell bezogen auf den Halleschen Pietismus hat Jürgen Helm hierzu eine distanziert-kritische Position bezogen), war auch im Kontext der Frankfurter Tagung omnipräsent. Die hier versammelten Beiträge können dazu nur erste Annäherungswerte liefern. Indem sie die Komplexität und Vielschichtigkeit der Medizin im Pietismus aufzeigen, warnen sie jedoch vor vorschnellen Beurteilungen. Dazu wäre es unverzichtbar, die vergleichsweise leicht zugängliche normative Textebene mit der Medizin abzugleichen, wie sie in der ärztlichen Praxis umgesetzt wurde. Dieser mühsame, doch sehr vielversprechende Weg führt über die Analyse anderer Quellengattungen – auch hierzu ist die Transkription des Senckenberg-Nachlasses ein wichtiger Impetus. Somit bieten die Erträge der Frankfurter Tagung, die hier gebündelt mit pietistischen Kulturzusammenhängen in Feldern der Geisteswissenschaft vorgelegt werden, eine Grundlage mit zahlreichen Perspektiven und einen Ausgangspunkt und Anstoß für weitergehende Forschungen. Irmtraut Sahmland
Pietismus und Heilkunst. Ethik, pansophisch-alchimistische und magnetische Traditionen
Irmtraut Sahmland
Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“ – eine medizinethische Anleitung von Johann Samuel Carl Gegenstand und Titel des folgenden Beitrages gehen auf Christa Habrich zurück. Ihr als ausgewiesener Kennerin Johann Samuel Carls und dessen ausgedehnten Schrifttums war dies im Rahmen des Themas Pietismus und Heilkunst ein wichtiges Anliegen, dem sie sich selbst hatte widmen wollen.1 Die etwa 170 Seiten umfassende Schrift Carls erschien zunächst 1719 in Büdingen, eine 2., um einen Zusatz erweiterte Ausgabe folgte 1723 an gleicher Stelle. Die Abhandlung bietet ein umfassendes Kompendium seines medizinethischen, medizintheoretischen wie medizinpraktischen Selbstverständnisses; man könnte dieses Werk geradezu als eine „Summa“ bezeichnen. Inhaltlich werden sehr vielfältige Bezüge ärztlichen Wirkens aufgenommen, und zugleich steht diese Publikation in verschiedenen äußeren Beziehungen. Einer dieser zentralen Bezüge wird durch den Erscheinungsort des Werkes markiert: Es datiert in die Lebens- und Arbeitsphase Carls in seiner Büdinger Zeit in der Gemeinde der Inspirierten; ein zweiter Bezug ist durch den Titel der Schrift unmittelbar evident: das Decorum des Arztes wird vorgestellt – „von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“.2 Die Machiavellischen Thorheiten verweisen auf eine 1698 publizierte Schrift eines anonymen, sich als Philiater titulierenden Verfassers: Machiavellus Medicus, seu Ratio status medicorum, secundum Exercitium Chymicum delineata, et in certas Regulas redacta, atque Ob usum, quem Junioribus Practicis praestat, publicae luci donata, Argentorati [Straßburg] 1698. Um Carls Ausführungen und Positionen trennschärfer erfassen zu können, ist zunächst diese Schrift, zu der Carl quasi eine antithetische Setzung ankündigt, in den Blick zu nehmen. 1 Speziell zur medizinischen Ethik Carls und seines pietistischen Kreises vgl. Christa [Meyer-] Habrich: Untersuchungen zur pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis, Habilitationsschrift München 1981 [Typoskript], S. 414–477, sowie Christa Habrich: Zur Ethik des pietistischen Arztes im 18. Jahrhundert. In: Ethik in der Geschichte von Medizin und Naturwissenschaften. Hg. von Wolfram Kaiser, Arina Völker (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Halle/ Saale 1985, S. 69–83. 2 Johann Samuel Carl: Vorstellung vom Decoro Medici. An= und ein=weisend Dessen Geistliche Gestalt / Pflicht und Arbeit. Von Machiavellischen Thorheiten gereinigt / Und nach dem Maaß=Stab des Christenthums eingerichtet. Zweyte Auflage. Vermehrt mit einer Zugabe von Dreyfacher Einleitung in die Medicin, Büdingen 1723.
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Sodann ist eine weitere Publikation zu berücksichtigen, die ebenfalls den Bezug zu dem Macchiavellus medicus im Titel führt: die von Michael Bernhard Valentini verfassten und im Rahmen seiner Praxis medicinae infallibilis 1711 erschienenen Animadversiones in Machiavellum Medicum de Ratione status medicorum, cum Corollariis medico-politicis. In practicorum novellorum gratiam nunc primum in lucem editae. Diese beiden Abhandlungen stecken chronologisch und inhaltlich den Rahmen ab, um anschließend zu fragen, welches Bild bzw. Gegenbild sich vor welchem Hintergrund bei der Analyse des Decorum Medici Johann Samuel Carls ergibt. Dazu sollen einzelne Themenkomplexe ärztlichen Handelns und Selbstverständnisses näher betrachtet werden, wobei einerseits das Arzt-Patient-Verhältnis, andererseits die Interaktion des Arztes in seinem gesellschaftlichen Umfeld im Fokus steht. Der abschließende Teil unternimmt den Versuch einer Einordnung von Carls Position in den zeitgenössischen medizinethischen Kontext, um in Verbindung damit einige zusammenfassende Überlegungen zur Charakterisierung des ethischen Selbstverständnisses „pietistischer Ärzte“ bzw. der „pietistischen Medizin“3 anzustellen und das Potential dieses Modells und die historischen Chancen seiner allgemeineren Realisierbarkeit kritisch zu diskutieren.
I. Machiavellus medicus Jenseits medizinischer Eide, die sich mehr oder weniger eng am sogenannten Hippokratischen Eid ausrichteten, und abgesehen von einem die medizinische Praxis latent begleitenden Bemühen um die ethische Selbstvergewisserung von Ärzten4 zeigt sich eine auffallende Dichte der Publikationen zur Reflexion 3 Diesen Terminus hat Christa Habrich geprägt: „[…] mit dem gleichen Recht, mit dem von Romantischer Medizin gesprochen wird, kann der Begriff Pietistische Medizin geprägt werden, der die für Pietisten spezifische theologisch-theosophisch begründete Theorie von Krankheit und Heilung umschreibt.“ Christa Habrich: Zur Bedeutung medizinischer Bemühungen im Wirken Gerhard Tersteegens. In: Medizinhistorisches Journal, Bd. 12, 1977, S. 263–279; S. 264; vgl. [Meyer-]Habrich: Untersuchungen (wie Anm. 1), Einleitung, S. IV; vgl. z. B. Christa Habrich: Therapeutische Grundsätze pietistischer Ärzte des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie. Beilage der Deutschen Apotheker Zeitung, Bd. 31, Nr. 16, 1982, S. 121–132. Im Bemühen, diese Setzung inhaltlich präziser zu fassen und mögliche Merkmale zu benennen, seien mit dem Terminus jedoch sehr viele und unterschiedliche Aspekte medizinischen Denkens und Handeln verbunden worden, so dass er tatsächlich zugleich unscharf geworden sei, so Jürgen Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus (Hallesche Forschungen, Bd. 21), Halle – Tübingen 2006, S. 11 f.; Helm verwendet diesen Terminus konsequent in Anführungszeichen. 4 Diese Dimension darf jedoch keineswegs ahistorisch als ein statisches Element gesehen werden, wie das etwa bei Bernward Josef Gottlieb erscheint, wenn er in seinen Anmerkungen zu Georg Ernst Stahls „De visitatione aegrorum / Überlegungen zum ärztlichen Hausbesuch“ (Halle 1703) Stahls Ausführungen ähnlich lautende Zitate von Autoren des 20. Jahrhunderts gegenüberstellt;
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über das ärztliche Selbstverständnis, die adäquate Etikette bzw. den ärztlichen Anstand im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert.5 Einzelne dieser Schriften werden verschiedenen Textsorten zugeordnet: der Confessio-Literatur,6 der Gattung der Quaestiones7 oder auch dem moraltheologischen Schrifttum.8 Daneben bildet sich ein eigenes Genre der Medicus politicusLiteratur aus,9 bei der die ärztliche Klugheitslehre, wie man es bezeichnen könnte, im Mittelpunkt steht.10 In diesem Umfeld erschien 1698 die anonyme Schrift Machiavellus medicus, die inzwischen allgemein dem Chemiker und Arzt Jakob Barner (1641–1686) zugeschrieben wird.11 Demnach wurde sie erst einige Jahre postum publiziert, allerdings kursierte sie nach der Angabe Valentinis bereits einige Zeit unter den Ärzten und wurde unter der Hand weitergereicht.12 Der
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vgl. Georg Ernst Stahl: Disputatio inauguralis de passionibus animi corpus humanum varie alterantibus (Halle 1695), Propempticon inaugurale de synergeia naturae in medendo (Halle 1695), Dissertatio inauguralis medica de medicina medicinae curiosae (Halle 1714) §§ XX–XXIV, De visitatione aegrorum programma (Halle 1703), eingeleitet, ins Deutsche übertragen und erläutert von Bernward Josef Gottlieb (Sudhoffs Klassiker der Medizin, Bd. 36), Leipzig 1961, S. 72. Barbara Elkeles: Arzt und Patient in der medizinischen Standesliteratur der frühen Neuzeit. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann, Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit, Bd. 10), S. 131–143. Sehr ausführlich dazu: Barbara Elkeles: Aussagen zu ärztlichen Leitwerten, Pflichten und Verhaltensweisen in berufsvorbereitender Literatur der frühen Neuzeit, Diss. med. Hannover 1979. Z.B. John Browne: Religio medici. Ein Versuch über die Vereinbarkeit von Vernunft und Glauben (1642), übertragen und herausgegeben von Werner v. Koppenfels, Berlin 1978. Rodericus a Castro: Medicus politicus: Sive de officiis medico-politicis tractatus, Hamburg 1614. Beispiele vgl. Elkeles, Arzt und Patient (wie Anm. 5), S. 133. Eindeutige Zuordnungen zu dieser Kategorie gestalten sich schwierig, zumal nur zwei Werke diesen Begriff im Titel selbst führen; vgl. Elkeles, ebd., S. 132. Vgl. Wolfgang U. Eckart: „Medicus Politicus“ oder „Machiavellus Medicus“? Wechselwirkungen von Ideal und Realität des Arzttypus im 17. Jahrhundert. In: Medizinhistorisches Journal, Bd. 19 (1984, H. 3), S. 210–224; Ders.: Anmerkungen zur „Medicus“- und „Machiavellus Medicus“-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Benzenhöfer / Kühlmann: Heilkunde und Krankheitserfahrung (wie Anm. 5), S. 114–130. Ausgehend von einer von Valentini in seiner Vorrede geäußerten Vermutung; über den vermutlichen Verfasser sind nur wenige Informationen verfügbar ; vgl. Eckart, „Medicus Politicus“ (wie Anm. 10), S. 216 f. Tatsächlich lassen sich – dank des Internets – mehrere Druckausgaben ermitteln: Machiavellus medicus, seu Ratio status medicorum, Secundum Exercitium Chymicum delineata, & in certas Regulas redacta, atque Ob usum, qvem Junioribus Practicis praestat, publicae luci donata, / Philiatro, Argentorati [1698]. Eine Ausgabe mit dem gleichen Titel, Argentorati [1718]. Bereits 1722 ist eine deutsche Übersetzung nachweisbar (die Eckart entgangen war): Der Medicinische Machiavellus, Oder : Die Staats=Klugheit Der Medicorum, In Gewisse Regeln verfasset, und zum Nutzen der Neuangehenden Practicorum ans Licht gegeben von Philiatro. Nach dem Lateinischen Exemplar ins Deutsche übersetzet Anno 1722. Die weitere deutsche Fassung erschien unter dem leicht veränderten Titel: Der Medicinische Machiavellus, Oder : Die Staats=Klugheit der Medicorum, in Gründliche Regeln verfasset, Und zum Nutzen der Neuangehenden Prac-
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Verfasser selbst betont den Neuigkeitswert seiner Abhandlung, ärztlich-deontologische Fragen mit dem Macchiavell in Verbindung zu bringen, der einen Staatsmann beriet, wie und mit welchen Mitteln er politisch reüssieren und seine Interessen durchsetzen könnte.13 Der Inhalt besteht aus 34 Paragraphen, in denen sehr konkrete Anweisungen vorgestellt werden, wie ein Arzt in analoger Weise zu verfahren habe, um eine gut situierte Praxis zu erreichen und diese zu sichern. Der Autor, der sich selbst als ein Mitglied der ärztlichen Zunft zu erkennen gibt, stellt ausdrücklich fest, dass die anempfohlenen Mittel und Methoden keineswegs illegal seien. Allerdings bewegen sie sich durchaus im Rahmen von Unehrlichkeiten, Unlauterkeiten, ja Betrügereien der verschiedensten Art, die gerade auch das zentrale und sehr sensible Verhältnis zwischen Arzt und Patient betreffen. Dem jungen Arzt wird geraten, gute Beziehungen zu den Geistlichen zu pflegen, sie womöglich selbst als Patienten zu gewinnen, um von diesen Ansehen genießenden Autoritäten und ihren breiten Kontakten, sei es an den Krankenbetten oder auf der Kanzel, profitieren zu können. Auch eine passende Heirat könne dazu dienen, sich geschickt in seinem gesellschaftlichen Umfeld zu positionieren und sich seine Patienten zu sichern. Es sind Tipps zu lesen, wie der Arzt es vermeiden kann, sich einer Blöße, etwa der Unsicherheit oder Unkenntnis in der Diagnose und Behandlung seiner Kranken, auszusetzen, sondern stattdessen möglichst zu erreichen, stets als kompetenter Experte auch im Vergleich zu seinen Kollegen angesehen zu werden. Begibt sich ein Patient von einem anderen Arzt in seine Behandlung, so soll er durchaus den Therapieplan seines Kollegen als für den vorliegenden Fall völlig ungeeignet verwerfen. Der Praktiker findet Anleitungen darüber, wie zu verfahren sei, um eigene Medikamente einsetzen zu können, den Apotheker auf Distanz zu halten, ihm aber dennoch ein einträgliches Auskommen zu sichern. Selbst psychologische Überlegungen sind mit einzubeziehen, etwa im Umgang mit den Frauen, die in Krankheitsfällen oft zu Rate gezogen werden und auch im Bereich familiärer Pflege eine Schlüsselposition einnehmen. Um in seinem Beruf erfolgreich zu sein – und dieser Erfolg bemisst sich nach der erreichten gesellschaftlichen Stellung, seinem Ansehen und nicht zuletzt seiner ökonomischen Situation – muss der Arzt seine Patienten beeindrucken,14 durch listiges Aushorchen kann er bei der Uroskopie Erstaunen und Anerkennung erzielen;15 einzelne Maßnahmen, ticorum ans Licht gegeben von Philiatro. Nach dem Lateinischen Exemplar ins Deutsche übersetzet, Straßburg 1745. 13 Ich beziehe mich im Folgenden auf die deutsche Ausgabe von 1745; vgl. hier die Vorrede. 14 Bauern und einfachen Leuten sollten Antimonialia verabreicht werden, die die Faeces schwarz färben, um ihnen vor Augen zu führen, in welche Gefahr sie hätten geraten können; Machiavellus (wie Anm. 12), § XXXI. 15 Die Harnschau war eine seitens der Patienten traditionell sehr häufig nachgefragte Form der Diagnostik; vgl. zur Geschichte der Harnschau Michael Stolberg: Die Harnschau. Eine Kulturund Alltagsgeschichte, Köln – Weimar – Wien 2009; zur Medicus-politicus-Literatur, vor allem zu Castro und Hoffmann, s. S. 169–171.
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wie der Aderlass oder das Klystier, werden auch ohne medizinische Indikation verordnet. Die Anweisungen dieser Schrift scheinen alle Kriterien eines ethischen Verhaltenskodex zu konterkarieren, und so wird sie dem Medicus politicusGenre gegenübergestellt.16 Sie wird als Satire klassifiziert und in die Tradition der medizinkritischen Literatur eingeordnet, wobei die Eigenschaften der Scharlatane auf den studierten Arzt übertragen würden. Anstatt Lug und Trug anzuprangern, fordere die Schrift „ausdrücklich zu jeder Menge medizinischer Untaten“ auf.17 Als „krasses Gegenstück zu den moralisch aufgeladenen Vorbildern des medicus optimus und politicus“ ziehe diese Satire „die medizinethische Literatur der Zeit ins Lächerliche.“18 Nach eigener Angabe verfolgt der Verfasser die Intention zu beschreiben, „was in der Praxi sich täglich bey den Herren Medicis zuzutragen pfleget“.19 Immer wieder führt er einzelne ihm bekannte Fälle an, und aus diesen Beispielen der täglichen Erfahrung abstrahiert er die vorgestellten allgemeinen Verhaltensregeln. Oberflächlich betrachtet, vermittelt die Schrift den Eindruck, als handele es sich hierbei um ein getreues Abbild der Realität, als trete der Autor an, dem in den medizin-ethischen Schriften propagierten Decorum des Arztes den realen Spiegel entgegenzuhalten, um damit das Ideal als Ideologie zu entlarven, wobei zugleich jeder Arzt unter Generalverdacht geriete. Der Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen scheint in besonderer Weise verbürgt zu sein, da der Autor aus einer vermeintlichen Insider-Perspektive berichtet. So befindet sich die Medizin in einem beweinenswerten Zustand.20 Eine genauere Analyse des Textes ergibt jedoch ein differenzierteres Bild. Immer wieder rekurriert der Verfasser auf Hippokrates als die unbezweifelte Autorität der Normen ärztlichen Verhaltens. Werden diese Werte nun geradezu pervertiert, so ist dies nicht zwingend der Ausdruck einer bedenkenlosen Preisgabe des ethischen Fundaments medizinischen Handelns. In allen Fällen zeigt sich vielmehr, dass der Arzt nicht frei agieren kann, sondern beständig reagieren muss – nach Maßgabe des ihm zugestandenen legitimen Interesses, von seiner Berufsarbeit ein gesichertes – und gutes – Auskommen zu erzielen. Der Arzt sieht sich konfrontiert mit einem unübersehbaren Angebot von Anbietern auf dem Gesundheitsmarkt: „Von allen Profeßionen machen sich die desperatesten Kerl, so weiter nichts anzufangen wissen, und die auf das gottloseste gelebet, zu Medicis.“21 Mit diesen nicht autorisierten Heilern stehen die „rechtmäßigen Doctores so auf Academien promoviret“ und lange 16 Dem Idealtypus des „Medicus politicus“ stehe der „Machiavellus medicus“ „geradezu antinomisch“ gegenüber, so Eckart; vgl. Eckart, „Medicus politicus“ (wie Anm. 10), S. 223. 17 Klara Vanek: Scharlatanerie und Ärzteschelte. Der Machiavellus Medicus. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 17 (2013), S. 309–333; S. 318. 18 Ebd., S. 319. 19 Machiavellus (wie Anm. 12), Vorwort, S. 4. 20 Ebd., S. 7. 21 Ebd.
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Jahre in ihre Ausbildung investiert haben, in Konkurrenz, insofern jene größeren Zulauf haben und durchaus in ihren Behandlungen besonders bei äußeren Schäden auch die besseren Erfolge aufzuweisen haben.22 Zugleich stehen aber die akademischen Ärzte ihrerseits untereinander in Konkurrenz um die Patienten, die ihre Hilfe nachsuchen.23 Des Weiteren werden die Ärzte auch durch die Kranken in vielfacher Weise reglementiert. Traditionelle Gewohnheiten, teilweise mit lokalen Besonderheiten, prägen Erwartungshaltungen, auf die der Therapeut eingehen muss, die er zu berücksichtigen hat, will er den Patienten nicht an die Konkurrenz verlieren. Außerdem sind soziale Unterschiede zu beachten. Der gut situierte Patient fordert ein weitgehendes Mitspracherecht bei Therapieplan und Medikation,24 er stellt ein klares Anforderungsprofil an seinen Arzt. Der gemeine Mann hingegen habe einzig Zutrauen zu Jahrhunderte alten Praktiken und Vorbehalte gegen alles Neue, und auch diese Erwartungshaltungen muss der Arzt bedienen, will er von den Kranken anerkannt werden.25 Der traurige Zustand der Medizin, wie ihn der Verfasser beklagt, liegt also primär in der fehlenden Absicherung der „vernünfftige[n] Medici“26 begründet, um ihren Beruf allein nach Maßgabe ihrer Erkenntnisse, der Bedürfnisse ihrer Patienten und entsprechend deontologischer Wertvorstellungen ausüben zu können. Um ihr Auskommen zu sichern und sich gegenüber der Konkurrenz auf dem Gesundheitsmarkt zu behaupten, glauben sie sich genötigt, deren unlautere Methoden zu adaptieren, während sie sich im Umgang mit den Kranken veranlasst sehen, sich an deren vielfältige Erwartungshorizonte anzupassen. Tatsächlich wird scheinbar beiläufig deutlich, dass es natürlich nicht allein um das ökonomische Auskommen des Arztes geht, das er berechtigterweise sucht, sondern dass hier auch weit darüber hinausreichende Standards von Reichtum und gesellschaftlicher Geltung angestrebt werden. In den hippokratischen Schriften zur Sitten- und Standeslehre wurde festgestellt, der Arzt habe auf Sauberkeit zu achten, „er muß eine anständige Kleidung tragen und wohlriechende unverfängliche Salben gebrauchen. Dies alles pflegt nämlich den Kranken angenehm zu sein.“27 Der 22 Ebd. 23 Ebd., S. 29. 24 So werden traditionelle Methoden favorisiert und etwa chymiatrische Medikamente abgelehnt; vgl. ebd., S. 19, 25, 30. 25 Ebd., S. 9. Hinzu kommt die Diskrepanz zwischen alten und jungen Ärzten: „Ja auch die alten Medici selbst, die nichts als von humoribus wissen, verwerffen die neuen Lehr=Sätze in der Medicin ebenfalls, und damit sie ihr Ansehen bey den Patienten recht groß machen mögen, so sprechen sie: es sind Sachen, die noch nicht experimentiret sind.“ Ebd. 26 Ebd., S. 7. 27 Hippokrates: Werke. Die hippokratische Schriftensammlung in neuer deutscher Übersetzung. Hg. v. Richard Kapferer, Stuttgart – Leipzig 1934, Teil 1: Sitten- und Standeslehre, 5. Buch: Der Arzt, S. I/51-I/59; Kap. 1, S. I/53 (Salben dienten als Mittel der Haut- und damit der Gesundheitspflege). Vgl. auch Das ehrbare (ärztliche) Verhalten, ebd., 3. Buch, S. I/30–38, Kap. 3, S. I/ 32: „Sie [die Vertreter der (richtigen) Weisheit] sind sowohl an der Wohlanständigkeit wie an
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Philiater indessen rät unter verfälschender Bezugnahme auf die antike Autorität: Hippokrates schärffet diese Regel von der galenten [!] Kleidung gar fleißig ein: Man kleide sich also galant, man trage wohlriechende und balsamische Sachen bey sich, und zeige, daß man sich des Rechts bediene, welches Ant. Musa erlanget, indem man nämlich die Finger mit Ringen bestecket. In der rechten Hand führe man eine Rose oder Citrone etc. und diese schencke man den Patienten, wenn sie insonderheit darnach sehen und einen Gefallen daran haben.28
Primär allerdings werden für den beweinenswerten Zustand der Medizin die strukturellen Mängel geltend gemacht, die in ihren Konsequenzen zu solchen Abwegen führen. Durch die satirische Überzeichnung gelingt es dem Autor, diese vielschichtige Problematik prägnant zu erfassen. Bezeichnenderweise räumt er ein, dass mit den aufgestellten Regeln derjenige „übel zufrieden sein“ werde, „der diese Künste auch selbst aus Noth zuweilen gebrauchet.“29
II. Valentini Der Machiavellus medicus thematisiert wesentliche Komponenten der problematischen Bedingungen ärztlicher Praxis, die eine selbstbestimmte Ausrichtung an ethischen Verhaltensnormen zu vereiteln drohen. In der Konsequenz ergeben sich pervertierte Regeln, wie sie hier vorgestellt werden, die der Schlichtheit ihrer Kleidung zu erkennen; sie ist nicht dazu gemacht, Aufsehen zu erregen, sondern vielmehr Ansehen zu verleihen und zum Ausdruck des gedankenvollen Wesens, ihrer inneren Sammlung und ihres Auftretens.“ 28 Machiavellus (wie Anm. 12), S. 10. Ein solches Auftreten geht offenbar auf den Leibarzt des Kaisers Augustus zurück. Hier wird allerdings das gesellschaftliche Ideal des galant homme propagiert, der insbesondere auf seine Außenwirkung bedacht ist. 29 Ebd., Vorrede, S. 5. Damit wird eine die Medizin latent begleitende Problematik thematisiert. Insbesondere im 18. Jahrhundert suchte man nicht autorisierte Heiler durch gesundheitspolizeiliche Maßnahmen zu verdrängen, wobei insbesondere die Medizinalordnungen zu nennen sind, die reglementierend in den Gesundheitsmarkt eingreifen und die Qualitätssicherung medizinischer Angebote gewährleisten sollten. In Verbindung damit bemühte sich die medizinische Aufklärung um die zunehmende Akzeptanz der akademischen Medizin in der breiten Bevölkerung; vgl. z. B. Irmtraut Sahmland: Die Medizinalordnung von 1778 und die medizinische Versorgung im Marburger Raum. In: Perspektiven der Medizingeschichte Marburgs. Neue Studien und Kontexte. Hg. von Irmtraut Sahmland und Kornelia Grundmann, Darmstadt – Marburg 2011 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 162), S. 59–85. Auch die von Abhängigkeit geprägte Beziehung des Arztes zu seinem Patienten in einem „PatronageVerhältnis“, die die Deutungsmacht bei dem Kranken beließ, ist von Ärzten viel beklagt worden. Sie änderte sich insbesondere durch die Verlagerung der Behandlung aus dem privaten Raum in Krankenhäuser; im Zuge dieses Strukturwandels wurde der Arzt zum unbestrittenen Experten. Vgl. Giovanni Maio: Arztbild. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hg. v. Werner E. Gerabek [u. a.], Berlin – New York 2005, S. 106–108.
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geeignet erscheinen, die Brisanz der Lage deutlich zu machen und den unmittelbaren Handlungsbedarf anzuzeigen, um nicht in die Scharlatanerie abzugleiten und das ärztliche Ethos zu verraten. In ähnlich schonungsloser Weise skizziert Georg Ernst Stahl nur wenige Jahre später die Situation des ärztlichen Standes: Will einer in heutiger Zeit die Medizin deshalb lernen und ausüben, um damit sein Brot zu verdienen oder gar Reichtum zu erwerben, so muß er viel in sich hineinfressen und dazu noch dieses Ungemach, dem Patienten stets auf Wink und Willen zu Gebote zu stehen, als die leichteste und ehrlichste Form desselben erachten. Trotz allem wird er wenig Nutzen davon haben, wenn er dieses Vorgehen nicht noch durch viele Nebenbedienungen unterstützt, etwa dem Patienten nach dem Maul schwatzt, Neuigkeiten zum besten gibt, schmeichelt, auf eine gewisse Stunde zu helfen verspricht. Trifft letzeres [!] dann nicht ein oder läuft es übel ab, so muß er die bittersten Scheltworte einstecken, und seine wohlverdiente, nach der Gebührenordnung sich richtende Honorarforderung kann er nur mit stärkstem Abzug oder gar mit obrigkeitlicher Hilfe beitreiben.30
Diese Programmschrift, die im Rahmen der Medicus politicus-Literatur meines Wissens bislang überhaupt nicht berücksichtigt wurde, könnte in der Charakterisierung der Bedingungen ärztlicher Arbeit geradezu als eine bestätigende Replik auf den Machiavellus medicus gelesen werden. Doch nicht Stahls Ausführungen sind hier näher zu betrachten; vielmehr ist Michael Bernhard Valentini zu nennen. Er, Professor für Medizin an der Universität Gießen, reagierte explizit auf den Machiavellus medicus, indem er ihn im Rahmen seines umfangreichen Werks Praxis medicinae infallibilis erneut veröffentlichte und ihn mit kritischen Anmerkungen versah.31 Offenbar werden die in seiner Vorlage traktierten Inhalte trotz der satirischen Überzeichnung als zu brisant eingestuft, als dass die Abhandlung mit Ignoranz gestraft oder kategorisch verworfen werden könnte. Vielmehr hält Valentini es für angemessen, Punkt für Punkt dazu Stellung zu nehmen,32 wobei er freilich gleich eingangs an seiner sehr distanzierten Position zu seiner Vorlage keinen Zweifel lässt. In sehr geschickter und pointierter Weise nimmt Valentini bereits in der Vorrede signifikante Umdeutungen vor, die eine weitestgehende Konterkarierung ankündigen. Der Autor habe, so der Kommentator, 30 Stahl: De visitatione aegrorum programma (wie Anm. 4), S. 57–58. 31 Michael Bernhard Valentini: Animadversiones ad Machiavellum medicum de Ratione status medicorum, cum Annexis corollariis medico-politicis. In Practicorum novellorum gratiam nunc primum in lucem editae, Francofurti ad Moenum MDCCXI. In: Praxis medicinae infallibilis, Bd. 1, Frankfurt am Main 1711. 32 Tatsächlich setzt er seine Kommentare in einer strengen Abfolge der fortlaufenden Paragraphen, und dieses Prinzip geht so weit, dass er an einer Stelle einräumen muss, er verstehe nicht so recht, was der Verfasser hier überhaupt sagen wolle – dennoch verfasst Valentini auch dazu eine Animadversio. Einzig die 3 letzten Paragraphen werden weggelassen; hier wiederholen sich Themenbezüge, wohl deshalb schienen sie verzichtbar zu sein.
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schließlich doch der Philargyria,33 der Geldgier der Menschen, nicht widerstehen können und eine Abhandlung publiziert, deren Inhalte vielfältig gegen die guten Sitten, die Frömmigkeit und die christliche Nächstenliebe stritten („contra bonos mores, pietatem & Christianam charitatem militant“). Damit sei sie geradezu darauf angelegt, die Gemüter der Anständigen zu verderben („ad corrumpendos ingenuorum animis fere natum“). Es gelte, zum Wohle der Philiatri34 die dort präsentierte Gemengelage des Guten und Bösen, also des Schädlichen und des Brauchbaren voneinander zu scheiden, womit angedeutet wird, dass es ihm um eine ernsthafte Auseinandersetzung geht. Bemerkenswert erscheint der Begriff Pietas, der in diesen Jahren als ein Signalwort verstanden werden musste.35 Die geistesgeschichtliche Einordnung des Gießener Medizinprofessors ist leider bislang noch nicht eingehender untersucht worden. Allerdings war die Gießener Universität um die Wende des 17. und frühen 18. Jahrhunderts deutlich pietistisch geprägt,36 und Valentini kann dieser Glaubensrichtung zugeordnet werden.37 Auch in seinen Animadversiones gibt es Hinweise darauf. Seine Vorrede endet mit der Perspektive, dass demjenigen, der seinen Anleitungen folge, für seine zukünftige ärztliche Praxis Gottes Segen in Aussicht stehe, „sine qua nulla felicitas nullusque rerum successus. Fac tua, quae tua sunt, caetera crede DEO“. Das Sich- aufgehobenWissen in der göttlichen Begleitung, Unterstützung und Vorsehung ist die Grundlage allen Bemühens, und es ist eine unabdingbare Voraussetzung für die in den Medicus-politicus-Schriften38 thematisierte Felicitas bzw. Fortu33 Eben das ist ein wesentliches Prinzip, an dem sich die Mediziner – angeblich – ausrichten. 34 Der Anonymus hatte sich selbst als ein solcher bezeichnet. 35 Im Anschluss an die Schrift von Philipp Jacob Spener: Pia desideria, Frankfurt/M., 1676, wurden dessen Anhänger seit 1677 Pietisten genannt. 36 Vgl. Walther Köhler : Die Anfänge des Pietismus in Gießen 1689 bis 1695. In: Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Beiträge zu ihrer Geschichte. Festschrift zu ihrer dritten Jahrhundertfeier. Hg. von der Universität Gießen, Bd. 2, Gießen 1907, S. 133–244; vgl. Peter Moraw: Kleine Geschichte der Universität Gießen, Gießen 1990 (2. Aufl.), S. 74–80; vgl. Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt, Gießen 1984; vgl. ferner Horst Carl: Gießener „Geschichtsdeuter“. In: Gießener Universitätsblätter, Bd. 46 (2013), S. 107–118. 37 Vgl. Jost Benedum / Christian Giese: Die Professoren der Medizin in der Gießener Gemäldegalerie, Gießen 1983 (Arbeiten zur Geschichte der Medizin in Gießen, Bd. 5), S. 73–85: Michael Bernhard Edler von Valentini (1657–1729). Professor der Medizin in Gießen (1697–1729); Ulrike Enke: Peripherie als Innovationspotential? Das Beispiel des Gießener Medizinprofessors Michael Bernhard Valentini (1657–1729). In: Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen: Institutionen, Akteure und Ereignisse von der Gründung 1607 bis ins 20. Jahrhundert. Hg. v. Ulrike Enke, Stuttgart 2007, S. 39–80. Moraw gibt – allerdings ohne nähere Belege – an, Valentini habe mit den Pietisten sympathisiert; vgl. Moraw: Kleine Geschichte (wie Anm. 36), S. 76. Einer seiner Söhne, Christoph Bernhard Valentini (1695–1728), war seit 1727 Leibarzt verschiedener Wetterauer Grafen sowie in Berleburg, wo er im Zuge einer dortigen Fieberepidemie 1728 erkrankte und starb; vgl. [Meyer-] Habrich, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 86; Benedum / Giese, Professoren, S. 74. 38 Diesen ordnet sich Valentini zu, was aus dem Hinweis hervorgeht, dort sei alles „salubriter“ ausgeführt.
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na.39 Der Kommentar endet mit der Feststellung, alles Wirken des Arztes habe sich auf die Ehre des einzigen Gottes und des Nächsten auszurichten; darin sei das alleinige Heil zu erhoffen und dies sei als das letztendliche, eigentliche Ziel anzusehen.40 Statt die Inhalte im Einzelnen vorzustellen, sollen sie hier summarisch charakterisiert werden. Das ärztliche Ethos muss sich allein auf den Kranken und dessen Belange hin orientieren, die ausschließlich im Mittelpunkt stehen. Die Gesetze der Humanität gegenüber dem Kranken, die mit der Ehrbarkeit zu temperieren ist, dürfen keinesfalls überschritten werden.41 Jedwede Nebeninteressen sind zu verwerfen.42 So bemisst sich z. B. die Häufigkeit von Krankenbesuchen ausschließlich nach dem Zustand des Patienten, keinesfalls dürfen hierbei etwa abrechnungsorientierte Überlegungen Platz greifen. Ein übermäßiger Eifer, den Patienten aufzusuchen, wird insbesondere deshalb verworfen, weil er dem Kranken zum Schaden gereiche: Die dadurch unnötig produzierten Kosten trieben ihn in die Arme der Empiriker, von denen er eine weniger qualifizierte medizinische Betreuung zu erwarten hätte.43 Der Arzt ist stets der Wahrheit und Aufrichtigkeit verpflichtet.44 Das Arzt-Patient-Verhältnis muss von Zutrauen des Kranken geprägt sein, das geradezu als Seele der Arzneimittel bezeichnet wird und die Voraussetzung für deren Wirkung darstellt („aegrorumque confidentia quasi anima medicamentorum dici posset“).45 Einer günstigen Prognose ist es zudem zuträglich, wenn der Cu39 Vgl. Elkeles, Arzt und Patient (wie Anm. 5). 40 Valentini, Animadversiones (wie Anm. 31), S. 71; siehe auch S. 69 f.: Bei undankbaren Patienten solle man darauf vertrauen, dass Gott dem Frommen und Guten über seine ganze Lebenszeit hin schon das Nötige ersetzen wird. Valentini endet mit der Gebetsformel: Lob, Ehre und Ruhm sei Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, in Ewigkeit, Amen! (S. 71). 41 Ebd., S. 22. 42 So soll der junge Arzt nicht etwa darauf bedacht sein, mit einer Heirat eine gute Partie zu machen; während er als Alleinstehender durch Nebentätigkeit seine Subsistenz erhalten müsse, werde ihm durch den Ehestand – der Gottes Willen gemäß und ehrenwert sei – Manches erleichtert; vgl. S. 36. Steht hier einerseits offenbar die frühneuzeitliche Idee des Arbeitspaares im Hintergrund (vgl. Heide Wunder: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 96–117; S. 98), so erweitert sich andererseits das Arbeitsfeld eines verheirateten Arztes, der prinzipiell auch in geburtshilflichen Fällen konsultiert werden kann. Im Kontext der Akzeptanz männlicher Geburtshilfe ist auch der verheiratete Familienstand des Arztes ein Topos. 43 Ähnliches gilt für das Verhältnis des Arztes zum Apotheker: Auch hier ist darauf zu sehen, dass der Patient nicht aufgrund der hohen Kosten dem medikamentösen Angebot ausweicht; vgl. ebd., S. 41. 44 Diese Forderung steht in Verbindung mit der Harnschau, die in allen diesen Texten offenbar aufgrund ihrer großen praktischen Bedeutung thematisiert wird. Valentini schlägt ersatzweise das Gespräch vor, also die intensive Befragung des Überbringers des Harnglases (die Uroskopie war oftmals eine Form der Ferndiagnose). Allerdings setzt er hinzu: „Mundus vult decipi“ und führt ein Beispiel an, das er Rodericus / Castro entlehnt und das sich des Klischees des tumpen Bauern bedient; vgl. ebd., S. 58. 45 Ebd., S. 17 mit Bezug auf Avicenna. Vgl. auch Stahl: Hausbesuch (wie Anm. 4), S. 56: „Denn ein furchtsames und verzagtes Gemüt nimmt den Arzneien die Kraft. Sie können nicht zur rechten
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ratio, dem therapeutischen Bemühen um den Körper des Patienten, die Cura, die Sorge für dessen Seele, vorausgeht: Dadurch wird der Kranke in einen ruhigen Gemütszustand versetzt, er kann sich Gottes Segen und dessen väterlichem Willen anvertrauen, und so können die Heilmittel ihre volle Kraft entfalten.46 Obgleich Valentini in einzelnen Punkten immer wieder auf die Autoritäten verweist,47 zeigt er sich geprägt von den Leitmotiven einer religiös-christlichen ,Grundierung‘, die als pietistisch anzusprechen ist. Ist der Text eingerahmt und durchzogen von religiösen Bezügen, so müssen auch das ärztliche Selbstverständnis und die Arbeit mit den Patienten von den Wertvorstellungen des christlichen Glaubens getragen sein. Im Zentrum seines deontologischen Konzepts steht das kranke Individuum. Ohne alle Nebenabsichten oder taktisch-strategisches Verhalten hat sich der Arzt allein darauf zu konzentrieren. Er muss den Kranken in seiner Ganzheit (be)achten, das therapeutische Bemühen bei somatischen Leiden darf die seelisch-psychische Verfasstheit des Krankheitsträgers nicht ausklammern, wenn Heilung möglich werden soll. Sollte dennoch Undank des Arztes Lohn sein, so spricht Valentini ihm die Zuversicht zu, Gott lasse den Frommen und Guten, die standhaft und treu in ihrer Stellung ausharren, das Notwendige stets überflüssig zukommen. Sicut enim Deus omnibus vitae temporibus subsidia piis bonisque necessaria adunde largitur, dummodo vocationis suae munere fideliter & diligenter fungantur : ita divitiarum honorumque augmenta, citra multum negotium, citraque animi curas, tempore adjicit iis, qui in statione sua perseverant & necessaria quaeque ab ipso petere atque expectant praesentibus animis audent.48
Auf der Grundlage pietistischer Glaubensvergewisserung kann den zeitgenössischen Tendenzen des Verlustes deontologischer Normen eine Ethik gegenübergestellt und eingefordert werden, die, an die antike Tradition anknüpfend, sich dezidiert an christlichen Werten ausrichtet. Tatsächlich stellen Valentinis Animadversiones einen ersten Versuch dar, das Decorum medici von den Machiavellischen Torheiten zu reinigen.
Wirkung gelangen. Der Arzt jedoch kann durch tröstlichen Zuspruch und durch die Versicherung, daß es keine Not habe, daß man geduldig aushalten müsse, beruhigend auf den Patienten einwirken.“ Tatsächlich ist dies ein Topos, der sich allenthalben findet. Auch im ,Machiavellus medicus‘ wird die Bedeutung einer Vertrauensbasis hervorgehoben, die allerdings durch eine oberflächliche Bedienung von Erwartungshaltungen erreicht werden soll. 46 Valentini, Animadversiones (wie Anm. 31), S. 50. 47 Seine Referenzen sind insbesondere Hippokrates und Avicenna, aber auch zahlreiche zeitgenössische Autoren. 48 Ebd., S. 70.
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III. Carl Johann Samuel Carls Schrift führt eben dieses Anliegen im Titel. Im Unterschied zu Valentinis sehr enger Ausrichtung an seiner Vorlage zeigt Carls Abhandlung einen völlig anderen, auffallend souveränen Charakter. In der Vorrede wird grundsätzlich festgestellt: Hierdurch werden nun auf einmal zernichtet alle Machiavellische Rathschläge de Fortuna & Decoro Medici, die so eifferig gelehret und erlernet werden; weil sie nicht einmal der Vernunfft zum Medicinischen Zweck tüchtig und würdig seyn; vielweniger daß sie zu einer höheren Weißheit sollten leiten können. Dahero ist hier im Eingang diese erste Anmerckung / daß alle solche Staats=Streiche / sich berühmt zu machen / reich zu werden / sich in Ruhm zu setzen / praxin und Dienste leicht zu erlangen / als der Medicin und dem Medico vor Gott und der Welt unanständige Thorheiten erkannt und verworffen werden.49
Intentionen und Motive eines christlichen Arztes, und um diesen geht es Carl, sind andere, und demzufolge müssen auch die äußere Conduite und das Decorum des Arztes auf einer anderen Grundlage stehen. Und so tritt er an, „gesundere Vorschläge“ zu machen.
Aufgabe und Berufsbild des christlichen Arztes im geistig-religiösen Kontext Einem christlich geprägten triadischen Geschichtsmodell folgend, ging der paradiesische Zustand des Menschen durch den Sündenfall verloren. Er befindet sich gegenwärtig in einem Jammertal; aus dem himmlischen Wohnhaus in den „Dorn= und Distel=Acker verwiesen“,50 hat sich auch die Schöpfung verfinstert, denn der „im Fluch liegenden Creatur“ bleiben der Weltlauf in seinen Geheimnissen und Wundern und die Weisheit Gottes verborgen.51 Dies 49 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 7 f. 50 Besonders klar formuliert Carl diesen geschichtsphilosophischen Hintergrund in seiner 1719 erschienenen ,Diaetetica sacra‘: Johann Samuel Carl: Diaetetica sacra: Die Zucht des Leibes zur Heiligung der Seelen beförderlich: aus richtigen Natur=Gründen jedoch aller Göttlichen Ordnung gantz gemäß vorgestellt mir und all meinen Mit=Streitern zur täglichen Erinnerung und nötigen Ubung, o.O. 1719, S. 5. 51 Ebd., S. 16. Es sei angemerkt, dass der Sündenfall im mystisch-religiösen Denken, von dem auch die Alchimie geprägt ist, unterschiedlich bewertet wird: Einerseits ist die gesamte Schöpfung, also der Mensch und die Natur, aus dem paradiesischen Zustand gefallen, andererseits – und so auch in der Auffassung Carls – ist nur der Mensch betroffen, der den Einklang mit der Schöpfung verloren hat; vgl. Irmtraut Sahmland: „Die Natur in einer schönen Verknüpfung“: Goethes Adaption der „Aurea Catena Homeri“. In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes
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ist jedoch tatsächlich eine Zwischenzeit, ein Durchgangsstadium im Bemühen um die Wiedererlangung des Verlorenen, die Wiedergeburt des gefallenen Menschen als die Krone der Schöpfung und Gottes Ebenbild. Der Christ als ein Werkzeug Gottes hat innerhalb dieses teleologischen Plans seinen Beitrag zu leisten, indem er im festen Glauben an die Gegenwart des gütigen, helfenden Gottes engagiert für die Welt und sein eigenes Seelenheil, also auf zwei Ebenen, arbeitet. Der christliche Arzt nimmt hier gewissermaßen eine Sonderstellung ein. Er scheint zu diesem Werk vorzugsweise prädestiniert, steht er doch im Vergleich zu anderen Berufen in einer ganz unmittelbaren Christus-Nachfolge, da Jesus selbst als Arzt aufgetreten sei (Christus medicus).52 Jenseits dieses besonderen Konnexes ist der Arzt stets mit Krankheiten befasst, also mit Zeichen des gefallenen Zustands und Abweichungen von der Natur, um deren Therapie, also Revision er sich bemüht; damit eröffnet sich ihm in besonderem Maße die Möglichkeit, tiefere Einblicke in die Zusammenhänge der Natur zu gewinnen. Was ist das nicht für eine Tieffe des Reichthums in der Weißheit und Güte Gottes / die uns Medicis einzuschauen angewiesen wird / wann wir in dem Bild des historischen processus der äusseren und leiblichen Kranckheit nach allen special- und individualUmständen die innere Seelen Verschiedenheit und Kranckheit / worein sie der Abfall gebracht und biß hieher gehalten / besehen können?53
In Carls Diktion werden Krankheiten sinnhaft als Buße, als Strafe für begangene Sünden verstanden, und sie bieten eine Gelegenheit, auf den rechten Weg des Glaubens zurück- und auf dem Wege zum Seelenheil ein Stück voranzukommen. Nach diesem Verständnis sind Krankheiten ein Doppeltes: Es sind (vorzugsweise) somatische Beschwerden auf der Basis seelischer Unausgewogenheiten, wobei die Assoziation einer Psychosomatik vorschnell und allzu oberflächlich wäre.54 Vielmehr ist hier das Verhältnis zwischen Körper und Seele, Materie und Geist berührt und es wird zum cartesianischen Paradigma (Cartesianismus-Streit) eine grundsätzliche Position aus christlicher Perspektive bezogen. Johann Samuel Carl greift als Schüler Georg Ernst Stahls auf dessen Leibanalogisch-philosophische Konzepte. Hg. v. Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder, Tübingen 2004, S. 55–84; S. 66 f. 52 Vgl. zum Motiv Christus als Arzt und Christus als Apotheker [Meyer-]Habrich, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 20–34 (mit Abbildungen dreier Beispiele); vgl. auch Fritz Krafft: Christus als Apotheker : Ursprung, Aussage und Geschichte eines christlichen Sinnbildes, Marburg 2001; Ders.: Christus in der Himmelsapotheke mit reumütigem/r Sünder/in: die pietistische Erweiterung eines protestantischen Andachtsmotivs. In: Rosarium litterarum 2003, S. 161–182. 53 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), Zuschrift [o. Pag.]; vgl. auch S. 14; 19, 21. 54 Ähnliche Auffassungen finden sich auch bei Johann Conrad Dippel; vgl. Irmtraut Sahmland: Alle Krankheiten sind Seelenkrankheiten – Das Krankheitsverständnis Johann Conrad Dippels (1673–1734). In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde, Bd. 16, Würzburg 2010, S. 81–108; insbes. S. 88–95.
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Seele-Konzept zurück. Anstatt einer Dichotomie, nach der das körperliche Geschehen ohne Beteiligung der Seele aus sich selbst heraus zureichend erklärbar sei, wie man Descartes irrtümlicher Weise unterstellt hatte, postuliert Stahl eine intensive Interaktion beider Sphären, allerdings in einer quasi hierarchischen Anordnung unter Leitung der Seele. Dieses medizintheoretische Konzept war ausgesprochen anschlussfähig für ein christliches Welt- und Glaubensverständnis, die offenbare Affinität bedeutete geradezu eine gegenseitige Bestätigung, wenn nicht Evidenz.55 Stahls System, das Carl in seiner enthusiastischen Zuschrift geradezu als eine göttliche Offenbarung preist, um zu dem „endlichen Wiederbringungs-Werck“ zu helfen, ist ein Instrument, um „die gantze Oeconomiam vitalitatis in allen Kammern wohl zu durchschauen und ordnen zu lernen.“56 In der Perspektive beider Standpunkte liegt der Parallelismus zwischen der Medicina spiritualis und corporalis57 bzw. die Analogie zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Diese Spiegelung des Innen und Außen, die keineswegs als Dichotomie misszuverstehen ist,58 ist eine Grundannahme sowohl in Carls religiöser wie in seiner medizintheoretischen Ausrichtung: Es gilt,
55 Es ist zu betonen, dass Stahls Theorie, obgleich dieser selbst dem Pietismus zuzuordnen ist, sicher keine stringente Entwicklung bzw. Folgerung aus pietistischem Geist war ; vgl. [Meyer-] Habrich, Untersuchungen zur pietistischen Medizin (wie Anm. 1), S. 129; vgl. Richard Töllner : Die Geburt einer sanften Medizin. Die Begegnung von Pietismus und Medizin in den Franckeschen Stiftungen. In: Die Geburt einer sanften Medizin. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle als Begegnungsstätte von Medizin und Pietismus im frühen 18. Jahrhundert. Tagungsband zum Internationalen Symposion der Franckeschen Stiftungen vom 16. bis 19. April 1998. Hg. v. Richard Töllner, Halle 2004, S. 9–24; S. 22. Auch Helm ist betont zurückhaltend gegenüber der Annahme, Stahls Theorie sei vom Pietismus entscheidend beeinflusst worden. Insbesondere vermisst er bei Stahl grundlegende Kategorien etwa des pietistischen Krankheitsverständnisses (was jedoch nicht als ein zwingendes Argument gelten kann), er betont allerdings die Unterschiede und kommt zu der Behauptung, Stahls Konzept sei in der pietistischen Rezeption vereinfacht und verzerrt worden; vgl. Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform (wie Anm. 3), S. 45–47. 56 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), Zuschrift [o. Pag.]. Durch Stahls Theorie sei „das Mysterium vitalitatis nach aller dessen Haußhaltung und Handlung in Gesundheits= und Kranckheits=Zustand deutlich mit einer mathematischen Demonstration der Gewißheit einzusehen und darzustellen / dabey auch die einfältigste / sicherste und gewisseste Einweisung zur practischen application sich mit geoffenbahret“; ebd. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. dazu Sandra Pott: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, Berlin – New York 2002. Sie operiert mit dem Begriff der Säkularisierung nach Max Weber, um den Nachweis zu führen, dass eine weltliche Medizin „aus dem Entgegengesetzten entstanden [sei], nämlich aus Versuchen, eine christliche Medizin zu begründen“; S. 48 f. Bezugnehmend auf den Machiavellus medicus sowie die Medicus politicusLiteratur rekurriert sie auch auf Carls ,Decorum medici‘, wobei sie zugesteht, die Einordnung dieses Textes habe sich als schwierig erwiesen; ebd., S. 66. In völliger Verkennung des pietistischen Kontextes – zudem bei allzu sorgloser Verwendung der Begriffe Theologie und Religion – kommt Pott zu der Aussage, durch die Zweiteilung in eine ,innere‘ und ,äußere‘ Sphäre sowie
Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“ 33 das Leibliche in das Geistliche überzuführen / das Unsichtbare in dem Sichtbaren / das Übersinnliche in dem Sinnlichen / das Geistliche in dem Irrdischen und Leiblichen / zu beschauen / und also die grosse Buchstaben der äussern Natur zu lernen / wie der durch den Abfall verfinsterte Geist in denen äusseren Bildern der Leibes= und Hütten=Kranckheit und Genesung seine innere Gestaltniß / Kranckheit und Wiederbringung mit gleichem process sich abbilden / eindrucken / erlernen und erfahren möge.59
Ziel ist die zunehmende Befreiung der göttlichen Seele aus dem irdischen Körper, in dem sie wie in einem Gefängnis eingekerkert ist und sich in einem geradezu „fremden Element“60 befindet. Allerdings hat der gefallene Mensch nur einen begrenzten Zugang über die sinnlichen Erscheinungen, die als äußere Schalen das Wesen verborgen halten. In der Summe besteht das Aufgabenfeld eines christlichen Arztes aus drei kardinalen Elementen: Das therapeutische Bemühen um den Patienten konzentriert sich auf der Grundlage solider wissenschaftlicher Kenntnisse auf die Integrität des Körpers. Er wird als eine baufällige Hütte der Seele qualifiziert und dieser deutlich nachgeordnet, gleichwohl muss die Sorge ihrer unverzichtbaren Behausung gelten, um die einem Individuum vorausbestimmte Lebensspanne möglichst auszuschöpfen, innerhalb derer die Seele / der Geist sich zur Wiedergeburt / Vervollkommnung vorbereiten kann.61 Da Krankheit eine Konsequenz seelischen Unvermögens ist – einerseits in medizinischer Bedeutung verstanden als nur eingeschränkte Kontrolle über die Körperfunktionen, andererseits in religiöser Diktion als sündhafter Zustand gedeutet –, ist ein nachhaltiger Therapieerfolg nur in Verbindung mit einer Behandlung der Seele zu erreichen. Heilung ist immer auch ein Stück Heilsgeschehen, und durch die Hinwendung zu einem „lumen naturale“ befördere Carl eine dualistische Sicht; vgl. ebd., S. 67. 59 Carl, Decorum (wie Anm. 2), Zuschrift [o. Pag.]. 60 So Carl in seiner Diaetetica sacra (wie Anm. 50), S. 5, und die diätetischen Ratschläge sind folgerichtig darauf ausgelegt, in je eigener Weise diesen Prozess zu unterstützen, das „SündenThier“ zu bekämpfen und endgültig zu besiegen; vgl. ebd., S. 21. Dasselbe Bild verwendet noch 1815 Goethe im ,West-östlichen Divan‘: „Du weißt daß der Leib ein Kerker ist, j Die Seele hat man hinein betrogen, j Da hat sie nicht freie Ellenbogen.“ Johann Wolfgang von Goethe: Westöstlicher Divan. Hg. v. Hendrik Birus, Frankfurt/M. 1994 (FA I, 3), Teil I, S. 106 (und 410, 510), Teil II, Kommentar, S. 1320–1322. Für diesen ergänzenden Hinweis danke ich Hans-Jürgen Schrader. 61 Diese Wertigkeit des Körperlichen, die jedoch nicht mit Körperfeindlichkeit identisch ist, sondern nur ein Verhältnis zu einem höherwertigen Gut markiert, findet sich allenthalben, etwa bei Dippel; vgl. Irmtraut Sahmland: Pietistische Anatomie-Kritik. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. v. Udo Sträter, Tübingen 2009, (Hallesche Forschungen, Bd. 28/2), S. 795–808; S. 800 f.; Locke etwa bezeichnet den Körper als eine „Lehmhütte“, die der geistigmoralischen Ausbildung gegenüber nachrangig zu berücksichtigen ist; vgl. John Locke: Gedanken über Erziehung. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Heinz Wohlers, Stuttgart 1990, S. 8.
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so ist der Arzt zugleich „Priesterarzt“,62 denn in speziell pietistischer Diktion fallen beide Bereiche in Personalunion dem christlichen Arzt zu. Qua Amtes in dieses Geschehen involviert, wird der Arzt in die Nähe verborgener Geheimnisse geführt, die sich ihm partiell offenbaren können, und damit erzielt er in Ausübung seines Berufes sowohl wie für seine individuelle Vervollkommnung unmittelbaren Gewinn. Neben seinem therapeutischen und seelsorgerischen Auftrag steht drittens die beständige Arbeit für die eigene Wiedergeburt. Dieses quasi private Anliegen ist ein ganz entscheidendes Element, auf das Carl immer wieder insistiert: Auch jenseits der Berufsgeschäfte muss ausreichend Raum bleiben für praktische Religionsausübung und Kontemplation.63 Dies allein schafft die Ruhe des Gewissens, die positiv auf die Arbeit mit den Patienten zurückwirken kann. Aus dem so umrissenen Fundament ärztlicher Tätigkeit und dem Ziel, „zum Nutzen für den Nächsten und sich selbst“ zu wirken64 und nicht eine aurea praxis zu erstreben, sondern vielmehr Gold und Edelsteine Jerusalems zu gewinnen,65 ergibt sich das Anforderungsprofil des christlichen Arztes in Bezug auf sein Verhalten und den sittlichen Anstand. In sehr systematischer Abfolge werden alle Bereiche durchbuchstabiert, zu denen ein Arzt in Interaktion tritt und angesichts derer er sich positionieren muss. So wird das Decorum medici sehr grundsätzlich und differenziert entwickelt, wie die Gliederung der Schrift ausweist: 1. Decorum Theologicum 2. Ethicum 3. Politicum (gegen Gott, sich selbst, die Kranken, andere Medicos, Apotheker, Chirurgen, Quacksalber, Hebammen, Säugammen, Krankenwärter, Stands-Personen, Bediente/bes. geistlichen Standes) 4. Oeconomicum 5. Medicum Medici (Literarium, Physicum, Botanicum, Chymicum, Anatomicum, Physiologicum, Pathologicum, Therapeuticum) 6. Beschluß: Fortuna Medici Ohne dass hier die weitgreifenden Dimensionen, insbesondere die Positionierung des Therapeuten innerhalb der medizinischen Wissens- und Teil62 [Meyer-]Habrich, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 440. 63 Täglich sollte eine Stunde für religiöse Übungen und Kontemplation reserviert sein; vgl. Johann Samuel Carl: Schule des Heiligen Geistes, nebst einer Philadelphischen Einladung zu einer gewissen Gebetsversammlung im Geist, Züllichau 1730, S. 1 f, zit. nach Christa Habrich: Johann Samuel Carl (1677–1757) und die Philadelphische Ärztegemeinschaft. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann, Heinz Schilling und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), S. 272–289; S. 280. 64 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2),Vorrede, auch S. 3. 65 Ebd., Zuschrift [o. Pag.].
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disziplinen, verfolgt werden könnten,66 sollen vielmehr die Kernaussagen bzgl. des Arzt-Patient-Verhältnisses sowie des Verhältnisses des christlichen Arztes zu seiner gesellschaftlichen und sozialen Umwelt interessieren.
Arzt-Patient-Verhältnis Das Verhältnis des Arztes zu seinem Kranken steht unter einem geradezu Kantischen kategorischen Imperativ, allerdings in christlicher Diktion: Gottes= und der Natur=Gesetz verbindet uns gegen die Krancke durchgehends so umzugehen / als wir gern wünschen tractiret zu werden / wann wir an ihrer Stelle seyn müsten. Dieses solte ein allgemein Gesetz seyn / darnach sich alle Gedancken / Worte und Wercke richteten.67
Das Phänomen Krankheit als Ausdruck des Zurückgefallenseins der menschlichen Natur hinter die ursprünglich vollkommene Schöpfung verlangt einen doppelten Ansatz: Der Kranke muss medizinisch und seelisch betreut und behandelt werden. Den äußeren Menschen betreffend soll der Arzt nicht vorschnell handeln, sondern eine umfassende und sorgsame Anamnese erheben. Für die Therapie ist es sehr entscheidend, dass der Patient aufgeklärt wird, um den Therapieplan und die Medikation nachvollziehen und mitvollziehen zu können. Dies ist der moderne Gedanke des informed consent, der den Therapieerfolg ganz wesentlich an die Mitarbeit des Patienten knüpft. Behandler und Kranker müssen sich aufeinander einlassen. Es muss deutlich werden, dass es dem Arzt ein dringendes menschliches Anliegen ist und er alles daran setzt, umfassend Hilfe zu leisten, anstatt eine Dienstleistung zu erbringen und ihn etwa mit der schnellen Ausfertigung eines Rezeptes abzuspeisen. Der christliche Arzt soll das Herz des Patienten mit Liebe erweichen, damit dieser das nötige Vertrauen fassen kann. Widerwillige Personen verlangen ein hohes Maß an Geduld und Langmut; beides soll der Arzt aufbringen, solange er Hoffnung haben kann, dass der Kranke einlenkt und bereit ist, dem indizierten Behandlungsverlauf zu folgen.68 Bezüglich der 66 Hier wären insbesondere bezüglich der radikalpietistischen Position Carls und seines Kreises Aufschlüsse über medizin- und wissenschaftshistorische Innovationspotenziale ebenso wie über retardierende, fortschrittshemmende Elemente im Pietismus zu erwarten. Zu Johann Conrad Dippel vgl. Sahmland, Pietistische Anatomiekritik (wie Anm. 61); zu dieser Problematik vgl. auch Hans-Jürgen Schrader : Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hg. von Stefanie Stockhorst (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 17), Göttingen 2013, S. 91–130. 67 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 51. 68 Interessant sind die mehrfachen Hinweise auf die Bedeutung zeitökonomischen Verhaltens und effizienten Handelns, um auf dem Wege zur geistigen Vervollkommnung nicht aufgehalten zu werden.
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Prognose sind Behutsamkeit und Zurückhaltung erforderlich, doch stets muss der Weg der Wahrheit verfolgt werden.69 Ist der Ausgang zweifelhaft, soll der Patient indirekt über die Vermittlung der Angehörigen und Pflegenden, denen Carl insgesamt eine bemerkenswert bedeutende Rolle für die Behandlung zuweist, aufgeklärt werden. In Bezug auf den inneren Menschen fungiert der christliche Arzt als Seelenarzt. Dabei wird ausdrücklich festgestellt, dass dieses keineswegs ein Übergriff der ärztlichen Zunft in das Aufgabenfeld der Geistlichen ist: Es ist kein fremdes Werck / wann auch das medicinische Volck weissaget / den zerschlagenden und wieder heilenden Gott seinen Patienten verkündiget / mit ihnen sich vor Gott demüthiget / von dessen Erbarmung allein Hülffe suchet / die leibliche Kranckheit zum Seelen=Besten anwendet.70
Es muss möglichst ein Zugang zum Herzen des Kranken gefunden werden, um ihn auch in seiner seelischen Dimension ansprechen zu können:71 Durch gemeinsames Singen und Beten am Krankenbett sowie die Fürbitte des Therapeuten außerhalb der Krankenstube ist er bemüht, seinen Patienten auf die tiefere Bedeutung dessen Leidens einzustimmen und ihn die Gemütslage der Seelenruhe erreichen zu lassen, in der er sich in Gottes Ratschluss ergibt und von ihm Hilfe erhofft.72 Der Arzt steht hier in der Rolle eines Mittlers zwischen seinem kranken Nächsten und Gott, den er um dessen Barmherzigkeit bittet. Durch die pietistische Glaubensauffassung in Verbindung mit einem favorisierten Krankheitskonzept, das der Seele eine wesentliche Verantwortung für den somatischen Zustand des Individuums zuspricht, nimmt der christ69 Zahlreiche Details in Carls Ausführungen decken sich mit Valentinis Anleitungen zum adäquaten Umgang des Arztes mit dem Patienten. 70 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 61. 71 Interessant wäre es, die praktizierten Glaubensübungen der Pietisten mit dem Anteil zu vergleichen, den die Religion im Rahmen des medikalen Verhaltens der breiteren Bevölkerung einnahm. Zu Ende des 18. Jahrhunderts berichtet Christian August Struve im Zusammenhang mit der Auflistung verschiedener Vorurteile des Volkes: „Wenn der Kranke in Gefahr ist, so läßt man ihn kommuniziren. Dann glaubt man, ändere sich die Krankheit entweder zum Leben oder zum Tode. Das Schlimmste dabei ist, daß alle leibliche Arzneien ausgesetzt werden und daß manche nicht eher, als bis sie kommunizirt haben, die nöthige leibliche Hülfe suchen, welches gemeiniglich dann geschieht, wenn die Krankheit gefahrvoll geworden, oder der Kranke ohne Rettung ist. Der Kranke überläßt sich ganz dem Himmel, in den er auch meistentheils aufgenommen wird.“ Christian August Struve: Über einige auch in der Lausitz gewöhnliche Volksvorurtheile bei Krankheiten. In: Lausitzische Monatsschrift, Görlitz 1798, 1. Theil, S. 14–25, S. 66–76; S. 73 f. Hier wird deutlich die Sphäre des Körperlichen und die des Geistlichen voneinander geschieden und verschiedenen Zuständigkeiten zugewiesen, die geradezu in einem Konkurrenzverhältnis stehen. 72 Vgl. Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 43, S. 61 unter Hinweis auf Arndts und Arnolds Krankenbüchlein, seine ,Armenapotheke‘ sowie die ,Diaetetica sacra‘. Ähnlich auch Dippel, vgl. Christianus Democritus: Anderer Theil des Weg=Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur, oder entdecktes Geheimnüß des Segens und des Fluchs in denen natürlichen Cörpern, zum wahrhafften Grund der Artzney=Kunst in Liebe mitgetheilet, 2. Theil, o.O. 1704, S. 952.
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liche Arzt seinen Patienten ausdrücklich in seiner Ganzheit wahr, und er begegnet ihm im Idealfall auf Augenhöhe, und zwar unabhängig von dessen gesellschaftlicher Stellung, man könnte vielleicht sagen, in einer philadelphischen Gemeinschaft. In dieser Situation eines Gleichklangs der Seelen kann Heilung geschehen, denn Gott ist stets unmittelbar gegenwärtig.73 Der Arzt besucht den Kranken und hält gegebenenfalls Nachtwache, um den Krankheitsverlauf genau zu beobachten und die Signale erfassen zu können, die von dem inneren Archäus bzw. dem inneren Autocrator ausgehen und ihm angeben, was zu tun ist. Der Behandler ist Minister naturae, er muss die Zeichen des Unsichtbaren richtig deuten, um die Natur, die als Natura medicatrix erscheint, möglichst optimal zu unterstützen.74 In dieser Atmosphäre des Gleichklangs zwischen Arzt und Patient dürfen beide auf Hilfe hoffen. Nun können die einfachsten Arzneimittel ihre volle Wirksamkeit entfalten.75 Der Arzt behandelt nach Maßgabe seiner medizinischen Kompetenz wie seiner ihm gewährten Einsicht in das individuelle Krankheitsgeschehen; soll Heilung möglich werden, dann erfolgt sie in jedem Fall durch Gottes Gnade und Intervention. Im Wissen darum können beide, sowohl der Patient wie auch der Arzt, im Zustand der Seelenruhe den Ausgang des Heilversuchs getrost erwarten – er ist in jedem Fall Gottes Wille und sein Werk.
Der Arzt in der Gesellschaft Der christliche Arzt soll seinen Einsatzort nicht suchen, sondern im festen Vertrauen auf Gottes Leitung seinen Dienst dort aufnehmen, wo er sich hingestellt finden wird.76 Mögliche – und sehr begehrte – Einsatzfelder des Arztes 73 Vgl. Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 19, 20, 24, passim. 74 Während Carl dem Arzt in diesem Geschehen eine demütig-erwartende Haltung zuweist, charakterisiert Dippel den Arzt als Magus, der für diese Aufgabe erwählt sein muss. Im Unterschied zu Carl zeigt sich hier eine deutlich größere Affinität zur alchimistischen Denktradition; vgl. insbesondere Democritus: Anderer Theil des Weg=Weisers (wie Anm. 72); vgl. Sahmland, Alle Krankheiten sind Seelenkrankheiten (wie Anm. 54). 75 Carl vertritt nicht etwa die Auffassung, unter optimalen Bedingungen könnten selbst die einfachsten Mittel wirken, vielmehr ist es eine bewusste Setzung, dass Simplicia gegenüber komplexen und teuren Composita zu bevorzugen seien; vgl. Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 128. Außerdem sollen Wirkstoffe, die in der heimischen Natur vorhanden sind, gegenüber anderen bevorzugt werden. Diese Präferenzen leiten sich nicht aus ökonomischen Überlegungen ab, sondern sie sind religiös bedingt, denn wie die Nahrung, so werden dem Menschen auch im Krankheitsfall die nötigen Heilmittel in der ihn umgebenden Natur zur Verfügung gestellt; vgl. ebd., S. 123–126. In der allgemeinen Arzneimittelapplikation sind erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutliche Tendenzen hin zu einfacheren Präparaten erkennbar; vgl. Andreas Martin Mendel: Zur Alltagsgeschichte der Arzneimittelversorgung im 18. Jahrhundert. Die Arzneimitteltherapie im Hohen Hospital Haina zwischen 1732 und 1800, Stuttgart 2013 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 101), passim. 76 Carl: Decorum medici, ebd., S. 47.
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sind ein Engagement als Hofarzt oder eine Bestallung in anderweitigen Dienstverhältnissen. Dieses Terrain jedoch ist ausnehmend schwierig; es ist geradezu ein feindliches Umfeld, das den Arzt in allerlei Verwicklungen hineinzuziehen droht und eine große Herausforderung darstellt, sich nicht von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten etwa des geselligen Lebens beeindrucken zu lassen, was ihm seine Freiheit nimmt und viel wertvolle Zeit kostet, die er für sinnvollere Arbeit einsetzen könnte. Ist der Arzt in diese Zusammenhänge gestellt, dann soll er sich ausschließlich auf seinen beruflichen Auftrag konzentrieren, ansonsten möglichst seine Sinne verschließen, um nichts sonst wahrzunehmen, und möglichst wenig reden, um nicht von den ausliegenden Netzen umgarnt und in sie verstrickt zu werden. Die Empfehlung geht dahin, sich auf diesem öffentlichen Parkett möglichst isoliert, betont zurückhaltend und unbeteiligt zu verhalten, um nicht Gefahr zu laufen, Schaden zu nehmen. Ein entscheidendes Moment ist dabei, dass die moralische Integrität des christlichen Arztes keineswegs allein von außen bedroht wird; vielmehr geht die Gefahr auch von ihm selbst aus, der ebenfalls als Suchender gegen weltliche Begehrlichkeiten nicht gefeit ist, beständig muss er die „sich in und ausser uns einfindende Antichristische Feinde besiegen“.77 Leichter und mit weniger Anfechtungen verbunden ist dagegen eine freie private Praxis: „Wer frei ist und bleiben kan / der wird ja die Knechtschafft nicht suchen / um ein wenig mehr Geld oder Ehre willen“,78 heißt es in deutlicher Anlehnung an den Wahlspruch des Paracelsus: „Alterius non sit, qui suus esse potest“.79 Kann er als approbierter Arzt arbeiten, so hat er sich auf dem Gesundheitsmarkt und insbesondere in der Beziehung zu seinen Kollegen und anderem Heilpersonal zu positionieren. Hier werden ganz konkrete Probleme des Praxisalltags behandelt wie die Frage eines Consilium medicum, das nach Lage des individuellen Falles für jeden, auch den mittellosen Patienten, anberaumt werden müsse und das kollegial, ohne Ränke und Übervorteilung des anderen als ein Expertengremium allein zum Wohle des Kranken arbeiten solle.80 In der Frage des angemessenen Verhaltens gegenüber dem Apotheker, der auf seinen Gewinn bedacht ist, soll der Arzt diesen zwar in seine Schranken weisen, jedoch wird Toleranz geübt, insofern dem Apotheker durchaus in Grenzen auch eigenes Medizinieren gestattet sein soll – im Gegenzug allerdings ist es dem Arzt erlaubt, Arzneien herzustellen und zu vertreiben.81 Ein ähnlich liberales Verhalten wird gegenüber den Chirurgen empfohlen.82 77 Ebd., S. 62. 78 Ebd., S. 47. 79 Dieser Sinnspruch findet sich in den beiden von Augustin Hirschvogel angefertigten Darstellungen des Paracelsus von 1538 und 1540; erstere wurde von Paracelsus selbst in Auftrag gegeben; vgl. Eva Stahl: Paracelsus. Weiße und schwarze Magie, Wien – München 1992. 80 Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 65. 81 Ebd., S. 66–73. 82 Hier werden im Vorfeld der zahlreichen landesherrlichen Verordnungen zur Regelung des
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Ökonomisch bewegt sich der Arzt in einem eng gesteckten Rahmen. Dieses ist eine Konsequenz aus der Maßgabe, keine lukrativen Dienste und Verbindungen zu suchen, sondern sie eher zu meiden. Die erklärte Intention ist die Aphilargyria, die Charaktergabe, sich in allen äußeren Dingen auf das Notwendige zu beschränken, um nicht eitlen, irdischen Zielen anzuhängen und von dem Wesentlichen abgelenkt zu werden. Zudem sind mittellose Patienten unentgeltlich zu behandeln, auf eine Erstattung der Vergütung aus den kommunalen Armenkasten soll verzichtet werden.83 Der Arzt arbeitet also in weiten Teilen für Gotteslohn, und er ist noch dazu aufgefordert, darüber hinaus aus seinen eigenen Mitteln bedürftige Patienten zu unterstützen.84 Um unter diesen Vorzeichen die eigene Existenz in privater Praxis zu sichern, wird ihm sehr sparsames Wirtschaften und absolute Genügsamkeit empfohlen. Nebenbeschäftigungen in Handel und Gewerbe sind ihm nicht gestattet, sondern allenfalls die Arbeit in der Landwirtschaft, denn sie bedeutet Kultivierung der Natur und Gelegenheit zu kontemplativer Auseinandersetzung mit ihr.85 Carl gesteht dem christlichen Arzt ferner zu, Arzneimittel zu bereiten, insbesondere Arcana herzustellen, sofern ihm dazu die Einsicht und Fähigkeit verliehen worden ist und er diese Arbeiten in unbedingt lauterer Absicht verfolgt.86
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Gesundheitswesens, wie sie im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts erlassen wurden, medizinalpolizeiliche Vorschläge entwickelt, in denen allerdings weniger der niedergelassene Arzt als vielmehr der Physikus im Vordergrund steht, der als staatlich Bediensteter mit der Supervision des Medizinalwesens beauftragt war. Carls Ansatz einer liberalen, standesübergreifenden Interaktion enthält bereits Empfehlungen für ein Aufweichen der starren Grenzen zwischen den Gruppen der Medizinalpersonen, die sich aber zunächst eher noch verfestigen sollten (Kompetenzstreitigkeiten, Pfuschereiproblematik). Carls Ideen, entstanden vor dem Hintergrund, dass alle ihr Auskommen finden sollten (auch der Arzt, der ein Arcanum anzubieten hat), sind ihrer Zeit weit voraus. Diese Maßgabe der unentgeltlichen Behandlung armer Kranker ist in allen medizinischen Eiden und Medizinalordnungen festgeschrieben; die Realität sah aber offenbar anders aus, indem in diesen Fällen die kommunale Fürsorge beansprucht wurde. Da diese angesichts der zahlreichen Aufgaben traditionell nicht ausreichend ausgestattet war, könnte es bedeuten, dass arme Kranke tatsächlich vermieden, der Gemeinschaft zur Last zu fallen, und deshalb medizinische Hilfe nicht in Anspruch nahmen. Inwieweit dies ein spezifisch dem Pietismus zuzuschreibender altruistischer Habitus ist, muss offen bleiben; in ähnlicher Diktion macht sich etwa Bernhard Christoph Faust als Arzt bei den Landleuten bekannt: „Ich habe zwar selbst wenig; da ich meinen Haushalt aber so einrichten werde, daß ich auch wenig und nicht den Schweiß eurer Arbeit bedarf; und da ich folglich für ein Geringes euch Rath und Arzneyen ertheilen kann und werde […] Der wahre Arme komme auch ohne Groschen nur immer getrost zu mir her!“ Bernhard Christoph Faust: Liebe Landleute!, AltMorschen, 26. Nov. 1785. Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 109. Der Hinweis auf die Alchimie, der in direktem Zusammenhang mit den Ratschlägen zur ökonomischen Subsistenzsicherung steht, eröffnet tatsächlich die Perspektive einer ergänzenden Einnahmemöglichkeit, indem diese Quelle zum parergo Oeconomico nicht leer sei; vgl. ebd., S. 113. Zur Alchimie kann der fromme, lautere Adept in dem Maße Zugang erhalten, wie ihm die Gnade der Einsicht in die inneren Zusammenhänge der Schöpfung gewährt wird. Es ist eine
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Resümee Ausgehend von dem Machiavellus medicus (1698) wurde über Michael Bernhard Valentinis Animadversiones (1711) ein weiter Bogen bis zu Johann Samuel Carls Decorum medici (1719/1723) gespannt, um die in dieser Schrift entworfene medizinethische Anleitung in ihrem Kontext erfassen zu können. Aus der Fülle der zeitgenössischen Publikationen zu Fragen des angemessenen ärztlichen Verhaltens wurde ein Segment isoliert, das bereits im Titel ausdrücklich eine Auseinandersetzung mit der anonym erschienenen Vorlage von 1698 ankündigte. Tatsächlich geht es um die bis ins 19. Jahrhundert hinein latente Problematik, wie sich ein akademisch ausgebildeter Arzt auf einem durch eine nahezu unübersichtliche Vielfalt gekennzeichneten Gesundheitsmarkt behaupten kann,87 und wie er angesichts einer Vielzahl von Kranken, die seine Dienste nicht zu vergüten in der Lage sind, oder Patienten in ökonomisch wohl situierten Stellungen, die den Arzt aber weniger als Experten denn als Diener einstufen, bestehen kann. Will der Mediziner aus seinem Beruf nicht nur ein dürftiges Auskommen, sondern eine gesellschaftlich und ökonomisch komfortable Position erzielen, bleibt diese Konstellation nicht ohne Auswirkung auf sein Berufsethos. Es ergeben sich Anpassungszwänge und Assimilationstendenzen, bei denen der Wertekanon, wie ihn die Medicus politicus-Schriften vorstellen, Schaden nimmt.88 Der Machiavellus medicus greift die Problematik auf, indem er in satirischer Überzeichnung diese Reaktionsweisen als vermeintlich legitime Verhaltensstrategien deklariert – und das machte wohl das eigentlich provokante Moment dieser Schrift aus. Da Valentini in seinen Animadversiones Punkt für Punkt Stellung bezieht, kann dies als ein deutliches Zeichen gewertet werden, dass der reale Hintergrund der Satire als durchaus ernst zu nehmendes Problem erkannt wurde, das nun zu einer Auseinandersetzung herausforderte. Dass Valentini sich als vorzüglicher Kenner juristisch-medizinischer Fragen zuvorderst dazu habe spezielle Möglichkeit, die gefallene Natur zu verbessern, indem einerseits unedle Metalle veredelt, andererseits hochpotente Arzneimittel/Universalia hergestellt werden können. Der Adept leistet auf diesem Wege einen besonderen Beitrag zur Vervollkommnung der Schöpfung. Als ein alter deus kann er die erkannten Prinzipien der Natur unter günstig arrangierten Bedingungen (Laboratorium) anwenden und schneller als die Natur zum Ziel kommen; so auch bei Carl; vgl. ebd., S. 112. 87 Einerseits sollten die Medizinalordnungen hier als reglementierendes Instrument wirken, andererseits sind die anhaltende Bekämpfung der Pfuscherei wie auch die ambitionierten Bemühungen, im Rahmen der medizinischen Aufklärung für die Akzeptanz der akademischen Medizin zu werben, ein Ausdruck dieser Grundkonstellation. 88 Klagen darüber finden sich allenthalben; auf Georg Ernst Stahls Überlegungen zum ärztlichen Hausbesuch wurde bereits hingewiesen; vgl. aber z. B. auch Christian August Struve: Krankenbuch. Über die Erhaltung des menschlichen Lebens, Verhütung und zweckmäßige Behandlung der Krankheiten, Bd. 1, Breslau 1798, S. 35–37
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berufen fühlen müssen,89 ist wenig nachvollziehbar ; mit der Implikation, diese Entwicklung möglichst einzudämmen und zurückzuholen,90 ging es ihm vielmehr darum, einen konstruktiven Beitrag aus einer speziellen christlichen Grundhaltung zu liefern. In Verbindung mit seinem umfangreichen Lehrwerk zur praktischen Medizin ist seine pietistische Position eher verhalten formuliert, aber als solche durchaus deutlich erkennbar.91 So können die Animadversiones als der erste Versuch gelten, das Decorum des Arztes von den Machiavellischen Torheiten zu reinigen, den Carl, allerdings ohne Bezugnahme auf Valentini, dann sehr ausdrücklich und umfassend fortsetzt. Aus der Fülle der Traktate, in denen die Religion als Basis für die ärztliche Ethik neu reklamiert wurde,92 heben sich diese beiden Schriften als pietistisch fundierte heraus. Über Valentini hinausgehend, zu dem sich weite Übereinstimmungen feststellen lassen, arbeitet Carl seinen Entwurf eines christlichen Arztbildes systematisch aus und bettet ihn in die pietistische Naturphilosophie und religiöse Überzeugung ein, so dass das Decorum medici auch in seinen einzelnen Elementen nachvollziehbar auf diesem Grund verankert wird. „Diese programmatische Schrift kann als das ethische Glaubensbekenntnis der pietistischen Ärzte im Umkreis und für die Nachfolger Johann Samuel Carls betrachtet werden.“93 Es wird ein Alternativmodell vorgestellt, das traditionelle deontologische Normen mit dem christlich-pietistischen Wertekanon verbindet, um einer Entwicklung Einhalt zu gebieten, die ethische Standards des ärztlichen Berufs preiszugeben droht, wofür die offenkundige Dreistigkeit des Machiavellus medicus als ein Signal verstanden werden mochte. Und es gab weiteren Anlass zur Irritation, denn auch der feste Grund des therapeutischen Handelns war unsicher geworden. Es waren zahlreiche medizinische Konzepte zur theoretischen Erklärung von Gesundheit und Krankheit entstanden, die womöglich alle nur von vorübergehender Bedeutung sein würden.94 Insbesondere eröffnete die Lehre Descartes’ und der mit ihr verbundene Materialismus Perspektiven, die nicht nur das Körperbild in 89 So Eckart, „Medicus politicus“ (wie Anm. 10), S. 119. 90 Vanek bezeichnet Valentinis Intention als einen „nachträgliche[n] Begradigungsversuch“; vgl. Vanek, Scharlatanerie (wie Anm. 17), S. 325. 91 Mutet die Titelgebung seines Werkes ,Praxis medicinae infallibilis‘ geradezu als mit dem Pietismus unvereinbar an, da ihm eine solche untrügliche Selbstsicherheit im Handeln fremd sein musste, so verweist Valentini tatsächlich noch auf dem Vorsatzblatt auf Deus infallibilis T.O.M. [Ter optimus maximus (Deus)] und zeigt damit in pietistischer Diktion an, dass der untrügliche Gott im therapeutischen Bemühen gegenwärtig ist und der Arzt unter seiner Leitung arbeitet. 92 Vgl. [Meyer-]Habrich, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 424. 93 Ebd., S. 426. 94 Vgl. Valentini, Animadversiones (wie Anm. 31), S. 13. Hier wird die Diskrepanz zwischen alten und neuen Lehrmeinungen zur Erklärung von Krankheiten deutlich. Demnach verweigerten sich die alten Hippokratiker der „neu=modigen Medicin“, die wie der Schnee im März geschmolzen sei (Bezug auf van Helmont und de le Boe Sylvius), und sie hofften, dass es der aktuellen cartesianischen, mechanischen oder Corpuscularlehre ähnlich ergehen werde. Damit, so Valentini, werde den modernen Theorien eine denkbar traurige und schreckliche Prognose gestellt, jedoch seien die alten Propheten gestorben.
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der Medizin entscheidend verändern konnten, sondern deren mögliche fatale Konsequenzen auch für das gesellschaftliche Zusammenleben noch nicht absehbar schienen, wie Johann Conrad Dippel mit aller Vehemenz deutlich machte.95 In dieser Situation waren es pietistische Ärzte, die mahnend und zugleich konstruktiv-korrigierend eingriffen. Sie konnten ein christliches Fundament bieten, das für die Medizin umso tragfähiger erschien, als mit der Lehre Georg Ernst Stahls nun auch eine stringent passende medizinische Theorie verfügbar war, deren Überzeugungskraft ihnen unmittelbar evident war. Pietistische Naturphilosophie und Stahls Leib-Seele-Konzept ließen sich harmonisch zusammenfügen und sie bestätigten sich gegenseitig. So konnte Carl diese Lehre geradezu als eine göttliche Offenbarung feiern. Die Welt, wie sie auch bei Carl beschrieben wird, ist eine widerständige, sie funktioniert nach Machiavellischen Grundsätzen, und man strebt nach irdischen Gütern, Geld, Geltung und Macht. Diese Ziele werden mit Unaufrichtigkeiten, List und Betrug verfolgt. Die feindliche Welt ist Ausdruck der Distanz vom idealen Zustand und eine Bewährungsprobe. Anstatt sich die Methoden anzueignen, wie man sich dieser Welt assimilieren kann, hat der Christ im Gegenteil alle Mühe, sich davon nicht infizieren zu lassen. Dabei ist ganz offenkundig, dass auch dessen Integrität nicht gegeben ist, auch er trägt das „Sünden-Thier“ in sich, ist als Pietist aber unentwegt darum bemüht, es zu besiegen. Gerade auch der ärztliche Beruf mit seinen besonderen Vorzügen bietet Gelegenheit zu diesem Werk; in der Arbeit mit dem Patienten arbeitet der Arzt tatsächlich zugleich an seiner eigenen Vervollkommnung. Das private Leben, wie es Carl von dem christlichen Arzt jenseits seiner Berufsarbeit fordert, ist ein von der Gesellschaft zurückgezogenes, durch Isolation, ja Separation gekennzeichnetes. Ein weiteres, damit einhergehendes Charakteristikum ist die Reduktion in allen über das Notwendige hinausgehenden Belangen. In einem absoluten Gegenentwurf zu dem Machiavellus medicus scheint hier geradezu das mittelalterliche Armutsideal auf, wie es Franz von Assisi propagierte und wie es die Hl. Elisabeth verkörperte. Und es ist der mittelalterliche Caritas-Gedanke, der sich in Carls Konzept ausmachen lässt: Es sind die sieben Werke der Barmherzigkeit (Matthäus 25, 35–40), die deutlich instrumentalisiert werden:
95 Vgl. Christianus Democritus: Fatum fatuum, das ist, Die thörige Nothwendigkeit. Oder Augenscheinlicher Beweiß / daß alle / die in der Gotts=Gelehrtheit und Sitten=Lehre der vernünfftigen Creatur die Freyheit des Willens disputiren, durch offenbare Folgen gehalten sind, die Freyheit in dem Wesen Gottes selbst aufzuheben, oder des Spinosae Atheismum vest zu setzen, Amsterdam 1710; vgl. Irmtraut Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels im Kontext geistesgeschichtlicher Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter [u. a.], Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/2), S. 597–610.
Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“ 43 Auf diese Weise wird der Bau zum Tempel Gottes bey uns und andern ausgeführet / daß wir unsere Arbeit mit dem Ablauff dieser Zeit nicht verlieren. Dazu haben wir Gelegenheit / weil Arme und Krancke gnug vorhanden.96
Bereits Christa Habrich hat ausdrücklich betont, der Kern dieser ärztlichen Ethik könne nur im frömmigkeitsgeschichtlichen Zusammenhang richtig interpretiert werden.97 Carls Decorum ist aus einer radikalpietistischen Position heraus erwachsen und konnte insbesondere in diese Gemeinschaft zurückwirken. Und eben dies war das Lebens- und Arbeitsumfeld Carls. In seiner württemberg-fränkisch-Hohenloher Zeit hatte er bereits die Gründung einer philadelphischen Gemeinschaft von Ärzten betrieben und dazu eine Programmschrift verfasst,98 1708 war er von dem Grafen Ernst Casimir von Ysenburg-Büdingen zum Leibarzt ernannt worden und in die hessische Wetterau übergesiedelt. Insbesondere nach dem Toleranzpatent von 1712, das ausdrücklich Andersgläubige, vor allem aber auch Pietisten, ansprach und einlud, sich dort niederzulassen,99 hatte sich hier eine Gemeinde von Inspirierten gebildet, und Carl sollte als ein „Pfeiler der Gemeinde“ wirken, ehe er 1728 in das ebenfalls radikalpietistische, aber doch eher philadelphisch ausgerichtete Berleburg zog.100 Als Gemeindeältester leitete Carl oftmals die liturgischen Versammlungen, er war als Generalarzt hoch angesehen, und er entwickelte in dieser Büdinger Zeit wiederum eine Art Schule, in der er junge Kollegen zu praktischen Ärzten erzog. Insbesondere für diese Schüler wurde der Verhaltenskodex des christlichen Arztes „als Katechismus“ verfasst, wie Christa Habrich es formulierte.101 96 Vgl. Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 50. Vgl. auch Irmtraut Sahmland: Die Armenfürsorge in der Elisabeth-Rezeption des 16. Jahrhunderts. In: Armut in der Renaissance. Hg. v. Klaus Bergdolt, Lothar Schmitt und Andreas Tönnesmann, Wiesbaden 2013 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 30), S. 159–185. 97 Vgl. [Meyer-]Habrich, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 427; sie kritisierte damit zugleich die medizinhistorische Sichtweise, die diese Hintergründe weitgehend ausblendete. 98 Dazu Hans-Jürgen Schrader: Johann Samuel Carl (1676-1757). In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 5, Neumünster 1979, S. 59–63 und detaillierter ders.: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989 (Palaestra, Bd. 283), insbes. S. 64–73, 383 f., vgl. Ulf-Michael Schneider: „Stroh-Kram und Wage“. Johann Samuel Carl in seinem Verhältnis zu den Inspirierten. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 16, Göttingen 1990, S. 76–101; S. 83–84. 99 Vgl. Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743) , Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 46), S. 86–91. 100 In den letzten Büdinger Jahren (1722–1728) gab es allerdings mehr oder weniger offen ausgetragene Unstimmigkeiten mit Rock. Vgl. dazu im Einzelnen Schneider, „Stroh-Kram und Wage“ (wie Anm. 98). 101 [Meyer-]Habrich, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 444; außerdem Carl, Decorum medici (wie Anm. 2), S. 172: „Ich wolte aber solche [Vorschläge] nach meiner Einsicht mir und meinem Auditorio zum Beschluß unsers Cursus medici vor unsere dermahlige Bedürffnuß vorlegen; dabey auch andern frey stehet zu urtheilen und zu erwehlen / was ihnen wahr und gut zu seyn
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Carl propagierte ein tatsächlich separatistisches Verhaltensmodell, das in einem durch die Gemeinschaft gleicher Lebens- und Glaubensauffassungen geschützten Raum sicher realisierbar war. Fraglich erscheint es jedoch, ob es auch für die widerständige, Machiavellische Umwelt realitätstauglich war und ob sich ein christlicher (pietistischer) Arzt hier nicht zwangsläufig zu einem Sonderling abstempelte.102 Ganz entscheidend aber für die medizinische Praxis ist das Arzt-Patient-Verhältnis. Nach Carl basiert es auf einem holistischen Ansatz, der den Aegrotus in seiner Ganzheit bedenkt und ausschließlich dessen Belange in den Mittelpunkt stellt. Sich diese Maximen zu Eigen zu machen, war ebenfalls in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter wohl am ehesten praktikabel, in der auch ein Graf dem Arzt als Bruder und Freund, nicht aber als Gönner oder Vorgesetzter entgegentrat.103 Die sehr radikal-stringente medizinethische Position, wie Carl sie in seinem Decorum medici vorstellte, konnte aus den pietistischen Glaubensgrundsätzen heraus entstehen, und in diesem separatistischen, gewissermaßen exklusiven Umfeld konnte sie sich womöglich auch praktisch entfalten, und Carl hatte sie denn auch primär für christliche / pietistische Ärzte formuliert. Jenseits pietistischer Glaubensgemeinschaften muss dem Decorum medici jedoch ein deutlich utopischer Charakter zugesprochen werden. Dennoch diente die medizinethische Anleitung Carls nicht nur zur Orientierung und Selbstvergewisserung im Kreis pietistischer Ärzte: Es war die pietistische Antwort auf die Krise der Medizin um 1700 und darüber hinaus zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Verbesserung und Vervollkommnung einer als moralisch-defizitär eingestuften, im Zustand des Sündenfalls befangenen Gesellschaft.
vorkommt.“ Näheres über Carls medizinische Schule in Büdingen sowie Angaben zu einigen diesem Kreis zugehörigen pietistischen Ärzten vgl. Habrich, Johann Samuel Carl (wie Anm. 63), S. 484–486. 102 Sowohl die standesgemäße Präsentation im weltmännischen Staatsgewand als auch die des eigenbrötlerischen Separatisten scheint Johann Samuel Carl verfügbar gewesen zu sein. Dies jedenfalls scheinen seine sehr unterschiedlichen Porträts von G. Spizel und von C. Liebe anzuzeigen, die dem kritischen Neudruck zum von Carl verfassten VI. Teil (Berleburg 1730) der pietistischen Biographiensammlung vorangestellt sind, Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hg. v. Hans-Jürgen Schrader, Bd. 3 (Teil VI), Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke. Bd. 29/3), S. VIf. Für den Hinweis auf die Attitüden der Carl-Porträts danke ich Hans-Jürgen Schrader. 103 Jenseits dieser quasi normativen Texte zur medizinischen Ethik ist es weitgehend noch eine offene Frage, wie die therapeutische Praxis in pietistischen Gemeinden sich darstellte und in welcher Weise sie sich spezifisch von der zeitgenössischen Medizin unterschied. Zu Carl in dessen Berleburger Zeit vgl. Christa Habrich: Mediziner und Medizinisches am Hofe des Grafen Casimir zu Sayn-Wittgenstein (1687–1741). In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie, 35 (1983), Nr. 18/19, S. 138–144; Dies.: Therapeutische Grundsätze pietistischer Ärzte des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie, 34 (1982), S. 121–123.
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,,< stultam sapientiam!“ Zum Verhältnis von pietistischer Selbsterkenntnis und weltlicher Gelehrsamkeit in den Tagebüchern des jungen Johann Christian Senckenberg Tagebücher dienen ihren Verfassern nicht allein zur Aufzeichnung ihrer monologischen Erlebnisberichte, sondern bieten ihnen auch die Möglichkeit, in einen konstruktiven Dialog mit ihrem eigenen Ich zu treten. Indem der Schreiber das subjektive Erleben zurückliegender Begebenheiten zu einem späteren Zeitpunkt wieder vergegenwärtigt, früher eingenommene Perspektiven hinterfragt und einstmals gefällte Urteile revidiert, objektiviert er sein eigenes Selbst und schafft so die nötige Distanz für eine kritische Auseinandersetzung mit seinen moralischen Defiziten.1 Vor allem unter den Pietisten und Separierten des 18. Jahrhunderts fand das tägliche Fixieren des eigenen Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns weite Verbreitung, denn die Selbsterkenntnis galt ihnen als notwendige Voraussetzung für ihre Gotteserkenntnis. Da sie aufgrund ihres weitgehenden Rückzugs aus den kirchlichen Institutionen in Gewissensfragen häufig auf sich allein gestellt waren und nicht nur Gebet und Andacht, sondern auch Gewissensnöte, Reue und Buße zur Angelegenheit des Einzelnen wurden, gewann das Tagebuch als Kontrollinstrument für das eigene Gewissen zunehmend an Bedeutung.2 Anstatt von seinen Sünden losgesprochen zu werden, war der pietistische Tagebuchautor gehalten, seine Laster und Verfehlungen stets unmittelbar vor sich selbst und seinem Schöpfer zu bekennen. Auf diese Weise beständig zur Reue mahnend, verhieß das regelmäßig geführte und wieder gelesene Tagebuch zwar keine Vergebung, wohl aber eine effektive und nachhaltige Selbstkorrektur.3 1 Zur Individualisierung und Selbstvergegenständlichung des Tagebuchschreibers vgl. Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern 1979, S. 7–15; Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung. In: Ders. und Volker Kapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main 1987, S. 9–24, hier S. 9–12; Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999, S. 1–4; zur Dissoziation von schreibender Person und geschriebenem Tagebuchtext Jack Goody und Ian Watt: Konsequenzen der Literalität. In: Jack Goody (Hg.): Literarität in traditionellen Gesellschaften, Frankfurt 1981, S. 95 f.; Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 103 f. 2 Vgl. dazu Hahn: Identität und Selbstthematisierung (wie Anm. 1), S. 18–22, sowie Schönborn: Buch der Seele (wie Anm. 1), S. 42–45. 3 Vgl. dazu Peter Boerner: Tagebuch, Stuttgart 1969, S. 42 f.; Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung, Darmstadt 1990, S. 12; Jurgensen: Das fiktionale Ich (wie Anm. 1), S. 13; aus historischer und genderorientierter Perspektive und im Hinblick auf den
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Als Medium der Selbsterkenntnis und religiöser Gewissensspiegel fungierten auch die frühen Tagebücher des Frankfurter Arztes Johann Christian Senckenberg, die aus der Zeit zwischen 1730 und 1742 stammen und mit Observationes in me ipso factae bzw. Observationes ad cognitionem mei et aliorum übertitelt sind.4 In Frankfurt aufgewachsen, wandte Senckenberg sich württemberger Pietismus Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005, S. 119–145, sowie dies.: Warum sie soviel schrieben. Sinn und Zweck des (auto-)biographischen Schreibens im württembergischen Pietismus (1700–1830). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter u. a., 2 Bde., Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen 17/1 u. 2), Bd. 1, S. 521–526; Katharina Ernst: Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 31–35 u. 55–60. – Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Schönborn: Buch der Seele (wie Anm. 1), S. 5 f., 16–18 und 42–45; zu den puritanischen Tagebuchschreibern vgl. William Matthews: The Diary : A Neglected Genre. In: The Sewanee Review, Bd. 85.2 (1977), S. 286–300, hier S. 292 und 294. – Zur verwandten Gattung der pietistischen Autobiographie vgl. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977, S. 6–14 und 62–80 (zum pietistischen Tagebuch S. 67–70); ders.: Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. von Günter Niggl, Darmstadt 1989 (Wege der Forschung, Bd. 565), S. 367–391 (zum pietistischen Tagebuch S. 369 u. 384–386) sowie Jacques Voisine: Vom religiösen Bekenntnis zur Autobiographie und zum intimen Tagebuch zwischen 1760 und 1820. In: ebd., S. 392–414; Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 145–165; Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung, München 1974, S. 31–38; Ernst: Krankheit und Heiligung, S. 35–38; Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert, Köln u. a. 2004, S. 102–185; Magnus Schlette: Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus (Forschungen zu systematischen und ökumenischen Theologie, Bd. 106), S. 165–368; ohne deutliche Unterscheidung zwischen autobiographischem und biographischem Schreiben Peter Vogt: In Search of the Invisible Church: The Role of Autobiographical Discourse in Eighteenth Century German Pietism. In: Confessionalism and Pietism. Religious Reform in Early Modern Europe. Hg. von Fred van Lieburg, Mainz 2006, S. 293–311. 4 Senckenberg selbst beschreibt den Zweck seines Tagebuchs folgendermaßen: „Ideo consigno meas virtutes & vitia literis, ut & mihi, & aliis post fata vel deo dante prius ad huc cognitus sim. Hocque incitamento studeam corrigere vitia bona agere, & me praeparare ad aeternitatem boni nominis“. Johann Christian Senckenberg: Tagebücher. Archivzentrum der UB Frankfurt am Main, Na 31, 2, Bd. 2 (transkribiert und bearbeitet von Vera Faßhauer) http://senckenberg.ub. uni-frankfurt.de, S. 741. Die hier zitierte Transkription gibt den Text buchstaben- und zeichengetreu wieder und übernimmt daher sämtliche im Original enthaltenen Eigenheiten der Senckenbergischen Diktion. – Mit ,Observationes in me ipso factae‘ übertitelt Senckenberg nur die Aufzeichnungen aus den Jahren 1730–1732; ab 1733 erscheint stattdessen die Überschrift ,Observationes ad cognitionem mei et aliorum‘ und ab 1743 nur noch der Titel ,Ärztliches‘ bzw. ,Nichtärztliches Tagebuch‘. Insgesamt erstrecken sich die Aufzeichnungen, die im 19. Jahrhundert vom Frankfurter Stadtarchivar Kriegk geordnet und zu 53 Quartbänden gebunden wurden, über den Zeitraum von 1730 bis zum Tode Senckenbergs 1772. – Zu Senckenbergs Leben vgl. Georg Ludwig Kriegk: Die Brüder Senckenberg. Eine biographische Darstellung, Frankfurt am Main 1869, S. 213–312; August de Bary : Johann Christian Senckenberg (1707–1772). Sein Leben auf Grund der Quellen des Archivs der Dr. Senckenbergischen Stiftung, Frankfurt am Main 1947; Horst Naujoks: Physicus francofurtensis. Johann Christian Senckenberg. In: Die großen Frankfurter. Hg. von Hans Sarkowicz, Frankfurt am Main und Leipzig 1994, S. 49–57; Thomas
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bald der hier florierenden radikalen Ausformung des Pietismus zu und verweigerte schon als junger Mann die Teilnahme an Gottesdienst und Abendmahl. Stattdessen begriff er seine Frömmigkeit gänzlich als die private Übung seines persönlichen Glaubens und fühlte sich nur Gott und sich selbst zur Rechenschaft über seinen Seelenzustand verpflichtet. Die Ausrichtung seines persönlichen Glaubens tritt etwa in seiner Haltung gegenüber den Frankfurter Separierten um Christian Fende und Andreas Groß deutlich zutage: Obwohl Senckenberg vorrangig in ihren Kreisen verkehrte,5 stand er ihnen doch keineswegs unkritisch gegenüber. Unter dem Eindruck der zum Teil äußerst polemischen Auseinandersetzungen zwischen Fende und den unter anderem durch Groß vertretenen „Harmonisten“ äußert er bereits in den frühen 1730er Jahren Zweifel an der aufrichtig religiösen Gesinnung seiner separierten Freunde, die sich in seinen Augen mitunter sehr scheinheilig, selbstsüchtig Bauer: Johann Christian Senckenberg. Eine Frankfurter Biographie 1707–1772, Frankfurt am Main 2007. Zu seinen Tagebüchern vgl. Hans-Heinz Eulner: Johann Christin Senckenbergs Tagebücher als historische Quelle. In: Medizinhistorisches Journal, Bd. 7, Heft 1.2 (1972), S. 233–243; Mathias Jehn und Veronika Marschall: Mikrokosmos und Makrokosmos in 55 Bänden. „Observationes ad Cognitionem mei et aliorum“ – Zur Digitalisierung, Transkription, Übersetzung und Internetpräsentation der Tagebücher Johann Christian Senckenbergs. In: Archivnachrichten aus Hessen, Heft 13/2 (2013), S. 55–58; Vera Faßhauer : Die Tagebücher Johann Christian Senckenbergs. In: Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der GoetheUniversität. Hg. von Charlotte Trümpler, Judith Blume, Vera Hierholzer und Lisa Regazzoni, Ostfildern 2014, S. 342 f. 5 Darüber hinaus stand er auch mit auswärtigen radikalen Pietisten wie Johann Samuel Carl, Johann Conrad Dippel, Johann Friedrich Haug und Victor Christoph Tuchtfeld in Berleburg oder Christoph Schütz in Homburg in Kontakt und notierte sorgfältig alle ihn erreichenden Nachrichten über Personen und Entwicklungen auf theologischem Gebiet. – Zu den radikalen Pietisten und Separierten in Senckenbergs Umkreis vgl. Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989, S. 55–73; ders.: Zores in Zion. Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranz-programmatischem Philadelphia. In: Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz. Hg. von Johannes Burkardt u. Bernd Hey, Bielefeld 2009, S. 157–194; bes. S. 175–194; Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995, S. 159 f.; Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 391–437; ders., Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert: In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 123–130, 152 und 156–167; Andreas Kroh und Ulf Lückel: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein, Bruchsal 2003; Peter Schicketanz: Der Pietismus von 1675 bis 1800, Leipzig 2001, S. 68–87; bes. S. 68–71 und S. 86 f.; Michael Knieriem und Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloss Hayn. Aus dem Nachlass des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734–1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002; Andeas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002. Als Quellen dienen Deppermann unter anderem Senckenbergs Nachlass, der aufgrund seiner Ehe mit Katharina Rebekka Metting auch den Nachlass ihres Großvaters Johann Jakob Schütz umfasst, sowie seine Aufzeichnungen von Gesprächen mit Christian Fende.
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und eigensinnig gebärdeten. „Laß nur ihrer ein paar an ein ander gerathen,“ heißt es etwa am 20. September 1732, „wirstu sehen, sonderl. die Vornehmste unter ihnen, die die meiste Eigenliebe besitzen, wie sie ein ander herunter machen, noch viel ärger alß orthodoxi.“6 Anstelle des Polemisierens und Eiferns, das in Senckenbergs Augen viel eher den persönlichen Interessen als der Ehre Gottes diente, erklärte er sich für Toleranz gegenüber Andersgläubigen und für bedingungsloses Gottvertrauen: In summa habitus externus macht keinen heilig noch unheilig, v. kan man vario sub tegmine Gott von hertzen dienen, in allerl. Volck v. Religion; […] es müssen allerl. Leute allerl. Speisen haben, denen sollen wir das ihre lassen, sie zu etwas bessers mit Gelindigkeit ermahnen, Gott aber dancken, der unß in unserm hertzen vor andern ein Licht auß lauter grosen Gnade angezündet hat Jhn v. uns besser zu erkennen, der auch Zeit v. stunde wissen wird die andere alle in ihrer Ordnung in den Schaafstall einzulassen. Denn er ist der herr über alles, und thut nach seinem Vorsatz was er wil. Jhme sey Ehre! [2, 472 f.]
Nicht nur Senckenbergs Tadel seiner selbstverliebten und intoleranten separierten Glaubensbrüder erfolgt von einem streng pietistischen Standpunkt aus, sondern auch die regelmäßig in seinem Tagebuch vorgenommene Kritik an sich selbst und seinem eigenen Seelenzustand. In seinem Bemühen um Selbsterkenntnis manifestiert sich eine deutliche Neigung zur Selbstkonstruktion anhand eines pietistischen Persönlichkeitsideals, das als Deutungsrahmen für alle Umstände und Ereignisse seines Lebens sowie für seine physische, psychische und soziale Konstitution dient.7 Damit rückt er in die Reihe jener religiösen Diaristen, unter denen der etwa gleichaltrige, genau wie Senckenberg lebenslang Tagebuch führende Medizinerkollege Albrecht von Haller als einer der prominentesten Vertreter hervorragt. Haller, der tagtäglich ein sehr hohes Arbeitspensum bewältigte und es als Dichter und Naturforscher zu großem Ruhm brachte, büßte mit Hilfe des Tagebuchs zeit seines 6 Senckenberg: Tagebücher (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 472. Alle folgenden Nachweise dieses Bandes erscheinen nach dem Zitat im Text (Band, Seite). – Seine kritische Einschätzung der Streitigkeiten unter seinen separierten Freunden sollte Senckenberg jedoch nicht davon abhalten, ein aggressives Pamphlet (Johann Theophil Stier: Apologia vere christiana pro Dn. Christiano Fendio, ex ipsis viri hujus integerrimi scriptis eruta atque parata, in qua luculenter demonstratur, crimen arianismi nec non socianismi venerandae aetatis seni ab octo sic dictis scriptoribus harmonicis et ineptissimo M. Diezio aliisve sine omni pudore immo ex insano objici furore, [Frankfurt am Main] 1732) in seinem Hause zu verstecken, zu kollationieren und heimlich zu verteilen, vgl. etwa 2, 569, 572, 582, 591, 596, 602, 612. – Zum Harmonistenstreit vgl. Else Oswalt: Christian Fende. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus in Frankfurt a.M., Diss. (Ms.), Frankfurt am Main 1921, S. 19–21; Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 5), S. 107–197; hier S. 158 u. Anm. 367.)– Zu Senckenbergs Religiosität vgl. de Bary, Senckenberg (wie Anm. 4), S. 76 f. 7 Zur Selbstkonstruktion anhand des pietistischen Persönlichkeitsideals vgl. Hans R. G. Günther: Psychologie des deutschen Pietismus. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Bd. 4 (1926), S. 144–176, bes. S. 163; Schönborn: Buch der Seele (wie Anm. 1), S. 37–39, sowie Gleixner: Pietismus und Bürgertum (wie Anm. 3), S. 121 f.
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Lebens für seinen Ehrgeiz und seine Eigenliebe sowie für seine mangelnde Selbstverleugnung und gedankliche Entfernung von Gott. Eine typische, in ähnlicher Form immer wiederkehrende Passage aus seinen Aufzeichnungen lautet: [F]ast sehe und fühle ich nichts mehr von Gott. zerstreut in weltlichen Sachen, ohne Eifer und Aufmerksamkeit; hängend an Ehre, Wollust und an allem Bösen, zufrieden mit den tröstlichen Zuredungen meiner Eigenliebe. O Herr erbarme dich meiner ; denn ich bin eitel und falsch, eitel Heucheley. Gib, daß ich mich verläugnen und dir nachfolgen könne.8
Während Haller sehr unter dieser Diskrepanz zwischen dem religiösen Ideal und seiner Lebenswirklichkeit litt und mit Gottesanrufen wie: „Zerknirsche mein steinernes Herz, daß ich fühle was dein Zorn ist“9 immer aufs Neue seine weltlichen Erfolge sühnte, versuchte Senckenberg, sein Leben von vornherein im Einklang mit dem pietistischen Persönlichkeitsideal zu gestalten. Obwohl sich ihm oftmals auch weltliche Erklärungs- und Lösungsansätze für seine Probleme darboten, wurden diese bald von pietistischen Interpretationsmustern verdrängt oder überformt. Dies ist insbesondere in seinen frühen Tagebüchern der der Fall, in denen sich ein Spannungsverhältnis zwischen seinem Medizinstudium und seinem Bedürfnis nach religiöser Einkehr manifestiert. Die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bilden Senckenbergs Aufzeichnungen aus dem Spätsommer und Herbst 1732. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Autor am Anfang einer langwierigen persönlichen Krise: Nachdem er 1730 in Halle sein Medizinstudium aufgenommen hatte, brach er es bereits nach gut einem Jahr wieder ab;10 noch kürzer währte seine im Sommer 1731 aufgenommene Anstellung als Leibarzt bei Rudolf Anton von Heringen.11 Im April 1732 kam Senckenberg schließlich nach Frankfurt zurück – ohne den zur Eröffnung einer ärztlichen Praxis berechtigenden Doktortitel und damit ohne eine gesicherte Existenzgrundlage. Bis er im Jahre 1737 endlich doch promoviert werden sollte, sah er sich deshalb ständig dem Druck ausgesetzt, seine Studien fortzusetzen und seine Dissertation abfassen. Hiermit tat er sich jedoch sehr schwer : Zwar interessierte er sich für die 8 Albrecht von Haller : Fragmente religiöser Empfindungen. In: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst. Hg. von Johann Georg Heinzmann, Bern 1787, S. 421–319, hier S. 231 f. Da Heinzmann für seine Edition nur die religiösen Passagen auswählte und die Originale als verschollen gelten, sind Hallers Tagebücher nur fragmentarisch überliefert. Vgl. dazu Schönborn: Buch der Seele (wie Anm. 1), S. 53 f. 9 Ebd. 10 Vgl. dazu de Bary: Senckenberg (wie Anm. 4), S. 71–74. De Bary vermutet den unmittelbaren Anlass hierfür in einer radikalpietistischen Streitschrift des Hallenser Juristen Daniel Friedrich Hoheisel gegen den Theologen Joachim Lange, die Senckenberg in Frankfurt drucken ließ; vgl. dazu 1, 229 und 2, 684. 11 Vgl. ebd., S. 72–76.
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unterschiedlichsten Themen und machte sich mit großer Akribie umfangreiche Notizen, doch stellte er dabei weder zielführende Untersuchungen an, noch wertete er die in großer Menge erfassten Daten wissenschaftlich aus.12 Beredtes Zeugnis von der großen Vielfalt seiner Interessen legt auch sein Tagebuch ab, das er mit der Aufnahme seines Studiums begonnen hatte und das im Laufe seines Lebens auf etwa 40.000 Seiten anwachsen sollte. Der enorme Umfang dieser Aufzeichnungen ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass in ihnen Notizen und Reflexionen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zusammenfließen und sie mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen. So treten neben die selbstreflexiven Charakteranalysen und religiösen Meditationen auch registerartige Aufzeichnungen über den Tagesablauf sowie Berichte über Gespräche mit anderen Ärzten zu medizinischen und pharmazeutischen Problemen. Oftmals dienen die Tagebücher auch als Notizbücher für physikalische und botanische Beobachtungen, für Kochrezepte und finanzielle Ausgaben; weiterhin finden sich Angaben zu neu erschienenen oder gelesenen Büchern, außerdem kuriose Neuigkeiten von bekannten Persönlichkeiten und beobachteten Naturphänomenen. Gelegentlich nimmt das Tagebuch die Form eines Reisejournals an, in dem Route, Landschaft und Sehenswürdigkeiten notiert werden. Mit der zunächst nur sporadischen und späterhin zunehmenden ärztlichen Tätigkeit Senckenbergs wird es darüber hinaus mehr und mehr zum Praxisjournal, das Patientengeschichten, Behandlungsmethoden und Arzneimittelverschreibungen verzeichnet. Der Patient, dem mit Abstand die größte Aufmerksamkeit zuteilwird, ist jedoch der Arzt selbst: Den weitaus bedeutendsten Anteil am Umfang seiner frühen Tagebücher haben jene ausgedehnten Passagen, die Senckenberg Tag für Tag der eigenen körperlichen und seelischen Verfassung sowie deren Wechselwirkung mit Umwelteinflüssen widmete. Als Basis seiner minutiösen Beobachtungen diente ihm der für die antike Diätetik grundlegende Kanon der sex res non naturales, der folgende Bereiche umfasst: Wind-, Luft-, Lichtund Wetterverhältnisse (aer), Art und Menge der eingenommenen Speisen und Getränke (cibus et potus), körperliche Bewegung und Ruhe (motus et quies), Schlaf und Wachen (somnus et vigilia), Gemütszustand und Affekte (accidentia animi) und – hierauf verwendete Senckenberg besondere Sorgfalt – Stoffwechselprozesse und Ausscheidungen (repletio et evacuatio).13 Der hier nur in gekürzter Form zitierte Eintrag vom 18. Oktober 1732 mag von der 12 Vgl. ebd., S. 98. 13 Vgl. dazu Heinrich Schipperges: Krankheit und Kranksein im Spiegel der Geschichte, Berlin u. a. 1999, S. 38; Barbara Thums: „So lange Gott nicht der beste Arzt ist, so helfen alle Medicamente nichts“. Zur Diätetik der Seele und des Leibes in Adam Bernds Eigene Lebens-Beschreibung (1738). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 627–638, hier S. 628 f.; Frank Juul Agerholm: The Sex Res Non Naturales and the Regimen of Health. On the Contemporary Relevance of the History of Ideas of Dietetics, http://pure.au.dk//portal/files/ 53611039/The_Sex_Res_Non_Naturales_and_the_Regimen_of_Health_On_the_Contempor ary_Relevance_of_the_History_of_Ideas_of_Dietetics.pdf, S. 5–7.
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Detailliertheit und Ausführlichkeit dieser täglichen Körperbeobachtungen einen Eindruck vermitteln: D[ie] Saturni 18 octobr[is]. Mane ructus acidi jejuni. borbor[ygmus], flatus, auris d[extra] susurrat, pressio frontis p pitzeln in nare dextra. Mucus ex naribus inf[undibulo] & lar[ynge] pulposus. Dentes stupidi. Inguen sinistr[um] dolet. Flat Zephyrus, trüb von westen, frigunt paululum extrema surgendi, aber nicht so wohl die füße alß hände, die die Luft zu erst berührt nachd. sie auß dem warmen bette gekommen. Stiche in pollice pedis d[extri]. Stupidi molares sonderl. Sp[asmus] puls[atorius] in poplite sinistro. Hora VII venit aurora. Paulul[um] sanguinis ex dentibus cariosis sugendo leviter alicui. Sp[asmus] puls[atorius] supra genu sinistrum. Oscit[atio]. pandicul[atio]. Pressio varia auff dem Kopff, frigunt manus, pedes paululum. Horripilatio per dorsum. Flatus cum sp[asmo] tremulo in femore sinistro, zielt auff egest[ionem] faecum, Egessi ergo faeces subspissas multas, colore ex albo luteo ob lac hesternum, admisti sunt ad huc acini uvarum comestorum heri, horripilatio per dorsum, pedum & manuum leve frigus. Jucken an dem ballen pedis sinistri einwärts. Discurrenti per scalas frigent extima, sol paulul[um] incipit lucere, ist kühle Luft. Mercurius in barometro noch hunten. Oculi trübl. internH, non externH, Facies zieml. heiter. Die Kälte fällt mir etwas empfindlicher auff die Haut, nachdem mich 1) gestern bewegte jetzt sitze 2) gestern einen durchfall gehabt 3) noch nichts gegessen habe noch warmes getruncken 4) wegen dem Mali hypoch[ondriaci] sonderl. zur retrocessione motuum geneigt Bin, ob animi tristitiam, & humorum lentorem, qui non facile expanditur nisi accedentibus vel actu vel potentia calidis, ut & corporis motu, vel affectu exhilarante amoris, qui agilitatem in expediendis secum affert [2, 559].
Wenngleich Senckenberg hier wie viele seiner Zeitgenossen an sich selbst das malum hypochondriacum diagnostiziert,14 das sich gleichfalls in Symptomen wie Blähungen, Ohrensausen, gesteigertem Appetit, Unterleibsschmerzen und Stimmungsschwankungen äußert und die Betroffenen jede noch so geringe Schmerz- oder Reizempfindung, jedes Jucken, Niesen und Gähnen akribisch wahrnehmen lässt,15 so stellt es doch nicht den Grund für Senckenbergs ob14 Zu dieser Diagnose vgl. auch 2, 494 und 2, 558. 15 Zum zeitgenössischen Begriff der „Modekrankheit“ Hypochondrie und ihren Symptomen vgl. Bernard Mandeville: A Treatise of the Hypochondriack and Hysterick Passions, Vulgarly Call’d the Hypo in Men and Vapours in Women, London 1711; Johann Ulrich Bilguer : Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie, Kopenhagen 1767; Johann August Unzer (Hg): Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift, 1. Teil, 25. Stück, (1760), S. 385–399. – Über den Hypochondriebegriff des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Esther Fischer-Homberger: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder, Bern u. a. 1970, S. 22–57. – Zum Typus des hypochondrischen Tagebuchschreibers, etwa Gellert, Goethe und Lichtenberg, vgl. auch Schönborn: Buch der Seele (wie Anm. 1), S. 19–21 u. 77–85. Zur Thematisierung des Krankseins in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen vgl. Ernst: Krankheit und Heiligung (wie Anm. 3), passim; Gudrun Piller: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, Köln u. a. 2007. Zur Hypochondrie im 18. Jahrhundert vgl. Hartmut Böhme und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am
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sessive Beschäftigung mit seinem Körper dar. Vielmehr manifestiert sich hierin das Forschungsinteresse eines religiösen Arztes, der die gesamte Natur als Gottes Schöpfung begriff und ihre nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Körpers operierenden Kräfte in ihrem Zusammenwirken zu erforschen suchte. Diese Absicht legen die Aufzeichnungen etwa dann nahe, wenn der Autor anlässlich einer Diarrhöe notiert: Natura habe ihn im Schlaf gestört, als sie damit beschäftigt war, die angesammelten giftigen Schlacken zu entfernen,16 oder : Natura habe bei Gelegenheit eines Spaziergangs den Schweiß geradezu verschwenderisch ausgeschüttet.17 Die ausführliche Genauigkeit seiner Notizen beruht auf der Überzeugung, dass selbst unscheinbare Anzeichen letztlich große Wirkungen entfalten könnten. So heißt es am 21. Oktober : „In diesem meinem Journal habe Anfangs so genau nicht notirt alß finde jetzt, daß es nöthig ist, minima nempe saepe variat rem omnem circumstantia. […] Omnium sunt tenuia principia & illustri magnusque exitus“ (2, 583). Vor allem in Phasen des Unwohlseins schien ihm eine gesteigerte Genauigkeit unerlässlich. Am 20. November bemerkt der erkältete Senckenberg: „Ich notire heute alles wohl, um weil die Natur jetzt viel thut in sensibilitate einen vollständigen begriff aller Anomalien zu haben“ (2, 714). Indem er seine medizinischen Begriffe also vorrangig anhand konkreter Erfahrungen am eigenen Körper bildete, befand er sich im Einklang mit dem Forschungsverständnis der Empiristen, zu denen auch Newton oder Haller zählten: Solange der Mensch sich der Beschränktheit seines Begriffsvermögens bewusst blieb und sich nicht anmaßte, die Welt allein durch seinen Verstand begreifen zu wollen, kam die fleißige und gründliche Erforschung der Natur einer Demonstration ihrer vollkommen zweckmäßigen Einrichtung und somit einer demütigen Anbetung der göttlichen Schöpfung gleich. Ähnlich wie seine ausgiebigen botanischen Wanderungen, aus denen ein großes Herbarium und umfangreiche Notizen hervorgingen, ist auch die minuziöse Beobachtung der in ihm selbst wirkenden Natur als ein solches „Lesen“ im Buch der Natur und „Nachdenken“ der Gedanken Gottes zu betrachten.18 Beispiel Kants, Frankfurt 1983, S. 117–120 und S. 385–423. Zur Autobiographie des Hypochonders Adam Bernd vgl. ebd., S. 397–410; Volker Hoffmann: Adam Bernd: Eigene LebensBeschreibung, München 1973, Nachwort S. 403–427. 16 „Natura ideo somnum interrupit, ut excernendam noxiam materiam excernat […] Natura occupata est in removendis scoriis alio tempore collectis“ (2, 405). 17 „Sudorem hac occasione profusH effundebat Natura“ (2, 429). 18 Vgl. dazu Otto Sonntag und Hubert Steinke: Der Forscher und Gelehrte. In: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Hg. von Hubert Steinke, Urs Boschung und Wolfgang Proß, Göttingen 2008, S. 317–346, hier S. 319–322; Richard Toellner: Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten, Wiesbaden 1971, S. 64–70, 87–89 und 103–109; ders.: Die Bedeutung des physiko-theologischen Gottesbeweises für die nachcartesianische Physiologie im 18. Jahrhundert. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 5 (1982), S. 75–82. – Zu Senckenbergs botanischen Interessen vgl. Karl Löber : Johann Christian Senckenberg 1736 im Siegerland. In: Siegerländer Beiträge zur Geschichte und Landeskunde, Heft 23, hier sind auch
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Weit weniger geläufig als die Form der Naturforschung, die Senckenberg zum Zweck der Selbst- und Gotteserkenntnis täglich in seinem Tagebuch praktizierte, war ihm allerdings sein medizinisches Studium. Er selbst führt dies auf seine chronische Unfähigkeit zurück, sich lange auf einen einzelnen theoretischen Gegenstand zu konzentrieren und ein Projekt mit Stringenz zu Ende zu führen: „Eine Kunst v. wissenschafft wenn ich sie tractirt gehabt, habe gantz liegen gelassen, v. bin darüber traurig worden si non successit v. melancholisch“ (2, 463). Dieser mit quälenden Versagensängsten einhergehende Mangel an Beharrungsvermögen machte sich im Herbst 1732 vor allem im Hinblick auf seine noch nicht erfolgte Promotion bemerkbar : Angesichts der ihm noch bevorstehenden Arbeit an der Dissertation peinigten ihn ständig „timidae & melancholicae cogitationes, solitudinem zu suchen v. weit weg zu gehen, der schande zu entfliehen. Fit quod saepe metui, per vitam, daß ich auch werde studium medicum stehen lassen, alles wird mir überdrüssig“ (2, 462). Die in diesem Zusammenhang festgestellte Neigung zur Melancholie19 äußerte sich in Form von starken Stimmungsschwankungen, die Senckenberg als abwechselnde, kürzer oder länger andauernde Phasen von Heiterkeit und Traurigkeit beschrieb20 und die im Extremfall zwischen Hochmut und Kleinmut, zwischen Hybris und Verzweiflung oszillieren konnten: „Ich bilde mir sehr viel ein, sed vanH, auf mein wissen, v. so ich andere finde die mehr als ich praestiren, desperire ich sie zu assequiren od. zu übertreffen, contristor v. lasse die flügel hangen“ (2, 359 f.). Derartige Niederlagen zogen Senckenbergs Tagebuch zufolge regelmäßig eine vollkommene Unfähigkeit zu geistiger Arbeit sowie eine starke Neigung zu leiblichen Genüssen nach sich: „[L]asse alle einige Auszüge aus Senckenbergs Tagebüchern abgedruckt und kommentiert; vgl. auch Ludwig Spilger : Senckenberg als Botaniker und die Flora von Frankfurt zu Senckenbergs Zeiten, Frankfurt am Main 1941 (Abhandlungen der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 458); ders.: Senckenbergs Aufzeichnungen über die Pflanzenwelt des Westerwaldes und der Gegend um Ems. In: Decheniana, Bd. 94 (1937), S. 143–161. 19 Zu dieser selbstgestellten Diagnose vgl. 2, 507. – Zur Melancholie vgl. Robert Burton: The Anatomy of Melancholy. Hg. von A. R. Shilleto, London 1903; Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977; Siegfried Schneiders: Literarische Diätetik. Studien zum Verhältnis von Literatur und Melancholie im 17. Jahrhundert, Aachen 1997 (Studien zur Literatur und Kunst 1). – Zum Zusammenhang zwischen Hypochondrie und Melancholie vgl. Thums: „So lange Gott nicht der beste Arzt ist, so helfen alle Medicamente nichts“ (wie Anm. 13), S. 627–638; Katrin Löffler : Scharfes Geblüt, flüchtige Lebensgeister und die Plagen der Imagination. Adam Bernds Eigene Lebens-Beschreibung im Kontext frühaufklärerischer und pietistscher Anthropologie. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. von Christian Soboth, Udo Sträter u. a., 2 Bde. (Hallesche Forschungen, 33/1 u. 2), Bd. 2, S. 573–585; Cornelia Bogen: Der aufgeklärte Religionist Adam Bernd – Autobiographie als Therapie. Der „melancholische Selbstmörder“ als Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. In: Ebd., S. 561–571. 20 Vgl. etwa 2, 358 f. u. 2, 368 f.
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arbeit vor kummer stehen, wil nur mit faullentzen v. schlaffen helffen, v. falle drüber ad voluptatem, v. komme kaum wieder herauß“ (2, 520). Darüber hinaus beobachtete er an sich eine ausgeprägte Störung seines sozialen Verhaltens: Aufgrund seiner Angst, von anderen in seinen Leistungen übertroffen und dafür geringgeschätzt zu werden, meide er nach Möglichkeit den Umgang mit ihm geistig überlegenen Personen; stattdessen ziehe er sich lieber in die Einsamkeit zurück und gebe sich resigniert seiner Verzweiflung hin.21 Phasen der inneren Ausgeglichenheit waren in diesem Herbst so selten, dass Senckenberg sie jeweils eines eigenen Eintrags für würdig erachtete. Am 18. September etwa notiert er, dass er den ganzen Tag mit der Lektüre unterschiedlicher Schriften beschäftigt gewesen sei, ohne dabei ein anderes Bedürfnis verspürt zu haben als zu arbeiten, und seufzt: „i utinam semper me ita haberem, vel cogerem ad ita vivendum per Dei gratiam!“ (2, 469) Gelegentlich machen sich auch kurze euphorische Schübe in Form von ausgelassener Fröhlichkeit und gesteigerter Aktivität bemerkbar : Am 7. Oktober schreibt Senckenberg, dass ihm vor lauter Tatendrang die Hände zitterten.22 Vor allem in seinen heiteren Momenten äußerte er immer wieder eine tief empfundene Sehnsucht nach innerer Harmonie und Seelenruhe: Wohl wäre es, so ich in aequilibrio wäre, v. alle adversa, eins wie das andere aestimiren könte; wie auch im gleichen grad das glück, so aber ists nicht mit mir, der ich alzu sensible bin, wenig annoch gelitten, v. leyden gelernt habe, der ich im glück trotzig im unglück verzagt bin [2, 355].23
Sehr ambivalent wirkte sich die Melancholie auch auf seine Mitmenschen aus: Während Senckenberg eigenen Angaben nach in seinen positiven Stimmungslagen von Herzen wohltätig, freigiebig und aufgeschlossen war, legte er an den melancholischen Tagen neben seinem hochmütigen und missgünstigen Verhalten oft auch eine arglistige Aggressivität an den Tag und war „zum bösen leicht geschickt, thiere v. Menschen zu plagen v. zu nagen“ (2, 520). Letzteres ist keineswegs nur bildlich zu verstehen. Im Herbst 1732 gestand Senckenberg in seinem Tagebuch zu verschiedenen Malen, dass er sich in seinem Verhalten gegenüber anderen Lebewesen von Trotz, Rachgier oder Zorn habe leiten lassen. Diese Anfälle von Boshaftigkeit richteten sich vor allem gegen seine Mutter, der die Senckenberg-Biographen bisher gemeinhin die alleinige Schuld an den Konflikten mit dem Sohn zugeschrieben haben, zumal sie wahrscheinlich an einer psychischen Störung litt.24 Anlässlich einer Meinungsverschiedenheit mit ihr bekannte Senckenberg jedoch auch seine 21 Vgl. 2, 460; vgl. auch 2, 548. 22 Vgl. 2, 524; vgl. auch den Eintrag vom 28. September 1732: „Vormittag spassig, v. ausgelassen, qui mos est melancholicis, ut subinde in gaudio, & tristitia excedunt.“ (2, 507). 23 Vgl. auch 2, 524: „[M]elius esset so ich tranquillus wäre, v. die sache aequaliter auff immer während auß getheilt wäre, v. ich nicht zuweilen gar zu arbeiten aufhörte.“ 24 Vgl. Kriegk: Die Brüder Senckenberg (wie Anm. 4), S. 6–11 und S. 213 f.; de Bary : Senckenberg (wie Anm. 4), S. 19–25, und Bauer : Senckenberg (wie Anm. 4), S. 64 f.
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eigene Angriffslust: Nicht minder hochmütig veranlagt als die Mutter, weigere er sich für gewöhnlich aus Trotz, sich ihrem Willen zu fügen. Zudem könne er oftmals nicht der Versuchung widerstehen, zu sticheln und zu provozieren, denn diese kleinen Bosheiten verschafften seinem Mutwillen Linderung, „wie kalt wasser labt das mürrische hertz“. Ebenso uneinsichtig und trotzig zeigte Senckenberg sich angesichts ihrer wiederholten Ermahnungen, sich endlich seiner Dissertation zu widmen oder doch wenigstens eine ärztliche Praxis zu eröffnen: Ob es nun zwar wahr daß gehorsam besser alß opfer, it[em] daß ich meinen eigensinn v. faulheit selbst mit händen offt greiffe, so ist doch auch gewiß, daß die absicht der Mutter nicht lauter, v. ich auch noch eine Weile also bleiben kan wie ich bin [2, 468].
Etwa zur gleichen Zeit häuften sich zudem Eintragungen über Misshandlungen der Hauskatze, „welche verzogen immer frisst v. still sitzt, v. weil sie die fülle hat keine Mäuse fängt“ (2, 617).25 Am 27. September musste Senckenberg jedoch gestehen, dass die aggressiven Handlungen gegen das Tier keineswegs nur dessen Bestrafung intendierten, sondern zugleich auch durch seine starrsinnige Haltung der Mutter gegenüber motiviert waren: Den verzogenen Kater schlage er vor allem, weil sie ihn dafür maßregele; da er aber keinen Widerspruch dulden wolle, versuche er auf diese Weise, seinen eigenen Willen zu behaupten (2, 504). Am 23. Oktober hieß es schließlich: Mater sehr unordentl[ich] lässt sich nicht einreden über füttert die Katzen daß sie da sitzen v. sich strecken, offt die gefressene Milch von sich speyen, keinen tritt gehen, ita et cum hominibus semper dormiunt. Die katze ist sonst von guter art, aber so kan das beste [Naturell] verdorben werden. Ist selbst ungezogen v. verzieht andere nach ihrem eigenen indole sub praetextu gutes zu thun denselben [2, 591].
Dergleichen Bemerkungen legen die Vermutung nahe, dass Senckenberg in dem jungen Kater sein eigenes Spiegelbild erkannte: Genau wie diesen jetzt hätten die Eltern auch ihn selbst seit frühester Kindheit verzogen, indem sie ihn stets seinem Eigensinn und seinen leiblichen Begierden überlassen hätten, statt ihn zu einer arbeitsamen Lebensweise anzuhalten: [I]ch bin per vitam meam, male educantibus parentibus, ad otium gewohnt worden, war keine rechte aufsicht v. ich that immer was ich wolte, hunde v. katzen v. menschen die im hauße erzogen werden taugen nichts [2, 462].26
In der schlechten Erziehung durch seine Eltern erkannte Senckenberg aber nicht nur eine Hauptursache für seine Melancholie, sondern auch für seine 25 Vgl. auch 2, 493, 2, 504, 2, 506 u. 2, 509. 26 Vgl. dazu auch 2, 463, 523, 548, 555 u. 560. – Zum Zusammenhang von Erziehung und Melancholie vgl. Hans-Martin Kirn: Trauer und Melancholie bei Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 571–583, hier S. 582.
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Hypochondrie: „[P]iger nimis fui ad discendum, spiritu nimis occupato nimis cibis digerendis quos ingesseram semper, ex contracta ab annis pueritiae consuetudine“ (2, 462).27 Hinzu kamen noch seine erblichen Veranlagungen, zumal die an sich schon schlechten und obendrein sehr gegensätzlichen Anlagen beider Eltern seines Erachtens in ihm sowohl eine deutliche Neigung zu Genusssucht, Wollust und Trägheit als auch eine sehr ungünstige Säftekonstellation hervorriefen: Pater juvenis war gar wild v. feurig, wie auch noch im alter ich auch feurig, doch aber melancholisch dabey. Ist eine wunderl[iche] mixtur, v. kommen daher etl. Sprünge zuweilen, die fast nicht zu vermeyden v. zu überwinden sind. Partim ex patre partim ex matre ea sunt [2, 552].28
Senckenberg ist sich seiner eigenen Verantwortung für seinen Körper- und Gemütszustand sehr wohl bewusst, wenn er sich eingesteht, gegen diese ererbten und anerzogenen Veranlagungen niemals ernsthaft angekämpft, sondern ihnen vielmehr stets nachgegeben zu haben, so dass sich die elterlichen „mala ex plethora et spissitudine [sanguinis]“ unweigerlich auch bei ihm ausbilden mussten (2, 558). Dabei müssten derlei Veranlagungen keineswegs zwingend zu Krankheit und lasterhaftem Lebenswandel führen, „sed vincendae sunt per Dei gratiam, preces, temperantiam v. fasten, per labores v. alles was die faulheit müssiggang, unmässigkeit hindert, dem leib die Nahrung entzieht, und dem Geist auffhilfft“ (2, 547). Aufgrund dieser Überzeugung sowie der Feststellung, dass er wegen seiner fortgesetzten Unmäßigkeit im Essen und Trinken inzwischen „plethoricus v. recht fett“ (2, 446) geworden sei, begann Senckenberg Anfang Oktober eine Fastenkur, in deren Zuge er bald nicht nur körperliche, sondern auch seelische Erleichterung verspürte: Der leib leicht, v. ich lauffe gantz schnell die stiege hinauff. 1) weil es kühl v. die humores nicht leicht zu starck sub motu resolvirt worden v. die anima ob molestiam resolutionis nimiae in einen degout v. Unlust nicht gesetzt wird, sie au contraire an einer motion v. gelinden dadurch entstehenden wärme ein Vergnügen hat, in dem die humores in internis concervati ad peripheriam getrieben werden v. selbe gelinde 27 Vgl. auch 2, 560: „Superbus sum ex propagine naturali, parentis utriusque, / puero mihi proposui fieri vir magnus & honoratus, cum quoque in me invenirem promtitudinem in agendis pro aliis multis, accessit mihi, nemine fere parentum dehortante desidia, et ingurgitatio multorum potulentorum & esculentorum, cui accessit venus, hinc sanguinis lentor & spirituum exhaustio, & hinc omnium actionem tam sensuum internorum & externorum debilitatio“; vgl. weiterhin 2, 558: „Ego mihi ex otio & voluptate in nimio pastu, & nimio aquae potu, venere et hinc sanguinis lentore, nimia sanguinis sub motu herbario excalfactione, contraxi malum hypochondriacum. Sed prima causa est mala concupiscentia / Patre & matre in me derivata, quam non vici sed ei H contrario obtemperavi, quae ideo quoque necessario in me eadem quae in Parentibus produxit mala ex plethora et spissitudine.“ 28 Vgl. dazu auch 2, 547: „Ego per educationem & per nativitatem ad otium & sanguineum temperamentum inclinor, zur Ungedult, ob pigritiam & superbiam, pater cum ei veniente aetate decresceret superbia, avarus & bibax evasit, omniumque incurius“.
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erwärmen. 2) weil ich gestern nicht gegessen, v. heute nichts zu mir genommen, woher die D [=Luft] leicht, v. die D gebührend circulirt v. denselben erhebt v. träget, welche Mässigkeit nun da sie schon etl. tage währt sensiblement ihren Nutzen zeiget. 3) Tertium & potissimum est, daß das Gemüthe jetzt zuweilen heiter, von sündenlasten frey, alles gehen lässt wie es Gott schickt, v. sich resolvirt hat in gehöriger Ordnung denen beruffs arbeiten abzuwarten; ohnerachtet selbiges das Einwilligen in Vorige Ungebührlichkeiten annoch etwas niederschlagen, so aber nicht spem abjiciendo et metu futurarum, sondern meliora operando gehoben werden, davon auch des leibes mala, solidorum aliqua fluiditas, & lentor fluidorum sensim sensimque gehoben werden [2, 559].
Der erfolgreiche Verlauf seiner selbstverordneten Fastenkur bestätigte also Senckenbergs Theorie, dass schlechte Veranlagungen mit Entschlusskraft und Willensstärke zu bezwingen seien. Dennoch verlegte er sich schon im November auf eine vollkommen andere Ansicht: Als würde er vor der soeben erprobten Option zurückschrecken, auf seine physische und seelische Verfassung selbst Einfluss nehmen zu können, begreift er die Hypochondrie jetzt nur noch als Strafe, „dadurch Gott die Menschen sich besinnen lehrt, einem Nothstall, ihres leibs v. der Erde überdrüssig werden v. sich nach der Ewigkeit umsehen“ (2, 720). Wie alle anderen Krankheiten sei auch sie eine Vergeltung dafür, „daß wir unsern leib nicht in Ordnung unter der seele imperium bringen“, und weil gerade die Hypochonder „die Welt zu sehr lieben“, geriete ihnen die Krankheit zu einem Werkzeug der Zerknirschung, „da die seele die früchte ihrer werke in dem verdorbenen leib essen v. sich plagen muß, biß sie gantz in sich selbst vernichtet sich Gott unterwirfft der sie zu einem neuen leben verherrlicht“ (2, 721).29 Eine pietistische Überformung erfährt nun auch sein erziehungsorientierter Erklärungsansatz. Hierfür konnte Senckenberg auf ein in der Halleschen Waisenhauspädagogik vorgebildetes Modell zurückgreifen, da die Fehler und Versäumnisse seiner Eltern eben jenen Irrwegen entsprachen, denen August Hermann Francke durch sein Erziehungskonzept der cultura animi vorbeugen wollte. Sollten Kinder nämlich zu einem wahrhaft christlichen Lebenswandel erzogen werden, müssten Eltern und Erzieher beizeiten nicht allein für die Bildung des Verstandes, sondern auch des Willens sorgen.30 29 Zum Schwanken zwischen den nicht miteinander zu vereinbarenden medizinischen und religiösen Erklärungen für Melancholie und Hypochondrie in Adam Bernds Autobiographie vgl. Anne Lagny: Bekehrungsbericht, Fallgeschichte, Lebensbeschreibung. Die Konstruktion der modernen Innerlichkeit in Adam Bernds Autobiographie (1728). In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Hg. von Jean-Marie Valentin, Bd. 7, Bern u. a. 2008, S. 269–273; vgl. auch dies.: Adam Bernds Selbstanalyse seiner Leibesanfechtungen und Heilungsbemühungen im Lichte pietistischer Psychagogik, im vorliegenden Band. – Senckenberg hatte Adam Bernd bei einem Besuch in Leipzig am 28. April 1730 persönlich kennengelernt und ihn sofort als einen „hypochondriacus“ erkannt; vgl. Senckenberg: Tagebücher (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 123. 30 Vgl. August Hermann Francke: Kurtzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur Wahren
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Da der Mensch von Natur aus zu Unmäßigkeit, Wollust und Müßiggang neige, dürften Eltern ihre Kinder in jungen Jahren nicht aufgrund ihrer „unordentlichen Liebe“31 ihrem eigenen Willen überlassen, sondern müssten ihnen stets mit gutem Beispiel vorangehen und durch eine sorgfältige Erziehung rechtzeitig der Trägheit vorbeugen. Vor allem letztere sei den Kindern „als ein greuliches Laster fleißig vorzustellen“, damit sie in ihrem späteren Leben „alle Zeit und Stunden mit nützlichen Dingen hinbringen, und zu GOttes Ehren anwenden können“.32 In Franckes Augen war daher die Notwendigkeit, „daß der natürliche Eigen-Wille gebrochen werde“,33 die wichtigste Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben. Hinsichtlich der Bewältigung dieses pädagogischen Auftrags war Francke der Meinung, dass man bei aller zu beobachtenden Vorsicht „die Ruthe nicht gar von der Kinder-Zucht verbannen könne, zum wenigsten, wenn die Kinder schon verzärtelt, alt, und in ihrem eigenen Willen schon verstärcket sind“.34 Auch Senckenbergs Ansicht nach ist nicht zuletzt die zur rechten Zeit unterbliebene Züchtigung verantwortlich für das häufige Fehlen von Erfahrung und Einsicht bei Kindern aus wohlhabenden Familien: „non vexantur ergo non est iis intellectus, uti piis non datur absque vexatione & cruce in suo centro experientia“ (2, 617). Aus dieser Perspektive erscheint sein Verhalten dem Kater gegenüber nicht mehr als gänzlich willkürliche Grausamkeit, sondern eher als ein stellvertretendes Erziehungsprojekt, in dessen Zuge er nun in eigener Person an dem Tier durchführte, was seinerzeit an ihm selbst verabsäumt worden war. Der ungebrochene Eigenwille war in Franckes Augen aber vor allem ein Hauptcharakteristikum der eigennützigen, verstiegenen und oftmals auch arglistigen Weltklugheit, der die gottesfürchtige christliche Weisheit als wahrhaft erstrebenswertes Lebensziel gegenüberstand. Während der wahrhaft Weise getrost und ruhig in seinem unerschütterlichen Glauben lebe und all sein Tun der Ehre Gottes weihe, strebe der Weltkluge nach Vermehrung seines profanen Wissens, um es zur Erlangung weltlichen Ruhms und pekuniären Reichtums einzusetzen; während sich der Gottesfürchtige gänzlich dem Willen des Herrn ergebe und gelassen in dem Bewusstsein lebe, dass alle aus bloßem Eigensinn begonnenen Unternehmungen zwangsläufig an der Vorsehung Gottes scheitern müssen, nimmt der bloße Gelehrte in
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Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind, zum Behuff Christlicher Informatorum entworffen, Halle 1733, S. 5. Ebd., S. 3–6. Ebd., S. 47; vgl. auch ebd., S. 6 f. u. 36. Ebd., S. 5 f. – Zu Franckes Erziehungskonzept vgl. Polina Serkova: Spielräume der Subjektivität. Studien zur Erbauungsliteratur von Heinrich Müller und Christian Scriver, Duisburg 2013, S. 35–40. Francke: Unterricht (wie Anm. 29), S. 60. – Zum Problem des Eigenwillens vgl. auch Katharina Ernst: „Ich will dich führen, wo du nicht hin willt.“ Der menschliche und der göttliche Wille bei württembergischen Pietisten des 18. Jahrhunderts. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 619–626.
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selbstüberschätzender Anmaßung allerlei ehrgeizige Projekte in Angriff, wird aber bald ungeduldig und ängstlich, lässt „die Hände sincken, und das angefangene Werck liegen, und beweiset damit, daß es von Menschen, und nicht von Gott gewesen, und also von sich selbst habe zergehen müssen“.35 Dass Senckenberg sich diese Ansicht zu Eigen machte, zeigt beispielsweise sein Eintrag vom 27. September 1732: Non avide nimis quaerenda sapientia, & varium scire, quippe quo nos magis impedimus, venit enim sapientia in quiete et sobria meditatione, hocque in statu, & ita Dispositis DEUS dat nobis ex gratia tantum scire, quantum nobis ad salutem confert. Wir übertreiben unsere Vernunfft offt in vielem wissen, v. lernen viel Buchstaben, v. werden offt zum Narren drüber. Sed vera sapientia venit / Deo in cordibus per quietem animi. Über das alles erkennen wir stückwerck nur alhier, v. werden dorten alles vollkommner haben [2, 503].
Diese Ansicht mündet schließlich in einer pauschalen Verurteilung aller Gelehrten, die allein ihrem Hochmut und ihrer Eitelkeit frönten und über dem ständigen Bestreben, das Lob der Unwissenden zu erheischen, die Erkenntnis ihrer selbst versäumten: „Dum omnibus noti esse cupiunt ignoti manent ipsimet sibi. Quoad cogitationem sui sind keine elendere leute alß gelehrte“ (2, 646). Hieraus spricht nicht zuletzt die Befürchtung, dass auch er selbst über der Anhäufung vielen Wissens mittels arbeitsaufwändiger Studien das angestrebte Ziel der Selbsterkenntnis aus den Augen verlieren könnte: „Sub hisce laboribus non idoneus sum ad justas preces ad DEUm, nimis terrenis occupationibus distractus, modice agendum, quid juvaret si omnia tenerem, et ignotus manerem mihi?“ (2, 684) Dass nicht nur das Studium der Medizin, sondern auch die tägliche Arbeit an der Selbsterkenntnis mit einem beträchtlichen Zeitaufwand verbunden war, lässt sich an Senckenbergs ungemein ausführlichen Aufzeichnungen ablesen. Indem er in diesem Herbst täglich selten weniger als 2000 Worte, an manchen Tagen aber auch über 5000 Worte zu Papier brachte, widmete er seinem Tagebuch einen beträchtlichen Teil seiner Zeit. Aus dieser Perspektive musste ihm die konsequente Weiterarbeit an seiner medizinischen Dissertation als eine gefährliche weltliche Zerstreuung erscheinen, die ihm die für seine religiöse Einkehr benötigte Zeit rauben und seine Gedanken von Gott entfernen würde. Das Anstreben der Promotion wurde so zu einem Symptom der selbst- und weltverliebten Ehrsucht. Damit sah Senckenberg sich in der gleichen Zwangslage, die auch Albrecht von Haller zeitlebens umtrieb; auch Franckes Bekehrungserlebnis beruhte im Wesentlichen auf der Erkenntnis, bisher nicht seinem Glauben, sondern nur seinem Eigensinn gefolgt zu sein und mit der Erwerbung all seines Wissens nicht der Ehre Gottes, sondern nur 35 Vgl. ebd., S. 68–85; hier S. 78. – Zur Gelehrsamkeitskritik im Halleschen Pietismus vgl. auch Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989 (Studien zur Sozialgeschichte der Literatur, 25), S. 50–75.
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seiner eigenen Ruhmsucht und Eitelkeit gedient zu haben.36 Dennoch besteht zwischen Senckenberg und dem berühmten Naturforscher und Dichter oder dem früh arrivierten Theologen und Pädagogen Francke ein wesentlicher Unterschied: Weder bei Haller, der bereits mit 19 Jahren promoviert wurde, noch bei Francke, der sich 22jährig habilitierte, hatte dieser Gewissenskonflikt schon während der Ausbildungszeit eingesetzt. Vielmehr befanden sich beide in der durchaus komfortablen Situation, ihre inneren Kämpfe auf der Grundlage einer gesicherten Existenz und bemerkenswerter beruflicher Erfolge austragen zu können. Als Senckenberg sich dem Antagonismus von Gott und Welt stellte, war er von einer so sicheren Lage noch weit entfernt: In seinem Fall war die Lösung dieses Problems eine maßgebliche Voraussetzung für die Erlangung der inneren Ruhe, die ein geordnetes Arbeitsleben überhaupt erst ermöglicht. Wenn er nun schlussfolgerte: „Gott strafft mich, daß ich alles wil durch meine raison vorauß sehen, v. Gott nicht blindlings folgen wil in denen vorhabenden wegen, daher werde confus v. weiß mir nicht zu rathen“ (2, 557), dann war dies nicht nur eine naheliegende, sondern auch beruhigende Erklärung für sein Dilemma, „denn der Grund der Unruhe liegt in mir, da doch in der Ruhe v. Stille v. meditatione lucida v. temperantia mehr wahrheit zu finden alß in büchern“ (2, 655). Den Gedanken, dass sein Mangel an Beharrlichkeit beim Studium wohl Gottes Strafe für die Hybris des weltklugen Theoretikers gewesen sein müsse, nahm Senckenberg als richtungsweisende Warnung an und zog daraus umgehend seine Konsequenzen: In den folgenden Tagen fasste er den Entschluss, einen gangbaren Mittelweg zwischen seinem Bedürfnis nach religiöser Einkehr und der für den Berufseinstieg unumgänglichen Erlangung der Doktorwürde zu finden. Laut Eintrag vom 21. Oktober nahm er sich vor, einerseits „einen zureichenden begriff von allen partibus medicae mir zuzulegen“, dagegen andererseits „die dinge so ich bisher nicht weiß, v. meinem hochmuth deo dirigente verborgen blieben“, auf sich beruhen zu lassen und „nicht höher zu fliegen begehren in Verworrenheit des verstandes v. Ungedult“ (2, 584). Um also seinen Berufseinstieg erfolgreich zu bewerkstelligen, ohne dabei der rationalistischen Weltklugheit anheimzufallen, suchte er deshalb einen dem pietistischen Zugang zur Religion entsprechenden „unorthodoxen“ Weg zur Medizin, der jenseits der konventionalisierten Dogmen und Lehrinhalte liegen 36 „Meine intention war ein vornehmer und gelehrter Mann zu werden, reich zu werden und in guten Tagen zu leben wäre mir auch nicht unangenehm gewesen, ob ich wol das ansehn nicht hätte haben wollen, als wenn ich darnach trachtete. Die anschläge meines Hertzens waren eitel, und gingen auffs zukünfftige, welches ich nicht in meinen Händen hatte. Ich war mehr bemühet Menschen zu gefallen, und mich in ihre Gunst zu setzen, als dem lebendigen Gott im Himmel.“ August Hermann Francke: Herrn M. August Hermann Franckens vormahls Diaconi zu Erffurt, und nach den er daselbst höchst unrechtmäßigst dimittiret, zu Hall in Sachsen Churf. Brandenburg, Prof. Hebraeae Lingvae, und in der Vorstadt Glaucha Pastoris Lebenslauff. In: Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. von Markus Matthias, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 2), S. 5–32, hier S. 21; vgl. auch ebd, S. 15.
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sollte. Wie die orthodoxen Theologen hätten sich nämlich auch die akademischen Mediziner längst vom Streben nach der Erkenntnis des wahren göttlichen Wesens der Natur abgewandt; statt dessen habe sich eine geradezu babylonische Verwirrung von Theorien einzelner Gelehrter und deren Schulen etabliert, die jedoch aber als spekulative Meinungen fehlbarer Menschen allesamt keinen Bestand haben könnten: Medici non discimus nos ipsos & naturam nosse, sed Stahl Hofmann, hunc et illum sequimur et eorum commenta. Theologi Systema opinionum humanarum sacerrimarum discimus, non attendimus spiritum Dei in corde operantem […] Ita errores innumeri geniti [2, 777].
Als die einzige Möglichkeit, sein Medizinstudium auf eine gewissensverträgliche und gottgefällige Weise zu bewältigen, erschien ihm deshalb eben jene zeitaufwändige empirische Methode, die er auch in seinen täglichen Tagebucheintragungen verfolgte und die das Streben nach Selbst- und Gotteserkenntnis an oberste Stelle setzte: „Studia facilia sunt si in tranquillitate & ordine tractantur. Difficilia so man zu schnell wil gelehrt seyn, das gemüth turbirt dabey, und nicht die Zeit abwarten kan“ (2, 700). In seinem Bemühen, das Studium der physisch orientierten Medizin mit seinen religiösen Bedürfnissen zu vereinbaren, fasste er darüber hinaus sogar einmal ein entsprechendes interdisziplinäres Promotionsprojekt ins Auge: „Bonum esset Diss. argumentum, medicina Theologica, daß man den medicum effectum Theologiae in animis, wie medicinae in corporibus bewiese, ist alles eins“ (2, 481). Wie viele andere Projekte aus dieser Zeit kam es aber über die bloße Idee nicht hinaus.37 Die Tatsache, dass ihn ausgerechnet die in seinen Augen gar zu weltlich gesinnte Mutter so sehr zur Erlangung der Doktorwürde drängte, wirkte sich auf den Fortgang seiner Studien wenig förderlich aus; auch ihre Art, diesen Wunsch zum Ausdruck zu bringen – sie „schilt schindet v. schmähet, wil auch schlagen“ (2, 472) – war schwerlich dazu geeignet, den Sohn zu williger Einsicht und Gehorsam zu bewegen. Senckenberg rächte sich zunächst, indem er sie durch die ostentative Demonstration seiner religiösen und moralischen Überlegenheit zu verletzen suchte: „Taceo indignanti matri et ejus misereor & oro pro eam, sic vinco & tacet“ (2, 661). Da ihm jedoch im Zuge seiner Selbstbeobachtung immer deutlicher vor Augen trat, wie sehr die Charakterschwächen der Mutter den eigenen ähnelten, wurde er sich allmählich seiner eigenen Intoleranz bewusst.38 Nach und nach gelangte er zu der Einsicht, dass der Standpunkt der Mutter durchaus berechtigt und seine trotzige Verweigerungshaltung fruchtlos sei: 37 Zu weiteren selbstbezüglichen, aber gescheiterten Projekten, etwa über den Einfluss der Erziehung auf die seelische Konstitution oder „De melancholia vel de mentis aberrationibus“ vgl. de Bary : Senckenberg (wie Anm. 4), S. 103 f. 38 Vgl. 2, 712; vgl. auch 2, 580, 2, 710 und 2, 717.
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Ich habe eher keine Ruhe biß ich den Müssiggang überwunden v. alles daher entstehende übel, biß ich der Mutter willen erfüllt v. Dr. worden zu s[einer] Zeit v. alles dahin gehörige wohl in acht genommen v. überlegt habe in s[einer] Ordnung. Biß ich die vanitaet des disputirens über wunden habe [2, 552].39
Der Entschluss, sich dem Willen seiner Mutter entsprechend wieder verstärkt seiner Dissertation zu widmen, war jedoch keineswegs von dem Willen getragen, sich gänzlich mit ihr auszusöhnen: Vielmehr ging Senckenberg fortan dazu über, in der Mutter eine Abgesandte des Teufels zu erblicken, da sie ihn ja offenbar „in der Welt einwickeln v. vor immer verderben“ (2, 719) wolle. Zugleich äußerte er jedoch die Überzeugung, dass ihm diese Anfechtung letztlich zum Nutzen gereichen könnte: „Ohne Verfolgung v. leiden kan ich hier nicht seyn, ist nöthig, wird mich aber zum fleissigen arbeithen v. studiren v. bethen je mehr v. mehr antreiben“ (2, 720). Auf ähnliche Weise versuchte er, aus seinen eigenen Sündenerfahrungen Zuversicht zu schöpfen und sie zu seinem Nutzen anzuwenden: Ich habe mich von Gott gewandt in meinem hertzen, preces & laborem neglexi & labores, sic detrusus in propriae voluntatis carcere, Ungedult hoffarth, desperation u. dgl. ja gar darauß in die hölle v. trostlosigkeit. Daß also weiß wie alles schmeckt v. mich davor hüthen kann [2, 585].
Nur wer wie er die leidvolle Erfahrung von Sünde und Anfechtung gemacht und in seine eigenen Abgründe geblickt hat, könne nämlich zu einem wahrhaft und nachhaltig gottgefälligen Leben gelangen; wer aber das Böse nicht kennt, wisse es auch nicht einzuschätzen und fiele ihm deshalb früher oder später anheim: „Die so gleich pii sind fallen bald zurück. Kinder die so fromm gewesen it[em] juvenes die fast vor wunder gehalten worden, so sie in die freyheit kommen bestehen nicht, ist nicht ex experientia, fallen ad mala“ (2, 588). Die von Senckenberg konstatierte Relevanz solcher Sündenerfahrungen ist im Zusammenhang mit den bereits erwähnten, ihn regelmäßig heimsuchenden Stimmungsschwankungen zu sehen. Auch für sie fand er nämlich eine religiöse Erklärung, indem er sie als Zustände der Präsenz und Absenz göttlicher Gnade oder auch metaphorisch als Phasen des Lichts und Finsternis begriff.40 Diese Zustände hingen für ihn unmittelbar mit dem Spannungsverhältnis zwischen religiöser Einkehr und dem Streben nach weltlichem Ruhm zusammen: Das Licht göttlicher Gnade leuchte nur demjenigen, der sich demütig dem Willen Gottes fügt; wer sich aber von seinem Eigensinn leiten lässt und seiner Ehrsucht frönt, versinke in der Finsternis und würde anfällig für Versuchungen und Sünde: „[I]n solcher finsterer Kammer agirt der Satan gerne denn der erste anfang davon ist, daß wir unß auff intempe39 Vgl. dazu auch 2, 719. 40 Dieser Lichtmetapher bedient sich auch Albrecht von Haller : Vgl. Haller : Fragmente religiöser Empfindungen (wie Anm. 8), S. 224 und S. 317.
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rantiam gelegt, v. unsern willen tectH et nobis insciis der hölle devovirt haben“ (2, 520). Überwinden könne man diesen unglücklichen Zustand allein durch eifriges Beten sowie durch standhaftes Ankämpfen gegen die Versuchungen,41 wobei sich die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen mit solchen Zuständen als hilfreich erwiesen. Indem Senckenberg seine Stimmungsschwankungen genau wie sein Versagen beim konsequenten Arbeiten als Strafe für seine selbstverliebte Hybris betrachtete, stellte er sich in die Reihe jener religiösen Melancholiker, bei denen jede Regung des individuellen Willens quälende Sündenängste und Gewissensnöte auslöste.42 Die Tatsache, dass er sich trotz seiner Entschließungen bezüglich der Wiederaufnahme seiner Studien und ihrer arbeitstechnischen Realisierbarkeit erst fünf Jahre später aus seiner Krise herauswinden konnte, wirft aber die Frage nach der Richtigkeit seiner Selbsteinschätzung auf. Wenn nämlich der beruflich überaus erfolgreiche Haller schreibt: „Zeige mir, o Gott! daß ich eine schwache unmächtige dependirende Kreatur bin; – daß das Leben ein Augenblick und die Ewigkeit vor der Thüre ist!“43, dann liest sich dies in der Tat wie ein reuevolles Zurückschrecken vor dem Gefühl der eigenen geistigen Autonomie; wenn aber der Student Senckenberg seine Schwierigkeiten mit der konsequenten Durchführung wissenschaftlicher Arbeiten zur Strafe für seine Hybris und die abzufassende Dissertation selbst zum Manifest seines Strebens nach irdischem Ruhm erklärt, dann klingt dies weniger nach einem Bekenntnis seines religiösen Versagens, sondern vielmehr nach einer pietistischen Verbrämung seines Scheiterns an weltlichen Herausforderungen. Die von Senckenberg an sich selbst diagnostizierte Melancholie ist in seinem Fall also kein negativer Effekt, sondern selbst ein Mittel seiner Selbstkonstruktion anhand des pietistischen Welterklärungsmodells. Das lebendige Idealbild eines pietistischen Gelehrten begegnete Senckenberg in der Person Johann Konrad Dippels.44 Der berüchtigte, unter dem 41 Vgl. dazu 2, 395, 2, 369 und 2, 520. 42 Zur Melancholie im Pietismus vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/I: Aufklärung und Pietismus, Tübingen 1991, S. 68–78; Schings: Melancholie und Aufklärung (wie Anm. 19), S. 73–142; Kirn: Trauer und Melancholie (wie Anm. 26), S. 571–583; Bogen: Der aufgeklärte Religionist Adam Bernd (wie Anm. 19), S. 562–568; Magdalene MaierPetersen: Der „Fingerzeig Gottes“ und die „Zeichen der Zeit“. Pietistische Religiosität auf dem Weg zur bürgerlichen Identitätsfindung, untersucht an Selbstzeugnissen von Spener, Francke und Oetinger, Stuttgart1984 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 141), S. 83–88. 43 Haller: Fragmente religiöser Empfindungen (wie Anm. 8), S. 259. 44 Zu Dippel vgl. Karl Buchner : Johann Konrad Dippel. In: Historisches Taschenbuch. Hg. von Friedrich von Raumer, Dritte Folge, Neunter Jahrgang, Leipzig 1858, S. 207–355; Karl-Ludwig Voss: Christianus Democritus – Das Menschenbild bei Johann Conrad Dippel. Ein Beispiel christlicher Anthropologie zwischen Pietismus und Aufklärung, Leiden 1970; ders.: Johann Conrad Dippel. In: Orthodoxie und Pietismus. Hg. von Martin Greschat, Mainz 1982 (Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7), S. 277–285; Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung, Göttingen 2001 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 39); ders.: Johannn Konrad Dippel und die Aufklärung.
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Pseudonym Christianus Democritus publizierende Theologe, Arzt und Alchimist hatte sich gegen Ende seines abenteuerlichen Lebens im wittgensteinischen Berleburg niedergelassen, wo Senckenberg ihn im April und erneut im August 1732 besuchte. Auch hier verspürte er zunächst die bereits erwähnte Scheu angesichts der geistigen Überlegenheit des berühmten Mannes und die Angst vor der Geringschätzung seiner eigenen Person.45 Sein Interesse an Dippel war jedoch so groß, dass er ihn gleichsam mit der Attitüde des Naturforschers studierte: Er hielt nicht nur jede seiner Beobachtungen bezüglich Dippels Aussehen, Gewohnheiten und Lebensweise fest, sondern bemühte sich auch nach jeder persönlichen Begegnung um eine möglichst vollständige Niederschrift jeder einzelnen Aussage des Mannes, der in dieser schwierigen Lebensphase zu seinem Mentor wurde. Mit ihm teilte er nämlich nicht nur seine ablehnende Einstellung gegenüber allen Formen der religiösen Versammlung, sondern er erkannte in ihm auch einen durch Gott besonders begnadeten Menschen: C[onrad] D[ippel] dicebat Gott habe ihn alzeit sonderbar geführt, ja so nahe gehalten, daß er ihm nicht entlaufen können, ja gleichsam gezwungen zu dem v. dem guten so immer am Ende herrlich gelaufen, obschon principium schlecht schien. that er einmal was nach der Vernunfft vorschrifft, v. nicht in dem blinden, so gerieth es übel, geschahe doch sehr selten. In schweden v. dänemarck sahen alle, daß er der klügste kopff von der welt, der ihnen allen Rätzel vorlegen konte, es wunderte sie aber sehr, daß ein so kluger kopff, solche dinge unternahm die sich mit ihrer Vernunfft nicht reimten, v. doch so getrost dabey war [2, 364].
Dieses bedingungslose Gottvertrauen Dippels musste Senckenberg in seiner seelischen Krise und unter dem Druck der abzufassenden Dissertation sehr viel tröstlicher erscheinen als die ständigen Ermahnungen seiner Mutter, doch endlich seine wissenschaftlichen Studien fortzusetzen. Dankbar notierte er deshalb alle Bemerkungen, in denen jener seine Vernunftskepsis zum Ausdruck brachte. Besonders nachdrücklich erscheint sein Referat des Dippelschen Urteils über das Bedürfnis mancher Naturforscher, alle Vorgänge in der Natur restlos als physikalische Prozesse nach den Regeln der Mechanik zu In: Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte. Hg. von Bernd Heidenreich, Wiesbaden 1999, S. 95–106; Kristine Hannak: „Lebendige Erfahrung“. Erkenntniskritik und Autonomiestreben zwischen Radikalpietismus und Aufklärung (Johann Conrad Dippel und Johann Christian Edelmann). In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“ (wie Anm. 19), S. 81–95, bes. S. 82–92; Kroh / Lückel: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 5), S. 42–50; Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 5), S. 152; zu Dippel als Mediziner vgl. Irmtraut Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels im Kontext geistesgeschichtlicher Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 597–610. 45 „Herr C D. alß ein größerer Genie obligirt mich sich ihm zu unterwerffen, er sieht weit über mich v. andere hin auß“ (2, 350); vgl. auch 2, 353: „Metuo C D. scientiam, v. daß ich von ihm alß inscius angesehen würde.“
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erklären, statt sie als unerforschbare Werke Gottes hinzunehmen und an dessen Allmacht zu glauben: „Alles sol demonstrirt werden können, v. niemand wil das nescire gelten lassen. < stultam sapientiam!“ (2, 365) Wie weit Dippels geistiger Einfluss auf den jungen Mann reichte, lässt sich an dem Grad ermessen, in dem er die Meinungsbildung seines Schülers beeinflusste. Bei seinen Referaten der Dippelschen Aussagen und Erzählungen fällt auf, dass Senckenberg sich fast jeglichen eigenen Kommentars enthielt und anstelle der sonst bei Berichten gebrauchten indirekten Rede hauptsächlich den Indikativ verwendete. In solchen Passagen verschwindet der Tagebuchschreiber fast vollständig hinter der Person des bewunderten Mannes und ist für sich kaum mehr greifbar. In besonderem Maße gilt dies für die Erzählungen der Dippelschen Lebenserinnerungen und Abenteuer, wie etwa eine in Gelassenheit und Gottvertrauen überstandene Seenot: Sie segelten wohl fort, aber C D stund oben in navi, v. rauchte taback, sahe daß die See kochte, dicebat Nautae man werde einen sturm bekommen, ille annuit, C D. volebat cum et ad huc von Nordwest nubecula veniret daß man die Segel wegnehme, hic sagte es sey noch Zeit, biß auch etwan noch 1. Meile von ihnen die See hohe wellen warff, da wolte er, alß er aber anstellen wolte wars alß ob der wind auf 1 mal auf das schiff stieß, v. warff es gantz auf die seite um, daß der mast im Wasser lag, da ward ein entsetzl. geheul im schiffe, der schiffer war perturbirt, C D. blieb ruhig im Gemüthe, wäre bald nisi arripuisset frenum hinüber ins Wasser gewippt worden alß das schiff umschlug, in dessen trang an dem Vordeck das Wasser an 2 löchern entsetzl. ins schiff, C D. dicebat Hier muß Gott helffen! behielt aber s. tabacksPfeiffe im Munde [2, 414].
Neben dem spärlichen Erscheinen konjunktivischer Satzkonstruktionen fällt nicht selten auch ein ausgesprochen verklärender Tonfall auf, da Senckenberg dem christlichen Abenteurer in seinen Aufzeichnungen oftmals geradezu messianische Züge verleiht. An traditionelle bildliche Darstellungen des heiligen Franziskus von Assisi erinnert etwa folgende Bemerkung bezüglich Dippels dänischer Gefangenschaft auf Bornholm: Sein arrest ist ihm nicht schwer vorkommen, alle Leute, auch soldaten, so sonst die arrestanten übel zu tractiren pflegen, bedienten ihn gleichsam v. erzeigten ihm allerlei gutes tamquam jussi, alles liebte ihn. Die Vögel in bornholm, schwalben p so er freundlich tractirte, setzten sich post reditum, wie vorher, das andere jahr auf s. schultern, wie in insulis non habitatis vor dem schiessen die Vögel auch thun [2, 356].
Kaum jemals äußerte Senckenberg Zweifel an der Wahrheit der Dippelschen Geschichten. Lediglich in einer Randbemerkung heißt es: „Omnes narrationes Dippelii gehen dahin mirabilia von sich zu erzehlen v. sich gros zu machen“ (2, 396). Kritische Äußerungen Dritter über Dippels Verhalten registrierte er zwar, doch änderten sie nicht seine Meinung, und als ihm selbst seine Voreingenommenheit für Dippel einmal klar vor Augen tritt, tadelt er sich nicht etwa für seine Parteilichkeit, sondern für seine mangelnde Toleranz bei anderen Menschen: „In C. D. ego omnia tolero, auß interesse, cur et non in aliis,
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in patre in matre pp vide quomodo abditos habent malitia recessus, & consuetudo peccandi!“ (2, 420). Seine verklärende Haltung gegenüber Dippel kulminierte schließlich in der bedingungslosen Bereitschaft, dessen respektloses und provokantes Verhalten seinen Freunden und Gönnern gegenüber zu rechtfertigen und hierbei sogar seine eigenen moralischen Maßstäbe preiszugeben. So erkannte Senckenberg in Dippel zwar ein „moquantes wesen“, aber nur „gegen hochmüthige, die was seyn wollen, die er aber in s[einem] thun überstimmt, durch die Größe seines Genius“ (2, 358); zudem provoziere er oftmals „nicht auß hertzens Grund, nur aber andere kennen zu lernen, v. sie herauß zu locken“ (2, 398). Dippels Spöttereien erklärte er dabei zur freimütigen Aufrichtigkeit des wahrhaft christlichen Weisen, der Heuchelei und Verstellung ablehnt und sich nicht scheut, das unchristliche Verhalten anderer zu kritisieren, selbst wenn dies zu seinem eigenen Nachteil geschieht und er die Verachtung seiner Mitmenschen oder gar die Verfolgung durch die Mächtigen fürchten muss.46 Wenngleich Senckenberg die Polemik sonst als Ausgeburt der Selbstliebe und Intoleranz kategorisch ablehnte, spendete er Dippels neuester Spottschrift gegen die Lutheraner Wagner und Hansen47 uneingeschränkten Beifall: „Valde risimus ille & ego, cum praelegeret“ (2, 406). So war denn auch Dippels neun Jahre währende Bornholmer Gefangenschaft in Senckenbergs Augen keine verdiente Strafe für sein anmaßendes Verhalten, sondern vielmehr das geduldig ertragene Martyrium des von der Welt verkannten und verleumdeten Gerechten: „Dippelio hat man viel schimpff angethan, aber endlich hat man ihn mit vielem respect wieder holen v. alle Ehre bezeigen müssen. Gott führts alles herrlich hinauß, sein Rath ist wunderbar. In allen s[einen] leyden ist C[onrad] D[ippels] Gemüthe gantz ruhig v. stille gewesen“ (2, 374). Die pietistische Verklärung dieser moralisch keineswegs unproblematischen Persönlichkeit war nicht Senckenbergs alleiniges Werk, sondern wurde von Dippel selbst forciert. Der promovierte Mediziner, der sich auch als theologischer Schriftsteller betätigte und dabei sein Gottvertrauen stets selbstbewusst zur Schau trug, wurde für den jungen Senckenberg jedoch zur Verkörperung des christlichen Gelehrten schlechthin. Sein Vorbild mag deshalb nicht unerheblich dazu beigetragen haben, dass Senckenberg seinen 46 Vgl. Francke: Unterricht (wie Anm. 29), S. 80–82. Vgl. auch Senckenbergs Tagebuch, Bd. 2, 398 sowie 2, 412, wo er eine entsprechende Aussage Dippels referiert: „Allerlei äussere heilige formen v. gestalten annehmen, mache niemand gut v. fromm v. bessere niemals von hertzen. besser frey der natur nach von aussen, im hertzen aber redlich nach Gott.“ 47 Vgl. Johann Konrad Dippel: Etwas Neues, oder Retirade der Lutherischen Orthodoxie in eine neue von etlichen Leibnitzianischen Ingenieurs aufgeworffene Schantze, in welcher Peter Hanssen und Friederich Wagner, Jener Hochfürstl. Hollsteinischer Consistorial-Rath, Superintendent, und Hofprediger zu Ploen, dieser Inspector zu Nauen in der Marck Brandenburg, mit achtzig erlaeuterten Grund-Fragen von der Lehre der Lutherischen Kirche, das Mittler-Amt Christi betreffend, und einem Buch genannt: Christianus Democritus Autocatacritus, oder der sich selbst verurtheilende Democritus, den Democritum auf einen andern Kampf-Platz fordern, und also zum gegenwärtigen Bombardement denselben nöthigen. […], o.O. 1732.
,,< stultam sapientiam!“
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Berufseinstieg schließlich doch noch bewerkstelligen und es zu beruflichen Erfolgen, großem Wohlstand und hohem Ansehen bringen konnte.48 Anders als Albrecht von Haller, der seine medizinischen Interessen zeit seines Lebens beinahe ausschließlich auf die Forschung richtete, während er nur ausnahmsweise und widerwillig Patienten betreute,49 war Senckenberg offenbar eher praktisch veranlagt und widmete sich in seinem späteren Leben mit großer Hingabe der angewandten Medizin. Diese Praxisorientierung spiegelt sich auch in seinem Urteil über Haller, der bei ihrem persönlichen Zusammentreffen im Jahre 1737 längst Professor in Göttingen und Mitglied eben jenes Prüfungsausschusses war, vor dem der Doktorand Senckenberg seine Dissertation verteidigte. Nachdem beide einander näher kennengelernt hatten, kam Senckenberg zu dem Schluss, dass Haller trotz seiner großen Begabung und seiner Fülle an theoretischem Wissen jegliche Eignung zum praktischen Arzt vermissen ließ: „Grose theoretische gelehrte können per rerum naturam nicht gute practici seyn, alterum tollit alterum“.50 Während Haller in seinem Leben etwa 50.000 Seiten Wissenschaftsliteratur publizierte, veröffentlichte Senckenberg denn auch niemals mehr als seine knapp 40 Druckseiten umfassende Dissertation, und wo Haller in Momenten der Einkehr seine Forschungen als „gelehrte Tändelei“ und Ausdruck von Weltliebe und Ehrsucht betrachtete, die jedes aufrichtige religiöse Empfinden in ihm erstickten,51 suchte Senckenberg schon frühzeitig, die weltliche Notwendigkeit seiner medizinischen Promotion mit seinem spirituellen Bedürfnis nach religiöser Einkehr zu vereinbaren. Die Verantwortung für seine Entscheidung, sich auf eine rein empirische Wissensaneignung und schließlich auf eine praktische Berufstätigkeit zu verlegen, wies Senckenberg jedoch von sich: Nicht in der Erkenntnis seiner mangelnden persönlichen Eignung für die theoretische Medizin erkannte er die Triebfeder dieses Entschlusses, sondern in dem Willen Gottes, der sich seiner Ansicht nach in seinem wiederholten Scheitern an der Theorie manifestierte. Das genuin pietistische Bedürfnis, allen Umständen des eigenen Lebens religiöse Deutungsmuster aufzuprägen, legte Senckenberg auch im Hinblick auf die Ursachen, Symptome und Effekte seiner physischen 48 Zur Senckenbergischen Stiftung vgl. August de Bary : Geschichte der Dr. Senckenbergischen Stiftung 1763–1938. Ein Zeugnis des Frankfurter Bürgersinns in 175 Jahren, Frankfurt 1938; Gunter Mann: Senckenbergs Stiftung und die Frankfurter Republik der Ärzte in 19. Jahrhundert. In: Medizinhistorisches Journal, Bd. 7, Heft 1.2 (1972), S. 244–263. 49 Vgl. Urs Boschung: Praktische Medizin. In: Albrecht von Haller (wie Anm. 18), S. 274–291. 50 Senckenberg: Tagebücher (wie Anm. 4), Bd. 15, Na 31, 15, S. 330. Ferner heißt es an diesem 28. September 1737: „Haller est bonus theoreticus, et malus practicus. Ingenio et memoria pollet, non judicio, quod in medica exactum requiritur. In nimias partes divulsus non potest omnibus adesse, sunt sui limites intellectui, hat s copias nicht beysammen in rem praesentem, non adest rebus nec sibi.“ 51 Haller: Fragmente religiöser Empfindungen (wie Anm. 8), S. 296. Vgl. dazu Richard Toellner : Haller als Christ. Zur Deutung der ,Fragmente Religioser Empfindungen‘. In: Albrecht von Haller (wie Anm. 18), S. 485–494; Wuthenow, Europäische Tagebücher (wie Anm. 3), S. 61–66, Schönborn: Buch der Seele (wie Anm. 1), S. 53–64.
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und seelischen Konstitution an den Tag: Obwohl sich ihm durchaus auch weltliche Erklärungsansätze und Lösungsstrategien für seine Probleme darboten, war er doch nicht bereit, sie konsequent zu adaptieren.52 Senckenbergs Promotion im Jahre 1737 kündigt die entscheidende Wende in seinem Leben an, da sie die Überwindung seiner langwierigen Krise einleitete. Ab den frühen 1740er Jahren manifestiert sich in seinen Tagebüchern eine bis dahin nicht gekannte Ausgeglichenheit und Seelenruhe, die sich in Gestalt von entscheidenden Veränderungen sowohl bezüglich des Umfangs als auch des Inhalts bemerkbar macht: Die täglichen Einträge sind nun nicht nur wesentlich kürzer, sondern konzentrieren sich auch weit stärker auf seine Mitmenschen, so dass die tägliche Dokumentation seiner eigenen körperlichen Regungen nun ebenso entfällt wie die fortwährende Reflexion seines Seelenzustands.53 Wusste Senckenberg bereits 1732, dass sich der Umfang seiner Aufzeichnungen ganz von selbst vermindern würde, sobald einst wichtigere Dienste an Gott, seinem Nächsten und an sich selbst auf ihn zukämen,54 so trat dieser Fall nach seiner Promotion schließlich ein: Hatte sein Gottesdienst bis dahin hauptsächlich im Tagebuchschreiben bestanden, so wurde nun die ärztliche Tätigkeit zum Hauptmedium seiner christlichen Vervollkommnung. 52 Vgl. demgegenüber die 1780 erschienen Beiträge zur Philosophie des Lebens, wo Karl Philipp Moritz anhand von Fragmenten aus seinem eigenen Tagebuch die aktive (und nicht ohne Selbstliebe zu bewerkstelligende) Bewältigung ganz ähnlicher Probleme exemplarisch vorführt. So liegt für ihn etwa die Ursache von Schwermut, Verzagtheit und Trägheit in einer grundlegenden Unzufriedenheit mit sich selbst, die sich zu verselbständigen droht, solange man ihr nicht mit Entschlossenheit und Tatkraft entgegenwirkt; sein Lösungsansatz ist der Entschluss, seine Gedanken zuversichtlich auf die Zukunft zu richten und sich die Zufriedenheit angesichts des vollbrachten Werkes als zu erwartende Belohnung vor Augen zu halten, vgl. Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Philosophie des Lebens, Berlin 21781, S. 41–57, 90, 98 f. u. 163. Die ihm gleichfalls vertraute Scheu vor überlegenen Menschen führt er auf mangelndes Selbstvertrauen zurück und nimmt sich vor, sie durch Übung und Konfrontation bekämpfen, vgl. ebd., S. 152–155. – Zu Moritz’ Tagebuchfragmenten vgl. Alexander Kosˇenina: Pfropfreiser der Moral in allen Gattungen der Literatur. Karl Philipp Moritz’ „Beiträge zur Philosophie des Lebens“ und die Anfänge der Lebensphilosophie. In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 2. Hg. von Ursula Goldenbaum und Alexander Kosenina, Hannover 2003, S. 99–124. – Zur Säkularisierungstendenz im Tagebuch und der Autobiographie des 18. Jahrhunderts vgl. Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (wie Anm. 3), S. 65–72, sowie ders.: Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 384–390. 53 Dass dies – zumindest in Grundzügen – ein verbreitetes Phänomen zu sein scheint, legt folgende Beobachtung nahe, die William Matthews an puritanischen Tagebüchern gemacht hat: „In long diaries self-analysis usually declines as the months go on, partly because the process tends to become repetitive and less interesting to the diarist himself; often, one suspects, because the diarist realizes he has not been quite successful in telling the truth; most often, perhaps, because the usual objective of self-analysis, namely self-correction, has been in vain. It is also striking that young diarists are prone to be more self-analytical than older ones: as a diarist grows older he tends to shift his interests to matters outside himself and to become more objective.“ Matthews: Diary (wie Anm. 3), S. 294. 54 „Multa noto quae notare non amplius licebit ubi plura & majora officia Deo, proximo & mihi erunt praestanda olim“ (2, 714).
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Johann Christian Senckenberg (1707–1772) und die „Pietas Medici“ Seiner Leibes- und Gemüthsbeschaffenheit nach, war er klein von Statur, doch untersezt; gesund von Körper, feurig von Augen, und in allem seinem Thun überaus lebhaft. Noch wenige Wochen vor seinem Tode, als ich ihn das leztemal besuchte, ging er mit mir, nach dem er schon bei einer Menge Kranken in der ganzen Stadt herumgewesen war, noch gegen Abend mit so schnellen Schritten und recht jugendlicher Kraft spazieren, daß ich ein und zwanzigjähriger Jüngling auch allein nicht geschwinder als mein 66jähriger Begleiter zu gehen verlangt haben würde. An eben gedachtem Besuch der Kranken ließ er sich durch nichts abhalten, es mochte Essensoder Schlafens=Zeit sein, wann er gerufen ward.1
Mit diesen Worten charakterisiert Renatus Leopold von Senckenberg seinen 1772 durch einen Unglücksfall verstorbenen Onkel. Als Sonderling wird Senckenberg in Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit beschrieben, mit etwas wunderlichem Äußeren und seltsamem Gang, von dem „Spottvögel sagten: er suche durch diesen abweichenden Schritt den abgeschiedenen Seelen aus dem Wege zu gehen, die ihn in grader Linie wohl verfolgen möchten“, doch habe er, ein „Mann von großer Rechtschaffenheit“, zuletzt durch seine Stiftung die „Ehrfurcht“ und Achtung aller erworben.2 Mit Johann Christian Senckenbergs Namen verbinden sich bis heute in Frankfurt am Main und weit darüber hinaus diese Dr. Senckenbergische Stiftung, das von ihm gegründete Bürgerhospital, die Senckenbergischen medizinischen Institute, der Botanische Garten, das Senckenberg Naturmuseum und die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg (UB). Senckenberg war nicht ,nur‘ ein Arzt, der sich in vorbildlicher Weise um seine Patienten kümmerte, auch war seine Stiftung für ihn nicht Selbstzweck: Dahinter steht seine persönliche Auffassung vom Arzt-Beruf, der gleichzeitig Berufung ist, und seine feste Überzeugung, dass nur ein Arzt, der seine Existenz auf Gott zurückführt und auf ihn hin ausrichtet, ein wahrer Arzt sein könne. Diese Auffassung durchzieht sein ganzes Leben, sein Schaffen und das, was er an Schriftlichem hinterlassen hat. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die spezielle Pietas 1 Renatus Leopold von Senckenberg: Nachricht von dem Leben und Charakter D. Johann Senckenbergs [um 1773] (Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg, Archivzentrum, Na 31 Nachlass J. Chr. Senckenberg, Mappe 1), S. 22. Digitalisat unter http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/ frontdoor/index/index/docId/15769. Der originale Zeilenfall der Senckenberg-Manuskripte wurde in den Zitatpassagen dieses Aufsatzes nicht reproduziert. 2 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller, Erster Teil, Zweites Buch, Frankfurt 1986 [FA, Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 14], S. 88, vgl. Kommentar, S. 1097, 1376.
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Medici Senckenbergs und seinen religiösen Werdegang vor allem an Hand ausgewählter Texte aus seinem umfangreichen schriftlichen Nachlass zu skizzieren. Der Beitrag kann und soll jedoch keine fertigen Ergebnisse liefern: Eine thematische Beschäftigung mit Senckenberg jenseits der Biographien hat bis jetzt in der Forschung nur vereinzelt stattgefunden, und von dem, was in Senckenbergs Nachlass vorhanden ist, ist das Allermeiste kaum bekannt und rezipiert. So steht im Hintergrund dieses Beitrags vor allem die Hoffnung, anhand ausgewählter Beispiele wenigstens schlaglichtartig aufzeigen zu können, dass dieser reichhaltige und vielfältige Fundus ein für die weitere wissenschaftliche Bearbeitung überaus lohnendes Feld darstellt.
Der schriftliche Nachlass Senckenbergs Da in den nachfolgenden Ausführungen immer wieder auf Senckenbergs Nachlass rekurriert wird, sei dieser kurz vorgestellt. Seine schriftliche Hinterlassenschaft befindet sich heute an zwei Orten in Frankfurt: Die UB, 2005 aus dem Zusammenschluss von Senckenbergischer Bibliothek und Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main hervorgegangen, übernahm damit auch die Aufgabe der ehemaligen Senckenbergischen Bibliothek (die auf die Privatbibliothek Johann Christian Senckenbergs zurückgeht), einen Großteil des schriftlichen Nachlasses ihres Namensgebers zu verwalten. Dessen Eigentümerin ist nach wie vor die Dr. Senckenbergische Stiftung. Insgesamt sind in der UB 53 gebundene Tagebücher (insgesamt ca. 38.000 Seiten) vorhanden, dazu ca. 660 Mappen. Darüber hinaus befinden sich im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte zwei weitere Bände Tagebücher (ca. 1.200 Seiten) sowie viele andere Dokumente (wie Urkunden, Haushaltungsbücher etc.).
a) Die Tagebücher Senckenbergs Seit seinen Jugendjahren notierte Johann Christian Senckenberg in nahezu täglichen handschriftlichen Aufzeichnungen akribisch alles, was ihn bewegte.3 Erstmals geordnet und in die heutige Form gebracht wurden diese „Tagebücher“ im 19. Jahrhundert von dem Frankfurter Stadtarchivar Georg Ludwig
3 Siehe dazu Mathias Jehn / Veronika Marschall: Mikrokosmos und Makrokosmos in 55 Bänden. „Observationes ad Cognitionem mei et aliorum“ – Zur Digitalisierung, Transkription, Übersetzung und Internetpräsentation der Tagebücher Johann Christian Senckenbergs. In: Archivnachrichten aus Hessen 13/2 (2013), S. 55–58. Der archivische Nachlass Senckenbergs ist im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt unter der Signatur „Na 31 Nachlass Johann Christian Senckenberg“ einsehbar.
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Kriegk.4 Die Bände 1 bis 18 enthalten im Quartformat die Aufzeichnungen (Observationes) aus den Jahren 1730–1742. Ab 1743 (und damit seit der Zeit, in der Senckenberg in Frankfurt als Arzt fest etabliert war) nahm er bis zu seinem Tod 1772 seine Eintragungen auf losen, hochrechteckigen Notizzetteln vor, die vermutlich durch Kriegk gebunden wurden. Letzterer teilte zudem die Bände (Nr. 19–53) in „ärztliche“ und „nichtärztliche Tagebücher“ ein. Wohl auch bedingt durch die besonderen Schwierigkeiten ihrer Erschließung wurden diese Aufzeichnungen bisher nur sehr punktuell berücksichtigt, v. a. für die Senckenberg gewidmeten Biographien5 oder als Quellenmaterial in Studien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu literaturwissenschaftlichen oder stadtgeschichtlichen Themen. Die Handschrift ist oft nur sehr mühsam zu entziffern und stellt eine besondere Herausforderung dar. Zudem sind die Tagebücher in einem Gemisch verschiedener Sprachen abgefasst, es dominieren Latein und Deutsch mit einem Anteil von jeweils ca. 40 %, dazu kommen Französisch, (Alt-)Griechisch und zuweilen Italienisch oder Englisch. So können innerhalb eines einzigen Satzes bzw. einer Textpassage Wörter aus verschiedenen Sprachen aufeinander folgen.6 In einem von der Dr. Senckenbergischen Stiftung finanzierten Pilotprojekt wurden 2010–2013 die Tagebücher der Jahre 1762/63 digitalisiert und mit wissenschaftlicher Unterstützung in TEI7 transkribiert. Die Dr. Senckenbergische Stiftung, die Stiftung Polytechnische Gesellschaft und die Gemeinnützige Hertie-Stiftung fördern gemeinsam seit Mitte 2013 die Digitalisierung und Transkription der Observationes. Im Internet sind die digitalisierten Bände aufzurufen unter http:// sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/senckenberg, die Transkriptionen unter http://senckenberg.ub.uni-frankfurt.de/ (hier in Form einer jeweils parallelen Darstellung des Originaltextes und seiner Transkription mit Anmerkungen).8
4 Siehe dazu vor allem Hans-Heinz Eulner: Johann Christian Senckenbergs Tagebücher als historische Quelle. In: Medizinhistorisches Journal 7 (1972), S. 233–243, hier S. 236–239. 5 Zu Johann Christian Senckenbergs Vita siehe vor allem: G[eorg] L[udwig] Kriegk: Die Brüder Senckenberg. Eine biographische Darstellung. Nebst einem Anhang über Goethe’s Jugendzeit in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1869; August de Bary: Johann Christian Senckenberg (1707–1772). Sein Leben auf Grund der Quellen des Archivs der Dr. Senckenbergischen Stiftung, Hildesheim 2004 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1947) [beide Biographien leider ohne (Zitat-)Nachweise und Register]; sowie Thomas Bauer: Johann Christian Senckenberg. Eine Frankfurter Biographie 1707–1772, Frankfurt a.M. 2007. Eine knappe Einordnung ins radikalpietistische Netzwerk gibt Uwe Buß: Ein radikaler Schuster – Theodor Krahl. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 293–301, hier 296, 299 f., vgl. im selben Band auch 237 f. und 242. 6 Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Senckenberg wohl jeweils in der Sprache formulierte, die ihm gerade am passendsten erschien; beispielsweise werden theologische oder philosophische Passagen eher auf Latein formuliert. 7 „Text Encoding Initiative“; siehe dazu http://www.tei-c.org/index.xml. 8 Eine Projektbeschreibung ist unter http://senckenberg.ub.uni-frankfurt.de/ vorhanden.
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b) Die Mappen Eine große Fülle an Aufzeichnungen und Unterlagen, die bisher in der Forschung nur ganz vereinzelt herangezogen wurden, ist in den vielen hundert Mappen aus dem Besitz der Dr. Senckenbergischen Stiftung versammelt, die in der UB Frankfurt am Main verwahrt werden. Senckenberg war offenbar ein Mensch, der sein ganzes Lebens hindurch alles aufbewahrte, was für ihn wichtig war und ihm etwas bedeutete. Somit legt der Inhalt dieser Mappen Zeugnis ab von seiner Vita, seinen vielfältigen Interessen, seinen Kontakten und nicht zuletzt seiner Lebenseinstellung – Dokumente, die für viele universitäre Fachdisziplinen relevant sind. So sind im Nachlass Senckenbergs ca. 270 Mappen9 mit Unterlagen und Dokumenten von ihm selbst vorhanden, dazu 70 weitere aus der Hinterlassenschaft seines Vaters, deren Inhalt teilweise bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückreicht. Zu den Mappen mit Senckenbergs eigenen Aufzeichnungen gehören etliche mit Notaten aus seiner ärztlichen Praxis, dazu kommen seine Korrespondenz und seit 1746 Unterlagen im Zusammenhang der Vorbereitungen für seine Stiftung. Nach Eulner enthalten etwa 30 Mappen ,Consilia medica‘, Listen über Patientenbesuche und ähnliches, der Inhalt von etwa 50 Mappen betrifft das Apothekenwesen, das städtische Medizinalwesen, Physikatsberichte und Material zur Geschichte des Physikats. Zehn Mappen zur Frankfurter Stadtgeschichte enthalten Verordnungen, kleinere Druckschriften und eigene Notizen, z. B. über das Armen-, Waisen- und Arbeitshaus (1753–1768).10 Im Bezug auf die ,Pietas Medici‘ Senckenbergs zu beachten sind auch seine Kolleghefte zu Vorlesungen der Professoren Hoffmann und Juncker in Halle und weitere Aufzeichnungen aus seiner Studienzeit. Sind diese speziell von medizinhistorischem Interesse (z. B. „Errores Stahlianorum“; „Kämpfiana“ etc.), so legen zahlreiche Mappen mit bisher nicht ausgewerteten Dokumenten Zeugnis von Senckenbergs geistiger Grundhaltung ab (so beispielsweise Konvolute mit Schriften und Briefen der radikalen Pietisten Johann Conrad Dippel und Johann Samuel Carl, theologische Schriften und Streitschriften, eine mit „Pietistische Gedichte und Traktate“ überschriebene Mappe). Ebenso warten noch naturwissenschaftliche Manuskripte (aus den Bereichen Botanik, Zoologie, Chemie, Mineralogie etc.) und viele andere Aufzeichnungen auf ihre wissenschaftliche Auswertung.
9 Vgl. Eulner: Johann Christian Senckenbergs Tagebücher (wie Anm. 4), S. 233. 10 Ebd., S. 238.
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Senckenbergs religiöser Werdegang Johann Christian Senckenberg wurde am 28. Februar 1707 als zweiter Sohn des Arztes Johann Hartmann Senckenberg und seiner Ehefrau Anna Margarethe in Frankfurt am Main geboren. Bereits im Elternhaus kam er mit pietistischem Gedankengut in Berührung: In den bürgerlichen Kreisen, welchen die Familie Senckenberg angehörte, war die Frage des religiösen Bekenntnisses schon durch den Schicksalsweg der Familie im Vordergrund geblieben. Hier fanden die Gedanken des Pietismus fruchtbaren Boden. War doch sein Begründer, Spener, lange Zeit in Frankfurt tätig gewesen und hatte auch nach seinem Weggang nachhaltigen Einfluß auf das religiöse Leben der Frankfurter Bürgerschaft behalten. Hier hatten sich Kreise gebildet, die im Sinne Speners das Heil der Seele im praktischen Christentum suchten und in seinem Geiste Leben und Denken ausrichteten. Aus seiner schriftlichen Hinterlassenschaft tritt uns der Vater Senckenberg als ein solcher Pietist im besten Sinne entgegen.11
Bereits zur Zeit Philipp Jacob Speners hatten sich jedoch in Frankfurt einige Mitglieder des „Collegium pietatis“ von diesem getrennt und gingen eigene Wege: Die Frankfurter Separatisten sammelten sich um Galionsfiguren wie die adelige Hofdame Eleonore von Merlau [später die Ehefrau des ,radikalen Pietisten‘ Johann Wilhelm Petersen; V.M.] oder den schwärmerischen Christian Fende.12
Und von Personen wie Fende oder Dippel fühlte sich der junge Senckenberg „geradezu magisch angezogen.“13 So ist für Senckenberg wohl bezeichnend, dass in seinem Nachlass u. a. eine Mappe mit Aufzeichnungen von Gesprächen vorhanden ist, die er mit Christian Fende führte.14 Senckenberg ist es zu verdanken, „daß in seiner umfangreichen Sammlung von Pietistica auch der Nachlaß von Schütz erhalten blieb.“15 11 de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 37. 12 Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 61. – Zu Fende vgl. Senckenbergs Tagebuchäußerung in Band 1, (2. Teil, S. 283). 13 Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 61. 14 Es handelt sich um die Mappe 87 b. Für den mit der neuprophetischen Inspiriertengemeinschaft verbundenen, als Kontaktvermittler im radikalen Pietismus umtriebigen Christian Fende siehe Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, Göttingen 1989 (Palaestra, Bd. 283), Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), s. Register, sowie Konstanze Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten des Christoph Schütz, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49), S. 215 f., dort zu J.J. Schütz auch 197 f., zu letzterem monographisch Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 119), der mehrfach aus dieser Mappe zitiert. 15 So Deppermann, ebd., S. 219.
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Medizinstudium in Halle – die „Observationes“ Aufgrund von Problemen in der Familie (finanzielle Schwierigkeiten, Tod des Vaters 1730) konnte Senckenberg erst im Mai 1730 sein Medizinstudium an der Universität Halle/Saale aufnehmen, erwies sich aber als sehr eifriger Student. Seine akademischen Hauptlehrer waren die Professoren Friedrich Hoffmann, Michael Alberti und Johann Juncker, letzterer ein Anhänger der Auffassungen des Mediziners Georg Ernst Stahl.16 Bereits mit dem Jahr 1726 hatte Senckenberg begonnen, sich Aufzeichnungen zu machen über das, was ihn beschäftigte. Diese frühen Miscellanea enthalten Notizen sehr verschiedenen Inhalts, Medizinisches ebenso wie Anekdotisches, Überlegungen zu naturwissenschaftlichen Phänomenen – und: „Zeitweilig wird viel Raum von religiösen Betrachtungen eingenommen, zwischen welchen sich dann wieder Krankengeschichten oder Sektionsbefunde eingereiht finden.“17 Mit Senckenbergs Reise zum Medizinstudium nach Halle 1730 beginnen dann seine von ihm als Observationes bezeichneten Niederschriften, die heute in den gebundenen Tagebuch-Bänden 1–18 versammelt sind. Die ersten Aufzeichnungen aus den Jahren 1730–1732 tragen den Titel Observationes in me ipso factae,18 vom Jahr 1733 an sind sie mit Observationes ad cognitionem mei et aliorum überschrieben. Damit wählt Senckenberg einen Begriff, der sowohl bezüglich der Beobachtungen medizinischer Sachverhalte19 als auch hinsichtlich Notaten aus anderen Bereichen, z. B. der Theologie, zur damaligen Zeit sehr gebräuchlich war. In diesen Observationes finden sich für jeden Tag minutiöse Aufzeichnungen (anscheinend nach einem mehr oder minder festen Schema) in Bezug auf seinen eigenen körperlichen Zustand, nicht zuletzt auch eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Körperausscheidungen, seiner Gesichtsfarbe, besonderer Symptome (z. B. Klingen im rechten Ohr, Schmerzen an bestimmten Stellen, Hautausschlag etc.). Ebenso wird über die verschiedenen von ihm eingenommenen Mahlzeiten und deren Bestandteile für jeden Tag genau Buch geführt oder über die Reaktionen seines Körpers auf Gemütsbewegungen bzw. Einflüsse von außen – neben der physischen spielt also die psychische Komponente eine wichtige Rolle. Dazu sei hier ein Beispiel zitiert:20
16 Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 48–55. 17 So de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 34. Diese frühen Aufzeichnungen Senckenbergs sind bis jetzt unbeachtet geblieben. 18 Vgl. hierzu den Beitrag von Vera Faßhauer im vorliegenden Band. 19 Siehe dazu zum Beispiel auch die Ausführungen in verschiedenen Publikationen von Volker Hess, so: Volker Hess: Observatio und Casus. Status und Funktion der medizinischen Fallgeschichte. In: Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform. Hg. von Susanne Düwell und Nicolas Pethes, Frankfurt – New York 2014, S. 34–59. 20 Bd. 1, Teil 1, S. 77; einzusehen unter: http://senckenberg.ub.uni-frankfurt.de/node/149. Die
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d Saturni den 17 Febr. [1731] mane cum surgerem hora 6ta post somnum 6 horarum fühlte auf den Kopff, v. merckte, daß es auf dem wirbel nicht mehr schmertzte v. also spasmus da weg war, dagegen aber war er in latere dextro thoracis vorn, v. wolte mir die brust etwas zu enge machen. It exscreabam surgens mucidam massam laryngi incumbentem. Haec omnia in me plethoram indicant. […] Mittags asse grünes schweinefleisch v. sauerkraut suppe v. butterbrodt. abends tranck bey D. Webel Zerbster bier, noch spath bey D. Hunoldin ein bretzelgen mit butter, v 1 glas lobejüner bier so hefig v trüb. post brassicam, quae non admodum acida erat v sehr wohl schmeckte, flatus foetidi, cum ad aegros obambulabam procedebant, caput j: ich glaube auch daß diß Sauerkraut so nicht sauer war mir keine diarrhoeam gemacht hätte :j somnolentum.
Neben den medizinischen Observationes und oft im unvermittelten Anschluss finden sich jedoch als zweiter Schwerpunkt vor allem Notate, die die Auseinandersetzung Senckenbergs „mit sich selbst“, sein Ringen um die richtige Lebensführung, um die philosophischen und theologischen Grundthemen seiner Zeit widerspiegeln. So fährt Senckenberg in dem gerade wiedergegebenen Beispiel fort: Laudamur / proximo interdum ob benefacta immerito, laudati verH, si placemus Deo. Jmmerentes saepe laudant n homines, et eos saltem qui concupiscentiis ipsorum faciunt satis.
– und diese Überlegungen setzt er hier noch weiter fort. In dem folgenden Textbeispiel kommt seine Verbundenheit mit Dippel zum Ausdruck:21 d Saturni den 14 Aprilis [1731] surgenti tinniebat auris, nachts sammelt sich schleim, so tags resolvirt wird, den tags ists nicht da. Nec consil. Cellarius qui alias amicissimus fuit Dippelio, nec Schmidius consentit cum Dippelio, da er Gott keine gerechtigkeit v. Zorn, so doch nicht wie unsere, zuschreiben wil, Cellarius meynt Gott gehe an s. Majestaet gar viles ab hierdurch, auch wisse er leute die an der improbation gezweifelt gar sehr, v. sich damit am Ende nicht trösten können, doch aber sich damit getröstet daß auch Gott ratione justitiae suae sie nicht verdammen könne. Er habe in den acten im Reussischen sonderliche dinge gesehen die anfangs ungerecht geschienen, so aber sich hernach gefunden, da man gesehen, daß Gott das unrecht an Kindern v. KindesKindern biß ins 3te v 4te glied noch gerochen hat jure talionis. […] Dessen allen ohngeachtet glaube ich, daß Dippelius sich mit dem systemate Letelx}wyseyr v. !pojatast\seyr so alles wider emollirt v. nur eine temporariam damnationem zulässt, da hominum malitia sibi ipsi, uti & virtus, merces est, v. sie zu Gott durch den Weg den Christus gegangen zu gehen nöthigt, gar wohl helfen kan. Gott ist die Liebe, v. scheint allezeit wer ihn aber nicht wil in sich ein laßen, bleibt im finstern. Transkription gibt den Text buchstaben- und zeichengetreu wieder. Zeilenfall und Streichungen sind jedoch im Zitat nicht nachgebildet. 21 Bd. 1, Teil 1, S. 113 f.; http://senckenberg.ub.uni-frankfurt.de/node/648.
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DEUs habet suas horas & moras, gleich wie er in der Natur allen Plantis animalibus v. mineralibus Zeit gegeben zu wachsen, zu blühen v frucht zu bringen, v. endlich sie mit uns Menschen nach vielen außgestandenen mortificationibus v. Peinigungen v. subtilmachungen der Erden v. des darinnen enthaltenen geistlichen Leibs, also ist eine Zeit da er den Menschen sich selbst überlässt so er sich von ihm nicht erleuchten laßen wil, v. also schon hier in der welt seine hölle erfahren läßt; geschieht es dann daß per generationes nonnullas sich ein solcher bessert ists vor ihn gut, was aber sich hier nicht bessert kommt sub finem terrae mit in die exustionem v. wird Pein leiden, da die frommen lichtsgeister wie das Gold in eben dem Feuer immer lauterer v. lauterer und herrlicher werden erfunden werden. Solche Pein wird seyn so lang die Erde brennt, dann wird eine erlösung da seyn.
Daneben sind zumal im ersten Band mehrere umfangreichere Textpassagen enthalten, die am Seitenrand explizit als „Meditatio“ bezeichnet werden. So verfasst der Medizinstudent Senckenberg am 26. 3. 1731 eine, wie er hier anmerkt, „Meditatio de Solibus multis“, die folgendermaßen beginnt:22 Jn vasta illa rerum universitate multa corpora occurrunt lucida solaria per se possidentia lucem suam, ut collustrent radiis opaca, eaque foecundent. videntur ea tanqvam Dii quidam minores certis systematibus proposita ad manifestationem gloriae divinae. Januae ea sunt, et tantae majestatis atque fulgoris ut nil oculis nostris visum fuerit majus atque praestantius.[…]
Von großem kultur- und wissenschaftshistorischem Interesse sind in diesen Observationes auch seine detaillierten Aufzeichnungen zur zeitgenössischen Pharmazie, Botanik, Physik, Chemie, Mineralogie, incl. täglicher Wetterbeobachtungen, Astronomie, aber beispielsweise auch zur Literatur und zum damaligen Wissenschaftsbetrieb. Des Weiteren finden sich Notate zu den Personen seines jeweiligen Umfelds bis hin zur ausführlichen Wiedergabe von Gesprächen mit Zeitgenossen aus verschiedensten Bevölkerungsschichten. Das nie versiegende Interesse Senckenbergs für alles, was ihn umgab, wird auch dadurch deutlich, dass den „Tagebüchern“ Dokumente wie z. B. Bevölkerungsstatistiken zu einzelnen Jahren (mit Zahl der Taufen, Eheschließungen, Verstorbenen in Frankfurt) und vieles andere beigebunden sind. Bereits im Juli 1731 jedoch brach Senckenberg sein Medizinstudium in Halle ab. Der Grund dafür war vermutlich, dass ein Mitglied seines Hallenser Freundeskreises, der Dozent D. Hoheisel – er stand in Opposition gegen die orthodox-pietistische Richtung der theologischen Fakultät und hatte zudem durch Senckenbergs Vermittlung Verbindung mit Dippel – sich in einen Pamphletenstreit mit einem Kollegen eingelassen hatte, in den auch Senckenberg involviert war.23 Senckenberg musste daraufhin die Universität 22 Nachzulesen in http://senckenberg.ub.uni-frankfurt.de/node/629. 23 Vgl. dazu August de Bary: Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 71–74. Zu Publikationen des Daniel Friedrich Hoheisel (zusammen mit Schriften Dippels) im Berleburger Erwecktenverlag s. Schrader: Literaturproduktion (wie Anm. 14), S. 196, 211, 472. – Des Weiteren
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verlassen (vgl. de Bary, S. 72: „Was nun daraus für ihn entstand, kann nicht festgestellt werden, das Wahrscheinlichste ist, daß man ihm freundschaftlich nahegelegt hat, die Universität zu verlassen. Letzteres geschah offenbar im Einvernehmen mit seinen Lehrern, und so werden wir durch die Tagebucheintragung überrascht, daß am 11. Juli 1731 sein Lehrer, Professor Juncker, ihn aufsuchte und vorgeschlagen habe, Senckenberg möge einen Patienten Junckers, […] begleiten.“ Der genaue Tagebucheintrag lautet folgendermaßen: Hodie offerebat ad me veniens Doctor Juncker si vellem, me posse ad Nobilem quendam Cöthensem literatum ordinarii munere per hanc hyemem functurum accedere, fruiturum salario honesto, & omnibus ad vitam necessariis sustentandam. Est ille hypochondriacus, & gravibus hujus mali subinde vexatur insultibus. Jpse Junckero affuit & quaesivit quem secum ducat. Ego verk qui iter Francofurtense paro id accipere non possum commodH, alias maximH commodum. Cum cogitarem ita cogi philavtiam et vexari genium meum in subordinatione, absque haesitatione postea consensi, ita ducente DEO, atque ita in Domini Consil. Aulici vinariensis de Haeringen potestatem veni, hypochondriaci quidem, sed viri honesti [Band 1, 1. Teil, S. 203 http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/senckenberg/content/pageview/ 5245365]
Für Senckenberg wohl lebensbestimmend waren seine Begegnungen mit Johann Conrad Dippel vom 11. bis 15. April 1732 und vom 7. bis 26. August 1732 in Berleburg. Sie werden in den beiden ersten Bänden der Observationes geschildert. Bei seinem ersten Besuch wohnte er bei dem nach einer quälenden Loslösung von den Inspirierten auch als radikalpietistischer Erbauungsschriftsteller hochproduktiven Leibarzt des dortigen Grafen, Johann Samuel Carl.24 Wesentlich ausführlicher als sonst bei seinen Einträgen werden hier die einzelnen Tage dieser Begegnungen geschildert. Die existenzielle Verbindung der medizinischen und religiösen Interessen Senckenbergs tritt dabei besonders zutage. Darüber hinaus dürfte gerade für die Pietismusforschung von Bedeutung sein, dass in diesem Zusammenhang auf viele Persönlichkeiten und Ereignisse rekurriert wird – nicht nur auf solche, die dem Kreis der finden sich in der UB Frankfurt im Nachlass Senckenbergs folgende (von der Forschung wohl noch nicht beachtete) Dokumente: Die Mappe Nr. 78 enthält laut Vermerk „Theologische Streitschriften. Schriften v. Dippel u. Carl“, die Mappe Nr. 79 „Acta in Sachen der theologischen Fakultät Halle contra Hoheisel“. In Band 1 der „Observationes“ sind die einzelnen Vorgänge nur andeutungsweise beschrieben. 24 Siehe dazu Christa [Meyer-]Habrich: Untersuchungen zur pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis. Habil. [masch.] München 1981, hier vor allem S. 45–47; sowie außerdem zur ,literarischen‘ Verbindung Senckenbergs mit Carl und Dippel Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt (wie Anm. 14), vgl. Register. Zu Dippels medizinhistorischer Bedeutung Irmtraut Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels im Kontext geistesgeschichtlicher Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, hg. v. Udo Sträter (u. a.). Bd. 2, Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 7/ 2), S. 597–610.
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Wittgensteiner Pietisten unterschiedlichster Couleur zuzurechnen sind, sondern auch weit darüber hinaus. Es handelt sich also um eine ergänzende authentische Momentaufnahme in Bezug auf das Leben des Personenkreises in Berleburg. Wichtig sind dabei vor allem die Gespräche, die Senckenberg mit Carl und Dippel geführt hat, des weiteren sein Kontakt zu den beiden Brüdern Haug, deren älterer (Johann Friedrich) v. a. bekannt geblieben ist als Herausgeber und Hauptübersetzer der ,Berleburger Bibel‘, der jüngere (Johann Jacob) als Verleger der Erwecktengemeinschaft. Sehr detailliert wird insbesondere alles wiedergegeben, was Dippel im wahrsten Sinne des Wortes ,über Gott und die Welt‘ äußerte. Nach seiner Rückkehr nach Frankfurt 1732 übernahm Senckenberg trotz fehlenden Doktordiploms und unter stillschweigender Duldung des Sanitätsamts in zunehmendem Umfang die Behandlung von Kranken.25 In dieser Zeit, die nicht zuletzt von familiären Auseinandersetzungen überschattet war, pflegte er Kontakte mit Inspirierten und Separatisten. Laut Kriegk sind es namentlich Tuch[t]feld, der frühere Eßlinger Pfarrer Gros[s], welcher damals in Frankfurt lebte und Buchhandel trieb, der Arzt Reich in Büdingen, der dortige Schuhmacher Krahl, Plönnies in Homburg v. d. Höhe, Jmmler, Karl, Rock, Haug und Salzmann in Berleburg, Mäußli in Bern, Bartmann in Eckartshausen, Suchrecht, Pfarrer Kohler, Korte, Reitz, Pfarrer Stier und Fende.26
Nach Auskunft seines Neffen Renatus soll Senckenberg in dieser Zeit sogar in Verbindung mit einigen anderen Separatisten zu Büdingen eine neue Auflage eines zuerst 1632 erschienenen Traktats herausgegeben haben.27 Nach erfolgter Promotion in Göttingen wurde Dr. med. Senckenberg im Dezember 1737 durch das Sanitätsamt der Stadt in die Frankfurter Ärzteschaft aufgenommen, und er eröffnete offiziell eine Praxis in seinem Elternhaus.28 Doch auch jetzt rissen die Verbindungen zu separatistischen Kreisen nicht ab: So existiert z. B. ein Briefwechsel Senckenbergs mit Karl Sigismund Prueschenk von Lindenhofen aus dem Jahre 1738, den er auf Schloss Hayn auch persönlich traf.29 In Homburg v. d. Höhe hatte er Umgang mit dem Kreis um 25 Dazu eingehender August de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 102 f. 26 Kriegk: Die Brüder Senckenberg (wie Anm. 5), S. 221 f. 27 Siehe dazu Renatus von Senckenberg: Nachricht von dem Leben (wie Anm. 1), S. 4. Bei dieser anonym veröffentlichten Schrift handelt es sich wohl um: Der Ungeist-Geistliche Fuchs schwantz, Oder Politischer, unvergreifflicher Discurß, auch in göttlicher Schrifft gegründetes Be dencken, über die bißher in der Kirchen Gottes verübte Ungeistliche, Geistliche Fuchsschwäntze rey und Mißbrauch, in dem die Kirchendiener in der Christlichen Vorbitte vor die Obrigkeit, aus sonderlichem Ehrgeitz […] grosser Ehren-Titul freventlich gebrauchen. […] mitgetheilet im Jahr Christi 1632. Nun aber zum andern mahl herausgegeben. [o.O.], 1735. Siehe dazu auch Kriegk: Die Brüder Senckenberg (wie Anm. 5), S. 231. 28 Dazu Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 81. 29 Zu Prueschenk und zum quietistischen Kreis auf Schloss Hayn vgl. maßgeblich Michael Knieriem / Johannes Burkardt (Hg.): Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn.
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den Kammerschreiber des Landgrafen, Christoph Schütz, und dessen Cousine Maria Katharina, der Tochter von Johann Jakob Schütz.30 Durch diese Kontakte wurde Senckenberg 1739 zum Leibarzt des dortigen Landgrafen von Hessen-Homburg ernannt und musste ihn nach Flandern begleiten.31 Dort zerstritt er sich mit dessen Hofprediger, dem Pietisten Jacob Hartmann Rexrath, über Glaubensfragen, reichte bald darauf seinen Abschied ein und kehrte nach Frankfurt zurück.32 Im Juni 1742 heiratete Senckenberg Johanna Rebekka Riese, die Enkelin des Separatisten Christian Fende, der diese Heirat eifrig betrieben hatte,33 doch starb Johanna Rebekka bereits 1743 an Kindbettfieber. Senckenberg verfasste daraufhin eine ergreifende „Nachricht von seiner Ehefrauen Johanna Rebecca, gebohrnen Riese, christlichen Leben und seligen Tode“,34 in der er nicht zuletzt auf deren religiöse Grundhaltung eingeht, die ihn mit ihm auf besondere Weise verband. 1745 starb ihre gemeinsame Tochter. 1744 hatte Senckenberg Catharina Rebekka Mettingh geheiratet, eine Enkelin des Separatisten Johann Jacob Schütz. 1747 starb auch sie,
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Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002, S. 24, 39–46, zum Austauch mit Senckenberg S. 42. Im Anhang (S. 162–186) sind mehrere Briefe Prueschenks an Senckenberg abgedruckt (Nrn. 17, 19–22, 48), in denen es hauptsächlich um geistlich-heikundliche Themen und die gegenseitige Übermittlung von Rezepturen und Medikamenten geht. Dazu Barbara Dölemeyer: „Homburg vor der Höhe liegt drei kleine Stunden von Frankfurt“. Historische Beziehungen zweier Städte. In: Aus dem Stadtarchiv. Vorträge zur Bad Homburger Geschichte 1992/93, S. 29–55, sowie dies.: „Bier und Wein machte meine Humores dick“. Johann Christian Senckenberg als Leibarzt des Landgrafen von Homburg / Religiöse Konflikte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04. 01. 1999, Nr. 2, S. 64; Konstanze Grutschnig-Kieser : Radikalpietistische Spuren in der Landgrafschaft Hessen-Homburg. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde zu Bad Homburg vor der Höhe, H. 55 (2006), S. 7–40. „Zu Maria Katharina Schütz, die später ihr gesamtes nicht unbeträchtliches Vermögen in eine wohltätige Stiftung einbrachte, muß Senckenberg als Arzt auch ein vertrautes Verhältnis gehabt haben, denn er wurde im Jahre 1742 kurz vor ihrem Tode noch zu ihr geholt. Er verkehrte in Homburg übrigens auch mit Persönlichkeiten wie dem Geheimen Rath Johann Samuel von Ploennies, die über die sektiererischen Ansichten hinaus durch ihre Vorliebe für Alchimie und Spiritismus bekannt waren. […] Senckenberg erwähnt in seinen Tagebüchern auch mehrfach andere Personen, die zu dieser Epoche in Homburg und am landgräflichen Hofe verkehrten und zu den Kreisen der „Inspirierten“ gehörten, unter anderem den Arzt und Erweckungsprediger Johann Philipp Kaempf.“ (Dölemeyer: „Bier und Wein machte meine Humores dick“, S. 64). Nähere Informationen zu allen Genannten findet man insbes. bei Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz=Garten“ (wie Anm. 14), vgl. Register. de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 138. Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 86. de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 144 f. Als Digitalisat: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/15678; vgl. dazu Jörg Witzel: Johanna Rebecca Senckenberg, geb. Riese (1716–1743). Eine Ehefrau als spirituelle Gefährtin und Leiterin ihres Gatten. In: Leben in Leichenpredigten 01. 07. 2010, hg. von der Forschungsstelle für Personalschriften, Marburg. Online-Ausgabe: http://www.personalschriften.de/leichenpredigten/artikelserien/artikelansicht/details/johanna-rebecca-senckenberg-1716–1743.html .
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ebenso ihrer beider Sohn.35 1754 heiratete Senckenberg Antonetta Elisabetha Rupprecht, die 1756 verstarb. Bereits in den späten 1730er Jahren äußerte sich Senckenberg kritisch zu den Pietisten,36 später grenzte er sich auch von den Separatisten ab: „Nunmehr aber war er zu der Ueberzeugung gelangt, daß auch bei diesen Sekten Selbstsucht und Heuchelei die Seelen beherrsche, und so hatte er von nun an nur noch bittere Worte der Ablehnung für die Mehrzahl ihrer Anhänger.“37 Im Oktober 1755 wurde Senckenberg zum Physicus ordinarius ernannt. Das wichtigste Zeugnis für sein Lebensprogramm ist die Errichtung der nach ihm benannten Stiftung. Sie wurde am 18. August 1763 ins Werk gesetzt.38 Sein Vermögen sollte zur Verbesserung des Frankfurter Gesundheitswesens dienen.39 Erste Überlegungen dazu gehen jedoch mindestens auf das Jahr 1746 zurück, wie ein Eintrag vom 10. November 1746 beweist.40
Die Tagebücher der Jahre 1743–1772 In dieser Lebensphase etablierte sich Senckenberg immer mehr als geachteter Arzt in Frankfurt, aber auch darüber hinaus. Sein Blick weitete sich nun in vielerlei Hinsicht: Auf Grund seiner ausgedehnten Praxis hatte er Kontakt mit Patienten aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten – vom Hochadel (dem Kaiser, der Prinzessin von Dessau, vielen weiteren Adligen) über die ansässigen Patrizierfamilien, Kaufleute und Bankiers bis hin zu Handwerkern und Dienstboten. Kriegk hat hier zwei verschiedene Arten von Tagebüchern unterschieden, die „ärztlichen“ und die „nicht-ärztlichen“. Die „ärztlichen“ verzeichnen in erster Linie Krankengeschichten und -berichte, teils erfolgen die Einträge in chronologischer Reihung, teils handelt es sich um umfang35 Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 98. 36 So Kriegk: Die Brüder Senckenberg (wie Anm. 5), S. 229. 37 de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 150. Für die internen Auseinandersetzungen unter den radikalen Pietisten seines Kontaktumfeldes vgl. Hans-Jürgen Schrader: Zores in Zion. Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranz-programmatischem Philadelphia. In: Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz. Hg. v. Johannes Burkardt und Bern Hey, Bielefeld 2009 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 35), S. 157–194. 38 Dazu Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 156. 39 Zur Geschichte der Stiftung siehe – neben den Ausführungen in den genannten Biographien – die allerdings vom Zeitgeist der Abfassungszeit geprägte Darstellung von August de Bary : Geschichte der Dr. Senckenbergischen Stiftung 1763–1938. Ein Zeugnis des Frankfurter Bürgersinns in 175 Jahren. Frankfurt am Main 1938. 40 Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg, Na 31, 21, fol. 166r. Der „Tagebuch“-Band umfasst den Zeitraum von 1743 bis 1748, somit eine Periode, in der Senckenberg große private Verluste zu verkraften hatte – den Tod seiner ersten und seiner zweiten Ehefrau und den seiner beiden Kinder. Hier findet sich neben den entsprechenden Aufzeichnungen und Krankenberichten aus seiner Feder z. B. auch eine eingeklebte Zeitung, in der bei den Todesanzeigen Senckenbergs kleine Tochter aufgeführt wird.
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reichere Konvolute zu einzelnen Patienten (bis hin zu Sektionsberichten etc.). Man erfährt hier etwas über die Art der Diagnose und die Behandlung der Kranken, häufig gibt Senckenberg mit ihnen und über sie geführte Gespräche wörtlich wieder. So finden sich zu einigen Patienten (nicht selten gerade bei höher gestellten Persönlichkeiten) reichhaltige Hintergrundinformationen, ferner Rezepte, Protokolle aus dem Bereich des Medinalwesens, ärztliche Korrespondenz und vieles andere. Die Themenvielfalt erfährt in den „nicht-ärztlichen“ Tagebüchern eine weitere Steigerung: Sie liefern eine Fülle an Informationen zu seiner eigenen Person, aber gleichzeitig auch zum Mikrokosmos der Stadt Frankfurt mit allen Facetten, zum städtischen Geschehen im Alltag wie auf der politischen Bühne; zuweilen Hintergrundberichte, die ihm sogar, wie er bisweilen vermerkt, „sub rosa“ zugetragen worden sind, und die infolgedessen nicht aus anderen Quellen zu gewinnen sind. Darüber hinaus werden jedoch der ganze Makrokosmos der damaligen medizinischen, theologischen, philosophischen oder naturwissenschaftlichen Diskurse ebenso wie die welthistorisch bedeutsamen Ereignisse der Epoche und kulturgeschichtlich Relevantes in diesen Aufzeichnungen authentisch und anschaulich durch einen an allem interessierten Zeitzeugen eingefangen.41 Bedeutsam für die Pietas medici Senckenbergs ist es, wie sehr er gerade auch in diesen späteren Tagebüchern als verantwortungsvoller Arzt nicht nur die körperlichen Aspekte und Symptome seines Gegenübers betrachtet und beachtet, sondern gleichzeitig immer wieder seine persönliche religiöse Position gegenüber Patienten zum Ausdruck bringt, zugleich ein Körper- und Seelenarzt, oder, wie Kriegk dies formuliert hat, ein „theologomedicus“.42 So findet sich zum Beispiel folgender Eintrag (in einem „nicht-ärztlichen“ Tagebuch!) über ein Gespräch, das Senckenberg mit einem besorgten Vater führte, dessen einziger Sohn, wie man aus kurz zuvor erfolgten Aufzeichnungen erfährt, schwer erkrankt war :43 die solis 30 Januar 1763. Herr Heider rogat: Ob nach dem todt die Menschen so dencken wie im leben? Respondeo Nein, Ligari per corpus quasi catena, tunc vero liberiores fore, simplici apprehensione nunc per corpus ad hunc orbem determinata et fracta.
Doch auch bei Gesprächen zu tagesaktuellen Themen versäumt Senckenberg nicht, seine eigene Weltanschauung der Zuhörerschaft dazulegen:44 41 Siehe dazu auch Mathias Jehn / Veronika Marschall: Mikrokosmos und Makrokosmos (wie Anm. 3), S. 57 f. 42 Kriegk: Die Brüder Senckenberg (wie Anm. 5), S. 279. 43 Bd. 44, fol. 53r. Bei der hier zitierten Textpassage handelt es sich nur um den Anfang dieses Gesprächs. Senckenbergs Aufzeichnung und eine Transkription können eingesehen werden unter : http://senckenberg.ub.uni-frankfurt.de/node/539. 44 Bd. 44, fol. 347r –349v.
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die Saturni 26. Martii 1763. Frau Gontard auf dem Roßmarckt geb. d’Orville sagt man thue Reformatis unrecht nicht eine Kirche in der stadt zu geben da die Juden eine haben Respondeo Mercatores seyen fast alle Juden circumcisos et non circumcisos. […] meum et tuum in der handlung mache den unterschied meum et tuum bey den Pfaffen in geld v. Meinungen. Eine secte verfolgt die andere In templis humanis et ceremoniis nulla pax templa der Pfaffen werckstätte, hocus pocus vor ihre beutel v. bäuche. Ein wegweiser ist gut vor den der den weg nicht weiß kirchen pro rudibus.[…] Verum templum in corde est ubi Deus adoratur, da müssen Theologi hinweisen; ut medici nicht in die apotheke, sondern die Menschen zu sich selbst v. zur observatione naturae et diaetae, medici haben nicht leben v. gesundheit feil v. in ihrer Macht, sic nec Theologi vitam et sanitatem spiritus. Kirchendienst v. Pfaffendienst ist nicht Gottesdienst. Gottes dienst ist Adoratio Dei in spiritu et veritate in corde, amor sui rectus; et proximi, ex lege Dei inscripta cordibus naturae et chartae in libris […] In spiritu et veritate, in Deo in corde, templo suo ubi adorari vult ist gantz allein Friede nicht im äusern.[…] Ad libertatem nati sumus; Deo servire libertas est servire Diabolo et homini servitus turpissima durissima. Man muß sich von den Pfaffen zu Gott bekehren von der Kirche in das hertz von Ceremonien zu Geist v. wahrheit. […] Am besten sey zu Gott in dem hertzens tempel sich neigen, von den Pfaffen v. Affen Ceremonien sich zu Gott bekehren wohin alles äusere weisen soll ohnehin, externa bedeuten v. weisen auf die interna hin. […] Hinc una fides vera, una religio, unum baptisma. Huc nos conferamus weder retro zu dem Pabst, noch nebenaus zu Luther oder Calvino, wir sollen uns weder Kofisch noch Apollisch nennen […] omnes nos, opus est ab externis ab hominibus ad Deum in Christo convertamur, quae sola vera et catholica religio. Da ich so predige, sagen die zuhörende, ja wenn alle leute so dächten da wäre kein unfriede, sane in Deo solo in corde in spiritu et veritate pax et quies et harmonia Jm ausen ist stets unruhe v. kann nicht anderes seyn. sola vera religio est cordis Religio.
Und auch in der Diskussion mit den (akademisch) gebildeten Zeitgenossen weiß Senckenberg seine Position zu verteidigen:45 die Iovis 31. Martii 1763. War bey Herrn Rector Albrecht u. auch Conrector Purmann da, D. Plitt Verwandter. Loquimur de Wolfiano themate von der besten welt, darin Dr Plitt so verliebt ist als 45 Bd. 44, fol. 427r–428r.
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ein starcker Wolfianer daß er auch davon in s. teutschen Obs. Theol. ein stück hinein gesetzt. Ego ajo inanum esse conceptum, reime sich nicht in der theologie, die nichts von der besten sondern der bösesten v. zu verbessernden welt per aquam et ignem habe. Man müsse die leute nicht in diese welt alß die beste führen, sondern aus ihrer an sich schon vor besten gehaltenen Sauwelt heraus jagen in eine bessere, zu Gott. Plitt urgiert es sey […] so zu statuiren, man könne sonst opera Dei nicht reimen, non originem mali et boni nicht s. liebe v. gerechtigkeit […] Aber, wer machte v. wer heist Gott daß er diese welt nach s. Eigenschafften […] als die erste erwählen muß? Cur non statuimus libere eum creasse mundum hunc, non necessario […] wäre nicht besser sancto silentio Majestatem infinitam et nobis incomprehensibilem veneriren? […] Besser ist allzeit Gott als […] creatorem darstellen, der per apocatastasin p\mtym in Christo recreatore […] alles werde wieder zurecht bringen, was libere creati per lapsum verdorben haben. der Fatalismus optimi mundi mechanicus ist abjecte vor Gott vor der Natur wie auch die fatale harmonia praestabilita.
Vielleicht ist bereits aus diesen wenigen – eher beliebig ausgewählten – Textpassagen zu erkennen, wie viel hier an eingehender Untersuchung noch zu leisten wäre. Am Schluss dieses Beitrags sollen Senckenbergs eigene Gedanken als ,theologomedicus‘ stehen, wie er sie an einer für sein Leben und sein Fortwirken zentralen Stelle geäußert hat, nämlich im Vorwort seines Stiftungsbriefs:46 Gedenke hiebey, mein Leser, daß wir nicht für diese Zeit geschaffen sind, daß wir allesamt von Gottes Gnade leben und sind was wir sind; gleichwie wir auf diese Welt nichts mitgebracht haben, also auch nichts eigenes besitzen, und blose Verwalter sind, die verrechnete Dienste haben; daß alle Scheinherrlichkeit dieser Welt nichts ist, und einmal über kurtz oder lang entweder sie uns, oder wir sie verlassen, nichts aber, nach der Liebe Gottes und dem Glauben an Jhn, übrig bleibt das unser ist, als die Liebe des Nächsten, die GOtt, der die Liebe selbst ist, und diese selbst in uns wirken will, uns befohlen hat als ein Gebot, darinnen unsere Seligkeit bestehet, da GOtt ansonsten unserer nicht bedarf, und wir Jhm weder etwas geben noch nehmen können. Dieses wohl zu bedenken und auszuüben lasse dir mit mir angelegen seyn, damit wir stets hier und dort, in der seligen Vereinigung mit Jhm, Licht, Leben, Ruhe, Frieden und vollkommene Freude haben mögen, als das höchste Guth, welches Er uns in seinem Sohne JEsu Christo, dem Schöpfer der neuen Creatur, und unserm Arzt Leibes und der Seelen, in dem wir alles haben was uns nöthig ist, verordnet hat. Jhm allein sey Lob und Ehre in Ewigkeit. Frankfurt den 25ten Decembris 1769.
46 Johann Christian Senckenberg: Stiftungs=Briefe zum Besten der Artzneykunst und Armenpflege; Samt Nachricht wegen eines zu unternehmenden Bürger= und Beysassen=Hospitals zum Behufe der Stadt Frankfurt. Nebst Vorbericht Renat Leopold Christian Carl Freyherrn von Senckenberg; Mit Beylagen und zwoen Kupfer=Tabellen, [Frankfurt a.M.] 1770, S. 5 f.
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Anhang: Senckenbergs Promotionsrede „De Pietate Medici“ (1737) Auf Drängen von Verwandten und Freunden versuchte Senckenberg 1734, das abgebrochene Medizinstudium zu Ende zu bringen. Mit Dippel hatte er im April 1734, kurz vor dessen Tod, noch ein mögliches Thema für eine Doktoratsabhandlung abgesprochen. Der Entwurf trägt den Titel De melancholia vel de mentis aberrationibus, doch kam es nicht zur Ausführung. 1735 war Senckenberg als Leibarzt der Gräfin von Dhaun tätig, konnte sich jedoch an ihrem Hof nicht halten, da er als Verehrer Dippels in Konflikt mit dem orthodoxen Hofprediger geriet.47 Ab 1735 arbeitete Senckenberg an einer Dissertation mit dem Thema De Lilii Convallium ejusque inprimis Baccae viribus, die er nach langem Ringen und seelischen Krisen 1737 abschloss. Wie viel ihm seine Promotion zum Dr. med. selbst bedeutete, lässt sich daran ablesen, dass er wohl alles aufbewahrt hat, was mit der Promotion irgendwie in Verbindung stand. Diese Unterlagen werden heute in einer zum Nachlass Senckenbergs gehörenden Mappe in der UB Frankfurt verwahrt.48 Sie sind als interessante Dokumente für alle anzusehen, die sich mit Universitätsgeschichte befassen. So finden sich in der Mappe Senckenbergs Inauguraldissertation De lilii convallium (als gedrucktes Exemplar mit handschriftlichen Zusätzen), eine Invitatio ad Disputationem, die Gratulatio seines Bruders Dr. Heinrich Christian Senckenberg sowie das Doktordiplom.49 Die Promotion betreffende Beilagen sind z. B. eine Notiz von Apotheker Senckenberg (einem Verwandten), Schreiben verschiedener Ärzte, ferner Konzepte Senckenbergs (zur Dissertation, eine handschriftliche Abhandlung De Artificio Disputandi mit Anmerkungen Senckenbergs, das Konzept zur Oratio de medici pietate, zur Disputatio, sowie das Konzept zu einem Kurzvortrag Discursus de medicinae partibus, den er im Rahmen seines Rigorosums zu halten hatte), außerdem ein Bericht über die mündliche medizinische Prüfung vor den Professoren Richter, Haller und Segner, eine Anweisung des Dekans der juristischen Fakultät für die neuen Doktoren und ein Konzept zum Curriculum vitae 1737. Am 26. August 1737 erfolgte seine Immatrikulation und gleichzeitig das Rigorosum an der Universität Göttingen,50 schließlich am 4. September 1737 seine Disputation. Im Anschluss an diese hatte er eine akademische Rede über ein frei gewähltes Thema zu halten.51 Kennzeichnend für Senckenberg ist, dass 47 Bauer : Senckenberg (wie Anm. 5), S. 69. 48 Der archivische Nachlass Senckenbergs ist im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt unter der Signatur „Na 31 Nachlass Johann Christian Senckenberg“ einsehbar. Bei der ,Promotionsmappe‘ handelt es sich um die Mappe Nr. 25. 49 Mehrere dieser Dokumente sind als Digitalisate im Internet einzusehen unter http://publikatio nen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/15679. 50 Dazu Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 75. 51 Zum Ablauf der Promotion siehe ebd., S. 74–80, und de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 129–135.
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er sich für das Thema De pietate medici entschied. Da diese Rede wohl ein „Lebensprogramm“52 darstellt, „an dem er sein eigenes Handeln als Arzt ausrichtete“,53 soll hier näher darauf eingegangen werden.54 Die Rede ist in mehrere Abschnitte gegliedert und wird in den nachfolgend zitierten Textpassagen zu einem großen Teil wiedergegeben. Senckenberg beginnt mit der Anrede an die versammelten akademischen Würdenträger,55 verbunden mit konventionellen rhetorischen Bescheidenheitstopoi, also mit der üblichen captatio benevolentiae. In diesem Zusammenhang weist er explizit darauf hin, dass er sich im Gegensatz zu den Universitätsangehörigen bisher im praktischen Leben betätigt habe, also nicht in dem Maße ein Theoretiker sei wie die versammelte Gelehrtenwelt: Vitam egi hactenus plane practicam, et licet / Theoria, quam vocant, nunquam penitus recesserim, defuit tamen illa continua exercitatio, quae aliis hic praesidio esse solet! [S. (2)]56
Interessant ist hier vielleicht auch, dass Senckenberg unmittelbar auf den akademischen Brauch als Anlass seiner Rede rekurriert: Ut autem ad rem ipsam accedam, Statuta, quemvis cathedram pro Gradu conscendentem, antequam conflictus initium fiat, lectione cursoria profectus suos ostendere, jubent, cui mori ego satisfacturus delegi thema: De Pietate Medici. [S. (3)]
Senckenberg beginnt mit einer die Ärzteschaft rechtfertigenden Bemerkung: Da die Pietas Medici einen verdächtigen Klang besitze, müsse am Anfang der Rede zuerst eine Definition dessen gegeben werden, was darunter zu verstehen sei. Diese lautet: Est autem Pietas Medici, uti omnium mortalium, quia pietas ad omnes pertinet, Virtus illum ornans, seu studium assiduum se suasque actiones omnes ad veram DEJ notitiam et cultum, suique ipsius et aliorum hominum felicitatem veram dirigendi, et eam quidem praecipue respiciendo artem, finemque, cui sese prae aliis addixit. [S. (4)]
Aus diesem Grund gliedert sich seine „Tractatio“ konsequent in drei Kapitel: Versatur ergo Pietas Medici in Objecto triplici, hincque in tria sua sponte se resolvit capita Tractatio mea, quorum primum agit de pietate in Deum, alterum de Pietate in se ipsum, tertium de Pietate in alios homines. [S. (4)f.] 52 de Bary, ebd., S. 93. 53 So Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 5), S. 77 f. 54 Der handschriftliche Entwurf dieser Rede wurde von der UB Frankfurt digitalisiert; er ist zu finden unter http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/15768. (Im Folgenden zitiert als „Promotionsrede“). 55 Promotionsrede (wie Anm. 54), S.[1]. 56 Der Text weist keine Seitenzählung auf, sie wurde nachträglich vorgenommen.
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Anfang und Urgrund ist also die Rückbindung des frommen Arztes an Gott. Ausgangspunkt dafür kann nur die wahre Erkenntnis Gottes sein: „Noscendum vero DEUM esse, si rite eum colere velimus, res ipsa loquitur, adeoque vera DEJ cognitio primario requiritur.“57 Dann folgt Senckenbergs ,Glaubensbekenntnis‘: DEUS est omnium rerum, tam oculis nostris visibilium quam invisibilium Dominus, creator, conservator et restaurator, ultra, quam capere potest ulla mens humana, sapiens potens, felix, justus, amans, et, si qui sunt alii perfectionem indicantes tituli. [S.(5)f.]
Die Erkenntnis Gottes in dem Maße, wie sie der menschliche Geist fassen kann, ist auf verschiedene Weise möglich: Haec in Deo perfectionum abyssus plenam spiritui nostro non concedit cognitionem, nobis tamen sufficientem ipse prospexit, dum et imaginem suam nobis indidit, et totam naturam externam de se loquentem fecit, inque manus nostras dedit Sanctorum de se / viva experientia desumta testimonia scriptis consignata, postquam Dei in nobis oraculum propter labem nostram non ita, ut decebat, audiri fuit solitum. [S. (6)]
Bereits mit der nächsten Textpassage wird die enge Verbindung zwischen Gott, Christus und dem Arztberuf deutlich: Hisce convincitur Deum esse, quo carere nequeat, cum ipse summum Medicum egerit omnium lapsorum, quos / morbis spiritus et corporis cunctis vult liberatos, atque convenientissima et maxime adaequata iis tollendis remedia praescripsit in Filio suo, vera vitae arbore, servatore omnium, qui in terra, carne indutus, dictos morbos nostros, agendo et patiendo, sustinendo et abstinendo, efficacissime profligavit, atque extra quem unum, ejusque ordinem, salus nulla est, sicque ipsa operum communione eum incendi necesse est ad amicitiam cum eo ineundam, cujus vicarium, ut ita dicam, hoc in orbe agit, cujusque quasi manus est visibilis, qua sanitatis praesidia porrigantur hominibus. [S. (6)f.]
Gott selbst hat in seinem Sohn den summus Medicus eingesetzt, der sowohl die geistigen als auch die körperlichen Gebrechen heilt. Explizit wird hier ein Bezug uu aus der theologischen Tradition stammenden Aussagen hergestellt, so über Christus als den „wahren Baum des Lebens“, und dass es nur in Gemeinschaft mit ihm Heil (salus) geben könne. Damit bezieht sich Senckenberg ausdrücklich auf den Christus-medicus-Topos.58 Der Arzt jedoch muss als Stellvertreter, gleichsam als Jesu sichtbare Hand, agieren. Die innerliche Rückbeziehung zu Gott ist existenziell: 57 Promotionsrede, S. [5]. 58 Vgl. dazu auch die vielfältigen Forschungen Christa Habrichs, so z. B. Christa [Meyer-] Habrich: Untersuchungen zur pietistischen Medizin (wie Anm. 24), passim.
Johann Christian Senckenberg (1707–1772) und die „Pietas Medici“
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Prona inde via fluit cultus, qui, cum Deo ceu Patri spirituum esse debeat conveniens, Spiritualis et internus sit, necesse est, eum, quia mente nostra ejus immensitas capi nequit, sancto silentio adorando, exactissimaque sub voluntatem legesque ejus submissione venerando illius Majestatem, quo vere Philosophus Deo aequalis, ejusque naturae particeps evadat, bonisque omnibus tam voluntatis quam intellectus instruatur, quibus ad officium suum ex[a]quendum opus fuerit. [S. (7)f.]
Ein solcher Arzt unterwirft sich freiwillig den Entscheidungen Gottes und erträgt gern die Urteile übel gesinnter Menschen: Intelligit hic medicus prudens, se non esse naturae dominum, nisi quantum Deo placeat ei concedere in illam potestatis, cui, ut Deus liberrima mens est, liberrime totum se subjicit quoad regimen in creata sua, agens pro posse quae Artis sunt, eventum Deo relinquens, grato et sereno excipiens animo, si vitam si mortem aegroto decreverit, atque si conscientia eum absolvat, facillime malevolorum hominum judicia ferens, contemnendo ipsum contemtum. [S. (8)f.]
Menschen dieser Art werden im Folgenden näher charakterisiert: Haec rationalis illi Religio et cultus erit, quem qui deserunt Medicorum, non possunt non Athei fieri practici, quia theoreticos in orbe reperiri vix possibile est, cumque fontem bonorum despectui habeant, in tenebras malitiamque incidere, et sui ipsorum et aliorum detrimento; quales, proh dolor! magno numero terra aluit inter omnes populos, alitque nostris diebus, qui veram cordis Theologiam experimentalem medico [non] necessariam opinantes, incidunt interdum in crassissimum errorem, quo efficiente totam visibilem creatam naturam Deum habent, seque ipsos partes illius, qui itidem naturae, Dei sui, videri volunt domini, Deum verum de throno suo deturbare audentes, qui loco puritatis spiritus, ex genio suo malo, sceleribus se devovent, ipsi, si mentem respicias, insani, si corpus, morbidi, / quibus salutem expectare velle, idem esset, atque vitam / mortuis petere. [S. (9)f.]
Im Gegensatz zu den „macchiavellistischen Ärzten“59 in ihrer ganzen Scheinheiligkeit – Habent hi quidem Machiavelli Medici, subinde, ut eo facilius fallant atque aere emungant incautos, externam religionis speciem, ceremoniasque reverenter habent, quas vero sine interno Dei timore, justoque proximi amore vanas esse, per se clarum est. [S. (10)]
– steht das Verhalten eines wahrhaft guten Arztes: Dieser legt überall Zeugnis ab für die unica vera cordis religio, seine Lebensführung, seine Worte und Taten dienen nur zur Ehre Gottes, und er leuchtet durch das Licht des wahren Glaubens, damit auch andere dazu ,verlockt‘ werden, ebenfalls diese Glückseligkeit des Geistes in Gott zu besitzen: 59 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Irmtraut Sahmland in diesem Band.
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Multo aliter se habet externus boni Medici cultus, ita quippe comparatus, ut ubique de unica vera cordis religione in Deum testimonium perhibeat, ut vita, verbis et factis nihil sibi sumere intelligatur, sed omnem honorem in Deum, omnis boni auctorem transferre, quem super omnia venerari summa ei voluptas, cui servire maxima ei libertas est; sicque radiat verae fidei luce, ut et alii alliciantur ad eandem spiritus beatitatem in Deo possidendam. [S. (10)f.]
Der Arzt übernimmt also auf die ganz spezifische Art, die ihm gerade durch die Ausübung seines Berufs möglich ist, die Aufgabe, die Menschen zu Gott zu führen, und somit gleichzeitig das Amt eines Priesters, eines Seel-Sorgers und Seelen-Führers. Und um dies zu bewerkstelligen, holt er die Menschen sozusagen dort ab, wo sie gerade in ihrer geistigen und geistlichen Existenz stehen: Atque fini huic si servire apud rudes possint ceremoniae, iis quoque in loco et tempore provide utitur, quo paulatim animos ad supremum DEJ cultum in spiritu perducat, eique, quantum sua ope valet efficere, illos soli vindicet. Ex ceremoniis, religionibusque externis eligit, nam et hic Eclecticum esse quid vetat? talem, quae huic scopo maxime faveat, illique, libertate ea, qua, secundum religionis naturam esse omnes par est, suum, ut mos fert, nomen addicit. [S. (11)f.]
Damit kommt Senckenberg zum Höhepunkt seiner Argumentation: Der Arzt besitzt eine einzige „religio“, nämlich die „religio spiritus“, keine dagegen für äußerliche Zeremonien. Weil er sich nach dem Beispiel Gottes so verhält, als existierte diese nicht, will er allen Menschen jedweder Religionszugehörigkeit von Nutzen sein, und versagt, aus allen Religionen das Beste für sich auswählend, keinem Menschen seine Dienste: Atque ita Medicus jure poterit dici habere unam, nullam et omnem religionem; Unam quidem, necessariam religionem spiritus; Nullam, dum quoad externum cultum nulli se serviliter subjicit, atque, Dei exemplo, ita se gerit, acsi nulla existeret, omnibusque studet prodesse, diversissimis licet orbis religionibus adscriptis; Omnem, dum pariter ex omnibus optimum quodque adoptat, nemini, de reliquo mortalium, ex orbe universo, sua negans officia. [S. (12)]
Da diese (von ihm explizit als meditatio bezeichneten) Ausführungen über die Religio Medici vere pii der natura Gottes und der natura des Menschen in keiner Weise widersprechen, kann Senckenberg gerade auch von Seiten der wirklichen Gottes-Gelehrten (wie sie sich zumal an der Universität zu Göttingen befänden) nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe sich damit in einen Bereich begeben, mit dem er nichts zu tun haben dürfte: De Religione Medici vere pii et non superstitiosi, quae modo prolata sunt, naturae Dei et nostrae quam maxime respondent, nec erit ex ordine Theologorum / Deo eruditorum, pacificorumve quisquam, qui meditationem meam verbo divino ullo modo refragari pronunciet, aut me Letab\seyr eQr %kko c]mor accuset [S. (12)f.]
Johann Christian Senckenberg (1707–1772) und die „Pietas Medici“
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Damit kommt Senckenberg zum zweiten Teil seiner Tractatio – die Pietas Medici in se ipsum. Ein wahrhaft ,frommer‘ Arzt erbittet von Gott die caelestis sapientia („himmlische Weisheit“), um sein Leben auf rechte Weise zu führen und nach dem göttlichen Willen auszurichten, damit er – selbst geistig und körperlich „heil“ – auch für Andere zum Heil werden könne: A Deo autem, Patre luminum et boni omnis Autore petit, cum in sese ipso nihil boni et lucis natura sua se continere certissime sciat, se totum ei subjiciendo, quibuscunque in vita hujus casibus, petit, inquam, caelestem sapientiam, quae mentem illuminet divino lumine, quae viam rite sese ordinandi atque ad divinam voluntatem componendi monstret, ut ipse tam spiritu quam corpore sanus sit, atque vere habilis inserviendo, aliosque sanando. [S. (14)f.]
Dieser spiritus wird nun näher beschrieben: Spiritus enim, Dei energia ordinatur, cuncta / Dei manu, grato, sereno et quieto animo accipiens, sanus est, cognoscendi atque agendi constantia et dexteritate potentissimus, acie sui intellectus omnia penetrat, atque cuncta, quae suscipit, bene illi cedunt. [S. (15)]
Ein frommer und rechtschaffener Arzt wird, beseelt durch diesen Geist und seine entsprechende Veranlagung, niemals in die Gefahr geraten, Affekten und Lastern nachzugeben, die seine körperliche Gesundheit schwächen und ihn an seiner Pflichterfüllung hindern könnten: Spiritus ergo cum pio proboque Medico semper idem sit, indole quieta et lucida, nullis affectuum turbis patens, qui humores vel nimium coagulant vel nimium solvunt, qui solidas partes vel nimis laxant vel nimis stringunt, nullumque in reliquis diaetae partibus vitium ab eo admittatur, liberque et aequalis Sanguinis per omnes partes circulus servetur, corpore quoque sanus est, duris aptus ferendis, studiis rite colendis, Artisque habitui acquirendo recta cum ratione effectivo. [S. (15)f.]
Seine konkrete Lebensführung weist ihn als jemanden aus, der auf Gott hin lebt: Ornatus dicto modo divina harmonia, quam omnes homines coguntur venerari, non poterit non hominibus esse charus, mererique applausum operibus suis debitum, quem vero, ut et sese totum Deo servatori, / quo profluit omne bonum, atque ad eundem quoque debet refluere, consecrat. Quoad externum habitum non splendidus nimis, non sordidus, comis omnibus, ita se gerit, ut ordinatum atque spiritualibus et caelestibus, non terrenis deditum, paucis contentum, hilarem, sobrium, flagrantemque ad officia salutaria omnibus praestanda, monstrent domus, vestes, verba et actiones omnes. Sicque ei datum est hoc jam in orbe vivere vitam beatam. [S. (16)f.]
Damit erfolgt der Übergang zum dritten Abschnitt – zur Pietas des Arztes in Bezug auf die Menschen, mit denen er es in seinem Beruf, der ja eine Berufung
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ist, zu tun hat – die Kranken, seine Kollegen sowie die Ministri.60 Hinsichtlich der Heilung der Kranken steht am Anfang die Rückbindung des Arztes an Gott: Ab hisce vero nihil aliud expectari posse, quam quod aegri praestare valent, bene perpendens, in eos omni, ut humanitas, ut Christiana Religio suadent, homiletica virtute sese instruit; Quid enim hic aliud est Medicina, quam quotidianum atque continuum amoris, bonitatis, justitiaeque, ex praescripto legum divinarum promanans exercitium, in bono infirmorum promovendo? [S. (17)f.]
Unabdingbar ist, dass der Arzt nicht (nur) geeignete Medikamente verschreibt, sondern dass er vor allem auf den Kranken und dessen spezielle Befindlichkeit eingeht – und die richtigen Worte für ihn findet: dici enim non potest, quantum in animis hominum devinciendis atque ordinandis, valeat verborum Unitas et gravitas, amico temperamento conjunctae, quibus studere Medico summH necessarium, ut confidentiam erga sese excitet aegrorum, non tam sui ipsius, quam illorum causa, ut nimirum facilius valeat juvare, comparandam, quo consentiens in medicamenta animus, eaque intrans fide sua; quietus speque plenus optima, efficaciam juvet atque augeat. [S. (19)]
In Bezug auf die Behandlung verschiedener Bevölkerungsschichten wird der pius medicus gegenüber den Reichen und Mächtigen, deren Krankheiten nicht zuletzt in der Abkehr von Gott und dem Verhaftetsein an Machtdenken und irdischem Besitz ihre Ursache haben, furchtlos eben diese Wahrheit sagen, während er sich der mittellosen Kranken auf besondere Weise annimmt, ohne Honorar einzufordern, damit er sein Lebensziel nicht verfehlt: „crescitque in vivam Dei similitudinem homo novus, quem aedificare in transitu per vitam hanc omnibus primus esto finis.“61 Zum Abschluss seiner Rede geht Senckenberg noch kurz zunächst auf das für einen pius medicus erforderliche Verhältnis zu seinen Arztkollegen ein, das geprägt sein soll von Offenheit und der Bereitschaft, sein Wissen mit anderen zu teilen und von anderen zu lernen, sodann auf das richtige Verhalten gegenüber Untergebenen und den „artibus veteratoriis rhopopolarum et pharmacopoeorum“, denn, so endet seine Rede: „Quisquis ergo secus faxit, Deus vindex erit!“62
60 Hier ist allerdings unklar, wer gemeint ist – evtl. Wartpersonal bzw. untergeordnete Heilberufe. 61 Promotionsrede, S. [20]–[24], das Zitat hier S. [23]. 62 Ebd., S. [27 f.].
Annemarie Kinzelbach und Marion Maria Ruisinger
Pietistische Medizin? Die Praxis des Nürnberger Arztes Johann Christoph Götz (1688–1733)
I. Einleitung Johann Christoph Götz muss man nicht kennen. Er gehörte weder in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen noch im medizinhistorischen Rückblick zu den herausragenden Ärzten seiner Zeit. Wir wissen nicht einmal, wie er aussah. Er blieb für die Nachwelt gesichtslos, obwohl er in der porträtfreudigen, kunstsinnigen Reichsstadt Nürnberg lebte. Das mag auch daran liegen, dass er bereits mit 45 Jahren, also verhältnismäßig früh, gestorben ist. Dass wir uns dennoch intensiv mit Johann Christoph Götz beschäftigt haben, hat einen guten Grund: Im Gegensatz zu berühmteren Vertretern der Nürnberger Ärzteschaft, wie etwa Christoph Jacob Trew (1695–1769), sind von ihm Praxisaufzeichnungen erhalten. Die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg bewahrt sieben, in kleiner Schrift eng beschriebene, lateinischsprachige Jahrgänge seines Praxisjournals auf. Diese Bände wurden zum Ausgangspunkt eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes zur Geschichte der ärztlichen Praxis, das von 2009 bis 2012 am Deutschen Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt bearbeitet wurde.1 Unsere Recherchen zum Forschungsstand brachten zu Tage, dass Götz von der medizinhistorischen Forschung bislang fast völlig unbeachtet geblieben war – bis auf eine Ausnahme: Christa Habrich, die Mitbegründerin und langjährige Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums, hatte Götz in ihrer 1981 vorgelegten Habilitationsschrift über den pietistischen Arzt Johann Samuel Carl (1677–1757) erwähnt, weil Carl und Götz eine „lebhafte wissenschaftliche Korrespondenz“ unterhielten, die zum Teil heute noch in der Briefsammlung Trew der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg erhalten ist.2 Dies war für uns der erste Hinweis darauf, dass 1 Das Projekt „Ärztliche Praxis im frühen 18. Jahrhundert: Der Nürnberger Arzt Johann Christoph Götz (1688–1733)“ wurde von Marion Maria Ruisinger geleitet und von Kay Peter Jankrift, Annemarie Kinzelbach und Susan Splinter bearbeitet. Es war Teil des internationalen Forschungsverbundes „Ärztliche Praxis (17.–19. Jh.)“, dessen Ergebnisse Gegenstand der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Ausstellung „Praxiswelten. Zur Geschichte der Begegnung von Arzt und Patient“ sind, die vom Berliner Medizinhistorischen Museum der Charit8 und dem Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt entwickelt und im September 2013 in Berlin eröffnet wurde. 2 Christa [Meyer-]Habrich: Untersuchungen zur pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei
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Annemarie Kinzelbach und Marion Maria Ruisinger
Götz dem Pietismus nahe gestanden haben könnte. So sensibilisiert und durch Gespräche mit Christa Habrich ermutigt, fahndeten wir in den Praxisjournalen und den vielgestaltigen Publikationen des Nürnberger Arztes nach Hinweisen auf eine pietistisch modifizierte ärztliche Haltung oder gar nach einer „pietistischen Medizin“, um den Begriff zu gebrauchen, den Christa Habrich in ihrer Habilitationsschrift geprägt hatte. Sie hatte dabei nicht den Anspruch, ihr Thema erschöpfend zu behandeln, sondern wollte vielmehr einen „ersten Impuls für die wissenschaftliche Beachtung dieses medizingeschichtlichen Problems geben“.3 Diese Anregung ist auf fruchtbaren Boden gefallen. In den 33 Jahren, die seitdem vergangen sind, erschien eine Fülle von Schriften, die sich mit der Frage beschäftigt haben, was einen pietistischen Arzt ausmacht und inwieweit sich seine Deutung und Behandlung von Krankheiten auf so charakteristische Weise von der ärztlichen Tätigkeit nicht pietistischer Kollegen unterscheidet, dass man mit Fug und Recht von einer „pietistischen Medizin“ sprechen kann. Unser Beitrag zu dem Nürnberger Arzt Johann Christoph Götz reiht sich in diese Forschungsrichtung ein und versteht sich dabei zugleich als kleine Hommage an Christa Habrich, die erstmals die Verbindung zwischen Götz und dem Pietismus hergestellt hat. Götz stammte aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater, ein Handwerker, der mit Edelmetallen arbeitete und als Verleger mit Gold und Silber handelte, war schon vor seiner Geburt gestorben.4 Seine Mutter, Anna Elisabetha, war als Tochter des Kaufmanns Albrecht nicht nur in der Lage, im Witwenstand zwei Söhnen ein Studium zu ermöglichen, vielmehr gelang es ihr darüber hinaus auch, einflussreiche Vormünder zu gewinnen: Der Kaufmann Johann Christoph Pfaff versprach eine intensivierte Vermittlung von kaufmännischer Praxis; der Doktor der Jurisprudenz Friedrich Ernst Finckler (1664–1736) stellte für ihre Söhne Kontakte zur akademischen und politisch aktiven Elite der Reichsstadt her.5 Eine Beziehung zur kaufmännischen und akademischen Welt im benachbarten Augsburg bestand bereits durch die Großmutter Anna, eine Tochter des Botanikers und Arztes Leonhard Rauwolf.6 Solche Verbindungen konnte Götz nutzen, als er 1708 vom Akademischen Gymnasium
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Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis. Maschinenschr. Habil. München 1981, Zitat S. 5, ferner S. 56 f. Ebd., S. XV. Sofern nicht anders zitiert, stammen die biographischen Einzelheiten aus der ausführlichen, lateinischsprachigen Vita im Archiv der Leopoldina (MS 359). Johann Philipp Götz studierte Jura, vgl. Christian Thomasius / Johann Philipp Götz: Dissertatio inauguralis de vera pietate iuridica, Halle – Magdeburg 1701/1710, S. 70; Leopoldina-Archiv MS 359, S. 1. Zu Rauwolf siehe Mark Häberlein: Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg im 16. Jahrhundert. Der Augsburger Arzt und Orientreisende Leonhard Rauwolf. In: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Hg. v. Gernot Michael Müller, Berlin – New York 2010, S. 101–117.
Pietistische Medizin? Johann Christoph Götz
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Casimirianum in Coburg, wo er neben theologischen, philologischen und philosophischen auch schon physiologische, anatomische und botanische Studien betrieben hatte, an die Universität Altdorf wechselte. Er wurde Mitglied des Haushaltes von Professor Felix Spitz, dem Dekan der juristischen Fakultät, der gleichzeitig den Nürnberg Bürgermeister und den dortigen Rat in Rechtsfragen beriet. 1713 wurde Götz in das Collegium medicum der Reichsstadt aufgenommen. Anschließend heiratete er Margaretha Catharina Spitz, die Tochter des Altdorfer Professors, und festigte so seine Verbindungen zu den politischen, juristischen und akademischen Kreisen in Nürnberg und Altdorf.7 Mit der Verbindung zur Familie Spitz treffen wir auf die ersten personenbezogenen Hinweise, die auf ein Interesse am Pietismus schließen lassen, wie unten noch näher erläutert wird. Für seine unmittelbar an die Disputation in Altdorf anschließende Peregrinatio academica lassen sich zwar eine Reihe von Orten finden,8 an denen pietistisches Denken und Handeln zentral war oder gerade während Götzes jeweiligem Aufenthalt in den Mittelpunkt rückte, aber in seinen Lebensläufen erscheinen darüber hinaus keine direkten Verbindungen mit den jeweils aktiven Männern: So hielt er sich beispielsweise zur selben Zeit (Herbst 1711) in Wetzlar auf, in der Egidius Günther Hellmund dort eintraf und versuchte, eine pietistische Gemeinschaft zu gründen.9 In Götzes Vita aber sind die gemeinsame Krankenbetreuung mit „D.D. Moellerum“10 und der Erwerb medizinischer Praxis als Beweggrund für seinen Aufenthalt in Wetzlar genannt. Die Tischgemeinschaft mit dem Sekretarius der bekannten pietistischen Grafenfamilie von Solms-Wildenfels (später Laubach) fand nur am Rande Erwähnung. Ähnliches gilt auch für seinen darauf folgenden Besuch in Gießen, wo die Biografien keine der pietistisch orientierten Personen, sondern Georg Theodor Bartholds (1669–1713) öf7 Zu Spitz und dem oben erwähnten Finckler siehe Adresskalender: Das jetzt lebende Nürnberg, 1705/06, Nürnberg 1705–1706 [Erlangen 2000], u. a. S. 80; Adresskalender, Verzeichnus Der Republic Nürnberg Regenten, Beamten und Bedienten, sowohl in der Stadt als auf dem Land. von Joseph Paul Nigrino / Historiographo, Freyburg 1732, 1733, u. a. S. 16 f.; Georg A. Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon oder Beschreibung aller Nürnbergischen Gelehrten beyderley Geschlechtes nach Ihrem Leben, Verdiensten und Schrifften […], Nürnberg – Altdorf, Bd. 1, 1755, S. 443–446; vol. 2, 1757, S. 748–750. Staatsarchiv N Collegium medicum, Bd. III, S. 739. Zu Götz als Stadtarzt siehe Susan Splinter : „Ein jeder der Stadt Nürnberg bestelter Medicus und Physicus ordinarius soll geloben…“. Medizinale Strukturen Nürnbergs zu Beginn des 18. Jahrhundert. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 30 (2011), S. 334–349. 8 Johann Christoph Götz: De Glycyrrhiza […], Altdorf o. J. [1711]. 9 Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen. Hg. v. Bruno Jahn, München 2005, S. 623 f. 10 Georg Christoph Möller (1663–1740) war einer der akademischen Lehrer von Lorenz Heister (1683–1758), der im November 1710 die Professur für Anatomie und Chirurgie in Altdorf übernahm. Götz verteidigte im März 1711 die von Heister verfasste Schrift über den Kauvorgang. Vermutlich gab Heister seinem Studenten einen Empfehlungsbrief an Möller mit auf den Weg, was Götzes Aufenthalt in Wetzlar erklären würde. Lorenz Heister / Johann Christoph Götz: De masticatione […], Nürnberg 1711.
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Annemarie Kinzelbach und Marion Maria Ruisinger
fentliche anatomische Demonstrationen erwähnen.11 Auch Götzes folgenreiches Zusammentreffen mit den Professoren der Medizinischen Fakultät in Halle, Friedrich Hoffmann und Georg Ernst Stahl, dessen Theorien pietistische Ärzte stark beeinflussten, sowie mit Stahls Schüler und Nachfolger, dem gleichfalls aus Nürnberg stammenden Pietisten und Arzt Michael Alberti, findet in der Vita lediglich kursorische Erwähnung.12 Dieses auffallende Schweigen in Götzes Biografien ist wohl darauf zurückzuführen, dass sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Nürnberg ein öffentliches Bekenntnis zum Pietismus nur schwer mit einem Amt vereinbaren ließ. Amtsträger waren allerdings alle Ärzte, die in dieser Reichsstadt praktizieren wollten: Sie mussten Mitglieder des Collegium medicum werden, womit Funktionen als Stadtarzt verbunden waren. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert versuchten einflussreiche Mitglieder des Nürnberger Patriziats, den Pietismus zurückzudrängen, der in der Stadt und ihrer Universität Altdorf Fuß gefasst hatte, indem sie pietistische Amtsträger in niedrigere Ämter versetzten oder sogar ihrer Ämter enthoben. Dies wird am Beispiel der Theologen Ambrosius Wirth (1656–1723) und Johann Michael Lang (1664–1731) deutlich, die beide in enger Beziehung zu Götz standen. Der Prediger Wirth und seine Familienmitglieder waren bei Götz in medizinischer Behandlung, Wirths pietistisches Liederbuch enthält sogar einen Beitrag aus der Feder des Arztes.13 Der Prediger hatte einen pietistischen Zirkel gegründet und wurde daraufhin strafversetzt. Lang, seit 1697 Theologieprofessor und Pfarrer in Altdorf, war mit einer Tochter des dortigen Juraprofessors Felix Spitz verheiratet und dadurch ein Schwager von Götz.14 Der Nürnberger Rat legte dem Theologieprofessor sogar einen Rücktritt von seinen Ämtern und Diensten nahe, nachdem sein Name in die Publikation von Schriften Johann Georg Rosenbachs, eines bekannten, aktiven Pietisten, verwickelt worden war und Lang sich in dem daraus resultierenden Konflikt weigerte, ein vom Nürnberger Magistrat 1707 publiziertes Dekret zu unterzeichnen, in dem er schriftlich versichern sollte, „die reine evangelische 11 Leopoldina-Archiv Nr. 359, lateinisch S. 4, deutsch (S. 2 f.). Zu Solms vgl.: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz, Bd. 30, Nordhausen 2009, Sp. 100–105; zu Gießen vgl. Ulrike Enke: Peripherie als Innovationspotential? Das Beispiel des Gießener Medizinprofessors Michael Bernhard Valentini (1657–1729). In: Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen. Institutionen, Akteure und Ereignisse von der Gründung 1607 bis ins 20. Jahrhundert. Hg. v. Ulrike Enke, Stuttgart 2007, 39–80, hier S. 75–78. 12 Jürgen Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform, Tübingen 2006, vor allem S. 11–46. 13 Ambrosius Wirth: Des Geistlichen Lieder-Schatzes vollständiger Theil darinnen 876. sowol alte als neue, auserlesene, Geist- und Schrifftreiche Lieder zu finden […], Nürnberg 1719; Götz nennt in seiner Vita allerdings die Konkordanz zu dieser Schrift zunächst mit dem lateinischen Titel „Harmonia Modorum Hymnorum Spiritualium“ (Leopoldina-Archiv MS 359, S. 8). 14 Annemarie Kinzelbach / Kay Peter Jankrift / Marion Maria Ruisinger: Arztpraxis im frühneuzeitlichen Nürnberg: Johann Christoph Götz (1688–1733). In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 72 (2012), S. 123–149, hier 130; in Publikationen von Susan Splinter und darauf basierenden Veröffentlichungen wird Spitz versehentlich als Theologe bezeichnet.
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Lehre“ zu wahren.15 Ein vorsichtiger Bürger Nürnbergs gab sich aus diesem Grund in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wohl eher an seinen Handlungsweisen als an seinen expliziten, vom Rat nachlesbaren Äußerungen als Pietist zu erkennen. Das Charakteristikum der pietistischen Medizin, so Christa Habrich, war die Einheit von religiöser Verantwortung und ärztlicher Kunst.16 Eine Trennung von Theologie und Medizin sei dem pietistischen Arzt ebenso fremd gewesen wie eine Trennung von Theorie und Praxis. Höchste Bedeutung hatte dabei die Beachtung der Naturwege, der in die Lebewesen gelegten Selbstheilungstendenz. Dies fordere vom Arzt Geduld und führe zur Bevorzugung „milder und schonender Methoden“.17 Aus neueren Studien geht hervor, dass die Idee einer solchen „sanften“ Medizin sogar ihren Weg über den Atlantik fand und in Pennsylvanien praktiziert wurde.18 Johann Samuel Carl, der als einer der herausragenden Repräsentanten der pietistischen Ärzte gilt, arbeitete sein Programm für das Gebiet der Materia medica, des Arzneimittelschatzes der Heilkunde, dezidiert aus. Er lehnte polypragmatische Rezepturen ab, bevorzugte Ein-Stoff-Medikamente und plädierte für eine angemessene Aufbereitung der pflanzlichen Arzneistoffe, um ihre Wirkung nicht zu zerstören.19 Allerdings formulierte besonders Jürgen Helm Kritik an Habrichs Konzept einer „pietistischen“ Medizin, in welchem er einen deutlichen Bezug zwischen Carls Handeln als Arzt und seiner Frömmigkeit vermisste.20 Obgleich Helm eine normativ-theoretische pietistische Medizin und ein pietistisches Krankheitskonzept identifizierte und beispielsweise die darin enthaltene schädliche Wirkung von Affekten unterstrich, betonte er, dass das „Konzept einer ,pietistischen Medizin‘ […] selbst im Zentrum des Halleschen Pietismus nur in Ansätzen verwirklicht wurde.“21 Christa Habrich dagegen 15 Zum gesellschaftlichen Einfluss des Pietismus und seiner Zurückdrängung in Nürnberg siehe Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744), Wiesbaden 2006, S. 472–562; siehe auch Hartmut Hövelmann: Lemma „Ambrosius Wirth“. In: Stadtlexikon Nürnberg. Hg. v. Michael Diefenbacher und Rudolf Endres, Nürnberg 1999, S. 1184; Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644–1744, Wiesbaden 1994, S. 110. Zitat und Details zu Lang siehe Will: Gelehrten-Lexicon (wie Anm. 7), Bd. 2. H–M, Nürnberg – Altdorf 1756, S. 394–405, dem auch der Schriftverkehr zwischen Lang und der Obrigkeit als Quelle gedient hatte. 16 [Meyer-]Habrich: Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 71. 17 Ebd., S. 136. 18 John Crellin: Theory and Clinical Experience in Eighteenth-Century Extemporaneous Prescriptions – A Reciprocal Relationship. In: Pharmacy in History 48 (2006), S. 3–13, hier S. 5; ders.: Mentors and Formulae: Continuity and Change in Eighteenth-Century Therapeutics. In: Jürgen Helm / Renate Wilson (Hg.): Medical theory and therapeutic practice in the eighteenth century. A transatlantic perspective, Stuttgart 2008, S. 175–196, hier S. 178. 19 [Meyer-]Habrich: Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 121, 426. 20 Jürgen Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform, Tübingen 2006, S. 11–13. 21 Jürgen Helm: Pietistisches Menschenbild, medizinische Theorie und therapeutische Praxis im 18. Jahrhundert. In: Alter Adam und neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Internatio-
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sprach von einer „pietistischen Reformmedizin“. Deren Basis bildete nach ihrer Ansicht Stahls „psychodynamische Medizintheorie, die der Seele den Primat über alle Körperfunktionen zuerkannte“.22 Bis in jüngere Zeit diskutierten Medizinhistoriker, wie die Übertragung dieses Konzeptes auf die ärztliche Praxis aussehen könnte. Für die Frage der Wertung einer anatomischen Untersuchung ergab sich ein uneinheitliches Bild, weil Skeptizismus gegenüber medizinischen Erkenntnissen aus anatomischen Untersuchungen ebenso zu finden waren wie die Anerkennung ihrer Nützlichkeit für Chirurgie und Theologie.23 In der Forschungsliteratur herrscht dagegen weitgehend Einigkeit darüber, dass für pathologische Überlegungen pietistischer Ärzte Gemütsbewegungen wie Zorn, Schrecken und Angst eine besonders wichtige Rolle spielten.24 Auch Götz notierte sehr aufmerksam positive und negative Gefühlsäußerungen seiner Klientel. Inwiefern sich darin eine spezifisch pietistische ärztliche Haltung äußert, werden wir unten diskutieren.
II. Götz in seinen medizinischen Publikationen Beziehungen zu Praktikern und Theoretikern: Carl, Dippel, Stahl Frühneuzeitliche Gelehrte, ebenso wie Kaufleute, waren dicht vernetzt.25 In Götzes persönlichem Beziehungsnetz waren auch einige in pietistischen
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naler Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. v. Udo Sträter, Bd. 2, Tübingen 2009, S. 87–106, hier S. 96–98, Zitat S. 102. Christa Habrich: Johann Samuel Carl (1677–1757) und die Philadelphische Ärztegemeinschaft. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. v. Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader und Heinz Schilling, Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), S. 272–289. Irmtraut Sahmland: Pietistische Anatomie-Kritik. In: Alter Adam und neue Kreatur (wie Anm. 21), S. 795–808. [Meyer-]Habrich: Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 116, 154–167, 213 f.; Helm: Krankheit (wie Anm. 20), S. 31; Helm: Pietistisches Menschenbild (wie Anm. 21), S. 96–98. Die Literatur zu Gelehrtennetzwerken hat sich in jüngerer Zeit vervielfacht, siehe beispielsweise Lorraine Daston: The Empire of Observation, 1600–1800. In: Histories of scientific observation. Hg. v. Lorraine Daston und Elizabeth Lunbeck, Chicago [u. a.] 2011, S. 81–113; Gianna Pomata: Sharing Cases: The Observationes in Early Modern Medicine. In: Early Science and Medicine (2010), S. 193–236; Marion Mücke / Thomas Schnalke: Briefnetz Leopoldina. Die Korrespondenz der Deutschen Akademie der Naturforscher um 1750, Berlin 2009; Martin Stuber / Stefan Hächler / Luc Lienhard (Hg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005 (Studia Halleriana, Bd. 9). Aber auch die Netzwerke von Kaufleuten werden zunehmend analysiert, siehe Regina Dauser: Qualitative und quantitative Analyse eines Ego-Netzwerks – am Beispiel der Korrespondenz Hans Fuggers (1531–1598). In: Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Regina Dauser [u. a.], Berlin 2008, S. 329–346; Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998.
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Kreisen bekannte Ärzte vertreten. Die von diesen erhaltenen Informationen ließ er auch in seine Publikationen einfließen, wobei er seine Informanten namentlich nannte. Häufig erwähnte er Stahl und Carl, denen er auch persönlich verbunden war : Stahl wurde zum Paten seines einzigen Sohnes. Die Ehepaare Götz und Carl korrespondierten über fachliche wie private Themen und schickten sich Pakete mit Nürnberger Lebkuchen und Carl’schen Arzneien.26 Über Carl entstand auch eine indirekte Verbindung zu Johann Conrad Dippel (1673–1734), einem bekannten pietistischen Arzt und Theologen.27 In welcher Weise Götz über Arzneien von Pietisten wissenschaftlich publizierte, lässt sich an einem Selbstversuch zeigen, den er 1731 in der Zeitschrift Commercium litterarium veröffentlichte.28 Unter dem Titel Relatio (Bericht) schilderte Götz, dass Carl ihm einen „lindernden“ (temperantis) Trank gegen sein Podagra mit einer „Geschwulst an der linken Großzehe“ (tumor […] ad pollicem pedis sinistri) schickte, unter dem Götz wiederholt litt. Er zitierte wörtlich aus zwei Schreiben, in welcher Weise Carl das „UniversalAntipodagricum und Anti-Nephriticum“ (vniuersale antipodagricum et antinephriticum) anzuwenden empfahl und ihn darüber informierte, dass „Herr Dr. Dippelius“ diese Arznei besonders schätzte und Carl selbst sie wegen ihrer beruhigenden und lindernden Wirkung lobe, die bei Nierenleiden helfe und Nierensteinbildung verhindere. Auch die weiteren Details wie Dosierung und Behandlungsvorschläge für weitere Erkrankungen zitierte Götz wörtlich. Diese beiden Zitate schloss er jedoch jeweils mit seinen eigenen Beobachtungen über diese Arznei. Er schilderte ihre Farbe, ihren Geruch und ihren Geschmack, referierte das Ergebnis mehrerer Verbrennungs- bzw. Verdampfungstests und informierte darüber, wie sich die Flüssigkeit im Lauf der Zeit veränderte. Darauf folgte eine genaue Beschreibung seines Selbstversuches mit Angaben zu der eingenommenen Menge, der Einnahmezeit und der Dauer der Einnahme sowie einer präzisen Auflistung der sich einstellenden Symptome, beispielsweise: „nächtlicher Traum, nach Mitternacht ein Schweißausbruch, am nächsten Morgen eine spürbare Abnahme des Tumors und der Schmerzen.“ Diese exakte Schilderung setzte Götz über die gesamte Einnahmezeit fort. Er nannte dabei die Besserung seiner Beschwerden ebenso wie die von 26 Leopoldina-Archiv MS 359, S. 5; LAELKB Nürnberg St. Lorenz Taufen, L-28, f. 358 (Eintrag zu Ernst Felix Christoph Götz, recherchiert von Susan Splinter); [Meyer-]Habrich: Untersuchungen (wie Anm. 2), Anhang Briefedition, Carl an Götz vom 12. 2. 1733, S. 20. 27 [Meyer-]Habrich: Untersuchungen (wie Anm. 2), Anhang Briefedition, S. 20–32; Dippel gilt als radikaler Pietist, Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung, Göttingen 2001 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 39). 28 Commercivm litterarivm ad rei medicae et scientiae natvralis […], Nürnberg 1731, (Specimen XXII), S. 172–174; wir danken Conrad-Jacob Schiffner für die sorgfältige Übersetzung dieses Berichtes. Zum Commercium allgemein siehe Tilman Tassilo Rupert Rau: Das Commercium Litterarium. Die erste medizinische Wochenschrift in Deutschland und die Anfänge des medizinischen Journalismus, Bremen 2009.
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ihm beobachteten Nebenwirkungen, etwa eine Beeinträchtigung der Sinne. Götz schloss diesen Bericht mit einer in neun Punkte gegliederten Beschreibung seiner eigenen Podagra-Geschichte ab. Neben einer Schilderung, wie sich „meistens“ die Symptome wie „Fußleiden“, „Schwindel“, „Kopfschmerz“ und „ernste Luftnot“ im Krankheitsverlauf veränderten, erwähnte er, dass er keine „andere Therapie und keine andere Medizin […] diesem Trank zugestellt“ habe. Im zweitletzten Punkt deutet sich eine Kritik an der Arznei und den damit verbundenen Ratschlägen an, wenn er seinen empfindlichen „Ventriculum“ (Magen) auf (empfohlene) Wärmebehandlungen und die „Klebrigkeit des Trankes“ zurückführt. Der Arzt, Patient und Publizist verwandte darüber hinaus die in „Observationes“ üblichen Beobachtungsmethoden.29 So benutzte er eher distanzierende Wendungen in Bezug auf den Arzneitrank, beispielsweise „iste“ statt des neutralen „hic“, das im zitierten Text von Carl stand. Götz gehörte der kleinen Societät Nürnberger Ärzte an, die das Commercium litterarium herausgab. Sie hatten die Zeitschrift bewusst als wöchentlich erscheinendes, lateinischsprachiges Journal angelegt, um ein medizinisch oder naturhistorisch interessiertes Publikum durch aktuelle Informationen zur Diskussion anzuregen. Durch dieses Medium brachte Götz Behandlungsmethoden aus dem pietistischen Kontext einer gebildeten Öffentlichkeit nahe, indem er die dazugehörigen Arzneien und deren Handhabung an der eigenen Person erprobte. Aber er ließ sich nicht zu einer Propaganda-Schrift für ein entsprechendes Heilverfahren hinreißen, sondern überließ die Beurteilung seinen Lesern oder Leserinnen. Eine Reihe von Götzes Publikationen bezog sich auf Georg Ernst Stahl. Götz übersetzte dessen Schrift zur Alchemie im Jahr 1720.30 Im Jahr darauf schrieb Götz ein Vorwort zu lateinischen Kurzausführungen Stahls über „chymische“ Pharmazeutika.31 In den Folgejahren erstellte Götz mehrere, als weitgehend vollständig geltende Werksverzeichnisse Stahls.32 Der Umstand, dass sich Götz zunächst vor allem für Stahls 29 Gianna Pomata: Observation Rising: Birth of an Epistemic Genre, 1500–1650. In: Histories of scientific observation (wie Anm. 25), S. 45–80. 30 Leopoldina-Archiv MS 359, S. 8. Nach den Angaben in Götzes Vita handelte es sich um den Titel: G. E. Stahls Gedanken von Verbesserung der Metallen, Nürnberg und Altdorf 1720, und ein Vorwort: Praefatione de Veritate & praestantia Alchymia. Allerdings erschien im selben Jahr eine weitere Übersetzung in Leipzig, Georg Ernst Stahl: Herrn George Ernst Stahls, Königl. Preußischen Leib-Medici und Hoff-Raths, Chymia Rationalis Et Experimentalis; Oder Gründliche der Natur und Vernunfft gemäße und mit Experimenten erwiesene Einleitung zur Chymie […]. Nebst einem Anhange Von denen Mercuriis Metallorum, Mercurio animato, und lapide Philosophorum, Leipzig 1720. 31 Georg Ernst Stahl: D. Georg. Ern. Stahlii, […] Fvndamenta Chymico-Pharmacevtica Generalia Accessit Manvdvctio […], Herrnstadii 1721. 32 Leopoldina-Archiv MS 359, S. 8, Historia Chronologica Scriptorum Stahlii, Nürnberg 1726; zur Einschätzung der Vollständigkeit der vervollständigten Ausgabe 1729 siehe Johanna GeyerKordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls, Tübingen 2000, S. 27.
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Schriften zur Alchemie interessierte, könnte darauf hindeuten, dass auch er in dieser einen Weg sah, „innere Gottesschau mit einem tätigen, weltzugewandten Wirken zu verbinden.“33
Unter dem Deckmantel der Anonymität Ein Interesse an Alchemie äußert sich auch in weiteren Übersetzungsarbeiten, die Götz durchführte und die anonym veröffentlicht wurden. Im Jahr 1722 erschien seine Übersetzung einer Schrift des Puritaners und Alchemisten George Starkey (1628–1665/6). In dieser Schrift verteidigte Starkey einige Ideen und Experimente van Helmonts, wie beispielsweise die Herstellung und Erprobung des Heilmittels „Alcahest“. Ein unmittelbarer Bezug bestand wohl zu dem Alchemisten Franziskus Mercurius van Helmont (1614–1699), da ein gleichfalls eingefügtes Gebet der „Rosen-Creuzer zu Gott“ zeitlich einen Bezug zum Vater Jan Baptist van Helmont (1580–1644) eher ausschließt.34 Franziskus Mercurius gilt als Verbindungsglied zwischen den Quäkern in England und deutschen Pietisten am Sulzbacher Hof.35 Im hinteren Teil des Buches meldet sich ein anonymer „Freund“ Starkeys zu Wort, der zwar angibt, bei Starkey van Helmonts „Alcahest“ nicht gesehen zu haben, und der Starkeys angeführte Belege für die Wirksamkeit als wenig überzeugend einschätzt, aber gleichzeitig eigene Versuche in Gegenwart von zwei Freunden anführt, die ein Salz ergaben, das sich in Regenwasser lösen ließ und „die abscheuliche Franzosen“ kurierte.36 Dieser Kommentator stellt auch eine Verbindung zwischen Geist und Materie, genauer zwischen Philosophie und Chemie her, indem er das in dem beschriebenen Verfahren hergestellte Salz Ammoniumchlorid als „philosophisch“ bezeichnet: „Und also habt ihr hier letzlich einen Cörper von 33 Kaspar Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus 1689–1721. Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718), Göttingen 2009 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 54), S. 289. 34 George Starkey [Johann Christoph Götz]: Dr. Georg Starkeys Chymie, Oder : Erklärung der Natur und Vertheidigung Helmonts. Ein kurtzer und sicherer Weg zu einem langen und gesunden Leben […], Nürnberg 1722; Gebet, S. 412; Götz als Urheber der Übersetzung in lateinischer und deutscher Vita: Leopoldina-Archiv MS 359, S. 8; (S. 5). 35 Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002, S. 222–230. 36 Starkey : Chymie (wie Anm. 34), S. 364–367. Die Übersetzung wird zwar einhellig Götz zugeschrieben, aber die Notiz, in der auch Starkeys Tod an „Pestilenz“ im Jahr 1666 erwähnt wird (S. 358), erscheint rätselhaft, da in der Vita von Götz kein längerer Aufenthalt in England erwähnt wird. Sie könnte allerdings darauf hindeuten, dass Götz zum einen selbst Experimente ausführte, die über das Abdampfen von Flüssigkeiten hinausgingen, zum anderen die Übersetzung eines Dritten zu Ende führte. Dabei könnte es sich um einen Altdorfer väterlichen Freund, den Pietisten und Altdorfer Theologieprofessor Christoph Wegleiter handeln, der sich zwei Jahre lang in England aufgehalten hatte und sich um die Vermittlung englischen Geistesund Kulturgutes bemühte; vgl. Jürgensen: Melos (wie Anm. 15), S. 472. Nach Wegleiters frühem Tod stand die Familie Götz in enger Verbindung zu dessen Familie.
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einer wunderbahren Production, und nicht ein gemeines sondern Philosophisches Sal Armonicum“.37 Eine weitere, ebenfalls anonym publizierte Übersetzung aus Götzes Feder lässt sich dem muttersprachlichen Reformprogramm zuordnen, das Stahl und die Pietisten vertraten.38 Dabei handelte es sich um eine französischsprachige medizinische Schrift, die in gleichzeitig aufklärerischer Haltung auf eine Allgemeinheit zielte, die in die Lage versetzt werden sollte, sich selbst medizinisch zu helfen.39 Diese Schrift war 1721 unter dem Titel Die Kunst, sein eigner Medicus zu seyn in einer deutschen Übersetzung erschienen.40 Götz gab noch im selben Jahr und beim selben Verlag eine gründlich überarbeitete Neufassung heraus.41 Er straffte die Schrift durch Verzicht auf einige anekdotische Erzählungen, gliederte die Diskussionsteile klarer und fügte Arzneiratschläge hinzu. Gleichzeitig betonte er häufig, wie wichtig es sei, einen Arzt zu konsultieren. Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, lässt sich Götz jedoch nur schwer auf eine Linie festlegen. Einerseits findet sich ein explizites Aufklärungsprogramm, eine seiner übersetzten Kapitel-Überschriften lautet: „Die Kunst durch Beobachtung des von dem Licht der Vernunfft begleiteten Triebs der Natur seine Gesundheit zu erhalten und den Kranckheiten vorzubeugen“,42 andererseits kritisierte er „des Cartesii und der Neurern Wahn“ und betonte die enge Verbindung zwischen Körper und Seele sowie die Gemeinschaft der „Spiritus Vitales und Animales“, die in pietistischer Literatur hervorgehoben werden.43 Dieses Beispiel illustriert zweierlei: Götz als Arzt formulierte nur sehr indirekte Bekenntnisse zum Pietismus, selbst unter dem Deckmantel der Anonymität. Gleichzeitig äußert sich in solchen anonym unternommenen Arbeiten eine der Eigenschaften eines idealen Arztes, wie sie Carl propagierte: der Verzicht darauf, „sich berühmt zu machen“.44 Solche Bescheidenheit prägte nicht nur die frühen publizistischen Arbeiten Götzes, er gab später sogar eine deutschsprachige Zeitschrift anonym heraus. Der Aufrichtige Medicus war ein 1726 erstmals veröffentlichtes Projekt, in dem 37 Starkey : Chymie (wie Anm. 34), S. 405. 38 Geyer-Kordesch: Pietismus (wie Anm. 32), S. 118–139. 39 Renate Wittern: Medizin und Aufklärung. In: Aufbruch aus dem Ancien r8gime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Helmut Neuhaus, Köln [u. a.] 1993, S. 245–266. 40 Anonym / M. Flamand: Die Kunst, sein eigner Medicus zu seyn, Oder : Sich durch Beobachtung seines Natürlichen Triebs gesund zu erhalten, Franckenhausen 1721. Diese Ausgabe enthielt bereits den Hinweis, dass sie als Basis eines weiteren Bandes dienen sollte, den ein Autor verfassen würde, der an einer bekannten medizinischen Fakultät studiert hatte. 41 Anonym / M. Flamand [Johann Christoph Götz]: Die Kunst, sein eigner Medicus zu seyn. Das ist, Hn. Flamants, Med. Doctoris und der Parisischen Facultät Mitglieds, Kunst seine Gesundheit zu erhalten Oder sein eigner Medicus zu seyn, Franckenhausen 1721. Leopoldina-Archiv MS 359, S. 8. 42 Anonym/M. Flamand, [Johann Christoph Götz]: Kunst (wie Anm. 41), S. 11. 43 Ebd., S. 12–34. 44 Siehe dazu den Beitrag von Irmtraut Sahmland in diesem Band.
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Götz zunächst eine bestimmte Auswahl seiner eigenen „Observationes“ publizierte.45 Damit wollte er einerseits eine Diskussion darüber eröffnen, was er selbst eventuell falsch gemacht hatte, um angehende Ärzte vor Fehlern zu bewahren;46 andererseits gingen seine Ziele über eine solche gelehrte Debatte hinaus. Zum einen wandte er sich explizit an ein allgemeines Publikum und zog Parallelen zwischen seiner Zeitschrift und jenen, die „bloß auf die Morale und Verbesserung der menschlichen Gemüther und Sitten abzwecken“, und betonte, dass „des Leibes Gesundheit so kostbahr und nothwendig als des Gemüths seye“.47 Zum anderen unterstrich er, dass sich sein Projekt dadurch von der Publikationsmasse unterscheide, dass er nicht Andere kritisiere, sondern vielmehr sich selbst „aller anderer Beurtheilung und Belehrung“ unterwerfe. Im Unterschied zu den meisten „unter dem Titul der Observation“ erscheinenden Schriften betone er nicht die geglückten, sondern die misslungenen Kuren, und wolle „nur die jenigen von meinen verrichteten Curen der Welt [… vorlegen], welche mir entweder übel ausgeschlagen sind, oder selber kein Genügen geleistet haben“, obwohl ihm klar sei, dass er damit „seinen Ruhm als Vortheil, andern zu Nutz, großmüthig“ opfere. Götz versprach, die in Briefen an sein Pseudonym „Aufrecht Geradedurch zu Wahrendorff“ an den Verleger gesandte Kritik an seinen Kuren in den Folgeblättern unverändert abdrucken zu lassen und für nachgewiesene Fehler dem Briefautor öffentlich zu danken. Obgleich dieses Programm primär eine Verbesserung der Medizin beabsichtigte, nannte Götz explizit auch ein ganz allgemeines Zielpublikum: „nicht nur Medici, sonderlich neu-angehende Practici, sondern auch alle andere, denen an ihrer Gesundheit und deren Vernufft-mäßiger Besorgung etwas gelegen“. Tatsächlich führte Götz dieses Programm in den folgenden, zunächst wöchentlichen Nummern aus, indem er Kuren mit tödlichem Ausgang beschrieb.48 Allerdings enthielten seine ausführlichen Patientengeschichten durchaus implizite Kritik an den Verstorbenen oder deren Angehörigen, wie beispielsweise: Wie sie dann sonderlich in diesem August-Monath, in welchem sie erkrancket, mit unvorsichtiger und schädlicher, ob gleich gar gewöhnlicher, Entblössung und Erkältung des Leibes vielfältig gefehlet, da sie bey damahliger rauhen und unbeständigen mit Hitze und Kälte schnell abwechselender [!] Witterung meistens in lüfftiger Kleidung und mit blossem Kopff und Füssen herum gelauffen […].49 45 Susan Splinter : Der Aufrichtige Medicus, eine Zeitschrift des Nürnberger Arztes Johann Christoph Götz (1688–1733) als Vorläufer des Commercium Litterarium. In: Jahrbuch für Kommunikationsforschung 13 (2011), S. 5–15. 46 Ebd., S. 8. 47 Anonym [Johann Christoph Götz]: Der Aufrichtige Medicus, No. 1 (1. 1. 1726), daraus auch die folgenden Zitate. 48 Der Aufrichtige Medicus No. 2 (9. 1. 1726) – No. 17 (7. 5. 1727) 49 Der Aufrichtige Medicus No. 2 (9. 1. 1726).
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Eine solche Kritik könnte als arzttypische Schuldzuschreibung gesehen werden, sie könnte aber auch im Kontext des pietistischen Körperverständnisses als Ermahnung verstanden werden, den Körper als Gefäß der Seele gesund zu erhalten.50 Mit diesem Projekt könnte Götz eine weitere Eigenschaft verkörpern, die Pietisten zugeschrieben wird: Er versuchte die Kommunikation unter Gleichgesinnten zu intensivieren, da er das Ziel verfolgte, einen gleichsam virtuellen Zirkel zu gründen, in dem sich gemeinschaftliches Erkennen vorantreiben ließe.51
III. Götz in seiner ärztlichen Tätigkeit Pathogenität von Gemütsbewegungen In den Aufzeichnungen zu seiner täglichen ärztlichen Praxis schenkte Götz den Gemütsbewegungen große Aufmerksamkeit, wenn er die Ursachen und den Sitz von Krankheiten beschrieb.52 Eine wörtliche Übersetzung seiner lateinischen Tagebuch-Einträge deutet auf den ersten Blick sogar auf ein Konzept von organgebundenen Emotionen, das er aber wie im Falle von „Anxietas Praecordiorum [!]“ („Hertzens-Angst“) nicht nur mit anderen teilte, sondern auch eher auf eine ältere Bedeutung des Wortes „Angst“, nämlich auf beengenden Zustand, bezog.53 Angst, Zorn, Furcht und Schrecken identifizierte der Nürnberger Stadtarzt regelmäßig als eine von mehreren Krankheitsursachen.54 Götz notierte allerdings auch Ausgeglichenheit, wie im Falle seines intensiv betreuten Patienten Leonhard Wegleiter, dessen weiter bestehenden 50 Helm: Krankheit (wie Anm. 20), S. 26 f. 51 Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert, Göttingen 2005 (Bürgertum, N.F.: Studien zur Zivilgesellschaft, Bd. 2), S. 63–118. 52 Der Arzt und Pietist Carl schrieb Zorn ebenso wie unterdrücktem Zorn ganz wesentlichen Anteil an der Erregung verschiedener Krankheiten zu, vgl. Johann Samuel Carl: Specimen Historiae Medicae. Ex Solidae Experientiae Documentis, Maxime Vero Monimentis [!] Stahlianis, […], Halle 1719, S. 53 f. 53 UBE MS 1201/2, S. 448, 454–455; siehe Lexer, Lemmata „angen“, „angest“. Siehe auch den fast zwei Generationen älteren Ulmer Stadtarzt Johann Franc, siehe Elisabeth Maria Balint: Das Tagebuch des Dr. Franc (1649–1725). Transkription, Übersetzung und Diskussion ausgewählter gynäkologischer Kapitel, Diss. med. Ulm 2007, S. 88; aber auch Zeitgenossen wie Johann Deigendesch: Schau-Saal Der Arzeney-Kunst […], Tübingen – Frankfurt 1719, S. 22, Übersetzung als „Hertzens-Angst“; Friedrich Hoffmann: Opera omnia physico-medica, denuo revisa, correcta & aucta […], Bd. 4, Genf 1761, Nachdruck von 1733, S. 125. 54 „Febris Lenta ex Iracundia“ (langanhaltendes Fieber aus Jähzorn); „Convulsiones Hysterica ex Ebrietate et Terrore“ (Gebärmutterkrämpfe aus Trunkenheit, Furcht und Schrecken); „e Terrore Febris continua“ (aus Furcht ein beständiges Fieber), Ms 1201/2, S. 18, Randnotiz, S. 298, 478.
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Schmerz, aber auch dessen fortdauernde Heiterkeit, „Animus hilarior“ (wörtlich: ziemlich heiterer Geist/Seele), er in seinem Journal vermerkte.55 Gerade der letzte Eintrag könnte dazu verführen, daraus auf eine spezifisch pietistische Sichtweise eines Arztes zu schließen. Allerdings bleibt zu fragen, worin hier ein entscheidender Unterschied zur allgemein vorherrschenden Medizin liegt. Seit der antiken Diätetik ist menschlichen Gemütsbewegungen eine entscheidende Rolle zugesprochen worden, wenn es darum ging, Krankheiten zu vermeiden und ihre Entstehung zu deuten. Darüber hinaus werteten sowohl Ärzte als auch betroffene Stadtbewohner Ruhe und Heiterkeit als vorbeugendes Mittel gegen Pestilenzen, während Angst als starke Gefährdung eingeschätzt wurde.56 Friedrich Hoffmann (1660–1742) gilt in der medizinhistorischen Forschung verbreitet als Kritiker der Stahlschen Lehre, die wiederum als Basis der pietistischen Medizinkonzepte diskutiert wird.57 Doch auch Hoffmann hob die Bedeutung des Gemüts für Erkrankungen hervor: „so sterben mehr Leute an Gemüths- als Leibs-Kranckheiten“. Nach seiner Ansicht konnten sogar Gefühle wie Freude sich negativ auf die Gesundheit auswirken: „Die Ruhe deß Gemüthes ist eine Universal-Medicin deß Leibes“.58
Ärztliche Behandlung und Pietismus Arzneien aus Produktionen im pietistischen Umfeld spielten in der ärztlichen Behandlungspraxis bei Götz eine wichtige Rolle. Er verordnete sehr häufig Pillen, Pulver und balsamische Mixturen von Stahl und Carl sowie Essenzen und Öle aus der Halleschen Waisenhausapotheke – oft prophylaktisch, aber auch kurativ.59 Damit wählte Götz bewusst einen unbequemen Weg, denn in 55 UBE MS 1201/2, S. 425. 56 Siehe etwa Hans Folz: Item ein Fast köstlicher Spruch von der Pestilencz und anfenglich von den Zeichen die ein künfftige Pestilencz beteuten, Nürnberg 1482, (Bl. 4v-5r); Annemarie Kinzelbach: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500–1700, Stuttgart 1995, S. 209–212; auf Galens Diätetik weist Karin Stukenbrock: „Wer seine Gesundheit liebt, der fliehe die Medicos und Artzneyen“ – zum Verhältnis von medizinischer Theorie und diätetischer Praxis. In: Medical theory (wie Anm. 18), S. 77–91, hier S. 78. 57 Sich widersprechende Ansichten vertreten Ingo Schütze: Zur Iatrophysik bei Francesco Maria Fiorentini (1603–1673). In: Friedrich, Christoph (Hg.): Pharmazie in Geschichte und Gegenwart; Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2009, S. 425–432, hier S. 425; Stefan Borchers: Die Erzeugung des „ganzen Menschen“. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Berlin u. a. 2011, S. 34–36. 58 Friedrich Hoffmann / Georg Friedrich Reimann: Friederich Hoffmanns Gründlicher Unterricht, wie ein Mensch nach den Gesundheits-Regeln der Heil. Schrifft und durch vorsichtigen Gebrauch weniger außerlesener Artzneyen […], Ulm 1722, S. 13–15. 59 Magdalena Euphrosina Mezger, die Ehefrau eines Nürnberger Gold- und Silberdraht-Verlegers, erhielt 1716 beispielsweise gegen eine Zustandsverschlechterung mit Bauchbeschwerden, Enge, Erbrechen und Schwindel zunächst lindernde Pillen Stahls, danach unter anderem zusätzlich eine Bitteressenz und Polychrestpillen aus Halle. UBE MS 1200/1, S. 29 f. Eine Detailanalyse für
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Nürnberg gab es zahlreiche, wohlausgestattete Apotheken, deren Arzneizubereitungen laut der städtischen Ordnung auch stets zu verwenden waren. Die Gabe von importierten Arzneien stellte deshalb stets eine Ausnahmemaßnahme dar, die eine obrigkeitliche Erlaubnis voraussetzte.60 Von der Verschreibungspraxis eines frühneuzeitlichen Arztes darf allerdings nicht vorschnell auf seine persönlichen Überzeugungen geschlossen werden, denn die Patienten pflegten oft starken Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer Behandlung zu nehmen.61 Daher bietet es sich an, vordringlich diejenigen Behandlungsfälle zu untersuchen, in denen man eine solche Einflussnahme des Patientenwunsches ausschließen kann. Wir stellen aus diesem Grund die Behandlung seiner eigenen Person und seiner Familienmitglieder in den Mittelpunkt dieses Abschnittes. In der Forschungsliteratur gilt Selbstbeobachtung als typisch pietistische Eigenschaft. Die häufigen und ausführlichen Einträge zur eigenen Person in Götzes ärztlichem Tagebuch könnten damit begründet werden.62 Aber auch auf Familienmitglieder konnte der verwandte und vertraute Arzt größeren Einfluss ausüben. Zur Familie Götz liegen beispielsweise für das Jahr 1721 insgesamt 100 Einträge im Journal vor.63 In diesem Jahr galt mehr als ein Drittel der familienbezogenen Notizen der eigenen Person. Insgesamt 34mal notierte Götz eine Beobachtung oder eine Behandlung zu „Ipse ego“ und lag damit zehnfach über seiner durchschnittlichen Behandlungsfrequenz pro Person und Jahr.64 In seiner Selbstbehandlung wandte er von Pietisten produzierte und bevorzugte Arzneimittel an, ohne sich jedoch darauf zu beschränken. In welcher Weise er für sich selbst verschiedene Herangehensweisen mischte, soll hier am Beispiel einer am 15. Juli 1721 einsetzenden Behandlung illustriert werden, für die er „Catarrhus“ als Diagnose-Schlagwort am Rand notierte. Götz führte in diesen auf 16 Seiten notierten Einträgen
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das Jahr 1721 ergab, dass Götz 185mal eine solche Fertigarznei verordnete. Wir danken Susanne Grosser für die diesbezügliche Auswertung des Journalbandes. In 28 Fällen gab er die Arznei sogar ohne weiteren Behandlungskontext ab. UBE MS 1201/2. Kinzelbach / Jankrift / Ruisinger: Arztpraxis (wie Anm. 14), S. 130–133. Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln [u. a.] 2003, S. 96 f. Irina Modrow: Religiöse Erweckung und Selbstreflexion. Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern als einem Beispiel pietistischer Selbstdarstellungen. In: Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte. Hg. v. Winfried Schulze, Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2), S. 121–129. Siehe dazu auch die Beiträge von Anne Lagny und Vera Faßhauer in diesem Band. UBE MS 1201/2; das entsprach etwa 8 % der Einzeleinträge dieses Jahres. Durchschnittlich notierte Götz drei Kontakte pro Behandlungsfall und Jahr, die Frequenz konnte aber auch auf bis zu 43 Konsultationen pro Patient ansteigen, die im Einzelfall zusätzlich mit mehreren Besuchen pro Tag verbunden waren, siehe Annemarie Kinzelbach / Susanne Grosser / Kay Peter Jankrift / Marion Maria Ruisinger : „Observationes et Curationes Noribergenses“. The medical practice of Johann Christoph Götz (1688–1733). In: Medical Practice, 1600–1900. Physicians and their Patients. Hg. v. Martin Dinges [u.a.], Leiden 2016, S. 169–178.
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zahlreiche Beschwerden an, die auch Körperteile wie sein rechtes Bein betrafen, was belegt, dass ein solcher „Fluss des Hauptes“ nach dem zeitgenössischen Verständnis den ganzen Körper einbeziehen konnte.65 Zunächst wandte er „Flußpillen“ und „Flußtropfen“ an, deren Zusammensetzung keine Hinweise auf von Pietisten bevorzugte Wirkstoffe enthalten, wie sie etwa von Katharina Ernst für den Württemberger Pietismus beschrieben wurden.66 Seinen entzündeten Hals ließ er am nächsten Tag von einem Barbiergesellen untersuchen und mit einem Gurgelwasser sowie einem äußerlichen Umschlag aus Kräutern behandeln.67 Erst danach begann er die Einnahme von Mitteln aus pietistischem Kontext:68 Beginnend mit Pillen aus der Produktion Johann Samuel Carls und mit seinen selbst hergestellten Polychrest-Pillen, verabreichte er sich am Tag darauf darüber hinaus ein Bezoar-Pulver von Carl. Nachdem sich sein Zustand um heftigen Husten und Kopfschmerz verschlechtert hatte, kombinierte er letzteres mit Alantwurzel in warmem Bier und einem „Brustwasser“. Schließlich fügte er noch ein Digestiv-Pulver Carls sowie dessen Balsamische Pillen hinzu. Am siebten Tag seiner Behandlung erweiterte er um einen Kaffee-Aufguss und ein temperierendes Pulver Carls, was er auch am nächsten Tag beibehielt.69 17 Tage lang dokumentierte Götz seine Beschwerden sowie die Erfolge oder Misserfolge der getroffenen therapeutischen Maßnahmen. Dabei kombinierte er auch Arzneien pietistischer Hersteller oder selbsthergestellte Allheilmittel („Polychrest“-Mittel) mit eher „modischen“ Produkten wie Tee- und Kaffee-Aufgüssen und schon im Mittelalter verbreiteten Heil-Methoden wie Fußbädern.70 Schon in dieser Mixtur aus traditionellen, „modischen“ und „pietistischen“ Arzneien deutet sich an, dass Götz als Arzt zwar pietistische Elemente aufnahm, sich aber nicht darauf beschränkte. Dies geht besonders deutlich aus seiner Haltung zum Aderlass hervor. Götz schätzte den Aderlass bei sich, seinen Familienmitgliedern und Patienten als wesentliche prophylaktische 65 Siehe Steven Blanckaert / Heinrich Schulze: Lexicon medicum. Ioann. Henrici Schulzii […], Halle 1748, S. 167 f., http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenaref/blanckaert/blanckaert1/ jpg/s192.html (Zugriff: 30. 6. 2014). 66 UBE MS 1201/2, S. 267 f. Katharina Ernst: Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Bd. 154), S. 131. Ernst nennt Hallesche Arzneimittel, Temperierpulver, laxierende Polychrestpillen und Goldtinktur. Götz aber rezeptierte beispielsweise als Bestandteil seiner Flusspillen „Panchymagogum Crolln“, das schon mehr als sechzig Jahre früher diskutiert wurde, Augustin Thoner: Observationum medicinalium […], Ulm 1649, S. 364 f. 67 UBE MS 1201/2, S. 269 f. 68 UBE MS 1201/2, S. 270–285. 69 Aus dem Briefwechsel zwischen Carl und Götz sowie aus den bereits erwähnten Veröffentlichungen lässt sich schließen, dass Götz regelmäßig Arzneien von Carl direkt per Postversand bezog. 70 Harold J. Cook: Medicine. In: The Cambridge history of science. Vol. 3: Early modern science. Hg. v. Katharine Park und Lorraine Daston, Cambridge 2006, S. 407–434, hier S. 420 f.
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Maßnahme,71 wandte ihn aber auch in Krankheitsfällen an. Das entspricht Stahls Konzept, die Selbstheilungskraft der Natur durch eine bewegungsanregende Maßnahme zu unterstützen,72 lässt sich aber ebenso gut mit Argumenten der Stahl entgegengesetzten, iatromechanischen Schule erklären. Die im Folgenden skizzierte Krankengeschichte seines Bruders Johann Philipp Götz zeigt das breite, durch präventiven und therapeutischen Aderlass angereicherte ärztliche Handlungsspektrum Götzes, das im Falle des Todes seines Patienten auch, und zwar in völlig selbstverständlicher Weise, die Obduktion als letzte diagnostische Maßnahme beinhaltete.
Fallbeispiel: Der Bruder als Patient Im April 1721 beschloss Johann Philipp, sich bei guter Gesundheit einem präventiven Aderlass zu unterziehen. Das Frühjahr galt, ebenso wie der Herbst, als ein besonders günstiger Zeitpunkt zum Aderlassen. Er wandte sich an seinen Bruder, der ihm am 17. April zwei Portionen eines „Pulvis digestivus“ und eine Portion „Pillulae laxantes“73 zur Vorbereitung auf den Aderlass verschrieb. Zwei Tage später war es soweit. Der Baderchirurg Igel nahm den Aderlass am linken Fuß vor, Götz und Dr. Winkler verfolgten das Geschehen.74 Der Aderlass verlief glücklich („cum euphoria“), der Bader ließ acht bis neun Unzen Blut ab. Rechnet man für eine Unze Nürnberger Gewichts 29,8 Gramm, ergibt sich daraus ein Aderlassvolumen von etwa 240 bis 270 Gramm. Am 7. Dezember suchte Johann Philipp erneut ärztlichen Rat bei seinem Bruder. Er hatte Verdauungsprobleme („DIGESTIO LAESA“), die er darauf zurückführte, dass er vor einigen Tagen reichlich fettes Essen zu sich genommen und dabei „ziemlich viel Wein in sich hineingeschüttet“ hatte („vinumque largius ingesserat“). Götz gab ihm Carls Digestivpulver, vermutlich ermahnte er ihn auch zu einer maßvolleren Lebensart.75 Der nächste Eintrag erfolgte vier Tage später, am 11. Dezember. Von nun an nahm Götz fast täglich ausführliche Einträge zu seinem Bruder vor, dessen Befinden sich zunehmend verschlechterte. Er verschrieb Brech- und Abführmittel sowie immer wieder Carl’sche Pillen. Eine Woche nach dem Beginn der Behandlung schüttete der Kranke seinem Arzt und Bruder abends das Herz aus und bat ihn um Hilfe: Er habe den herbstlichen Aderlass versäumt und vor 14 Tagen einen großen Zorn auf den Kaufmann Meier auf dem Milchmarkt gehabt, den er unterdrückt 71 72 73 74
Kinzelbach / Jankrift / Ruisinger: Arztpraxis (wie Anm. 14), S. 147. Helm: Krankheit (wie Anm. 20), S. 32. UBE MS 1201/2, S. 130. UBE MS 1201/2, S. 133. Mit Dr. Winkler bezieht sich Götz wohl auf den gleichaltrigen Christoph Andreas Winckler, mit dem er seine Affinität zu Stahl und zum Pietismus teilte. Georg Ernst Stahl / Christoph Andreas Winckler: De Complicatione Morborum, Diss. med. Halle 1715; Will: Gelehrten-Lexicon (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 260–262. 75 UBE MS 1201/2, S. 481.
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habe. Nun vermute er, dass mit dem Erbrechen dieser Zorn wieder hochkomme.76 Götz notierte die von seinem Bruder vorgebrachte ätiologische Deutung kommentarlos. Dass ein starker Zorn zu körperlichen Beschwerden führen könne, die sich in galligem Erbrechen äußerten, war eine damals allgemein akzeptierte Vorstellung.77 Am 20. Dezember war der Zustand des Kranken bedenklich. Sein Puls war flach, schwach und schnell („pulsus parvus, debilis, frequens“), sein Gesicht zeigte bereits die Züge des im Sterben Liegenden („facies fere hippocratica“). Götz notierte, dass ein großes Bedürfnis nach einem Aderlass bestehe („VSnis summum desiderium“). Er zog einen weiteren Nürnberger Arzt, Dr. Thomasius, zur konsiliarischen Beratung hinzu. Noch am selben Tag ließen die beiden Ärzte den Aderlass vornehmen. Müller, der Gehilfe des Baders Igel, öffnete in ihrem Beisein eine Vene am rechten Fußrücken des Kranken. Diesmal notierte Götz die Menge des ausgeleiteten Blutes nicht, beschrieb aber, im Gegensatz zum präventiven Aderlass, die Beschaffenheit der Vene und des Blutes: Die Vene war knotig („nodosa“) und das Blut dick („crassus“), es floss außerhalb des Wassers nicht, im Wasser (des Fußbades) aber recht gut („extra aquam non, in ea autem melius, fluebat“).78 Hier zeigt sich Götz als genauer Beobachter, der aus der Beschaffenheit des Blutes diagnostisch-therapeutische Hinweise zu gewinnen sucht. Gemeinsam mit Dr. Thomasius erstellte er daraufhin ein Rezept, bei dem er sich an Friedrich Hoffmanns Buch über die Fieber orientierte.79 Doch alle Mühe war vergebens. Am darauffolgenden Tag, dem 21. Dezember 1721, starb Johann Philipp Götz unter starkem Bluterbrechen. Noch am selben Tag wurde der Leichnam durch den Badergehilfen Müller eröffnet. Dr. Thomasius leitete die Obduktion im Beisein von Dr. Winkler, Frau Metzger, der jüngeren Jungfer Wegleiter, der Witwe Hofner und einigen weiteren Personen.80 Das Ergebnis führte Götz dazu, seine ursprüngliche Diagnose zu präzisieren: „DIGESTIO LAESA / SPHACELUS INTERNALIS LETHALIS“ (Verdauungsprobleme / Innerer kalter Brand mit tödlichem Ausgang). Götz ließ auf den Sektionsbefund ein Gebet folgen: 76 „V[ena]S[ect]io autumnalis omissa. Ira vehemens ante xjv dies cum Meiern mercatore auf dem milchmarck, habita et supressa, nuper sub vomitu ejus adventu resuscitata: Haec omnia vesperi narrat, operam petens.“ UBE MS 1201/2, S. 499. 77 Vgl. Lorenz Heister : Practisches medicinisches Handbuch […]. Nebst einer Abhandlung von der Vortreflichkeit der mechanischen Arzneylehre. Neue, verb. Auflage, Nürnberg 1766, S. 109. Hier schreibt Heister, dass „vom Zorn und Aergerniß ein schleichendes oder verzehrendes Fieber“ entstehen könne, bei dem sich die Galle durch einen „bittern Geschmack im Munde verräth“. Auch „Traurigkeit und Kummer“ zählte er zu den möglichen Ursachen einer solchen Erkrankung. 78 UBE MS 1201/2, S. 508. 79 UBE MS 1201/2, S. 510. 80 In Götzes Aufzeichnungen finden sich vereinzelt weitere Hinweise auf Leichenöffnungen im Beisein von Angehörigen und Freunden der Familie, s. Kinzelbach / Jankrift / Ruisinger: Arztpraxis (wie Anm. 14), S. 148 f. Für eine weitergehende Einordnung dieser Praxis sei auf in Arbeit befindliche Aufsätze der Autorinnen verwiesen.
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Christus, Sohn Gottes und Sohn Davids, Gott selbst, erbarme Dich dieser Seele, die Du nicht weniger als die übrigen Seelen erlöst hast. Durch Dein Blut reinige und übertünche seine Sünden und Fehler, und es dem Thomas gleich machend, dessen Fest wir heute feiern, reiche ihm [dem Verstorbenen] Deine Wunden dar, zu dem Ziele, dass sie mit den Händen berührt werden, und schenke [ihm] sanftmütig ein ewiges glückliches Leben. Uns Überlebende aber mögest Du lehren, Dir zu leben und Dir zu sterben. Gewähre dies den Bitten eines traurigen und trauernden Bruders, o Gott, unendlicher und dreieiner, allmächtiger und überaus milder. Amen.81
In dem Bild des ungläubigen Thomas, der die Wunden Christi berührt, klingt das Motiv des „Wundenkultes“ an, das von der Forschung eigentlich erst etwas später angesetzt wird, und zwar in Verbindung mit dem Pietismus der Herrnhuter Gemeine.82 Für Götz lassen sich bislang keine weiteren Verbindungen zu dieser Ausprägung des Pietismus nachweisen.83 Pietistisches Arzt-Ideal: Aphilargyria Aphilargyria, fehlende Habsucht, wie es Carls pietistischem Arzt-Ideal entsprach,84 kennzeichnet Götzes medizinisches Praktizieren deutlich wahrnehmbar. In seinen täglichen Praxisaufzeichnungen trug Götz zwar akribisch ein, welche seiner ärztlichen Handlungen mit welcher Gebühr zu entlohnen war. Aber beim Eintreiben der Geldbeträge verhielt er sich sehr großzügig, er führte sogar unter den fünf Kürzeln, die er für seine ärztlichen Praxisaufzeichnungen seit 1720 verwandte, ein spezifisches für „die Schuld geschencket“ ein. Von diesem Sonderzeichen machte er sehr regelmäßig Gebrauch: Im Jahr 1721 verschenkte Götz ungefähr 45 % seiner ärztlichen Dienstleistungen, denn das oben zitierte Kürzel besagt ausdrücklich, dass er ein Geschenk gab und nicht etwa vom städtischen Almosenamt entlohnt wurde.85 Götz gehörte nicht zu denjenigen Nürnberger Ärzten oder Chirurgen, die durch die Stadt für die „Armen“ bestallt waren und für deren Behandlung sowohl eine jähr81 „Christe, fili Dei et Davidis, ipse Deus, miserere huius animae, quam non minus quam reliquas redemisti. Sanguine tuo ejusdem ablue et dealba peccata ac maculas, et Thoma, cuius hodie celebramus festum, parem faciens vulnera tua, et pro illa c[a]usa, manibus palpenda porrige, vitamque aeternebeatam clementer largire. Nos autem superstites Tibi vivere Tibi mori doceas. Concede haec precibus tristis et maerentis fratris, o Numen immensum et triunum, omnipotens et clementissimum [sic]. Amen.“ UBE MS 1201/2, S. 511 f. 82 Walter Sparn: Religiöse und theologische Aspekte der Bildungsgeschichte im Zeitalter der Aufklärung. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Hg. v. Christa Berg, München 2005, S. 134–167, hier S. 143; Hans Schneider: Zinzendorf. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE). Hg. v. Rudolf Vierhaus, München 2008, 870 f., hier S. 871. 83 Zum Wundenkult siehe auch Ruth Albrecht in diesem Band. 84 Siehe Irmtraut Sahmlands Beitrag in diesem Band. 85 110 von insgesamt 242 Rechnungsbeträgen waren mit dem Kürzel „//“ versehen, d. h. geschenkt worden.
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Zu Beginn des Jahrgangs 1720 seines Praxisjournals notierte Götz die fünf Kürzel, die er verwendete, um den Verlauf der Honorarzahlung und der Behandlung zu vermerken. UBE MS. 1201/1
liche Pauschalsumme als auch eine Fall-zu-Fall Kompensation erhielten.86 Ein knappes Viertel seiner Schenkungen ging an Personen, die als „Magd“, „Knecht“, „Geselle“, „Taglöhner“ oder Waisenkinder gekennzeichnet waren, also zumindest vorübergehend als Arme zählen konnten.87 Die übrigen geschenkten Arzthonorare galten dem Beziehungsnetz: der eigenen Familie und Verwandten sowie nahen Freunden der Familie, vereinzelt auch Handwerkern in der Nachbarschaft. Sind schon beim Aufrechterhalten dieser Beziehungen „irdische“ Ziele nicht von der Hand zu weisen, so gilt dies vermehrt bei Honorargeschenken an Mitglieder des Hochadels. Insbesondere aus seiner umfangreichen Konsiliarkorrespondenz mit Ernst von Metternich in Regensburg ist unmittelbar abzulesen, dass für Götz auch nichtpekuniäre Gegenleistungen für seinen ärztlichen Rat wertvoll sein konnten, weil sie sein soziales und symbolisches Kapital vermehrten.88 Götz konnte sich eine solche Großzü-
86 StadtAN D 2/IV, Nr. 2935; D 2/IV Nr. 1665–1666. 87 Allerdings ist zu beachten, dass es sich beispielsweise bei Mägden oder Gesellen auch um eine nur vorübergehende Lebensphase handeln konnte, siehe Renate Dürr : Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. – New York 1995 (Geschichte und Geschlechter, Bd. 13), Kapitel 6; Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010, S. 123–160. 88 Kay Peter Jankrift / Annemarie Kinzelbach / Marion Maria Ruisinger: Ernst von Metternich
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gigkeit leisten, weil er aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie stammte und nicht auf das Einkommen als Arzt angewiesen war.89
Pietistische Patienten In seiner Praxis als Arzt wählte Götz zwar – wie bereits beschrieben – nicht ausschließlich Verordnungen nach pietistischen Prinzipien als Behandlungsmethoden, trotzdem zählte er einige profilierte Nürnberger Pietisten zu seinen Patienten.90 Zu diesen gehörte der bereits erwähnte Prediger Ambrosius Wirth mit seinen Angehörigen. Zwischen Wirth und Götz kam es sogar einmal zu einem Rollentausch, als Götz sich im Anschluss an die Beerdigungsfeier seines Schwiegervaters Felix Spitz auf Wirths Rat hin ein Vitalpulver aus dem Halleschen Waisenhaus verschrieb.91 Darüber hinaus vermittelte Wirth den Kontakt zu einem „Briefpatienten“, General Albrecht von Elster und Ederheim, über dessen möglicherweise dem Pietismus nahestehende Ehefrau Baroness Eleonora Polyxena Leutrum von Ertingen.92 Mit seinem Kollegen Christoph Andreas Winckler gelangte Götz zu General Barner, auf dessen Gut in Ipsheim der Bruder des Kollegen, Gottfried Winckler, als Sekretär und pietistisch Erleuchteter aktiv war und Versammlungen von Pietisten anzog. Götz behandelte während seines Aufenthalts auf General Barners Gut eine Adlige und schenkte Carls Arzneien an dortige Bedienstete und Amtspersonen.93 Aber auch die Familie des früh verstorbenen Altdorfer Theologieprofessors Christoph Wegleiter (1659–1706), der als einer der einflussreichsten „Wegbereiter des Pietismus“ in Nürnberg eingeschätzt wird,94
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(1656–1727). Ein patientenzentrierter Einblick in den Medizinischen Markt um 1720. In: Gesnerus 69 (2012), S. 12–35. Dazu demnächst Annemarie Kinzelbach / Marion Maria Ruisinger : Trading Information. The City of Nuremberg and the Birth of Germany’s First Medical Weekly. In: The Physician and the City in Early Modern Europe. Hg. v. Annemarie Kinzelbach, Andrew Mendelsohn und Ruth Schilling (im Referee-Prozess, erscheint voraussichtlich bei Ashgate 2016). Kinzelbach / Jankrift / Ruisinger: Arztpraxis (wie Anm. 14), S. 15. „Pulv. vital. orphan. Hall ex commendatione Rev. Wirth“, UBE MS 1200/2, S. 257–261. Zu den Halleschen Arzneien siehe Jürgen Helm: Die Medikamente des Waisenhauses. Ein Beispiel für die Etablierung und Verbreitung therapeutischer Praktiken im 18. Jahrhundert. In: Medical theory (wie Anm. 18), S. 113–133. UBE MS 1201/2, S. 156–169, 171, N. III–IV, Brief zwischen S. 414 und 415, 445. Zu Albrecht Baron von Elster(n) und Ederheim(b) (1677–1721) s. Antonio Schmidt-Brentano: Kaiserliche und k.k. Generale (1618–1815). Österreichisches Staatsarchiv online 2006, S. 28. (www.oesta.gv. at/DocView.axd?CobId=18890). Sein Tod 1721 wird in Götzes letztem Eintrag erwähnt. Auch die Baroness gehörte möglicherweise zu den zahlreichen adligen Frauen, die mit dem Pietismus sympathisierten und an den in seinem Umfeld produzierten Arzneien interessiert waren. Elisabeth Quast: Schwägerinnen. Adlige Frauen in der Frühphase der Halleschen Medikamentenexpedition. In: Medical theory (wie Anm. 18), Stuttgart 2008, S. 281–307. Will: Gelehrten-Lexicon (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 259–262; UBE MS 1201/2, S. 191 f. Jürgensen: Melos (wie Anm. 15), S. 472.
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gehörte zum Patientenkreis von Götz. Insbesondere Wegleiters Witwe Sabina Elisabeth I (ca. 1665–1734) aus der Familie des Weinhändlers Taglauer mit ihren Töchtern Sabina Elisabeth II (geb. 1690) und Sabina Clara (1695–1734) suchten regelmäßig ärztlichen Rat bei Götz, waren mit der Arztfamilie aber auch befreundet. Darüber hinaus tauschte Götz mit der Witwe und ihren Töchtern, die er oftmals als „D.D.“, als sehr gelehrte Frauen, bezeichnete, heilkundige Erfahrungen aus.95 Solche weiblichen Erfahrungen wandelte er in seinen Publikationen gelegentlich sogar in wissenschaftliche Beschreibungen um, jedoch nannte er nicht den Namen der Frau, die ihn damit bekannt gemacht hatte.96 Allerdings könnte der Umstand, dass sich Götz um einen solchen Transfer von weiblichem Wissen bemühte, gleichfalls als pietistische Orientierung interpretiert werden, denn die einschlägige Forschung unterstreicht das Gewicht, das pietistische Gemeinschaften dem weiblichen Geschlecht zubilligten.97
IV. Schluss Johann Samuel Carl wirkte sowohl in Öhringen, wie in Büdingen und später in Berleburg (als Hofarzt eines Grafen, der selbst ein überzeugter Pietist war) in von pietistischer Frömmigkeit geprägten Gemeinschaften. Daher konnte er seine eigene pietistische Überzeugung ohne Einschränkung leben und in seinen Schriften unverhüllt zum Ausdruck bringen. Ganz anders gestaltete sich die Situation für seinen Freund und Briefpartner Johann Christoph Götz, denn im reichsstädtischen Nürnberg wurde der Pietismus bei Amtsträgern nicht geduldet. Dieser klandestin gelebte Pietismus lässt sich von der Forschung nur sehr schwer dingfest machen. Die vorliegende Studie nutzt unterschiedliche methodische Zugriffe, um die Geisteshaltung Götzes aufzudecken: Die Sichtung seiner (häufig anonym oder pseudonym veröffentlichten) Publikationen auf versteckte Hinweise, insbesondere auf Bezugnahmen auf bekannte Vertreter pietistischer Kreise; die Auswertung von Publikationen Nürnberger Pietisten auf Beiträge aus Götzes Feder sowie die Analyse seiner verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Verbindungen in Hinblick auf Personen, die dem Pietismus nahe standen. Die sieben Jahrgänge seines Praxisjournals, die in einem Vorgängerprojekt unter einer anderen Fragestellung ausgewertet worden waren, boten eine weitere Möglichkeit, sich der 95 Zur Erläuterung dieser Bezeichnung, die Götz sowohl für studierte Ärzte als auch für bestimmte Frauen verwendet, siehe Annemarie Kinzelbach: Women and Health Care in Early Modern German Towns. In: Renaissance Studies 28 (2014), S. 619–638, hier 634 f. 96 Ebd., S. 636. 97 Lucinda Martin: Female Reformers as the Gatekeepers of Pietism: The Example of Johanna Eleonora Merlau and William Penn. In: Monatshefte 95 (2003), S. 33–58; Denise Danielle Kettering: Pietism and patriarchy : Spener and women in seventeenth-century German Pietism, Diss. University of Iowa 2009.
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Geisteshaltung Götzes zu nähern. Die Suche nach einer explizit „pietistischen“ Praxis führte jedoch ins Leere. Götz behandelte nicht grundsätzlich anders als seine Zeitgenossen. Was seiner ärztlichen Praxis dennoch eine pietistische Prägung gibt, sind die Patienten, die er behandelte. Unter ihnen finden sich bekannte Vertreter des Nürnberger Pietismus – der Kranke, dem er sich wohl am intensivsten zuwendete, war allerdings seine eigene Person. Die Praxisjournale liefern somit auch ein Selbstporträt des Arztes Götz als sich sorgfältig beobachtender Kranker, was wiederum mit der pietistischen Forderung harmoniert, dass mit dem als Wohnort der Seele verstandenen Körper sorgsam umgegangen werden soll. Johann Christoph Götz muss man nicht kennen – und man kann ihn aus den oben genannten Gründen auch nur schwer kennen lernen. Dennoch, oder gerade deshalb, bietet er für die medizinhistorische Forschung einen lohnenden Untersuchungsgegenstand. Ähnlich wie der französische Arzt EspritClaude-FranÅois Calvet (1728–1810), den Laurence Brockliss 2002 in seiner Monographie „Calvet’s web“ vorstellte, gehörte Götz nicht zu den großen Namen seiner Zeit.98 Doch er hinterließ, ebenso wie Calvet, genug Briefe und andere Aufzeichnungen, um an seinem Beispiel eine „figurative Biographie“ zu skizzieren, die stellvertretend für andere wissenschaftlich interessierte, historisch aber eher unsichtbare, dem Pietismus nahe stehende Ärzte gelten darf.99 An seinem Fall wird deutlich, dass die von Christa Habrich postulierte „pietistische Medizin“ auch, vielleicht sogar in erster Linie, eine soziale Diagnose ist. Die pietistische Grundhaltung Götzes wird nicht in seinen therapeutischen Methoden greifbar, sondern in der Zusammensetzung seiner Klientel oder, etwas weiter gefasst, in den Personen, die seine Nähe als Arzt, Gelehrter oder Freund suchten.
98 Laurence Brockliss: Calvet’s Web. Enlightenment and the Republic of Letters in EighteenthCentury France, New York 2002. 99 Zum Begriff „figurative biography“ ebd., S. 19.
Konstanze Grutschnig-Kieser
„Tingire du uns noch mit göttlicher Tinctur / Und heile durch und durch Natur und Creatur!“1 Zum Wirken des inspirierten Mediziners Johann Philipp Kämpf (1688–1753) Johann Philipp Kämpf wurde am 8. April 1688 in Sulzern im Elsass geboren. Eine Abbildung von ihm existiert nicht, Friedrich Christoph Oetinger beschreibt Kämpf aber wie folgt: „Sein Naturell war Jovialisch, er hatte helle blaue Augen“.2 Zum jovialischen Temperament im Allgemeinen führt er weiter aus: Statur ist mittelmäßig: das Gesicht ist langlicht rund, rosenrother Farb, Stirne schön, Haare gegen die Stirne lang, wenige, schwarzbraun; Stimme penetrant, […] Augenbraunen hoch, die Nase etwas krumm: der Mund groß, die obere Lippen grösser als die untere, die untere rund, Schultern breit, hände und Füsse starck.3
Der Pfarrer und praktizierende Mediziner war eine schillernde Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts: so bekannte er sich zu der radikalpietistischen Sekte der wahren Inspirationsgemeinde und leitete die Filialgemeinde in Homburg. Er war umfassend medizinisch-praktisch gebildet und erwarb sich darüber hinaus Kenntnisse in medizinischen Randgebieten wie der Temperamentlehre oder der Handlesekunst. Auch mit der Entstehung von Krankheiten beschäftigte er sich und entwickelte seine Lehre der sogenannten Infarktus. Danach führte er die Ursache der meisten chronischen Krankheiten auf Obstruktionen in den Organen des Unterleibs zurück,4 die er in seiner medizinischen Praxis vor allem in Langzeitkuren mit Heilklistieren behandelte. Damit gehört er zu den Heilern, die die seit der Antike bekannte, aber in
1 Zitiert nach Christa Habrich: Johann Samuel Carl (1677–1757) und die philadelphische Ärztegemeinschaft. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader und Heinz Schilling, Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), S. 272–289, hier S. 289. Dieser Beitrag ist Christa Habrich gewidmet, die mich dazu angeregt hat, mich mit dem praktizierenden Mediziner Kämpf zu beschäftigen. Bei Irmtraut Sahmland bedanke ich mich für wertvolle Hinweise und die Beantwortung aller Fragen zur Medizingeschichte. 2 Friedrich Christoph Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 1), S. 121 f. 3 Ebd. Ising weist darauf hin, dass Oetinger diese Erläuterungen aus dem ,Microscopium Physiognomiae Medicum‘ des Johannes Friedrich Helveticus, das 1676 in Amsterdam erschienen war, entnommen und übersetzt hat. Anmerkung 645, S. 122; Anmerkung 50, S. 21. 4 Diese Verstopfungen bezeichnete er als Infarktus. Zu der Entstehung und den Ausprägungen der sogenannten Infarktus s. Abs. II, S. 121.
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Deutschland umstrittene Behandlungsmethode des Klistierens nachdrücklich empfahlen.5 Die ersten Biographien über Johann Philipp Kämpf sind bereits Ende des 18. Jahrhunderts erschienen.6 Zu den ältesten zählt diejenige, die der württembergische Pfarrer Immanuel David Mauchart verfasst hat, der Kämpf als Beispiel eines religiösen Fanatikers mit Einbildungskraft ausgewählt und in seiner Lebensbeschreibung vor allem die psychologische Entwicklung Kämpfs beleuchtet hat.7 Als Quelle gibt er eine noch ungedruckte Handschrift aus dem Jahre 1754 an. Da zwischen den Familien Mauchart und Oetinger verwandtschaftliche Verbindungen bestanden, dürfte Mauchart über Friedrich Christoph Oetinger auf Kämpf aufmerksam geworden sein. Oetinger erwähnt in seiner Autobiographie einen „Lebenslauf von ihm [Kämpf] selbs beschrieben und erbaulich zu lesen“.8 Dieter Ising ordnet diesen Hinweis der Schrift Komm und siehe zu, allerdings könnte damit auch die ungedruckte Handschrift von 1754 gemeint sein.9 Der erste Teil von Maucharts Beitrag ist bereits 1779 in dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Magazin für Erfahrungsseelenkunde abgedruckt und in vollständiger Fassung in dem von Mauchart verantworteten Allgemeinen Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften veröffentlicht worden. Als bedeutendes Mitglied hat die wahre Inspirationsgemeinde Kämpf gewürdigt und 1779 die erwähnte Thantographie Komm und siehe verlegt.10 Nachdem die Inspirationsgemeinde im 19. Jahrhundert nach Amana (Iowa) ausgewandert war, hat sie sich erneut mit Kämpf beschäftigt und einen ausführlichen Lebenslauf publiziert. Diese Biographie soll vor allem das Wirken Gottes in seinem Leben belegen.11 5 Zu den Klistieren und den Heilklistieren s. Abs. II, S. 119. 6 Den ältesten Beitrag hat Siegmund Billing 1777 in der Zeitschrift Der patriotische Elsässer veröffentlicht. Die Angaben dazu sind der Literatur entnommen, da dieser Jahrgang der Zeitschrift in Deutschland nicht mehr vorhanden ist. Siegmund Billing: [Johann Philipp Kämpf]. In: Der Patriotische Elsässer, Colmar – Straßburg 1777, S. 49–55. 7 [Immanuel Daniel] M[auchart]: Auszüge aus der Lebensgeschichte Johann Philipp Kämpfs, ehemaligen Hofpredigers und Consistorialraths zu Bühl im Elsaß, und nachherigen Hofraths und Leibarztes zu Homburg vor der Höhe. In: Gnothi sautjn oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 10 (1793), S. 113–150; [Immanuel Daniel] M[auchart]: Auszüge aus der Lebensgeschichte Johann Philipp Kämpfs, ehemaligen Hofpredigers und Consistorialraths zu Bühl im Elsaß, und nachherigen Hofraths und Leibarztes zu Homburg vor der Höhe. In: Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, Bd. 1 (1792), S. 14–85. Zur Einordnung dieser Biographie in das Werk Maucharts vgl. Peter Sindlinger : Lebenserfahrung(en) und Erfahrungsseelenkunde oder Wie der Württemberger Pfarrer Immanuel David Mauchart die Psychologie entdeckte, Nürtingen 2010, S. 727–731. 8 Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 120. 9 Komm und Siehe. Unsers […] Bruders Johann Philipp Kämpf […] Letzte Stunden, o.O. 1779; Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 120, Anm. 635. 10 Komm und Siehe (wie Anm. 9). 11 Mittheilungen über den Lebenslauf und das Ende der in Gott ruhenden Brüder Johann Philipp Kämpf, Eberhard Ludwig Gruber, Caspar Löw, Heinrich Sigmund Gleim, Amana 1875.
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Deshalb werden z. B. die Begegnungen auf der Reise nach St. Petersburg (1735–1744) als Prüfungen Gottes oder göttliche Errettung aus bedrohlichen Situationen dargestellt. Die passagenweise Übereinstimmung des Lebenslaufs von Mauchart und vom unbekannten inspirierten Verfasser weisen darauf hin, dass beiden die bereits erwähnte ungedruckte Handschrift vorlag.12 Darüber hinaus waren in der Inspirationsgemeinde sicher auch weitere Briefe vorhanden, die für den Lebenslauf ausgewertet worden sind. Am Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert wird Kämpf in verschiedenen Untersuchungen in den Kontext der Kirchengeschichte gestellt. So hat ihn Timotheus Wilhelm Roehrich als Beispiel für die Pfarrer des 18. Jahrhunderts ausgewählt, da er seiner Meinung nach als Pietist und Sympathisant der Inspirierten stellvertretend für die zeitgenössischen theologischen Auseinandersetzungen steht.13 Auch er geht nur am Rande auf Kämpfs Zeit als praktizierender Mediziner in Homburg ein. Max Goebel widmet Kämpf einen Abschnitt in seiner Geschichte der wahren Inspirations-Gemeinden und stellt dabei die Begegnungen des Pfarrers mit den Inspirierten sowie seine Verdienste für die Inspirationsgemeinde in den Mittelpunkt.14 Johann Jakob Hamm und Walter Koch, die die Geschichte des Pietismus in der Pfalz erforscht haben, stellen Kämpfs Wirken für die Separatisten vor der endgültigen Vertreibung aus Zweibrücken dar.15 Innerhalb seines Aufsatzes über die protestantischen Pfarrer und Theologen des Münstertals behandelt Marie-Joseph Bopp Kämpf, thematisiert aber sein medizinisches Wirken in Homburg nur kurz.16 Ebenso behandelt der neuere biographische Artikel von G8rard Leser vor allem die Zeit Kämpfs im Elsass und in der Pfalz.17 Erstmals geht W. Rüdiger in seinem 1910 veröffentlichten Beitrag über Kämpf und seine Söhne ausführlich auf dessen praktisch-medizinische Tätigkeit in Homburg sowie die dortige Inspirationsgemeinde ein.18 Auch
12 Diese Handschrift von 1754 ist nur aus der Literatur bekannt. 13 Timotheus Wilhelm Röhrich: Evangelische Lebensbilder und Anfänge der neuen Zeit in der straßburgischen Kirche, Straßburg – Paris 1855 (Mitteilungen aus der Geschichte der evangelischen Kirche des Elsasses, Bd. 3), über Kämpf S. 338–349. 14 Max Goebel: Geschichte der wahren Inspirations-Gemeinden, 3. Artikel. In: Zeitschrift für historische Theologie, Bd. 25 (1855), S. 94–160, hier §18, S.124–127. 15 Johann Jakob Hamm: Die Gemeinschaftsbewegung der Pfalz. Ein Beitrag zum Pietismus, Kaiserslautern 1928; Walter Koch: Der Pietismus im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Der Kampf um Gewissensfreiheit und Toleranz). In: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde, Bd. 34 (1967), S. 1–159. 16 Marie-Joseph Bopp: Die protestantischen Pfarrer und Theologen des Münstertals in alter und neuer Zeit. Ein Beitrag zur Gelehrten- und Familiengeschichte des Münstertales, Colmar 1935. 17 G8rard Leser: Jean Philipp Kaempf. In: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Hg. von Jean-Pierre Kinz, Bd. 2, Straßburg 1992, S. 1854 f. 18 W. Rüdiger : Johann Philipp Kaempf, seine Söhne Johann und Ludwig Wilhelm, sein Enkel Jakob Wilhelm, Beiträge zu einer Familiengeschichte. In: Nassauische Annalen. Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, Bd. 41 (1910), S. 84–96.
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Werner Weidmann, der in neuerer Zeit über Ärzte und Apotheker der Pfalz geforscht hat, stellt kurz Kämpfs medizinische Laufbahn vor.19 Dieser Einblick in die biographische Literatur zu Kämpf belegt einerseits, dass seine Persönlichkeit schon seit dem 18. Jahrhundert immer wieder zur Auseinandersetzung mit ihm angeregt hat, doch dabei vor allem die erste Lebenshälfte bis zur Emigration nach Homburg behandelt worden ist. Aus diesem Grund ist der folgende Beitrag der praktisch-medizinischen Tätigkeit des Johann Philipp Kämpf und seinem Wirken als Leiter der Homburger Filialgemeinde der Inspirierten gewidmet.
I. Der Weg zum medizinischen Praktiker Wo und wie Kämpf seine medizinische Ausbildung erhielt, ist bisher weitgehend ungeklärt. 1706 immatrikulierte er sich an der Universität Straßburg für Theologie.20 Nebenbei hörte er auch Medizin und Naturkunde.21 So berichtet Oetinger : „In Straßburg lernte er die Anatomie und sahe den übelgerathenen Curen der Medicorum zu.“22 Da der pietistisch geprägte Mediziner Johann Salzmann erst 1711 auf den medizinischen Lehrstuhl berufen wurde, ist es unsicher, ob Kämpf an der Universität bereits die Anschauungen von Ernst Georg Stahl vermittelt bekommen hat.23 Nach seinem Theologiestudium ließ sich Kämpf in die Physiognomie und die Chiromantie einführen und arbeitete erfolgreich als Lehrer in Colmar und Straßburg.24 1712 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert und nahm 19 Werner Weidmann: Zur Geschichte der Ärzte und Apotheker aus der Pfalz und der umliegenden Gegenden. In: Jahrbuch zur Geschichte von Stadt und Landkreis Kaiserslautern, Bd. 32/33 (1994/95), S. 115–167, hier: S. 136 f.; der Aufsatz wurde auch veröffentlicht in: Werner Weidmann: Schul-, Medizin- und Wirtschaftsgeschichte der Pfalz, Bd. 2, Otterbach 2000, S. 9–60, hier: S. 27 f. 20 Gustav Carl Knod: Die alten Matrikel der Universität Straßburg 1621–1793, Bd. 1, Straßburg 1897, S. 488. 21 Bopp: Die protestantischen Pfarrer (wie Anm. 16), S. 113. 22 Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 121. 23 „Am Hochrhein entwickelte sich Straßburg zur Hochburg der Stahlianer“. Bei Johann Salzmann wurden vier stahlianische Dissertationen verteidigt. Günter Mühlpfordt: Stahls Grundlegung der neueren Chemie und Weltwirkung der halleschen Aufklärung. In: Georg Ernst Stahl (1659–1734). Hallesches Symposium 1984. Hg. von Wolfram Kaiser und Arina Völker, Halle/ S. 1985, S.117–160, hier S. 123. 24 Die Chiromantie lernte er vermutlich bei Wilhelm Ludwig von Maskowsky aus Hessen-Darmstadt. Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 121. Zu Maskowsky : Leben und Amt des den 10. Dec. 1731 verstorbenen Herrn Wilhelm Ludwig von Maskowsky, in: Friedrich Carl von Moser: Patriotisches Archiv, Bd. 1, 1784, S. 383–408; Reinhard Breymayer: Oetingers geheime Fehde mit Christoph Thomasius. In: Mathesis, Naturwissenschaft und Arkanwissenschaft im Umkreis von Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782). Hg. von Sabine Holtz, Gerhard Betsch und Eberhard Zwink, Stuttgart 2005 (Contubernium. Tübinger Beiträge
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seine erste Stelle als Hofprediger beim Baron von Fleckenstein in Bühl an.25 Da er seine pietistischen Ansichten kompromisslos auch gegenüber der Familie von Fleckenstein vertrat, wurde er schließlich entlassen. In der folgenden Zeit hielt er sich in Bergzabern bei dem reformierten Pfarrer und Gesinnungsfreund Johann Paul Bruch auf und bildete sich medizinisch fort.26 Einige Biographen vermuten, dass Kämpf, nachdem er 1718 als Hofprediger in Bühl entlassen worden war, in Straßburg oder Basel ein Medizinstudium aufgenommen habe. Allerdings wird er in den Matrikeln der Universität Straßburg nur als Theologiestudent aufgeführt, dagegen fehlt sein Name in den Verzeichnissen der Universität Basel. Auch eine medizinische Dissertation ist nicht nachweisbar. In einem der wenigen erhaltenen persönlichen Zeugnisse, dem Avertissement, gibt Kämpf an, nicht studiert zu haben. Seine Kenntnisse seien vielmehr göttlicher Herkunft, wie die Verbindung mit der Inspirationslehre der wahren Inspirationsgemeinde belege: wie ich dann mit meinem eigenen Exempel beweisen kan, daß man in gar kurtzer Zeit ein Weltberuffener Artzt werden könne, da ich in aller Eil aus einem aus dem Lande gejagten Lutherischen Priester in unglaublich weniger Zeit blos durch die göttliche Inspiration Bruder Rockens, und durch diese Meine neu erfundene natürliche und medicinische Inspirir-Kunst, ohne auf Universitäten zu studiren oder daselbst tentirt und approbirt zu werden, noch den Gradum zu erlangen.27
In Bühl kümmerte sich Kämpf, der als Seelsorger häufig zu Kranken gerufen wurde, nicht nur um das seelische Wohl, sondern auch um die körperlichen Leiden der Patienten.28 Die Beschwerden soll er einem Apotheker beschrieben haben, der ihm dann die passenden Medikamente gab. Mit wachsender Erfahrung soll Kämpf die Diagnosen selbst gestellt und die Heilmittel nach seinen Rezepten gemischt haben lassen.29 Diese Zusammenarbeit scheint auf
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zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 63), S. 251–283, hier S. 253. Bereits als Privatlehrer in Colmar zog Kämpf aus der Physiognomie eines Schülers Rückschlüsse auf dessen Lerngeschwindigkeit und setzte dies werbewirksam ein. So sagte er voraus, wie lange ein Schüler für das Erlernen des Rechnens oder der Metaphysik brauchen werde, und ließ sich nur für diesen Zeitraum bezahlen. Beherrschte ein Schüler den Stoff am Ende nicht, gab er das Geld zurück. Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 120–121. Koch: Der Pietismus im Herzogtum (wie Anm. 15), S.126–130. Johann Paul Bruch war reformierter Pfarrer und sympathisierte mit der wahren Inspirationsgemeinde. Ebd., S. 135–142. [Johann Philipp] Kämpf: Avertissement, o.O. 1751, Bl. [2]r. Senckenberg-Archiv Frankfurt am Main, M 66. Mittheilungen über den Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 50 f. Darüber hinaus wird in der älteren Literatur (z. B. bei Bopp) behauptet, Kämpf habe auch ein pflanzliches Heilmittel (Gauchheil) gefunden und damit erfolgreich „den tollen Hundsbiss“ oder die „Wasserscheu“, wie die Tollwut zeitgenössisch genannt wurde, behandelt. Diese Einschätzung ist falsch, da die Tollwut erst durch die Schutzimpfung, die Louis Pasteur 1885 entdeckt hatte, geheilt werden konnte. Außerdem gibt Kämpfs Sohn an, dass ein Schäfer seinen Vater auf das Mittel aufmerksam machte, er es also nicht selbst entdeckt hatte. Bopp: Die protestantischen Pfarrer (wie Anm. 16), S. 113; Johannes Kämpf: Für Ärzte und Kranke be-
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einen Apotheker beschränkt gewesen zu sein; in den vorhandenen Quellen gibt es keine Hinweise darauf, dass Kämpf von einem Arzt beraten wurde.30 In der frühen Neuzeit versahen drei Gruppen mit unterschiedlichen Ausbildungen die medizinische Versorgung der Bevölkerung: studierte Ärzte, approbierte Heiler und heilkundige Laien.31 Die Ärzte besuchten die Lehrveranstaltungen an einer Universität und schlossen das Studium mit einer Disputation über ein medizinisches Thema ab. Danach konnten sie noch weiter studieren und sich promovieren lassen. Zu der Gruppe der approbierten Heiler gehörten Handwerkschirurgen, Wundärzte, Bader, Apotheker und Hebammen, die eine praktische Ausbildung absolvierten und deren Kenntnisse zumeist abgeprüft wurden. So war in der Kölner Medizinalordnung von 1628 festgelegt, dass ein Handwerkschirurg mindestens 4 Jahre bei einem Meister in die Lehre zu gehen hatte, dann zwei weitere Jahre auf Wanderschaft war, bevor er seinen Beruf selbständig ausüben durfte. Die heilkundigen Laien waren Personen mit unterschiedlicher Vorbildung, die aber keine nachweisbare medizinische Ausbildung hatten und entweder mit obrigkeitlicher Duldung oder illegal praktizierten.32 Wie oben bereits ausgeführt, hat Kämpf Theologie studiert, aber weder ein Medizinstudium noch eine Ausbildung als Handwerkschirurg absolviert. Seine medizinischen Kenntnisse hat er sich vermutlich durch eigene Erfahrungen, Beratungen mit anderen Heilkundigen und durch das Studium medizinischer Bücher selbst angeeignet. Damit gehört Kämpf zu der Gruppe der Laienheiler und wird im Folgenden nicht als „Arzt“, sondern als „praktizierender Mediziner“ bezeichnet.33 Trotz seines fehlenden Studiums wurde Kämpf in seinem Leben auf Funktionen berufen, die üblicherweise studierten Ärzten vorbehalten waren.34 Nachdem ihn sein Förderer, Herr von Strahlenheim, nach Zweibrücken geholt hatte, wurde er 1719 in der Funktion als Arzt am Spital angestellt und heiratete die Tochter seines Freundes, Susanne Bruch.35 Da sich Kämpf in der medizinischen Praxis bewährte, ernannte man
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stimmte Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen. 2., vermehrte u. verb. Aufl., Leipzig, 1786, S. 571; Werner Köhler : Louis Pasteur. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hg. von Werner E. Gerabek [u. a.], Berlin 2005, S. 1110–1112. Mittheilungen über den Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 50 f. Vgl. für das Folgende: Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991, S. 19–27. 1574 warnte Jakob Horst die Patienten vor den Laienheilern „nicht allein gemeine Leuthe / alte Vettelen / Pfaffen Arzte / sondern auch die Apothecker / Theophrastiner / Doctores / so nicht irer Kunst mechtig sind / sondern in irer Practica nach blosser erfahrung / oder auch wol nach gewissen Buechern […] curiren.“ Zitiert nach ebd., S. 27. Für die Funktionen, die Kämpf bekleidete, werden die offiziellen Bezeichnungen bzw. die Benennungen der Quellen übernommen, z. B. Spitalarzt oder Leibarzt. Gründe für diese besondere Bevorzugung eines Laienheilers konnten aus den eingesehenen Quellen bisher nicht ermittelt werden und bleiben ein Desiderat. Das Ehepaar heiratete am 4. 7. 1719 und hatte sechs Kinder. Die Jungen wurden lutherisch, die
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ihn 1725 zusätzlich zum Garnisonsmedikus eines Kurpfälzischen Bataillons. Außerdem erhob ihn Herzog Gustav Samuel von Pfalz-Zweibrücken zwei Jahre später zum Stadt- und Landphysikus.36 Trotz des Pietistenedikts bekannte sich Kämpf zu den Inspirierten und hielt Konventikel ab. Als er schließlich noch eine Verteidigungsschrift für die Inspirierten verfasste, wurde er 1734 offiziell entlassen.37 Doch wurde sein Bleiben noch bis zum Tod des Herzogs Christians III. am 3. Februar 1735 geduldet.
II. Das Klistieren und die Heilklistiere Da Kämpf vor allem das Klistieren als Behandlungsmethode empfahl, soll im Folgenden kurz auf die Geschichte dieses Heilmittels eingegangen werden. Klistiere sind ein altbekanntes Heilmittel und wurden bereits seit der Antike gegen Verstopfungen angewendet.38 Mit Blasrohren, Trichter- oder Gießklistieren, Druckklistieren (bei denen man den Druck mit einer Tierblase oder einem Lederbeutel erzeugte), Spritzen oder Klistiermaschinen (mit Pumpwerk) wurden verschiedene Flüssigkeiten über den After in den Darmtrakt des Patienten gedrückt. Die medizinischen Klistiere, die man im 18. Jahrhundert Tochter reformiert getauft. Maria Susanna 15. 8. 1720–14. 1. 1807, Maria Johanna Louysa am 2. 5. 1722–21. 5. 1755, Johannes 14. 5. 1726–29. 10. 1787, 1728 Georg Paul 1728–?, der bereits als Kind verstarb, Ludwig Wilhelm 6. 5. 1732–22. 3. 1779 und Dorothea Kämpf ?–24. 1. 1789. Alfred H. Kuby : Johann Philipp Kämpf. In: Nachrichten aus dem Dekanat Zweibrücken. Beilage zum Evangelischen Boten, Bd. 3 (1962). 36 Bopp: Die protestantischen Pfarrer (wie Anm. 16), S. 126. Nach Alfred H. Kuby wird im reformierten Kirchenbuch anlässlich der Taufe der Tochter Maria Susanna der Vater als „Statt- und Spital-Medicus“ betitelt, im lutherischen Kirchenbuch im Eintrag zur Taufe seines Sohnes Georg Paul 1728 als „Statt-, Hospital- Guarnison- und Landmedicus“ bezeichnet. 1729 unterzeichnet er ein Gesuch an die Verwaltung des Spitals mit „Kaempf, Physicus ordinarius“. Spätestens mit der Funktion eines „Stadt- und Landmedikus“ hatte Kämpf eine Stellung inne, die üblicherweise von studierten und häufig auch promovierten Ärzten besetzt wurde. Kuby : Johann Philipp Kämpf (wie Anm. 35), Bl. [1]r. Vgl. zur Hierarchie der Heiler: Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten (wie Anm. 31), S. 30–32. 37 Zum Pietistenedikt, das durch Herzog Gustav Samuel Leopold von Pfalz-Zweibrücken am 2. 7. 1730 erlassen wurde, zur Reaktion auf dieses Edikt sowie zur Rechtfertigungsschrift der Inspirierten von 1734 an Herzog Christian III. von Pfalz-Zweibrücken vgl. Friedhelm Ackva: Der Pietismus in Hessen, in der Pfalz, im Elsaß und in Baden. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 198–224; Koch: Der Pietismus im Herzogtum (wie Anm. 15), S. 82–135. 38 In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf diese Literatur: Robert Jütte: Klistier. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hg. von Werner E. Gerabek [u. a.], Berlin 2005, S. 757; Robert Jütte: Das Zepter der heroischen Medizin. Das Klistier in der medialen Alltagskultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 777–803; Friedrich von Zglinicki: Kallipygos und Äskulap. Das Klistier in der Geschichte der Medizin, Kunst und Literatur, Baden-Baden 1972.
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verabreichte, sollten abführen, Schmerzen lindern, den Geburtsvorgang unterstützen, den Patienten ernähren oder – als Tabaksrauchklistier – Ertrunkene wiederbeleben.39 Darüber hinaus wurden sie auch prophylaktisch zur inneren Körperreinigung angewandt.40 Besonders beliebt waren die Klistiere seit dem 17. Jahrhundert in Frankreich; ihre Anwendung durch Adlige am Hofe Ludwigs XIV. sollen sie zur Mode gemacht haben.41 Eine herausragende Rolle spielten dabei die sogenannten Verjüngungsklistiere. Sie sollten – so hoffte man – den reinen Teint bis ins hohe Alter erhalten.42 Während das Klistieren in Frankreich gesellschaftlich anerkannt war, lehnte man es in Deutschland in weiten Kreisen ab.43 Robert Jütte nimmt an, dass dies an divergierenden populären Wahrnehmungsmustern liegt.44 In Frankreich hatte das Klistier den Ruf eines erfolgreichen Heilmittels, dagegen glaubten große Teile der deutschen Bevölkerung, dass die Anwendung eines Klistiers unangenehm sei und häufig zum Tode führe.45 Ein Grund dafür könnte sein, dass Klistiere meist von Apothekern zubereitet und – häufig ohne ausreichende anatomische Kenntnisse – auch verabreicht wurden. Bereits der Autor in Zedlers Universallexikon plädierte dafür, die Applikation von Kli-
39 Robert Jütte bezieht sich mit dieser Aufzählung auf den umfassenden Anwendungskatalog in der „Chirurgie in welcher alles was zur Wundarzney gehöret […]“ (Nürnberg 1763) des deutschen Chirurgen Lorenz Heister (1683–1758). Als Beleg für die Wiederbelebungsklistiere verweist er auf obrigkeitliche Erlasse. Jütte: Zepter der heroischen Medizin (wie Anm. 38), S. 789. 40 Ebd., S. 789. 41 Robert Jütte weist auf verschiedene Quellen, z. B. die Briefe Lieselotte von der Pfalz, verheiratete Herzogin von Orl8ans, hin, die den Gebrauch von Klistieren belegen, bezweifelt aber ihren übermäßigen Gebrauch bzw. eine allgemeine Klistiersucht. Ebd., S. 789, S. 794. 42 Auch Johann Kämpf erwähnt die Verjüngungsklistiere: „In Frankreich ist schon längstens zur Sitte geworden, die erweichende Klystiere, auch in der Absicht pour conserver le teint täglich anzuwenden, das heißt, um die feine Haut des Gesichts durchsichtig, glatt, zart, und von Ausschlägen rein zu erhalten, ihre widernatürliche wohl auch natürliche, aber zu starke Röthe, oder die Bauernfarbe, die man lieber durch Schminke erkünstelt, zu verhüten, und den fürchterlichen Vorboten des Alters, den kleinen Runzeln […] vorzubeugen.“ Kämpf: Abhandlung (wie Anm. 29), S. 198. 43 In der älteren Literatur wurde dies mit der unterschiedlichen Schamhaftigkeit der Nationen begründet (so auch im Zedler). Allerdings ist dies keine einleuchtende Erklärung, da das Schamgefühl nicht durch Ethnie oder Nation bestimmt wird. Jütte: Zepter der heroischen Medizin (wie Anm. 38), S. 796. Johann Kämpf nennt folgende Gründe für die Ablehnung von Klistieren: 1. Vorurteil, Klistiere führten zu einer verminderten Darmaktivität, so dass man schließlich ständig auf Klistiere angewiesen sei, 2. Generelle Ablehnung der Behandlungsmethode, 3. Ungeduld, da die Behandlung meist langwierig sei 4. Furcht, durch die Klistiere Krankheiten auszulösen, 5. Fehlerhafte Anwendung durch Ärzte und Apotheker, 6. Schamhaftigkeit und 7. Verbohrtheit trotz erwiesener erfolgreicher Kuren. Kämpf: Abhandlung (wie Anm. 29), S. 29–33 (Einleitung); Clystier. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, photomechanischer Nachdr., Bd. 6, Graz 1961, Sp. 490–505. 44 Jütte: Zepter der heroischen Medizin (wie Anm. 38), S. 797 f. 45 Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten (wie Anm. 31), S. 133 f., 212; Jütte: Zepter der heroischen Medizin (wie Anm. 39), S. 797 f.
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stieren den Handwerkschirurgen zu überlassen.46 Die studierten Ärzte beschränkten sich meist darauf, Klistiere und die Menge des einzuführenden Wirkstoffes zu verschreiben; nur in seltenen Fällen ist belegt, dass ein Arzt selbst ein Klistier gesetzt hat.47 Zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort Kämpf die Klistierpraxis erlernte, ist nicht belegt. Er könnte sie in Straßburg bei seinen medizinischen Hospitanzen, am Hof in Fleckenstein sowie in Bergzabern kennengelernt haben. In Zweibrücken lebte er bei dem Apotheker Bruch, der ihm ebenfalls das Klistieren und die Zubereitung der Lösungen gezeigt haben könnte.48 Den Nutzen des Klistierens kannte er schon, als er in der Funktion des Spitalarztes 1719 in Zweibrücken die Anstellung eines zusätzlichen Handwerkschirurgen beantragte, zu dessen Aufgaben neben dem „Aderlassen, Schröpfen […] Blasenziehen, Umschläge verfertigen und auflegen“ auch das „Clystier-Applicieren“ gehören sollte.49 Die Ursache der meisten chronischen Krankheiten vermutete Kämpf in Obstruktionen der Organe im Unterleib, die er als Infarktus bezeichnete.50 Da Johann Philipp Kämpf seine Lehren und Behandlungsmethoden nicht selbst veröffentlichte, sondern seinen Sohn damit beauftragte, wird hier auf die Schrift des Sohnes Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen zurückgegriffen.51 Danach entstünden die sogenannten Infarktus durch verdicktes Blut oder Serum in den Gefäßen sowie in den Geweben im unteren Bauch. Johann Kämpf unterschied zwei Arten der sogenannten Infarktus mit jeweils sieben Gattungen. Zu den Faktoren, die ihre Bildung entweder auslösten oder begünstigten, zählte er Fermente in der Luft, Gerinnsel, Schlaffheit der Blutgefäße, Veränderungen der Galle, Entzündungen in den Gelenken, Geschlechtskrankheiten oder Halsdrüsengeschwulste bei Kindern, aber auch ungesunde Lebensweise und psychische Einflüsse.52 Mit dieser Lehre steht Johann Kämpf im Kontext der
46 Clystier (wie Anm. 43), Sp. 491. Wie der Artikel über das „Clystier“ im Zedler belegt, war um die Jahrhundertmitte eine Vielzahl von Heilmitteln bekannt, die man als Klistier verabreichte. 47 Jütte: Zepter der heroischen Medizin (wie Anm. 39), S. 793 f. 48 Kirchenschaffnei-Archiv Zweibrücken, Rep. IV, zitiert nach Alfred H. Kuby : Johann Philipp Kämpf. In: Nachrichten aus dem Dekanat Zweibrücken. Beilage zum Evangelischen Boten, Bd. 3 (1962), S. [1]f. 49 Kuby : Johann Philipp Kämpf (wie Anm. 48), S. [1]. 50 Vgl. zum folgenden Abschnitt: Kämpf: Abhandlung von einer neuen Methode (wie Anm. 29). Eine Zusammenfassung des Buches bietet die Dissertation von Johannes Boldemann: Johannes Kämpf und seine Visceralklystiere. Ein Beitrag zur Geschichte der Therapie, [Diss. masch.] Greifswald 1920. 51 Im Folgenden wird aus der zweite Auflage von 1786 zitiert. Kämpf: Abhandlung von einer neuen Methode (wie Anm. 29). 52 Karl Eduard Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1978, S. 240–252.
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Iatromechanik von Friedrich Hoffmann und Herman Boerhaave.53 Bereits in seinen 1695 erschienenen Fundamenta medicinae ex principiis naturae mere mechanicis führte Hoffmann die Bildung von Krankheiten auf die Obstructio zurück. Diese Lehre fasst der Medizinhistoriker Karl Eduard Rothschuh wie folgt zusammen: Immer besteht die Gefahr der Obstructio, d. h. der Verlegung feiner Gefäße, dann stockt das Blut an dieser Stelle. Diese Verlegung kann rein mechanisch durch schlechte Mischung (Intemperies) des Blutes, durch vergröberte fehlgebildete Korpuskeln erfolgen oder auch dadurch, daß bestimmte Arten von scharfen Partikeln die Gefäßwände reizen und sie zur spastischen Kontraktion und zum Verschluß bringen. […] Von dieser Vorstellung her liegen die primären Anlässe von Krankheiten in der Regel in den Säften, und zwar als fehlerhafte mechanische Partikelzusammensetzung, aber diese sind nur dadurch pathogen, daß sie die Bewegungen des Blutes in den Gefäßen stören. Materia und Motus zusammen bedingen danach ebenso die Gesundheit wie die Krankheit.54
Als Behandlungsmethode gegen die sogenannten Infarkte propagierte Johann Kämpf – und hier weicht er von Friedrich Hoffmann und Herman Boerhaave ab – die Kuren mit seinen Heilklistieren. Den Vorteil, die Medikamente über ein Klistier zu geben, sah er darin, dass der Wirkstoff über die rektale Aufnahme unverändert bleibe und das Klistier selbst den Darmtrakt reinige und aufnahmefähig mache. Als Klystire hingegen, die sich vorher selbst die Zu= und Ausgänge reinigen und öffnen, greifen sie [Viszeralarzneien] unverändert, unbefleckt, ungeschwächt, ungesäumt und vollständig die innern Verschanzungen des Feindes in der Nähe auf das lebhafteste an.55
Dagegen hätten Medikamente56, die über den Mund eingenommen werden, den Nachteil, dass sie einen längeren Weg zum Dickdarm zurücklegen müssten, durch Flüssigkeiten und Speisereste im oberen Verdauungstrakt verdünnt oder verändert würden und ihre Aufnahme ins Blut durch Schleim in der Dickdarmwand gehemmt würde. 53 Nach Rothschuh ist die Obstruktion bei Boerhaave nur eine von verschiedenen Krankheitsursachen. Er unterscheidet Krankheiten, die durch eine pathologische Debilitas oder Rigiditas der Fibrae verursacht werden, dazu gehören auch Krankheiten der Gefäße, die aus zu schlaffen Fasern zusammengesetzt sind, sowie eine zweite Gruppe von Krankheiten, die durch den Überfluss an sauren Säften mit der Folge von Obstruktion, Pusteln, Geschwüren oder durch größere Zähigkeit im Blut infolge leimig-klebriger Elemente, Beeinträchtigung der Sekretion oder Steinbildung entstehen, und drittens Krankheiten, die durch übermäßige oder schwache Herzkreislaufaktion ausgelöst werden. Ebd., S. 250 f. 54 Ebd., S. 245. 55 Kämpf: Abhandlung von einer neuen Methode (wie Anm. 29), S. 176. 56 Johann Kämpf bezeichnet sie als „Viszeralarzneien“. Ebd., S. 174.
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Und wie ohnmächtig, die nach der gemeinen Methode angewandten Mittel [i. e. über den Mund verabreichte Viszeralarzneien] […] seyn müssen, kann man auch daraus schließen, weil sie einen mit unzähligen Saugröhren versehenen Schlauch, der beynahe siebenmal länger als der ganze Körper ist, zu durchwandern haben, ehe sie die dicksten Gedärme erreichen; […] ferner weil ihnen manchmal der Weg ins Blut durch einen unbändigen Schleim, der die Zugänge überkleistert oder verstopft, größtentheils versperrt ist, sie mithin in den Exkrementen ziemlich fruchtlos abzugehen gezwungen sind; weil sie in den […] übelbeschaffenen Magen und Gedärmen mit dem Überbleibsel unverdauter Speisen vermischt, einer faulen und sauren Gährung ausgesetzt sind, die ihre Natur umschaft; weil sie dort durch verdorbene Galle und im Fortgang immer mehr durch andre von unreinem Blut abgesonderte Verdauungssäfte überschwemmt; und weil sie endlich nach vielen und weiten Umwegen so mancherley Ab= und Aussonderungen aushalten müssen […] ehe sie an Ort und Stelle kommen, wo sie eigentlich ihre Kräfte äußern sollten.57
Die Heilklistiere wurden mit Kräuter-Suden aus Regen, Fluss- oder Kalkwasser hergestellt. Außerdem sollte den Klistieren Kleie zugesetzt werden, damit sie länger im Darm verblieben und die Heilmittel länger einwirken konnten. So empfahl Johann Kämpf z. B. Baldrianwurzel, um Krämpfe zu stillen oder Nerven zu beruhigen, Schafgarbe und Kamille, um Schmerzen zu lindern und Entzündungen zu hemmen. Zur Kur gehörte neben der Vorbereitung, z. B. Reinigung des Darms durch Reinigungsklistiere, eine einfache, natürliche und leichtverdauliche Kost und mäßige Bewegung.58 Die Patienten mussten sich oft monatelang behandeln lassen, bis die Krankheit geheilt war.59 In über fünfzig Casuistiken hat Johann Kämpf den Erfolg dieser Kuren dokumentiert.60 Außer dem Heilklistier setzte er auch das Nährklistier sowie das Rettungsklistier ein. Mit dem Nährklistier sollten Patienten, die keine Nahrung über den Mund aufnehmen konnten, am Leben erhalten werden. Johann Kämpf berichtet von einem Bauernmädchen, das über ein halbes Jahr hinweg mithilfe eines solchen Nährklistiers nicht nur ernährt wurde, sondern dabei auch noch zugenommen habe.61 Nach dem Medizinhistoriker Friedrich von Zglinicki können zwar über den Enddarm einige Kohlehydrate und Proteine 57 58 59 60 61
Ebd., S. 175 f. Von der diätetischen Kur. Ebd., Kapitel 7, S. 315–365. Ebd., S. 191, 195. Von den Krankheitsgeschichten. Ebd., Kapitel 8, S. 415–560. „Ein Bauermädchen, das nach einem Fall auf den Kopf, und darauf erfolgter Lähmung des Schlundes, die sich vermuthlich bis auf den Magen erstreckte, und sie daher die Plagen des Hungers und Durstes nicht fühlen lies, außer Stand gesetzt wurde, einige Nahrungsmittel zu verschlingen, sah ich bloß durch einen dem After oft applizierten Kleyenabsud, über ein halbes Jahr ernährt, und kurz darauf völlig hergestellt. Sie wurde bey dieser widersinnigen Beköstigung anfangs matt und mager; nachdem sie aber eine Zeitlang daran gewöhnt war, so stellten sich Kräfte, Korpulenz und rothe Wangen wieder ein.“ Ebd., S. 192. Weitere Beispiele für den erfolgreichen Einsatz eines Ernährungsklistiers, S. 191 f., 507–509.
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absorbiert werden, allerdings hält er es für unwahrscheinlich, dass ein Mensch über ein halbes Jahr nur über Kleieklistiere am Leben erhalten worden sei und dabei auch noch zugenommen habe.62 Sehr umstritten war Kämpfs Einsatz des Rettungsklistiers, mit dem er in seinem Avertissement von 1751 warb. In dieser Werbeschrift rühmt er sich, gewagt zu haben, Personen, die drei Stunden zuvor gestorben seien, wieder ins Leben zurück zu holen. Und ob Mir solches gleich bey dem neulich verstorbenen Schornsteinfeger Mela mislungen, so zweifele doch keinesweges meine Kunst noch so hoch zu treiben.63
Diese Methode der Wiederbelebung von Scheintoten war um 1740 aus Holland oder England nach Deutschland gekommen und bis ins 19. Jahrhundert hinein verbreitet. Vor allem verunglückte oder ertrunkene Personen sollten durch Klistiere reanimiert werden.64 Insbesondere Johann Christian Senckenberg empfand diese Werbung in Kämpfs Avertissement als anstößig. Die Biographen Senckenbergs behaupten, dies beweise Kämpfs Scharlatanerie und seine unmoralische Gewinnsucht, die schließlich zum Zerwürfnis der beiden geführt habe.65
III. Als Arzt in Homburg und am Landgrafenhof Mit der Entlassung als Spitalarzt erhielt Kämpf kein Gehalt mehr, betreute aber weiterhin die Kranken im Spital, in der Stadt und unter den Armen. Deshalb bat er um eine Vergütung der bereits geleisteten medizinischen Dienste und plante seine Auswanderung.66 Als neue Heimat wählte die Familie Kämpf Homburg vor der Höhe, da hier Landgraf Friedrich III. Jacob freie Religionsausübung gewährte und damit die tolerante Religionspolitik seines Vaters fortsetzte. Neben Hugenotten, Waldensern und Juden nahm der Landgraf auch religiöse Separatisten und radikale Pietisten auf. So lebten in Homburg Christoph Schütz, Maria Catharina Schütz, Johann Samuel von Ploennies und Christian Christoph König.67 Aber auch ein anderer Emigrant aus Zweibrü62 Zglinicki: Kallipygos und Äskulap (wie Anm. 38), S. 64. 63 Kämpf: Avertissement (wie Anm. 27), Bl. [2]r. 64 Jütte: Klistier (wie Anm. 38), S. 757; Jütte: Zepter der heroischen Medizin (wie Anm. 38), S. 789; Zglinicki: Kallipygos und Äskulap (wie Anm. 38), S. 69. 65 In der Literatur über Senckenberg wird überliefert, Kämpf habe behauptet, auch bereits vor sechs Stunden Verstorbene wieder zum Leben erwecken zu können. Thomas Bauer: Johann Christian Senckenberg. Eine Frankfurter Biographie 1707–1772, Frankfurt am Main 2007, S. 85; August de Bary : Johann Christian Senckenberg (1707–1772). Sein Leben auf Grund der Quellen des Archivs der Dr. Senckenberg-Stiftung, Frankfurt am Main 1947, hier S. 101 f. 66 Ebd., S. [2]. 67 Konstanze Grutschnig-Kieser : Radikaler Pietismus und staatliche Ordnung. Der Landgrafenhof in Hessen-Homburg und der radikale Pietismus zur Zeit Friedrichs III. Jacob (1708–1746). In:
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cken lebte bereits in Homburg: Es war der lutherische, pietistische Pfarrer Anton Pfaffmann und ehemalige Kollege von Kämpf, der zum Hofprediger ernannt worden war.68 Für die hugenottischen Glaubensflüchtlinge sowie hochrangige Hofbeamte hatte der Landgraf Friedrich III. Jacob in Homburg die Dorotheenstraße anlegen lassen. Im direkten Anschluss an das Schlossgartenportal wurden hier vornehme, zweistöckige Häuser mit Mansarddächern (mit der Traufseite zur Straße ausgerichtet) gebaut.69 Im Spätsommer 173670 kam die Familie Kämpf nach Homburg und bezog vermutlich das Haus Nr. 8.71 In der Dorotheenstraße wohnten auch andere religiöse Separatisten und praktizierende Alchemisten. So lebte im Haus Nr. 1 Friedrich Carl Casimir von Creutz, der sich später der wahren Inspirationsgemeinde anschloss und sein Anwesen für religiöse Versammlungen zur Verfügung stellte. Bereits sein Vater war Alchemist gewesen und hatte experimentiert. In direkter Nachbarschaft zu Kämpf wohnte der Hofapotheker Zacharias Müller, dessen Apotheke sich im Erdgeschoss des Hauses befand (Nr. 10).72 Weiter unten in der Straße besaß Maria Catharina Schütz die Häuser Nr. 15–17, die sie unbemittelten Glau-
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Der radikale Pietismus: Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 237–247. Zu Anton Pfaffmann vgl. Koch: Der Pietismus im Herzogtum (wie Anm. 15), S. 93–108. Angelika Baeumerth: „Sinclair-Haus“. Ein Haus und seine Bewohner. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde zu Bad Homburg vor der Höhe, Bd. 47 (1998), S. 5–53, hier S. 6 f. Kämpf war schon vorher für einige Zeit in Homburg. So schreibt er einen Brief an Senckenberg, der mit Homburg, 3. 1. 1736 datiert ist. Allerdings scheint er nicht anwesend gewesen zu sein, als Johann Christian Edelmann von Frankfurt kommend die Homburger Separatisten besuchte. Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie. Faksimile Neudruck der von C.R.W. Klose veranstalteten Ausg. Berlin 1849, neu herausg. von Bernd Neumann, Stuttgart-Bad Cannstadt 1996 (Deutsche Autobiographien: Dokumente zum bürgerlichen Selbstbewußtsein von der Aufklärung bis zur Revolution 1848, Bd. 1), S. 225. Kurz nach der Familie Kämpf emigrierten auch die Familien von Ferdinand Friedrich Bellon und Brangier aus Zweibrücken. Während die Familie Bellon in Homburg blieb, zog die Familie Brangier nach Meisenheim weiter. Rüdiger: Johann Philipp Kaempf (Anm. 18), S. 86 f., Mittheilungen über den Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 91. Angelika Baeumerth: 1200 Jahre Bad Homburg v. d. Höhe, Bad Homburg 1982, S. 36 f. 1804 war das Haus Nr. 8 in der Dorotheenstraße im Besitz der „Jungfer Kempf“. Damit ist die Tochter von Johann Philipp Kämpf, Susanna Kämpf (?–1804) gemeint. Erich Deckert / Reinhard Michel: Die Grundstücks-und Hauseigentümer von Homburg vor der Höhe (1787– ca. 1890). In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde zu Bad Homburg vor der Höhe, Bd. 41 (1993), S. 37–290, hier : S. 72 f. Zacharias Müller, der ursprünglich aus Blankenheim bei Braunschweig stammte, zog 1716 von Offenbach nach Homburg und erhielt das Privileg, die erste Hof-, Stadt- und Landapotheke in Homburg zu errichten. Sein Sohn Johann Friedrich Wilhelm Müller studierte Medizin und wurde 1746 promoviert. 1759 übernahm er die Hof-Apotheke seines Vaters. Vermutlich hat auch er bei Kämpf hospitiert. Johann Friedrich Wilhelm Müller : De morbis abusu potus oriundis, [Diss.] Leiden 1746; Friedrich Lotz: Geschichte der Stadt Homburg, Bd. 2, Frankfurt am Main 1972, S. 149 f.
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bensflüchtlingen überließ.73 Sie selbst lehnte zwar die „chymische Art“ ab, allerdings wohnte zeitweilig Christoph Schütz bei ihr, der die Alchemie als eine Form der Gottsuche ansah.74 Dessen größte Leistung auf diesem Gebiet ist die Herausgabe des Opus mago-cabbalisticum et theosophicum von Georg von Welling, das er mit einem Anhang von verschiedenen raren Chymischen Manuscriptis ergänzt, 1735 bei Johann Philipp Hellwig in Homburg drucken ließ.75 In seinem Haus richtete Kämpf eine Praxis ein. Zuerst dürften die Patienten vor allem aus Homburg und der Umgebung gekommen sein. Als der Erfolg seiner Behandlungen über die Landgrafschaft hinaus bekannt wurde, behandelte Kämpf nicht nur ambulant, sondern bot in seinem Haus auch eine stationäre Aufnahme an. Die Patienten konnten sich untersuchen und über die Behandlungsmethode informieren lassen. Besonders begüterte Patienten hatten außerdem die Möglichkeit, während der gesamten Kur in seinem Haus zu bleiben: Wer demnach Lust und Lieb hat von diesen angebotenen und noch andern gantz unbekandten Künsten Information zu haben, beliebe sich bey mir zu Homburg vor der Höhe in meiner Behausung zu melden, da denn einem jeden Liebhaber nach Stand und Würden wird aufgewartet werden, auch so man es erfordert, Logis, Tisch und Bett samt den Universal-Clistiren mit allem was dazu gehört, um die Gebühr zu Dienste stehen soll. Auch können Patienten, welche honet und bemittelt sind, eben solches Tractament bey Mir geniesen.76
73 Zu Maria Catharina Schütz und zu ihrer Stiftung vgl. Konstanze Grutschnig-Kieser : Geistlicher Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches UniversalGesangbuch, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49), S. 198–201. 74 Ebd., S. 201, 219–224. Reinhard Breymayer nimmt an, dass Oetinger in Homburg auch Christoph Schütz persönlich kennengelernt hat. Reinhard Breymayer: Neue Impulse zur Erforschung Philipp Matthäus Hahns, Oetingers und Schellings. Bibliographische und personengeschichtliche Ergänzungen zu Philipp Matthäus Hahns Tagebüchern. In: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte, Bd. 80/81 (1980/81), S. 299–316. 75 Johann Wolfgang Goethe hat das Buch von seinem Arzt Johann Friedrich Metz empfohlen bekommen und gemeinsam mit Susanna Catharina von Klettenberg gelesen. In Goethes Besitz war die von Schütz herausgegebene Ausgabe, die 1760 bei Fleischer in Leipzig nachgedruckt worden war. Reinhard Breymayer: Ein radikaler Pietist im Umkreis des jungen Goethe: Der Frankfurter Konzertdirektor Johann Daniel Müller alias Elias / Elias Artista (1716 bis nach 1785). In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 9 (1983), S. 180–237, hier S. 197. Stellvertretend für die Forschungsliteratur zu Goethes Rezeption des Opus sowie anderer Literatur radikalpietistischer Provenienz sei der Tagungsband ,Goethe und der Pietismus‘ genannt, vor allem der Beitrag: Hans-Jürgen Schrader: Salomonis Schlüssel für die „halbe Höllenbrut“. Radikalpietistische tingierte „Geist-Kunst“ im Faustschen „Studierzimmer“. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6) S. 231–256. Ulf Lückel: Medizinisch-alchimistische Traditionsmitgiften im Pietismus: Friedrich Christoph Oetinger – Johann Friedrich Metz – Johann Wolfgang Goethe in diesem Band, S. 223–234. 76 Kämpf: Avertissement (wie Anm. 27), Bl. [2]v.
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Kämpf war wohl nur eine kurze Zeit – vermutlich 1736 – Leibarzt des Landgrafen Friedrichs III. Jacob.77 Eine Urkunde ist nicht erhalten, den Hinweis findet man in den Biographien zu Senckenberg. Dort wird überliefert, dass Kämpf bei allen Krankheiten das Klistier als Universalheilmittel eingesetzt habe.78 Durch die einseitige Behandlung habe er schnell das Vertrauen des Landgrafen verloren und sei wieder abberufen worden. Vielleicht lehnte es Kämpf aber auch ab, nach Tournai zu ziehen, wo der Landgraf als Gouverneur residierte. Statt Kämpf wurde 1739 Senckenberg zum Leibarzt berufen und reiste im September mit dem Hof nach Tournai.79 Einen besseren Kontakt hatte Kämpf zum Kronprinzen. Ludwig Gruno, der als Generalleutnant und Befehlshaber aller Truppen in St. Petersburg lebte, besuchte 1739 seine Heimat.80 Da er kränklich war, bat er Kämpf, ihn auf der Rückreise zu begleiten. Kämpf sagte zu und reiste in der Funktion eines Leibarztes im Gefolge des Kronprinzen über Danzig und Livland nach St. Petersburg.81 Am Zarenhof erwarb er sich ein hohes Ansehen.82 In dem Lebenslauf der Inspirationsgemeinde werden zahlreiche Beispiele aufgeführt, 77 Barbara Dölemeyer: Die Reaktion deutscher Landesherren und Kirchen auf das Auftreten von Sekten im 17. und 18. Jahrhundert. In: Religiöser Pluralismus im vereinigten Europa: Freikirchen und Sekten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2005, S. 13–30. Während ihn Berchelmann und Ritter ausdrücklich als Leibarzt Friedrich III. Jacobs bezeichnen, bezieht sich die sonst in der Literatur benutzte Bezeichnung „Leibarzt“ auf die 1747 erfolgte Anstellung durch Friedrich IV. Karl. Johann Philipp Berchelmann: Fragmente zur Arznei-Naturkunde und Geschichte, Frankfurt am Main, Bd. 1, 1780, S. 60 f. Ritter, der von 1740–1743 Leibarzt des Landgrafen Friedrichs III. Jacob war, schreibt „so vor mir in Homburgischen Dienst gestanden.“ [Johann Jacob Ritter :] Johann Jacob Ritter. In: Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen und Schriften Jeztlebender berühmter Ärzte und Naturforscher in und um Deutschland mit Fleiß gesammlet und zum Druck befördert von Friedrich Börner, Bd. 2, Wolfenbüttel 1752, S. 82–171, hier S. 142. 78 Bauer : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 65), S. 85; de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 65), S. 102. 79 Senckenberg kehrte bereits im Dezember 1739 wieder nach Frankfurt zurück, weil er mit dem Hofleben nicht zurechtkam. Als Nachfolger wurde 1740–1744 Johann Jakob Ritter angestellt. Als dieser wegen Depressionen in den Jahren 1740–1743 zeitweise nicht praktizieren konnte, vertrat ihn sein Freund Johann Friedrich von Herrenschwand (1715–1798). Außerdem bekleidete Konrad Wegehausen (1706–1746) dieses Amt. Barbara Dölemeyer: „Bier und Wein machte meine Humores dicke“. Johann Christian Senckenberg als Leibarzt des Landgrafen von Homburg. Religiöse Konflikte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 1. 1999, Rhein-Main, S. 64; Urs Boschung: Johann Friedrich von Herrenschwand. In: Historisches Lexikon der Schweiz; Dictionnaire historique de la Suisse, Dizionario storico della Svizzera, [Elektronische Ressource], Bern 1983; Johann Jakob Ritter (1714–1784). In: Deutsche biographische Enzyklopädie. Hg. von Rolf Vierhaus, 2., überarb. u. erw. Aufl., Bd. 9, München 2008, S. 446; [Ritter :] Johann Jacob Ritter (wie Anm. 77), S. 126–139; Wegehausen wird im „Archiv-Informationssystem“ der Hessischen Staatsarchive als Leibarzt des Landgrafen erwähnt. www.arcinsys.de. 80 Erik Amburger: Ludwig Gruno Prinz von Hessen-Homburg. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 15, Berlin 1987, S. 394 f. 81 Rüdiger : Johann Philipp Kaempf (wie Anm. 18), S. 88 f. 82 Er wurde von seinem Schwager Friedrich Daniel Bruch begleitet, der als Arzt in St. Petersburg blieb. Weidmann: Zur Geschichte der Ärzte (wie Anm. 19), S. 137.
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wie Kämpf mit der Hilfe Gottes Menschen heilen konnte, aber auch immer wieder zu Unrecht verdächtigt wurde oder in schwierige Situationen geriet.83 Schließlich bat Kämpf um Entlassung und kam Ostern 1744 wieder in Homburg an. Briefe aus der Korrespondenz zwischen Vater und Sohn belegen, dass der Kronprinz Kämpf vertraute. Landgraf Friedrich III. Jacob war dagegen verwundert, dass Kämpf als Bote Staatsgeheimnisse übermitteln sollte.84 Nach seiner Rückkehr aus Russland wurde Kämpf zum Hofrat und Leibarzt des Erzbischofs von Mainz, Johann Friedrich Karl von Ostein, ernannt.85 Er durfte in Homburg wohnen bleiben, verpflichtete sich aber, regelmäßig nach Mainz zu reisen.86 Außerdem versuchte ein Gesandter des dänischen Königs, Kämpf als Leibarzt nach Kopenhagen zu holen. Während er im Ausland hoch angesehen war, bekam er in Homburg keinen Posten am Hof oder Titel angeboten. Erst Landgraf Friedrich IV., der 1746 die Regierungsgeschäfte übernahm, stellte ihn als Leibarzt und Landphysicus an.87 Nach der Bestallungsurkunde hatte Kämpf vor allem die Aufgabe, das Landgrafenpaar ärztlich zu betreuen sowie die Apotheken und die dort hergestellten Medikamente zu kontrollieren. Noch in dessen Todesstunde stand Kämpf dem Landgrafen zur Seite.88 Christa Habrich sieht Kämpf als Mittelpunkt des Homburger Kreises, zu dem neben Mitgliedern der Inspirationsgemeinde auch Radikalpietisten aus Homburg und Separatisten aus Frankfurt, Offenbach und Hanau gehörten. Deshalb hat sie Homburg als „Hochburg des frommen und laborierenden Hermetismus“ charakterisiert.89 Allerdings war Kämpf innerhalb der Separatisten nicht unumstritten, nachdem er mit dem landgräflichen Kammer83 Mittheilungen über den Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 99–126. 84 „Es ist wahr gnädiger Herr, daß allhier und sonst verschiedene Umbstände, bey ein und anderen Vorfalle sich geäußert, welche allerdings der Feder nicht anzuvertrauen sind und die viel solche dem alten Kaempf, durchgehends bekandt, habe ich geglaubt es würde Eu[er] Gnaden nicht unangenem seyn, solche mündlich von ihm zu erfahren, daher ich ihm bey seinem Abschied solche bey Eu[er] Gnaden auszurichten auf[getragen].“ Brief von Ludwig Gruno Prinz von Hessen-Homburg an Landgraf Friedrich III. Jacob, Moscau, 2. April 1744. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Bestand: Grossherzogliches Hausarchiv, D 11: Hessen-Homburg, Nr. 91/1. Bl. [2]rf. 85 Rüdiger : Johann Philipp Kaempf (wie Anm. 18), S. 89. 86 Mauchart: Auszüge aus der Lebensgeschichte (wie Anm. 7), S. 73. 87 Die Bestallungsurkunde für den „Leibmedicus“ und „Landphysicus“ wurde am 30. Januar 1747 ausgestellt. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Bestand: Grossherzogliches Hausarchiv, D 11: Hessen-Homburg, Nr. 102/4. 88 „während seiner Krankheit wollte dieser geneigte Fürst [Landgraf Friedrich IV. von HessenHomburg] fast beständig die Brüder Kämpf und Schlaf um und bei sich haben.“ Verstorben ist Landgraf Friedrich IV. am 7. Februar 1751 in Homburg vor der Höhe. Gottlieb Scheuner: Inspirations-Historie oder historischer Bericht von der Gründung der Gebets-Versammlungen und Gemeinden, wie solche vom Geist des Herrn durch die Inspirations-Werkzeuge anbefohlen von Eberhard Ludwig Gruber angefangen und eingeordnet worden, Amana 1884, hier S. 259. 89 Christa Habrich: Alchemie und Chemie in pietistischer Tradition. In: Kemper / Schneider: Goethe und der Pietismus (wie Anm. 75), S. 45–77, hier S. 74; Breymayer: Ein radikaler Pietist (wie Anm. 75), S. 192–196.
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schreiber Christoph Schütz einen heftigen Streit geführt hatte. Ein Brief Prueschenks von Lindenhofen belegt, dass dieser meinte, Schütz sei zu Unrecht beschuldigt worden: Wenn der vorgehabte Vergleich zu Homburg gut vonstatten gegangen [ist], erfreut mich solches umso mehr, daß der gute Schütz in ruhe gesetzt wurde. Doch weiß ich, er [Schütz] hat bereits lange gelernt, wie man dergleichen Unwahrheiten ertragen soll.90
Die Angelegenheit war deshalb so bedeutsam, da auch die Landgräfin Christiane Charlotte involviert war. „Ihre Durchl[aucht] die Fürstin, welche ein sehr weises Gemüt hat, wird dieses Gezänk und Gewäsch in eine ziemliche Konfusion setzen, doch kann sie es in ihrem Zutrauen gegen Schütz befestigen, da seine Unschuld offenbar bleibt.“91 Berühmt geworden ist das Urteil Johann Jacob Mosers, der Kämpf als „sehr große[n] Windbeutel und unverschämten Lügner“ bezeichnete.92 Als Beleg führt er folgende Geschichte an: Die verwitwete Frau Landgräfin Mutter93 fragte mich einst: Haben sie mit Kämpf gebetet? Ich antwortete: Nein, niemalen! Darauf sagte sie […] er [Kämpf] habe ihr erzählt, wir haben miteinander gebetet; als nun ich gebetet, habe er ein Flämmlein über meinem Kopf wahrgenommen.94
Der Arzt und Nachfolger Kämpfs als Leibarzt am landgräflichen Hof, Johann Jacob Ritter,95 beschreibt Kämpf als Kurpfuscher oder Quacksalber, der zwar ein großes medizinisches Wissen erworben habe, dieses aber auch mit anderen heilkundlichen Vorstellungen außerhalb der Wissenschaft vermische und geschickt vermarkte. Seine Suadam und grossen Geist, dem das sonst weitläufige Feld der Medizin noch zu klein war, mußte man indes bewundern, die feine Scharlatanerie aber, die er an sich blicken ließ, sollten alle Medici von seinem Schlag nachahmen.96 90 Brief von Karl Sigismund Prueschenk von Lindenhofen an Johann Christian Senckenberg, 7. April 1738. In: Michael Knieriem / Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit JesuGenossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2001, S. 175–177. 91 Ebd., S. 175. 92 Als Beleg liefert Moser zwei Geschichten und führt die damals verwitwete Landgräfin Christiane Charlotte und den Oberhofprediger Rexrath als Gewährsleute auf. August Schmid: Das Leben Johann Jakob Mosers. Aus einer Selbstbiographie, den Archiven und Familienpapieren, Stuttgart 1868, S. 204. 93 Landgräfin Christiane Charlotte von Hessen-Homburg (1690–1761). 94 Zitiert nach Schmid: Leben Johann Jakob Mosers (wie Anm. 92), S. 204. 95 Johann Jacob Ritter (1714–1784) wurde 1737 an der Universität in Basel promoviert und war von 1740–1743 Leibarzt des Landgrafen Friedrichs III. Jacob von Hessen-Homburg. 96 [Ritter :] Johann Jacob Ritter (wie Anm. 77), S. 142. Erstaunlicherweise erwähnt Ritter weder Kämpfs Behandlungsmethoden noch seine medizinische Schule.
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Im persönlichen Umgang muss Kämpf dagegen ein gewinnender Gesprächspartner und kenntnisreicher praktizierender Mediziner gewesen sein. Darüber hinaus war er ein hervorragender Pädagoge, wie der Erfolg seiner collegia practica belegt.
IV. Collegia practica In seiner Werbeschrift versprach Kämpf, daß nach meiner Lehrart ein junger Mensch gar leicht ein gründlich=gelehrter Medicus werden könne, und nicht erst nöthig habe vieles auf Reisen oder studiren auf Universitäten zu verwenden, da man offt viele Jahre mit mühsamen Observationen der Natur der Menschen und deren Artzeney-Mitteln mit der Erlernung der Anatomie, Chyrurgie, Phisiologie, Pathologie, Semiologie, Diaetetic, Therapiae und des übrigen unnützen Zeuges zubringen muß, und hingegen bey Mir in gar kurtzer Zeit Medicinam in nuce [kompakt konzentriert] lernen kann.97
Ein Teil seiner Lehrlinge und Schüler98 stammte aus Homburg oder der Umgebung, wie z. B. Karl Ludwig Kriechbaum oder Salomon Peyer,99 der seit 1742 in Homburg lebte; ein anderer Teil kam von auswärts, wie z. B. Emil David Koch100 aus Zweibrücken oder Johann Heinrich Ryhiner aus Basel. Die meisten Schüler hospitierten vor ihrem Medizinstudium bei Kämpf,101 andere hatten bereits mit dem Medizinstudium begonnen,102 wenige kamen als fertig ausgebildete Ärzte zu ihm.103 Der berühmteste Schüler war Friedrich Christoph Oetinger.104 Durch den Bericht in seiner Autobiographie wissen wir, dass der 97 Kämpf: Avertissement (wie Anm. 27), Bl. [2]r. 98 Kämpf benutzte die Bezeichnung „Lehrschüler“, sein Sohn schreibt über „Lehrlinge“ und „Schüler“. Ebd., Bl. [1]v ; Kämpf: Abhandlung (wie Anm. 29) S. 17, 24. 99 Salomon Payer war als Jugendlicher zusammen mit seinem Großvater nach Homburg gekommen. Zusammen mit dem jüngeren Sohn Kämpfs, Wilhelm Ludwig, studierte er zuerst in Straßburg und dann in Basel. Die Matrikel der Universität Basel. Hg. von Max Triet, Bd. 5. 1726/27–1817/18, Basel 1980, S. 221. 100 Vermutlich gehörte auch Johann Philipp Hackenbach aus Neuwied zu den Schülern Kämpfs. Gottlieb Scheuner überliefert für 1747, dass die drei Medizinstudenten Johann Philipp Hackenbach (Neuwied), Johannes Kämpf (Homburg) und Daniel A[emil] Koch (Cusel) in der Versammlung am 19.3. in Gelnhausen in Inspiration gekommen seien. Später wirkte Hackenbach in Berleburg. Scheuner: Inspirations-Historie (wie Anm. 88), S. 238; Habrich: Johann Samuel Carl (wie Anm. 1), S. 278. 101 Z.B. Salomo Peyer, Friedrich Christoph Oetinger und Wilhelm Ludwig Kämpf. 102 Z.B. Johann Heinrich Ryhiner. 103 Z.B. Johann Christian Senckenberg und Henning Nikolaus Johann Schlaaf. 104 In seiner Autobiographie gibt Oetinger an, dass er 34 Jahr bei Kämpf gewesen sei. Allerdings hat er davon 1737 etwa 4 Wochen am Stück in Homburg verbracht und vermutlich davor und danach Kämpf jeweils für kürzere Zeit besucht. Neben Kämpf lernte Oetinger hier auch die anderen ansässigen Separatisten kennen. Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 119–121. Breymayer : Neue Impulse (wie Anm. 78), S. 302. Breymayer: Vom
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Unterricht aus gemeinsamen Konsultationen von Patienten und der Besprechung „alter“ Krankheitsfälle bestand: (indem alle morgen um 8 Uhr eine Menge Krancke zu ihm kamen, da wir als seine Zuhörer die Indicationes formiren und von ihm hören musten, die Recepte darnach einzurichten seyen), sondern ich war sonst um anderer ursachen willen gerne bey ihm, indem er sehr viel Casus von aller Art in Bereitschaft hatte zu erzehlen.105
Junge Ärzte oder Medizinstudenten hatten im 18. Jahrhundert mehrere Möglichkeiten, sich die medizinische Praxis anzueignen. Häufig gingen sie nach Abschluss ihres Studiums zu einem erfahrenen Arzt und lernten dort die Praxis. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden dann an den Universitäten klinische Anstalten, in denen Studenten am Krankenbett unterrichtet wurden.106 Darüber hinaus gab es im pietistischen Umfeld Ärzte und Laienheiler, die den Kranken als Bruder ansahen, der in seinem Leiden begleitet und seelsorgerisch betreut werden sollte. Beispiele sind der Arzt Johann Samuel Carl oder der Laienheiler Gerhard Tersteegen. Insbesondere Carl setzte sich für eine christliche Erneuerung der Medizin ein, die durch „wiedergeborene“ Ärzte getragen werden sollte.107 Deshalb vermittelte er in seiner Schule nicht nur ein breites akademisches Wissen über Botanik, Anatomie, Chemie und Arzneimittellehre,108 sondern auch eine radikalpietistisch-christliche Ethik. So stellte er Verhaltensregeln für seine Ärztebruderschaft und gesundheitspolitische Ziele auf, forderte, dass die Ärzte „wiedergeboren“ und das ArztPatienten-Verhältnis durch die pietistisch-christliche Frömmigkeit getragen werden sollte. Auch in Kämpfs collegia practica mischten sich pietistische und medizinische Anliegen, wobei er sich auf die Vorstellungen der wahren Inspirationsgemeinde berief. Doch der große Unterschied zu den anderen genannten Ausbildungsstätten und auch zu Carl bestand darin, dass sich Kämpf ausdrücklich vom akademischen Studium abgrenzte, dieses sogar wegen der Vermittlung „unnützen Zeugs“ kritisierte. Dagegen versprach Kämpf, eine alternative „von Gott inspirierte“ Medizin und einzigartige Heilmethode zu unterrichten.109
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Weinsberger Dekan Friedrich Christoph Oetinger zu Justinus Kerner: Theosophische Traditionen. In: Justinus Kerner. Jubiläumsband zum 200. Geburtstag, Weinsberg 1990, S. 295–310. Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 123. Urs Boschung: Aufklärungsmedizin. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hg. von Werner E. Gerabek [u. a.], Berlin 2005, S. 117–121. Habrich: Johann Samuel Carl (wie Anm. 1); Christa Habrich: Heilkunde im Dienst der Seelsorge bei Gerhard Tersteegen. In: Gerhard Tersteegen – evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. von Manfred Kock. Köln 1997, S. 161–180. Nach Christa Habrich waren seine Schüler sowohl Mediziner mit abgeschlossenem Studium, die sich bei ihm auf die Praxis vorbereiteten, als auch angehende Studenten, die bei Carl eine Art Propädeutikum absolvierten. Für den Unterricht standen ihm ein Garten, ein eigenes Laboratorium und die Hofapotheke zur Verfügung. Habrich: Johann Samuel Carl (wie Anm. 1), S. 284 f. In welchem Umfang Kämpf neben der praktischen medizinischen Betreuung auch auf die
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Da über die Schüler Kämpfs noch wenig bekannt ist, sollen im Folgenden drei Schülergruppen vorgestellt werden. Zu den ersten Hospitanten gehörten neben Oetinger der Medizinstudent Gerhard Andreas Müller110 sowie die beiden Ärzte Henning Nikolaus Johannes Schlaaf111 und Johann Christian Senckenberg.112 Noch vor Kämpfs Umzug nach Homburg hatte Senckenberg Kontakt zu ihm aufgenommen. Kämpfs ältester erhaltener Brief datiert vom 3. 1. 1736. Seit er in Homburg wohnte, besuchte ihn Senckenberg häufig, ließ sich von ihm unterrichten und beraten. Davon zeugen verschiedene Manuskripte im Senckenbergischen Archiv.113 Insbesondere bei der medizinischen Betreuung des Hofrats Heinrich Ludwig von Reineck und dessen Familie sowie der Familie Brückner unterstützte Kämpf den jungen Arzt.114 Dieser enge Kontakt scheint
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seelsorgerische Begleitung der Patienten einging und darüber hinaus auch in die Sonderlehren der wahren Inspirationsgemeinde einführte, ist anhand der erhaltenen Quellen nicht zu klären. Von einigen Schülern ist bekannt, dass sie zeitweilig Mitglieder der wahren Inspirationsgemeinde gewesen sind. Kämpf hatte Gerhard Andreas Müller (1718–1762) bereits in Bühl kennengelernt. Johann Georg Meusel erwähnt Müllers Aufenthalt in Homburg: „reisete hierauf nach Homburg, um sich durch den praktischen Unterricht des dortigen Leibarztes zu vervollkommnen.“ Mauchart: Auszüge aus der Lebensgeschichte (wie Anm. 7), S. 47; Johann Georg Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Schriftsteller, Bd. 9, Leipzig 1809, S. 384–386; W. Heß: Gerhard Andreas Müller. In: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 22, Leipzig 1885, S. 546 f. Henning Nikolaus Johann Schlaaf besuchte das Gymnasium in Zweibrücken und verfasste als Schüler eine Arbeit über die Burg Trifels. Im Anschluss nahm er in Halle ein Medizinstudium auf und promovierte 1737 bei dem Stahl-Schüler Johann Juncker. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt leitete er den Umzug der zweiten Gruppe der Inspirierten nach Homburg. Es ist davon auszugehen, dass er danach bei Kämpf hospitierte. Schlaaf war ein angesehener Arzt, der sowohl innerhalb der Inspirationsgemeinde als auch in Homburg praktizierte. Henning Nikolaus Johann Schlaaf: Oratio de celeberrimo quodam nobilissimoque imperii castro Trifels habita et recitata […] an. 1725 cum gymnasii Bipontini perageretur, Biponti: Nicolai 1726; Johann Juncker / Henning Nikolaus Johann Schlaaf: Dissertatio inauguralis chemico-medica de fermentatione putredinosa seu putrefactione, Halle 1737; Scheuner: Inspirations-Historie (wie Anm. 88), S. 227, 259. Bauer: Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 65), S. 85; de Bary : Johann Christian Senckenberg (wie Anm. 65), S. 101 f. In der Doppelbiographie über die Brüder Senckenberg von G.L. Kriegk wird Kämpf nicht erwähnt. G.L. Kriegk: Die Brüder Senckenberg. Eine biographische Darstellung nebst einem Anhang über Goethe’s Jugendzeit in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1869. Im Senckenberg-Archiv liegen Aufzeichnungen mit dem Titel „Medicamenta Kaempfiana et methodus“ sowie ein Heft mit Notizen über Kämpf in Tagebuchform bis 1739. SenckenbergArchiv Frankfurt am Main, M 66. Consilium pro Reineck 1736. Senckenberg-Archiv Frankfurt am Main, M 65; Briefwechsel zwischen Johann Philipp Kämpf und Johann Christian Senckenberg die Familie Reineck betreffend. Senckenberg-Archiv Frankfurt am Main, M 140; Abschrift der von Dr. Kämpfs ärztlichem Tagebuch die Familie Brückner betreffend 1737–1739. Senckenberg-Archiv Frankfurt am Main, M 65.
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1739 mit der Berufung Senckenbergs zum Leibarzt des Landgrafen abgebrochen zu sein.115 Eine zweite Gruppe von Schülern, zu denen Karl Ludwig Kriechbaum, Johann Georg Schmidt, der ältere Kämpf-Sohn Johann und Daniel Emil Koch zählten, übernahm die Erfahrungen aus der Homburger Hospitanz mit in ihr Medizinstudium. Aus ihrem Kreis entstanden eine Reihe von Dissertationen über die Lehre des sogenannten Infarktus und die Heilklistiere. Als erster wurde Kriechbaum116 1745 an der Universität in Gießen promoviert, dann folgten 1750 Schmidt117 und der Sohn Kämpfs, Johann,118 1751 an der Universität in Basel und schließlich 1752 Koch119 an der Universität in Straßburg. Wilhelm Ludwig Kämpf, der zweite Sohn von Kämpf, und Johann Samuel Peyer gehörten der dritten Schülergeneration an.120 Wie die Familie Kämpf war auch die Familie Peyer aus Glaubensgründen nach Homburg emigriert. Beide lernten bei Kämpf die medizinische Praxis, begannen ihr Studium 1754 in Straßburg und wechselten 1756 zusammen nach Basel.121 Obwohl Peyers Dissertation über die Krankheiten der Nase erst nach dem Tode Kämpfs erschienen ist, ist sie dennoch ein Beleg dafür, wie eng Peyer mit der Familie Kämpf verbunden war, denn er widmete sie dem verehrten Lehrer, Johann Kämpf: 115 Im Vorfeld konnten die zahlreichen Quellen im Senckenberg-Archiv nur gesichtet, aber nicht umfassend ausgewertet werden. Somit bleibt die Beziehung zwischen Kämpf und Senckenberg ein erfolgversprechendes Forschungsdesiderat. Dölemeyer: Bier und Wein (wie Anm. 79), S. 64. 116 Karl Ludwig Kriechbaum: Dissertationem [sic] inauguralem [sic] de curatione febrium intermittentium simplicium, omissis plane emeticis, purgantibus, laxantibus, nec non febrifugis, Gießen 1745. 117 Johann Georg Schmidt: De concrementis uteri, Lausanne 1758. Dabei handelt es sich um einen Nachdruck der Basler Dissertation von 1750, in: Disputationes ad morborum historiam et curationem facientes. Hg. von Albecht von Haller, Bd. 4, Lausanne 1758, S. 731–750. Das Original ist nicht nachweisbar. 118 Johann Kämpff: De infarctu vasorum ventriculi, Basel 1751; Matrikel der Universität Basel (wie Anm. 99), S. 194. 119 Daniel Emil Koch: Dissertatio inauguralis medica de infarctibus vasorum in infimo ventre, seu caussa plurium pathematum chronicorum, speciatim eorum, quae sub mali hypochondriaci nomine veniunt, Straßburg 1752. 120 Wilhelm Ludwig Kämpf war seit 1757 Hofrat und Leibarzt in Neuwied. 1766 heiratete er Eleonore Magdalena Koch, der Goethe ein komisches Epigramm ins Stammbuch schrieb. Kämpf erfand eine Dampfklistiermaschine und verfasste ein Buch über Geburtshilfe für Hebammen, das 1777 im Druck erschien. Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3), S. 36; Wilhelm Ludwig Kämpf: Denkbuch für die Hebammen, 1777; Wilhelm Ludwig Kämpf: Dissertatio de morbis ex atrophia, Basel 1756; Rüdiger : Johann Philipp Kaempf (wie Anm. 18), S. 93 f.; Hans-Jürgen Schrader: „Unleugbare Sympathien“. Roentgen-Schreibtische, Magnetismus und Politik in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. In: Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Johannes Anderegg zum 65. Geburtstag. Hg. von Andreas Härter, Edith Anna Kunz und Heiner Weidmann, Göttingen 2003, S. 41–68. 121 Matrikel der Universität Basel (wie Anm. 99), S. 221.
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viro pernobili experimentissimo atque clarissimo domino Johanni Kaempf medicinae doctori celeberrimo, serenissimi principis Hasso-Homburgiensis archiatro praefecturae et civitatis Homburgiensis physico ordinario praeceptori suo atque fautori omni honoris amoris cultu ad cineres usque prosequendo.122
Das Beispiel von Johann Heinrich Ryhiner123 zeigt, wie unter den Schülern Freundschaften geschlossen wurden. 1750 kam der Medizinstudent Ryhiner aus Basel nach Homburg und lernte die gleichaltrigen Peyer und Wilhelm Ludwig Kämpf kennen. Spätestens 1756 trafen sich die drei in Basel wieder. Peyer und Kämpf setzten hier ihr Studium fort, während Ryhiner schon unterrichtete.124 Das enge Verhältnis der drei zeigt sich in der gedruckten Dissertation Peyers, zu der die Freunde Kämpf und Ryhiner jeweils ein Gedicht beisteuerten.125 Über seine Schüler hinaus hat Kämpf auch mit anderen Ärzten korrespondiert und Rezepte für Arzneien empfohlen. Als Beispiel sei Johann Philipp Berchelmann genannt. Er schreibt: Von dem seiner Zeit sehr berühmten Leibarzt des Höchstseligen Landgrafen Friedrich Jacob zu Hessen-Homburg, Kämpf, habe [ich] bereits vor länger als vierzig Jahren eine Abschrift von seinen sogenanten alterirenden Pillen erhalten, diese waren zusammengesetzt von dem versüßten Quecksilber, Goldschwefel des Spiesglases, Polychrestpillen und dem Quajac-Harz [sic] mit der Agstein-Essenz zu Pillen gemacht.126
V. Außerhalb aller akademischen Gelehrsamkeit: die medizinische Inspiration Zu seiner Lehre der sogenannten Infarktus und zur Behandlung mit Heilklistieren, über seine Behandlung der Tollwut und seine Temperamentlehre hat Kämpf, wie schon erwähnt, nichts veröffentlicht. Nur durch die Anleitung von Schülern, mündliche Unterweisungen und briefliche Ratschläge gab er seine 122 Salomon Peyer : De morbis narium dissertatio medica, Basel 1756. 123 Nach ihren Promotionen praktizierten Johann Christian Senckenberg und Johann Heinrich Ryhiner bei Kämpf. Johann Heinrich Ryhiner (1732–1802) immatrikulierte sich 1750 an der Universität Basel für Medizin, im selben Jahr reiste er nach Homburg und war bis 1752 ein Schüler Kämpfs. Danach wechselte er an die Universität in Straßburg und wurde 1754 promoviert. Seit 1760 war er Dozent an der medizinischen Fakultät und Professor für Ethik sowie des Natur- und Völkerrechts, 1772 übernahm er die Stelle des zweiten ordentlichen Bibliothekars der Universität und wurde 1792 zum Universitätsrektor ernannt. Vgl. dazu: http:// www.unigeschichte.unibas.ch/materialien/rektoren/johann-heinrich-ryhiner.html. 124 Bereits 1754 war Ryhiner mit einer Arbeit über das Wechselfieber promoviert worden. Johann Heinrich Ryhiner: De hemitritaeo sive febre semitertiana, Basel 1754. 125 Peyer : De morbis narium (wie Anm. 122), S. 43 f. 126 Berchelmann: Fragmente (wie Anm. 77), S. 60 f.
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Lehren und Methoden weiter. In verschiedenen Dissertationen verbreiteten seine Schüler einige Aspekte aus Kämpfs Theorien und regten eine Diskussion an den Universitäten an. Die ersten Schriften in deutscher Sprache erschienen erst nach dem Tode Kämpfs. Als Beispiele seien hier die Kurze Abhandlung von den Temperamenten127 oder Beschreibung und Entdeckung eines so einfachen als untrüglichen Mittels wider die traurige Wirkungen der Bisse wüthender Thiere genannt.128 Das wichtigste Werk ist die bereits erwähnte Abhandlung seines Sohnes Johann Kämpf.129 In der Einleitung stellt sich Johann Kämpf in die Nachfolge seines Vaters. Er verstand sich selbst als „Sohn des großen Arztes“.130 Wir können davon ausgehen, dass die Theorie des sogenannten Infarktus bereits vom Vater entwickelt worden war. Johann Kämpf formulierte sie dann für seine Dissertation aus und überarbeitete sie für die Abhandlung. Die Behandlungsmethode mit den Heilklistieren geht ebenfalls auf den Vater zurück. Der Sohn wandte sie in seiner medizinischen Praxis an und sammelte selbst Erfahrungen damit. Dieser Befund bestätigt sich durch die angehängten Krankengeschichten, die vor allem Patientengeschichten des Sohnes wiedergeben.131 Es stellt sich die Frage, warum Kämpf seine medizinischen Erkenntnisse nicht selbst in Publikationen vorstellte. An der Universität hatte er eine Ma127 [Johann Philipp] Kaempf: Kurze Abhandlung von den Temperamenten. Hg. von Salomon Peyer, Schaffhausen – Frankfurt [1760]. 128 Zuerst verteidigte Kämpfs Neffe Carl Ludwig Bruch an der Universität Straßburg eine Dissertation über Gauchheil als pflanzliches Heilmittel. Vier bzw. acht Jahre später legten Salomon Peyer und Johann Kämpf jeweils eine Veröffentlichung über die Tollwut vor. Salomon Peyer: Beschreibung und Entdeckung eines so einfachen als untrüglichen Mittels wider die traurige Wirkungen der Bisse wüthender Thiere für Menschen und aller Gattung Viehe, o.O. 1762; Johannes Kämpf: Practischer Unterricht wie dem Wasser-Abscheu, oder der tollen HundsWuth vorzubeugen, und Einhalt zu thun sey, und wie denen davon beschädigten Menschen, sowohl als Thieren, auf eine zuverläßige Art geholfen werden möge / bey Gelegenheit des bey gegenwärtiger Zeit sich stark geäusserten Unglücks, entworffen, Frankfurt 1766. 129 Kämpf: Abhandlung von einer neuen Methode (wie Anm. 27). 130 Das Stammbuch Friedrich von Matthissons. Transkription und Kommentar. Hg. von Erich Wege, Göttingen 2007, S. 68, Eintrag Nr. 56. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Zweibrücken studierte Johann Kämpf in Straßburg und Basel, promovierte 1751 und wurde 1753 als Nachfolger seines Vaters zum Leibarzt des Landgrafenfamilie von Hessen-Homburg berufen. 1769 zog er nach Dietz, wurde zum Oranischen Hofrat ernannt und praktizierte als Allgemein- sowie Badearzt in Ems. In dieser Funktion behandelte er auch Johann Wolfgang Goethe und Johann Caspar Lavater, die am 29. 6. 1774 in Ems ankamen. Über die ärztlichen Visiten hinaus trafen Johann und sein Bruder Wilhelm Ludwig die beiden häufig, führten religiöse Gespräche und unternahmen gemeinsame Wanderungen. 1778 ging Johann Kämpf als Leibarzt des Erbprinzen Wilhelm von Hessen-Kassel nach Hanau und kehrte 1787 nach Homburg zurück. Er war mit Margu8rite Isabelle Jung verheiratet, seine Söhne waren Jakob Wilhelm und Friedrich Gustav Kaempf. Rüdiger : Johann Philipp Kaempf (wie Anm. 18), S. 89–93; August Hirsch: Johann Kämpf. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 15, Berlin 1882, S. 60; Schrader : „Unleugbare Sympathien“ (wie Anm. 120) S. 60 f., 64. 131 Krankheitsfälle des Vaters (Johann Philipp Kämpf) vgl. Kämpf: Abhandlung von einer neuen Methode (wie Anm. 27), Nr. 19, S. 436–437, Nr. 35, S. 467–469, Nr. 48, S. 497–498, Nr. 52, S. 503–505, im Anhang werden Berichte von Patienten und einem Herrn Thilenius abgedruckt.
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gisterarbeit sowie eine theologische Dissertation angefertigt, dann eine pietistische Streitschrift veröffentlicht und die Rechtfertigungsschrift für die Inspirierten ausgearbeitet.132 Eine Bemerkung über sein Schweigen liefert uns Carl Casimir von Creutz: Ich habe einen Arzt gekannt, der ein Mann von tiefer Einsicht und Erfahrung und zugleich bei den Grossen dieser Welt sehr beliebt gewesen. Er wolte sich nicht entschliessen, etwas zu schreiben, ob er gleich nicht nur in seiner Wissenschaft hätte glänzen, sondern auch es gewissen Andern in Staats-Anecdoten hervorthun können. Er pflegte zu sagen es gelte so viel, als ein Feldzug gegen die Türken, wenn ein Schriftsteller alle Angriffe mutig aushielte, und sich tapfer verteidigte.133
Nach diesem Ausspruch könnte man meinen, Kämpf habe die Auseinandersetzung mit Kollegen gescheut. Dies ist überzeugend, wenn man bedenkt, dass er als Laienheiler in einem medizinischen Disput unter Ärzten nicht als gleichwertiger Diskutant anerkannt worden wäre. Aus diesem Grund übernahmen es seine Schüler, die Medizin studiert hatten, seine medizinischen Vorstellungen zu veröffentlichen bzw. über Dissertationen in den medizinischen Diskurs einzubringen. Keineswegs kann man daraus ein Minderwertigkeitsgefühl Kämpfs gegenüber der gelehrten Ärzteschaft ablesen. In seiner Werbeschrift vergleicht er seine Behandlungsmethode mit der Vorstellung der göttlichen Inspiration der wahren Inspirationsgemeinde.134 Wie die Inspirationslehre die Theologie reformieren werde, sei seine Klistierkunst der einzige Weg, in der Medizin geschwind voranzukommen. Den Erfolg seiner Behandlungsmethoden führte er letztendlich auf das Wirken Gottes zurück, das nicht wissenschaftlich oder publizistisch begründet zu werden brauche.
132 Johann Caspar Khun / Johann Philipp Kämpf: Positiones ex descriptione diliuvii, ap. Ovid. Lib. I. Metamorph. Excerptae, Argentorati 1709; Johann Heinrich Barth / Johann Philipp Kämpf: B.D. Martini Lutheri Methodus Studii Theologici, Argentorati 1712; [Johann Philipp Kämpf:] Glaubensgrund und Verantwortung einiger zum christlich-brüderlich-gemeinschaftlichen Gebet und Ausübung der Gottseeligkeit verbundenen Seelen. In: Aufrichtige und wahrhaftige Extracta aus dem allgemeinen Diario der wahren Inspirations-Gemeinen. 8, [Berleburg] 1742, S. 1–80; [Johann Philipp Kämpf]: Glaubensbekenntnis der lutherischen Separatisten vom 3. 9. 1734 an Herzog Christian III. von Pfalz-Zweibrücken [ungedruckt], vgl. dazu: Johann Jakob Hamm: Die Gemeinschaftsbewegung in der Pfalz. Ein Beitrag zu der Geschichte des Pietismus [Kaiserslautern 1928], S. 75; [Johann Philipp Kämpf]: Glaubensbekenntnis der reformierten Separatisten vom 3. 9. 1734 an Herzog Christian III. von Pfalz-Zweibrücken [ungedruckt] vgl. dazu: ebd. 133 Friedrich Carl Casimir von Creutz: Oden und andere Gedichte auch kleine prosaische Aufsätze, 2. Aufl., Bd. 1, Frankfurt 1769, S. 271 f. 134 Kämpf: Avertissement (wie Anm. 27), Bl. [2]r.
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VI. Kämpf und die wahre Inspirationsgemeinde Kennzeichnend für die wahre Inspirationsgemeinde sind die sogenannten Aussprachen.135 Die vom Heiligen Geist ergriffenen Werkzeuge fielen in einen Trancezustand, ihre Körper wurden durch Krämpfe geschüttelt und dann begannen sie, langsam zu sprechen. Die Reden wurden von Schreibern aufgezeichnet und veröffentlicht. Damit entstand eine Art Schriftprophetie, die ergänzend bzw. auslegend neben die Bibel trat. In zahlreichen Aussprachen wurden weltliche und geistliche Obrigkeiten oder einzelne Personen wegen ihres gottlosen Verhaltens kritisiert und zur Buße aufgefordert. Das wichtigste Werkzeug und der spätere Leiter der Gemeinschaft war der Sattler Johann Friedrich Rock. Durch die tolerante Religionspolitik der Grafen von Isenburg angezogen, siedelten sich die meisten Inspirierten in der Wetterau an. Eberhard Ludwig Gruber leitete die Gruppe ab 1715 und überführte sie in eine kirchenähnlich strukturierte Sekte. Auf der untersten Ebene war die Inspirationsgemeinde in Filialgemeinden organisiert, die auch außerhalb der Grafschaft IsenburgBüdingen, in Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Sayn-Wittgenstein-Wittgenstein sowie an einzelnen Orten, z. B. in Homburg, bestanden. Durch regelmäßige Besuche der Brüder und der Werkzeuge sowie Leitungskonferenzen wurden die Gemeinden zusammengehalten. Nachdem Kämpf in Zweibrücken die Versammlung der Inspirierten organisiert und eine Verteidigungsschrift verfasst hatte, baute er auch in Homburg eine Filialgemeinde auf. Bereits 1737 hatte er eine kleine Gemeinde um sich versammelt und wurde per Los als deren Leiter ausgewählt.136 Die erste Aussprache in Homburg hielt Rock am 28. April 1737 und verkündete, dass Kämpf „ein Gefäß der Gnade in dem HErrn werden solle“.137 Durch die tolerante Religionspolitik Friedrichs III. Jacob konnten in den nächsten Jahren weitere Anhänger der wahren Inspirationsgemeinde nach Homburg emigrieren: 1738 zogen weitere Familien aus Zweibrücken unter der Leitung des Arztes Dr. Henning Nikolaus Johannes Schlaaf in die Landgrafschaft. Im selben Jahr siedelten sich der Baron von Stein und seine Frau hier an.138 Aus Schaffhausen ließ sich 1742 die Familie Peyer in Homburg nieder.139 135 Zu den Ursprüngen der Inspirationsgemeinden vgl: Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 37), S. 107–197, hier S. 146 f.; Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297). 136 Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 122. 137 Scheuner: Inspirations-Historie (wie Anm. 88), S. 203. 138 Ebd., S. 205. 139 Salomon Peyer (1672–1749) war Pfarrer, der in Hemmerthal und Schleitheim wirkte, bis er 1708 zum Frühprediger im Münster von Schaffhausen ernannt wurde. Bald schloss er sich den Pietisten um Johann Georg Hurter (1670–1721) an, der 1709 nach dem Halleschen Vorbild ein
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Kämpf hatte eine besondere Gabe, andere für die Inspirationsgemeinde zu begeistern, und missionierte unter seinen Schülern und den Homburger Bürgern. Während sich Oetinger nicht überzeugen ließ, bekannten sich Ryhiner und Kriechbaum zur Inspirationslehre.140 Von den Homburger Bürgern traten Friedrich Karl Kasimir von Creutz, Johann Wilhelm Baum, Maria Elisabetha Arnold sowie die Herren von Passern und Offeney der Gemeinde bei.141 Um die Mitte des Jahrhunderts gehörten ca. 60 Personen zu den Inspirierten.142 Die regelmäßigen Versammlungen fanden in dem Haus von Kämpf oder von Creutz statt. Kämpf, der durch seine Erfahrungen als Pfarrer dazu besonders prädestiniert war, leitete diese Zusammenkünfte und las die Bibeltexte.143 Darüber hinaus warb er innerhalb der religiösen Separatisten im Umland. So kam z. B. 1749 eine Gruppe aus Usingen, die Kämpf und andere vornehme Leute zum Essen einluden und von der Inspirationslehre überzeugten. Daraufhin gründete Andreas Lauer eine Filialgemeinde in Usingen, die allerdings nur bis 1751 bestand.144 Trotz seines Engagements in der Inspirationsgemeinde war das Verhältnis – insbesondere zu Johann Friedrich Rock – ambivalent. Nachdem die Inspirierten intensiv um den lutherischen Pfarrer Kämpf geworben hatten, war er schließlich Leiter der Gemeinde in Homburg geworden.145 Nun nahm Rock an, dass Kämpf für alle Zeit in Homburg bliebe. Er scheint es ihm übelgenommen
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Waisenhaus gegründet hatte. Sie hielten regelmäßige Erbauungsstunden ab, die nach der Absetzung der zwei Pfarrer und vier weiterer Kandidaten im Hause Peyer stattfanden. Rudolf Dellsperger: Der Pietismus in der Schweiz. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 37), S. 588–616, hier S. 599; Eduard Emil Koch: Geschichte des Kirchenlieds und des Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche. 3. Aufl., Bd. 3, Stuttgart 1869, S. 85. Ryhiner hatte sich vor dem Oberhofprediger Roques zu den Inspirierten bekannt. Rüdiger: Johann Philipp Kaempf (wie Anm. 18), S. 87. Kriechbaum wird neben Kämpf, Schlaaf, Peyer und Nagel als Nachschreiber für eine Aussprache Rocks genannt. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 133), S. 51. Rüdiger : Johann Philipp Kaempf (Anm. 18), S. 87. Auch um die Sympathisanten der Herrnhuter Brüdergemeine bemühte er sich, wie Oetinger überliefert. Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken (wie Anm. 2), S. 123. Rüdiger : Johann Philipp Kaempf (Anm. 18), S. 87. Der Frankfurter Kaufmann Johann Felician Clarus berichtet ausführlich über die Versammlung am 27. 6. 1754 im Hause Kämpf in Homburg. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 135), S. 60 f. Karl Gottfried Goebel: Johann Christian Lange (1669–1756). Seine Stellung zwischen Pietismus und Aufklärung, Darmstadt 2004 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 9). Am 2. 11. 1716 hielt Johann Adam Gruber eine Aussprache im Namen Gottes an den Fleckensteiner Hofprediger Kämpf in Bühl: „So sey nun wacker und fleissig, das ich die Kraft meiner Rechten dir erzeigen könne, und du ein treuer Jünger und redlicher Kämpfer deines Blut- und Bundesfürsten werdest“. 1729 warnte Rock: „Siehe zu, dass du nicht zu spät kommest und deine beste Zeit verschlafest. Wahrlich! Der Wecker wird wie ein schneller Blitz kommen.“ Koch: Der Pietismus im Herzogtum (wie Anm. 15), S. 126 f., 130.
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zu haben, dass er immer wieder für längere Zeit Homburg und die Gemeinde verließ. Obwohl man der Reise nach Russland zustimmte, überliefert die Inspirationsgeschichte diese sowie seine Verpflichtungen als Leibarzt des Mainzer Erzbischofs als Untreue gegenüber der Gemeinde, die Kämpf aber später durch Reue wieder gut gemacht habe.146 Auffällig ist außerdem, dass Rock den Arzt in seinem Tagebuch nicht namentlich nennt.147 Wie Hans-Jürgen Schrader herausgearbeitet hat, ist dieses Tagebuch vor allem auf das Innere gerichtet, äußere Ereignisse, Begegnungen und auch Aussprachen werden nur insoweit erwähnt, als sie sich auf den Seelen- und Gemütszustand Rocks ausgewirkt haben. Als über die Frage, ob Kämpf als königlicher Leibarzt nach Kopenhagen gehen sollte, entschieden werden musste, schrieb Rock: Den 25. Oktober [1745] trete ich in mein 68. Jahr. Und eben an dem Tag muß ich um der dänischen Sache willen nach Homburg, und mußte mich deßhalb in Lebensgefahr begeben, bin auch schier todtkrank nach Haus gekommen.148
Die Verärgerung des Propheten darüber, dass er an seinem Geburtstag und krank nach Homburg reisen musste, ist verständlich, dennoch ist es merkwürdig, dass Kämpf nicht genannt wird. Das schwierige Verhältnis der beiden spiegelt sich auch in der Inspirations-Historie wieder. Dort werden die häufigen Besuche der Brüder bei Kämpf dokumentiert, aber nur einmal wird eine Reise für die Gemeinde erwähnt.149 Erst nach dem Tod Rocks gehörte Kämpf zum engeren Führungszirkel und unternahm Missionsreisen und Besuche bei anderen Gemeinden.150
VII. Ein inspirierter Laienheiler? Da Kämpf kein Medizinstudium absolviert und auch keinen medizinischen Doktortitel erlangt hat, gehört er zu der Gruppe der Laienheiler. Dennoch konnte er durch seine collegia practica, in denen er vor allem Medizinstudenten in die medizinische Praxis einführte, seine Vorstellungen über den 146 Mittheilungen über den Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 99–128. 147 Hans-Jürgen Schrader : Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. von Alfred Messerli und Roger Chartier, Basel 2000, S. 351–382, hier: S. 370. 148 Johann Friedrich Rock: Erniedrigungslauf eines Sünders auf Erden in und durch Gnade oder Tagebuch von Johann Friedrich Rock, worin er die mancherlei und täglichen Gnaden- und Geistes-Wirkungen Gottes in den Jahren seiner Inspirations-Führung, von 1715 bis 1746 zu Haus und auf Reisen an seiner Seelen erfahren, beschrieben hat, Amana 1886, S. 828. 149 Besuche der Brüder bei Kämpf, z. B. Scheuner: Inspirations-Historie (wie Anm. 88), S. 203, 205, 207. Am 6. 7. 1746 wurde Bruder Kämpf zum Mitreisen ins Wittgensteinische bestimmt. Ebd., S. 234. 150 Ebd., S. 252.
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sogenannten Infarktus vermitteln und damit eine Gruppe von Ärzten prägen. Die aus diesem Kreis entstandenen Dissertationen und Schriften regten den medizinischen Diskurs an. Eine besondere Rolle spielte dabei die Abhandlung von Johann Kämpf, die bis 1821 in sieben verschiedenen Ausgaben, Auflagen und Nachdrucken sowie in einer Übersetzung ins Niederländische immer wieder aufgelegt wurde.151 Im Krünitz152 und in der medizinischen Fachliteratur wurde das Klistier als Stichwort aufgenommen und dessen Nutzen in Dissertationen sowie in Streitschriften diskutiert.153 Mit der Dampfklistiermaschine stellten 1779 Johann und sein Bruder Wilhelm Ludwig Kämpf ein Gerät vor, das die moralischen Bedenken gegen eine Behandlungsmethode mit Klistieren entkräften sollte.154 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war das Kämpfsche Heilklistier ein anerkanntes Heilmittel. In der psychiatrischen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde es immer wieder gegen anfalls- und krampfartige Leiden empfohlen.155 Johann Philipp Kämpf hat sich – wie zeitweilig auch der Arzt Johann Sa151 Die für Ärzte und Kranke bestimmte Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen erschien 1784 zum ersten Mal in Dresden in der Buchhandlung der Gelehrten, 1785 wurde sie bei Weidmann in Frankfurt herausgegeben und 1786 in einer zweiten Auflage verbreitet. Ein Nachdruck dieser Ausgabe erschien 1787 nur mit den Erscheinungsorten Frankfurt und Leipzig, aber ohne Verlagsangabe. 1788 brachte G.W.C. Müller eine bearbeitete Ausgabe für medizinische Laien ebenfalls bei Weidmann heraus. Diese Ausgabe übersetzten E.J. Thomassen und A. Theussink 1790 ins Niederländische. 1788 wurde das Werk bei Gengel in Frankenthal und bei Trattner in Wien nachgedruckt. Einen Auszug „besonders zum Gebrauche oberteutscher Landwundärzte“ erschien 1790 bei Wolff in Augsburg. 1821 gab Weidmann die 2. Auflage von 1786 zum zweiten Mal heraus. 152 Klystier. In: Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie oder Allgemeines System der Staats- Haus- und Land-Wirthschaft und der Kunst-Geschichte in alphabetischer Ordnung, Bd. 41, 2. Aufl., Berlin 1792, S. 60–131. Über Johann Philipp und Johann Kämpf und ihre Klistiere: S. 64, 67–77. 153 Die erste Rezension der Abhandlung erschien 1785 in der Neuen Leipziger Gelehrten-Zeitung. Bereits 1780 empfahl Philipp Jacob Piderit die Klistiere als Heilmittel gegen Nervenkrankheiten. Kritisch wurden sie in einer anonymen Schrift und in dem Buch von Christian Friedrich Michaelis und Michael Ettmüller beurteilt. Kurt Sprengel kritisiert in seiner Darstellung die Ausschließlichkeit, mit der Kämpf alle Krankheiten mit Klistieren behandelt hat. Philipp Jacob Piderit: Pharmacia rationalis. Eruditorum Examini Subiecta A Societate Quadam Medica, Kassel 1780, S. 255 f., Neue Leipziger Gelehrten-Zeitung 1785, S. 446. Zitiert nach Rüdiger: Johann Philipp Kaempf (wie Anm. 18), S. 90; [Michael Ettmüller]: Etwas über den allgemein beliebten Gebrauch der kämpfischen Viszeralklistiere, und ihren vorgeblichen Nutzen, als Stof zu Ueberlegung der Aerzte und aller Klistierfreunde, o.O. 1792; Christian Friedrich Michaelis: Schaden und Missbrauch der Klystiere. Ein Gegenstück zu des Herrn Leibarzt Kämpf ’s Abhandlungen für Ärzte und Kranke durch eine neue Methode die hartnäckigsten Krankheiten des Unterleibes, besonders der Hypochondrie sicher und gründlich zu heilen, reiflich erwogen von einem praktischen Arzt, Leipzig 1789; Kurt Sprengel: Kritische Übersicht des Zustandes der Arzneykunde in dem letzten Jahrzehend, Halle 1801, S. 39 f. 154 Das Dampfklistier wurde 1779 im Neuen Magazin für Aerzte vorgestellt. Ernst Gottfried Baldinger: Neues Magazin für Aerzte, Bd. 1 (1779), S. 7–10. 155 Franz Peter Riederer / Franz Laux: Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie. Ein Therapienhandbuch, Wien 2010, S. 14.
Zum Wirken des inspirierten Mediziners Johann Philipp Kämpf
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muel Carl – zur Inspirationsgemeinde bekannt und seine Medizin als inspiriert bezeichnet. Daher stellt sich die Frage, in welcher Beziehung seine Behandlungsmethoden zur Inspirationslehre stehen. Um dies beantworten zu können, soll hier kurz auf das Verhältnis der Inspirierten zum Körper eingegangen werden. In der Inspirationslehre fand der Leib keine besondere Beachtung.156 Während der Ekstasen nahm der Heilige Geist vom ganzen Körper Besitz. Körperliche Verrenkungen, Augenrollen sowie unkontrollierte Bewegungen von Mund und Unterkiefer wurden als Zeichen der göttlichen Inspiration angesehen.157 Insbesondere in den Phasen der Ekstasen musste der Körper dem Geist gehorchen, auch wenn die heftigen Bewegungen der Gesundheit schadeten. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Köper war nicht auf das Diesseits beschränkt, denn die Inspirierten glaubten nicht an eine leibliche Auferstehung.158 Dieser Ansicht folgte Kämpf nicht. Seine Vorstellung entsprach eher den Gedanken Carls, nach denen „der Leib in Ehren also gehalten werden [sol], damit der Geist ihn lange, als sein Kleid und Werkzeug gebrauchen könne.“159 Carl folgerte daraus: wenn Gott selbst sein Geschöpf erhalten wolle, werde der Medizin ein göttlicher Auftrag zuteil.160 Man kann ergänzen, der Mediziner werde ein Werkzeug Gottes. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt, von einer göttlich inspirierten Medizin oder medizinischer Inspirationskunst zu sprechen. Wer andre heilen will/ muß selbst sich heilen lassen/ Und GOtt den höchsten Arzt in Lieb und Glauben fassen: Sonst ist die Heilungs=Kunst ein sehr gewagtes Spiel; Weil alle Cur ja GOtt zum Grunde haben will. O Artzt / der du den Grund des Elends in uns kennst / Und dich von Ewigkeit nur lauter Liebe nennst / Tingire du uns noch mit göttlicher Tinctur / Und heile durch und durch Natur und Creatur!161
Diese Strophen des Gedichtes von Johann Samuel Carl geben auch Kämpfs Selbstverständnis wider. So sah sich Kämpf als Wiedergeborener, der seine medizinischen Kenntnisse durch das Wirken des Heiligen Geistes erlangt hatte, seine Tätigkeit als Heiler in den Dienst Gottes stellte und als ein Werkzeug Gottes arbeitete. Endre Zsindely : Krankheit und Heilung im älteren Pietismus. Zürich 1962, S. 36 f. Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (wie Anm. 147), S. 359. Zsindely : Krankheit und Heilung (wie Anm. 156), S. 37. Johann Samuel Carl: Medicina aulica, Altona 1740, S. 348, zitiert nach: Christa [Meyer-] Habrich: Untersuchungen zur Pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis. München 1981[Habil.schrift]; S. 92. 160 Ebd. 161 Zitiert nach: Habrich: Johann Samuel Carl (wie Anm. 1), S. 289.
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Johann Friedrich Struensee (1737–1772) als Arzt und Mediziner
Im Mai 1770 sitzt Minette von Söhlenthal in der Kirche des Damenklosters zu Preetz in Holstein. Sie ist die titelgebende Hauptfigur des 1909 erschienenen Romans von Charlotte Niese. Die Landedelleute sind in die Kirche gekommen, um einmal eine scharfe Predigt zu hören […]; alle bereit, sich ihre Sünden vorhalten zu lassen. Denn eine Generalvisitation war dazu da, um die Seelen aufzurütteln, und das letztemal, als Doktor Struensee in der Klosterkirche predigte, hatte er so gescholten, daß viele Damen noch zwei Tage hinterher im Bett lagen aus lauter Angst und Schrecken vor ihren Sünden, an die sie niemals ordentlich denken mochten. So mußte aber eine kräftige Visitationspredigt sein, man sollte weinen über sich; hatte man genug geweint, durfte man auch ein wenig weiter sündigen. Und zur Freude an einer ordentlichen Bußpredigt kam für die vornehmen Leute noch das Interesse hinzu, den Vater des Mannes reden zu hören, von dem im Reiche Dänemark jeden Tag mehr gesprochen wurde. Ein simpler Medikus […]. Der Medikus Struensee. Hatte sich nicht dieser und jener Junker eine Ader von ihm schlagen lassen, einen Zahn ausziehen lassen? Hatte man ihm nicht ein Douceur für diese Dienste gegeben und sich herablassend mit ihm unterhalten?
Freilich hatte die geneigte Leserin schon zuvor erkennen können, dass die Autorin die suggerierte Unterschätzung des Altonaer Stadtphysikus Johann Friedrich Struensee in erzählerisches Kapital umwandeln wird. Hieß es doch schon für die erzählte Altonaer Zeit: Mit finsterm Gesicht sah der Doktor in das unruhige [Wasser], und über ihn kam die Sehnsucht, der Durst nach Reichtum, Macht und Ehre, der hier in Altona niemals gestillt werden konnte.1
Wenn heute die Akzente in der Forschung auch differieren mögen, herrscht doch Übereinstimmung, dass Reichtum und Ehre nicht zu Struensees Antriebszielen gehörten und Macht allenfalls verstanden als Wirkmacht genutzt, vielleicht auch erstrebt wurde. Ein Durst nach Ehre wäre allerdings in der Tat bis zur Gegenwart in Altona nicht recht gestillt worden. Seit Ende der 90er Jahre gibt es ein Ärzte-Zentrum, das seinen Namen trägt; seit 1995 attestiert 1 Charlotte Niese: Minette von Söhlenthal, Leipzig 1922 (Charlotte Niese: Romane und Erzählungen, Bd. 4), S. 129, zuvor 170 f.
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eine äußerlich eher bescheiden ausfallende Gedenktafel der Hamburger Patriotischen Gesellschaft dem Arzt und Aufklärer immerhin, ein „umfangreiches Reformwerk“ geschaffen zu haben, „das, hätte es Bestand gehabt, Dänemark lange vor der Französischen Revolution zum modernsten Staat Europas gemacht hätte.“ Die Struenseestraße in Altona ist nach seinem Vater Adam benannt, 1757 bis 1760 Hauptpastor an der Trinitatiskirche.
I. Struensee wurde am 5. August 1737 in Halle geboren. Sein Vater, Pietist Franckescher Prägung, in Halle Pastor an verschiedenen Kirchen, später auch Professor für Theologie, hatte 1732, noch in Berleburg, die knapp sechzehnjährige Maria Dorothea Carl geheiratet, Tochter des Johann Samuel Carl, der zu jener Zeit Hofmedikus des Grafen Casimir von Sayn-Wittgenstein und an den Berleburger geistlichen und publizistischen Aktivitäten beteiligt war.2 Von 1742 bis 1744 hielt sich Großvater Carl – nach seiner mit Ausweisung endenden Tätigkeit als Leibmedikus des dänischen Königs Christian VI. – in Halle bei der Familie auf. Sein Enkel wurde laut Matrikel am 28. Dezember 1746 Schüler der Franckeschen Latina.3 1752 begann er das Medizinstudium in Halle, schloss es mit der Doktordissertation (De Incongrui Corporis Motus Insalubritate), die er seinem Großvater Carl und dessen beiden Arzt-Söhnen widmete, und der Disputation am 14. Februar 1757 ab. Bereits im Oktober erfolgte die Ernennung zum Stadtphysikus von Altona und der Herrschaft Pinneberg (die Bestallung aus Kopenhagen datiert vom 3. Februar 1758), ein Jahr später kam das Physikat der Grafschaft Rantzau dazu. Damit lebte er wieder im Pfarrhaus bei Vater und Familie, bis Adam Struensee 1760 als Generalsuperintendent nach Rendsburg zog. Über die Jahre 1768 bis 1772, also von Struensees Reise mit Christian VII., über die Zeit am dänischen Hof bis zu Haft, Prozess und Hinrichtung, ist hier nur bedingt zu handeln. Darüber geben Akten, historische Forschung und eine mehr oder weniger lebhafte Rezeption in Publizistik, Literatur, Film Auskunft. Struensees gut zehnjährige Tätigkeit als Arzt hat dagegen 200 Jahre lang wenig Interesse hervorgerufen. Erst der Bakteriologe Stefan Winkle (1911–2006) veröffentlichte 1983 eine umfangreiche Monographie dazu.4 Da 2 Zu Carl vgl. Hans-Jürgen Schrader: Art. „CARL“. In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 5, Neumünster 1979, S. 60–64. Christa Habrich: Johann Samuel Carl (1677–1757) und die Philadelphische Ärztegemeinschaft. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. v. Hartmut Lehmann, Heinz Schilling u. Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2002, S. 272–289. 3 Die Matrikel weicht somit ab von den Angaben bei Stefan Winkle, der den Schulbesuch in den Stiftungen 1743 beginnen und die Lateinschule 1745 anschließen lässt. Vgl. Stefan Winkle: Struensee und die Publizistik, Hamburg 1982, S. 109. 4 Stefan Winkle: Johann Friedrich Struensee. Arzt, Aufklärer und Staatsmann. Beitrag zur Kultur-,
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er sich seit 1940 mit dem Thema beschäftigte, kannte er Material, das es heute nicht mehr gibt. Die Bombenangriffe im Juli 1943 zerstörten auch das Altonaer Stadtarchiv. Vier Quellenkategorien sind damit nur durch Winkles Zeugenschaft beglaubigt. Dabei handelt es sich zum ersten um Akten zu Physikat und Gesundheitswesen, zum zweiten um die Bücher, die Struensee 1768 in Altona hinterließ: Das Profil dieser Bibliothek, die Anstreichungen, Randbemerkungen gaben Hinweise auf den Besitzer.5 Betroffen ist zum dritten ein Teil der Publikationen Struensees: Winkle hat ihm an Hand von Textvergleichen fünf anonyme Veröffentlichungen zugeschrieben und eine namentliche gefunden, die 1760 und 1761 im Gemeinnützigen Magazin erschienen, einer nicht mehr nachweisbaren Zeitschrift, von der bereits Winkle sagte, man wisse nichts über sie, auch nicht deren Erscheinungsort.6 Zur vierten Kategorie gehören mehrere Monographien, überwiegend aus dem 19. Jahrhundert, die in Winkles Arbeit Quellencharakter haben. Die Titel erscheinen m.W. in keinem Katalog.7 Diese beklagenswerten Umstände vermischen sich mit einer weiteren Schwierigkeit: In Winkles Darstellungen ist der Umgang mit den Quellen häufig nicht nachvollziehbar. So steht man vor dem Befund, dass Winkles Basisarbeit unverzichtbar, aber kritisch zu handhaben ist.8 Von medizinhis-
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Medizin- und Seuchengeschichte der Aufklärungszeit. 2. durchges. Auflage, Stuttgart 1989. Zuvor erschien bereits Winkle: Publizistik (wie Anm. 3); in Dänemark Egill Snorrason: Johann Friedrich Struensee. Laege og Geheimestatsminister, Kopenhagen 1968. Winkle fand außer medizinischen Werken u. a. Montaigne, La Rochefoucauld, Voltaire, Rousseau, d’ Alembert, Diderot, Rabener und Liscow. Vgl. Stefan Winkle: Struensee, der lange verpönte und verkannte kontagionistische Pionier auf dem Gebiet der Seuchenprophylaxe. In: Hamburger Ärzteblatt 45 (1991), S. 176–209, hier: 209, Anm. 3. – Die erweiterte Ausgabe von Bayles Dictionnaire critique und Gottfried Arnolds Ketzerhistorie, letztere vom Großvater, habe er bereits in Halle besessen. Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 27, Anm. 48, S. 28, Anm. 52, S. 317, 360 f., Anm. 45. Auch ein Bibelexemplar mit Lesespuren lag Winkle vor. Vgl. ebd., S. 310, Anm. 65. Vgl. Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 24 f. Unklar ist, welche Exemplare Winkle benutzt hat, er zitiert aus den Aufsätzen. Vielleicht waren sie im Stadtarchiv vorhanden, vielleicht aber kannte auch Winkle sie lediglich aus den im Folgenden erwähnten Monographien (vgl. Anm. 7). E. Meynert: Philipp Gabriel Hensler und seine Zeit, o.O. 1834. Gustav [oder Günter] Adolf Schindler: Georg Ernst Stahl und seine Schule, Leipzig 1834. Samuel N. Gomperz: Die Gersoniden, Altona 1865. Johann Gottfried Göllner: Von Pamphleten, Pasquillen und Placaten, Leipzig 1872. Martin Schian: Über Prediger und die Medizin, Leipzig 1905. A.M. Wagner: Der unbekannte Helferich Peter Sturz, Heidelberg 1925. Diese Titel gehören offenbar zu jenen „Unikaten“, die Winkle im Altonaer Archiv fand und mit diesem verbrannten. Vgl. „Unbeständig Glück“. DER SPIEGEL 43 (1989), Heft 2, S. 144–150, hier: 150. Vgl. Ole Fischer: Pietismus und Aufklärung in Familienkonstellationen. In: Familientraditionen und Familienkulturen. Theoretische Konzeptionen. Hg. v. Meike Sophia Baader, Petra Götte, Carola Groppe, Wiesbaden 2013, S. 163–181, hier: 168, Anm. 12. Mathias Hattendorff: Der Stadtund Landarzt Struensee in Holstein. In: Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser und Gesundheitswesen. Hg. v. Alexander Ritter und Peter Fischer (Steinburger Jahrbuch 49, 2005), Itzehoe 2004, S. 53–61, hier : 53, Anm. 2. Kersten Krüger : Möglichkeiten, Grenzen und Instrumente von Reformen im Aufgeklärten Absolutismus: Johann Friedrich Struensee und Andreas Peter Bernstorff. In: Der Dänische Gesamtstaat. Kopenhagen, Kiel, Altona. Hg. v. Klaus Bohnen und Sven-
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toriographischer Seite ist eine weitere Kritik zu ergänzen, nämlich die an der problematischen Übertragung heutiger Krankheitseinheiten in die Vergangenheit sowie an einer Medizingeschichtsschreibung in quasi teleologischer Perspektive, die die historischen Protagonisten vermeintlich falsche Fragen stellen oder vermeintlich Naheliegendes nicht erkennen lässt, während sie andere als „Wegbereiter, Vorkämpfer und Heroen ,ihrer Zeit voraus‘“ würdigt.9 Dieser Fallstricke eingedenk, soll ein gezwungenermaßen unvollständiger Einblick in Struensees Wirken als Arzt und Mediziner gegeben werden. Außer den sechs schon erwähnten gibt Winkle weitere 17 Aufsätze und vier Epigramme Struensees an, überwiegend Zuschreibungen, nicht alle medizinischen Inhalts, es sind satirische, unterhaltende darunter. Aus diesem insgesamt heute schwer oder gar nicht zugänglichen Textkorpus10 erschließt Winkle das medizinische Profil; zur ärztlichen Praxis schöpfte er zudem besonders aus einem der verschwundenen Bücher, das wohl noch von Zeitzeugen beglaubigt war.11 Aage Jørgensen, Tübingen 1992 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 18: Zentren der Aufklärung, IV), S. 23–47, hier : 29, Anm. 4. 9 Karl-Heinz Leven: Krankheiten – historische Deutung versus retrospektive Diagnostik. In: Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Hg. v. Norbert Paul und Thomas Schlich, Frankfurt – New York 1998, S. 153–185, hier: 157. Die Kritik bezieht sich auf die seuchengeschichtliche Publikation Stefan Winkle: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf – Zürich 1997, trifft aber ebenso auf die Struensee-Monographie zu. Vgl. auch Manfred Vasold: Pest und Cholera. Stefan Winkles antiquierte Seuchengeschichte. In: DIE ZEIT Nr. 39 vom 19. 09. 1997. Eingesehen unter : http://www.zeit.de/1997/39/ Pest_und_Cholera. Letzter Zugriff 13. 03. 2014. Vgl. auch die Würdigung Winkles zum 90. Geburtstag: Robert Jütte: Gesundschrumpfen gilt nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03. 11. 2001, Nr. 256, S. 44. 10 Die vollständigen bibliographischen Angaben aller Schriften sind zu finden bei Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 118–120. Aus diesen Angaben ergänze ich die Nachweise, da Winkle: Struensee (wie Anm. 4) nur die Seite des jeweiligen Zitats nennt. Bei den Zuschreibungen setze ich den Verfassernamen in eckige Klammern. – Zur ,Monatschrift zum Nutzen und Vergnügen‘ vgl. Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 58, Anm. 106. Außer in den hier genannten Fundorten (Kopenhagener Universitätsbibliothek, Landesbibliothek Schwerin, unvollständig im Staatsarchiv Hamburg) existiert die ,Monatschrift‘ noch in den Universitätsbibliotheken Erlangen und Freiberg (Bergakademie) sowie im Bomann-Museum in Celle. (Nach dem Titel der ,Monatschrift‘ ist eine Monographie aus Dänemark benannt: Asser Amdisen: Til nytte og fornøjelse. Johann Friedrich Struensee. 2. Aufl., Kopenhagen 2012.) Die fraglichen Jahrgänge 1763 und 1764 der ,Schleswig-Hollsteinischen Anzeigen‘ sind nur in der Landesbibliothek und in der Universitätsbibliothek Kiel sowie in der Landesbibliothek Oldenburg vertreten. Drei Aufsätze mit medizinischen Inhalten und ein satirischer aus der ,Monatschrift‘ sind in Winkle: Publizistik (wie Anm. 3) faksimiliert, einer mit (medizin)publizistischen Überlegungen aus den ,Schleswig-Hollsteinischen Anzeigen‘. Wenn im Folgenden die faksimilierten Aufsätze herangezogen werden (bis auf den satirischen werden sie berücksichtigt), beziehe ich mich auf diese Volltexte und vermerke es. 11 Dabei handelt es sich um Meynert: Hensler (wie Anm. 7). Philipp Portwich, der 1995 eine Monographie zu Hensler veröffentlichte, erfuhr von Winkle, dass dieser Titel sich im Wesentlichen mit Struensee befasste und mit dem Stadtarchiv verloren ging. Der damalige Archivar
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II. Struensees Vokation auf das Physikat geschah ohne Bewerbung, obwohl acht andere Bewerbungen vorlagen. Winkle bringt auch einen Einfluss des im Juni 1757 in Meldorf verstorbenen Großvaters Carl in Anschlag,12 wahrscheinlich ist eine Protektion in Anbetracht des Vaters, was ein Briefwechsel zwischen dem Pinneberger Landdrost Gebhard Ulrich von Perckentien und Johann Hartwig Ernst Bernstorff einerseits, Bernstorff und dem Altonaer Oberpräsidenten Henning von Qualen andererseits zu erkennen gibt.13 Der gerade zwanzigjährige Johann Friedrich hatte sich nach Studienabschluss in Berlin, Göttingen und bei seinem Onkel August Ernst Carl, Leibarzt des Fürsten Stolberg in Gedern, um praktische Weiterbildung bemüht. Für sein Studium in Halle werden die Professoren Johann Juncker, Andreas Elias Büchner und Philipp Adolf Böhmer genannt, wobei Büchner, der seiner Disputation präsidierte, vermutlich im Mittelpunkt stand. Von Winkle nicht erwähnte, bisher offenbar übersehene gratulierende Paratexte Struensees in den Dissertationen zweier Kommilitonen, Jacob Pelloutiers und Johann Karl Böckings, geben Hinweise auf mögliche Kontakte in Halle.14 Zu diesem Textnetz gehört Peter Immanuel Hartmann, der später in Helmstedt und Frankfurt/ Oder Medizin lehrt, er ist Mitgratulant bei Pelloutier. In Böckings Dissertationsdruck gratulieren Johann Peter Eberhard, Johann Gottfried von Exter, Johann Friedrich Krügelstein und Büchners Neffe Johann Andreas Wilhelm Büchner. Eberhard war Professor für Medizin und Mathematik, dessen VerPaul Theodor Hoffmann vermutete, es handele sich um ein pseudonyme Schrift. Vgl. Philipp Portwich: Der Arzt Philipp Gabriel Hensler und seine Zeitgenossen in der schleswig-holsteinischen Spätaufklärung, Neumünster 1995 (Kieler Beiträge zur Geschichte der Medizin und Pharmazie, Bd. 22), S. 2. 12 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 36, 347 f. 13 Nach dem frühen Tod des Physikus Johann Christian Bolten, Sohn Johann Boltens, des Vorgängers von Adam Struensee, schrieb Perckentien am 22. 11. 1757 an Bernstorff über Adam Struensee, „[…] daß es ihm eine besondere Freude seyn würde, wann er seynen Sohn bei sich in Altona etablirt sehen möchte […]“. Zit. nach Reinhard Schlifke: Doctor Johann Friedrich Struensee. Physicus der Stadt Altona, der Herrschaft Pinneberg und der Grafschaft Rantzau 1757–68. In: Heimatkundliches Jahrbuch für den Kreis Pinneberg 2009, Pinneberg 2008, S. 201–228, hier: 226, Anm. 6. Sich auf Perckentiens Gesuch beziehend, schrieb Bernstorff an von Qualen: „Wenn es geschehen könnte, so würde es in Ansehung seines Vaters, dem [sic] man auf alle mögliche Weise zu ermuntern suchen müsse, zu wünschen sein.“ Zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 71, Anm. 2. 14 Viro Praenobilissimo, Dissertationis Auctori Doctissimo, Amico Suo Optimo, S.P.D. Ioannes Fridericus Struensee, Opponens. In: Andreas Elias Büchner (Präs.), Jacob Carl Pelloutier (Resp.): De Aeris Renovatione ad Praecavendos Curandosque Morbos Efficaci, Halle 1755, S. 44. – Viro Praenobilissimo Huius Dissertationis Auctori Doctissimo Fautori et Amico Suo Aestumatissimo S.P.D. Ioannes Fridericus Struensee, Medic. Doct. In: Andreas Elias Büchner (Präs.), Johann Karl Böcking (Resp.): De Morborum Temporibus Eorumque Diversa Indicatione et Prognosi, Halle 1757, S. 67.
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öffentlichungen von Naturlehre über Aberglaubensbekämpfung bis zu Kriegsund Mühlenbaukunst reichen; Böcking hatte wenige Wochen zuvor auch bei ihm respondiert. Von Exter, der bei Juncker disputierte, wurde später Arzt in Hamburg, Sammlungsaufseher in der Stadtbibliothek und Freimaurer, er starb 1799 als Logen-Provinzial-Großmeister von Niedersachsen und Hamburg. Krügelstein wird Hofmedikus beim Fürsten von Hohenlohe, Büchner wird als Arzt in Norwegen Pockenschutzimpfungen vornehmen und, wieder in Deutschland, Direktor der Erfurter Akademie der nützlichen Wissenschaften. Zum Bekanntenkreis Struensees in Altona gehörten, abgesehen von den später wichtig werdenden Kontakten Rantzau, Enevold Brandt und Seneca Otto von Falckenskiold, neben seinem Hallenser Freund David Panning der jüdische Arztkollege Hartog Gerson.15 Laut Winkle beherbergte dessen Vater David Gerson in den vierziger Jahren Johann Lorenz Schmidt, Schöpfer der Wertheimer Bibel und Korrespondent Johann Samuel Carls.16 Ein weiterer Arzt war Johann Albert Heinrich Reimarus, Sohn des Hermann Samuel Reimarus, so dass Struensee auch das Skript der Apologie kannte. Der Dichter Peter Wilhelm Hensler, Bruder von Struensees Physikat-Nachfolger Philipp Gabriel Hensler, sowie der Dichter und Publizist Johann Matthias Dreyer gehörten auch zu einer sich regelmäßig versammelnden Tischgesellschaft in Struensees und Pannings Wohnung. Es gibt um 1760 zumindest eine zeitliche Kongruenz dieser Personenbeziehungen um Struensee mit den Auseinandersetzungen in Hamburg und Altona um das Zeitschriftenprojekt Georg Schades, dessen Redakteur Dreyer war, und um Dreyers eigene literarische Produktion.17 Eine weitere Auseinandersetzung der sechziger Jahre galt dem ebenso zur Tischgesellschaft gehörenden Johann Bernhard Basedow.18 1767 lernte Struensee auch Lessing in dessen Hamburger Zeit kennen. 15 Zu Gerson vgl. Jan Hendrik Wulf: Spinoza in der jüdischen Aufklärung. Baruch Spinoza als diskursive Grenzfigur des Jüdischen und Nichtjüdischen in den Texten der Haskala von Moses Mendelssohn bis Salomon Rubin und in frühen zionistischen Zeugnissen, Berlin 2012, S. 164–174. Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit, Hamburg 1988, S. 55–80. Stefan Winkle: Struensee und das Judentum. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 15 (1986), S. 45–90. 16 Vgl. Winkle: Spinozisten (wie Anm. 15), S. 32, 49, 51. Schmidt übersetzte in dieser Altonaer Zeit u. a. Spinozas Ethik. 17 Schade wurde 1760, Dreyer 1763 ausgewiesen. Martin Mulsow nimmt ein eher kritisches Verhältnis des Struensee-Kreises zu Schade an, vgl. Martin Mulsow: Methodenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760, Hamburg 1998, S. 137 f. Martin Mulsow: Entwicklung einer Tatsachenkultur. Die Hamburger Gelehrten und ihre Praktiken 1650–1750. In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. v. Sandra Richter, Johann Anselm Steiger u. Axel E. Walter, Berlin 2012, S. 45–63. – Dreyer veröffentlichte u. a. Spottgedichte und eine Sammlung von Trinksprüchen, die der Bücherverbrennung anheimfiel. Johann Matthias Dreyer : Schöne Spielwerke beym Wein, Punsch, Bischof, und Krambambuli, in Hamburg. Hamburg 1763. Zu Dreyer vgl. auch Hans Höhne: Johan Melchior Goeze. Stationen einer Streiterkarriere, Münster 2004, S. 82–88. 18 Winkle erwähnt pädagogische Erkenntnisse für spätere schulpolitische Intentionen, die Stru-
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Struensee machte selbst 1763 als Begründer und Autor der kurzlebigen Zeitschrift Monatschrift zum Nutzen und Vergnügen Erfahrungen mit der Zensur, ein weiteres Projekt kam gar nicht erst zustande.19
III. Dass der Physikus neben seinen Amtspflichten sich adelige und bürgerliche Patientenkreise erschloss, war auch das Ergebnis seiner Erfolge bei der Pockenbehandlung und -impfung. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte das Findlings- und Waisenhaus, dessen Kinder, sofern sie noch nicht geblattert hatten, von ihm geimpft wurden. Generell empfahl er diese Maßnahme bei jeder Neuaufnahme, bei Findlingen sollte gewartet werden, bis sie stark genug dafür seien.20 Gelernt hat er die Variolation vermutlich bei Reimarus, der die Technik aus England mitgebracht hatte und andere Ärzte darin unterwies.21 Struensee war darauf bedacht, fachgerecht zu impfen, professionelle Bedingungen einzuhalten und zu schaffen. Als Minister sorgte er für die Gründung einer Impfanstalt in Kopenhagen mit Ausbildungsfunktion und Quarantänemöglichkeit.22 Impfen war umstritten und ein gesamtgesellschaftliches Thema.23 Die Vakzination gab es noch nicht.
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ensee „in endlosen Gesprächen mit Basedow gewonnen hatte“. Winkle: Struensee (wie. Anm. 4), S. 216. Zu den komplizierten und konfliktreichen Zeitschriftenaktivitäten vgl. Winkle: Publizistik (wie Anm. 3). – Basedows Schulkollege und -rivale am Akademischen Gymnasium, Gottfried Profe, der seit 1763 den ,Altonaischen Gelehrten Mercurius‘ herausgab und Ende 1763 eine Zusammenarbeit mit der geplanten Zeitschrift Struensees – ohne Nennung von Namen – annoncierte, gehörte auch zum Bekanntenkreis. Vgl. [Johann Friedrich Camerer :] Besondere Nachrichten von den Opfern der Staaten sowohl als auch von den Opfern der Gerechtigkeit dieses achtzehenten Jahrhunderts; besonders aber von denen in Dännemark in diesem Jahre hingerichteten gewesenen Grafen Struensee und von Brandt, Pelim 1772, S. 89. Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 405. Die Ausführungen im Kapitel „Pockenbekämpfung. Variolation und Abgrenzungsversuche gegenüber Masern und Röteln“, S. 395–421, beziehen sich auf [Johann Friedrich Struensee:] Von den Blattern und der Blatterneinpfropfung. In: Gemeinnütziges Magazin 1760, Dezember, Stück III, S. 162–191, und auf Johann Friedrich Struensee: Von Einpfropfung der Blattern. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten und anderen Sachen, Glückstadt 1763, Stück 40, Sp. 649–658. Mit dem späteren Aufsatz reagierte Struensee auf das vom Pariser Parlament 1763 ausgesprochene Variolationsverbot. Hensler, zu jener Zeit Physikus in Segeberg, reagierte mit einem zweiteiligen Werk. Philipp Gabriel Hensler: Briefe über Blatterbelzen. Dem Parlamente von Paris gewidmet, Altona 1765/66. Vgl. Johann Albert Heinrich Reimarus: Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt nebst dem Entwurf einer Teleologie zu dessen Vorlesungen bestimmt, Hamburg 1814, S. 22 f. Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 409. Vgl. Eberhard Wolff: Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998, S. 100–108 zur Variolation; Marcus Sonntag: Pockenimpfung und Aufklärung. Die Popularisierung der Inoku-
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Damit ist ein Feld medizinischer Theoriebildung angesprochen, das der Mikrobiologe Winkle so faszinierend bei Struensee vorgeprägt fand: Infektionskrankheiten – die freilich als solche nicht bekannt waren. Zwar wurde der Begriff der ,Ansteckung‘ benutzt, der ebenso wie ,Impfung‘ metaphorische Wirksamkeit entfaltet,24 aber Erreger und ihr ,Funktionieren‘ zu beschreiben, war dem 19. Jahrhundert vorbehalten. Außer Pocken und Masern, deren Differentialdiagnostik er zu beachten suchte, gehörten Krätze, Fleckfieber, Ruhr, Typhus/Faulfieber, Lues zu den ansteckenden Krankheiten, mit denen Struensee konfrontiert war. Aufgrund der isolierenden und präventiven Maßnahmen, die er in mehreren seiner Schriften immer wieder anregt, und mit seinen Ermahnungen hinsichtlich der Wasserhygiene (er warnte vor dem fäkalienbelasteten Hamburger Fleetwasser, kritisierte z. B. das Eintauchen der Warenkörbe durch die Gemüsebauern) und hinsichtlich Insekten als möglichen Überträgern (Fliegen, die Eiter aus den Blatternpusteln verschleppen könnten, sollen den Krankenstuben fern gehalten werden) ist Struensee nah an Konzepten der Seuchenprophylaxe, die im Zuge von Industrialisierung, Bevölkerungsverdichtung, Verstädterung an Aktualität und Dringlichkeit gewinnen werden. Als Politiker suchte er als Grundlage einer Polizeiordnung die Expertise zu Wasser, Wohnungen, Straßenbeschaffenheit, Luftqualität Kopenhagens von Stadtverwaltung und Stadtphysikus einzuholen.25 Mit diesen Schriften und Aktivitäten hat Struensee in den Bemühungen um ,medizinische Polizey‘ zu einem recht frühen Zeitpunkt Akzente gesetzt. Da unreine Luft, Dünste von fauligem Wasser und Aas in der zeitgenössischen Diskussion über Genese und Verbreitung von Fiebern und Epidemien eine Rolle spielten, scheint aber Zurückhaltung angebracht in der Interpretation der Texte hinsichtlich einer Abgrenzung zur herrschenden MiasmaTheorie. Diese nahm einen Ansteckungsstoff in der Luft an, der aus ungünstiger Bodenausdünstung, faulenden Stoffen, Klima und Jahreszeit, auch lation und Vakzination. Impfkampagne im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Bremen 2014 (Presse und Geschichte, Bd. 79). 24 Vgl. Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik, Frankfurt/M. 2012. Cornelia Zumbusch: Darstellung des Unbekannten. Narrative und Metaphern in der Debatte um die Pockeninokulation. In: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Johannes Schneider, Berlin 2008, S. 577–584. 25 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 423–445 („Ansteckende Darmkrankheiten. Trinkwasserkontamination und Fliegenplage bei Ruhr und Typhus“). Der Hinweis auf die Hamburger Wasserverschmutzung findet sich gemäß S. 426 f. in [Johann Friedrich Struensee:] Vom Ruhrgang und dem Faulfieber. In: Gemeinnütziges Magazin. 1761, Februar Stück II, S. 162–191. Anm. 19, 25, 26, S. 438 f., in Winkle: Struensee (wie Anm. 4) benennen S. 95, 96, 97 als Fundstellen, das widerspricht den vermutlich nicht zutreffenden oben genannten bibliographischen Angaben des Aufsatzes in Winkle: Publizistik (wie Anm. 3). Die Warnung vor den Fliegen findet sich in [Struensee:] Blattern 1760 (wie Anm. 20), S. 186, gemäß Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 349, 428 f. und Nachweise S. 362, Anm. 54, S. 441, Anm. 40. Zu den Themen Wasser, Insekten, Seuchenprophylaxe bei Struensee und Gerson vgl. auch Winkle: Spinozisten (wie Anm. 15), 55–81.
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geographischen Faktoren herrühre. Dagegen wird der sich in der Zukunft durchsetzende Contagionismus gesetzt, wobei allerdings das Miasmakonzept sich auch noch im 19. Jahrhundert behauptete. In der Tat scheinen die Konzepte auch zu Struensees Zeit nicht trennscharf voneinander vertreten worden zu sein. Struensee definiert selbst zwei Arten, wie sich Seuchenstoff überträgt: Einmal durch unmittelbare Berührung (per contactum und per formitem). Darunter verstehe ich, daß der Anzusteckende nicht durch die mit den unsichtbaren Ausdünstungen des Kranken vergiftete Luft, sondern durch solche Stoffe, die aus dem Körper des Kranken kommen und vergiftet sind, erst dann angesteckt wird, wenn er sich damit besudelt, indem er sie, oder den Kranken unmittelbar berührt. So gehen die Seuchenstoffe der Lustseuche, der Krätze, des Aussatzes in andere Körper über. Bey der zweyten Art der Mittheilung (per distans) gehen sie als unsichtbare Dünste, als Miasma aus dem Kranken ohne Berührung in einen Gesunden über.26
Diese für den Wissenschaftler Struensee offenbar problemlose Koexistenz von Erklärungsmodellen wertet Winkle als Indiz dafür, „daß er hier noch mit einem Bein im Bereiche der Miasmalehre steckte“, an anderer Stelle dafür, dass er „mit einem Bein noch in der Vergangenheit, […] aber mit dem anderen bereits Neuland“ berührte.27 Auch empfohlene Maßnahmen – wie z. B. immer wieder das Lüften der Krankenzimmer – waren nicht unbedingt, wie von Winkle suggeriert, Ausdruck kontagionistischer Überzeugungen, sondern entsprachen geläufigen Maximen. Das Interesse am Contagio, in der ideellen Zukunftsperspektive also am Mikroerreger, findet allerdings eine Form in der Affinität zum Mikroskop. Hartog Gerson veröffentlichte in den erwähnten Zeitschriften Aufsätze, die seine Ergebnisse der vergleichenden Untersuchung Hamburger Fleet- und Altonaer Quellwassers und die Anatomie von Mücken beschrieben.28 Die Faszination an der Sichtbarkeit des unendlich Kleinen dokumentiert sich auch in Struensees Bibliothek. Er besaß ein Exemplar der Micrographia von Robert Hooke, mit Randbemerkungen geerbt von Großvater Carl, der in Meldorf viel selbst mikroskopiert habe, aber den Zusammenhang mit Krankheiten nicht herstellte.29 In Struensees Exemplar von Swifts Gulliver waren die Stellen angestrichen, die mit dem relativierenden Vergrößerungs- und Verkleinerungseffekt sozialkritisch und satirisch spielen.30 Zum Büchernachlass ge26 [Johann Friedrich Struensee:] Von der Lustseuche und was dagegen zu thuen sey. In: Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück III, S. 172–198, hier: 174, zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 350 f. 27 Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 350, 431. 28 Hartog Gerson: Mikroskopische Observationen. In: Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück III, S. 219–220. Hartog Gerson: Von den Mücken. In: Monatschrift zum Nutzen und Vergnügen, Hamburg 1763, Stück I, 32–43, gemäß Winkle: Spinozisten (wie Anm. 15), S. 60–67, und Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 345 f. 29 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 335–365 („Struensee und das Contagium“). 30 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 345.
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hörte auch Fracastoros Seuchen-Klassiker De contagione et contagiosis morbis von 1546.31 Dass der Gebrauch von Instrumenten – wie hier des Mikroskops – keine sich von selbst verstehende Praxis mit innewohnendem Zweck ist, sondern das Ergebnis einer Geschichte von Handlungen – von Handgriffen bis hin zur Ergebnissicherung und Dateninterpretation –, die eingeübt und vereinbart werden müssen, lässt sich an Struensees augenheilkundlicher Schrift zum Star-Stechen nachvollziehen. Struensee, der selbst gute Star-Operationen verrichtet haben soll, beschreibt hier detailliert verschiedene Instrumente und ihre je spezifische Handhabung.32 Bei der Behandlung der sog. hitzigen Fieber, aber auch der Ruhr, setzte Struensee nicht auf hitzige Kuren, die die Krankheitsmaterie aus dem Körper treiben sollten, sondern auf das Gegenteil: Luft, Abkühlung, Abwaschungen. Die Hydrotherapie habe er in Junckers Vorlesungen in Halle kennengelernt, er besaß auch den Traktat von der Krafft und Würkung des kalten Wassers des Johann Sigismund Hahn.33 Dass er damit auch Abhärtung verband, zeigt sich später, als er die physische Erziehung des kleinen Kronprinzen anleitete, den er spielerisch Tom Jones gerufen haben soll: kalte Bäder, frische Luft, leichte Kleidung, auch im Winter nicht beheizte Räume. Er nahm so Gedanken Basedows auf, den er ja aus Altona kannte, aber auch solche John Lockes (Some Thoughts Concerning Education); die lebhafte Pmile-Rezeption der sechziger Jahre mag diese Prinzipien noch verstärkt haben. Anlässlich einer Epidemie mit Fleckfiebersymptomatik im Frühjahr 1759 schrieb er nach einer Inspektion im betroffenen Gebiet eine Kurtze Anweisung, wie man sich bey dem seit einiger Zeit in Schwange gehenden hitzigen Fieber zu verhalten hat.34 Die genaue Symptom- und Verlaufsschilderung darin zeigt den aufmerksamen Beobachter und Diagnostiker : Empfindung einer Schwere in den Gliedern, Verlust des Appetits, Müdigkeit, Mattigkeit, Abwechslung von Frost und Hitze, Kopfschmerzen, Übligkeit, Angst, Brechen, Brennen in der Hertzgrube, Muthlosigkeit. Hierauf folgt eine anhaltende Hitze ohne Nachlaß. Nach dem 4. Tag sind meistenteils kleine, rötliche, nicht über die Haut 31 Ein weiteres Exemplar befand sich auch in seinem Kopenhagener Nachlass. Vgl. Winkle: Struensee Pionier (wie Anm. 5), S. 176, Anm. 3. 32 Vgl. [Johann Friedrich Struensee:] Von der neuen Methode den Staar zu operiren. In: Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen. Zweytes Stück, im Augustmonat, Hamburg 1763, S. 141–152. Faksimiliert in Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 159–167. Vgl. dazu das Kapitel „Augenheilkunde“ in Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 521–534. Zum Objektgebrauch vgl. Volker Hess: Gegenständliche Geschichte? Objekte medizinischer Praxis – die Praktik medizinischer Objekte. In: Medizingeschichte (wie Anm. 9), S. 130–152. 33 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 449. 34 Erhalten im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv, Abt. 112, Nr. 553, fol. 5–11, hier nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 447 f. Zwei Jahre später erschien der Aufsatz [Johann Friedrich Struensee:] Von den hitzigen Fiebern und wie man sich bey ihnen zu verhalten hat. In: Gemeinnütziges Magazin 1761, Stück I, S. 24–38.
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erhabene Flecken an Brust, Hals, Armen zum Vorschein gekommen. An einer Frauensperson, die 9 Tage krank gewesen, habe ich sogar sehr große und feuerrothe Flecken […] gesehen. Diejenigen, welche starben, sind in einen Stupor verfallen, nachdem sie vorher irre geredet hatten. […] Die meisten von denen, die mit solchen Kranken umgegangen, sich mit ihnen in einer Stube befunden, sie gewartet, sind kurz nachdem diese verstarben, auf dieselbige Art krank geworden. […] Wenn ich alle diese angezeigten Umstände […] zusammennehme und die Zufälle der beschriebenen Krankheit nach medizinischen Grundsätzen prüfe, so kann ich von der Natur derselben nicht anders urtheilen, als daß sie wirklich epidemisch, ansteckend und ein bösartiges Fieber […] sey.35
Er empfahl Lüftung der nicht zu stark zu heizenden Krankenstube, kein zu warmes Zudecken, kühlende Abwaschungen mit verdünntem Weinessig, häufig zu erneuernde kalte Umschläge und Packungen, Diät, Achtsamkeit auf regelmäßige Verdauung. Ein Rezept zeigt die Verordnung eines Brechmittels, das in der örtlichen Apotheke vorrätig gehalten werden sollte, gewarnt wurde vor jeder nicht ärztlich verordneten Arznei. Die Prophylaxe sah vor, das Waschen der Verstorbenen und ihre Ausstellung im offenen Sarg zu unterlassen, keine Gäste im Sterbehaus zu bewirten, keine Aufbahrung in der Kirche zuzulassen. Die Bestattung, möglichst außerhalb der Siedlung und in doppelt so tiefer Grube als üblich, hatte ohne Gefolge im verpichten oder geteerten Sarg vor sich zu gehen, die Toten waren in der Sterbekleidung zu belassen. Nach dieser Vorlage erging vom Landdrost eine Verordnung über Lüftung der Wohnungen, Krankenbehandlung und Totenbestattung, die bei den Ortsvögten eingesehen werden konnte. Im Herbst desselben Jahres wurde gegen grassierende Pocken auch mit Hilfe der Kanzelansprache vor der hitzigen Kur gewarnt. Von Kopenhagen aus nutzte Struensee 1769 anlässlich einer Pockenepidemie das Medium Zeitung (die Schleswig- Hollsteinischen Anzeigen), um eine ähnliche Anleitung bekannt zu machen.36 Angeblich hat die dank kühlender Kur narbenlose Abheilung der Blattern bei der Frau von Schack Carl Rantzau während einer Pockenwelle 1763 Struensees Aufstieg zum Modearzt des holsteinischen Adels befördert, der nun auch seine Kinder impfen ließ.37 Eine verbreitete ansteckende Hautkrankheit war die Krätze. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit habe Struensee die Waisenhauskinder erfolgreich mit Schwefelsalbe behandelt, 1762 wiederholte er diese Maßnahme bei den skabiösen Soldaten der dänischen Armee, die nach der russisch-dänischen Krise noch vor den Toren Hamburgs stationiert waren. Hans Rantzau-Ascheberg, auf dessen Mustergütern Struensee bereits ebenso erfolgreich agiert hatte, soll 35 Zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 448. 36 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 409. Zur Verbreitung der hitzigen Kur vgl. auch Wolff: Pockenschutzimpfung (wie Anm. 23), S. 247–256. 37 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 44, 398. 1760 habe er in Bramstedt bereits den zehnjährigen Fritz Stolberg geimpft, vgl. ebda, S. 74, Anm. 29a, S. 413, Anm. 19.
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diesen Schritt vermittelt haben. Begleitend zur Kur wurde darauf geachtet, Kleider, Wäsche, Uniformen, Betten zu wechseln und auszuräuchern.38 In seiner Begründung streift Struensee gewissermaßen die noch unerkannte Ätiologie der Krätze durch Milben, indem er auf die umstrittene These von „Würmern“, also Lebewesen, hinweist: Das Beispiel der Ärzte in Pestzeiten, die ihre Wäsche präventiv schwefelten, sowie der Argwohn, daß sich die Krätze, nach einiger Meynung durch kleine Würmer in der Haut fortpflanze, die der Schwefeldampf vertreibt, wie auch ein Rath von Willis, haben mich bewogen, diesen Versuch schon seit zwey Jahren zu machen.39
Skabies lokal zu behandeln war eine Provokation der humoralpathologischen Lehre, weil man eine Inversion der Krankheit ins Körperinnere fürchtete; man verharrte bei lang andauernden Behandlungen, die natürlich auch eine Einnahmequelle waren. Dagegen: Ein krätziger Ausschlag entspringt niemals verdorbenen Säften. Er wurzelt in der Haut. Diät sowie der Gebrauch innerlicher Arzneyen, wie schweißtreibender Mittel und Purganzen, sind daher ohne jeglichen Nutzen.40
Diese Äußerungen waren auch Teil eines publizistischen Geplänkels mit dem renommierten Altonaer Kollegen Johann August Unzer. Ohne sich explizit auf Struensee zu beziehen, schrieb Unzer 1759 in einem Aufsatz zu „unvernünftigen Curen der Krankheiten des gemeinen Mannes“, es gebe Hautausschläge, darunter Krätze, die nicht ungestraft „mit Schwefel, Quecksilber, Bleyweiß und andern gefährlichen Mitteln“ zurückgetrieben werden dürften, „Steckflüsse, Schlagflüsse, Verlähmungen, Schwindsucht“ könnten entstehen, die früher oder später tödlich seien.41 Nach Struensees anerkannter Therapie bei den Soldaten machte Unzer inhaltlich eine Kehrtwende, suggerierte, es sei ihm um schädliche Quecksilberkuren gegangen, verweigerte Struensee einen eigenen Beitrag im Arzt, plagiierte gar in einer späteren Veröffentlichung den ungenannten Kollegen. Struensee wehrte sich, ohne Namen zu nennen, in 38 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 37 f., 375, 381. 39 [Johann Friedrich Struensee (der Aufsatz ist am Ende mit „S.“ gezeichnet):] Gedanken eines Arztes vom Aberglauben und der Quacksalberey. In: Gemeinnütziges Magazin 1760, November, Stück II, 75–91, hier: 90, zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 378 f. 40 [Struensee:] Gedanken Aberglauben (wie Anm. 39), S. 82, zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 375. 41 Johann August Unzer : [Von unvernünftigen Curen der Krankheiten des gemeinen Mannes]. In: Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift. Zweeter Theil. Hamburg 1759, 44. Stück, S. 289–302, Zitate S. 294, 295. Nahezu wörtlich wiederholt noch in: Unzers medicinisches Handbuch, Leipzig 1776, Erster Theil. Die Erziehung der Kinder und die Cur ihrer Krankheiten, S. 186 f. – Zum Folgenden vgl. Details in den Ausführungen in Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 376–383; der genannte Aufsatz „Von der Achtung der Schriftsteller“ erschien, mit Verfassernamen versehen, im Januar 1765 in den Schleswig-Hollsteinischen Anzeigen und ist in Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 179–183 faksimiliert.
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einem Aufsatz Von der Achtung der Schriftsteller gegen das Publicum, den zu veröffentlichen er aber Schwierigkeiten hatte. Sicher nicht zum engeren Patientenkreis gehörten Tiere. Die Veterinärmedizin als eigene Disziplin etablierte sich gerade erst; im deutschen Sprachraum wurde 1765 in Wien die erste Tierarzneischule gegründet, 1771 initiierte Struensee die Gründung einer solchen für Dänemark. Als Praktiker, der auch Kadaver sezierte, wurde er tätig, als 1762 eine Viehseuche auftrat. Winkle erkennt in Struensees diesbezüglicher Veröffentlichung, die auch die Nützlichkeit einer Seuchen-„Einpfropfung“ erwägt, die erste genaue Beschreibung der Symptomatik der Maul- und Klauenseuche.42 Dagegen gehörten zu den Amtsaufgaben die sog. Physikatsfälle: Nach Verbrechen und bei ungeklärten Todesfällen war eine Leichenschau vorzunehmen. Offenbar hatte das anatomische Theater des Christianeums, für das zu jener Zeit sein Rivale um die Leitung der Hebammenschule, Johann Georg Neßler, zuständig war und das stets unter Leichenmangel litt, hier keinen Zugriff.43
IV. Im Folgenden sollen Bereiche zur Sprache kommen, die über die patientbezogene Therapie hinausweisen. Am Leitfaden seines Textes Gedanken eines Arztes von der Entvölkerung eines Landes von 1763 lassen sich unter Einbeziehung ausgewählter konkreter Aktivitäten charakteristische Züge des Mediziners Struensee gut erkennen.44 Ganz im Sinne kameralistischer Konzepte des aufgeklärten Absolutismus bekennt sich der Autor zu einem Staatsverständnis, in dem Bevölkerungsvermehrung zum Nutzen des Landes zentrales 42 Vgl. Johann Friedrich Struensee: Versuch von der Natur der Tierseuche und der Art, sie zu heilen. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten und anderen Sachen, Glückstadt 1764, Stück 7, Sp. 97–108. Nachdruck in: Hannoverisches Magazin, Hannover 1764, Stück 17 und 18, Sp. 266–272 u. Sp. 273–280; Zitat hier Sp. 280 nach der digitalisierten Ausgabe unter http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/hannovmag/-hannovmag.htm). Dazu Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 499–520. – In diesem Zusammenhang sind die etwa zeitgleichen Tagebuch-Aufzeichnungen Johann Christian Senckenbergs interessant, der sich als Frankfurter Stadtphysikus auch mit einer Viehseuche beschäftigte. Vgl. http://senckenberg.ub.uni-frank furt.de/?q=node/381 für den 19. 01. 1763 und die folgenden Seiten. 43 Vgl. Liste der Physikatsfälle bei Schlifke: Doctor Struensee (wie Anm. 13), S. 218–220. Zur Konkurrenz zwischen Physikaten und den Lehrveranstaltungen der akademischen Medizin vgl. Karin Stukenbrock: Der zerstückte Körper. Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650–1800), Stuttgart 2001, S. 48 f., 145–149. Zur Anatomie des Christianeums vgl. Ulrich Paschen: Das Anatomische Theater in Altona. In: 250 Jahre Christianeum 1738–1988. Festschrift. Bd. 1. Hg. v. Ulf Andersen, Hamburg 1988, S. 60–75. 44 Im Folgenden wird im fortlaufenden Text zitiert aus [Johann Friedrich Struensee:] Gedanken eines Arztes von der Entvölkerung eines Landes. In: Monatschrift zum Nutzen und Vergnügen. Erstes Stück, im Heumonat. Hamburg, gedruckt und verlegt von Mich. Christ. Bock, 1763, 1–24. Faksimiliert in: Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 125–148; ich zitiere aus diesem Volltext.
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Ziel ist. Dabei begreift er die agrarische Wirtschaftsform als ökonomische Basis und die Städte mit hoher Mortalität gewissermaßen als Verbraucher von Menschen und Ressourcen, die auf ständigen Zufluss vom Land angewiesen sind. Abnehmende Fortpflanzung der ländlichen Bevölkerung – er verweist allgemein auf „die jährlichen Verzeichnisse“ (5/129) – führe aber zur Einwohnerabnahme. Dienstnehmen in der Stadt, in Armee oder Seefahrt, Auswanderung seien der Gesundheit und Generativität abträglich. Frondienste, Abgaben, Leibeigenschaft werden neben der „Begierde nach Reichthum, Müßiggang und Ausschweifungen“ (8/132) als Beweggründe der Landflucht genannt. Wohlleben, Aufwand der Lebensführung, Ausschweifungen, Verzärtelung schwächten die generative Kapazität bei den Gebliebenen. Das Wertesystem des Verfassers deckt sich hier mit den Normen, die sich mit Adels-, Hof- und Luxuskritik und der Hinwendung zu vermeintlich natürlichen Lebensweisen verbinden und die auch pietistischen Einflüssen auf die Kultur Rechnung tragen. Allerdings führen alle Klagen dann in einer argumentativen Volte zur nüchternen Einsicht, diesen Übeln weder durch Gesetz, Sittenlehre noch Religion („nicht einmal die Religion“, 10/134) beikommen zu können. Die „Staatsverständigen“ (9/133), die alle Ursachen aufzudecken äußerst bemüht seien, betrögen sich selbst und verschwendeten Mühe, weil sie zu wenig Sorgfalt auf die Erhaltung der Gesundheit des gemeinen Volkes aufbrächten. „Krankheiten und frühzeitiges Sterben reiben mehr Menschen auf, und sind der Bevölkerung hinderlicher, als alle vorhin erzehlte Ursachen“ (11/135), was er mit allgemeinem Verweis auf „die Verzeichnisse“ (11/135) untermauert – er hatte Süßmilchs demographische Schrift Die göttliche Ordnung rezipiert.45 Die Krankheiten resultieren in der Analyse des Verfassers nicht aus sozialer und ökonomischer Not, sondern: „Die Lebensart, die Ausschweifungen, die Wollüste, die sogar das gemeine Volk itzo angesteckt haben, sind freylich Schuld an den häufigen Krankheiten.“ (12/136) Darin unterscheidet sich Struensees Gewichtung von dem erstmals 1762 in deutscher Übersetzung erschienenen Werk Tissots: Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit, das Wohlleben nur als eine unwesentliche Ursache in Relation zu harter Arbeit und ungünstigen sozialen und klimatischen Bedingungen anführt.46 Den üblen Folgen einer Sache vorbeugen, wenn man nicht die Ursachen abschaffen kann, ist wiederum Struensees rationales Credo. Abbau von Vorurteilen sowie Steuerung durch den Staat könnten bei den nun beschriebenen konkreten Problemen für Abhilfe sorgen. 45 Johann Peter Süßmilch: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod, und Fortpflantzung desselben erwiesen, Berlin 1741. Struensee erwarb später selbst die 3. Ausgabe von 1765. Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 405 f., 417, Anm. 54. 46 Vgl. Samuel Auguste David Tissot: Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit, Zürich 1762 (Avis au peuple sur sa sant8, Lausanne 1761).
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„Die Vorurtheile, die Einfalt, die falschen Begriffe“ (14/138) konterkarieren nämlich die mitmenschlich begrüßenswerte Laienpflege, indem die hitzige Kur harmlose Krankheiten in potentiell tödliche verwandele (hier herrscht Übereinstimmung mit Tissot). Ärzte würden aus materiellen Erwägungen „das gemeine Volk“ (14/138) vernachlässigen oder gäben sich nur damit ab, um sich bekannt zu machen. Jedoch: Vorurteile und Eigensinn des „gemeinen Mann[es]“ würden auch „den uneigennützigsten Arzt ermüden“ (15/139), wenn seinem Rat nicht gefolgt werde, zumal Kurpfuscher und Scharlatane für die Sucht nach Wunderbarem bereitstünden. Das Medizinalwesen in dieser Hinsicht zu verbessern, gleichbedeutend mit einer Privilegierung der Ärzte vor der Konkurrenz auf dem bunten Markt der Heilangebote, könne allein die „Aufsicht über die Policey“ (17/141) leisten. Ergänzend schlägt der Verfasser ein Verbot des Geschäfts mit sogenannten Allheilmitteln und auch der medialen Werbung dafür vor – ein Thema, über das auch in den nächsten Jahrzehnten geklagt und gestritten wurde.47 Der Blick auf diesen Sektor von Regulierung lässt sich erweitern mit Informationen über Struensees eigene Aktivität im Physikat. Er begutachtete und prüfte Bader und Chirurgen, die sich im Bereich seiner Zuständigkeit niederlassen wollten. Er suchte geeignete anzusiedeln, achtete auch darauf, ob der konkrete Bedarf ihnen die Chance auf ein Auskommen eröffnete, plädierte ggf. für die Zahlung eines Fixum.48 Auch die Apothekenvisitation gehörte zu den Amtsaufgaben (1746 hatte die Revision der Medizinal- und Apothekerverordnung für die Herzogtümer von 1672 die Visitationen vollständig an die Physici delegiert).49 Bei der ersten, die er vornahm, Ende November 1757 in Pinneberg, also nur fünf Wochen nach seinem Amtsantritt, erkrankte er schwer, da er bei winterlich schlechten Wetter- und Straßenverhältnissen immer wieder half, die Wagenräder aus dem Schlamm freizubekommen – noch im elterlichen Brief vom 4. März 1772 an den verhafteten Sohn erinnert Adam Struensee ihn an die nahezu tödliche Krankheit, aus der ihn Gott errettet habe, um ihn „in der Gnadenzeit zur seligen Ewigkeit zuzubereiten“.50 In 47 Vgl. zur Situation im benachbarten Hamburg Hansjörg Reupke: Zur Geschichte der Ausübung der Heilkunde durch nichtapprobierte Personen in Hamburg von den Anfängen bis zum Erlaß des „Heilpraktikergesetzes“ im Jahre 1939, Herzogenrath 1987, S. 70–77. 48 Vgl. – diesbezüglich über Winkle hinausgehend, weitere Akten aus dem Landesarchiv Schleswig-Holstein beiziehend – Schlifke: Doctor Struensee (wie Anm. 13), S. 216 f. 49 Vgl. Sammlung der Gesetze und Verfügungen, welche das Medicinalwesen in den Herzogthümern Schleswig und Holstein betreffen. Hg. von Th[omas] Forchhammer, Altona 1824, S. 14. Zu Struensees Amtsaufgaben im Pinneberger Physikat vgl. Schlifke: Doctor Struensee (wie Anm. 13), S. 203, der aus dem Aktenkonvolut Johann Friedrich Struensee im Landesarchiv Schleswig-Holstein offenbar aus der Bestallung für Pinneberg zitiert. Zu den Apothekenvisitationen vgl. ebd., S. 210 f. und Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 597–632. 50 Zit. nach [Camerer]: Besondere Nachrichten (wie Anm.19), S. 113. – Damit war 1757 ein ereignisreiches und schwieriges Jahr für Struensee: Abschluss des Studiums und Disputation im Februar, schwere Fleckfiebererkrankung in Gedern bei seinem Onkel, die Berufung nach Altona, der schwere Infekt im November, außerdem der Tod des Großvaters im Juni.
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den erhaltenen Visitationsberichten an die Behörde erweist der Physikus sich zwar als streng (in Elmshorn ließ er eine Apotheke schließen, auch regte er eine strafbewehrte Preisbindung an), aber pragmatisch und kooperativ. Einem über die Unmöglichkeit qualitativ hochwertiger Medikamentenvorhaltung bei vorhandenem Absatzmangel klagenden Apotheker will er ein Verzeichnis der notwendigsten und nützlichsten Arzneien aufsetzen, die jederzeit in guter Qualität bereitzuhalten keine Schwierigkeiten machen würde. (Entsprechend wird er als Minister eine Pharmakopöe in Auftrag geben.51) Bei Konzessionsanfragen berücksichtigte er in Abwägung mit der erwünschten Arzneimittelqualität die wirtschaftlichen Interessen des Bewerbers und der Konkurrenten, berücksichtigte Nachfrage, aber auch Erreichbarkeit für die Kranken. Laut Winkle hat Struensee erste Erfahrungen mit Herstellung und Vertrieb von Arzneien in der Medikamentenexpedition der Waisenhausapotheke in den Franckeschen Stiftungen gesammelt, wo er vor Beginn seines Studiums mehrere Monate gearbeitet habe. Er kannte von dort eine vorbildliche Organisation und Qualitätssicherung, habe aber gleichzeitig Einblick in und Abneigung gegen Kommerzialisierung von Arzneien gewonnen, insbesondere gegen das Geschäft mit Arcana. […] Goldtinkturen, Lebensoele, Nervenspiritus […]. Es scheint mit den [sic] Charakter der deutschen Nation verbunden zu seyn, daß ihre Aerzte allezeit etwas Charlatanerie mit ihrer Kunst verbinden. Ich habe nie gehört, daß Boerhaave, Seydenham [sic], Mead, Huxtham [sic] und andere gleich große Aerzte, Mittel, deren Zusammensetzung sie geheim gehalten, verkauft haben. Hingegen haben Stahl, Hoffmann, Junker, Richter und andere deutsche Aerzte sich hiermit bereichert.52
Dieser Klartext aus einem anderen Aufsatz von 1763, in dem mit neidischem Ingrimm von harten Strafen bei historischen Betrugsfällen in England berichtet wird, konnte in Altona wohl gegen Unzer gerichtet gewesen sein, der ein pulvis digestivus unzeri als Allheilmittel bewarb und vertrieb. Ein anderer Sektor der Medizinalverwaltung, der in den Gedanken eines Arztes angesprochen wird, ist die Geburtshilfe. Struensee klagte an zwei sich ergänzenden Fronten: zum einen gegen die Abneigung der Schwangeren, sich ärztlichen – und damit männlichen –Beistands zu versichern, zum anderen gegen inkompetente Hebammen und unkontrolliert agierende, gar nicht ausgebildete Frauen. 1757 hatte Struensee sich bereits nach Göttingen bege51 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 217, 230, Anm. 120, S. 619. 52 [Johann Friedrich Struensee:] Kleine Unglücksfälle einiger falschen Aerzte in England. In: Monatschrift zum Nutzen und Vergnügen. Viertes Stück, im Octobermonat. Hamburg (Michael Christian Bock) 1763, S. 313–318, hier 316, 317, zit. aus dem Faksimile in Winkle: Publizistik (wie Anm. 3), S. 171–178, hier 176, 177. – Ähnlich: „Die bekannte hallische Goldtinctur ist eine Arznei, so diese Benennung mehr in Absicht ihrer Verkäufer, als ihrer Nutzbarkeit verdienet.“ Johann Friedrich Struensee: Anmerkungen über die Gifte und ihre Arzneikräfte. In: SchleswigHollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten und anderen Sachen, Glückstadt 1764, 45. Stück, Sp. 713–722, hier: 716, zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 611.
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ben, um Johann Georg Roederers Geburtshilfe-Unterricht kennenzulernen, nachdem er in Berlin von Johann Friedrich Meckels Praxisferne enttäuscht war.53 Für seine Amtsbereiche und für das Amt Segeberg schrieb er 1761 Gutachten, die den Hebammenbedarf abschätzten, erarbeitete Vorschläge für die geplante Einteilung Holsteins in Hebammendistrikte.54 Im Gutachten für Rantzau regte er beim Administrator Baron von Söhlenthal eine Hebammenschule an. In Altona wurde eine solche eingerichtet, nachdem der Oberpräsident sich von Struensee, dessen Vorvorgänger Maternus de Cilano und dem Amts-Chirurgen und Anatomielehrer des Christianeums Johann Georg Neßler je ein Gutachten über die Notwendigkeit hatte geben lassen. In Flensburg wurde eine zweite Schule etabliert; beide bestanden bis 1805. Neßler bekam die Leitung der Altonaer Schule, Struensees Bemühung darum blieb vergeblich. 1765 setzte er aber eine Entbindungsanstalt in Altona durch, um die Situation der ledig Gebärenden und nicht ehelich Geborenen zu verbessern und Kindstötungen zu verhindern. Die Räume im Komplex des Zuchthauses, wo auch das Anatomicum und das Spital untergebracht waren, wurden nur mit je zwei Betten belegt. Dieser relative Luxus, die Befreiung der Frauen von Geld- und Leibesstrafen, die Aufnahme der Kinder ins Waisenhaus auf Kosten der Armenkasse sowie der Umstand, dass Struensee eben nicht Hebammen am Gebärbett unterrichtete, wie er es eigentlich propagierte, ließen die Akzeptanz dieser Anstalt offenbar steigen. (Im benachbarten Hamburg klagte 1810 Georg Kerner als Arzt am Entbindungshaus über das beengte Wöchnerinnenzimmer, in das „9 Bettstellen hineingepreßt“ seien.55) In seinen späteren Verordnungen und Gesetzesinitiativen werden nicht eheliche Geburten landesweit erleichtert und dekriminalisiert. Diskriminierung nicht ehelicher Kinder in Taufhandlungen, im Berufs- und Erbrecht wurde verboten, ebenso die Kirchenbuße für ledige Mütter, die Todesstrafe für Kindsmord und heimliche Geburten wurde abgeschafft, ebenso Pranger und Kirchenschelte für Ehebruch. Die Gedanken eines Arztes erstrecken sich auch auf die Kindererziehung. Verzärtelung mache den Nachwuchs untauglich für seine Lebensaufgaben, disponiere zu Krankheit und Schwäche. Ein Degenerationsphantasma blitzt auf:
53 Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 20, 539; diese Informationen stammen offenbar aus Meynert (wie Anm. 7). 54 Zum Komplex Geburtshilfe vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 535–568; Schlifke: Doctor Struensee (wie Anm. 13), S. 213–215. Struensee hat zwei Aufsätze zum Thema geschrieben, den späteren veröffentlichte er unter seinem Namen: Von der Geburtshülfe, von den Schwangeren und den Säuglingen. In: Gemeinnütziges Magazin 1760, Oktober, Stück I, S. 17–28. Von den Hebammen. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten und anderen Sachen, Glückstadt 1763, August, Stück 34, Sp. 533–540, Stück 35, Sp. 557–562. 55 Georg Kerner: Ueber das Hamburgische Entbindungshaus und das Entbindungswesen der Armen-Anstalt. Hamburg 1810, S. 7.
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Sie werden frühzeitig alt, zeugen wenige und ungesunde Kinder, deren Nachkommen verhältnißweise immer schwächer werden müssen. Eine weichliche Nation wird im Kriege und von der Schiffahrt viel geschwinder aufgerieben, als eine andere. (21/145)
Zu den entvölkernden Krankheiten, die er abschließend streift, Fieber (wo er wieder eine Ätiologie über mehrere ,Kanäle‘ benennt), Ruhr, Masern, Pocken, gesellt sich die weniger tödliche als fortpflanzungsabträgliche Lustseuche. In einem dieser schon zuvor gewidmeten Aufsatz thematisierte er die Verknüpfung des Problems mit Alkohol und Prostitution, regte obrigkeitlich kontrollierte Bordelle mit geregelter Gesundheitskontrolle an. Außerdem machte er auf die Gefahr wechselseitiger Ansteckung aufmerksam, die von infizierten Ammen bzw. von durch ihre Mütter infizierten Säuglingen ausging – gleichzeitig ein Plädoyer für das mütterliche Stillen.56 In der Therapie verabreichte er nicht die üblichen starken Quecksilbergaben, die schwere Nebenwirkungen hervorriefen, sondern eine schwächere Lösung: „Es ist gewiß, daß alle Arzneien in den Händen eines unerfahrenen zu Gift werden, wohingegen ein vorsichtiger Arzt die stärcksten Gifte in Arzneien verwandelt.“57
V. In der Gesamtschau fügt sich der Arzt und Mediziner Struensee nahezu idealtypisch in den in der Medizinhistoriographie beschriebenen Prozess der Medikalisierung oder auch sog. ,medizinischen Vergesellschaftung‘ ein. Der aufgeklärt absolutistische Staat entdeckt seinen biologischen Körper „in der – möglichst zahlreichen und gesunden – Bevölkerung“58, schafft und übernimmt entsprechende Initiativen und Kompetenzen. Professionalisierung der Heilberufe, Rationalisierung und Akademisierung der Medizin, Kampf gegen Aberglauben sind Elemente dieses Vorgangs. Auch die diskutierte Ambiguität von Disziplinierung einerseits und nachgefragter Verbesserung der medizi56 Vgl. [Johann Friedrich Struensee:] Von der Lustseuche und was dagegen zu thuen sey. In: Gemeinnütziges Magazin 1761, März Stück III, S. 172–198, referiert nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 473–497 („Geschlechtskrankheiten. Das epidemiologische Phänomen der Prostitution und des Alkoholismus“). 57 Struensee: Gifte (wie Anm. 52), Sp. 722, zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 491, Anm. 34. Zur Kur vgl. ebd., S. 478. 58 Norbert Paul: Arztinitiativen in der Zeit des Aufgeklärten Absolutismus. In: „Einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Bett“. Zur Sozialgeschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert. Hg. v. Alfons Labisch und Reinhard Spree, Frankfurt – New York 1996, S. 91–122, hier: 93. – Bezeichnend für entsprechendes Regierungshandeln ist auch, dass auf Struensees Initiative die Lebensrettungsschrift seines Altonaer Nachfolgers (Philipp Gabriel Hensler: Anzeige der hauptsächlichsten Rettungsmittel derer, die auf plötzliche Unglücksfälle leblos geworden sind, oder in naher Lebensgefahr schweben, Altona 1770) auf Staatskosten ins Dänische übersetzt wurde und Exemplare bei Ortsvögten und Pastoren hinterlegt wurden.
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nischen Versorgung andererseits ist wiederzufinden. Struensee hat diesen Prozess intentional und faktisch gefördert und ist mit seinem 1757 begonnenen Wirken ein verhältnismäßig früher Akteur der Medikalisierung. Winkles Suggestion einer rein philanthropischen Motivation ist hier zu relativieren. Wenn z. B. die vom Minister Struensee initiierte Allgemeine Pflegeanstalt in Kopenhagen zwar durch eine Sondersteuer auf Luxuspferde und aus einer (neu geschaffenen) Lotterie mitfinanziert werden sollte und freier Unterhalt bis zum sechsten Lebensjahr gewährt wurde, so verband die Einrichtung doch die Fürsorge für Findlinge und Waisen in zentraler Direktion mit dem Armenwesen und zielte darauf, die „Hauptquellen der Armuth“, nämlich Müßiggang, nicht zu alimentieren. Zur Arbeitsbeschaffung sollten geeignete Manufakturen für „leicht und wohlfeil zu habende Producte“ eingerichtet werden.59 In der Orientierung auf Leistung, Fleiß, Nützlichkeit, Nüchternheit hat Struensee mit den Normen seiner pietistischen Herkunft sicher nicht gebrochen. Allerdings suchte er ordnungspolitisch den privaten Individualbereich des Bürgers dem obrigkeitlichen Zugriff von Staat und Kirche zu entziehen.60 Die biographische, über Vater und Großvater gewissermaßen doppelte ,Einbettung‘ in den Pietismus aber übte hinsichtlich sowohl Frömmigkeit als auch Medizin keine wirksame Prägung aus. Struensees medizinische und ärztliche Ausrichtung zeigt keine Merkmale, die gemeinhin mit pietistischer Medizin verbunden werden. Weder das Stahlsche Anima-Konzept spielt eine Rolle, noch finde ich Hinweise, dass Krankheit als Eingreifen Gottes und die Aufgabe der Arztes als Hilfe nicht nur für den Körper, sondern gleichermaßen für die Seele, Wegbereiterin der Heilung, interpretiert wird.61 Das schließt 59 Zit. nach Kersten Krüger : Johann Friedrich Struensee und der Aufgeklärte Absolutismus. In: Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820. Hg. v. Hartmut Lehmann und Dieter Lohmeier, Neumünster 1983 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 16), S. 11–36, hier: 30; das Zitat rekurriert auf Anlage zu Kabinettsorder Nr. 258 vom 27. 8. 1771 in: Holger Hansen: Kabinetsstyrelsen i Danmark 1768–1772: aktstykker og oplysninger, Kopenhagen 1916, Bd. 1, S. 270 f. Zum „Müßiggang“: Anlage zu Order 837 vom 16. 10. 1771. In: Holger Hansen: Kabinetsstyrelsen i Danmark 1768–1772: aktstykker og oplysninger, Kopenhagen 1916, Bd. 2, S. 254, auch: 607 f. – Vgl. dagegen Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 584 f. 60 Vgl. dazu die Grundsätze, die Struensee dem König vermitteln wollte, in: Des ehemaligen Grafens Johann Friedrich Struensee Vertheidigung an die Königliche Commißion gerichtet und von ihm selbst entworfen, o.O. 1772, S. 37 f. Dazu auch Krüger : Struensee (wie Anm. 59), S. 29. Zur pietistischen Familientradition vgl. Fischer: Familienkonstellationen (wie Anm. 8), S. 175 f. 61 Mit diesen Kriterien beziehe ich mich auf die Ausführungen Jürgen Helms zur Schwierigkeit, ,pietistische Medizin‘ zu definieren, zum Umgang mit Stahls Anima-Begriff, zur Praxis der Krankenfürsorge an den Franckeschen Anstalten, zur Relativierung des Junckerschen ,klinischen‘ Unterrichts. Vgl. Jürgen Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 21). – Zu Struensees Haltung in Glaubensfragen verweise ich auf den aus grundsätzlichen, quellenkritischen Erwägungen nur mit Vorbehalten aussagekräftigen ,Malefikantenbericht‘. Vgl. Balthasar Münter : Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen und Königlichen Dänischen Geheimen Cabinetsministers Johann Friedrich Struensee, nebst desselben eigenhändiger Nachricht von
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nicht aus, dass Struensee von seinen Lehrern und den institutionalisierten Aspekten der Ausbildung in Halle an Universität und Waisenhausapotheke profitiert hat. 1768 bekam Struensee bekanntermaßen einen exklusiven Patienten. Der schwierigen Verfasstheit des jungen Königs begegnete Struensee mit Respekt, den er natürlich seinem König schuldete, aber auch Zuwendung und ermunternder Unterstützung von dessen Selbständigkeit. Es gelang ihm, den König fürs Regieren zu interessieren, ihm Reformen nahezubringen. Als der mentale Status des Monarchen weiter erodierte, setzte Struensee zunehmend auf Ablenkung, Erheiterung, auch Überwachung und ließ Enevold Brandt ein permanentes Unterhaltungsprogramm inszenieren.62 „Gemüthskranke durch Theater, Musik, Tanz, Jagd, Reiten und sonstige Lustbarkeiten aufmuntern“, hatte Struensee schon 1760 in einem Aufsatz gänzlich unpietistisch vorgeschlagen,63 allerdings verordnete er dem König auch kalte Bäder. Denn ganz im der Art, wie er zur Aenderung seiner Gesinnungen über die Religion gekommen ist, Kopenhagen 1772. – Problematik und Wirkungsgeschichte dieses in vielen Auflagen, Ausgaben und Übersetzungen verbreiteten Berichts, der dem Pastor der deutschen St. Petri Kirche in Kopenhagen eine Bühne und Bekanntheit verschaffte, können hier nicht ausführlich diskutiert werden. Neuere Forschung sieht Münter von neologischer Theologie beeinflusst (vgl. Merethe Roos: Enlightened Preaching: Balthasar Münter’s Authorship 1772–1793, Leiden 2013). Die von Goethe wohl aufgrund einer Fehlerinnerung, weil er sich darin „wieder erkannte“, in seine ,Schriften zur Literatur‘ aufgenommene Rezension des Erfolgsbuches in den ,Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ bemängelte mit Gespür eine gewisse ,Kopflastigkeit‘ des Münterschen Tuns, bezweifelte Belastbarkeit und Tiefe der Bekehrung, über die jedoch mit menschlichem Maß nicht zu richten sei. Die religiöse Herzens- und Liebesausrichtung, die aus der Kritik spricht, ist auch jene des jungen Goethe und äußert sich pointiert in der Warnung vor allzu strenger „Religionsmoral“ – der väterlichen Autorität des Hallischen Pietisten Adam Struensee implizit unterstellt –, die dem Christentum und seiner Verbreitung abträglich sei. Vgl. Goethes Sämtliche Werke. Hg. v. Karl Goedeke, Bd. 8, Stuttgart 1885, S. 35–37: „Struensee wußte wohl selbst nicht, wo sein Glauben lag; wie sollte es Herr Dr. Münter wissen?“, hier S. 36. Zweifel an der Verfasserschaft, aufgrund deren die Besprechung in jüngere Werkausgaben nicht mehr aufgenommen wurde (als möglicher Verfasser wurde auch sein späterer Schwager Johann Georg Schlosser erwogen), schon in: Goethes Sämtliche Werke (Jubiläums-Ausgabe), Bd. 36, Schriften zur Literatur I. Hg. v. Oskar Walzel, Stuttgart – Berlin [1906], S. 53. Tatsächlich aber hat Goethe in den ,Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘ im Dezember 1772 ein Gedicht von Johann Christoph von Gritsch, ,Graf Struensee am Rande seiner Vernichtung‘, kritisiert; dazu vgl. Robert Steiger : Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, Bd. 1 (1749–1775), Zürich – München 1982, S. 578 f. – Festzuhalten ist, dass Münters Bericht, Geheimhaltung und Willkür des Prozessgeschehens sowie sensationslüsterne und polemische Publizistik (vgl. Christine Keitsch: Der Fall Struensee – ein Blick in die Skandalpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Hamburg 2000) eine nachhaltige Verzerrung des Struensee-Bildes in der Öffentlichkeit bewirkten – zumal bei verbreiteter Unkenntnis der Situation am dänischen Hof. 62 Brandt litt unter dem vom König nachgefragten geringen Niveau der Veranstaltungen, fühlte sich als Hofnarr traktiert. Die Auszüge aus dem Briefwechsel Brandt/Struensee vom September 1771, die Winkle aus dem Französischen übersetzt wiedergibt, sind im Licht der späteren Ereignisse tragisch zu nennen. Vgl. Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 236–242. 63 [Struensee:] Gedanken Aberglauben (wie Anm. 39), S. 20, zit. nach Winkle: Struensee (wie Anm. 4), S. 236. – Vgl. zu dieser Art Kuren auch Carsten Zelle: Klopstocks Reitkur – Zur
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Trend und im Gefolge Tissots sah er für Genese und Entwicklung des königlichen Zustands Masturbation als zumindest mitverantwortlichen Faktor an.64 Es liegt eine verstörende und grausame Pointe seines Schicksals darin, dass Struensee, der den ,biologischen Körper‘ des Volkes, des Souveräns der Zukunft, im Dienste des Staates zu erhalten und zu verbessern angetreten war, sein Leben nach den Gesetzen einer Ordnung verlor, die – noch – nur den sakrosankten ,doppelten‘ Körper des Königs kannte.65 Enevold Brandt kostete es das Leben, dass er dem König in den Finger gebissen hatte. Struensees Majestätsverbrechen bestand in einer auch von ihm selbst vielleicht unverstandenen Verwechslung des politischen Körpers, den zu substituieren die Zeit noch nicht gekommen war.
Konkurrenz christlicher Lebensordnung und weltlicher Diät um 1750. In: Aufklärung und Religion. Neue Perspektiven. Hg. v. Michael Hofmann und Carsten Zelle, Erlangen 2010, S. 65–84. 64 Vgl. M8moire sur la situation du roi, das Struensee in der Haft verfasste. Abgedruckt in Holger Hansen (Hg.): Inkvisitionskommissionen af 20. Januar 1772: Udvalg af den Papirer of Brevsamlinger til Oplysning om Struensee og hans Medarbejdere. Bd. 2, Kopenhagen 1930, S. 162–179. – Tissots französische Veröffentlichung zur Onanie (Samuel Auguste David Tissot: L’ onanisme: Ou dissertation physique sur les maladies produites par la masturbation) erschien 1760, im gleichen Jahr erschien dessen lateinische Abhandlung von 1758 (Tentamen de morbis ex manustupratione) in deutscher Übersetzung; die Hamburger Typographische Gesellschaft ließ 1767 die 3. Auflage der französischen Fassung in deutscher Übersetzung erscheinen. – Die kalten Bäder sollten zur Erfrischung und Stärkung des angegriffenen Nervensystems verhelfen, dessen krampfhafte Neigung zu unordentlichen Bewegungen beruhigen. 65 Das Schema des natürlichen und des politischen Körpers des Königs entwarf Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs: eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990 (The King’s Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957).
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Adam Bernds Selbstanalyse seiner Leibesanfechtungen und Heilungsbemühungen im Lichte pietistischer Psychagogik (Eigene Lebensbeschreibung, 1738) I. Im November 2013 fand in Paris eine Tagung statt über das Thema Raconter la maladie au XVIIIe siHcle. Adam Bernds Eigene Lebensbeschreibung hätte durchaus das Interesse des Publikums beanspruchen können, entspricht seine erklärte Absicht beim Verfassen seiner Autobiographie doch genau diesem Vorhaben: seine Krankheit zu erzählen, über sie zu berichten. So lautet nämlich der vollständige Titel seiner 1738 in Leipzig publizierten Autobiographie: M. Adam Bernds, Evangel. Pred. Eigene Lebensbeschreibung Samt einer Aufrichtigen Entdeckung und deutlichen Beschreibung einer der grösten, obwol großen Theils noch unbekannten Leibes= und Gemüths=Plage, Welche GOtt zuweilen über die Welt=Kinder, und auch wohl über seine eigene Kinder verhänget, Den Unwissenden zum Unterricht, Den Gelehrten zu weiterm Nachdencken Den Sündern zum Schrecken, und Den Betrübten, und Angefochtenen zum Troste. – Leipzig, 1738. – Verlegts Johann Samuel Heinsius.1
Eine Absicht, die er in der Vorrede noch verdeutlicht. Es geht ihm darum, meine seltsamen Leibes- und Gemüts-Plagen, mit denen ich in meinem Leben bin behaftet gewesen, in einem besonderen Buche zu beschreiben, um den leiblichen, und geistlichen Ärzten Materie an die Hand zu geben, bei erbärmlichen Leibes- und Seelen-Zufällen, so ihnen vorkommen, weiter nachzudenken, und desto geschickter zu sein, ihre Patienten zu curiren, und sie von ihrem Jammer-vollen Zustande zu befreien. [LB, S. 5]
Für den heutigen Leser sind solche Zeugnisse wie Adam Bernds Eigene Lebensbeschreibung bedeutend geworden, die noch in den 50er Jahren als un1 Im Folgenden wird nach folgender Ausgabe zitiert: Adam Bernd: Eigene Lebensbeschreibung [Leipzig, 1738]. Hg. v. Volker Hofmann, München 1973 (Die Fundgrube). Gekürzt als „LB“, mit Jahr, Abschnitt- und Seitenbelegen den jeweiligen Zitaten direkt nachgestellt.
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lesbar galten: „ein abgesehen von wenigen Stellen kaum lesbarer Hypochonderbericht“2 – so das lapidare Urteil Herbert Schöfflers über diesen Text. Aus dem vermeintlich unverdaulichen Wust ist ein wertvolles Zeugnis für die „d8buts de l’autobiographie en Allemagne“ [Anfänge der Autobiographie in Deutschland] geworden – nach dem Titel der ersten, Anfang der Neunziger Jahre in Frankreich von dem französischen Germanisten Rolf Wintermeyer der Autobiographie Adam Bernds gewidmeten eingehenden Studie.3 Bei dieser einfühlsamen Darstellung wird die Singularität Bernds betont, der als Selbstquäler, Außenseiter und Randfigur bewertet wird, die letzten Endes in keine Gemeinschaft, wohl auch in kein Denkschema hineinpasst. Adam Bernds Autobiographie wird von Hans-Jürgen Schings zwischen John Bunyans (1628–1688), Grace abounding to the Chief of Sinners (1666), und dem psychologischen Roman von Karl Philipp Moritz, Anton Reiser (1785–1794) angesiedelt: „Es beginnt wie eine pietistische Bekehrungs-und Anfechtungsgeschichte […]. Es endet mit dem Wunsch nach einer wissenschaftlichen Untersuchung.“4 Bernds Eigene Lebensbeschreibung bildet also ein wichtiges Glied in der Entwicklung von der religiösen Autobiographie zum psychologischen Roman, wohl auch ein Glied in der Kette von der Chronik zur ausgeformten „8criture du moi“ – von einer Form der Ego-documents, bzw. der „8crits du for priv8“, die auf die Lebenswelt zentriert ist, zu einer Form des persönlichen Zeugnisses, die dem souci de soi, der Foucaultschen „Sorge um sich selbst“, zugeordnet werden kann. Adam Bernd ist 1676 als Sohn eines Kohlgärtners in Breslau geboren, wie Christian Wolff, und wie dieser ist er ein Lutheraner im Schlesien der katholischen Gegenreformation. Er wird Pfarrer und Prediger in Leipzig (1712–1728). Als Autor von Erbauungsliteratur und Abhandlungen zu Theologie und Philosophie, ist Bernd durch die „Melodius-Affäre“ berühmt geworden – unter dem Pseudonym „Melodius“ veröffentlicht er 1728 einen 2 Herbert Schöffler : Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz bis Christian Wolff, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1974, S. 186. (Die 1. Aufl. erschien 1956 unter dem Titel: Deutscher Osten im deutschen Geist, 1940). 3 Rolf Wintermeyer: Adam Bernd et les d8buts de l’autobiographie en Allemagne au XVIIIe siHcle, Bern [u. a.] 1993 (Contacts, S8rie 3, „Ptudes et documents“, Bd. 23). Vgl. zum Thema (mit weiteren Literaturangaben) ferner Anne Lagny : Bekehrungsbericht, Fallgeschichte, Lebensbeschreibung. Die Konstruktion der modernen Innerlichkeit in Adam Bernds Autobiographie (1728). In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses, Bd. 7: Bild, Rede, Schrift, Bern [u. a.] 2008, S. 269–273; Cornelia Bogen: Der aufgeklärte Religionist Adam Bernd – Autobiografie als Therapie. Der „melancholische Selbstmörder“ als Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. v. Christian Soboth u. Udo Sträter. Bd. 2, Halle 2012 (Hallesche Forschungen, Bd. 33/2), S. 561–571 sowie, unter Bezug auf die pietistische Medizinalschule in Halle, Katrin Löffler : Scharfes Geblüt, flüchtige Lebensgeister und die Plagen der Imagination. Adam Bernds ,Eigene Lebens=Beschreibung‘ im Kontext frühaufklärerischer und pietistischer Anthropologie. Ebd., S. 573–585. 4 Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, Stuttgart 1977, S. 99.
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Traktat, der ihm die Verurteilung seiner Thesen einbringt und ihn auch seine Stelle als Prediger kostet. Zehn Jahre später erscheint seine Eigene Lebensbeschreibung, als Stück eines umfangreichen Unternehmens der Selbst-Rechtfertigung und Verteidigung seiner Rechtgläubigkeit. In der nächsten Generation wird Bernds Lebensbeschreibung als bedeutender Beitrag zur Anthropologie als Wissenschaft vom ganzen Menschen bewertet: Selbstbeobachtung und Reflexion über Melancholie, Beziehungen zwischen Seele und Körper, akribische Beschreibung von pathologischen Zuständen, vom Mechanismus der Gedankenassoziationen, lange Ausführungen zur Frage des Selbsmordes, der durch die Bedeutung der unwillkürlichen und zwanghaften Ideen erklärt wird, so dass der Selbstmord schließlich nicht mehr unter die Verurteilung durch die Theologen fällt.5 Zwei Namen bezeugen die Rezeption von Bernds Eigener Lebensbeschreibung in den Kreisen, die in die Debatte um die questions vives der Zeit eintreten: Johann Gottfried Herder und das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. In der ersten Phase seiner Reflexion über die Autobiographie (Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, 1778), nennt Herder Bernds Eigene Lebensbeschreibung in einem Zug neben Augustin, Petrarca, Montaigne und Cardan, als ein Werk, das entscheidend zur Kenntnis vom inneren Menschen beigetragen hat, dem die neue Wissenschaft vom Körper sich jeglichen Zugang verbaut, indem sie die organische Einheit eines Ganzen auseinander nimmt und zur abstrakten Analyse tendiert.6 Der zweite Herausgeber des Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Carl Friedrich Pockels (in Abwesenheit von Karl Philipp Moritz, der sich damals in Italien aufhielt), veröffentlicht kommentierte Auszüge aus Bernds Autobiographie: In seiner Einleitung unterscheidet er streng zwischen den seines Erachtens wertvollen psychologischen Analysen, die sich durch „Rousseauische Genauigkeit“ auszeichnen, und den Passagen, die im lächerlichsten Aberglauben befangen bleiben:7 5 Zu der sich unter dem Einfluss des Pietismus zögerlich wandelnden theologischen Einstellung gegenüber dem Selbstmord als einer nicht notwendig zu ewiger Verdammnis führenden „Krankheit zum Tode“ vgl. etwa Hans-Martin Kirn: „Ich sterbe als büßende Christin…“. Zum Suizidverständnis im Spannungsfeld von Spätaufklärung und Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 252–270, sowie, mit zusätzlicher Lit.: Hans-Jürgen Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes ,Werther‘. In: Goethe und die Bibel. Hg. v. Johannes Anderegg u. Edith Anna Kunz, Stuttgart 2005 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, Bd. 6), S. 57–88, hier S. 78, Anm.59 sowie ders.: Erfahrung der äußersten Anfechtung. Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) in literarischen Reflexen. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“ (wie Anm. 3), Bd. 1, Halle 2012 (Hallesche Forschungen, Bd. 33/1), S. 185–207, hier S. 200–206. 6 Herder : Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume [Riga, bey Johann Friedrich Hartknoch, 1778]. In: Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8, Berlin 1892, S. 165–236, hier S. 180–182. 7 CMYHI SAUTOM oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde. Hg. v. Karl Philipp Moritz, Bd. V (1787), S. 81 f.
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Es enthält eine Menge sehr wichtiger psychologischer Bemerkungen über den Ideengang der menschlichen Seele, über die Gewalt früher Jugendeindrücke, über die Natur der Einbildungskraft und über die Schwächen der menschlichen Vernunft in sich.8
Der Aberglauben wird dagegen schonungslos verurteilt: Er führt im Folgenden noch andere zum Theil abergläubische Omina seiner künftigen Leiden an, worunter das wohl das lächerlichste ist, daß er sich oft geneigt gefühlt, das Ungeziefer, womit ein Bettelweib sein Haus angesteckt, für eine Vorbedeutung seiner vielen Fehler, Verbrechen, Verderbnisse, Sünden und Unarten zu halten.“9
Solche Bemerkungen signalisieren allerdings, dass dem Popularphilosophen Pockels, der um Durchsetzung von rationalen Erklärungsmustern bemüht ist, die sinnstiftende Funktion von solchen Passagen im Gesamtzusammenhang der Eigenen Lebensbeschreibung entgeht: Für ihn müsse der Aberglauben, der in Ermangelung einer zufriedenstellenden Erklärung für sonderbare Erscheinungen grassiere, mit dem Fortschritt der menschlichen Kenntnisse zurücktreten und schließlich restlos verschwinden. Die Richtigkeit seiner Auffassung verbürge noch folgende Mitteilung eines wohl schon aufgeklärten Menschen: Neulich gestand mir noch ein gescheuter, sehr angenehmer Mann, daß er seinen Glauben an einen Teufel gleich aufgeben wolle, wenn man ihm unwillkürlich böse Gedanken auf eine natürliche Art in Absicht ihres Ursprungs erklären würde.10
Gegen ein derart flaches Aufklärungskonzept ist Karl Philipp Moritz eingeschritten, der seinerseits für eine angemessenere Beurteilung des Aberglaubens plädiert: solche und ähnliche Verirrungen und Irrtümer sollen als Teil der menschlichen psychologischen Erfahrung überhaupt betrachtet und gewürdigt werden. Sie dürfen nicht von vornherein und nicht von außen her im Namen der Rationalität ausgemerzt und kuriert, sondern im Gesamtzusammenhang des inneren Lebens erfasst werden. Dem Menschen wird grundsätzlich die Fähigkeit zugesprochen, in einem langwierigen Selbst-Aufklärungsprozess seine irrigen Vorstellungen allmählich zu berichtigen und mit der Zeit auch sein Unterscheidungsvermögen zu stärken.11 Die Absicht von Bernds Autobiographie „raconter la maladie“, deckt sich 8 Karl Friedrich Pockels: Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung. Die Auszüge sind im 1. und 2. Stück des 5. Bandes des Magazin (wie Anm. 7) veröffentlicht, in der Abteilung „Seelenkrankheitskunde“: 1) V. Band (Berlin 1787), 1. Stück: Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde, S. 103–127; 2) V. Band (Berlin 1787), 2. Stück: Seelenkrankheitskunde, S. 17–39. Im Folgenden als „Magazin“ mit Band-, Stück- und Seitenzahl. 9 Magazin, V. Band (1787), 1. Stück, S. 107. 10 Ebd., S. 108. 11 Karl Philipp Moritz: „Revision über die Revisionen des Herrn Pockels in diesem Magazin“, Magazin, VII. Band (1789), 3. Stück, S. 3 f. Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde.
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mit beiden Perspektiven, einerseits des Berichtes (mit der Konstruktion eines pathologischen Falls, mit der akribischen Beobachtung und Beschreibung der Symptome, des Krankheitsverlaufs, der besonderen körperlichen Prädisposition, der Veranlagung des Menschen, der körperlichen Beschaffenheit und Befindlichkeit); andererseits der eigentlichen Erzählung, die den Sinnzusammenhang des Selbstzeugnisses konstituiert, dem die religiöse Erforschung des Inneren eine besondere Eindringlichkeit verleiht. In Bezug auf die religiöse Dimension der Eigenen Lebensbeschreibung bedarf es hier einer Klärung. Bernds Autobiographie wird häufig zu den „pietistischen Autobiographien“ gezählt. Fest steht jedoch, dass die ausschlaggebende Krise, diejenige, die dem autobiographischen Vorhaben zugrunde liegt, viel eher aus Bernds Zweifeln an der Lehre resultiert als aus der eigentlichen Erfahrung des Wiedergebohrnen, wie er uns begegnet etwa im Bekehrungsbericht von August Hermann Francke oder in den unzähligen Zeugnissen, die in der von Johann Henrich Reitz herausgegebenen Sammelbiographie zusammengetragen wurden.12 In diesem Fall würde man Bernds Weg angemessener als „Suche nach der Orthodoxie“ verstehen, zumal er als abgesetzter Prediger, der sich nach gütiger Vergebung seiner Verirrungen und Wiederaufnahme in der Kirche sehnt, eher dazu neigen dürfte, das radikale Moment seiner religiösen Erfahrung zu mildern, womöglich auch die Spuren einer pietistischen Phase zu verwischen, und dagegen auf seine Rechtgläubigkeit zu pochen. Zwar ist Bernd mit dem historischen Pietismus in Berührung gekommen, doch ist der Pietismus in seiner Autobiographie nur ein Impuls neben anderen (Malebranches Lehre von der Einbildungskraft, System der prästabilierten Harmonie leibnizscher Prägung, philosophische Lehren wie psychologische und medizinische Theorien, usw.), die gemeinschaftlich sein Welt- und Menschenbild formen. Wenn man von der Bezeichnung seiner Mutter als „pietistisch“ absieht (was wohl im Sinne von sittlicher Strenge aufzufassen ist und in der Schilderung der Jugendeindrücke nicht weiter ausgeführt wird), erfolgt die Berührung mit pietistischem Gedankengut durch die Vermittlung seines ersten Lehrers in Breslau, des Kircheninspektors Caspar Neumann – als Chrysostomus Vratislaviensis eine herausragende Persönlichkeit der Breslauer Kirchengeschichte –,13 der ihn in der ersten Phase seiner Laufbahn als angehender Prediger geschützt hat, später aber sich von ihm abgewandt hat, ja – laut Bernds Angaben, der hier kein zuverlässiger Zeuge sein dürfte – ihn regelrecht verfolgt hat. Bernd bezeichnet ihn als Sympathisanten Speners und Franckes, der nach dem Zerwürfnis mit einem allzu eifrigen Francke-Kandidatus schließlich „ein 12 Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe. Hg. von HansJürgen Schrader, Niemeyer 1982 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock, Bd. 29) 13 Hildegard Zimmermann: Caspar Neumann und die Entstehung der Frühaufklärung. Ein Beitrag zur schlesischen Theologie- und Geistesgeschichte im Zeitalter des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 4).
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scharfer Anti-Spenerianer geworden“ sei (LB, Anno 1708, § 98, S. 245). Belegt sind auch Begegnungen mit namhaften Pietisten: u. a. Francke, der ihn bei einem Aufenthalt in Halle freundlich aufgenommen und zur Vermittlung einer Pfarrstelle an Justinus Töllner gewiesen habe. Doch habe er sich von den Pietisten distanziert, bei denen man sich verlogen und heuchlerisch einzuschmeicheln und regelrecht den Tartuffe zu spielen habe: Ich war ihm viel zu munter, und sahe ihm viel zu fröhlich aus, als daß er mich hätte zum Predigt-Amt vor tüchtig halten sollen. Die Peruque, die ich trug, war nicht nur zu groß, sondern hatte auch noch zu viel Poudre, und es fehlte nicht viel, so wären wir bald über dem Disput von Mittel-Dingen miteinander in Zank geraten. [LB, Anno 1708, § 98, S. 245]
Bernds Eigene Lebensbeschreibung liest sich wie eine Chronik mit annalistischer Struktur, in der Elemente einer Gelehrtenvita erkennbar sind wie etwa die verschiedenen Phasen des Lernens in der Jugend, das Studium der Theologie in Leipzig, das ausgeprägte Interesse für die Kontroversen – dem Terministischen Streit u. a. widmet er mehrere Seiten, und auf die dogmatisch begründeten Divergenzen zwischen der katholischen und der evangelischen Lehre kommt er häufig zu sprechen. Pietistische Motive und Textformen mögen wohl eine Rolle spielen, doch schöpft die Logik der Erfahrung auch aus anderen Quellen.
II. Die schon zitierte Formel von Hans-Jürgen Schings, Bernds Autobiographie beginne wie eine pietistische Bekehrungsgeschichte und ende mit dem Wunsch nach wissenschaftlicher Erklärung, ist nicht ganz zuzustimmen, insofern sie zu der irrigen Annahme verleiten könnte, Adam Bernd habe sich mit der Zeit endgültig von aller religiösen Bindung losgelöst und dann auf jegliche religiöse Deutungsmuster zugunsten dem rationalen Erklärungssystem der modernen Wissenschaft verzichtet. Dem ist nicht so, wie die Fortsetzung der Eigenen Lebensbeschreibung belegt: Adam Bernd bleibt immer noch in demselben Dilemma befangen, zwischen religiöser Bindung und naturalistischen Deutungsvorschlägen oszillierend, so dass in diesem Sinne sich keine eigentliche Entwicklung oder nennenswerte Änderung seines Welt- und Menschenbildes konstatieren läßt. Die Religion bleibt weiterhin Leithorizont der Autobiographie, und wenn sich an manchen Stellen die wissenschaftliche Erklärung durchsetzt, dann macht sie die religiöse Deutung des Lebens- und Leidensweges nicht verzichtbar. Sie ist es nämlich, die den Sinn des menschlichen Lebens verbürgt und als Instanz des Trosts dem geprüften Menschen Heilung und Erlösung in Aussicht stellt. Die Religion bedingt sowohl das beängstigte Sündenbewusstsein des Menschen als auch die trostvolle Perspektive der Heilsgewissheit, durch die
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sinnstiftende Funktion des individuellen Bekenntnisses und der Selbsterforschung. Die eigene Geschichte hebt sich somit auf dem Hintergrund der Chronik der Lebenswelt, und selbst der Gelehrtenvita ab. Doch ist das Vorhaben, über das eigene Leben als persönliche Leidensgeschichte zu berichten, mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Eine hängt mit dem eigentlichen Gegenstand der Darstellung zusammen: Die Preisgabe der intimsten Leiden, die sonst den Mitmenschen verborgen bleiben, mag bei diesen Abscheu und Schrecken erregen: die Leiden, so ich von mir erzähle, sind solchen Leiden, welche insgemein ein jedermann, wie Rahel ihre Götzen, verbirget und welche die meisten Menschen dermaßen verabscheuen, ja dafür erschrecken, daß ich dieselben auch in meinem Lebens-Laufe nur habe mit einfließen lassen […].[LB, Vorrede, S. 6]
Eine solche Selbst-Entblößung und Enthüllung der menschlichen Misere ist für das Publikum noch kaum zumutbar : Adam Bernd, der auch als Ausgestoßener meint, nichts mehr zu verlieren zu haben, rechnet auch damit, dass „[s]eine besten Freunde […], wie die Freunde Hiobs, vor [ihm] verächtlich vorüber gehen, sobald sie [s]eine Striemen und Beulen, [s]eine Fehler, Gebrechen, Mängel, und Schwachheiten […] mit Augen sehen“ (LB, Vorrede, S. 6). Die Bedeutung und Legitimität von Bernds Autobiographie haben wir letzten Endes darin zu suchen, dass sie das Erzeugnis der „culture de l’aveu“ darstellt, in der Michel Foucault einen vorherrschenden Zug der europäischen Kultur sieht. Adam Bernd steht hier exemplarisch für die von dem Philosophen vermerkten, allerdings nicht weiter kommentierten Entwicklung, wo die Praxis der Seelsorge, „das tausendjährige Joch des Geständnisses“ (le joug mill8naire de l’aveu) an die medizinischen Praxis anknüpft, mit entsprechender Veränderung des Menschenbilds.14 Eine zweite Schwierigkeit rührt daher, dass Bernd zwischen zwei konkurrierenden Erklärungsmustern steht und sich weigert, sich zwischen beiden zu entscheiden: dem religiösen, nach dem seine Leibes- und Gemütsplagen als religiöse Anfechtungen auszulegen sind; dem „naturalistischen“,15 das sich mit dem Aufschwung der modernen Wissenschaften allmählich durchsetzt und rein religiöse Deutungsmuster obsolet macht: Zwar gereicht es einem vor Zeiten zu besonderm Ruhme, wenn man von ihm wußte, daß er viel hohe geistliche Anfechtungen in seinem Leben ausgestanden; und man maß die Größe der Lehrer nach der Größe der Versuchungen, welche über sie gekommen waren, weil man mit Luthero glaubte, daß die Tentationes und Versuchungen einen Gottes-Gelehrten machten. [LB, Vorrede, S. 6.] 14 Michel Foucault: Histoire de la sexualit8. Bd. 1: La Volont8 de savoir, Paris 1976 (BibliothHque des Histoires). 15 Vgl. den Artikel: Naturalisterey. Naturalismus. In: Zedlers Universal=Lexikon, Bd. 23, Sp. 1237 f. Auf diesen Artikel verweist der Artikel „Rationalismus“.
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Aber die heutige philosophische, naturalistische, und irreligionistische Welt kann vor dem verstopften Milze, und der hitzigen schwarzen Galle schier keine göttlichen, noch teufelischen Anfechtungen mehr finden; und, wenn sie nur von einem sagen höret, daß er in schweren Anfechtungen stecke, so krieget sie schon einen verächtlichen Begriff von ihm, als von einem milzsüchtigen oder gallsüchtigen Menschen, der an Einbildung krank liegt, der nicht mehr gut transpirieret, und Gespenster siehet, wo keine zu finden, und macht sich wohl gar in Gesellschaften auf seine Unkosten noch darüber lustig. [LB, Vorrede, S. 6]
Adam Bernd wird in seiner Erzählung zwischen diesen beiden Polen vermitteln müssen: auf der einen Seite wird die religiöse Perspektive aufrechterhalten, doch mit größerer Vorsicht, um die Glaubwürdigkeit seines Berichts in den Augen seiner Zeitgenossen nicht zu gefährden: So kündigt er an, dass er alle solche Casus und Zufälle meines Lebens kurz mit anmerken werde, wo es den schein gehabt, als ob eine besondere Würkung Gottes, oder des Satans dabei beschäftiget gewesen, und Gott, oder der Satan seine Hand, wie man redet, mit im Spiel gehabt. (LB, Anno 1688, § 12, S. 45)
Auf der anderen Seite muss er naturgesetzliche Erklärungsmuster mit einbeziehen. Dabei handelt es sich nicht um ein einfaches Neben- oder Gegeneinander zweier konkurrierender Absichten. Bernds Erzählung seiner Leibesund Gemütsplagen weist eine originelle und kreative Art des Kompromisses auf, wobei beide Deutungssysteme aufeinander bezogen, beide hinterfragt und in ihre jeweiligen Grenzen gewiesen werden. Dieses bewirkt eine tiefgreifende Änderung der Grundeinstellung zu der Krankheit, die Bernd verdeutlicht, indem er für die Anerkennung der Würde des kranken Menschen plädiert und sich jegliches Verlachen und Verhöhnen der Schwächeren und Angegriffenen verbittet. Die Außenstehenden dürfen somit die körperlich und seelisch geplagten Menschen nicht für eingebildete Kranke halten, für die sie nur Verachtung übrig haben. Damit verschwindet auch literarisch eine Quelle der Komik, bzw. der groben Komik, die am Rande des Textes durch die Erwähnung von MoliHres Malade imaginaire heraufbeschworen wird. Diese Plagen und Qualen sollen vielmehr als wirkliche Krankheiten anerkannt und behandelt werden, und das Mitgefühl der Menschen erregen. Der kranke Mensch soll nicht ausgestoßen, sondern verstanden werden: Man sollte dem Menschen nichts zur Schmach, und Schande, als die Sünde machen, und nichts ihm anrechnen, als was in seinem Vermögen gestanden zu tun, oder zu lassen. Aber siehe der Leute Unart! Sie verlachen und verhöhnen einander in Dingen, worüber sie eher ihr Mitleiden bezeugen sollten; sie vituperiren, wo sie condoliren sollten. [LB, Vorrede, S. 10]
Gleichzeitig ist zu beobachten, wie mit diesem ersten Schritt auf den Kranken zu die Gültigkeit früherer Deutungsmuster erschüttert wird, und damit Grenzen neu gezogen werden müssen. Das Maß der Schuld und der Sünde
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wird nach dem bemessen, was im Vermögen des Einzelnen steht. In der religiösen Perspektive wird allzu leicht auf Sünde geschlossen, wo eigentlich nur menschliche Schwäche – ohne jede böse Absicht – zu beklagen ist. Die eindringliche Beschreibung von Zuständen – zwanghaften Wahnvorstellungen, Selbstmordgedanken, Angstanfällen – in denen die Unzurechnungsfähigkeit und Unberechenbarkeit des leidenden Menschen hervorgehoben wird, trägt zur Relativierung von religiösen Kategorien bei. Die Wissenschaft und die Medizin können auch nicht immer Antworten und Lösungen liefern. Manchmal tappen auch sie im Dunklen. Der erste Schritt zur Heilung des Kranken, ja auch zur Erlösung des sündigen Menschen, ist wohl die gerechtere Beurteilung von pathologischen Zuständen, und hiermit die Entkriminalisierung von Taten und Gedanken, bei denen der Mensch für unzurechnungsfähig erklärt werden sollte.
III. Die Hauptkrisen seiner Krankheit, die sich grundsätzlich von der annalistisch angelegten Chronik abheben, werden als Kristallisationspunkte eines höchst individuellen Schicksals dargestellt und in ihrem Zusammenhang werden sie in der Konstruktion der individuellen Geschichte der Leibes- und Gemütsplagen ausschlaggebend. Ich möchte hier auf einige Textstellen eingehen, die diesen Zusammenhang eigens betonen, indem der Autor sich auf die Chronologie stützt, und zugleich bestimmte Jahre und Episoden wertend aussondert, auf einander bezieht und einander zuordnet, als Bestandteile eines und desselben Erzählkomplexes der persönlichen Lebensgeschichte. Häufig besinnt er sich am Anfang des einem einzelnen Jahr gewidmeten Abschnitts auf den besonderen Charakter dieses Jahres und prüft es auf seine Bedeutung im Rahmen der Lebensgeschichte hin, wie z. B. an dieser Stelle, die für viele ähnliche stehen mag: Dieses 1709te Jahr gehört auch unter die merkwürdigsten meines Lebens […]. Es kann mit dem 1695. 1704. 1717. 1728 und 1736 verglichen, und denselben, was den merkwürdigen Zustand meines Leibes und Gemütes anbetrifft, in welchem ich mich befunden, an die Seite gesetzet werde. Anno 1695 stund ich Sünden-Angst, Anno 1704 Höllen-Angst, und in diesem 1709ten Jahre habe ich vom andern Advent an bis Oculi 1710 Todes-Angst ausgestanden. Gott warf mich dem Tode im Rachen, da er mich vor 5 Jahren dem Satan aus seinen Klauen gerissen hatte. [LB, Anno 1709, § 102, S. 250]
Bernd konstruiert die Progression seiner Leibes- und Gemütsplagen (SündenAngst, Höllen-Angst, Todes-Angst). Der Erfahrungszusammenhang ist ein religiöser, wie auch durch die Aufnahme der zyklischen Chronologie des liturgischen Jahres unterstrichen wird: am Karfreitag kann Bernd eine be-
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merkensswerte Steigerung seiner Schmerzen beobachten, das Osterfest bringt eine Erlösung davon. Erst mitten in dieser religiösen Welt behauptet sich die wissenschaftliche, medizinische Perspektive zur natürlichen Erklärung der Leibes- und Gemütsplagen. Zwei Momente möchte ich herausgreifen, um den Übergang der rein religiösen Perspektive zur spezifischen Perspektive der Eigenen Lebensbeschreibung zu kennzeichnen: Die eigentliche „Geschichte“ der ausgestandenen Leibes- und Gemütsplagen beginnt nämlich „Anno 1695“ mit der Gewissensangst des jungen Menschen. Weiter werden die Episoden der Krankheit immer mehr mit den Episoden der spirituellen Krankheit vermengt, so dass hier der Nachdruck eindeutig auf der religiösen Geschichte liegt. In den Jahren 1703–1704 lässt sich allerdings eine allmähliche Durchbrechung der religiösen Perspektive beobachten. Die erste Stufe, die der Gewissensangst, geht wohl mit dem Erwachen des moralisch-religiösen Gewissens einher, welches erst recht die Historizität der Eigenen Lebensgeschichte bedingt. Bei der Darstellung der inneren Krise greift Bernd zu klassischen Motiven des menschlichen Werdegangs, mit deutlich voneinander unterschiedenen Altersstufen. Jedes Lebensalter wird durch eine je besondere Form der Anfechtung oder Versuchung charakterisiert. Im Großen Katechismus Luthers liegt der Passage über die Anfechtung eine solche Typologie der Anfechtungen nach den jeweiligen Lebensaltern zugrunde: Der Jugend eignen die Versuchungen des Fleisches, dem reifen Alter die Versuchungen durch die Welt: Daruemb ists viel ein ander ding, anfechtung fuelen und darein verwilligen odder ia dazu sagen. Fuelen muessen wir sie alle, wiewol nicht alle einerley, sondern etliche mehr und schwerer: als die iugent furnemlich vom fleisch, darnach was erwachsen und alt wird, von der welt, die andern aber so mit geistlichen sachen umbgehen, das ist die starcken Christen, vom Teuffel.16
Mit solchen Motiven wird das annalistische Grundschema der Chronologie durchbrochen und die Perspektive der individuellen Geschichte umrissen. So erscheint die Kindheit im Rückblick als Lebensalter der frommen Einfalt, worauf dann der „Fall“ in jugendliche Sünden und Laster folgt, mit denen der Heranwachsende sich herumplagen muss. Bei der Darstellung dieser Lebensphase, wo Bernd zum ersten Mal den Widerstand der verdorbenen Natur gegen die göttliche Gnade erfährt, wird das Bekehrungsschema nach hallischem Muster als Textform zur Gestaltung dieser eigenartigen Krise erprobt, mit nicht ganz eindeutigem Erfolg. Hier versucht Bernd nämlich, eine Art Bekehrungserlebnis in Szene zu setzen, mit einem Vorher und Nachher. Zum Vergleich sei an die zentrale Bedeutung der Bekehrung im Leben des Pietisten erinnert: 16 Luther : Die Sechste bitte. Und fure uns nicht ynn versuchunge. In: Der Große Katechismus. 1529 (WA 30 I, 125–238), S. 208.
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Im vornehmlich von August Hermann Francke geprägten halleschen Pietismus tritt die Psychagogik der Bekehrung in den Mittelpunkt des religiösen Lebens, also die Hinführung des (getauften) Menschen zu einer bewussten Bekehrungserfahrung, die ihm die Gewissheit verleiht, ein geistlich neugeborener Mensch zu sein.17
Nach seiner Abkehr von der Sünde erlebt Bernd eine vorübergehende Erlösung aus seiner Angst (LB, Anno 1695, § 27, S. 72). Er lebt eine Zeitlang in einem Zustand, den er als Gnadenzustand bezeichnet, doch kommen schließlich das hallische Bekehrungsschema und seine eigene Erfahrung nicht zur Deckung. Während das hallische Bekehrungsschema die „Unterscheidbarkeit der Zustände vor und nach der Bekehrung“18 erfordert, kann Bernd diese tiefgreifende Verwandlung seines Inneren an sich nicht beobachten. Diese Prüfung hat bei ihm eine körperliche und seelische Gebrechlichkeit zurückgelassen: Der einmal Geprüfte, einmal Gefallene ist gegen spätere Anfechtungen nicht gefeit, ganz im Gegenteil. Das Erlebte hinterlässt unauslöschliche Spuren. In der Lebensbeschreibung verweist also jede neue Episode auf die vergangenen, und mit jedem neuen Anfall, bei jeder neuen Krise wird die Erinnerung an die vorausgegangenen wachgerufen, was sich auf den Gemütszustand des Menschen verheerend auswirkt und seine körperliche wie seelische Widerstandskraft empfindlich schwächen kann. Die zweite Stufe, laut Bernds Worten, ist die der Seelennot und Höllenangst (LB, Anno 1703, § 50, S. 119). Der zweite Anfall erfolgt zu dem Zeitpunkt, als er beginnt, von religiösen Zweifeln befallen zu werden. Dieser Anfall markiert eine Steigerung gegenüber der ersten Krisenphase, mit dem Auftreten spektakulärer Formen der Leibes- und Gemütsplagen, nämlich Selbstmordgedanken, unflätiger Gedanken und gotteslästerlicher Einbildungen. Bei dieser Stufe lässt sich allerdings ein Fortschritt in der Erfassung seines sich allmählich ausprägenden individuellen Krankenprofils beobachten: Er erkennt sich als Melancholiker-Typus, mit schwachem Kopf und kranker Imagination. Auf den unheilvollen Hang der Melancholiker zur Spekulation führt er sein späteres Schicksal zurück. Dabei räumt er seine grundsätzliche Unwissenheit ein: „Ein schwaches Haupt mit seinen Ursachen ist und bleibt ein Geheimnis, das noch kein Philosophus und Arzt ganz ausstudieret.“ (LB, Anno 1703, § 54, p. 134) Den Typus, dem er zugeordnet ist, mag er wohl erkennen und beschreiben, doch kann er weiterhin nicht erklären, wie im Einzelnen Körper und Seele reagieren, so dass die Behandlung notgedrungen empirisch bleiben muss. Zum ersten Mal erkennt er auch deutlich den Anteil des Körperlichen an
17 Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt. In: Glaubenswelten und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 49–80, hier 58. Abgesehen sei hier von dem problematischen Charakter des hallischen Bekehrungsschemas, den Markus Matthias betont, indem er darauf hinweist, dass Francke sich nie zur Verallgemeinerung des hallischen Bekehrungsschemas bekannt hat). 18 Ebd.
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den seelischen Krankheiten, sowohl in deren Entstehung, als auch in ihrer Fortsetzung: Ich fieng also gar bald an zu merken, daß diese Plagen großen Teils auch leibliche Krankheiten wären, und vom Leibe, erhitzten Geblüte und matten Lebens-Geistern herkämen, oder doch, wenn sie Anfangs aus einem gewissen Zustande entstanden, hernach durch die schwache Leibes-Disposition unterhalten und fortgesetzt würden. [LB, Anno 1703, § 54, p. 134]
Wenn dem so ist, so kann auch auf den Fortlauf dieser Krankheiten eingewirkt werden. Wenn sie zwar nicht sofort geheilt werden, so kann man doch mit besserer Kenntnis der Symptome und Krankheitszustände auf ihren Verlauf Einfluss nehmen und sie einigermaßen regulieren.
IV. Ein besondereres Augenmerk gilt nunmehr den spezifischen Bedürfnissen und Manifestationen des Körpers. In dieser Phase kommt Adam Bernd häufig auf die Mittel-Dinge zu sprechen, indem er die Strenge der religiös motivierten Gebote oder Verbote (des Kartenspiels, des Rauchens und Trinkens) konfrontiert mit der Einsicht in die beobachteten wohltätigen Wirkungen solcher Genüsse. So argumentiert er zum Beispiel gegen die Verteufelung des Kartenspiels, dass es dem Melancholiker ab und zu eine willkommene Ablenkung von seinen schwarzen Gedanken bieten könne: Viele raten auch solchen Leuten zu den gewöhnliche Gemüts-Ergötzlichkeiten, v.g. zu einem Spiel, zu welchem man in Gesellschaften insgemein zu schreiten pfleget. Und ich kann es nicht ganz mißbilligen, daferne sie anders nur überzeuget sind, daß es keine Sünde sei. An. 1704 [als er also einen Tiefpunkt der Krise erreicht hatte] trug ich kein Bedenken des Abends nach Tische, wo ich speisete, mit meinen guten Bekannten Karte zu spielen, und die Gedanken auf was anders zu richten; und siehe, da ich einst nach Hause gieng, so hatte ich auf dem Wege die schönsten Gedanken, und gar ein besonders Einsehen, daß unser Heiland selbst vom Satan versucht worden, daß er sich von den Zinnen des Tempels stürzen sollte. Ich bekam dadurch ganz ungemeine Stärke, die auf viele Tage mein Übel verminderte. Der Satan müßte ein Narr sein, daß er diejenigen mit falschem Trost aufrichten sollte, welche seinen Absichten, und dem Verderben schon so nahe sind. Ist aber der überschwengliche Trost von Gott gewesen, so können unmöglich alle Glücksspiele zu allen Zeiten, und bei allen Menschen Sünde sein. [LB, § 73, S. 196 f.]
Das unwiderlegbare Zeugnis der Erfahrung wird hier gegen die erstarrte religiöse Disziplin geltend gemacht. Ähnlich argumentiert Bernd, wenn es um das Rauchen oder das Trinken geht und empfiehlt, sich bei vermeintlichen „Sünden“ wie Tabak-Genuss oder Kartenspielen zuerst nach dem feststell-
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baren wohltätigen Einfluss auf die Befindlichkeit des Körpers oder des Gemüts auszurichten, und bei der Behandlung des einzelnen Menschen einen Kompromiss mit der Schwäche der Natur zu schließen. Mit der Behauptung seiner Singularität geht auch verstärkt die Forderung nach Achtung und differenzierter Beurteilung einher : Wo du mich hier nach Art derer, so stark sind, und nicht wissen, wie einem Schwachen, der am Haupte und Leibe schwach, zu mute ist, willst verhöhnen und verlachen, und wunder meinen, wie du dich bei solchen Fällen ganz anders verhalten wolltest, und daß es an einem Menschen selbst liege, daß er sich jedes geringes Ding in Furcht setzen, und zu törichten Einbildungen bewegen lasse, der sich vielmehr einen Mut machen, und sich nicht willig sogleich an alles ergeben müsse; so bist du selbst Auslachens würdig. [LB, Anno 1703, § 56, S. 138]
Tendenziell nehmen in der Schilderung dieses Lebensabschnitts die ,naturalistischen‘ Erklärungen stark zu. Andere Kausalnexus werden erprobt, weitere Motivationszusammenhänge experimentiert. So erklärt er die Tatsache, dass er an Feiertagen (wie am Karfreitag) eine merkliche Zuspitzung seiner Krisen oder Verschlechterung seines Zustandes beobachten kann, nicht vornehmlich mit Rückgriff auf die religiöse Symbolik, wie eher zu erwarten, sondern dadurch, dass der Mensch an Feiertagen seinen gewöhnlichen Geschäften nicht nachgehen kann, und dass somit die Zeichen und Symptome seiner Krankheit stärker hervortreten müssen. Äußere Umstände wie Wetterlage, klimatische Besonderheiten, Epidemien, werden auch stärker berücksichtigt und tragen zur Kontextualisierung der Krankheit bei. Ein besonderer Nachdruck wird auf Zustände gelegt, in denen der Mensch, seiner Vernunft beraubt, seine Willenskraft nicht lenken kann. Diese Betrachtungen werden dann zu einer längeren Passage erweitert, die sich wie eine Abhandlung zur Selbstmordfrage liest. Diese philosophisch gesättigte Darstellung, in der er vehement für Exkulpierung der von Selbstmordgedanken befallenen Kranken plädiert, wurde nicht als Anhang aufgefasst, sondern in die Erzählung integriert, als Mittel, die Frage nach dem Status seiner Leidensgeschichte aufzuwerfen und einen Ausgleich zu finden zwischen der religiösen und der naturalistischen Perspektive. Abschließend möchte ich auf die folgenden Worte des Titels zurückkommen: Den Unwissenden zum Unterricht, Den Gelehrten zu weiterm Nachdencken Den Sündern zum Schrecken, und Den Betrübten, und Angefochtenen zum Troste – und auf die besondere Anordnung dieser Adressierungen. Der zuerst Angesprochene ist nicht der Gelehrte, sondern der Unwissende, dem die gewagte Darstellung der Leibes- und Gemütsplagen möglicherweise einen Zugang zu
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den eigenen Leiden schafft. Das letzte Wort lautet nicht Schrecken, sondern Trost. Mit der Eigenen Lebensbeschreibung leistet Adam Bernd die Reduktion der Fremdheit, die einer solchen Leidensgeschichte anhaften mag, und plädiert für die Reintegration des Schwachen und Kranken in die Menschengemeinschaft, genauso wie er in seinen theologischen Abhandlungen für eine mildere Behandlung derjenigen plädiert, die des dogmatischen Irrtums überführt werden und wie er gnadenlos aus der religiösen Gemeinschaft ausgestoßen werden: Meine Errores sind mir an dem Guten, was ich geschmecket, keine Hinderniß: und die entgegen gesetzten Wahrheiten kein præservativ wieder alle das harte, so über mich kommen, gewesen. Gottes Züchtigungen, und auch seine Tröstungen sind weder melodisch, noch antimelodisch gewesen, sondern bey jedem Zustande in gleichem Maaße über mich gekommen.19
Der Nachdruck auf der individuellen Erfahrung und deren Lehren dient zur Behauptung einer anderen Logik als die der Systeme und Dogmen. In dieser Hinsicht zeugt die Eigene Lebensbeschreibung von der eigenartigen Situation Adam Bernds an einer Epochenschwelle, und von seinen individuellen Bemühungen um Anpassung an einen neuen Wissensstand, um Integration neuer Kenntnisse in sein Welt- und Menschenbild, ja zur Aufrechterhaltung eines lebensfähigen Ausgleichs. So erweist sich im konkreten Zusammenhang des individuellen Lebenswegs, wie er von dem Verfasser der Autobiographie im Zusammenhang des Texts gestaltet wird, die eigenwillige Vermengung von religiösen und ,naturalistischen‘ Motiven oder Erklärungen als durchaus tragbar, eignet sich doch die 8criture du moi sowohl zum Labor der Innerlichkeit als auch zur Vorgehensweise des bricolage (Basteln) in der Zusammenstellung der eigenen gedanklichen Welt aus allerlei Versatzstücken, eine Vorgehensweise, die L8vi-Strauss als ein zum wissenschaftlichen komplementäres Vorgehen gewürdigt und bemerkenswerterweise in die Nähe der Autobiographie gerückt hat, da ja das Basteln immer etwas über den Charakter und das Leben seines Autors besage.20
19 M. Adam Bernds Nützlicher Gebrauch Der Christlichen Morale, der Philosophie, und der Jahr=Gänge beym Predigen, in siebenzig Predigten gezeigt, so aus sieben Jahr=Gängen genommen […], Leipzig – Altona 1732, unpaginierte Vorrede. 20 Claude L8vi-Strauss: La Pens8e sauvage, Paris 1962.
Hans-Jürgen Schrader
Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen
I. Wie viel aus den Requisitenkammern und Schnürböden der pansophischen Theorie, im Rückgriff auf paracelsische oder – aus noch weiterer Ferne – neuplatonische Traditionen von den Pietisten aufgegriffen und an spätere Epochen weitergegeben ist, ist in Umrissen bekannt.1 Der federführend von Hartmut Lehmann gestaltete Band 4 der großen Geschichte des Pietismus (Glaubenswelt und Lebenswelten) hat diese untergründige Traditionslinie überall aufscheinend im Feld der Philosophie und Psychologie, im Geschichtsdenken, in den Sexual- bzw. Ehelehren und der Gebetspraxis, in der Wirkung auf unsere Sprach- und Literaturgeschichte und natürlich besonders auf die Herausbildung der modernen Medizin und Pharmazie vielfältig sichtbar werden lassen.2 In den Literaturwissenschaften hat man besonders die Einflüsse spiritualistischer, alchimistischer, radikal pietistischer Denkmuster für die Enthusiasmus- und Genieerfahrung in der frühen Goethezeit herausgestellt, für einen Schaffensimpuls kraft innerer Begnadung oder Einsprache, einen Deus in nobis und eine Erkenntnis per analogiam, dadurch, dass wir nur das erkennen können, dem unsere Wahrnehmungsorgane entsprechen.3 Die aus der Anschauung einer den Menschen umfassenden ganz1 Vgl. einführend in diese Tradition Walter Pagel: Paracelsus als „Naturmystiker“ [und] ders.: Johannes Baptista van Helmont als Naturmystiker. In: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Hg. v. Antoine Faivre und Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1979, S. 52–104 und 169–211 bzw. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Paracelsus [und] Antonio Clericuzio: Johannes (Joan) Baptista van Helmont. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hg. v. Claus Priesner und Karin Figala, München 1998, S. 169–171 und 267–270. 2 Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. (Geschichte des Pietismus. Hg. v. Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann, Bd. 4), Göttingen 2004, darin die Artikel von Ulrich Gäbler : Geschichte, Gegenwart, Zukunft, S. 19–48; Johannes Wallmann: Frömmigkeit und Gebet, S. 83–101; Walter Sparn: Philosophie, S. 227–263; Horst Grundlach: Psychologie, S. 309–331; Richard Toellner : Medizin und Pharmazie, S. 332–356; Hans-Jürgen Schrader: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick, S. 386–403; ders.: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung, S. 404–427; Andreas Gestrich: Ehe, Familie, Kinder im Pietismus. Der „gezähmte Teufel“, S. 498–521 und Ruth Albrecht: Frauen, S. 522–555. 3 Vgl., mit Wegleitung zur früheren Forschung, u. a. Hans-Jürgen Schrader: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ,Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und
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heitlichen Ökonomie des Kosmos ausdifferenzierbare anthropologisch-medizinische Lehre eines sogenannten animalischen oder Körpermagnetismus wurde – dies ist bislang noch kaum ansatzweise untersucht – ebenso durch den Pietismus weitergereicht und mitgeformt. Pietistische Mediziner und gelehrte Erbauungsschriftsteller der Erweckungsbewegung wurden die einflussreichsten Vermittler dieses in der Hoch- und Spätromantik zu größter Entfaltung gelangenden Denksystems. Die gegenüber den Einwirkungen auf den „Sturm und Drang“ wenigstens ebenso große Bedeutung einer Transformation pietistischer Theoreme und Argumente für die gut eine Generation spätere Romantik, auch für den nachklassischen „romantischen“ Goethe, bleibt allerdings insgesamt noch grundlegend zu erforschen.4 Das liegt zunächst daran, dass die Pietismusforscher nur selten Kenner auch der naturphilosophischen und poetischen Schriften der Romantik sind und vice versa, dass ferner die Erforschung von Spätpietismus und Erweckungsbewegung auch auf theologisch-frömmigkeitsgeschichtlicher Seite gegenüber der vorangehenden Epoche des beginnenden und mehr und mehr das gesamte protestantische Kirchenwesen durchdringenden Pietismus noch völlig rudimentär ist5 und dass die personalen und theoretisch-motivlichen Konnexionen zwischen Pietismus und Romantik bislang noch kaum an einzelnen Fallbeispielen erhellt worden sind.6 Neuzeit, Bd. 20 (1994), S. 55–74, zuletzt ders.: Schöne Seelen – prophetische Genies – Herzenssprache. Goethes pietistische Konnexe. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 2013, S. 207–249. 4 In einer früheren Fallstudie für diesen Zusammenhang habe ich mit Nachweis einiger Pilotarbeiten darauf hingewiesen, dass „bei dem aus dem (zumeist radikalen) Pietismus kommenden oder durch ihn weitergegebenen Großmobiliar an Psychologie, Naturspekulation, mystischarkanen und alchemistischen Traditionen oder medizinisch-magnetisch-kabbalistisch-magischen Vorstellungen deren weitergereichte Substanzen wie auch Vermittlungsstränge noch ganz entschieden detaillierterer Erforschung harren“ und dass ein „fruchtbares Forschungsfeld bezüglich des Fortwirkens und der Transformationen pietistischer Konzepte und Axiome, Argumente und Sprachmittel der Romantik einerseits, zum andern aber auch umgekehrt aus romantischen Horizonten in das Denken und die Ausdrucksformen der Erweckungsbewegung und des Neupietismus hinein noch […] zu bestellen bleibt.“ Hans-Jürgen Schrader: „Werd ein Kind!“ im „Wunderhorn“. Pietistische Mitgiften an die Romantik. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 419–449; S. 438. 5 Einen wichtigen Fortschritt auf dem Feld des Geschichtsdenkens markiert die Monographie von Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815–1848, Göttingen 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 57). 6 Gründliche Einstiege bieten hier etwa: Kabbala und Romantik. Hg. v. Eveline Goodmann-Thau, Gerd Mattenklott und Christoph Schulte, Tübingen 1994 (Conditio Judaica, Bd. 7), v. a. im Beitrag von Volker Roelcke: Kabbala und Medizin der Romantik, S. 119–142; ferner Hans-Martin Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822), Göttingen1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 34); Martin Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung. Johann Heinrich JungStilling – Ami Bost – Johann Arnold Kanne, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pie-
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II. Ein solches exemplarisches Fallbeispiel möchte ich hier vorstellen, bei dem die ungebrochene Überlieferungstradition derselben autobiographischen Erzählung gut erkennen lässt, wie sich die Auffassungen und Deutungen von einem Modell göttlicher Führung, Erweckung und außergewöhnlicher Begnadung hin zu einem Lehrparadigma für magnetisch-psychologische Begabungen und Gesetzmäßigkeiten verschieben. Denn vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hat die fromme Exempelerzählung von dem 1633 in Engerhafe im ostfriesischen Brookmerland zwischen Aurich und Norden geborenen Bauernsohn Hemme Hayen (richtiger Heyen geschrieben, ich bleibe aber bei der durch die Jahrhunderte überlieferten Namensform)7 eine erstaunliche Karriere gemacht. Dieser äußerlich unscheinbare Mann hatte zusammen mit seiner ihm in allen seinen wunderlichen Zumutungen treu ergebenen Frau aus der Dorf-Nachbarschaft, Imme Lamberts, und mit zwölf, meist schon jung verstorbenen Kindern nahe des elterlichen Hofs selbst einen Bauernbetrieb geführt, den „Baumhof“ in Upgant bei Marienhafe.8 Im Alter hatte er, offenbar als „Schwärmer“ aus der Heimat vertrieben, Anschluss an die Freundeskreise Gichtels und Brecklings in Amsterdam gefunden.9 Was er „auff Begehren einiger Freunde“ bei einem Spaziergang zwischen Leer und dem östlich davon gelegenen Loga am 10. Mai 1689 von seinem Leben und seinen Gesichten erzählt hat, haben diese auftismus, Bd. 33) oder Burkhard Dohm: Poetische Alchemie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus, Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 154). 7 Begründung der korrekten Namensform „Heyen“ (nach dem Vater Heye Lübben) in der Spitzenfußnote zur Edition einer im Archiv der Franckeschen Stiftungen erhalten gebliebenen handschriftlichen Version der Lebensgeschichte, die der Hallesche Emissär Hieronymus Brückner zur Prüfung des Falles mitgegebracht hatte, in Walter Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands von den Anfängen bis zur großen Erweckungsbewegung (um 1650–1750), Aurich – Leer 1978 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Bd. 57), Anhang 3, S. 215–230, hier S. 215, unter Berufung auf Menno Smit: Ostfriesische Kirchengeschichte, Pewsum 1974, S. 332. – Außer in den (vom postumen Herausgeber der Monographie Hollwegs, Heinz Ramm, überarbeiteten) Fußnoten zu dieser Edition wird aber auch in dieser grundlegenden Arbeit sinnvollerweise die in allen Quellen und der gesamten Wirkungsgeschichte überlieferte Namensform „Hayen“ beibehalten. 8 Ergänzende Nachricht in der Sammlung mennonitisch-philadelphischer Mystikerzeugnisse von Michiel Vinke: De Zilvere Arke, bestaande in Geestelyke Gezangen, Stichtelyke Rymen en Historie-Liederen, Haarlem: Izaäk Ensched8, 1723. Vgl. das Titelblatt des in der UB Amsterdam einzig erhaltenen Exemplars dieser gedruckten Version der variantenreich schon 1689 und 1692 handschriftlich verbreiteten Sammlung bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), Abb. 6 und die detaillierten Angaben über die Sammlung, ihren Hintergrund und die Verbreitung ebd., S. 180–183, 189 sowie, mit Übersetzungen aller dort (auch in den Varianten der Handschriften) aufgenommenen Hayen-Bezeugungen, S. 230 f. 9 Dazu Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S.189 f.
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geschrieben und handschriftlich verbreitet. August Hermann Franckes Emissär, der Waisenhausinspektor Hieronymus Brückner, hat eine solche Handschrift nach Halle gebracht, wo sie erhalten geblieben ist; Walter Hollweg hat sie 1978 kritisch herausgegeben.10 Publiziert wurde die Erzählung zuerst in niederländischer Sprache (die Hayens friesischem Platt ja verwandt ist): Levensloop van Hemme Hayen, Op begeeren van eenige Vrienden door hem verhaald, en door de zelven aldus opgeschreeven, den 10 Mey, Ao 1689, Haarlem, bei Izaac Ensched8 1714. Davon hat es 1745 noch eine zweite Auflage gegeben.11 Ein Bild von Hemme Hayen gibt es nicht. Fast unbegreiflich aber ist die Konstanz des Erinnerns und Wiederaufgreifens der Geschichte dieses unscheinbaren, trotz des erwähnten Hausgesindes in aussichtsloser Bedürftigkeit lebenden Landsmanns angesichts der phantastisch-unglaubwürdigen und durch die Fallhöhe zwischen erhabenunaussprechlichen göttlichen Gesichten und ihrer Konstellation mit trivialsten Fakten passagenweise unerträglich banal wirkenden Berichte. Holprig auch im Aufbau und in sprachlicher Redundanz, ergeben sie den Eindruck einer vollends ins Triviale abgesunkenen Mystik. Und wo diese herkommt, zeigen auch die angedeuteten Referenzen. Einflussreich für den Knaben, der schon als Kind seinen Vater verliert und lutherisch aufwächst, werden zuerst sein mennonitischer Stiefvater und die Lektüre, in die er sich vergräbt – durch einen Unfall lebenslang gehbehindert, kann er nicht an den Spielen der an10 Die (gegenüber der bloßen Datierung in der „Historie Der Wiedergebohrnen“) genaueren Umstände des Aufschreibens durch die Hayen nach seinen geistlichen Erlebnissen ausfragenden Gesinnungsfreunde sind in dieser Hallenser Handschrift angegeben. Über die Übermittlung in die Franckeschen Anstalten informiert Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 183 und 187 sowie bei der Edition dieser Quelle S. 215–230. – Anscheinend hat der Übermittler Brückner Geistesoffenbarungen mit ähnlicher Grundsatzkritik an den Konfessionskirchen zugunsten eines außerinstitutionell philadelphischen Christentums auch sonst fleißig gesammelt und handschriftlich verbreitet. Das Manuskript von 9 Textseiten, „Eine Botschafft an die Philadelphische Gemeinde wo sie auch immer zerstreuet sein mag den 30 t May St.Vt. 1695“, das sich in den „Acta Pietistica“ der StUB Göttingen erhalten hat [Sign.: 51 in 88 Theol. Pol. 148/1:6], trägt die Aufschrift: „Bezeugt durch Jane Leade zu London in Engellandt. Dieses hat Herr Schönberg von Erfurt mit bracht von Herrn D. Brücknern.“ Nachweis bei HansJürgen Schrader : Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989 (Palaestra, Bd. 283), S. 376. 11 Titel-Kopie der zweiten Auflage „Te Haerlem, – Gedrukt by Izaak en Johannes Ensched8“, 1745, aus dem Besitz des British Museum bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), Abb. 7. Das Verb „verhaalen“, erzählen, leitet sich vom Substantiv „verhaal“, Geschichte, Erzählung, ab. Alle Angaben über Hemme Hayen, von dem sich ergänzende Lebenszeugnisse nur bei Vinke: De Zilvere Arke (wie Anm. 8) erhalten haben, beruhen auf dieser Quelle und den wenigen Zusatzinformationen der Halleschen Handschrift. Sie sind aus profunder kirchengeschichtlicher Detailkenntnis (also mit korrigierter Schreibung von Namens- und Ortsangaben) zusammengetragen bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 180–192 und in den Kommentaren zur kritischen Handschrift-Edition ebd., S. 215–231, danach übersichtlich zusammengefasst im Artikel von Martin Tielke: Hemme Hayen (Heyen). In: Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Hg. v. Martin Tielke, Aurich 1993, S. 148 f.
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deren Heranwachsenden teilnehmen –, die Bibel und mystische Lektüren wie Thomas / Kempis’ Nachfolge Christi und Christian Scrivers Seelenschatz. Später wird er, seine auf den 4. Februar 1666 genau datierte „Erleuchtung“ vorbereitend, von dem spiritualistischen Kreisen zugetanen lutherischen Prediger zu Marienhafe, Benjamin Potinius,12 an Traktate von Jacob Böhme gewiesen. Mit dem kirchenkritischen Kirchenmann diskurriert er bei beständigen Hin- und Herbesuchen Böhmes Lehren und Offenbarungen, von ihm wird er in seinem häufig wiederholten Wunsch unterstützt, doch womöglich auch selbst solcher Begnadungen gewürdigt zu werden. Von ihm auch wird er dann geistlich sensationsbegierig über seine Gesichte und wiederholten Begegnungen mit Gott, Vater und Sohn, ausgefragt. Potinius attestiert ihm, seine unbewusst und unverständlich hervorgestoßenen Glossolalien „mit außländischen Worten“ seien in den Bibelsprachen Hebräisch, Griechisch und Latein erfolgt, worauf Hayen antwortet „Ich weiß nicht/ was es ist: allein es heißt so.“13 Zunächst in Kontakt mit den mennonitischen „Feinen“,14 hält er sich dann, weil ihm keine Gemeinschaft Genüge gibt, von allen Gemeinden fern, zeigt ihm doch eine Vision, wie alle Konfessionen vor dem Tor zum Himmel anhalten müssen, während die wahren Gläubigen aus ihnen die (Apk 3,8 der philadelphischen Gemeinde verheißene) „offene Tür“ passieren dürfen.15 Auf biblische, brautmystische, böhmistische, spiritualistische und
12 Vgl. zum Hintergrund und Kontaktsystem dieses Benjamin Potinius, dessen Vater Conrad Potinius bereits als lutherischer Pastor ein radikaler Spiritualist gewesen war und Umgang hatte mit ebenso radikalen Philadelphiern und Kirchenkritikern wie Paul Felgenhauer und Friedrich Breckling Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S.184, vgl. 218. Dort wird S. 185 f. wahrscheinlich gemacht, dass Einflüsse in gleicher Richtung auch von den in dieser Zeit wieder vermehrt in Ostfriesland aktiven Anhängern des Täuferführers David Joris auf Hayen anzunehmen sind, dessen Schriften für mehrere seiner Gesichte vorbildlich gewesen sein dürften. 13 Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hg. v. HansJürgen Schrader. 4 Bde. (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, Bd. 29/1–4), Tübingen 1982; „Zehende Historie Von Hemme Hayen Lebens=Lauff“ im V. Teil, Idstein 1717 (Bd. 29/2), S. 169–199, hier S. 184. Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst – Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. I. u. II. Teil, Stuttgart – Tübingen: C. G. Cotta 1829, hier Teil I, S. 284 und 277 behauptet ein solches Sprachenwunder auch von seiner magnetisch behandelten prophetischen Patientin Friederike Hauffe, geb. Wanner (1801–1829). 14 Zu dieser Gruppierung der Nadere Reformatie und zu Hayens sowie seines Stiefvaters Bindung an sie vgl. Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 183 f., 218, 224. 15 Ebd., S. 187. Die Bedeutung des Bibelspruchs zur Symbolisierung des Eintritts der Wiedergeborenen aus allen Konfessionen ins Himmlische Jerusalem bis hin zum Titelkupfer der von philadelphisch gesonnenen radikalen Pietisten neu übersetzten und kommentierten Berleburger Bibel (1726–1742) ist reflektiert bei Hans-Jürgen Schrader: Zores in Zion. Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranzprogrammatischem Philadelphia. In: Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz. Hg. v. Johannes Burkardt und Bernhard
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philadelphische Vorstellungen, Formeln und Bildvorstellungen lassen sich die Hayenschen Bekundungen durchweg zurückführen,16 doch erscheinen deren Gehalte weithin trivialisiert, mit an magische Formeln gemahnenden Geistanweisungen und blinden Motiven so angefüllt, dass man geneigt ist, von einer Mystik zu reden, die vom Kothurn des Erhabenen niedergestiegen ist in die Hauspantoffeln: Als der Prediger weggegangen war / sagte der Geist zu mir : Ziehe deine Schuhe an; (dann ich hatte Pantoffeln an:) allein binde den lincken Schuh nicht zu! Ich that also. Wiederum sprach diese Stimm / welche auch sehr deutlich war : Gehe aus! Ohne daß ich wußte / wohin. Ich gieng zu unserer Vorder=Thür hinaus / und […] thate (welches so seyn mußte) die Thür hinter mir zu. Als ich aber nun hinaus=gekommen war / wurde ich von einer Person geleitet / welche beständig mit mir redete / und der HErr JEsus selbst war ; gleich wie er auch selbst mit deutlichen Worten wol=versichert mir zu erkennen gab / und sagte: Förchte dich nicht! Dann Ich bins selber. […] Und allda wurden sonderbare Dinge gesprochen / die nicht dienen gesagt zu werden.17
III. Dass Johann Henrich Reitz die an Wunderbarem und Wunderlichem randvolle Bezeugung als „Zehende Historie / Von Hemme Hayen Lebens=Lauff“ 1717 aufgenommen hat in den V. Teil seiner danach noch in zwei weiteren Auflagen weit verbreiteten Exempelsammlung vorbildlicher Muster göttlicher Lebensführungen, der Historie Der Wiedergebohrnen,18 und ihn dadurch vor Hey, Bielefeld 2009 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 35), S. 157–194, hier S. 164–169, 188–192. 16 Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 182 f., 184, 189 f. weist philadelphisches Gedankengut nicht nur bei den die „Zilvere Arke“ tragenden Mennonitenkreisen und entsprechende Kontakte in der Potinius-Familie nach, sondern legt auch nahe, dass Hayen über den weniger als zehn Kilometer von seinem Geburts- wie auch Wohnort residierenden Verbindungsmann der Londoner Philadelphischen Sozietät um Jane Leade und Thomas Bromley, Dodo Freiherr zu Inn- und Knyphausen, auch mit dieser in persönliche Bezüge geraten ist. Vgl. den Überblick über die vielgliedrige Geschichte der philadelphischen Bestrebungen bei Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt (wie Anm. 10), S. 63–73, 373–386, vgl. seither insbes. Peter Vogt: ,Philadelphia‘ – Inhalt, Verbreitung und Einfluss eines radikal-pietistischen Schlüsselbegriffs. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter [u. a.], Bd. 2, Halle 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/2), S. 837–848. 17 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13) V. Teil, S. 190 f. 18 Ebd., S. 169–199. Zum Gesamtwerk kam der V. Teil erst in der 4. Auflage hinzu und wurde dann postum wieder aufgelegt in der 5. Auflage, Berleburg 1726 und in der 6. Auflage 1742. Übersicht über die Auflagengeschichte im Anhang der Edition, ebd., Bd. 29/4, S. 191*–195*, vgl. auch Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt (wie Anm. 10), S. 87–89 und 107. Wie die Transkription der in Halle aufbewahrten Handschrift und die ihr in den Fußnoten kritisch
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raschem Vergessenwerden bewahrt hat, ist leicht biographisch erklärbar. Schließlich hatte er selbst 1697 seine Stellung als Superintendent („Inspektor“) und Hofprediger in der Grafschaft Solms-Braunfels verloren, weil er für den mit ganz ähnlichen Visionsaussprachen Unruhe in die leichtgläubige und nach religiösen Sensationen begierige Bevölkerung tragenden Kasseler Separatisten Balthasar Christoph Klopfer eingetreten war. Er hat nie wieder ein Kirchenamt angenommen. Philipp Jacob Spener hat ihm, wenngleich vorsichtiger, zugestimmt: Es sei nicht auszuschließen, dass Klopfers Verhalten und Bekundungen vom göttlichen Geist diktiert seien.19 68 Jahre, nachdem die wunderliche Geschichte in der letzten Auflage der Historie Der Wiedergebohrnen nochmals unter die Leute gekommen war, erhinzugesetzten wenigen Varianten der Reitzschen Hayen-Historie zeigen, hat Reitz offenbar nicht, wie bisher angenommen wurde, eine eigene Übersetzung der angegebenen niederländischen „Levens=Loop“-Publikation erstellt, sondern hatte eine der kursierenden Handschriften als Grundlage, die der von Brückner für Halle beschafften sehr ähnlich war, aber zufolge der signifikanten Unterschiede doch kaum dieselbe gewesen sein kann. 19 Biographische Grundinformation: Rudolf Mohr: Ein zu Unrecht vergessener Pietist: Johann Henrich Reitz (1655–1720). Leben und Werk. Korrekturen und Ergänzungen der Biographie. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 22 (1973), S. 46–109, zur Klopfer-Affäre S. 72–88. Bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 187 f. sind die Angaben zu Reitz vielfältig fehlerhaft. Neuere „Reitz“-Artikel (mit Lit.) von Erich Wenneker in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz, Bd. 7. Herzberg 1994, S. 1587–1592 und Udo Sträter in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 256. – Reitz hatte Klopfer und sein eigenes Verhalten verteidigt in einem Traktat, der die Möglichkeit fortgesetzter göttlicher Offenbarungen an die Menschen bis heute postuliert, die die biblische Botschaft ergänzen und präzisieren können, „Ein Kurtzer Begriff Deß Leidens / der Lehr / und deß Verhaltens Joh. Henrichs Reitzen. [Offenbach] Außgefertiget Im Jahr Christi 1698.“ Gegen diese Apologie hatte Johann Eberhard Scholl unter dem Kryptonym J.E.S. eine Replik gerichtet: Eine einfältige kurtze Erforschung und Widerlegung des Kurtzen Begriffs [o.O., wohl auch Offenbach] 1699, und dagegen hatte der Angegriffene eine Duplik verfasst: Joh. Henrich Reitzen Send=Schreiben […] worinnen er gebührend antwortet Auff Hn. Joh. Eberhard Schollen […] Einfältige Kurtze Erforschung, Offenbach 1699. Zum Streitschriftenkrieg und den zeitgenössischen Reaktionen vgl. Rudolf Mohr: Niederländer und Niederländische Literatur in der „Historie Der Wiedergebohrnen“ von Johann Henrich Reitz. In: Pietismus und Reveil. Hg. v. J. van den Berg und J.P. van Dooren, Leiden 1978 (Kerkhistorische Bijdragen, Bd. 7), S. 192–206, hier S. 195 f. und Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt (wie Anm. 10), S. 557 f., 581–583. – Spener hat sich zu der Affäre in Briefen vom 6. September 1697 und 29. Oktober 1697 sowie in einem ausführlichen Gutachten vorsichtig abwägend mit einem „bekäntnüß meiner ungewissenheit in dergleichen dingen“ geäußert: Was Klopfer, den er für „einen es mit GOtt nicht allein treumeynenden, sondern auch in feinem licht der erkänntnüß stehenden mann“ halte, da offenbart habe, „gemahnet mich unterschiedlich an Jacob Böhmens schreib=art, die ich von dem wenigen, was darvon angesehen, auch nicht verstehe, und mich daher des urtheils über ihn zu enthalten benötigt finde“. Dass solche Offenbarungen göttlich inspiriert seien, dürfe man nicht ausschließen, andererseits müsse man die Gefahr sehen, dass sich dabei „auch falsches Licht unter das wahre mit einschleichet“. Jedenfalls bedaure er „nicht allein, daß der mann […] hart tractiret, sonderlich ferner Herr Reitz seinetwegen verstossen worden, auch Herr D. Horch der sache wegen in das getränge kommet.“ Philipp Jacob Spener : Letzte Theologische Bedencken / und andere Briefliche Antworten, Halle 1721, 3. Teil, S. 430–434, 573 f., vgl. 1. Teil, S. 231–246.
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schien 1810 in Nürnberg anonym eine Separatausgabe, deren Titel schon die gründlich veränderte Blickrichtung auf die Offenbarungserzählung erkennen ließ: Lebensgeschichte des Hemme Hayen, eines niederländischen Bauern und wahrhaften Clairvoyanten, nebst einigen Bemerkungen des deutschen Herausgebers.20 Der anonyme Herausgeber war zufolge der (leider unbelegten) Zuschreibung der Spezialforschung der aus pietistischem Pfarrhaus stammende romantische Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert.21 Der hatte, nach einem Theologiestudium 1803 in Jena als Mediziner promoviert, 1806 auf Anregung Adam Müllers und Heinrich von Kleists die vielbesuchten Dresdener Vorträge über Magnetismus, Clairvoyance und Träume gehalten, die fundamental auf Kleists poetische Inventionen eingewirkt haben,22 war 20 Lebensgeschichte des Hemme Hayen […]: Nürnberg, in der Steinschen Buchhandlung 1810. Das Werk ist erhalten in der BSB München (Biogr. 506q), (auch digitalisiert im Internet: http:// reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10063702_00001.html). 21 Vgl. den gründlichsten biographischen Artikel von Dieter Wölfel: Gotthilf Heinrich (seit 1853 von) Schubert. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 19), Bd. 9, Herzberg 1995, Sp. 1030–1040, hier S. 1033. Die auch sonst häufiger aufgegriffene Zuschreibung geht offenbar zurück auf die profund informierende Studie des Kirchenhistorikers Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Gotthilf Heinrich von Schubert (1780–1860). Zur Bedeutung seines Briefwechsels für die Geschichte der Erweckungsbewegung. Mit einem Verzeichnis von Schuberts Schriften. In: Erlanger Beiträge zur fränkischen Heimatforschung 25 (1978), S. 6–25, hier S. 22 („G.H. Schuberts Schriften“, Nr. 7): „Leben des Hemme Hayen, Nürnberg 1810“. Zur Bedeutung Schuberts für die Erweckungsbewegung vgl. auch Ernst Staehelin: Die Zeit der Christentumsgesellschaft von der Zeit der Erweckung bis zur Gegenwart. Texte aus Briefen, Protokollen und Publikationen, Basel 1974, S. 133 und Register (697). 22 Dazu grundlegend Katharine Weder: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008. Kulturgeschichtlicher Aufriss zu Magnetismus und Somnambulismus ebd., S. 19–108, „Zum biographisch-historischen Kontext: Kleist und der animalische Magnetismus“, insbesondere zum Einfluss Schuberts S. 109–134, mit den Konsequenzen für die Werkanalyse S. 135–382. Als anstoßender Hinweis, auch mit Erörterung der aus dem Pietismus kommenden Vorgaben und der Relevanz für das Verständnis insbesondere von „Cäcilie“ und „Käthchen“, „Bettelweib“, „Kohlhaas“ und „Homburg“, bereits Hans-Jürgen Schrader: Kleists Heilige oder die Gewalt der Sympathie. Abgerissene Traditionen magnetischer Korrespondenz. In: Kleist-Bilder des 20. Jahrhunderts in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Hg. v. Peter Ensberg und Hans-Jochen Marquardt, Stuttgart 2003 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 414), S. 69–90. (Vorversion bereits in dem für die internationale Medizin- und Kulturgeschichte des Magnetismus belangvollen Sammelband: Traces du mesm8risme dans les litt8ratures europ8ennes du XIXe siHcle. Hg. v. Ernst Leonardy [u. a.], Brüssel 2001 [Travaux et recherches, Bd. 45], S. 93–117). Vgl. bereits Ursula Thomas: Heinrich von Kleist and Gotthilf Heinrich Schubert. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, 51 (1959), S. 249–261. – Bedeutsam als Vermittlungsinstanz elektromagnetischer Theorien der menschlichen Psyche zwischen dem pietistischen Theosophen Friedrich Christoph Oetinger und Schubert sowie noch Justinus Kerner ist der ebenfalls in pietistischer Tradition stehende Heilbronner Arzt Eberhard Gmelin („Ueber Thierischen Magnetismus“, Tübingen 1787). Vgl. dazu Gerhard Bauer : Eberhard Gmelin, sein Konzept des „thierischen Magnetismus“ und sein Einfluß auf Justinus Kerner. In: Medizin und Romantik. Justinus Kerner als Arzt und Seelenforscher. Hg. v. Heinz Schott (= Justinus Kerner. Jubiläumsband zum 200. Geburtstag). Teil 2, Weinsberg [1990], S. 224–231, vgl. auch Stephen R. Huff: Heinrich von Kleist und Eberhard Gmelin. Neue Überlegungen. In: Euphorion 86 (1992), S. 221–239, Ingrid Kollak: Literatur und Hypnose. Der Mesmerismus und sein Einfluß auf die
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dann 1808 mit dem Grundbuch der romantischen Naturphilosophie, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, hervorgetreten. Dass er selbst die Hayen-Geschichte neu bearbeitet und gedeutet hat, wird dadurch nahegelegt, dass er in seinem Grundlagenwerk Die Symbolik des Traumes 1814 nicht nur zahllose Belege auf die Reitzsche Historie Der Wiedergebohrnen gegründet hat,23 sondern auch Hemme Hayen unter Hinweis auf die Separatausgabe unter die „Beyspiele einer […] höheren Clairvoyance“ stellt.24 Noch 1817 führt er im ersten Band seiner neupietistischen Sammlung erbaulicher Anekdoten, Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde, Hemme Hayen als Beispiel für die dem Weltmenschen unverstehbare fromme Leidensbegierde an, die „gerade in dem, was die Welt Leiden nennt, den Trost und die Nähe der ewigen Liebe“ verspürt.25 Übrigens ist Schubert, nach Kantzenbachs Urteil eine „Zentralgestalt der deutschen Erweckungsbewegung“, selbst 1863 noch – in Tholucks Sonntags=Bibliothek – zum Gegenstand einer neupietistisch-erbaulichen Musterbiographie (von immerhin 214 Seiten Umfang) geworden.26 Bereits das Vorwort zur Clairvoyanten-Geschichte betont, wie es da heißt, dessen „eigentümlich einfältige“27 Schilderungen seien zum Theil sehr mit den gewöhnlichen Erscheinungen des Somnambulismus verwandt: Mit dem lezteren theilen sie auch die gleichsam symbolische Traumgestalt, die sie hie und da zeigen. […] Aus diesem Grunde besonders, hat man es für gut
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Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt – New York 1997, S. 87 und Schrader: Kleists Heilige, S. 88, Anm. 42. – G[otthilf] H[einrich]Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, reprograph. Nachdr. Darmstadt 1967, S. 327, 330, 338, 344, 349 preist Gmelins aller Scharlatanerie der Wunderheiler entsagenden medizinisch-wissenschaftlichen Magnetismus und beruft sich wiederholt auf ihn. G[otthilf] H[einrich] Schubert: Die Symbolik des Traumes, Bamberg 1814. Reprint: Mit einem Nachwort von Gerhard Sauder, Heidelberg 1968 (Deutsche Neudrucke. Reihe [4] Goethezeit [Bd. 9]), S. 61, 64, 130, 137, 152, 174, 176–182. Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 21 f. Mit Fußnote S. 22: „Leben des Hemme Hayen, eines niederländischen Bauren, Nürnberg 1810.“ Implizite Hinweise auch auf S. 104 und 133. Gotthilf Heinrich Schubert: Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde. Bd. 1. [1817]. Zweite Ausgabe, Leipzig 1825, S. 413. Er beruft sich hier (S. 444) aber zum Beleg nicht auf die Einzelausgabe der Hayen-Autobiographie von 1810, sondern auf die gerade herausgekommene bekannte Sammelbiographie Johann Arnold Kannes: „Auf eine ähnliche Art äußerte sich auch Hemme Hayen über das Ausbleiben der äußeren Leiden. M[an] s[ehe] Kannes Lebensbeschreibungen.)“. Auf die „Historie Der Wiedergebohrnen“ rekurriert Schubert dort ebenfalls in Bd. 3 (2. Aufl.), Erlangen 1838, S. VI und 145 sowie Bd. 4/1 (2. Aufl.), Erlangen 1841, S. 177. K[arl] Schneider: Gotthilf Heinrich von Schubert. Ein Lebensbild, Bielefeld 1863 (Sonntags=Bibliothek. Lebensbeschreibungen christlich-frommer Männer zur Erweckung und Erbauung der Gemeine, hg. v. Ernst Müller, eingeleitet v. Friedrich August Gottreu Tholuck, Bd. 1, H. 3). Neudruck (Nabu-Press) 2011. Zu Schuberts Bedeutung für die Erweckungsbewegung vgl. Kantzenbach: Gotthilf Heinrich von Schubert (wie Anm. 21), S. 7 (Zitat) und 9–15. Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 58.
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gehalten, diese längst vergeßene Geschichte […] noch einmal in den Druck zu geben.28
Und die somnambulen und Clairvoyance-Erscheinungen werden dort – darauf komme ich später zurück – als typische Phänomene des „Magnetismus“ und der magnetischen Sympathetik erläutert.29 Damit aber ist die alte HayenGeschichte auf dem Höhepunkt der romantischen Bewegung wieder in Konjunktur gekommen. Sechs Jahre später hat sie der zum Missionsschriftsteller der Erweckungsbewegung konvertierte gelehrte Orientalist und Jean-PaulFreund Johann Arnold Kanne als Spitzenbeitrag in den ersten Teil seiner auch sonst häufig auf Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen gegründeten neuen Sammlung erwecklicher Biographien und Selbstzeugnisse (darunter seiner eigenen Bekehrungserzählung) gestellt: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen, Bamberg und Leipzig 1816.30 Ganz bewusst hat Kanne mit dieser (wie auch bei den nachfolgenden Biographien) reichlich popularpsychologisch und paränetisch im Stil romantischer Volkserzählungen ausgeschmückten und so treuherzig moralisierend auf 26 Seiten aufgeschwellten Wiederaufnahme eine heikle, provozierende Eröffnung für sein Sammelwerk gewählt. Am Schluss seiner Eingangsfußnote bekennt er : Ich lasse hier Hemme Hayen, nur die Schreibart ändernd, nach der Reitzischen Uebersetzung erzählen. Mit Fleiß habe ich diese wunderbare Geschichte vorangestellt. Wer sich an dem Buche stoßen will und stoßen muß, der stoße sich hier daran, und gehe dann vorüber.31 28 Schubert: Altes und Neues (wie Anm. 25), S. 4 f. Damit wird nur implizit auf Reitz’ „Historie“ hingewiesen. Von Reitz übernommen ist auch der Hinweis auf die niederländische Originalausgabe von 1714, die offenbar Anlass zu der irrtümlichen Bezeichnung Hayens im Buchtitel als Holländer gegeben hat. Dieser Irrtum hat Eingang auch in die wissenschaftlichen Abhandlungen gefunden. Vgl. Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, S. 108; Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart1969, S. 274; Mohr : Niederländer und Niederländische Literatur (wie Anm. 19), S. 204, auch in der umfänglichen Fußnote zu Hemme Hayen, Schrader: Kleists Heilige (wie Anm. 22), S. 106 f. Die phänomenologische Verwandtschaft einiger Begnadungsmomente in den frommen Exempelbiographien mit den an Somnambulen beschriebenen Erscheinungen wird noch von Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 7 hervorgehoben. 29 Lebensgeschichte des Hemme Hayen, eines […] wahrhaften Clairvoyanten (wie Anm. 20), S. 58. 30 Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche. Erster Theil. Nebst angehängter Selbstbiographie des Verfassers. Bamberg und Leipzig, bey Carl Friedrich Kunz, 1816. Ich zitiere nach dem Exemplar der UB Basel: Steff. 2838. Vgl. zum Autor und zu diesem Werk insbes. Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung (wie Anm. 6), S. 153–201 und seither Hans-Jürgen Schrader: Kanonische neue Heilige. Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul und Jan Carsten Schnurr, Göttingen 2013 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 59), S. 303–338, hier S. 313–315, 320 f., 334–337. 31 Schluss der Eingangsfußnote in Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 30), S. 1; Kennzeichnung der Kanneschen Bearbeitungstendenzen der Hayen-Biographie Hirzel: Lebensge-
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Tatsächlich haben sich Interesse und Kritik an Kannes Sammelwerk vorrangig an dieser zumutungsreichen Erzählung entzündet. So ist denn interessanter als die Erneuerung der pietistischen Botschaft, dass Gott seine Erwählten auf vielfältigen, bisweilen anstößig scheinenden Wegen zur Wiedergeburt und Zeugenschaft führt, die ausführliche, über zehn Seiten seiner Vorrede zum zweiten Teil der Sammlung von 1817 füllende Apologie, dass er dieses merkwürdige Stück überhaupt aufgenommen hat. Wortreich nämlich weist er darin die ihm von verehrten Freunden nahegelegte Interpretation als psychologisch-magnetischen Beispielfall zurück.32 Im Spannungsfeld zwischen dem ironischen Verriss als einer Phantasiegeschichte, die sogar pietistisch Gläubigen allzu große Leichtgläubigkeit abverlange, und der Präsentation als kostbares Zeugnis für ein magnetisch erhöhtes Bewusstsein bewegen sich die Reaktionen auch in den wiederum ganz unproportional der Hemme-Hayen-Erzählung gewidmeten Rezensionen des Kanneschen Werkes. Hohn und Spott gießt die Augsburgische Ordinari Postzeitung darüber aus und rechnet durch bloßes Zitieren und Paraphrasieren mit dem neupietistischen Zeitgeist der Erweckungsepoche ab: Wer Kontraste liebt, nehme […] das Buch zur Hand: „Leben und aus dem Leben erweckter Christen aus der protestantischen Kirche“, von Herrn Professor Kanne. Da kommt gleich zuerst ein gewisser „Hemme Hayen“ vor, zu dem der liebe Gott sagt: „Wenn jetzt dein dreijähriges Söhnlein ins Feuer fiele, würdest du dich unterstehen, (es) zu retten? Nein, Herr, antwortete Hemme Hayen, und übergab das Kind gänzlich Gott dem Herrn. Und als es wirklich fiel, und der Vater meynte, es müsse ins Feuer gefallen seyn, half er ihm nicht auf.“ Was für Armseligkeiten man seit einiger Zeit unter dem Titel „Frömmigkeit und Erweckung“ verkauft, ist nicht auszusprechen.33
Die Jenaische Literatur-Zeitung widmet der Kanneschen Sammlung gleich zwei ausführliche Besprechungen, deren erste, vom Februar 1818 und gezeichnet mit dem Kryptonym „H J K L“, 16 große Spalten lang, aus „neologischer“, d. h. christliche mit aufklärerischen Argumenten verbindender Warte recht ausgewogen den Ertrag des Sammelwerks herausstellt, aber doch mit spezifischem Bezug auf die Hayen-Geschichte (auch bereits deren verunglückte Abraham-Isaak-Postfiguration) zu erkennen gibt,
schichte als Verkündigung (wie Anm. 6), S. 189 sowie (am Beispiel der Beate-Sturm-Biographie) bei Schrader: Kanonische neue Heilige (wie Anm. 31), S. 335 f. und (am Beispiel der Biographie Christian Hoburgs) ders.: „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel […]“. Christian Hoburg als Lektor in Lüneburg – Netzwerk und Schriften. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Bd. 110 (2012), S. 43–74, hier S. 45 f., 49, 57. 32 Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der potestantischen Kirche. Zweiter Theil, Bamberg und Leipzig, bei Carl Friedrich Kunz, 1817, Vorrede, S. VI–XVI. 33 Augsburgische Ordinari Postzeitung von Staats[-], gelehrten, historisch= u. ökonomischen Neuigkeiten. Nro. 187, Donnerstag, den 6. Aug. Anno 1818, S. 4.
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dass er manches hier Gepriesene für Folge beschränkter Ansicht oder irregeleiteter und kranker Einbildungskraft hält […] und dass er es für schädlich ansieht, Verirrungen und Beschränktheit als höhere Vollkommenheit, und eine gewisse Gestalt der Frömmigkeit als das Wesen derselben vorzustellen.34
Mit der nüchternen Detailvorstellung des Kanneschen Werks waren die Herausgeber des Jenaer Blattes offenbar nicht vollauf zufrieden, jedenfalls ließen sie in den ,Ergänzungsblättern‘ zu ihrer Zeitung eine zweite, nur mit der Sigle „Mpi“ (oder „Mp;“, das ist im Druck nicht klar zu erkennen) gezeichnete erscheinen – mit einem ganz anderen Tenor. In Hayens Berichten erblickt der auf dem Boden romantischer Religiosität argumentierende Nach-Rezensent nun nicht nur ein Zeichen „der Wiedergeburt“ als der „Haupt- und CardinalLehre des Christenthums“, sondern zugleich in der Physik des Geistes wohlbegründete Steigerungen jener Phänomene, die sich z. B. im Somnambulismus oder in dem begeisterten Zustand jedes Menschen von höherem Genius zeigen
und die „im gewöhnlichen magnetischen Zustande etwas Gemeines und Allbekanntes“ sind.35 Auf die wiederum magnetischen Auslegungen komme ich zurück.
IV. Die erstaunliche Karriere der Hemme-Hayen-Geschichte aber ist mit ihrer romantischen Umdeutung noch nicht zu Ende. Nach wiederum größerem Zeitabstand wird sie im 20. Jahrhundert neuerlich, und zwar wiederholt aufgegriffen: Der Münchner Germanist, Schriftsteller und Journalist Werner Mahrholz, der Hayens Lebensgeschichte bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Monographie Deutsche Selbstbekenntnisse als ein Beispiel aufrichtig frommer Gottergebenheit vorgestellt hatte,36 hat sie dann 1921 unter der Überschrift „Der Quietismus“ in seiner umfassenden Quellensammlung Der deutsche Pietismus in einer auch lexikalisch eingreifenden sprachlichen Modernisierung neuerlich nachgedruckt.37 Auszüge in Quellensammlungen 34 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 24, Februar 1818, Sp. 185–192 (Zitat hier Sp.189) und Fortsetzung Nr. 25, Sp. 193–200 (nochmal zu Hayen in Bezug auf Kannes Vorrede zum II. Teil, wie Anm. 32, Sp. 198–200). 35 Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Bd. 1, Jena 1818 (ohne Monatsangaben), Nr. 30, Sp. 233–240, hier S. 236 und 238; Fortsetzung der Besprechung im Folgeheft, ebd., Bd. 1, Jena 1818, Nr. 31, Sp. 241–248, davon noch zur Hayen-Geschichte S. 241 f. 36 Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 28), S. 104, 108 f., 239. Hayen erscheint Mahrholz hier etwas widersprüchlich zugleich als „frommer Ekstatiker“ und (abwegiger) als „durchaus reiner Vertreter quietistischer Mystik“. 37 Der deutsche Pietismus. Eine Auswahl von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Eingeleitet u. hg. v. Werner Mahrholz, Berlin 1921, S. 7, 37–57, 455.
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sind ihm gefolgt.38 Obwohl Mahrholz neben der Reitzschen Historie auch die romantische Bearbeitung von 1810 als Quelle ausweist und partiell danach zitiert,39 geht er auf die Auslegung als Dokument einer magnetischen Affektation der Seele gar nicht ein. Hayens sprachliches Ungeschick legt er als das Arrheton der Ergriffenheit in ekstatischer Schau aus. Noch 1969 wird der wunderliche Ostfriese einer der Kronzeugen für visionäres Erleben und Berichten in der epochenübergreifenden Studie Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt des Marburger Kirchenhistorikers Ernst Benz.40 Ohne Berücksichtigung der romantischen Interpretation ordnet er dieselben Episoden des Hayen-Berichts, die dort als Kennzeichen magnetischer Kräfte und Heilungspotenzen erläutert wurden, in die phänomenologischen Modelle ein, die er als typisch für visionäre Offenbarungen herausarbeiten kann. Die „heilende Wirkung der Vision“, das „Sprachenwunder“ von Glossolalien, die von Zeugen als Reden in biblischen Sprachen identifiziert werden, die Erfahrung der „Entraffung“, also eines „Erlebens der Trennung der Seele vom Leib und der Schau des ,unten‘ liegenden entseelten Leibes“, die „biblischen Visionen“, die in der Schau Arkana der Heiligen Schrift erschließen, beispielsweise in „einer ökumenischen Vision“.41 Benz nimmt also auch die ersichtlich aus den Predigten in böhmistischer und täuferischer Tradition oder aus dem separatistischen Diskurs aufgeschnappten exzentrischen Bekundungen dieses Landmanns durchaus als Zeugnisse einer visionären Begnadung ernst. Bisweilen jedoch kann er sich der Ironie nicht enthalten, wenn er etwa referiert: So hat eine der biblischen Visionen Hemme Hayens Salomo und seine siebenhundert Frauen und dreihundert Kebsweiber zum Gegenstand. Hemme Hayen ist großzügig genug, ihnen allen die Seligkeit zu versichern
38 Bruno Schremmer: Der Pietismus, Leipzig 1926 (Religionskundliche Quellenbücherei), S. 19–24: „Der Pietismus in den verschiedenen Volkskreisen: Hemme Hayen, der Bauer (um 1675)“. Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 188 kritisiert mit Recht, dass dieser erbauliche Auszug „die Eigenart und die Glaubensüberzeugungen des Mannes“ nur unzulänglich spiegele. 39 Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 28), S. 108, 239 f. 40 Benz hat vermutlich, obwohl er sich auf die „Historie Der Wiedergebohrnen“ als Quelle beruft, die Ausgabe von Mahrholz benutzt, denn er bezieht alle Belege (mit den korrekten Seitenangaben der „Historie“) statt auf diese irrtümlich auf Gottfried Arnolds „Unpartheiische Kirchenund Ketzerhistorie“, vgl. Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 663–665, 667, 670–672 und Hinweis Schrader: Literaturpoduktion (wie Anm. 10), S. 390 und 547. Der Irrtum erklärt sich daraus, dass in den lakonischen Belegangaben bei Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 28), S. 239, die Nachweise zur (da nur im Bezugstext genannten) „Historie Der Wiedergebohrnen“ direkt auf Belege aus Arnolds Werk folgen und also auf den ersten Blick ebenfalls darauf zu verweisen scheinen. 41 Begriffe jeweils im Kontext ausführlicher Zitate aus Hayens Autobiographie (in der Version der „Historie Der Wiedergebohrnen“) und ihrer paraphrasierenden Ausdeutung bei Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 29, 216, 274, 461 und 609.
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oder wenn er von anderen Hayen-Offenbarungen über „Kuriositäten der alttestamentlichen Heilsgeschichte“ sagt, sie verharrten auf der Ebene eines „neutralen visionären ,sight-seeing‘“.42 In England erschien übrigens im selben Jahr 1969, zugleich in einer Zeitschrift und als Separat-Ausgabe der Catholic Records Press, eine englische Version der Hayen-Autobiographie.43 Eine eher der wissenschaftlichen Dokumentation dienende bislang letzte Ausgabe der Hayen-Erzählung schließlich hat 1978 Walter Hollweg als Anhang zu seiner Geschichte des älteren Pietismus in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands vorgelegt, der die zuvor nie genutzte Abschrift in den Franckeschen Stiftungen ediert und in Gegenüberstellung mit den wichtigsten Varianten der Historie Der Wiedergebohrnen erläutert. Für die kontroverse Deutungsgeschichte ist Hollwegs Studie insofern von Interesse, als er jene rational unerklärbaren Berichte Hayens, die bislang, wenn nicht als psychopathologische Phantasieprodukte auf der Grundlage von wirr Angelesenem,44 entweder als Kennzeichen einer gläubig nachzueifernden spezifischen Gnadenführung Gottes oder als Wirkung magnetischer Konnexe oder schließlich als charakteristische Erscheinungsformen visionären Erlebens gedeutet worden waren, ohne Kenntnis der romantischen Auslegungen jetzt mit Hinweisen auf Forschungsansätze der zeitgenössischen Parapsychologie verständlicher zu machen sucht. Diese mit der Esoterikwelle seit den Siebzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts stark in die öffentliche Diskussion getretene Bemühung, häufig bezeugte unerklärbare Erscheinungen und Gesichte als Manifestationen aus der Geisterwelt zu erfassen und psychologisch zu ergründen, ist seither wieder aus der Mode gekommen. Sie hatte sich aber genau auf jene Phänomene gerichtet, die für den größeren Teil des 19. Jahrhunderts noch durch die Theorie vom tierischen Magnetismus erklärbar schienen, die – bei aller Kritik an mitlaufender Scharlatanerie – bis zu ihrem schrittweisen Außerkursgeraten45 allgemein als seriöses wissenschaftliches Erklärungsmuster akzeptiert war.
42 Beide Zitate Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 461 f. 43 The Autobiography of a Seventeenth-Century Pietist [the Dutch Anabaptist Hemme Hayen]. Hg. (und übersetzt) v. D[erek] E[dward] Bowman und G[eorge] M[urray] Burnett, Exeter 1969 („Reprinted from the Downside Review, Bd. 87, Nr. 286, January 1969, p. 26–45“). Auf diese Edition stieß ich nur im Internet, sie ist mir nicht zugänglich geworden. 44 Diesen Verdacht hatte schon Hayens Schwester geäußert, als der Bruder ihr offenbart hatte, er fühle sich in den Himmel gehoben: „Bistu auch im Haupt nicht wol verwahrt? Hastu auch zu viel gelesen?“ Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13) V. Teil, S. 182. 45 Den Paradigmenwechsel in der Akzeptanz des Magnetismus als wissenschaftliches Erklärungmuster zeigt der Vergleich zwischen den „Magnetismus“-Artikeln der Konversationslexika (Brockhaus und Meyer) zwischen 1820 und 1896, ausgeführt bei Schrader: Kleists Heilige (wie Anm. 22), S. 70 f. und 84 f.
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V. Ich kann im Folgenden nur exemplarisch die Umdeutung von besonderer Gottesbegnadung in Signale einer körpermagnetisch begründeten Clairvoyance in den Blick bringen und dabei deutlich machen, wie die magnetischen Denkmuster bereits im Pietismus selbst ihre Heimstatt hatten und aus paracelsisch-spiritualistischen Theoremen weitergereicht worden waren. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit Magnetismus bei Pietisten wie bei Romantikern im Allgemeinen nicht oder jedenfalls nicht allein die noch recht junge medizinische Applikation und Heilungsmethode gemeint ist, die Franz Anton Mesmer in seinem theoretisch durchaus epigonalen (auf Anregungen besonders von Paracelsus und Maximilian Hell, dem naturexperimentellen Lehrer auch Friedrich Christoph Oetingers, beruhenden) M8moire sur la d8couverte du magn8tisme animal46 ausgerufen und eine Schar von oft windigen Adepten in skandalumwitterten Wunderkuren mittels magnetischer Bestreichung und Hypnose gewinnbringend umgemünzt hatte. Auch bei Hayen ist einmal von einer außergewöhnlichen Heilung, jedoch ohne menschliche Fremdeinwirkung, die Rede: Kurz nachdem seine Frau gestorben war, hatte ihn – magnetisch deutbar, denn zu ihr hatte er einen zwingenden Seelenrapport, der sie in seine Erleuchtung hereinzog und ihn schon früh zu dem Wissen führte, dass sie vor ihm werde sterben müssen – ein Tertianfieber ergriffen, das ihn in Ohnmacht und zum Empfinden seiner völligen Auslöschung brachte. Seine dauerhafte Heilung leitet er aber nicht aus einer ärztlichen Therapiebehandlung und nicht aus einem psychischen Kraftzustrom der verstorbenen Frau her, sondern er schreibt sie einer ihn ins Leben zurückführenden Christus-Erscheinung zu.47 Vielmehr geht es erheblich umfassender um weit ältere Hypothesengebäude von magnetisch-fluidalen Elementarkräften im Bauplan der Schöpfung, die alles Geschaffene, den Makrokosmos wie jeden Mikrokosmos ganz analog energetisch durchwirken, die den Menschen im Normalzustand ihres Wachbewussteins aber nicht wahrnehmbar werden. Es geht also um das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, und um Gesetzmäßigkeiten der daran 46 Genf und Paris 1779, deutsche Ausgabe „Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus“, Karlsruhe 1781, Nachdruck Tübingen 1985 (beides als Digitalisat im Internet). Vorbereitend, aber noch nicht zu Wirkung gekommen waren seine paracelsierende „Dissertatio physico-medica de planetarum influxu“, Wien 1766, und sein „Sendschreiben über die Magnetkur“ (1766, erweiternd umgearbeitet 1775). 47 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13) V. Teil, S. 173 (unerklärbar zuströmendes Wissen um ihr Sterben vor seinem eigenen Tod), 191 (Unempfindlichkeit und Unversehrtheit bei der Feuerprobe, als durch empfundenen Geistbefehl beide „unsern rechten Fuß mitten ins Feur“ stecken müssen), 196 f. (ihr Hineingerissenwerden in seine Erleuchtung „beynahe am Ende ihres Lebens“ und sein lebensbedrohliches Fieber kurz nach ihrem Sterben). Dieses „dreymal […] dreytägige Fieber“ (S. 196) deutet Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 23.
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teilhabenden menschlichen Psyche. Sichtbar wird diese alldurchdringende Kraft am Menschen nur selten im noch vorrationalen Naturzustand und in außergewöhnlich gesteigerten Extremzuständen der Seele, in denen die Verbindung zum Elementaren zutage tritt, in noch unverstellt naturoffenen wie in extrem gesteigerten Seelenlagen, etwa durch religiöse Überwältigung oder in Situationen des Heraustretens der Seelenkräfte aus der Verstandeskontrolle und ihrer Ablösung vom Körper, am häufigsten in schwerer Krankheit oder Todesnähe. In dem alles durchwirkenden Magnetismus und in den ihm verwandt gedachten neu entdeckten Kräften elektrischer Spannungen werden für den Spätpietisten und Romantiker Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft 1808 die „innre Uebereinstimmung des organischen Lebens mit den kosmischen Momenten der anorganischen Natur“48 greifbar, die umfassende „Harmonie des Einzelnen mit dem Ganzen“49 als „Schimmer einer höheren Welt“50, also „jenes geistige Band, welches die Natur von Glied zu Glied gehend, um alles Lebendige geschlungen, und wodurch die einzelnen Züge zu einer großen Schrift voll tiefen Sinnes werden“.51 Der spätromantische Weinsberger Dichter-Arzt Justinus Kerner wird den Gedanken dann schon in der Einleitung seines dem „verehrungswürdigen Gotthilf Heinrich Schubert“ gewidmeten Buchs Die Seherin von Prevorst noch 1829 so aufnehmen: daß vermöge dieses innern Lebens der Mensch in einer alten ewigen Verbindung mit der Natur steht, von der ihn die einseitige Ausbildung des Gehirnlebens nur scheinbar freistellen kann. Seinem für die Außenwelt thätigen Gehirne wird zwar dieses innere Leben verdunckelt, aber dennoch lebt dieses im Innern sein unabänderliches Leben fort, und hält, ein steter geheimer Wächter, Rechnung über den Haushalt des Aeußern.52
In Schuberts Ausgabe der Lebensgeschichte des Hemme Hayen von 1810 ist der Text, abgesehen von rein graphischer Modernisierung, strikt nach der Historie Der Wiedergebohrnen gegeben. Erst im 12seitigen Anhang „Einige Bemerkungen zu der vorstehenden Geschichte“ tritt die Erläuterung der naturgesetzlich magnetischen Wirkkräfte hinzu, die hier bei einem unverbildet gleichsam im Naturzustand verbliebenen, deshalb auch nur zu so plumper Wiedergabe seines Erlebens befähigten „Menschen von sogenannten geringeren Ständen […], überhaupt Menschen von demüthigem kindlichen Sinne“53 besonders klar hervorträten. In diesem vorreflexiven Zustand näm48 49 50 51 52
Schubert, G. H.: Ansichten von der Nachtseite (wie Anm. 20), S. 207, vgl. 205. Ebd., S. 12, vgl. 7. Ebd., S. 374. Ebd., S. 270, vgl. 153, 380. Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), S. 3, vgl. ebd. Die Widmung an Schubert auf dem Vorblatt, S. [V]. Zu Kerners Verbindung mit Schubert, seiner Verehrung für ihn und geistigen Nachfolge vgl. Kantzenbach: Gotthilf Heinrich von Schubert (wie Anm. 21), S. 15. 53 Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 52. Ganz ähnlich argumentiert Schubert
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lich lägen alle künftigen höheren Entfaltungsmöglichkeiten noch so sichtbar zutage, wie die Seziermethode Jan Swammerdams an der Raupe bereits alle Organe und Anlagen des Schmetterlings sichtbar gemacht habe: Man sieht es mit besonderem Intereße und Vergnügen, wenn in dem sogenannten Swammerdammischen Experiment, durch einen leichten Kunstgriff, in der Raupe, nach zerschnittenen, hinweggenommenen Häuten, die Flügel und Fühlhörner des künftigen Schmetterlings sichtbar gemacht werden; oder wenn sich in der Blumenzwiebel die künftige Blüthe, mit all ihren Theilen, deutlich aufzeigen läßt. Mit noch viel höherem Intereße sollte man billiger Weise ein ähnliches Experiment im Großen betrachten, wo in einzelnen Menschen offenbar Anlagen und Kräfte, noch im Zustande des jetzigen Lebens zum Vorschein kommen, die bei den meisten erst in den Frühlingstagen eines neuen Lebens hervorbrechen werden. […] Ein solches Experiment aus der Physik Gottes, ist es, lieber Leser! das wir dir hier vorgestellt haben. Es […] ist um so mehr zu berücksichtigen, da hier im ganz gesunden Zustande, bei noch rüstiger Lebenskraft das geschieht, was sonst noch wohl öfterer im krankhaften Zustande, oder in den lezten Tagen vor dem Tode bemerkt wird […]. Das Experiment zeigt sich vollständiger als gewöhnlich, mit allen seinen äußern und innern Bedingungen.54
So wie Karl Philipp Moritz die pietistische Selbstbeobachtung zur experimentellen „Erfahrungsseelenkunde“, Vorstufe der modernen Psychologie, säkularisiert hatte,55 soll hier das gleichsam Parapsychologische, der gesteigerte, auf überirdische Erkenntnis, Zusammenhänge und Wirkkräfte verweisende Seelenzustand durch ein „Experiment aus der Physik Gottes“ in seinen Gesetzmäßigkeiten erkennbar werden. Als charakteristische Momente dieses erhöhten Seelenzustandes, Zeichen nicht von Krankheit, sondern einer höheren Gesundheit, werden hervorgehoben: die (etwa aus „der Mondsucht noch in den „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ (wie Anm. 20) S. 303 und Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 18 f. – Zum romantischen (ebenfalls im Pietismus präformierten) Kult des Kindlichen als zum Elementaren noch unverstellt offenen Urund Naturzustands der Psyche vgl. auch Hans-Jürgen Schrader: „Werd ein Kind!“ im „Wunderhorn“ (wie Anm. 4), S. 419–449. 54 Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 49–51. – Vgl. die Artikel über Jan Swammerdam (1637–1680) in: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie, 5. Orig.-Aufl., Bd. 9, Leipzig 1822, S. 674 f. und, entschieden lakonischer, in: Meyers Konversations=Lexikon, 5. Aufl., Bd. 16, Leipzig – Wien 1897, S. 600. Auf das Swammerdamsche Experiment bezieht sich auch Mephisto in seiner ironischen Entelechie-Applikation auf den naseweisen Baccalaureus, „Faust“-Vers 6729 f.: „Die Raupe schon, die Chrysalide deutet / Den künftigen bunten Schmetterling.“ Vgl. Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt 1994 (Goethe: Werke, FA, I, 7/2 = Bibl. deutscher Klassiker 114), S. 500, 624. Einen impliziten Hinweis auf das Experiment gibt auch Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 42. 55 Dazu grundlegend Horst Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 72 (1951), S. 144–155 sowie August Langen: Karl Philipp Moritz’ Weg zur symbolischen Dichtung. In: Ders.: Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, Berlin 1978, S. 153–237, insbes. 186–200.
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und anderen Nervenkrankheiten“ bekannte) „ungewöhnliche Erhöhung aller körperlichen Kräfte“ wie das von Hayen berichtete Schreien, seine körperliche Frische auch ohne Schlaf und Nahrungsaufnahme, das „unwillkürliche Sprechen von Worten, die dem Sprecher gleichsam ,in den Mund gelegt‘ werden“, bis hin zur „Gabe der Sprachen“, die man auch im Delirieren des Einschlafens oder im Traum erleben könne, schließlich das ClairvoyanceWissen von Zustand und Aufenthaltsort psychisch Nahestehender (hier der Frau, einer Tochter56 sowie des Predigers Potinius), eine „Wechselwirkung der Geister“ mit ihnen auch in der Ferne und ihr Teilhabenlassen an den eigenen Gesichten. All dies sei „in der Physik des Geistes nichts Unbekanntes, und schon der thierische Magnetismus spricht davon.“57 In Schuberts Symbolik des Traumes werden solche magnetisch hervorrufbaren, in Krankheits- und Sterbesituationen oder in psychopathologischen Zuständen beobachtbaren Phänomene mit einer langen aus den pietistischen Sammelbiographien belegten Beispielsammlung von Erweckten parallelisiert, die „von neuem Organ einer höheren Liebe geworden, […] mit einer göttlich=magischen Gewalt […] über die Beschränkungen des Raumes und der Zeit […] hinüber wirken“.58
VI. Kanne beruft sich weder in seiner Nacherzählung noch in seiner Apologie der Hayen-Geschichte auf diesen romantischen Einzeldruck. Er bezieht sich aber nach dem Hinweis, dass neben minder eklatanten Gnadenführungen auch spektakulärere „äußerlich-innerliche Offenbarungen“ für göttlich anzuerkennen seien, wenn aufrichtige Frömmigkeit die Gewähr dafür gebe, dass hier nicht ein „Geist der Täuschung“ wirksam sei,59 ausdrücklich auf einen befreundeten und verehrten Anhänger der magnetischen Lehre, der zugleich 56 Zusatzüberlieferung über den von Hemme Hayen in der Ferne verspürten Moment, als „seiner Tochter Esse Hemmens das Licht der Gnade in ihrem Gemüt aufging“ in zwei Versionen von „De Zilvere Arke“ (wie Anm. 8), abgedruckt bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 230 f. 57 Zitate: Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 52 und 55–58. Diese Gedanken werden 1818 von dem späteren Jenaer Rezensenten „mpi“ der Kanneschen Sammlung „Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen“ breiter ausgeführt: „Merkwürdig ist, dass dieser erhöhte Geisteszustand bey Hemme Hayen nicht etwa eine Folge körperlicher Kränklichkeit ist, sondern bey vollkommen gesunder und rüstiger Kraft eintritt, weshalb hier von Fieberträumen, überspannter Einbildungskraft u. dgl. schwerlich die Rede seyn kann. Die Gesundheit seines äusseren und inneren Menschen bekundet sich nicht allein in seinem lebendigen Glauben an Gott, sondern auch in so manchem anderen Zuge“. Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Bd. 1, Fortsetzung, Nr. 31, Sp. 241. 58 Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 196–198 im Vergleich zu den magnetisch induzierten Erscheinungen S. 104–106. 59 Kanne: Leben und aus dem Leben, Zweiter Theil (wie Anm. 32), S. VIII und X.
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„einer unserer erleuchtetsten christlichen Schriftsteller“ ist (damit spielt er erkennbar auf Gotthilf Heinrich Schubert an), der ihm ein solches Verständnis nahegelegt habe, das er hier jedoch zurückweisen müsse: Dieser ehrwürdige Mann, dessen Stimme sonst bei Gegenständen dieser Art vielmals mehr gelten muß als die meinige jemals gelten kann, schrieb mir nemlich, daß er sich Hemme Hayens, sowie Hans Engelbrechts wunderbarliche Geschichte von jeher aus dem thierischen Magnetismus erklärt hätte, und ich gestehe, daß ich Anfangs auch dabei an den Somnambulismus gedacht habe, wie mir einige Erscheinungen an beiden Männern gar zu deutlich darauf hinzuweisen schienen.60
Eine solche phänomenologische Analyse, das Eindringen experimenteller Forscher also „von draußen“ in ,Gottes Physik‘, weist Kanne als ebenso unangemesssen und geradezu frevelhaft zurück wie das erwähnte Swammerdamsche Raupen-Experiment, „denn diese werden, wie der Thieranatom, das Leben erst tödten, um es sodann kritisch-psychologisch zu zerlegen.“61 Die Berichte in den pietistischen Selbstzeugnis-Sammlungen etwa von Reitz oder Tersteegen seien bei aller äußeren Nähe zu den magnetisch beobachteten von diesen in Ursache und Wirkung doch dadurch von kategorial unvergleichbarer Art, daß man von allem, was man im magnetischen Schlafe erfährt, nach dem Erwachen gar kein Bewußtsein mehr hat, was doch aber weder bei Hemme Hayen, noch bei allen Andern der Fall gewesen ist. […]. Hellsehende Männer haben sich längst zum Magnetismus nichts Gutes versehen wollen, und daß aus jenem Schlafwandler, der bald ins Feuer, bald ins Wasser fällt, ein böser Geist getrieben wird (Matth. 17), mag uns ein Fingerzeig seyn, welche Kräfte bei den somnambülen Zuständen überhaupt mitwirksam sind. […] Es ist in beiden Fällen einerlei That der Seele, aber entsprungen aus zweierlei Geist und darum im Wesentlichen auch verschieden. […] 60 Ebd., S. XI mit einer Fußnote, dass er ursprünglich auch die ebenfalls aus der „Historie Der Wiedergebohrnen“ (wie Anm. 13; II. Teil, 11. Exempel, [Offenbach] 1701, DN 29/1, S. 120–131) zu ziehende „Historie Hans Engelbrechts von Braunschweig / so er selbst beschrieben / und erst zu Hamburg 1640. […] gedruckt ist“ mit ihren Revelationen aus dem Totenreich habe abdrucken wollen. Auf diese Engelbrecht-Historie hatte Kanne auch bereits in einer Fußnote zur Hayen-Erzählung hingewiesen, ebd., Erster Theil (wie Anm. 30), S. 14. – Tatsächlich ist Engelbrecht, ebenso wie Hayen, bei Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), mit übrigens häufigen Fußnotenverweisen auf Kannes orientalistische Forschungen, S. 181 (und vgl. S. 22) erwähnt. Der andere von Kanne im Anschluss an die Kritik der magnetischen Auslegung zurückgewiesene Einwand von einem ebenfalls „innig vertrauten Freund“ gegen seine prononciert geäußerte Wissenschaftsfeindlichkeit kann sich nicht auch auf Schubert beziehen, denn von diesem Gewährsmann ist dort als von „dem nun entschlafenen edlen Manne“ die Rede: Kanne: Leben und aus dem Leben, Zweiter Theil (wie Anm. 32), S. XIVf. – Eher unplausibel hatte Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung (wie Anm. 6), der doch S. 160, 167 f. und 183 auf die enge Freundschaft mit Schubert und Kooperation der beidseitigen Erbauungsbiographien hingewiesen hat, S. 175 den magnetischen Ideen aufgeschlossenen Freund vermutungsweise als Jung-Stilling identifiziert. 61 Kanne: Leben und aus dem Leben, Zweiter Theil, ebd., S. VIII.
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Aber ihr [der Magnetiker] Werk ist aus dem Fleische und geht auch nicht auf ’s Himmlische aus; ihre Ekstase löset wohl einige Banden der gefangenen Natur, aber sie löset nicht den dünnsten Faden von der Fessel der Sünde.62
Da die Rückerinnerung an das in der Ekstase Erlebte und Geschaute bei Hayen ebenso wie bei den Protokollen magnetischer Beobachtungen nur fallweise gegeben ist – während er Anderes ihm Offenbarte explizit nicht erinnern kann –, und weil die Propagatoren magnetischer Lehren die psychischen Kippsituationen, in denen kurzfristige Einblicke und Ausgriffe in höhere Sphären möglich werden, ja nicht als Momente einer psychischen Krankheit, sondern vielmehr einer höheren Gesundheit bezeichnen, bleibt also unterscheidend nur die Behauptung einer bei den religiösen Ekstatikern göttlichen, bei den anderen aber – wie bei dem Mt 17 von Jesus durch Austreiben des bösen Geists geheilten mondsüchtigen Knaben – potentiell satanischen Wirkkraft.63 Ein auch schon durch den Pietismus vermitteltes Moment, das dem späteren Jenaer Rezensenten wichtig wird, der Kannes Werk in einer vollständigen Harmonisierung der christlichen Programmatik der Erweckungsbewegung mit den alt-neuen magnetischen Theorien bespricht, hat Kanne gar nicht erwähnt, die besondere Bedeutung nämlich, die Begriffe und Erscheinungen des Leuchtens, gewaltsamer Entladungen von Licht und Glanzerfahrungen (neben dem Schmecken geistlicher Süße und einer zum Schreien nötigenden Taumelfreude) in Hayens Bericht gewinnen. Vom (genau datierten) Durchbruch in seinen Zustand der göttlichen Begnadung spricht Hayen nicht in den geläufigen Termini der ,Wiedergeburt‘ oder ,Erweckung‘, sondern durchgängig mit dem Begriff der ,Erleuchtung‘. Sechsmal verwendet er in seiner Erzählung dieses Wort für seine blitzartige Erfahrung einer allaufschließenden Veränderung, des geistlichen Verständnisses dunkler Schriftstellen und der visionären „Gemeinschafft mit dem allgemeinen Wesen“, einmal auch für die sympathetische Teilhabe seiner Frau an diesem Zustand. Zunächst erscheint dies nur als Verbal- (und sicher auch Epigonal-)Bezug auf Jacob Böhme, dessen „Erleuchtung“ Hayen analog auch für sich erbittet und vom Prediger Potinius zugesichert bekommt, so dass ihm fortan „dieser erleuchtete Mann also im Sinn lag“64 :
62 Ebd., S. XII–XIV. 63 Der Kommentar zur Berleburger Bibel, Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil, oder des Neuen Testaments Erster Theil, Berleburg 1735, S. 177 erläutert dagegen, zur psychischen Affektation des Knaben komme hier Krankheit und Besessenheit hinzu: „Mondsüchtig wird der genennet, welcher bey anwachsendem Monds=Licht […] mit der schweren Noth befallen wird. Bey diesem hier aber war vielerley beysammen: er war dabey noch taub und stumm von Natur, und überdas vom Teufel besessen“ – und er verbindet die Geschichte von der Heilung des Mondsüchtigen durch den bereits verklärten Heiland S. 178 mit Berichten über den wunderbarlich Berge versetzenden Glauben. 64 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13) V. Teil, S. 176 f., vgl. (für Böhme) 174, für die Frau 196, als Selbstaussage Hayens sieben Belege auf den S. 170–175.
Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen 199 Potinius […] hatte etwas von den Schrifften Jacob Böhmen […]. Da truge es sich ungefähr ein halb Jahr vor meiner Erleuchtung zu / daß er einsmals von diesem Mann und dessen hohen Erleuchtung von mir redete / und ich zu ihm sagte: Herr Prediger! Was dünckt euch? Solte wol eine solche Erleuchtung und Gnade auch noch jemand widerfahren können? Und als er sahe / daß ich dieses mit einem hertzlichen Ernst sagte; schlug er […] auff meine Schulter und sagte: Hemme, es soll euch in kurtzem ein groß Licht aufgehen! Vergesset ja nicht / mir alsdann auch was mitzutheilen!65
Aber auch sonst ist in seinem Bericht beständig von mit gesteigerten Sinnen aufgefangenen überwältigenden Lichterscheinungen und Glanzerfahrungen die Rede, meist als erlebtes Gnadenlicht, andererseits aber auch als teuflische Anfechtung wie die funkenumsprühte kosmische Vision, die ihn selbst ins Feuer zieht, und die grässliche körperliche Begegnung mit dem „Stern=Geist“, „eine von den schwersten Versuchungen […] / die ich gehabt habe“66 – und die stark gemahnt an die in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen häufige, schon in der Antonelli-Episode in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten aufgerufene magnetische Überwältigung durch ein personales feindliches Prinzip.67 Nicht nur überstehen Hayen und seine Frau eine tranceartig 65 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13) V. Teil, S. 174, weitere Belege für das Gebet und das vom wundersüchtigen Geistlichen unterstützte sehnsüchtige Verlangen Hayens, ähnlicher Jacob-Böhme-Erleuchtungen teilhaftig zu werden, auch S. 176, 179 und 182. In den Zusatzepisoden, die „De zilvere Arke“ (wie Anm. 8) mitteilt, tauchen diese Bilder gehäuft auf. Gott erscheint als „Vater des Lichts“, der uns teilhaben lässt am „Licht seiner Gnade“ bzw. „Licht der Gnade“, abgedruckt bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 231. Ebd., S. 185 f. weist Hollweg darauf hin, dass Hayen ähnliche Licht- und Glanz-Bilder nicht nur häufig bei Böhme, sondern auch bei David Joris finden konnte. 66 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13), V. Teil, S. 192 und 195. Die teuflische Versuchung entspringt für die Pietisten aus der sich eindrängenden Phantasie. Vgl. den Artikel „Phantasia“ in Friedrich Christoph Oetinger : Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hg. v. Gerhard Schäfer [u. a.], Teil I: Text, Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Bd. VII/3,1), S. 252 f.: „Man setze, in dem Lichts-Kleid GOttes (Psal. 104) sey die versehrende Schärfe, die keiner Kreatur erträglich ist. Damit sie aber der Kreatur erträglich werde, so gibt sich GOtt selbst einen Modum […]. Die Attraction, Zusammenziehung, Neutons ist etwas ewiges in GOtt, dieser widerspricht die Extension […]. Da kommen zwei Sachen zusammen, Feuer und das sanfte Licht des Lebens. Nun weil alles in GOtt Leben ist, so kann sich durch die Freiheit in der Kreatur etwas von der […] Coordination der Kräften abbrechen und in ein nachgeäftes Leben einführen. Das heißt eigentlich Phantasie, und aus dieser gauckelt der Teufel alle Gestalten der Dinge nach. Also hüte man sich vor diesen falschen Wesenheiten, die ein Mittel sind zwischen Leib und Geist. Dadurch wirkt Satan in uns und führt uns scheinbar ab aus der Warheit“ (S. 253). 67 Zu Hoffmann die umfassende Abhandlung über Spiegelungen des Magnetismus in der Literatur der Goethezeit, Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart – Weimar 1995, S. 199–204 (insbes. Zur Erzählung „Der Magnetiseur“), ferner Laurent van Eynde: Goethe et E.T.A. Hoffmann en contraste. Les enjeus compar8s du magn8tisme et du galvanisme. In: Leonardy : Traces du mesm8risme (wie Anm. 22), S. 81–92. Übersicht über die Magnetismus-Diskussion in der Erzählliteratur auch bei Kollak: Literatur und Hypnose (wie Anm. 22), S. 140 f. – Für Goethes literarische Reflexionen des animalischen oder Körpermagnetismus grundlegend Christian Lepinthe: Goethe et l’occultisme, Paris 1957 (Publications de la Facult8 des Lettres de l’Universit8 de Strasbourg, Bd. 134), S. 67–69, 120–149;
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selbstinszenierte Feuerprobe, Lichtphänomene begleiten vielmehr auch das Erleben eines Aus-dem-eigenen-Körper-Heraustretens, einer Emporhebung und Entraffung: mein neuer Mensch schiede gleich als bey der Seiten am Bett von dem alten ab / und ließ den auff dem Bett als einen todten Klotz ligen. Ich wande mich um / und sahe meinen naturlichen Leib so todt ligen / und kam allda wieder in den hohen Glantz / umgeben mit einem sehr grossen Licht: und der neue Leib / den ich da trug / war so hell und herrlich / dass sein Glantz die Sonne weit übertraff. Ich glaube und zweiffle nicht daran / daß / so jemand zu der Zeit bey meinen äusserlichen Leib gekommen wäre / er selbigen nicht anders als todt sollte gefunden haben / so lang die Entzückung währete.68
Die Vorstellungen Jacob Böhmes von einer die Schöpfung wie auch die menschliche Seele bewegenden schöpfungskräftigen Licht-Tinctur hat im Pietismus Friedrich Christoph Oetinger, ehe noch magnetische Hypothesen zur Mode und Heilmethode wurden, mit den aufkommenden Beobachtungen über elektromagnetische Triebkräfte verbunden.69 Von diesem energetischen Michael Holtermann: „Thierischer Magnetismus“ in Goethes Roman ,Die Wahlverwandtschaften‘. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 37 (1993), S. 164–197, Jürgen Barkhoff: Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus. Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. Hg. v. Peter Matussek, München 1998, S. 75–100 und 484 f.; Peter von Matt: Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes ,Wahlverwandtschaften‘. In: Über die Liebe. Ein Symposion. Hg. v. Heinrich Meier und Gerhard Neumann, München – Zürich 2001 (Serie Piper, Bd. 3233), S. 263–304, zuletzt, auch mit Hinweis auf die pietistische Tradition HansJürgen Schrader: „Unleugbare Sympathien“. Roentgen-Schreibtische, Magnetismus und Politik in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. In: Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Johannes Anderegg zum 65. Geburtstag. Hg. von Andreas Härter, Edith Anna Kunz und Heiner Weidmann, Göttingen 2003, S. 41–68, insbes. 45–53. – Die Schreckensvorstellung einer magnetischen Instrumentalisierung durch ein feindliches Prinzip begegnet im Pietismus schon bei Charles Hector de Marsay, der sich von Nicolaus Ludwig von Zinzendorf verfolgt fühlt (Nachweise Schrader: Kleists Heilige [wie Anm. 22], S. 88 f.), wird mit vielen Fallbeispielen diskutiert bei Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 196 und wiederholt noch angeführt bei Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 33, 40 f., und 55. 68 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13), V. Teil, S. 195. – Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 57, 94, 161 und 172 f. beschreibt ganz ähnliche Erfahrungen der Entraffung und des Emporschwebens über den eigenen Körper bei einem referierten Fall von 1620 und bei seiner Patientin Friederike Hauffe. 69 Vgl. Roland Pietsch: Friedrich Christoph Oetinger und Jakob Böhme [und] Guntram Spindler : Das „Wörterbuch“ als Werk der Philosophia sacra, in: Friedrich Christoph Oetinger : Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hg. v. Gerhard Schäfer [u. a.], Teil 2: Anmerkungen, Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus VII/3,2), S. 71–84 und 85–107. – Auf die gemeinhin übersehene pietistische Vermittlung und Beisteuer zur Magnetismus-Reflexion hat in der ihr gewidmeten Fachliteratur ansatzweise besonders Martin Blankenburg: Der „thierische Magnetismus“ in Deutschland. Nachrichten aus dem Zwischenreich (= Anhang zur deutschsprachigen Ausgabe der Monographie von Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich. Mit einem Essay von Martin Blankenburg), Frankfurt 1986,
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Nerven-Fluidum schreibt er im Artikel „Tinctur“ seiner spekulativen Enzyklopädie Biblisches und Emblematisches Wörterbuch von 1776 (von dem eine spätromantische Teil-Neuausgabe 1849 übrigens von Gotthilf Heinrich Schubert bevorwortet wurde), Diß Fluidum heißt J. Bçhm die Tinctur. Davon lese man seine eigenen Worte. Siehe 3 Principia, Kap. 12,20 sagt er : Die Tinctur ist […] die Ursach des Glanzes, durch sie sehen und leben die Kreaturen; von Ewigkeit ist sie gewesen in GOtt, aber sie hat sich in alle Dinge miteingebildet […]. Es ist nur ein Ens penetrabile, nur eine Tinctur im Himmel und auf Erden, aber sie hat mancherlei Arten nach jedes Dings eigenthumlichem Wesen; in Thieren ist sie anderst als in dem Menschen, in Steinen und Edelsteinen auch wieder anderst.70
Und der Artikel „Leben“ erläutert: S. 191–228, S. 198, 206, 215 f. aufmerksam gemacht; vgl. detaillierter auch Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 1, München 1969, S. 140–142, 149–158, 329–334. Für die elektrisch-galvanischen Kräfte zeigt noch Jung-Stilling besonderes Interesse. So schreibt er in einem Brief anlässlich der Todesnachricht Kleists am 2. Januar 1812 an Fouqu8: „Sobald man […] das himmlische elektrische Feuer annimmt und dessen empfänglich wird, so werden die moralischen Kräfte erhöht, und dann vermögen wir Alles durch Christum.“ Am 28. Oktober 1815 schreibt er an Johann Friedrich von Meyer: „Der Magnetismus schaltet und waltet überall: In Stuttgardt hat die Jgfr Römerin während ihrem Hellsehen eine wunderbare Maschine aus verschiedenen Metallen angegeben, in welcher Galvinismus und Elektrizität/: Dinge, wovon das gute Mädchen kein Wort wuste:/ miteinander verbunden sind und womit man Menschen soll magnetisiren können. Sie ist so complizirt, daß die Mechaniker sie nicht begreifen konnten, bis die Somnambüle sie im Hellsehen nach dem verjüngten Maaßstab in Papier aufschnizte“. Johann Heinrich Jung-Stilling: Briefe. Ausgew. u. hg. v. Gerhard Schwinge, Gießen – Basel 2002, S. 497 und 579. Ein ähnliches Magnetisiergerät, den heute noch im Weinsberger Kerner-Museum erhaltenen „Nervenstimmer“, hat Justinus Kerners „Seherin“ Friederike Hauffe im Trancezustand entworfen und zu Heilbehandlungen eingesetzt, worüber er selbst berichtet, Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 36 f., 68, Teil II, S. 264 und 186–188. Abbildung des von Kerner ins Reine gezeichneten Bauschemas in: Justinus Kerner. Dichter und Arzt 1786–1862. Bearb. v. Friedrich Pfäfflin und Reinhard Tgahrt, Marbach 1968, 2. Aufl. 1990 (Marbacher Magazin 39/1986, Sonderh.), S. 23 und Kollak: Literatur und Hypnose (wie Anm. 22), S. 116 (dort S. 118 f. Hinweise zu den Konnexen zwischen magnetischer und elektrischer Theorie), Abbildung des danach konstruierten Geräts in Kurt Seeber : Führer durch das Kernerhaus in Weinsberg, Weinsberg 1966, S. 31 f. Vgl. dazu Heinz Schott: Der „Okkultismus“ bei Justinus Kerner – eine medizinhistorische Untersuchung. In: Justinus Kerner: Nur wenn man von Geistern spricht. Briefe und Klecksographien. Hg. v. Andrea Berger-Fix, Stuttgart 1986, S. 71–104, Abb. S. 77 f. und 83 f., ferner Helmut Siefert: Die Seherin von Prevorst. Tiefenpsychologische Aspekte. In: Schott: Medizin und Romantik (wie Anm. 22), S. 422–430, hier 428 und Heinz Schott: Zerstörende und heilende Bestrebungen des „Magnetischen Lebens“: Kerners Forschungsperspektive im Kontext der zeitgenössischen Medizin. Ebd., S. 443–449, hier 447. 70 Oetinger: Wörterbuch, 1776, Teil I (wie Anm. 66), S. 324. – Zur Ausgabe in der Zeit der Spätromantik: Des Württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Biblisches Wörterbuch. Neu herausgegeben […] von Dr. Julius Hamberger. Mit einem Vorwort von Dr. Gotthilf Heinrich v. Schubert, Stuttgart 1849 (Reprint o.O. 2010), vgl. ebd., S. XXII.
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Das psychische geringere Leben pflanzt sich durch eine unmerkbar fortschreitende Electrisirung immer weiter fort. […] Die Circulation geschieht nicht ohne ein Reiben. […] Die Welt ist microcosmice im Menschen […]. Aus dem lezten Schreiben Herrn Mesmers D. Med. und aus Pater Hells Experimenten de Magnetismo animali ist solches auch zimmlich klar. Die Arznei-Gelehrtheit bekommt einen neuen Fund, so Hellmonts und Bçhms Lehren bestättigen. […] Es ist also ein doppeltes Leben im Menschen das empfindliche und verständliche. Jenes ist electrisch, diß ist weit über die Electricit8. Man kann aber die Grenzen nicht bestimmen. Mit dem verständlichen ist in den Wiedergebohrnen der Geist JEsu vereinbar. So viel kann man aus electrischen Proben und aus den Worten GOttes von der Seele schliessen. […] Das gibt ein System, da alles in jedem und jedes in allem ist.71
Schon in der Vorstufe von 1759, dem Versuch eines Biblischen und Emblematischen Wörterbuchs, hatte Oetinger im Vorwort typische Begriffe der 71 Oetinger: Wörterbuch, 1776, Teil I (wie Anm. 66), S. 218 f. Vgl. die ganz analogen, aber die Herleitung von Jacob Böhme und Johann Baptist van Helmont bis hin zu dem Wiener Hofastronomen und Erforscher elektromagnetischer Spannungen Maximilian Hell (über ihn: Kollak: Literatur und Hypnose [wie Anm. 22], S. 28 f.) noch weiter ausführenden Angaben in den Artikeln „Krankheit, Nosos“, Oetinger : Wörterbuch, S. 207 und „Mitte des Himmels, Mesuranema“, ebd., S. 240 f. Ähnlich auch über die „elastische Volatilität“, in der „das active und passive oder das wirkende und leidende Feuer […] einander die Wage“ halten (noch näher den spekulativen Überzeugungen Goethes von den Kräften, die den gesamten Kosmos durchwirken) im Artikel „Bliz und Donner, Astrapae, Brontae“: „Daher entstehet bei leichten annäherenden Körpern eine Abwechslung der annähernden und wegtreibenden Kraft. Heißt sonst sistole und diastole als der Anfang des Lebens, so daß sich näher bei dem Centro oder Quell-Punct das active durchs passive mit einer Entzündung durchschlägt und zur Durchblizung sich vereinigt.“ Ebd., S. 56, vgl. auch den Artikel „Feuer, Pyr“, ebd., S. 120 f. mit Hinweis auf Oetingers Korrespondenz und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem durch seine Erforschung elektrischer Phänomene und den Bau eines Blitzableiters schon vor Benjamin Franklin bedeutenden mährischen Prämonstratenser Prokop Divisˇ. Dazu und für die Ideenvermittlung zwischen der frühneuzeitlich-energetischen Spekulation und der romantischen Naturphilosophie sowie modernen experimentellen Wissenschaft grundlegende Hinweise bei Ernst Benz: Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Mainz 1971 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz], Abhandlungen der geistes- und sozialwiss. Klasse 12/1970), insbes. S. 8–14, 16, 27–48, 68–73, 86–91, wichtige Ergänzungen bei Reinhard Breymayer: Vom Weinsberger Dekan Friedrich Christoph Oetinger zu Justinus Kerner: Theosophische Traditionen. In: Schott: Medizin und Romantik (wie Anm. 22), S. 295–310, bes. 298–302 und 307, mit (S. 302–305) der Edition des lat. Oetinger-Briefs an Divisˇ, Weinsberg, 27. Februar 1753 (Stadtbibl. Olmütz). Bedeutsam für Oetingers pansophisches und elektromagnetisch-psychologisches Denken ist auch seine von Breymayer (S. 297 und 307) herausgestellte Verbindung zu pietistischen Medizinallehren: Der aus einer Ärztefamilie Abstammende hatte vor seiner Hinwendung zur Theologie selbst kürzere Zeit bei dem Hallenser Medizinprofessor Johann Juncker (1679–1759) und bei dem radikalpietistischen, zeitweilig inspirierten Homburger Hofmedicus Johann Philipp Kämpf studiert (für ihn vgl. den Beitrag von Konstanze Grutschnig-Kieser im vorliegenden Band). – Zur Rezeption bei Goethe und zur Bedeutung magnetischer Konzepte nicht allein in den „Wahlverwandtschaften“, sondern bereits in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ vgl. überdies Schrader: „Unleugbare Sympathien“ (wie Anm. 67), bes. S. 49–53.
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magnetischen Sympathetik für Erscheinungen, die auch an Hemme Hayen konstatierbar waren, vorweggenommen, die Erleuchtung aus göttlicher Offenbahrung lehret uns […], wie unzählig viel Freyheit, contingenz, Sympathie in die Ferne, Transformabilitaet […] aus der unsichtbaren Welt in die sichtbare komme.72
VII. Diese von Kanne in seiner Abwehr einer magnetischen Auslegung der HayenGeschichte übergangenen Aspekte werden vom Jenaer Rezensenten 1818 mit der gemeinpietistischen Auslegung explizit harmonisiert. Für ihn gehört Kannes Werk zu den in der aktuellen Erweckungsbewegung „verheißungsvolle[n] Zeichen der Zeit“, die die tröstliche Gewissheit geben, dass im Kampf zwischen dem „Reich der Finsternis“ gegen das „Reich des Lichts“ bald „der längst schon ersehnte schöne Tag der Menschheit in unvergänglichem Glanze ausbrechen“ werde: Ja, auch die menschliche Wissenschaft, besonders jene der Natur, zeigt sich von diesem neuen, höheren Geiste ergriffen, und die Nachwelt wird in diesem Betracht vor allem das Verdienst des vortrefflichen Schubert – dieses Schöpfers einer wahrhaft christlichen Physik – zu würdigen wissen.73
Mit Kanne ist der Rezensent sich einig: „Die Lehre von der Wiedergeburt ist […] die Haupt- und Cardinal-Lehre des Christentums.“ Ohne aber Kannes Zurückweisung überhaupt zu erwähnen, betont er, dass gerade durch sie die durch den Sündenfall verlorene Erkenntnis der höheren Welt und ihrer Strukturen wieder verfügbar werde, „jener Silberblick des Daseyns, welche den Menschen mit dem Ewigen wiedervermählt“, und dass besonders unverbildeten „Menschen im Stande der Natur“ wie Hemme Hayen „das Ewige […] gleichsam im schnellen Blitze erscheint“. Dabei handle es sich um „in der Physik des Geistes wohlbegründete Steigerungen jener Phänomene, die sich z. B. im Somnambulismus oder in dem begeisterten Zustand jedes Menschen von höherem Genius zeigen“. Und diese Phänomene werden noch systematischer ausgelegt als in der Hayen-Broschüre von 1810. Der Rezensent bezieht sich auf die elektromagnetischen Ereignisse im wiederholt verwendeten Bild vom Aufblitzen des Ewigen bei einer „jener kindlicheren Seelen, in welchen 72 Vorrede, „Herrenberg 1759“, in der kritischen Ausgabe Oetinger: Wörterbuch, 1776, Teil I (wie Anm. 66), S. 4. Insbesondere Schubert: Ansichten von der Nachtseite (wie Anm. 22), S. 205, 311, 328, 330, 350, 374 hat sich Oetingers Auffassung der Verwandtschaft elektrischer und magnetischer Kräfte und Wirkungen in der Seele zu eigen gemacht. 73 Beide Zitate: „Mpi“-Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 233 f.
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daher der Vorgang einer neuen geistigen Geburt ungetrübter und gleichsam natürlicher erscheint“,74 und erläutert die hier schon in nuce erkennbare künftige Vollkommenheit wiederum am Swammerdamschen Entelechie-Experiment: Wie das Licht z. B. nur ein höheres Seyn der Materie, so ist auch hier, vom Tiefsten bis zum Höchsten, Alles durch, wenn auch oft leise, Übergänge und Zwischenglieder vermittelt, und die Kette nothwendiger Wirkungen nirgends gesprengt oder unterbrochen. Die Entwickelung jener höheren Kräfte selbst, was ist sie anders, als die höher potenzirte Erscheinung des bekannten Versuches, welches uns in der Raupe schon den künftigen Schmetterling zeigt? Von diesem Standpuncte betrachtet, bieten die Erscheinungen jenes höheren Geisteszustandes durchaus nichts dar, was der Natur, der Vernunft widerspräche. Der Übergang in diesen Zustand geschieht gewöhnlich wie bei Hemme Hayen (S. 7), plötzlich und unerwartet.75
Die „Schärfung aller Sinne im Zustande eines erhöhten geistigen Lebens“, die sonst meist nur beobachtbar sei in Grenzsituationen schwerer Krankheit „und zumal kurz vor dem Tode, wo das Geistige bereits minder an seine materielle Grundlage gebunden scheint“, ist bei diesem mit den alttestamentlichen Propheten verglichenen „Clairvoyant“ im erleuchteten Zustand noch von seiner Präexistenz her dauerhaft verfügbar, durch einen dem Kind und dem kindlich gebliebenen Menschen noch nicht verstellten Zugang zum Ewigen.76 Hier berührt sich, auch in den Begründungen, der pietistische Kult des Kindes und der Kindlichkeit, der in zahllosen Viten, besonders aber in der Poesie Tersteegens und Zinzendorfs zum Ausdruck kommt, mit dem romantischen.77 74 Zitate: Ebd., Sp. 236–238. Ausgeführter noch in der Fortsetzung der Rezension: „Man lächle daher nicht, wenn unser H.H. bisweilen von höheren Dingen und Geheimnissen gewissermassen noch kindlich lallt, noch öfter gar keine Worte für seine Anschauungen findet. Denn das ist nicht immer das Höchste und Beste, was der Mund, kaum empfangen, in geläufiger Rede sogleich weiter zu fördern vermag; und ist alle unsere Weisheit im Grunde wohl etwas Anderes, als ein solches Unmündiges Lallen?“ Ebd., Nr. 31, Sp. 242. 75 Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 238. – Einem energetischen Zustrom der Sonne vergleicht noch Justinus Kerner das gesteigerte Bewußtsein in der Entrückung des sogenannten magnetischen Schlafs: „Nenne, mein Lieber, diesen Zustand nicht Schlaf: denn er ist vielmehr das hellste Wachen, das Aufgehen einer innern, viel hellern Sonne, als die ist, die deinem Aug von Außen leuchtet, ein helleres Licht als das ist, das dir durch deine Begriffe, Schlüsse, Definitionen und Systeme im wachen Leben werden kann, ein Zustand, der mit dem ursprünglichen des Menschen Aehnlichkeit hat, wo der Mensch wieder in alte innige Verbindung mit der Natur tritt und ihre Gesetze und Urtypen zu erschauen fähig werden kann.“ Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 20. 76 Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 239 f. 77 Auf die Begründungszusammenhänge ist beispielhaft hingewiesen bei Cornelia Niekus Moore: „Gottseliges Bezeugen und frommer Lebenswandel“. Das Exempelbuch als pietistische Exempellektüre. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung. Hg. v. Josef N. Neumann und Udo Sträter (Hallesche Forschungen, Bd. 5), Tübingen 2000, S. 131–142; Friedrich Schweitzer : Die Entdeckung der Religion des Kindes zwischen Pietismus, Aufklärung und Romantik. Ebd., S. 349–362 sowie auch Schrader: „Werd ein Kind!“ (wie Anm. 4). Zu Tersteegens und seiner quietistischen
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Zu den Gaben seiner Clairvoyance-Lichtbegnadung gehören auch „das unwillkürliche Sprechen von Worten, die dem Sprecher in den Mund gelegt werden“, und schließlich die „Gabe fremder Sprachen“.78 Interessant ist, dass diese übernatürlichen Fertigkeiten nicht nur wieder auf Nachrichten über Jacob Böhme zurückbezogen werden, der in der Erleuchtung ebenso, ohne des Griechischen mächtig zu sein, „sogleich den Sinn des Wortes, und zwar in ächtplatonischer Anschauung“ erfassen konnte, sondern auch (wie im ,Sturm und Drang‘) als ähnlich zwischen den glossolalierenden alten und neuen Propheten und den Poeten, somit verwandt mit dem Ingenium und der inspirativen, rational unverfügbaren Impulskraft des Dichters gesehen werden. Dies sei in Zuständen der Art etwas Häufiges, und schon die Entstehung jedes guten Gedichts ist nicht ohne eine ähnliche „Eingeistung“ denkbar, so wie denn auch den Dichtern der Deus in nobis schon von Alters her zugestanden wird.79
Bereits in seinem Brief an den mährischen Prämonstratenser, elektromagnetischen Experimentator und (parallel mit Benjamin Franklin) Blitzableiter-Erfinder Prokop Divisˇ hatte Friedrich Christoph Oetinger am 27. Februar Gesinnungsgenossen Kult der Kindlichkeit außerdem ders.: Hortulus mystico-poeticus. Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens ,Blumengärtlein‘. In: Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. v. Manfred Kock, Köln – Bonn 1997, S. 47–76, hier 68–70, sowie insbes. Michael Knieriem / Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742, Hannover 2002, bes. S. 12, 17, 26, 64, 117, 146, 148, 150, 156, 160. – Zu Zinzendorfs Ideal eines bewahrten Kindersinns vgl. auch Werner Loch: Die Darstellung des Kindes in pietistischen Autobiographien, im genannten Sammelband von Neumann / Sträter : Das Kind in Pietismus und Aufklärung, S. 143–182, hier 153–158, ferner Pia Schmid: Die Kindererweckung in Herrnhut am 17. August 1727. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. v. Martin Brecht und Martin Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), 115–133 sowie (dort anschließend) für die Bedeutung von Kindersinn und Spiel auch in Zinzendorfs und der Herrnhuter Dichtung Hans-Jürgen Schrader: Zinzendorf als Poet, ebd., S. 134–162. Aus der Reitzschen „Historie Der Wiedergebohrnen“ (IV,14) übernimmt auch Johann Arnold Kanne: Fortsetzung der zwei Schriften: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen […] und Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reich Christi und für dasselbe, Frankfurt 1824, S. 204–210 das hierzu (auch durch August Hermann Francke) verbreitetste Exempel (XXII) „Der Knabe Christlieb Leberecht von Exter (1698–1707)“. 78 Vgl. dazu die Erläuterungen (und Hinweise auf gleichartige Überlieferungen z. B. von der stigmatisierten Therese Neumann von Konnersreuth) bei Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 216 f. und bei Hollweg: Der ältere Pietismus (wie Anm. 7), S. 221 und 223. 79 Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 238–240. Zu dieser Modellübertragung vgl. Hans-Jürgen Schrader: Vom Heiland im Herzen (wie Anm. 3), S. 55–74, vgl. etwa auch ders.: Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. v. Alfred Messerli und Roger Chartier, Basel 2000, S. 351–382 (insbes. Reisepoesie des Inspiriertenführers Johann Friedrich Rock); ders.: Zinzendorf als Poet (wie Anm. 77), S. 145–161 und ders.: Schöne Seelen (wie Anm. 3), S. 224 f., 236–241, 246–248.
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1753 die Materialisierung eines elektrischen Seelenimpulses als Grundlage der Imaginationskraft erwogen: „Muß denn nicht die Einbildungskraft im empfindenden Gehirn materiell und elektrisch aufgefaßt werden?“ („Nonne igitur imaginatio in sensuali cerebro materialiter et electrice concipi debet?“)80, und sein getreulicher Schüler Gotthilf Heinrich Schubert hat in seiner Symbolik des Traumes in einem umfassenderen Sinne auch „bey der Sprache des Traumes […] jene eigenthümliche Ideenassociation und den Geist der Weissagung“ wirksam gesehen, die innig und produktiv übereinstimmen „mit unserm versteckten Poeten“, der uns tief in der eigenen Brust überweltliche Offenbarung zuspricht.81 Schon gar werden in der Kanne-Rezension alle anderen von Hayen berichteten Wunderphänomene als häufig beobachtet und in der magnetischen „Physik des Geistes wohlbegründet“ erklärt: zum Ersten die Konnexe der zueinander in magnetischem Rapport Stehenden in die Ferne (Hayens Wissen darum, wo Potinius sich aufhält, so wie Eduard und Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften voneinander wissen und einander sogar sehen, als er fern im Kriege steht,82 und ebenso in Kleists Käthchen der schon durch seinen Namen gleichsam elektromagnetisch aufgeladene Graf Wetter vom Strahl und sein Mädchen einander in Todeskrankheit bzw. im Traum in der Holunderlaube fernaktiv begegnen können). So auch zum Zweiten der Zustand der „Entraffung“ in der Trennung des sichtbar werdenden seelischen Scheinleibs von dem wie tot auf seinem Lager zurückbleibenden grob- physischen Körper (bei den Pietisten etwa beschrieben in der Exempelbiographie Richard Baxers, ursprünglich von 1691) in der Historie Der Wiedergebohrnen, wo der Geistleib einer sterbenden Mutter in feinstofflicher Sichtbarkeit vor ihren weit entfernten Kindern erscheinen kann, um Abschied zu nehmen,83 ähnlich um 1730 80 Oetingers Brief an Divisˇ (vgl. Anm. 71) bei Breymayer: Vom Weinsberger Dekan (wie Anm. 71), in der lat. Edition (S. 304) und der treffenden Übersetzung (S. 301) des Verfassers. Dort auch Schuberts Bekenntnis zu Oetinger, der seine „elektrische Psychologie“ (S. 299) präformiert hat, im Brief an Justinus Kerner am 24. August 1829: „Nur in Oettingers Schrifften (z. B. in seinem biblischen und emblematischen Wörterbuch) fand ich Dinge, die mich einiges von dem ahnen machten, was mir durch Ihr Buch mehr als Ahnung geworden.“ S. 307, nach: Justinus Kerners Briefwechsel mit seinen Freunden. Hg. v. Theobald Kerner, Bd. 1, Stuttgart 1897, S. 573 f., hier 574. Zu der Parallelität von Franklins und Divisˇ’s Experimenten und Konstruktionen zur Ableitung von Blitzen vgl. den Art. „Blitzableiter“ in Meyers Konversations-Lexikon, 5. Aufl. (wie Anm. 54), Bd. 3, 1894, S. 92–94. 81 Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23) S. 30. Für die Ähnlichkeit mit früheren genuin pietistischen Vorstellungen vgl. ebenfalls Schrader : Vom Heiland im Herzen (wie Anm. 3), S. 55 f., 59–67, 70–74. 82 Barkhoff: Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 67), S. 86 belegt an einer Äußerung gegenüber Eckermann vom 7. Oktober 1827, dass der alte Goethe, gegenüber dem spekulativen Überschwang der Romantiker stets skeptisch und sorgfältig sondernd, neben den Phänomenen der Telepathie und der Fernwirkungen psychischer Energien auch prophetische Bekundungen als potentiell „magnetisch“ bewirkt anerkannte. 83 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (wie Anm. 13), III. Teil, 1701 (Neudruck, Bd. 29/1), S. 90–112 (und die erweiternden Varianten der späteren Ausgaben: Neudruck, Bd. 29/4,
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in vielen Berichten der radikalpietistischen Zeitschrift Die geistliche FAMA, in Charles Hector de Marsays Astralleib-Spekulationen,84 1785 in Lavaters glühender Propaganda für magnetische Ideen, Etwas Geschichtliches vom sog. Thierischen Magnetismus,85 und noch 1808 in Jung-Stillings Theorie der
S. 24*–29* und 39*–65*), vgl. dazu Schrader : Literaturproduktion und Büchermarkt (wie Anm. 10), S. 83 f. und 335. Über das dem vegetativen Nervensystem zugeordnete „Ferngefühl“ handelt (unter Verweis auf entsprechende Bezeugungen) Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 133–137, vgl. seine Systematisierung der verschiedenen Erscheinungsformen erhöhter Wahrnehmung ebd. S. 196–198. Noch Justinus Kerners Seherin-Medium Friederike Hauffe sieht als solche energetischen Seelenausströmungen Schutzgeister in der verklärten Erscheinung ihres Bruders oder der Großmutter neben und hinter sich, Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), I. Teil, S. 36, 41; ebensolche Erscheinungen beschreibt bereits der Quietist Charles Hector de Marsay in seinem anonym publizierten Traktat: T8moignage d’un Enfant de la Verit8 [!] & Droiture des Voyes de l’Esprit ou EXPLICATION des trois premiers chapitres de la GENESE, Berleburg 1738, insbes. S. 247 und 250 f. Ein der Baxter-Geschichte analoges Beispiel des Erscheinens des materialisierten Geists einer Mutter in ihrer Sterbestunde an fernem Ort hat Kerner noch 1831 unter dem Titel „Die Schlüssel“ berichtet: Blätter aus Prevorst. Eine Auswahl von Berichten über Magnetismus, Hellsehen, Geistererscheinungen aus dem Kreise Justinus Kerners […]. Hg. v. Hermann Hesse, Frankfurt 1987, S. 16–18. Zur Phänomenologie vgl. Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 274. 84 In zahlreichen Berichten der vom pietistischen Arzt Johann Samuel Carl 1730 zur Sammlung der philadelphischen Gemeinschaft begründeten Zeitschrift „Die geistliche FAMA“ werden Schutzengel- und siderische Geistererscheinungen dargestellt. Über die Manifestation von Geistern entfernter Schwerkranker oder Abgeschiedener – neben Bekundungen des krudesten Aberglaubens auch in Bemühung um eine Ordnung und Unterscheidung solcher Geister – vgl. Bd. I, 3. Stück, 2. Aufl., [Berleburg] 1734, S. 34–110; 5. Stück, 1731, S. 39–61, 95–104; 8. Stück, 1732, S. 11–39; Bd. II, 17. Stück, 1735, S. 75–98; Bd. III, 21. Stück, 1736, S. 24–40; 26. Stück, 1740, S. 3–76; 27. Stück, 1741, S. 58–60, 75, 79 f., 83; 28. Stück, 1741, S. 66–89; 30. Stück, 1744, S. 18 f.; zu Marsay s. o., Anm. 83. 85 Lavaters überschäumende Begeisterung für den Magnetismus wurde allerdings von pietistischen Weggenossen skeptisch aufgenommen. Sie ist untersucht etwa von Karl Bittel: Der berühmte Hr. Doct. Mesmer. 1734–1815 […] mit einigen neuen Beiträgen zur Mesmer-Forschung, Überlingen 1939, S. 12, detaillierter von Gisela Luginbühl-Weber: Johann Kaspar Lavaters physiko-theologische Sicht des animalischen Magnetismus. In: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Referate der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts […] 1993. Hg. v. Helmut Holzhey und Urs Boschung, Amsterdam 1995 (Clio Medica 31), S. 205–212. Vgl. Holtermann: „Thierischer Magnetismus“ (wie Anm. 67) S. 172 sowie Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991 S. 41–45, auch dessen Artikel: Johann Kaspar Lavater (1741–1801). In: Theologische RealEnzyklopädie, Bd. 20, Berlin – New York 1990, S. 506–511, hier 509. – Jung-Stilling konnte Lavaters Emphase allerdings, wie er ihm in einem um Wiederherstellung der im theologischen Streit prekär gewordenen Freundschaft bemühten Brief vom 12. Juli 1797 einbekennt, nur bedingt folgen und hätte daher Hayens Berichte von den wiederholten Heilandserscheinungen kaum gebilligt: „Ich weiss, daß Du von jeher sehr aufmerksam auf ausserordentliche Erscheinungen aus dem Geisterreich warest; […] Deine […] Erwartungen in Ansehung des Magnetismus […] und noch mehreres der Art, das ich von Dir gehört hatte, überzeugte mich: […] Allein da […] alle sinnliche Phänomene aus dem Geisterreich erstaunlich gefährlich und trüglich sind, […] wollte ich Dich warnen. […] Ich glaube nicht, daß der Herr persönlich jemand erscheint bis zu seiner Wiederkunft“. Jung-Stilling: Briefe (wie Anm. 69), S. 211 f.
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Geisterkunde.86 Heinrich von Kleist hat dies poetisch ausgestaltet, bei der im Starrschlaf auf ihr Lager hingestreckten und zugleich, von allen wahrnehmbar, eine Messe dirigierenden Schwester Antonia in Die Heilige Cäcilie oder der gleichzeitig im brennenden Schloss verharrenden und in Engelgestalt daraus hervortretenden Protagonistin im Käthchen von Heilbronn.87 Oetinger hatte 1776 im Biblischen und Emblematischen Wörterbuch erläutert: „Die Körper haben unsichtbare Kraise um sich, magnetische Ausflüsse, die man messen kann per quadrata Distantiarum“, und er hatte diese begründet aus dem „Ens penetrabile der Tinctur“ der Seele, dadurch auch könne sie „an so vielen Orten zugleich seyn. Die Seele […] kann durch die Tinctur Berge umstürzen.“ – „Wenige sehen so weit wie NIEUWWENTIJT, der in jedem Menschen einen doppelten Leib erweißt, einen verborgenen siderischen oder ätherischen und einen offenbaren“.88 Oder schließlich zum Dritten erläutert der Jenaer KanneRezensent aus magnetischer Sympathie den Einbezug von Hayens Frau in seine auch ihr Empfinden überwältigenden Beglückungen und Gesichte (wiederum in Goethes Wahlverwandtschaften entsprechend den sympathetischen Kopfschmerzen Eduards und Ottilies und der Angleichung ihrer Handschrift). Der spätpietistische Arzt Justinus Kerner hat später Phänomene dieser Art häufig aufgerufen, sowohl 1829 in der Analyse der parapsychischen Erfahrungen seines Mediums Friederike Hauffe in Die Seherin von Prevorst als auch 1831 in seiner Sammlung ähnlich übernatürlicher Phänomene in der Zeitschrift Blätter aus Prevorst (in der er bezeichnenderweise, ebenso wie im Nachfolge-Blatt Magikon auch würdigende Erinnerungen an Oetinger erscheinen ließ).89 Im ständigen Bezug auf Kannes Hayen-Geschichte gibt der Rezensent „Mpi“ die durchweg magnetischen Erklärungen: Die Fähigkeit, auch in der Entfernung zu wissen, was mit geistig oder leiblich bekannten Personen sich ereignet (S. 13), ist schon im gewöhnlichen magnetischen Zustande etwas Gemeines und Allbekanntes […]. Dass die Ehefrau des Hellsehers 86 Für Jung-Stillings Stellungnahmen zum Magnetismus vgl. Barkhoff: Magnetische Fiktionen (wie Anm. 67), S. 243 (und ebd. für Kerner S. 310–314), zu seinen darauf aufruhenden okkulten Spekulationen („Theorie der Geisterkunde“) auch Gerhard Schwinge: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32), S. 267 f. und Sukeyoshi Shimbo: Kerners Parapsychologie im Lichte der Jung-Stillingschen ,Geisterkunde‘. In: Schott: Medizin und Romantik (wie Anm. 22), S. 311–320. 87 Detailliertere Analysen, auch zu den Zusammenhängen mit den pietistischen Vorgaben und Anregungen bei Schrader : Kleists Heilige (wie Anm. 21), bes. S. 72–90. 88 Oetinger: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, Bd. I (wie Anm. 66), S. 5 (Vorrede), 295 (Art. „Seele“) und 325 (Art. „Tinctur“). Vgl. ebd., I, S. 222 (Art. „Leib, Soma“, vgl. 294, Art. „Seele“), dazu Kommentar ebd., Bd. II (wie Anm. 69), S. 144 und 217. Diese Vorstellungen waren Oetinger freilich auch aus dem radikalpietistischen Schrifttum, z. B. der „Geistliche[n] FAMA“ oder von Marsay (Anm. 83 und 84) bekannt. 89 Der Artikel im 7. Heft der „Blätter aus Prevorst“ stammt wahrscheinlich von Kerner selbst, der im „Magikon“ von Johann Friedrich von Meyer, vgl. Breymayer: Vom Weinsberger Dekan (wie Anm. 71), S. 296.
Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen 209 endlich auch an dem Zustande ihres Mannes Theil nimmt (S. 24), ist eine in der leichten Mittheilbarkeit ähnlicher, z. B. magnetischer Zustände an organisch oder psychisch verwandte Personen so wohl begründete Erscheinung, dass hier vielmehr das Gegentheil auffallen müsste.90
Während die Romantiker sich für die umstrittenen medizinischen Wirkungen und Erfolge der magnetischen Heilbehandlungen Mesmers und seiner Schüler ebenso wie bereits vor ihnen die Pietisten weniger interessieren (Lavaters magnetische Heilungs- und Tranceexperimente waren da eine Ausnahme)91 als für die übernatürlichen Kräfte und Einsichtsmöglichkeiten in den göttlichkosmischen Weltzusammenhang, leitet der Kanne-Rezensent auch die Heilung des nach dem Tod der Frau in lebensbedrohliches Fieber gefallenen Hemme Hayen aus magnetischer Einwirkung ab und weiß diese als ein naturgesetzliches Faktum aufs Schönste mit der pietistischen Wiedergeburtslehre zu harmonisieren: Die heilende Kraft des Geistes, wovon S. 24 ein merkwürdiges, aber gar nicht seltenes Beyspiel vorkommt, fliesst nothwendig aus der Kraft des zum rechten lebendigen Seyn gekommenen Geistes über die untergeordnete Natur, und schon die gewöhnliche Natur- und Heilkunde zeigt uns Fälle der Art in Menge auf.92
In einem Brief an den Philologen Georg Ludwig Spalding, Sohn des bekannten Aufklärungstheologen, über magnetische Wirkungen am Menschen fasst Johann Caspar Lavater bereits am 22. Oktober 1785, elf Jahre nach seiner Reise mit Goethe an Rhein und Lahn, die auch dessen Nachdenken über Galvanik, Magnetismus und divinatorische Inspiration entscheidend angeregt hat, in einer auf die Romantik und Erweckungsbewegung vorausweisenden Zusam90 „Mpi“-Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 238 und 240. 91 Vgl. Johann Caspar Lavaters Rechenschaft an Seine Freunde. Erstes Blat [!]. – Winterthur 1786 (darin S. 3–24 „An meine Freunde, über Magnetismus, Cagliostro, geheime Gesellschaften und Nichtchrist Atheist“; zum Magnetismus S. 3–8). Der durch den Spott über Lavaters magnetisches Experimentieren in der Berlinischen Monatsschrift von 1785 (S. 434) erforderte apologetische Charakter dieses selten gewordenen Privatdrucks (vh.: BibliothHque de GenHve: 3 in: S 19 2905) wird schon in dessen Einleitung betont: „Viele von meinen Freunden verlangen über einige Punkte, die mich betreffen, und die in der Welt viel Geredes veranlassen, verständigt zu werden, um im Stande zu seyn, redlichen Nachfragern, redliche und zuverlässige Antwort geben zu können.“ Der davon in der Werkausgabe gegebene Teildruck, Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hg. v. Ernst Staehelin, Bd. 3, Zürich1943, S. 195 f., übergeht gerade die Hinweise des Originaldrucks auf die magnetischen Experimente mit Lavaters „in ekstatischen Zustand“ versetzter eigener Frau und mit dem Arzt Hinrich Matthias Marcard, die aber auch aus den unter den Sammeltitel „Lavater und der Magnetismus. 1785/1786“ gestellten Erläuterungen und Briefen ersichtlich werden. Vgl. Peter Weber: Die „Berlinische Monatsschrift“ als Organ der Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Hg. v. Friedrich Gedike und Johann Erich Biester. Auswahl, Leipzig 1986 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1121), S. 356–452, hier 414–417, dazu die Polemiken gegen Lavater ebd., S. 110 und 161–167. 92 „Mpi“-Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 240.
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menschau die pietistisch-christliche und die magnetisch-naturspekulative Deutung solcher Phänomene zusammen, wie Hemme Hayen sie beschrieben hatte: Je mehr neue, wohlthätige Kräfte wir im Menschen erkennen, desto mehr erkennen und verehren wir den unsichtbaren, wohlwollenden Mächtigen, desto glücklicher, existenter, Existenz verbreitender sind wir durch dieß religiöse Erkennen. […] Ich verehre diese neu sich zeigende Kraft als einen wohlthätigen Strahl der Gottheit, als einen königlichen Stern der menschlichen Natur, als ein Analogon der unendlich vollkommenen prophetischen Gabe der Bibelmänner, als eine von der Natur selbst mir dargebotene Bestätigung der biblischen Divinationsgeschichten […], als ein Analogon der apostolischen Handauflegung, welche ähnliche, nur unendlich höhere Effekte hervorbrachte.93
Die Berge versetzende Kraft aber des, wie Schubert sich ausgedrückt hatte, „versteckten Poeten“ in uns – als göttlicher Funke und Begnadung oder als uns in der „Physik Gottes“ eingegebene Mitgift und Divinationsgabe – bewahrt, heraufdrängend aus den Tiefen des Unbewussten, bis heute ihre unenträtselten Geheimnisse.
93 Lavater : Ausgewählte Werke, Bd. 3 (wie Anm. 91), S. 192, vgl. Schrader: „Unleugbare Sympathien“ (wie Anm. 67), bes. S. 61–64, mit Lavater-Tagebuchnotizen über die Gespräche von der Divinationskraft bei Gichtkranken und Kataleptikern, über Chemie, magia naturalis und weitere „Geheimniße der göttlichen Weisheit“.
Jeff Bach
Heilung, Medizin und Alchimie in Ephrata, Pennsylvania Conrad Beissel, Samuel Eckerlin, Jacob Martin Die Ephrata-Gemeinschaft in Pennsylvania bietet einen besonderen Blick auf die Heilkunst und den Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Nachdem sich die Gruppe von den Schwarzenauer Neutäufern abgespalten hatte, gestaltete sie ihr religiöses Leben in Ephrata gemäß Gottfried Arnolds Beschreibung der ersten Christen (Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, 1699), und auch des Gedankenguts von Jacob Böhme, vermittelt über Johann Georg Gichtel an Conrad Beissel (1691–1768), den Gründer von Ephrata. Einige Männer waren als Medicus in Ephrata tätig, und einer von ihnen scheint als Alchimist gearbeitet zu haben. Dieser Aufsatz beschränkt sich vorrangig auf die Rolle von Conrad Beissel, Samuel Eckerlin (1703–1782) und schließlich Jacob Martin (1725–1790). Um diese drei Männer besser zu verstehen, wird auch Christian Eckstein (1717–1787) kurz eingeführt. Die Heilkunst in der Gemeinschaft von Ephrata befindet sich am radikalen Rande des Pietismus und weit entfernt von den wenigen ausgebildeten Ärtzen im achtzehnten Jahrhundert in den amerikanischen Kolonien. Die Krankenbehandlung in Ephrata folgte hauptsächlich den Formen der Volksmedizin. Obwohl ein Mitglied, Jacob Martin, als Alchimist arbeitete, wurde diese Kunst in der Medizin in Ephrata nicht zu Heilzwecken angewandt. Die Ephrata-Gemeinschaft wurde von Georg Conrad Beissel, einem ehemaligen Bäckergesellen aus Eberbach/Neckar, gegründet. Die Gemeinschaft bestand aus Ehepaaren mit Familien und aus Ordensschwestern, zölibatär lebenden Frauen (ab 1745 den Rosen von Scharon), und Männern (der Zionitischen Brüderschaft, und ab 1745, der Brüderschaft zu Bethanien). Die Gemeinschaft entstand aus einer Abspaltung aus den Schwarzenauer Neutäufern, im Conestoga-Tal in Lancaster County in Pennsylvania.1 Conrad Beissel wurde in November 1724 mit sechs anderen Erwachsenen von dem Neutäuferprediger Peter Becker durch Untertauchen im fließenden Wasser getauft. Die kleine Gruppe wählte Beissel als ihren geistlichen Führer. Beissel 1 Die Hauptquellen für die Geschichte Ephratas sind Lamech [Jacob Gaas] und Agrippa [Peter Miller]: Chronicon Ephratense, Ephrata 1786 und Ezechiel Sangmeister: Das Leben und Wandel des in Gott ruhenten und seligen Br. Ezechiel Sangmeisters, Ephrata: Joseph Baumann 1825–1827. Siehe auch Jeff Bach: Voices of the Turtledoves: The Sacred World of Ephrata, University Park – Göttingen 2003 (Pennsylvania German History and Culture Series, Bd. 3). Für die sprachliche Umsetzung und für die Präsentation dieses Beitrags auf der Frankfurter Tagung sei Dr. Gerald MacDonald herzlicher Dank abgestattet.
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und seine Anhänger sonderten sich von den Schwarzenauer Neutäufern durch neue Lehren ab. Beissel war der Auffassung, man solle den siebten Tag, den Samstag, als Ruhetag begehen, und Gottesdienst am Samstag feiern. Er fing auch sofort an, das Zölibat höher als die Ehe zu schätzen. 1728 kam es zum öffentlichen Bruch mit den Neutäufern, als Beissel seine Anhänger zum zweiten Mal taufte. Ein kleiner Rest der Gemeinde jedoch blieb in Gemeinschaft mit den anderen Neutäufern, aber die meisten Mitglieder in Conestoga folgten Beissel. Einige ledige Mitglieder erbauten kleine, primitive Hütten und wohnten in kleinen Haushalten von zwei oder drei Personen. Sie nahmen auch geistliche Ordensnamen an. Die Ehepaare und Familien blieben immer ein Teil der Gemeinde. 1732 verabschiedete sich Beissel plötzlich von seiner Gemeinde. Er zog ungefähr 12 Kilometer nördlich an den Bach Cocalico. Da wohnte er in einer kleinen Hütte mit Emmanuel Eckerlin (ca. 1712–1767). Innerhalb weniger Monate folgten ihm einige ledige Mitglieder. Dort gründeten sie die Ephrata Gemeinschaft, oder das Lager der Einsamen.
Heilkunst in Ephrata Geistliches Heilmittel: Die Krankensalbung Ephrata und die Schwarzenauer Neutäufer hatten ein besonderes Heilmittel gegen Krankheiten, nämlich die Salbung mit Öl für die Heilung der Kranken. Aus dem Jakobusbrief (Jk 5,14–15) im Neuen Testament, und nach dem Muster der ersten Christen, wie Gottfried Arnold sie schilderte,2 führten beide Gruppen diese Praxis in ihre Gemeinden neu ein. Den ersten Hinweis auf die Krankensalbung in einer neutäuferischen Gruppe findet man in der Ephrata-Gemeinde. Der erste Abt der Brüderschaft in Zion, Michael Wohlfahrt (oder Bruder Agonius, 1687–1741), bat Conrad Beissel um die Salbung, als er 1741 im Sterben lag. Beissel salbte Wohlfart und betete für ihn.3 Einer späteren Anmerkung von Ezechiel Sangmeister (1723–1784) zufolge, diente Samuel Eckerlin als Helfer und reichte das Öl zu. Leider haben wir keine genaue Beschreibung der Handlung. Sangmeister merkte an, dass Samuel Eckerlin selbst sagte, die Salbung sei völlig ohne Wirkung gewesen.4 Bei der Salbung für die Kranken lehnten weder die Mit2 Gottfried Arnold: Die Erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi, das ist Wahre Abbildung der Ersten Christen nach ihren lebendigen Glauben und heiligen Leben, Frankfurt am Main, 1696, 2. Buch, S. 136. Vgl. Arnold: Die Erste Liebe. Hg. v. Hans Schneider, Leipzig 2002 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 5). 3 Lamech und Agrippa: Chronicon Ephratense (wie Anm. 1), S. 120. 4 Ezechiel Sangmeister : Leben und Wandel des in Gott ruhenden und seligen Bruders Ezechiel Sangmeisters weiland ein Einwohner von Ephrata, 1. Teil, Ephrata 1825, S. 31. Eine zuverlässige Übersetzung erschien ab 1979 im Journal of the Historical Society of the Cocalico Valley : Ezechiel
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glieder von Ephrata noch die Neutäufer die Heilkunst zünftiger Ärzte ab. Diese rein kirchliche Praxis stellte keine Ablehnung der Medizin, sondern eine Verknüpfung des Glaubens mit der Heilkunst dar.
Conrad Beissel Conrad Beissel (mit dem Ordensnamen Friedsam Gottrecht, und dem Titel Vater Friedsam) hatte wenig mit der Heilkunst zu tun. Nie wurde er als Medicus beschrieben. In seinen Schriften tauchen Hinweise auf die Medizin kaum auf. Er beschäftigte sich mit dem Problem der Sexualität und des Gleichgewichts der männlichen und weiblichen Eigenschaften eines Menschen, welcher zölibatär lebt.5 Beissel orientierte sich an dem böhmistischen Wortschatz der Alchimie, um die wässerige, weibliche Eigenschaft, und die feurige, männliche Eigenschaft zu beschreiben. Um diese Eigenschaften zu temperieren und die sexuellen Begierden auszulöschen, sollte der Mensch eine geistliche Umwandlung durch Jesus und durch die heilige Jungfrau Sophia (die weibliche Eigenschaft Gottes) erfahren.6 Israel Eckerlin (ca. 1711–1757) schrieb 1755, dass Beissel ein „geistlicher Alchimist“ sei, der Worte bewirke, und „den geistlichen Leib“ oder „Glaubens-Gold“ produziere.7 Obwohl Conrad Beissel kein Medicus war, arbeiteten mindestens zwei andere Mitglieder in dieser Funktion in Ephrata.
Christian Eckstein, oder Dr. Gideon Christian Eckstein war ein Neutäufer in Germantown und ein guter Freund von Alexander Mack dem Jüngeren (1712–1803), dem jüngsten Sohn des ersten Anführers der Schwarzenauer Neutäufer, Alexander Mack des Älteren.8
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Sangmeister: Leben und Wandel. Übers. von Barbara M. Schindler. In: Journal of the Historical Society of the Cocalico Valley, Bd. 4–10 (1979–1985). Für die zugrunde liegenden spiritualistischen und radikalpietistischen Ideen vgl. neuerdings: Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Hg. v. Wolfgang Breul und Stefania Salvadori, Leipzig 2014 (Edition Pietismustexte, Bd. 5). Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 1), S. 177. Siehe (mit reichen Forschungsnachweisen) auch Hans-Jürgen Schrader: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie. Ein philadelphisch-mystisch-arkanes „Vorspiel der neuen Welt.“ In: Transatlantische Religionsgeschichte, 18. bis 20. Jahrhundert. Hg. v. Hartmut Lehmann, Göttingen 2006, S. 31–63, hier 50–52. Onesimuß [Israel Eckerlin]: Ein Evangelisches Zeugnüß, und geistliger bericht, An Verfasser der Ephratanischen Gemeinschafft, und Haubtregierung (1755), handschriftlicher Brief an Conrad Beissel und die Ephrata-Gemeinschaft, Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister, 14.66.119, folio 68, verso. Grundlegende Information über diese Gemeinschaft jetzt bei Marcus Meier: Die Schwarzenauer
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Eckstein, seine Schwester Elisabeth (1715–1796) und einige jüngere Erwachsene der Gemeinde zogen 1738 nach Ephrata, nachdem der ältere Mack 1738 gestorben war. Seine Söhne, Valentin Mack (1701–1755) und der jüngere Alexander gehörten zu dieser Gruppe. Eckstein nahm den geistlichen Namen „Bruder Gideon“ an.9 Obwohl bekannt ist, dass Eckstein in der Rolle eines Medicus fungierte, fehlen konkrete Hinweise auf seine Arbeit und medizinischen Rezepte, mit der Ausnahme eines Briefs von Jacob Martin (siehe unten). Eckstein geriet in einen heftigen Konflikt mit Conrad Beissel zwischen 1764 und 1766, als der alte Beissel seinen Nachfolger als Vorsteher suchte. Eckstein versuchte mit Hilfe der Äbtissin der Schwesternschaft, Maria Eicher, der sogenannten Mutter Maria (1710–1784), die Stelle für sich zu gewinnen. Seine Pläne scheiterten und er zog 1767 von Ephrata weg. Sangmeister beschrieb den Auszug Ecksteins mit den Worten: „Er hatte einen Teil seiner Apotheke um £ 300 und seine Häuser zu £ 50 verkauft. Er nahm drei geladene Wagen von Güter[n]“ und auch die Möbel und das Bargeld mit.10 Der Bericht ist ziemlich übertrieben. Einem Verkaufsvertrag zufolge hat „Dr. Gideon“ nur £ 15 für das Haus und das Grundstück bekommen.11 Christian Eckstein zog 1777 wieder nach Ephrata zurück. Laut seinem Testament arbeitete er als „Practitioner of Physik“ und besaß auch eine Apotheke. Als Dr. Gideon 1787 verstarb, sollte laut seinem Testament seine Schwester Elisabeth, die geistliche Schwester Eugenia, seine „drugs, furniture, utensils and books“ (Medikamente, Möbel, Geräte und Bücher) erben. Als Schwester Eugenia 1796 starb, wurde die „Apothecary and sundry Dockter’s Books“ (die Apotheke und verschiedene medizinische Bücher) auf £ 16 bewertet.12 Leider weiß man nicht, welche Bücher oder Arznei Eckstein besessen hat.
Samuel Eckerlin als Medicus Samuel Eckerlin gehörte schon in Europa zu den Neutäufern, und zog mit seiner Mutter und drei jüngeren Brüdern, Israel, Emmanuel und Gabriel (ca. 1713–1757) 1725 nach Pennsylvania. Kurz danach schloß sich die Familie an Beissels Gemeinde an. Israel Eckerlin schrieb später, dass er Beissel für
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Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum, Göttingen 2008 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 53). Lamech und Agrippa: Chronicon Ephratense (wie Anm. 1), S. 85. Sangmeister : Leben und Wandel (wie Anm. 1), 4. Teil, S. 14. Vgl. Sangmeister : Leben und Wandel. Übers. von Schindler (wie Anm. 4), S. 15. Bill of Sale from Christian Eckstein, February 26, 1767, Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister, Miscellaneous Manuscripts, 14.66.137. Inventory of the Estate of Elizabeth Eckstein, deceased, of Ephrata, Cocalico Township […] 11th day of May 1796, Kopie in der Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister.
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einen liebenden Vater hielt.13 Im Jahre 1741 wurde Israel Eckerlin (Bruder Onesimus) Abt der zionitischen Brüderschaft. Sein älterer Bruder, Samuel (Bruder Jephune) war der wirtschaftliche Leiter der Gemeinschaft. Die Brüder hatten vier Mühlen am Cocalico-Bach gekauft oder erbaut und somit Ephrata ökonomisch nicht nur tragfähig, sondern sehr erfolgreich gemacht.14 Weil Beissel der apostolischen Armut nacheiferte, kam es zum öffentlichen Bruch mit Samuel und Israel Eckerlin. Sie mussten die Gemeinschaft 1745 verlassen. Ihr Bruder Gabriel (Bruder Jotham) und Alexander Mack der Jüngere (Br. Theophilus) zogen mit ihnen im Herbst 1745 ins südliche Virginia. Dort gründeten sie eine kleine Gemeinde am New River, und nannten den Ort Mahanaim.15 Bald kamen weitere unzufriedene Familien aus Ephrata in Mahanaim an. Da sie ständig unter der Bedrohung von Indianerangriffen leben mussten, löste sich die kleine Gemeinde schon 1748 auf. Die Eckerlins kauften ein großes Grundstück in den Allegheny Bergen, im heutigen Preston County, West Virginia. George Washington wusste von einem Lager der Brüder Eckerlin entlang des Monongahela Flusses schon um 174816 und erwähnte Samuel Eckerlin als „Doktor“.17 Wohl um 1752 siedelten sie auf einem schmalen, ebenen Grundstück von 5.000 Acres entlang dem Cheat-Fluss (Dunkard Bottom) im heutigen West Virginia.18 Hier wohnten Samuel, Israel, Gabriel Eckerlin und ein Diener, Johann Schilling. Gabriel war Jäger, Samuel war Handelsmann, und reiste nach Winchester in Virginia oder nach Pennsylvania, um Pelze zu verkaufen. Israel Eckerlin schrieb viele Streitschriften und Briefe gegen Ephrata.19 Die kleine Siedlung wurde schon Ende August 1757 während des Sieben13 Onesimus: „Sendschreiben an der Schwester Maria,“ 1756 oder 1757, in Samelband von Briefen und Traktaten von Israel Eckerlin, Young Center for Anabaptist and Pietist Studies, Elizabethtown College, Elizabethtown, Pennsylvania. 14 Lamech und Agrippa: Chronicon Ephratense (wie Anm. 1), S. 145. 15 Ebd., S. 157, nach Gen 2 f., „Engelheere“. 16 Landkarte der Indianerpfade und von Kingwood im westlichen Virginia von George Washington, ungefähr 1751. Kopie in der Preston County Historical Society, Terra Alta, West Virginia. Dank an Dr. Jane Donovan (Universität West Virginia) und Joseph C. Stiles, die auf diese Landkarte hingewiesen haben. 17 Klaus Wust: The Saint Adventurers of the Virginia Frontier, Edinburg, Virginia 1977, S. 34 f. Wust zitiert zwei Briefe von George Washington an den Governor von Virginia, Robert Dinwiddie, den 28sten September 1756 und den 5ten October 1757. Im ersten Brief meint Washington, dass alle Brüder Eckerlin „Doctors“ seien. Siehe John D. Fitzpatrick (Hg.): The Writings of George Washington from the Original Manuscript Sources Washington, 1931–1944, Bd. 1, S. 475, Bd. 2, S. 142 ff. 18 Wust: Saint Adventurers (wie Anm. 17), S. 30. Sangmeister gibt an, die Brüder Eckerlin hätten ungefähr zwei Jahren am Cheat-Fluss gewohnt. Wust weist auf die Landakten von 1752. 19 Onesimus: „Sendschreiben an der Hauptregentin der Schwesterschafft, Mutter Maria“, Brief an Maria Eicher in Ephrata, 27 Februar 1757, in Sammelband B, Briefe und Schriften von Israel Eckerlin (zwischen 1745–1757), Young Center for Anabaptist and Pietist Studies, S. 17. Israel klagt, dass er keine Antwort von Maria bekommen habe, und regt an, dass seine Briefe vor der Gemeinde vorgelesen werden.
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jährigen Krieges aufgelöst.20 Eine kleine Gruppe von sieben Ottawa-Indianern und einem französischen Soldaten fiel in die Siedlung ein. Die Indianer steckten das Haus in Brand und brachten Israel, Gabriel und Schilling nach Fort Duquesne, im heutigen Downtown-Pittsburgh. Dort verkauften die Indianer die Brüder an den Franzosen, und nahmen Schilling als Gefangenen mit. Später entkam er den Indianern und zog nach Germantown zurück. Die Franzosen nahmen Israel und Gabriel nach Kanada mit. Die Brüder starben vermutlich 1757 entweder dort oder in Frankreich. Allein der Name, „Dunkard Bottom“, blieb übrig und erinnert in West Virginia noch heute an die kurzfristige Siedlung der Eckerlins. Samuel Eckerlin besaß auch ein großes Grundstück am Shenanadoah-Fluss im nördlichen Virginia. Der Ort lag in der Nähe von Pennsylvania und hieß Sandy Hook (Sand-Ecke). Einige ehemalige Mitglieder von Ephrata siedelten sich dort an. Einer von ihnen, Ezechiel Sangmeister, wohnte in der Nähe von Sandy Hook von 1752 bis 1764. Die Autobiografie von Sangmeister, Leben und Wandel, ist eine wichtige Quelle für die Geschichte Ephratas. Diese Quelle ist aber mit Vorsicht zu genießen, nicht zuletzt wegen der kritischen Haltung Sangmeisters gegenüber Beissel. Er äusserte sich auch oft kritsch gegenüber Samuel Eckerlin, obwohl – oder gerade weil – Sangmeister zum Teil von Eckerlin abhängig war. In der Kritik Sangmeisters tauchen einige Hinweise auf Samuel Eckerlin als Medicus auf. Schon 1753 hatte sich Ezechiel Sangmeister die so genannte Framboesie („Himbeerhaut“, eine knötchenbildende Ausschlagkrankheit) zugezogen. Samuel Eckerlin gab ihm ein Purgativ, den Brechweinstein, ein Salz aus der Weinsäure, welches nur größere Leiden verursachte.21 In späteren Jahren befragte Sangmeister den Arzt, George de Benneville (1703–1793), über die Wirkung des Brechweinsteins gegen die Framboesie. De Benneville sagte angeblich, dass der Brechweinstein das übelste Heilsmittel sei, obschon Eckerlin diese Arzenei oft verschrieben und verkauft habe. Nach Sangmeisters Bericht sagte de Benneville: „Die Prediger ermordern die Seele, und die Ärtze den Leib.“ Sicherlich hatte de Benneville, ein ausgebildeter Arzt, eine offensichtlich geringe Meinung von Eckerlin als Medicus.22 1757 sollte Samuel Eckerlin Familienangehörige von Christopher Baumann, die an der Framboesie litten, heilen. Er hatte der Familie verschiedene Purgative verordnet.23 Nachdem der Hausvater andere Medikamente von einem Medicus in Maryland bekommen hatte, erging es den Kindern besser, außer einer Tochter, denn Eckerlin hatte ihr Quecksilber verabreicht. Weil de 20 Sangmeister : Leben und Wandel (wie Anm. 1), 2. Teil, S. 81, 83, 90. Siehe auch Wust: Saint Adventurers (wie Anm. 17), S. 36–39. Wust zitiert Quellen von französischen Oberhäuptern. 21 Sangmeister : Leben und Wandel (wie Anm. 1), 2. Teil, S. 20 ff. 22 Renate Wilson: Pious Traders in Medicine: A German Pharmaceutical Network in EighteenthCentury North America, University Park, Pennsylvania 2000, S. 113, 184, 187–188. 23 Sangmeister : Leben und Wandel, (wie Anm. 1), 2. Teil, S. 70, 85. Siehe auch Albert D. Bell: The Life and Times of Dr. Georg de Benneville (1703–1793), Boston 1953, S. 38.
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Benneville die Purgative kritisierte, und nur selten Quecksilber benutzte, darf man annehmen, dass Eckerlin die älteren Heilsmittel verschrieb.24
Rezepte von Eckerlin Eine wichtige Quelle für Eckerlins Arbeit stellen die vier Rezepte dar, die sehr wahrscheinlich von Samuel Eckerlin aufgeschrieben wurden. Sie konnten in einem Sammelband von Briefen und Traktaten von Israel Eckerlin aufgefunden werden. Es handelt sich um einen von zwei Bänden mit Handschriften Israel Eckerlins, die im Juni 2012 bei einer Versteigerung in der Nähe von Elizabethtown, Pennsylvanien, für das Young Center angekauft wurden. Die Rezepte sind folgendermaßen betitelt: 1. 2. 3. 4.
Den krebs zu heilen Ein Pflaster gegen Brandverletzungen Das mächtige Stichpflaster Ein Rezept vor denen Wurmen (Rezept gegen Würmer)
Im Rahmen dieser Studie bespreche ich nur die zwei letztgenannten Rezepte: Das vierte Rezept ist gegen Würmer. Zuerst muss man einen Wurm nach dem Regen suchen.25 Je größer der Kranke, oder je größer die Schmerzen, desto größer muss der Wurm sein. Man bindet den Wurm „mit einem Leinen Tüchlein“ auf den Finger oder die Hand „an daß Ort [sic] wo der Schmertz am grössten ist,“ und den Wurm vier Stunden liegen lassen, oder bis der Wurm gestorben ist. Wann „er gestorben, so ist er [der Mensch] curirth.“ Dieses Rezept scheint eine Art homöopathischer Medizin zu sein. Man benutzt ein Heilmittel, das der Krankheit oder der Ursache der Krankheit sehr ähnlich ist. Das dritte Rezept, für das Stichpflaster, ist ein richtiges Rezept. Die genauen Zutaten und genauen Mengen werden genannt. Das Pflaster ist wirksam, um Objekte wie Kugeln oder Pfeile aus Wunden herausziehen zu lassen. Für das Pflaster braucht man Wachs, Harz, Gummi Armonia, Bdellium (das biblische Bedolachharz, Gen 2,12, Num 11,7), Sulferharz und gelben Augenstein.26 Auch soll man einen Magneten (1 Loth, ca. 15.5 g), klein schneiden und daruntermischen. Dieses Rezept hilft „auch wan die wunden verderbt sey¨n.“ Es ist nicht völlig klar, ob diese Rezepte von Samuel Eckerlin stammen. Aber weil sie unter den Schriften von seinem Bruder Israel aufgeführt wurden, kann man wohl vermuten, dass Samuel Eckerlin diese Rezepte benutzte, oder sie 24 Wilson: Pious Traders in Medicine (wie Anm. 22), S. 55–57, S. 113. 25 „Ein Rezept vor denen Wurme,“ Rezept vermutlich von Samuel Eckerlin. Rezept 4, Young Center for Anabaptist and Pietist Studies, Elizabethtown College, Elizabethtown, Pennsylvania. 26 „Ein Recept deß mächtigen Stichpflasters“, vermutlich von Samuel Eckerlin. Rezept 3, Young Center for Anabaptist and Pietist Studies, Elizabethtown College, Elizabethtown, Pennsylvania.
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mindestens empfahl. Obwohl es sich nur um vier Rezepte handelt, darf man einige Bemerkungen machen. Sie zeigen alle den Einfluss der Volksmedizin. Das Stichpflaster ist ein überliefertes Rezept, wofür man Arzneien braucht. Diese Rezepte haben keine alchimistische Grundlage. Es gibt auch keine Sprüche oder Gebete für diese Rezepte. Man darf annehmen, dass diese wenigen Beispiele etwa typisch sind für einen „Practitioner of Physik“ in der Kolonialzeit auf dem Lande. Wenn man Sangmeister Glauben schenken kann, wusste Eckerlin wenig von der neueren Heilkunst, besonders im Vergleich mit de Benneville.27 Als sich Eckerlin endlich 1769 wieder in Ephrata niederließ, besaß er eine Apotheke. Laut des Testaments von „Dr. Samuel Eckerlin,“ sollte Ezechiel Sangmeister nach dem Tode Eckerlins die Apotheke, die Medikamente, Gefäße und die Arzneibücher erben.28 Welche Bücher Eckerlin besaß, ist unbekannt. Laut des Testaments von Sangmeister, der 1786 starb, sollte seine Apotheke der Gemeinschaft zur Verfügung stehen.
Trennung der Heilkunst und der Alchimie: Jacob Martin Der einzige tätige Alchimist in Ephrata war Jacob Martin, wie aus seinen erhaltenen Schriften ersichtlich ist. Laut seinem Grabstein wurde Martin 1725 in Deutschland geboren, und ist 1790 in Ephrata gestorben. Er war ein „hoher Philosoph“ und „guter Christ“.29 Das 1812 anonym erschienene Buch Das Heutige Signal beschrieb Martin als „Teutonicus Philosophus“ und als einen Mysticus.30 Martin sollte „die Philosophiam mit der Mysticam aufs trefflichste zu practiciren“ verstanden haben. Das Buch erwähnt nichts von Martin als Medicus. Wann Martin in Ephrata angekommen ist, lässt sich nicht festellen. Der erste Beweis für seine Anwesenheit stammt aus dem Jahre 1761, laut einer Handschrift mit alchimistischen Anmerkungen. Am Ende einer Anmerkung steht eine Rechnung mit dem Datum 5ter Mai 1761 für Georg Dechert, einen Bauern in Ephrata. Martin war ihm 5 Schilling schuldig.31 Unter den Anmerkungen findet man Auszüge aus Dem Universalen Welt-all von Basilius Va27 Wilson: Pious Traders in Medicine (wie Anm. 22), S. 188. 28 Will and testament of Samuel Eckerlin, Lancaster County Will Book D, Bd. 1, S. 71. Kopie in der Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister. 29 Grabstein für Jacob Martin in „God’s Acre“, Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister. 30 Anonym: Das Heutige Signal Oder Posaunen=Schall, Ephrata, 1812, S. 30 f. 31 [Jacob Martin]: „drittes buch universahl der gantzen welt,“ vierte Handschrift in der Pennypacker Sammlung, Pennsylvania Historical and Museum Commission Ephrata Cloister, No. 52, Mss. 46. Die verschiedenen Schriften von Jacob Martin sind alle zusammen als Mss. 46 gekennzeichnet. Sie sind noch nicht individuell katalogisiert. Bei einigen Handschriften fehlt eine Unterschrift, aber die Schrift ist der der Briefe Martins sehr ähnlich.
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lentinus. Zum Beispiel zitiert Martin Seite 254 bei Valentinus, dass „ein jeglich metal zu Christal und vitriol gebracht werden“ kann.32 Martin kopierte auch Auszüge aus dem Opus Mago-Cabbalisticum des Georg von Welling. Die verschiedenen Auszüge weisen auf Prozesse hin, um Blei oder Zinn mit Quecksilber und Schwefel zu färben. Auf einer zweiten Handschrift Philosophische Schrifft=stellen, & Processe, auf dab Jahr 1762 und hernach, von Jacob Martin33 findet man sowohl Datum als auch Unterschrift. Auf der ersten Seite stehen astronomische Observationen und einige astrologische Spekulationen. Danach wandte sich Martin der Alchimie zu. „Die Philosophische observation überhaupt beste[h]t darinen in ihrer Chimia,“ schrieb er.34 Jedes „Subjegtum“ [Ding] muss „zuerst zerstört und Calciniert sein.“35 Die „dinge müßen durch die Calcination und Ascherung so weit gebracht werden, damit sie ihre innere Essentz von sich gäben.“ Martin zitiert aus Büchern von Basilius Valentinus, Rudolf Nied, und häufig benutzt er Georg von Welling. Martin schrieb auch seine eigenen Bemerkungen: Als Beispiel steht eine „Mutmassung,“ dass „wann die 3 Principien vereiniget werden,“ müssen „die material zur gäntzlichen Solution gekommen, und durch die Puterfaction die Fecis ablegen.“36 Also, um die inneren alchimistischen „Principien“ eines Gegenstands in reiner Einheit zu vereinigen, müssen sie aufgelöst werden, um die Unreinigkeit (oder Kot) auszuscheiden. Jacob Martin interessierte sich auch für die theosophische Verknüpfung der Reinigung der Metalle durch Tincturen mit der Reinigung der Seele durch Jesus Christus und die heilige Jungfrau Sophia. Martin war mit den Hauptkonzepten Jacob Böhmes wohl vertraut, z. B. mit mit dem Begriff des androgynen Gottes, dessen weiblicher Teil als die heilige Jungfrau Sophia personifiziert wurde. Martin schrieb einen Traktat Ein geistliche Brief von der Wiedergeburt, um diese Verknüpfung zwischen der Alchimie und der Theosophie klar zu machen (seiner Meinung nach). Martin schrieb, dass wenn Gott sich in dem Menschen offenbaren wollte, könnten sie dies nicht ertragen.37 „Der alte=Adam wurde in Seiner Mixtur Auff einmahl zerstreut und aufgelöst, (durch die Englische Liecht=waßer Aesch=maim),“ so dass man zuerst „in der Gerechtigkeit Gottes und zug des Vatters müßt stärben, nemlich des natürlichen todes.“ Also wegen der Sünde Adams ist jeder Mensch eine geistliche Mischung von dem Sehnen nach Gott und nach der Sünde, das heißt, das 32 Ebd. , folio 2, verso. 33 Jacob Martin: „Philosophische Schrifft=Stellen, & PRocesse, auf dab Jahr 1762 & hernach,“ Handschrift in der Pennypacker Sammlung, Pennsylvania Historical and Museum Commision, Ephrata Cloister, No. 52, Mss. 46. Siehe Anm. 31. 34 Ebd., S. 2. 35 Ebd., S. 2. 36 Ebd., S. 14. 37 [Jacob Martin]: „Ein geistlicher brief von der wiedergeburt,“ zwölfte Handschrift in der Pennypacker Sammlung, Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister, No. 52, Mss.46, erster Satz. Siehe Anm. 31.
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himmlische „wasser“ der Engel (englische Aeschmaim, ein kabbalistischer Ausdruck) wird wegen der Sünde in den Menschen zerstreut. Man kann die innerliche Offenbarung Gottes nur begreifen, wenn man die Gerechtigkeit und das Urteil Gottes erduldet und geistlich stirbt. Martin findet in Christus und Sophia die Mittel, die Gott benutzt, um die Menschen zu reinigen und selig zu machen. Der Mensch kommt „zum wahren liecht und bekantniß der 3.einigen [dreieinigen] Gott,“ dann „daß Centrum alle geschöpffe, siegelt sich auff, und stell sich dem Magischen gefuhle bloß.“38 Dann „führt die Jungfrau Sophia, die Seele in den Paradisischen Roßen-Garten [sic, Rosen-Garten],“ und zeigt der Seele die Rosen und Blumen „die all von dem Liecht Scha=maim sind ausgebohren worden.“ Mit Hilfe der Jungfrau solle der sündhafte Mensch die Vermischung der Sünde und der Güte verlieren. An Stelle der vermischten Licht-Wässer der Engel („englischen Aeschmaiim“) solle der Mensch dem Licht Gottes durch die heilige Sophia so begegnen, als könnte man wunderbare Blumen im Garten des Paradieses sehen. In jener Begegnung werde der Mensch in „magischer“ Art (das heißt, wunderbarer Art) bereit, Gott als „Centrum aller Geschöpfe“ zu kennen und zu begreifen. Die Sophia und Jesus werden zusammen die Mittler, um das verlorene Gleichgewicht der Weiblichkeit und der Männlichkeit, also das Ebenbild Gottes, in den Menschen wieder herzustellen. Jesus war der Mittler, als Sohn der Jungfrau Maria und der Sohn im Herzen Gottes, „wodurch die Gottheit, der gefallenen Menschheit wieder zu Hilffe kommt, in der Wiedergeburt.“39 Jacob Martin sah einen Vergleich zur Alchimie. „Eine solche beschaffenheit hat es auch mit den Metalen: dann der Lapit [sic, Lapid, oder Lapidus] Philosophoren aus den Elementen, oder aus einem anderen reich, ist den Metalen nicht homogen genug um sie zu Tingieren.“ Die Tinktur „muß zuerst metalisch fleisch und blut Annehmen, eh sie den mercuri der Metalen zeitigen, und sie von ihrer Erbsund befreien kan.“40 Jacob Martin sah in der Lehre der Menschwerdung Jesu Christi eine theologische Parallele zur Alchimie, eine typische Ansicht der meisten christlichen Alchimisten seit dem Mittelalter. Christus soll die Unreinigkeiten der Sünde von den Menschen entfernen. Die Lehre der Menschwerdung Christi ist bei Martin heterodox, die Begriffe der Sophia und des „androgynen Gottes“ hat er von Böhme eingeführt. Aber in einem ganz beschränkten Sinn vergleicht er die Reinigung der Metalle mit der Menschwerdung Jesu. Der Lapis Philosophorum ist den Metallen nicht gleich genug, um sie vollständig zu verwandeln (zu transmutieren). Im gleichen Sinn ist Jesus Christus als Gottes Sohn den Menschen nicht vollständig gleich. Die Menschen müssen durch die Buße, die Bekehrung und die Wiedergeburt erneuert werden, um durch Jesus und Sophia geistlich verwandelt zu werden. 38 Ebd., dritter und vierter Satz. 39 Ebd., „Frage.“ 40 [Martin]: „Ein geistlicher brief,“ letzte Folio.
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Obwohl Jacob Martin als Alchimist tätig war, hatte er fast keine Verbindung mit der Heilkunst. Am 11. Dezember 1766 schrieb er einen Brief über seine eigene Krankheit an einen ungenannten geistlichen Bruder, der wohl auch Medicus war.41 Martin klagte, dass er große Schmerzen in einem Bein habe. Er ist zu Gideon [Christian Eckstein] gegangen, der ihn bluten ließ (Aderlaß). Martin schrieb, dass die Schmerzen noch größer wurden. Martin fragte Gideon, ob die Krankheit Rheumatismus sei? Gideon sagte, es sei kein Rheuma, sondern eine verwandte Krankheit, wodurch sich ein „kaltes Wasser“ aus dem Leib in dem Bein konzentriere. Gideon meinte, die Krankheit müsse durch hitzige Mittel geheilt werden. Martin beschrieb die Änderung seiner eigenen Meinung.42 Martin meinte, dass „eine gewisse Kälte in daß Obertheil des Schenkels und ins Kreutz gezogen“ sei, wodurch „die Adern und Nerffen, verkält, inpressionirt und zusahmen gezogen“ zu einem Ort kommen, wo die Adern auf einander treffen, „so daß man im gantzen Glied die Circulation gehemmt“ werde. Nach Martins Auffassung sollen die Schmerzen und die Lahmheit aus Mangel des Kreislaufs („der Circulation“) verursacht worden sein. Bruder Gideon hatte auch ein Rezept verschrieben: Man soll Tabak, Weizenkeim, und zwei Tassen Knaben-Urin zusammen kochen, und auf das Bein aufschlagen. Martin wollte es nicht ohne die Begleitung seines Freundes benutzen. Aus diesem kleinen Brief ist es klar, dass Jacob Martin in zwei Welten lebte. Auf der einen Seite fing er an, über den Kreislauf und die Auswirkungen auf die Nerven nachzudenken. Vielleicht hielt er noch an dem Begriff der Körpersäfte fest, wie mehrere Medici auf dem Lande in den Kolonien. Aber er suchte auch neuere Erklärungen für seine Krankheit. Er zögerte, Gideons Diagnosen und Heilmittel aufzunehmen. Auf der anderen Seite suchte er immer noch in den alchimistischen Büchern die Mittel, um Gold aus den groben Metallen herzustellen. Die Konzepte der Alchimie waren sehr eng mit den theosophischen Begriffen der Vergebung und Wiedergeburt verbunden. Jedoch suchte Jacob Martin aus der Alchimie keine Hilfsmittel für die Medizin. Er lebte zum Teil in der neueren Welt der Anatomie. In Ephrata waren Christian Eckstein (Br. Gideon) und Samuel Eckerlin (Br. Jephune) die bekanntesten „Doctores.“ Was sie für eine Ausbildung hatten, und welche Bücher sie benutzten, weiß man nicht. Aus den Berichten von Ezechiel Sangmeister kann man feststellen, dass Eckerlin manchmal harte Heilmittel gebrauchte, die für die älteren Behandlungsmethoden typisch waren. Die vier Rezepte, die wohl von Eckerlin benutzt wurden, gehören zu der Welt des Medicus auf dem Lande. Ihm fehlten die Ausbildung und die Erfahrung eines Medicus, wie sie George de Benneville besaß. In ähnlicher Weise könnte man annehmen, dass Eckstein die typischen alten Praktiken benutzte. 41 Jacob Martin: Brief an den „Geliebten bruder“ (11. Dezember 1766), sechste Handschrift in der Pennypacker Sammlung, Pennsylvania Historical and Museum Commission, Ephrata Cloister, No. 52, Mss. 46, recto. Siehe Anm. 31. 42 Ebd., recto und verso.
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Als George Washington 1777 während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges in Ephrata ein Lazarett aufstellte, pflegten die Militärärzte ungefähr 260 Soldaten und hielten sich an ihre eigene Medizin.43 Eckstein und Eckerlin hatten damit nichts zu tun. Unter den letzten Publikationen der Presse der Brüderschaft erschien 1791 ein Nachdruck des Kurtzgefaßte[n] Arzney=Buechlein, für Menschen und Vieh, angeblich vorher in Wien herausgegeben.44 Das Büchlein enthält keine Rezepte von Eckstein oder Eckerlin und scheint keine Verbindung mit der Medizin in Ephrata zu haben. Jacob Martin, der spät in Ephrata ankam, war kein Arzt, aber war mit den neueren medizinischen Konzepten wie dem Kreislauf und den Nerven vertraut. Jedoch glaubte er immer noch an die alchimistische Arbeit der alten Meister, um Gold aus groben Elementen zu suchen. Gerade in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts wuchs dieses Interesse in einigen Gebieten, eben als die neuen Ideen von Lavoisier in Frankreich und Josiah Priestly in Pennsylvania die alten Annahmen ersetzten. Für Martin waren die Verwandlung der Metalle und die Verwandlung der Seelen zwei Hälften derselben geistlichen Welt, die Conrad Beissel schon ausgelegt und in seinen Schriften popularisiert hatte. Obwohl die späteren Harmonisten zum Teil in dieser Welt lebten,45 war der Untergang dieser Ansicht schon weit fortgeschritten. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts stellte das Arbeitszimmer von Jacob Martin in Ephrata ein kleines Laboratorium dar. Die sprachliche Alchimie von Conrad Beissel wurde freilich noch einige Jahre später in Ephrata weiter gepflegt,46 ein Örtchen in der neuen Welt am Rande des Pietismus.
43 Michael Showalter : „The Good Samaritan Reconsidered: The Revolutionary War Hospital at Ephrata Cloister“. In: Der Reggebogge, Bd. 36 (2002), S. 28–40. 44 Kurzgefabtes Arzney=Buechlein, für Menschen und Vieh, Darinnen CXXVIII auserlesene Recepten nebst einer prognostischen Tafel, Wien gedruckt, Ephrata nachgedruckt, 1791. http:// opac.newsbank.com/select/evans/23483. 45 Vgl. etwa Donald F. Durnbaugh: Radikaler Pietismus als Grundlage deutsch-amerikanischer kommunaler Siedlungen. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 112–131 und ders.: Fruit of the Wine. A History of the Brethren, 1708–1995, Elgin, Il. 1997. 46 Schrader: Conrad Beissels Ephrata Gemeinschaft (wie Anm. 6), S. 44–46.
Ulf Lückel
Medizinisch-alchimistische Traditionsmitgiften im Pietismus Friedrich Christoph Oetinger – Johann Friedrich Metz – Johann Wolfgang Goethe I. Einleitung und Hinführung – Spuren in Frankfurt Das Thema, welches ich hier vorstelle, passt gut zu dem Tagungsort Frankfurt; es ist gewissermaßen ein Frankfurter Thema. Für den in Offenbach bei Frankfurt wirkenden Arzt Johann Friedrich Metz (1720–1782) ist das einleuchtend und freilich für Johann Wolfgang Goethe (1749–1832). Aber auch für den Württemberger Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782)1 spielt Frankfurt eine ganz erhebliche Rolle. Beginnen wir mit ihm: In seiner Autobiografie, die jüngst von Dieter Ising2 vorbildlich ediert wurde, schildert Oetinger drei wichtige Begegnungen aus dem Jahre 1729: Er besucht Christian Fende (1651–1746),3 Catharina Schütz (1687–1740),4 die Tochter von Johann Jacob Schütz (1640–1690),5 schenkt ihm ein Exemplar der Kabbala denudata, und im ehemaligen Frankfurter Ghetto,6 1 Zusammenfassend Rainer Piepmeier : Art. Oetinger, Friedrich Christoph (1702–1782), in: Theologsche Real-Enzyklopädie (TRE), Bd. 25, Berlin – New York 1995, S. 103–109. 2 Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 1). Vgl. auch: Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reelen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Untersuchungen und Edition, Frankfurt 2010. 3 Vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995, S. 107–197, hier: S. 156–158. 4 Vgl. Konstanze Grutschnig-Kieser : Der „Geistliche Würtz=Kräuter=und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „UNIVERSAL-Gesang=Buch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49), S. 198–201 u. ö. 5 Vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 119). 6 Goethe beschreibt das Leben in der Frankfurter Judengasse in seiner Autobiografie eindrücklich: Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 1. Teil, 4. Buch. In: Goethes Werke. Hg. v. Erich Trunz (Hamburger Ausgabe), Bd. 9 – Autobiographische Schriften, Bd. 1. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal, 9. neubearb. Aufl., München 1981, S. 149: „Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah.“ Zur Judengasse und dem Ghetto vgl.: Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit. Hg. v. Fritz
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wenige Schritte von unserem Tagungslokal entfernt, suchte Oetinger den jüdischen Kabbalisten Koppel Hecht auf, der ihn zutiefst faszinierte, und bei dem er seine ersten größeren Berührungen mit der Kabbala hatte und zeitlebens daran zurückdenken sollte, da sie ihm wichtig blieb.7 Ich erinnere hier nur an sein opulentes Werk über die kabbalistische Lehrtafel in der evangelischen Dreifaltigkeitskirche in Bad Teinach-Zavelstein, unter anderem mit Motiven zur jüdischen Geheimlehre der Kabbala. Sie wurde von der gelehrten Württemberger Prinzessin Antonia Herzogin von Württemberg (1613–1679) gestiftet.8
II. Friedrich Christoph Oetinger Friedrich Christoph Oetingers Entscheidung, nach dem Besuch der württembergischen Klosterschulen in Blaubeuren (1717–1720) und Bebenhausen (1720–1722) Theologie zu studieren, trägt Züge eines pietistischen Bekehrungserlebnisses. Er war schon recht früh in seiner Heimat auf die so genannte radikalpietistische Bewegung gestoßen, so unter anderem auf Johann Friedrich Rock (1678–1749),9 den Inspiriertenpropheten, den er 1721 in seiner Geburtsstadt Göppingen traf und hörte. Diese Begegnung hinterließ bei ihm viele Fragen, beispielsweise, ob das außerhalb der Kirche gelebte Christentum nicht doch besser und ehrlicher sei, als die strengen lutherischen kirchlichen Formen und Liturgien, die er in den Klosterschulen erlebte. Trotz dieser inneren Anfragen ging er nach Tübingen und absolvierte sein Studium im Herzoglichen Stipendium (Stift) von 1722 bis 1727. Auch im Stift war mittlerweile der große Umbruch zu spüren, denn auch mystische Literatur, wie etwa von Jacob Böhme (1575–1624),10 aber auch Werke von Christian Fende
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Backhaus, Gisela Engel, Robert Liberles und Margarete Schlüter, Frankfurt 2006 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Bd. 9). Vgl. Eva Johanna Schauer: Friedrich Christoph Oetinger und die kabbalistische Lehrtafel der württembergischen Prinzessin Antonia in Teinach. In: Mathesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Umkreis Friedrich Christoph Oettingers (1702–1782). Hg. v. Sabine Holtz, Gerhard Betsch und Eberhard Zwink, Stuttgart 2005 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 63), S. 155. Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hg. von Reinhard Breymayer und Friedrich Häußermann, 2 Teile, Berlin – New York 1977 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 7, Bd. 1, Teil 1. 2). Dazu auch Otto Betz: Licht vom unerschaffnen Lichte. Die kabbalistische Lehrtafel der Prinzessin Antonia in Bad Teinach, Metzingen 1996, 3. Aufl., bearb. v. Isolde Betz, Tübingen 2013. Vgl. Ulf-Michael Schneider: Johann Friedrich Rock, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VIII, Nordhausen 1994, Sp. 466–469. Vgl. die Serie seiner Selbstzeugnisse, Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. v. Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 1). Vgl. Matthias Wenzel: Der Mystiker und Philosoph Jacob Böhme (1575–1624). Sein Weg in die
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und anderen pietistischen Autoren gehörten hier zur – oftmals heimlichen Lektüre der Studenten. Freilich auch die Kirchenväter, aber daneben auch wieder rabbinische Literatur, welche von Oetinger gewissermaßen verschlungen wurde. 1725 wird er Magister und nimmt Kontakt zu dem von ihm sehr verehrten Johann Albrecht Bengel (1687–1752)11 auf. Seine erste größere Reise führte ihn im Frühjahr 1729 über Frankfurt, Jena und Halle nach Herrnhut in der Oberlausitz, wo er sich mehrere Monate aufhielt. Oetinger kann man durchaus als „Suchenden“ charakterisieren: überall traf er die unterschiedlichsten Menschen und Gruppierungen an, die alle auf ihre spezielle Weise versuchten, ein gottgefälliges Leben zu führen, wie er in einem Brief aus Jena an Johann Albrecht Bengel (1687–1752) schreibt.12 Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf versuchte ihn, den ausgewiesenen Kenner der alten Sprachen, in sein neues Projekt einzubinden: die neue Bibelübersetzung.13 Doch es kam zu Konflikten zwischen Oetinger und den Herrnhutern, speziell dem Grafen und Oetinger, sodass es keine langwährende Zusammenarbeit wurde. Friedrich Christoph Oetinger lässt sich in kein bestimmtes Raster pressen: er ist für Vieles offen, für die Herrnhuter schließlich für zu vieles! Der Rückweg im Herbst 1730 sollte ihn auch in das als philadelphisches Zentrum bekannte Berleburg führen, wo er erneut auf Zinzendorf traf, aber auch auf den damals dort wohnenden Johann Conrad Dippel (1673–1734),14 der sich in Berleburg am Hof des Grafen Casimir zu Sayn-WittgensteinBerleburg (1687–1741)15 unter anderem mit alchimistischen Versuchen und Experimenten beschäftigte. Doch auch hier blieb Oetinger nicht sehr lange, er
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Welt – und zurück nach Görlitz, in: BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen, Band 1, Dresden 2008, S. 82–85. Vgl. Martin Brecht: Art. Bengel, Johann Albrecht, in: TRE, Bd. 5, Berlin – New York 1980, S. 583–589. LKA Stuttgart, Extractus et copiae, 110v–111r (K Auszug), vgl. Johann Albrecht Bengel: Briefwechsel. Briefe 1723–1731, Bd. 2. Hg. v. Dieter Ising, Göttingen 2012 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 6, Bd. 2), S. 676. Zu den Bibelausgaben Zinzendorfs vgl. Kai Dose: Die Kupferstiche in Zinzendorfs Übersetzung des Neuen Testaments 1739 und in der Arndt-Ausgabe 1725. In: Pietismus und Neuzeit. Bd. 37 (2011), S. 86–126. Vgl. W[ilhelm] Bender : Johann Conrad Dippel. Der Freigeist aus dem Pietismus, Bonn 1882 [immer noch grundlegend zur ganzen Vita Dippels!]. Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung, Göttingen 2001 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 39). Vgl. Ulf Lückel: Die philadelphische Gemeinde in Berleburg im Spiegelbild der Tagebücher des Grafen Casimir zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1687–1741) und anderen zeitgenössischen Dokumenten. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. v. Christian Soboth und Udo Sträter, Halle 2012 (Hallesche Forschungen, Bd. 33/1), S. 447–457. Ders.: Der Besuch des württembergischen Theologen Friedrich Christoph Oetinger im Jahre 1730 in Berleburg. In: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V., Jg. 89 (2001), Bd. 65, S. 129–137.
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arbeitete kurz an der Kommentierung der Johannesbriefe des großangelegten Berleburger Bibelprojekts mit und kehrte schließlich im Dezember 1730 nach Tübingen zurück. Hans-Jürgen Schrader hat es treffend in einem Aufsatz folgendermaßen ausgedrückt: Es war „Zores in Zion“:16 speziell in Berleburg, aber auch in Herrnhut und ebenfalls in Halle und Jena hatte Oetinger bemerkt, dass es keineswegs so harmonisch in all den frommen Kreisen zuging, wie er gehofft hatte – und das galt auch für die Inspirierten.17 Er nahm zum neuen Jahr eine Stelle als Repetent am Stift an, die ihn zwar halbwegs finanziell versorgte, aber geistig und geistlich keineswegs ausfüllte. Auch hier verlief vieles nicht nach seinem Geschmack. Immer wieder sollte er auf Zinzendorf treffen, so bei dessen Württemberg-Besuch im Frühjahr 1733. Nach dem Tod des Vaters im Sommer 1733 ging Oetinger erneut auf Reisen: Diesmal sollte ihn sein Weg von Ost nach West führen. Erneut stand Herrnhut auf dem Programm, aber auch Berlin und Leipzig, und dann ging schließlich die Reise weiter nach Holland, wo er in Nimwegen,18 Leiden und Amsterdam viele neue Eindrücke sammelte und sich dort vor allem seiner großen Leidenschaft widmete: der Alchimie,19 die im liberalen Holland damals hoch im Kurs stand. Nach über zwei Jahren Reisezeit kehrte Oetinger dann im Juni 1735 wieder nach Tübingen zurück. Wir können diese Reisen durchaus als Belege für seine inneren Krisen und Kämpfe sehen und sie darunter subsummieren, so auch nach der Trennung von Zinzendorf im Sommer 1734. Auch in Tübingen hielt es ihn diesmal nicht lange, sodass er Ende 1735 erneut aufbrach: Es waren wieder die vertrauten Ziele: Frankfurt, Leipzig und Halle, wo er sich jetzt dazu durchrang, Medizin zu studieren. Mit Zinzendorf hatte es einen scharfen Streit gegeben, Thema war die für Oetinger unbiblische Sicht der Herrnhuter, dass Jesus Christus die Mittelpunktstellung im Christentum einnehmen solle, dazu kamen ebenfalls große Meinungsverschiedenheiten über die Verachtung des Gesetzes.20 Als er in dieser Zeit keine seinen Vorstellungen zum Neuen Testament entsprechende christliche Gemeinde fand, wo er eine geistliche Heimat hätte finden können, ließ er sich in Homburg vor der Höhe durch den Inspiriertenarzt Johann Philipp Kämpf (1688–1753)21 in der praktischen Medizin aus16 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Zores in Zion. Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranzprogrammatischem Philadelphia. In: Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz. Hg. v. Johannes Burkardt und Bernd Hey, Bielefeld 2009 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 35), S. 157–194. 17 Vgl. Hans Schneider: Art. Inspirationsgemeinden, in: TRE, Bd. 16, Berlin – New York 1987, S. 203–205. 18 Niederländisch Nijmegen, auf Deutsch: Nimwegen – Stadt in der Niederländischen Provinz Gelderland. 19 Vgl. Sven S. Hartmann: Art. Alchemie I [Religionshistorisch], in: TRE, Bd. 2, Berlin – New York 1978, S. 195–199. Joachim Telle: Art. Alchemie II [Historisch], ebd., S. 199–227. 20 Vgl. zur Theologie Oetingers: Sigrid Grossmann: Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung, Göttingen 1979 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 18). 21 Vgl. Reinhard Breymayer : Ein radikaler Pietist im Umkreis des jungen Goethe. Der Frankfurter
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bilden. Doch erschien ihm nach einiger Zeit dieser Weg schließlich als Flucht, und er entschloss sich 1738 zum Dienst in der württembergischen Kirche. Auch heiratete er nun. Von nun an bekleidete er die Pfarrstellen in Hirsau (1738), Schnaitheim (1743) und Walddorf22 bei Tübingen (1746), wo er die alchimistischen Experimente ausweitete und 1752 Spezialsuperintendent in Weinsberg und ab 1759 in Herrenberg wurde. Durch Übersetzungen machte er den schwedischen Theosophen Emanuel Swedenborg (1688–1772)23, der bekanntlich seine Werke nur in Latein verfasste, in Deutschland bekannt. Das führte zu Verstimmungen mit der württembergischen Kirche und der weltlichen Obrigkeit. In der Folge hatte Oettinger stets Schwierigkeiten mit der Zensur, die er jedoch geschickt zu umgehen wusste. 1765/1766 kam er als Abt und Prälat nach Murrhardt, übernahm die Leitung der Klostergüter, erhielt einen Sitz im Ständeparlament und betrieb ein Bergwerk.24 Seine alchimistischen Versuche setzte er hier weiter fort. Erwähnenswert ist aber auch seine schriftstellerische Tätigkeit, über Böhme publizierte er wie zu anderen theologischen Themen. Seine Werke waren immer wieder von der Zensur bedroht, zogen aber weite Kreise und wurden oft verlegt.25 Anders als bei seinem früheren großen Vorbild Johann Albrecht Bengel, hat sich keine spezielle Schule oder ein Schülerkreis Oetingers herausgebildet, oft ist er missverstanden und fehlinterpretiert worden, aber seine Wirkungen sind keineswegs zu unterschätzen, sie sind sehr vielschichtig und er hat sowohl seine speziellen pietistisch-alchimistischen bzw. theosophischen Mitgiften hinterlassen, respektive weitervermittelt. Dies gilt besonders für sein Eschatologieverständnis des Pietismus, aber genauso um seine Auseinandersetzung mit der spekulativen Apokalyptik und mündete schließlich in einer speziellen Theologie der Verweisungen, die ihm die Unmöglichkeit eröffnete, „Gott, das Leben“ zu denken. Hier verwendete er primär Denkbilder aus der Natur, so aus den Bereichen Biologie, Chemie, Alchimie und Physik, welche er immer mit einfließen ließ.26 Hervorzuheben ist sicherlich seine 1765 publizierte Theologie der Elektrizität. Er hielt am Alten Testament fest und suchte das Gespräch mit Juden, deren privilegierte Auslegung als Gottesvolk er stets berücksichtigte. Von Böhme und der Kabbala sind seine Gottesvorstellung und Naturdeutung beeinflusst, von Bengel seine Geschichtsdeutung und das nahe bevorstehende Weltende abhängig. Auf der Grundlage eines biblisch-
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Konzertdirektor Johann Daniel Müller alias Elias / Elias Artista (1716 bis nach 1785), in: Pietismus und Neuzeit, Bd. 9 (1983), S. 192. Heute Walddorfhäslach im Landkreis Reutlingen. Vgl. Johann Friedrich Immanuel Tafel: Abriß von Swedenborgs Leben, Tübingen 1845. Vgl. zur Kurzbiografie Oetingers: Martin Weyer-Menkhoff: Art. Oetinger, Friedrich Christoph, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1998, S. 466–468. Vgl. Die Werke Friedrich Christoph Oetingers. Chronologisch-systematische Bibliographie 1707–2014. Hg. v. Martin Weyer-Menkhoff und Reinhard Breymayer, Berlin – New York 2015. Vgl. Martin Weyer-Menkhoff: Christus das Heil der Natur, Göttingen 1990 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 27).
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heilsgeschichtlich angeleiteten Eklektizismus suchte er nach einer „philosophia sacra“ als organische Vereinigung himmlischen und irdischen Wissens. Die Deutung der Wirklichkeit als aufeinander bezogene, aber schwer zu entziffernde Texte führt Oetinger zu einer Emblematik als Wirklichkeitsdeutung.27 Das Einende von Oetingers „System“, das alle Bereiche der Wirklichkeit erfasst und das in der Idee des Lebens begründet ist, liegt, auch in der Fortsetzung pansophischer Tradition, in einer gläubigen, der Rationalisierung wie der Ethisierung fähigen „Mystik“, die er „Theosophie“ nannte. Sein Einfluss auf Württemberger Kreise und auf Generationen von Theologiestudenten und Pastoren ist nicht hoch genug zu bewerten, darüber hinaus freilich auch auf Mediziner und andere Naturwissenschaftler, schließlich hin zu Goethe.
III. Johann Friedrich Metz Einer, der direkt von Oetingers Arbeit partizipierte, sich dafür brennend interessierte und diese Mitgiften dankbar aufnahm, ist der 1720 in Tübingen geborene Arzt Johann Friedrich Metz.28 Bereits sein Vater, ein Tübinger Bäckermeister und Universitätskastenknecht, zuständig für die Tübinger Universitätskornspeicher, war ein vielseitig interessierter Mensch gewesen, der weit über seinen beruflichen Tellerrand hinausschaute – nur so viel zu ihm: er korrespondierte mit Oetinger und gehörte zu den „Stillen im Lande“, war also vom Pietismus ergriffen worden. Der Tübinger Theologe und Universitätskanzler Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760)29, den man als Eklektiker und Übergangstheologen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung verorten kann, war Metz recht freundschaftlich verbunden. Er und seine Frau waren Paten bei allen vier Kindern von Metz. Hieran sieht man bereits, dass er einen gehobeneren gesellschaftlichen Umgang pflegte und genoss. Die Alchimie gehörte zu seinen großen Leidenschaften und Beschäftigungen – nicht die Goldherstellung, sondern die Herstellung von Medizin und Heilmitteln war für Metz senior ein wichtiges Betätigungsfeld und das muss er auch recht erfolgreich ausgefüllt haben. Dennoch gab es finanziell eine Bruchlandung 27 Diese Charakterisierung orientiert sich an der Beschreibung Oetingers durch Karl Dienst. Vgl. Karl Dienst: Art. Oetinger, Friedrich Christoph, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VI, Nordhausen 1993, Sp. 1156–1158. 28 Vgl. zu diesem Abschnitt: Reinhold Stahläcker : Der Bäckermeister, Universitätskastenknecht und Alchimist Johann Friedrich Metz und sein Sohn, Dr. med. Johann Friedrich Metz, der Arzt des jungen Goethe, in: Tübinger Blätter 24 (1933), S. 36–42, v. a. die grundlegende Recherche von Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 1: Elemente und Fundamente, München 1969, S. 172–184; 2. durchges. und erw. Aufl. München 2002. 29 Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele: Art. Pfaff, Christoph Matthäus, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 290 f.
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nach Errichtung eines größeren Laboratoriums, wozu er einen Kredit aufgenommen hatte und nicht zurückzahlen konnte. Schließlich musste er nach den verschiedensten Tätigkeiten in Göppingen (auch hier eine Parallele zu Oetingers Herkunft), Tübingen und anderen Württemberger Orten seinen gesamten Hausrat verkaufen, um die Schulden zu bezahlen. Dennoch arbeitete er weiter an seinen Heilmitteln, vor allem einem Universalsalz. In Talheim bei Heilbronn lebten er und seine Familie dann ab 1742. Über Metz senior ist sonst nicht viel Genaueres bekannt.30 Die Familie Metz siedelte 1749 nach Offenbach um.31 Johann Friedrich Metz jun., der 1751 in Halle nach seinem Studium bei dem Stahl-Schüler Johann Juncker (1679–1759) von Michael Alberti (1682–1757) promoviert worden war, kam 1765 nach Frankfurt am Main, wo schon drei Jahre vorher sein Bruder Franz eine Papierhandlung begründet und das Bürgerrecht in Frankfurt erworben hatte. Obschon sich anfangs die Zunft der Frankfurter Ärzte, die, wie alle Zünfte, jede fremde Konkurrenz fernzuhalten versuchte, gegen die Aufnahme von Dr. Johann Friedrich Metz wehrte, erhielt er das begehrte Bürgerrecht schließlich doch. In Frankfurt fand er schnell in die frommen Kreise Eingang. Er wurde der Arzt von Susanna Catharina von Klettenberg (1723–1774)32, der Tochter des bekannten Frankfurter Arztes und Ratsherrn Remigius Seiffart von Klettenberg (1693–1766), einer Freundin und Verwandten von Goethes Mutter. Durch Empfehlung von Susanna von Klettenberg wurde Metz schließlich auch Hausarzt der Familie Goethe. Nachdem im Jahr 1768 Susanna von Klettenberg sechs Monate lang scheinbar hoffnungslos erkrankt war, nahm ihre Krankheit, in der sie von Dr. Metz behandelt wurde, ganz unerwartet eine Wendung zum Guten hin, sodass sie in kürzester Zeit genesen konnte, worin sie geradezu ein göttliches Wunder erblicken wollte. Sie berichtete darüber an den Herrnhuter Friedrich Wenzel Neisser (1716–1777): Ja, mein lieber Bruder, ich lebe wieder gegen meine und gegen aller Menschen Vermutung, gegen aller Wahrscheinlichkeit und vielleicht gegen den ordentlichen Lauf, der mich befallenen Krankheit und den ordinären Lauf der Natur. Aber der Herr der Natur hat seine Schöpfermacht an mir kräftig erwiesen. Ihm ist alles möglich.33
Susanna von Klettenberg sympathisierte sehr mit den Herrnhutern, was man in Frankfurt nicht unbedingt gern sah, so vor allem nicht ihr Beichtvater 30 Vgl. Reinhard Breymayer: Friedrich Christoph Steinhofer. Ein pietistischer Theologe zwischen Oetinger, Zinzendorf und Goethe, Dußlingen 2012, S. 67–69. 31 Aus der Offenbacher Zeit hat sich ein Lieferschein vom 11. Mai 1750 über mehrere selbst zubereitete Arzneimittel erhalten, die Metz auf den Herrnhaag und nach Büdingen geliefert hat, darunter auch ein „paketche Universallsaltz“. In dem Fragment ist jedoch kein Empfänger aufgeführt. Johannes a Lasco Bibliothek, Emden: Theol. 88 7713a YB. 32 Vgl. Detlev Lüders: Art. Klettenberg, Susanna Katharina von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, S. 54. 33 Brief datiert vom 1. März 1767. Unitätsarchiv Herrnhut, UA, R.21.A.78.1 u. 2.
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Johann Philipp Fresenius (1705–1761)34, der nachhaltig gegen die Herrnhuter in der Wetterau und in Frankfurt35 polemisierte.36 Das Verhältnis von Susanna von Klettenberg und Metz wurde intensiver, man tauschte sich aus, las gemeinsam in Erbauungsstunden fromme pietistische Literatur und Bücher aus dem Umfeld der Kabbala und der Mystik. Aber auch immer wieder Gottfried Arnold.37
IV. Johann Wolfgang Goethe Kommen wir zurück auf Johann Wolfgang Goethe, der sehr wohl in seiner jungen Zeit im Kontext des Pietismus, ja sogar des radikalen Pietismus verortet werden kann, obschon das bei Goethe auf den ersten Blick ein wenig verwundern mag.38 Ein Blick in die Theologische Real Enzyklopädie scheint das zu bestätigen, denn das Thema Pietismus wird dort im Goethe-Artikel noch nicht einmal erwähnt.39 Im Oktober 1765 ging Goethe zum Studium nach Leipzig, das damals als Zentrum der deutschen Aufklärung und des Rokoko galt. Goethe, der in den Leipziger Jahren auf der Suche nach Orientierung war, hörte Vorlesungen aus vielen Fachgebieten, so auch aus der Philosophie und Theologie. Mit Freunden führte er intensive Gespräche über Fragen der Ästhetik, der Gesellschaft, der Psychologie und der Religion. Besonders die pietistischen Thesen, die er mit dem angehenden Theologen Ernst Theodor
34 Vgl. Gerhard Johannes Raisig: Theologie und Frömmigkeit bei Johann Philipp Fresenius. Eine Studie zur Theorie und Lebenspraxis im Pietismus der frühen Aufklärung, Frankfurt 1975 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII Theologie, Bd. 50), ferner : Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Hg. v. Paul Raabe, Halle 1999 (Katalog der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Bd. 6), S. 100 f. 35 Vgl. Paul Peucker : Die Diaspora der Herrnhuter Brüdergemeine in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert. In: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6), S. 13–23. 36 Vgl. Burkard Dohm: Radikalpietistin und ,schöne Seele‘: Susanne Katharina von Klettenberg. In Kemper / Schneider: Goethe und der Pietismus (wie Anm. 35), S. 111–134, hier 116. 37 Vgl. Hans Schneider: „Mit Kirchengeschichte, was hab’ ich zu schaffen?“ Goethes Begegnung mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie. In: Kemper / Schneider: Goethe und der Pietismus (wie Anm. 35), S. 79–110. 38 In seinem neuesten Aufsatz zu dieser Thematik hat Hans-Jürgen Schrader diese vielschichtigen Einzelheiten noch einmal detailliert herausgearbeitet und belegt: Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Schöne Seelen – prophetische Genies – Herzenssprache. Goethes pietistische Konnexe. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Göttingen 2013, S. 207–249. Vgl. im Aufriss auch schon ders.: Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe im pietistischen Geleit. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel, Darmstadt – Kassel 2001(= Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 5), S. 361–377. 39 Vgl. Peter Pfaff: Art. Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832), in: TRE, Bd. 13, Berlin – New York 1985, S. 552–558.
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Langer (1743–1820)40 in nächtlichen Zusammenkünften diskutierte, wirkten lebenslang in Goethe nach. Eines Nachts bricht Goethe mit einem Blutsturz in Leipzig zusammen. Langer, der mit Goethe auf dem gleichen Flur wohnt, nimmt sich seiner an. Nach der Rückkehr in sein Elternhaus nach Frankfurt im September 1768 – Goethe war „gleichsam als ein Schiffbrüchiger“41 befand er sich weiterhin auf der Suche nach umfassenden Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Daseins – er intensivierte seinen Kontakt mit der Pietistin Susanna Catharina von Klettenberg, die in ihm das Suchen nach religiösen Orientierungen forcieren sollte. Goethe war von ihrer großen Toleranz und differenzierten Religiosität so beeindruckt, dass er ihre Schriften und Äußerungen in seinem Werk Wilhelm Meisters Lehrjahre im sechsten Buch ausführlich verarbeitete – als Bekenntnisse einer schönen Seele.42 Doktor Metz gab ihm die beruhigende Versicherung, es handele sich bei seiner Krankheit nicht um einen Schaden an der Lunge, sondern „nur“ um eine Beschädigung der Luftröhre. Man ist sich bis heute in der Goethe-Forschung uneins, wie Johann Friedrich Metz den jungen Goethe damals geheilt hat: ob es doch eine Operation an der Luftröhre war, oder ob diese Krankheit nur mit selbst hergestellten Medikamenten behandelt wurde.43 Auf jeden Fall hinterließ Doktor Metz einen bleibenden Eindruck bei dem jungen Goethe. Er schreibt dazu: der Arzt war ein unerklärlicher, schlau blickender, freundlich sprechender, über aus abstruser Mann, der sich in den frommen Kreisen ein ganz besonderes Zutrauen erworben hatte. Tätig und aufmerksam, war er den Kranken tröstlich. Mehr aber als durch alles erweiterte er seine Kundschaft durch die Gabe, einige geheimnisvolle selbst bereitete Arzneien in Hintergrunde zu zeigen, von denen niemand sprechen durfte, weil bei uns den Ärzten die eigene Dispensation (Herstellung von Arzneien) streng verboten war. Mit gewissen Pulvern, die irgend ein Digestiv enthalten mochten, tat er nicht so geheim, aber von jenem wichtigen Salze, dass nur bei den größten Gefahren angewendet werden durfte, war nur unter den Gläubigen die Rede, obgleich es noch niemand gesehen oder die Wirkung davon gespürt hatte.44 40 Vgl. Paul Zimmermann: Art. Langer, Ernst Theodor, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 17, Leipzig 1883, Nachdr. Berlin 1967, S. 676–678. 41 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 6), S. 337. 42 Vgl. zu diesem Abschnitt und Goethes Verhältnis zur Alchemie: Hans-Jürgen Schrader: „Unleugbare Sympathien“. Roentgen-Schreibtische, Magnetismus und Politik in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Hg. v. Andreas Härter, Edith Anna Kunz und Heiner Weidmann, Göttingen 2003 (Festschrift für Johannes Anderegg zum 65. Geburtstag), S. 41–68. Speziell zu „Wilhelm Meisters Lehrjahre“: Hans-Georg Kemper: Zinzendorf – klassisch. ,Herrnhut‘ als ,Lerngut‘ in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Pietismus und Neuzeit 39 (2013), S. 27–46. 43 Vgl. Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1 (wie Anm. 28), 2. durchges. und erw. Aufl. München 2002, S. 137–139. 44 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, München 142002 (Hamburger Ausgabe, Bd. 9), S. 402.
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Bei diesem wirksamen Salz, das Metz verabreichte, handelt es sich vermutlich um das von seinem Vater erfundene „Universal-Salz“. Um den Glauben an die Möglichkeit eines solchen Universalmittels zu stärken, empfahl der Arzt seinen Patienten das Studium alchimistischer Bücher, mit deren Hilfe sie selbst das Geheimmittel entdecken könnten, dass sich aus physischen und moralischen Gründen anderen nicht mitteilen lasse. So hatte er auch Susanna von Klettenberg, die schon in früher Jugend von ihrem Vater zur Beobachtung der Natur angeleitet worden war, zu solchen alchimistischen Studien angeregt, bei denen religiöser und naturwissenschaftlicher Mystizismus eng miteinander verbunden waren und ihr gelang es damals leicht, auch den jungen Goethe dafür zu begeistern. Sie lasen miteinander die von Johann Friedrich Metz empfohlenen Bücher – unter anderem Paracelsus45 und Jacob Böhme, aber auch die Lektüre von Gottfried Arnolds Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie hinterließ bei Goethe einen bleibenden Eindruck, wie er im achten Buch von Dichtung und Wahrheit freimütig bekennt.46 Johann Wolfgang Goethe sollte allerdings kurze Zeit später noch einmal die Bekanntschaft mit dem Universal-Salz von Doktor Metz machen. Wenige Zeit später, nachdem er von seinem Halsleiden befreit worden war, hatte er unter Störung der Verdauung zu leiten, die sich in solchem Maße steigerte, dass man das Schlimmste befürchten musste (wohl eine Art Darmverschluss). In ihrer großen Not holte seine Mutter Doktor Metz abermals in das Goethesche Haus und bat ihn, jetzt doch mit seinem geheimen und besten Universalmittel herauszurücken. Metz brachte dann auch ein kristallisiertes Salz, dass in Wasser aufgelöst wurde. Alsbald habe dieser Trank eine Erleichterung gebracht und sein Zustand habe sich stufenweise verbessert. Vielleicht war es eine Art Glaubersalz? Auf den jungen Goethe hat diese Kur begreiflicherweise einen großen Eindruck hinterlassen.47 In Dichtung und Wahrheit erwähnt Goethe, dass „Arzt und Chirurgus“, die ihn während seiner Krankheit behandelten, „auch unter die abgesonderten Frommen“48 gehörten. Noch eifriger als zuvor trieb er nach seiner Genesung mit Susanna von Klettenberg jene alchimistischen Studien. Er las mit ihr naturwissenschaftliche Werke und auch später noch, nach seiner Rückkehr aus Straßburg 1771, 45 Der aus der Schweiz stammende Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenheim (* um 1493–1541) nannte sich selbst Paracelsus. Er wirkte als Alchimist, Arzt, Astrologe, Laientheologe, Mystiker und Philosoph. Besonders nach seinem Tode wurden viele seiner Werke nachgedruckt und erfuhren eine enorme Verbreitung und Rezeption. Vgl. Katharine Weder: ,das jenig das am subtilesten und besten gewesen ist‘. Zur Makrokosmos-Mikrokosmosbeziehung bei Paracelsus. In: Nova Acta Paracelsica Bd. 13 (1999), S. 3–48 und neuerdings Pirmin Meier : Paracelsus. Arzt und Prophet, Zürich 2013. 46 Vgl. Paul Raabe (Hg.): Separatisten, Pietisten, Herrnhuter (wie Anm. 34), S. 62. 47 Vgl. http://www.ursulahomann.de/GoetheUndDieReligion/kap006.html [letzer Abruf: 20. Juli 2014]. 48 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3), S. 64 f.
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wo er sich neben seinen juristischen Studien auch mit Medizin beschäftigt hatte, setzte er in Frankfurt alchimistische Studien fort.49 Bei Susanna von Klettenberg traf man sich in einem mit Blumen geschmückten Raum, in dem auch ein Buffet aufgebaut war, zu Andachten und religiöser Musik, oftmals nach Herrnhuter Manier der Singstunden.50 Am Flügel wurde musiziert, vor allem Choräle aus dem Herrnhuter Gesangbuch.51 Der junge Goethe selbst trug fromm anmutende Verse bei, entzündete in liturgischer Manier Kerzen, und beschäftigte sich wie alle anderen Teilnehmenden mit biblischen Betrachtungen.52 Mit dem Legationsrat Johann Friedrich Moritz, einem befreundeten Frankfurter Pietisten, reiste Goethe im September 1769 zu der Herrnhuter Synode in Marienborn in der Wetterau, wo sie jedoch erst ankamen, als die Tagung schon zu Ende war und mehrere Teilnehmer bereits nach dem Synodenabschlussgottesdienst abgereist waren.53 Für den starken pietistischen Einfluss, dem er in den Jahren vor 1775 ausgesetzt war, ist immer wieder die Frankfurter Krankheitsphase Goethes vom 1. September 1768 bis zu seiner Abreise zum Studium nach Straßburg angeführt worden.54 In diesen Zeitraum fiel sein Besuch bei den Herrnhutern in Marienborn, der Umgang mit Susanna Catharina von Klettenberg, schließlich der für seine Einstellung zum Christentum aufschlussreiche Briefwechsel mit dem Leipziger Studienfreund Ernst Theodor Langer : „Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bey den Haaren“.55 Neben der Teilnahme bei Betstunden nach Herrnhuter Muster und der Lektüre des Ebersdorfer Gesangbuchs der Brüdergemeine stand die Beschäftigung mit kabbalisti49 Einen ausgezeichneten Überblick über die Alchimie in der Periode des Pietismus und Goethes Ideenaufnahme bieten die Aufsätze von Christa Habrich: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition, in: Kemper / Schneider: Goethe und der Pietismus (wie Anm. 35), S. 45–77 sowie dies.: Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik. Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus. In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Hg. v. Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder, Tübingen 2004, S. 9–29. 50 Susanna von Klettenberg sympathisiert und korrespondiert zwar mit einigen Herrnhutern, jedoch gehörte sie der Gemeinschaft nicht an. Vgl. Paul Peucker : Die Diaspora der Herrnhuter Brüdergemeine in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert. In: Kemper / Schneider: Goethe und der Pietismus (wie Anm. 35), S. 18–20. 51 Vgl. Nicole Schatull: Die Liturgie der Herrnhuter Brüdergemeine Zinzendorfs, Tübingen 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, Bd. 14). 52 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Schöne Seelen – prophetische Genies – Herzenssprache (wie Anm. 38), S. 211 f. 53 Vgl. John Becker: Goethe und die Brüdergemeinde, in: Zeitschrift für Brüdergeschichte 3 (1909), S. 94–110, hier: S. 98 u. Anm. 3. 54 Vgl. Hans Georg Kemper: Zinzendorf – klassisch. (wie Anm. 42), S. 27–46, hier besonders: S. 30–38. 55 An Ernst Theodor Langer am 17. 11. 1769. Wieder abgedruckt in: Goethes Briefe. Hg. v. Karl Robert Mandelkow (Hamburger Ausgabe), Bd. 1, Hamburg 21968, S. 84. Vgl. Paul Raabe (Hg.): Separatisten, Pietisten, Herrnhuter (wie Anm. 34), S. 56–58.
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schen, alchemistischen und pansophischen Theorien. Metz hat so seinen Anteil daran, Goethe ins Alchimieren und in die Suche nach den Baugesetzen der Schöpfung eingeführt zu haben. Auf deren, alle anderen Bereiche dominierenden Einfluss hat Rolf Christian Zimmermann das „Weltbild des jungen Goethe“ gegründet und das Frühwerk aus dieser Perspektive interpretiert.56 Allerdings wehrt sich Zimmermann dagegen, Zusammenhänge zwischen der radikalpietistischen und der Geheimlehrenliteratur zu sehen. Ulf-Michael Schneider weist jedoch nach, dass Zimmermann hier irrt. Goethe erhielt von seinem Arzt Johann Friedrich Metz mehrere Bücher von Radikalpietisten, die seine Weitsicht für okkulte Dinge, Alchimie, Hermetik und vieles mehr anregte.57 Hans-Jürgen Schrader58 konkretisiert noch diese Kritik an Zimmermanns These in seinem umfangreichen Aufsatz: Salomonis Schlüssel für die „halbe Höllenbrut“. Radikalpietistisch tingierte „Geist=Kunst“ im Faustschen „Studierzimmer“ und dem möchte ich mich gerne anschließen. Wir können hier im wahrsten Sinne von Traditionsmitgiften sprechen, die so von Oetinger über Metz zu Goethe reichen. Das Alchimieren war ihnen allen gemein und fand seine Wurzeln durchaus im „radikalen“ Pietismus, der, wie wir ja wissen, eben sehr vielschichtig ist und sich nicht in eine bestimmte Folie pressen lässt.
56 Vgl. Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe (wie Anm. 28). 57 Vgl. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra Bd. 297), S. 161 f. Die unlängst von Isabelle Noth publizierten Thesen gegen Goethes Bekanntsein mit Gedankengut der Inspirierten – vgl. Isabelle Noth: Goethe und die Inspirierten, in: Pietismus und Neuzeit Bd. 32 (2006), S. 233–244 – überzeugen meines Erachtens nicht. Sie enthalten keinen stichhaltigen Beweis gegen Goethes Wissen um die inspirierten Propheten ganz unterschiedlicher Couleur in der ihm vorangegangenen Generation, wie es Rolf Christian Zimmermann oder Hans-Jürgen Schrader wahrscheinlich gemacht haben: Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe (wie Anm. 28), S. 214–218, 241–245; Hans-Jürgen Schrader: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ,Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 20 (1994), S. 5–74, hier 71–74 sowie ders.: Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. v. Alfred Messerli und Roger Chartier, Basel 2000, S. 351–382, hier: S. 360 f. Vgl. zu dieser Debatte jetzt ders.: Schöne Seelen – prophetische Genies – Herzenssprache (wie Anm. 84), S. 237 f., Anm. 65. 58 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Salomonis Schlüssel für die „halbe Höllenbrut“. Radikalpietistisch tingierte „Geist=Kunst“ im Faustschen „Studierzimmer“. In: Kemper / Schneider: Goethe und der Pietismus, (wie Anm. 35), S. 231–256.
Christoffer H. Grundmann
„Jesus ist Sieger!“ Heilungen im Wirken des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt (1805–1880)
Wer heutzutage über Heilungen im Wirken Johann Christoph Blumhardts zu sprechen hat, steht vor dem Problem, längst Bekanntes bloß zu wiederholen,1 zumal dann, wenn das gewählte Thema bereits 1992 von Dieter Ising behandelt wurde, damals allerdings mit einem etwas anderen Untertitel.2 Gibt es irgendetwas Neues zu sagen? Wohl kaum. Allerdings kann die Gefahr bloßer Wiederholung durch eine veränderte Fragestellung gebändigt werden, die das Problembewusstsein schärft, bisher übersehene Aspekte in den Blick treten lässt und so zu vertiefter Einsicht verhilft. Das ermöglicht dann auch eine Neuformulierung der Herausforderungen, die durch Blumhardts Wirken insbesondere an das kirchliche Pfarramt und die Theologie gestellt sind, ein Anliegen, das wiederum auch Dieter Ising mit der Herausgabe der Anthologie Krankheit und Heilung an Leib und Seele. Auszüge aus Briefen, Tagebüchern und Schriften Blumhardts sowie einiger seiner Weggefährten verfolgt.3 Ein Weiteres ist einleitend noch zu bedenken: Die ausgezeichnete Quellenlage zu Blumhardt verführt dazu, dessen Anliegen und Gedanken in einer Weise zu analysieren und zu systematisieren, die ihm nicht gerecht wird, diesem, wie Karl Barth es einmal ausdrückte, „gar nicht zu studierenden, sondern nur zu erlebenden schlicht gewaltigen Gottesmann“,4 der von sich bekannte, dass er ein „Feind des Wortemachens“ sei5 und seine Theologie „nicht hinterm Pult erworben“ habe.6 1 Meine Verlegenheit ist darin begründet, dass ich bereits 2005 über diese Thematik vorgetragen und publiziert habe; siehe Christoffer H. Grundmann: „Die biblische Wahrheit ist, […] daß das Evangelium eine Kraft Gottes ist, die Übel der Seele und des Leibes wegzunehmen.“ – Das Vermächtnis Joh. Chr. Blumhardts für den Heilungsauftrag der Kirche. In: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte, 106. Jg. (2006), S. 137–160. 2 Dieter Ising: „Jesus ist Sieger!“ – Dämonologie, Erweckung und Heilungen bei Johann Christoph Blumhardt. In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 18 (1992), S. 155–174. 3 Johann Christoph Blumhardt – Krankheit und Heilung an Leib und Seele. Auszüge aus Briefen, Tagebüchern und Schriften. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2014 (Edition Pietismustexte, Bd. 6). – Im Nachwort (S. 259) schreibt Ising: „Die Möttlinger und Bad Boller Ereignisse wären, einmal in einer Schublade abgelegt, ihrer Brisanz beraubt. Daher verstehe ich die vorliegende Publikation als Mosaikstein in einem noch zu zeichnenden differenzierten Gesamtbild.“ (ähnlich auch S. 258). 4 Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert – Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 2. verb. Aufl., Zürich 1952, S. 588. 5 Brief vom 16. 8. 1853 an Bardili. In: Johann Christoph Blumhardt: Gesammelte Werke. Hg. von Dieter Ising, Reihe III: Briefe, Bd. 5: Bad Boller Briefe (1852–1880), Göttingen 1999, S. 40.
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In der Einfalt, ohne einen Plan, ohne eine Berechnung, auch ohne Meditation hinter dem Pulte auf besondere Gedanken hin, bin ich immer meine Wege gegangen und in das hineingekommen oder eigentlich hineingeschoben worden, was ich erlebte. […] Nur unter Gesprächen und unter Erklärungen, die man mir abnötigte und die ich dabei immer erst finden musste, bin ich nach und nach zu klarer Einsicht oder Anschauung gekommen.7
Das mahnt zu methodologischer Vorsicht und definitorischer Zurückhaltung. Blumhardt ist in kein System zu zwängen; er sperrt sich gegen jedes. Dennoch, um noch einmal Karl Barth zu zitieren, „kann […] der unakademische Habitus, der Blumhardt […] eigen ist, […] kein grundsätzliches Hindernis bedeuten, hinzuhören, was er […] erkannt und zu sagen gehabt“ hat.8 Seine jeder Fachterminologie abholde Sprache spiegelt eben die lebendige, vielfältige und vielstimmige Wirklichkeit intensiver seelsorgerlicher Tätigkeit innerhalb des Protestantismus württembergischer Prägung des neunzehnten Jahrhunderts wider. Das nötigt dazu, Blumhardts Aussagen in ihren jeweiligen historischen und pastoraltheologischen Kontext zu stellen und entsprechend zu interpretieren. Im Folgenden werde ich zunächst Blumhardts Verständnis von Heilung skizzieren (I), um dann in einem weiteren Schritt dieses Verständnis mittels kritischer Analyse des „Kampfes“ um die Gottliebin und ihre Geschwister einer Würdigung zu unterziehen (II).
I. Heilungen im pastoraltheologischen Selbstverständnis Blumhardts Heilungen spielten im Wirken Johann Christoph Blumhardts erst ab dem Frühjahr 1844 eine Rolle. 38 Jahre alt, war er bereits seit mehreren Jahren im Pfarramt tätig. Zwar hatte er zuvor schon im engsten Familienkreis den Zusammenhang von Gebet und Heilung erfahren,9 aber erst nach dem „Kampf“ um die Geschwister Dittus und der sich daran anschließenden Erweckung der Möttlinger Gemeinde stellten sich, wie er Jahre später rückblickend schrieb, „ganz ungesucht, ja überraschend, auffallende Heilungen“ ein, „die […] 6 Johann Christoph Blumhardt: Verteidigungsschrift gegen Herrn Dr. de Valenti zur Hoffnung bei Bern, Reutlingen 1850, S. 105 (jetzt in: Johann Christoph Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe I: Schriften, Bd. 1: Der Kampf in Möttlingen, Texte. Hg. von Gerhard Schäfer unter Mitarbeit von Paul Ernst, Göttingen 1979, S. 215). 7 Johann Christoph Blumhardt: Blätter aus Bad Boll, 2. Jg. (1874), Nr. 6, S. 46 f. „[N]icht systematisch grübelnd, hinter dem Pult nachdenksam [!] sitzend, [bin ich] auf meine Hoffnungsgedanken gekommen.“ Ähnlich auch ebd., 5. Jg. (1877), Nr. 7, S. 54. 8 Barth: Die protestantische Theologie (wie Anm. 4), S. 589. 9 Nämlich bei seinem Sohn Theophil im Sommer 1843 und bei seiner Frau Doris 1844; siehe Ising: „Jesus ist Sieger!“ (wie Anm. 2), S. 171.
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ziemlich Aufsehen machten“;10 doch davon zu reden, sei seine Sache nicht.11 Nur nach ausdrücklicher Aufforderung seitens der vorgesetzten Kirchenbehörde erklärte er sich dazu bereit: Soll ich nun von dem Erfolge noch etwas berühren, so kommt mich das etwas sauer an, weil ich hierüber lieber die Kranken selbst sprechen liesse. Es ist auch so, daß bei Weitem das Wenigste darüber mir zu Ohren kommt; und nur zufällig erfahre ich es, oft ohne mich […] an die Personen zu erinnern […].12
Ein anderer Grund, der Blumhardt zu schreiben nötigte, war die Information seiner Amtsbrüder über die schon bald öffentliches Aufsehen erregenden Vorgänge in Möttlingen sowie die Abwehr polemischer Verleumdungen von Seiten des fromm-pietistischen Zeitgenossen und Bekannten aus Basler Zeiten, Dr. de Valenti;13 auf die spöttisch-sarkastische, oft auch persönlich beleidigende, höhnische Kritik seitens der säkular-liberalen Tagespresse reagierte er dagegen aus Prinzip überhaupt nicht.14 Autobiographische Hauptquellen zum Thema Heilung bei Blumhardt sind demnach, wie allgemein bekannt, neben der amtlichen Korrespondenz mit dem Konsistorium in Stuttgart die Krankheitsgeschichte der Gottliebin Dittus von 1844/1850, die auf drei Ausgaben – März bis Mai – sich erstreckende Mitteilung im ,Evangelischen Kirchenblatt‘ von 1845, die Verteidigungsschrift gegen Herrn Dr. de Valenti von 185015 sowie zahlreiche persönliche Briefe;16 darüber hinaus findet 10 Blumhardt: Blätter aus Bad Boll, 2. Jg. (1874), Nr. 1, S. 127. 11 Blumhardt: Verteidigungsschrift (wie Anm. 6), S. 213. 12 Blumhardt an Ludwig Friedrich Fischer (vor dem 29. 10. 1845 geschrieben). In: Blumhardt: Gesammelte Werke (wie Anm. 5), Reihe III, Briefe, Bd. 3: Möttlinger Briefe (1838–1852), Texte, Göttingen 1997, S. 305 f. 13 Ernst De Valenti: Die Wunder in Möttlingen. In: Licht und Recht in Israel. Eine Zeitschrift zur Beförderung wahrer christlicher Heilserkenntnis und Gottseligkeit, 3 (1849), S. 71–120 (wieder abgedruckt in: Gesammelte Werke, Reihe I, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 301–336). – Zu De Valenti siehe G[ustav] Frank: Valenti, Ernst Joseph Gustav de. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 39, München – Leipzig 1895, S. 459–463. 14 „Mein hartnäckiges Stillschweigen in den Blättern wollen mir allmählig viele zum Vorwurf machen. Allein ich bleibe dabei, obwohl ich Stoff genug hätte, auf eine Weise mich zu vertheidigen, daß ich mindestens mit Ehren bestehen könnte. […] [I]ch bin stille und warte nur, ob nicht einmal Einer nicht mich, sondern wenigstens das Gebet […] vertheidigen wollte.“ Brief vom 16. 6. 1846. In: Blumhardt: Gesammelte Werke (wie Anm. 12), Reihe III, Bd. 3, S. 316 f. – Belege der spöttischen Artikel aus ,Der Beobachter – Ein Volksblatt aus Württemberg‘ sind abgedruckt in: Blumhardt: Gesammelte Werke (wie Anm. 6), Reihe I: Schriften, Bd. 2: Der Kampf in Möttlingen, Anmerkungen, S. 33–35, 41 f. 15 Siehe Blumhardt: Gesammelte Werke (wie Anm. 6), Reihe I, Bd. 1: Krankheitsgeschichte der Gottliebin Dittus, S. 32–78; ders.: Mittheilung von Pfarrer Blumhard[t]. In: Evangelisches Kirchenblatt, zunächst für Württemberg, 7 (1. 3. 1845), 14 (11. 5. 1845), 15 (21. 5. 1845), (jetzt in: Blumhardt, Gesammelte Werke, ebd., S. 93–118); ders.: Verteidigungsschrift (wie Anm. 6), S. 124–299. – Der Eingang eines Berichtes Blumhardts über die Erweckung der Möttlinger Gemeinde, um den er per Erlass des Konsistoriums Nr. 10910 vom 20. 8. 1844 gebeten wurde (siehe: Gesammelte Werke Reihe I, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 355), wurde am 7. 9. 1844 von der Behörde in Stuttgart bestätigt, ist aber mitsamt der Urschrift der Krankheitsgeschichte ver-
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sich Vereinzeltes zum Thema auch in den Antworten auf „Fragen“ in den fünf Jahrgängen der Blätter aus Bad Boll von 1873 bis 1877. Sämtliche Äußerungen propria manu über Heilungen finden sich also in Gelegenheitsschriften, in denen Blumhardt sich rechtfertigen muss bzw. in denen er über Erlebtes nachdenkt, Geschehenes narrativ rekonstruiert, gedanklich strukturiert und theologisch reflektiert,17 allerdings ohne dabei ein eigenes pastoraltheologisches Programm zu entwerfen. Das ist bemerkenswert und ein deutlicher Beleg dafür, wie marginal Heilungen für das pastoraltheologische Selbstverständnis Blumhardts gewesen sein müssen, und das, obwohl bereits seit April 1844 Heilungssuchende in wachsender Anzahl nach Möttlingen strömten.18 In einem Brief vom 7. April 1858 an seinen elsässischen Gönner, den Fabrikanten Christoph Dieterlen, der ihm den Erwerb des Boller Bades ermöglicht hatte,19 artikulierte Blumhardt sein pastoraltheologisches Selbstverständnis folgendermaßen: Stets muß ich auf den Anfang meiner Geschichte zurückkommen. Dieser ist nicht eigentlich die Heilungsgeschichte [sc. der Gottliebin Dittus], denn diese gehörte in die Stille, sondern die Bekehrung meiner Gemeinde. Da wurden die Leute durch Buße und Glauben hindurchgeführt, noch ehe ich daran dachte, irgendwie Heilkräfte zu haben. […] Viele haben mich nach dem beurteilt, was nebenbei vorkam, nach den
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schollen (Blumhardt – Krankheit und Heilung an Leib und Seele [wie Anm. 3], Anm. 54, S. 32). Als Blumhardt 1850 um Rückgabe beider „Aufsätze“ bat, wurde dies abschlägig beschieden, da „diese Aufsätze als zu den Konsistorialakten gehörig – nicht zurückgegeben werden können.“ Erlass des Konsistoriums in Stuttgart an das Dekanatsamt Calw Nr. 17016 vom 2. 1. 1850. In: Blumhardt, Gesammelte Werke Reihe I, Bd.1 (wie Anm. 6), S. 396 [Hervorhebung im Original]. Siehe dazu die in Anm. 3 genannte Anthologie. Blumhardt hat während der Zeit des „Kampfes“ kein Tagebuch geführt, wie aus der Krankheitsgeschichte hervorgeht: „Was könnte ich nicht alles erzählen, wenn ich Zeit gehabt hätte, ein Tagebuch zu führen!“ (Krankheitsgeschichte [wie Anm. 15], S. 62). Siehe dazu Dieter Ising: Johann Christoph Blumhardt – Leben und Werk, Göttingen 2002, S. 181–193. – Am 18. 2. 1846 schrieb Blumhardt an Otto Hermann: „N.B. seit 4. Januar Leute hier aus 220 verschiedenen Orten!!“ (Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe III, Bd. 3 [wie Anm. 12]) S. 313 [Hervorhebung im Original]. – Schon in der Verteidigungsschrift von 1850 erwähnte Blumhardt: „In der großen Ausdehnung, in welcher ich in den Jahren 1844–1846 dem Anlauf ausgesetzt war, werde ich längst nicht mehr angegangen, besonders infolge eines mir zugekommenen Erlasses vom 23. Jan. 1846, nach welchem mir verboten wurde, ,die Heilung jeder Art von körperlichen Krankheiten in das seelsorgerliche Gebiet hinüberzuziehen, statt die Kranken an den ordentlichen Arzt zu verweisen‘, während mir in demselben Erlasse ,die Behandlung von Geisteskranken nicht völlig untersagt‘ wurde. Diesem gemäß mußte ich körperliche Kranke möglichst von mir ferne zu halten suchen.“ (Blumhardt: Verteidigungsschrift [wie Anm. 6], S. 212). Im Visitationsbericht vom 12. 5. 1851 bemerkte der visitierende Dekan, dass Blumhardt ihm bezüglich fremder Kirchenbesucher gesagt habe, diese „seien nicht mehr so zahlreich wie früher“. (Blumhardt, Gesammelte Werke Reihe I, Bd.1[wie Anm. 6], S. 398). Ising: Blumhardt (wie Anm. 18), S. 245–250.
„Jesus ist Sieger!“ Heilungen im Wirken des Johann Christoph Blumhardt 239 Heilungen, und allmählich bin ich […] nicht mehr recht als der angesehen, der […] nichts als Buße und Glauben zu predigen hätte, um dem Herrn den Weg zu bahnen.20
Und selbst wenn Blumhardt auch noch als Zweiundsiebzigjähriger bekannte, dass ihm „von einer gewissen Gabe für Kranke […] etwas geblieben“ sei, „das […] sich nicht nur nicht verloren, sondern neuestens sogar vermehrt“ habe,21 so ändert das nichts an der Tatsache, dass er den Heilungen in seinem Amtsund Selbstverständnis nur eine nachgeordnete Bedeutung beimaß. Entgegen der allgemeinen Fremdwahrnehmung verstand sich Blumhardt also nicht als Heiler oder als „Arzt nur anderer Art“.22 Ebenso wenig sah er sich als Exorzist, denn im Unterschied zu den Aposteln habe er keine „Macht […] wider die unsauberen Geister“ bekommen und deswegen auch nie einen Exorzismus wagen oder sich exorzistischer Formeln bedienen dürfen, worauf er in der Verteidigungsschrift ausdrücklich hinwies.23 Dort bemerkte er auch, man könne „nicht von eigentlichen Wundern hier reden, zu welchen die Zeit noch nicht gekommen“ sei; vielmehr sei das Auffallendere, das in Möttlingen geschehen sei, „in das Kapitel der Gebetserhörungen“ zu verweisen, da er „immer mit dem Seufzer beten“ müsse: „Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“24 Obwohl unmittelbar durch de Valentis Die Wunder in Möttlingen25 provoziert, spiegelt sich in Blumhardts Rede von Wundern auch die 20 Brief an Christoph Dieterlen vom 7. 4. 1858 (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, D 34,1.3) zitiert in Ising: ,Jesus ist Sieger!‘ (wie Anm. 2), S. 172. 21 Blumhardt, Blätter aus Bad Boll (wie Anm. 10), 5. Jg., 1877, Nr. 5, S. 40. 22 Bericht von Pfarrer Blumhardt an das Dekanatsamt Calw vom 3. 2. 1846. Entwurf. In: Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe I, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 370, Z. 24. – Blumhardts Stellung zu den Ärzten seiner Zeit und seine Kritik des Vertrauens in die Wirksamkeit der Arzneien der Dreckapotheke (so in der Verteidigungsrede [wie Anm. 6], S. 205) bedarf zur Verhinderung eines vorschnellen Urteils weiterer Untersuchung. Dafür sind seine grundsätzlichen Ausführungen in der Verteidigungsschrift (wie Anm. 6), S. 186–222, genauso wichtig wie seine verschiedenen Äußerungen im Konflikt mit dem Konsistorium in Stuttgart, wie z. B. in Schreiben an Dekan Fischer in Calw vom 21. 5. 1845 (in Blumhardt: Werke Reihe I, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 357/359), vom 6. 2. 1846 (ebd. S. 376–378), und an das ,Dekanatsamt in Calw‘ vom 3. 2. 1846 (ebd., S. 370–376). Hinzuzuziehen sind auch Bemerkungen aus Briefen wie z. B. an Sophie Supper vom 5. 8. 1879: „Ich nun rede nie gegen den Arzt und lasse den machen, wenn ich auch unter Umständen Vorsicht anrathe. Denn die Ärzte ohne Weiteres wegwerfen, ist eine lieblose Härte gegen den Stand und ein übertriebenes Pochen auf einen Glauben, der’s machen müsse.“ (Blumhardt: Briefe 5 [wie Anm. 5], S. 712). Im Brief vom 15. 1. 1864 an Frau von Welck (ebd., S. 367 f) rät er ausdrücklich zum Arztbesuch, obwohl er für sich selbst und seine Familie ärztliche Hilfe nicht in Anspruch nahm. Siehe dazu auch Ising: Blumhardt (wie Anm. 18), passim. – Aufschlussreich wäre es dem nachzugehen, wie sich Blumhardts Heilungstätigkeit zu den Therapien pietistischer Mediziner vor ihm verhielt und was ihm von diesen überhaupt bekannt war. Für die weitere Profilierung des Wirkens Blumhardts wäre es auch weiterführend zu untersuchen, wie sich seine Heilungstätigkeit in den postromantischen Geist des neunzehnten Jahrhunderts einfügt. Diese Desiderata, die Anregungen der Tagung aufnehmen, können hier nur kurz angedeutet, aber nicht weiter verfolgt werden. 23 Blumhardt: Verteidigungsschrift (wie Anm. 6), S. 184. 24 Ebd., S.184 [Hervorhebung im Original]. 25 Siehe Anm. 13.
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Wahrnehmung der Geschehnisse seitens anderer Zeitgenossen wider,26 die er mit seiner Verteidigungsschrift korrigieren will. Jahre später sah er sich erneut mit der Frage nach Wundern konfrontiert, auf die er dann ausführlich in den Blättern antwortete.27 Im Rahmen dieser Ausführungen findet sich Weiteres zu seinem Heilungsverständnis. Blumhardt, nunmehr fast siebzig, war sich dessen bewusst geworden, dass seine im „Kampf“ um die Geschwister Dittus gemachten Erfahrungen kontingenter Natur waren und nicht verallgemeinert werden konnten.28 „Erfahrungen habe ich freilich viele gemacht; aber weil diese […] einzig dastehen, so macht mich das noch zaghafter“, darüber zu schreiben; denn „wie sollte ich […] mich auf Erfahrungen berufen, welche andere nicht machen! Aber ganz umgehen kann ich sie nicht.“29 Und so verweist er auch 1874 wieder auf den „vor 30 Jahren, wenigstens teilweise glücklich vollendeten Kampfe […] mit der Finsternis“, durch den es zu einer „Befreiung von finsterer Macht im ziemlichen Umkreise“ kam, „da auch die Greuel, die im Aberglauben liegen, zu allgemeinerer Kenntnis kamen“ und sich „ganz ungesucht, ja überraschend, auffallende Heilungen“ zeigten.30 Wichtiger als die Heilungen aber war die damals plötzliche und allgemeine Erweckung in einer ganzen Gemeinde und weit umher zur Buße, Sündenerkenntnis und Vergebung der Sünden […] zum Beweis, wie schnell Herzen empfänglich werden für das Heil in Christo, wenn nur die über ihnen gelagerten Kräfte der Finsternis beseitigt, oder nur auch gelockert sind. Wer jene Zeit miterlebt hat, wird mirs verzeihen können, wenn ich zu der Überzeugung gekommen bin, daß sie mir ein Vorbild ist von dem, was einmal in der ganzen Welt vorgehen wird, da der Sieg Christi über Seine verborgenen Feinde wird völlig geworden, und die […] Wiederkehr des heiligen Geistes [manifest sein].31
Auffallend an diesem Resümee der Ereignisse im Verhältnis zu den Darstellungen aus früheren Jahren ist zunächst einmal die für Blumhardt ganz untypische Rede vom „Heil in Christo“ sowie vom „Sieg Christi“ über die 26 Am 1. 1. 1845 erwähnte Blumhardts Kollege aus dem Möttlingen benachbarten Bad Liebenzell, Pfarrer Rapp, im Evangelischen Kirchenblatt (Nr. 1, S. 6), dass Blumhardt „nicht nur als erweckender Prediger, sondern als Prophet und Wundertäter bewundert und gepriesen“ werde. (Jetzt in: Blumhardt: Gesammelte Werke I, 2 [wie Anm. 14], S. 38). 27 „Die Besprechungen über die Wunder sind umständlicher geworden als ich mir im Anfang dachte; und ich fühle mich auch weiter hineingetrieben, als mir lieb ist. Aber so etwas mit wenigen Sätzen, die nichts Durchsichtiges geben können, abmachen, ist mir unmöglich, zumal wenn der Gegenstand, der besprochen wird, viele Seiten darbietet, die in unserer Zeit den meisten Christen fremd geworden sind.“ (Blumhardt: Blätter aus Bad Boll [wie Anm. 10], 2. Jg. [1874], Nr. 12, S. 93.) Blumhardts Antwort erstreckte sich über insgesamt zehn Ausgaben. 28 Bereits in einem Brief an einen Amtsbruder vom 10. 12. 1851 schrieb Blumhardt: Ich „muß […] gestehen, daß infolge meiner Kämpfe mir allerdings etwas Persönliches geworden ist, das nicht jeder so plötzlich auch haben kann.“ (Jetzt in: Blumhardt – Krankheit und Heilung [wie Anm. 3], S. 152). 29 Blumhardt: Blätter aus Bad Boll (wie Anm. 10), 2. Jg. (1874), Nr. 12, S. 93. 30 Ebd., S. 120. 31 Ebd. [Hervorhebung im Original].
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„verborgenen Feinde“ anstatt seiner sonst üblichen und später auch wieder aufgegriffenen Rede vom Sieg „Jesu“ über die Mächte und „Persönlichkeiten der Finsternis“.32 Das verrät theologische Reflexion, mit der Blumhardt über seine gewöhnliche Deskription der Ereignisse hinausgeht.33 Die Christustitulatur mag hier durch die Notwendigkeit zu schriftlicher Kommunikation mit der großen, überwiegend anonymen Leserschaft der Blätter bedingt gewesen sein, die von Blumhardt nun doch einige Arbeit „hinter dem Pulte“ erforderte.34 Ebenso bemerkenswert ist die Erwähnung der Möttlinger Erweckung und der Heilungen im Kontext einer grundsätzlichen Erörterung über Wunder. Offensichtlich hat der späte Blumhardt seine frühere Zurückhaltung gegenüber der Verwendung des Wunderbegriffes im Blick auf die Ereignisse von 1844 aufgegeben. Zwar gelten ihm Heilungen nach wie vor nicht als Wunder per se, wohl aber die Erweckung der ganzen Gemeinde, ihre Buße, ihre Sündenerkenntnis und das Verlangen nach Sündenvergebung. Dies schließe jede natürliche Erklärung aus und konnte von ihm „rein nur als unmittelbares Gotteswerk“ begriffen werden.35 Dieses Erlebnis deutete er dann typologisch als Vorbild dessen, was einmal in der ganzen Welt vorgehen wird, eine Überzeugung, an der er bis zu seinem Lebensende festhielt. Des Weiteren ist die Erwartung des „völligen“ Sieges Christi über dessen „verborgene Feinde […] und die […] Wiederkehr des heiligen Geistes“ aufschlussreich. Mit derlei Bemerkungen gibt Blumhardt seine sehr eigenwilligen, unorthodoxen theologischen Ansichten zu erkennen, die in ihm seit 1844 gereift waren, nämlich die eines letztlich siegreichen Kampfes Christi bzw. Jesu mit den Mächten der Finsternis – „Jesus ist Sieger!“ – und die Rückkehr des Heiligen Geistes. Blumhardt beruft sich dabei auf sein Studium der Schrift und die eigenen Erfahrungen, überzeugt davon, dass alle, „die nicht eins mit mir“ sind, es „wären, wenn sie ähnliche Erfahrungen gemacht hätten.“36 Der bei Blumhardt auffallend häufige Rekurs auf gemachte Erfahrungen als Legitimation geistlich-theologischer Einsichten bezieht sich keineswegs nur auf den Kampf in Möttlingen und die dortige Erweckung. Erfahrung war für Blumhardt eine Grundkategorie authentischen Urteilens und diente ihm zur Verifikation biblischer Berichte. Das wird an seinem Verständnis vom Heiligen Geist besonders deutlich, auf das er immer mal wieder beiläufig rekur32 Johann Christoph Blumhardt: Vom Glauben bis ans Ende – Aus Predigten und Andachten. Mit einer Einführung in die Gedankenwelt Joh. Chr. Blumhardts aus der Feder seines Sohnes Christoph Blumhardt, Berlin 1926, S. 9. 33 In einem Brief an Justinus Kerner vom 17. 9. 1842 schrieb er ganz am Anfang seiner pastoralen Tätigkeit, er hoffe, dass sein „Herr und Heiland Jesus Christus“ ihm im Kampf um die Gottliebin Dittus „durchhelfen“ werde. (Blumhardt: Gesammelte Schriften [wie Anm. 6], Reihe I, Bd. 1, S. 88). 34 Diese wöchentlich in einer Auflage von 2000 erscheinende Publikation war eine Hauszeitschrift „für seine Freunde [sc. die Freunde Bad Bolls]“. Siehe Ising: Blumhardt (wie Anm. 18), S. 311. 35 Blumhardt: Blätter aus Bad Boll (wie Anm. 10), 2. Jg. (1874), Nr. 12, S. 93. 36 Ebd., Nr. 6, S. 47.
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rierte, über das er sich aber erst in seiner letzten Lebensphase zusammenhängend äußerte, nämlich in den beiden letzten Jahrgängen der Blätter aus Bad Boll (1876/1877).37 Dort nahm er in der Exposition seiner Ausführungen erneut auf sein Schlüsselerlebnis Bezug: Wie viel […] sagt der Herr, und sagen die Apostel von dem Heiligen Geiste; und Alles, was sie sagen, kann ich bei uns nicht so finden […] Gaben vollends, wie sie die ersten Christen durch den Heil. Geist gehabt haben, sind ja ohnehin nirgends zu sehen. […] In Möttlingen […] bekam ich Gelegenheit, etwas Mehreres zu erfahren; und zwar in der Art, daß mich’s an jenes in der Schrift erinnerte.38
Ohne an dieser Stelle näher auf Blumhardts Pneumatologie eingehen zu können, deren systematisches Studium ein nach wie vor bestehendes Forschungsdesiderat ist,39 sei als eines der diese kennzeichnenden Merkmale die Assoziation mit spürbarer Kraft und Vollmacht genannt. Blumhardt, der den Heiligen Geist nicht nur im Wirken Jesu und der Apostel, sondern auch in der werdenden Glaubenslehre und der Reformation am Werk sah, beklagte dessen Abwesenheit in seiner Zeit schmerzlich.40 So schrieb er 1874: Man redet zwar von einem heiligen Geist, den der getaufte Christ empfange und den jeder Christ habe, aber nur, weil nach der Schrift ihn jeder haben sollte. Da muß man ihn haben, auch wenn man ihn nicht hat, und wenn sein Dasein eigentlich nirgends gefühlt wird.41
Später erklärte er : Man redet […] immer aus einem System heraus, aus einmal aufgefaßten Grundgedanken, die keinen Halt in der Schrift und ebensowenig in der Erfahrung haben […] Wir werden es mit dem Heil. Geist uns ganz anders vorzustellen haben, als daß Er etwas einmal Gegebenes sei, das ewig fortwirke.42
Der Heilige Geist ist für Blumhardt „nach der Schrift der Träger der göttlichen Gaben und Kräfte.“43 Dieser wurde einst den Aposteln für die Zeit ihres Lebens als „ein Persönliches aus Gott gegeben“44 und befähigte sie dazu, „mit Macht 37 So im 4. Jg. (1876), Nr. 2 (8.1.), S. 15–16; Nr. 11 (11.3.), S. 87–88; Nr. 27 (1.7.), S. 215; im 5. Jg. (1877), Nr. 5 (27.1.), S. 38–40; Nr. 6 (3.2.), S. 46–48; Nr. 7 (10.2.), S. 54–56; Nr. 14 (7.4.), S. 110–111; Nr. 24 (16.6.), S. 190–192. – „Es liegt mir nemlich daran, es bestimmter auszudrücken, was ich unter dem Heiligen Geiste verstehe, den ich erwarte, weil mir oft der Einwand gemacht wird, wir hätten Ihn ja, und hätten Ihn schon durch die heilige Taufe empfangen.“ (ebd., 4. Jg. (1876), Nr. 11, S. 87. 38 Ebd., 5. Jg. (1877), Nr. 5, S. 39 [Abkürzung und Hervorhebung im Original]. 39 Darauf wies ich bereits in meinem Beitrag von 2005 hin (wie Anm. 1), S. 155, Anm. 100. 40 Blumhardt: Blätter aus Bad Boll (wie Anm. 10), 2. Jg. (1874), Nr. 12, S. 95. 41 Ebd. 42 Ebd., 5. Jg. (1877), Nr. 6, S. 47 [Abkürzung im Original]. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 94. – „Beim Pfingstgeist aber war das Unterscheidende das, daß das Persönliche des Geistes aus Gott dem, der Ihn empfing, persönlich fühlbar und vernehmbar wurde. Eben weil es
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[…] durch Wort und That, das Reich Gottes zu fördern.“45 Angesichts der Kraftlosigkeit des christlichen Zeugnisses seiner Tage aber ist ihm die „persönliche Innewohnung des Heiligen Geistes“46 nicht feststellbar ; denn nirgends werde mehr „die volle Kraft des Evangeliums wahrgenommen“, weder im Wort noch im persönlichen Glauben.47 Blumhardt war davon überzeugt, dass, wie er sich ausdrückte, „die Leute das gewiß nicht [haben], was die Schrift unter dem Heiligen Geiste versteht. Hätten sie den, so müßten sie’s selber wissen, daß sie Ihn haben, und müßten’s auch andere Leute an ihnen sehen […].“48 Seufzend bemerkte er : „wie wenig Empfindung von der Person des heiligen Geistes in sich haben auch die besten Christen!“49 Einerseits seien zwar zu allen Zeiten Gebetserhörungen vorgekommen, besonders bezüglich Krankenheilungen, andererseits aber hätten sich „oft, auch wenn der Herr ernstlich angerufen wurde“, keine Gebetserhörungen eingestellt.50 Denke ich […] an die Kranken, die Gebrechlichen aller Art, welche von Jesu und den Aposteln ausnahmslos geheilt wurden, und die wir, selbst innerlich seufzend, nicht im Stande sind, von ihren Schmerzen zu lösen, […] so muß ich immer wieder nothgedrungen sagen: Es fehlt den Christen der verheißene persönliche Heil. Geist.51
Diese Defizienzerfahrung, in der offensichtlich schmerzvolles eigenes Erleben bezüglich der Unverfügbarkeit der Krafterweisungen des Geistes, der „nicht mehr da ist, aber doch nach der Verheißung da sein sollte“, artikuliert wird,52 ließ Blumhardt zu dem Schluss kommen, weil die „persönliche Innewohnung des Heiligen Geistes“ aufgehört habe,53 müsse eine Wiederkehr des Heiligen Geistes stattfinden, durch die alles, was je an Wunderbarem geschehen sei, „wie in einer neuen Auflage“ wieder an den Tag komme.54
45 46 47 48 49 50 51 52 53
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hier ein Innewohnen des Heiligen Geistes, nicht bloß ein Einwirken war, nenne ich es bei jenem persönlich, bei diesem nicht, obwohl es auch innerlich ist.“ (Ebd., 4. Jg. [1876], Nr. 11, S. 87 [Hervorhebung im Original]). Ebd., 5. Jg. (1877), Nr. 7, S. 56. Ebd., Nr. 6, S. 46. Ebd., 2. Jg. (1874), Nr. 15, S. 116. Ebd., 4. Jg. (1876), Nr. 2, S. 16. Ebd., 2. Jg. (1874), Nr. 12, S. 95. Ebd., Nr. 12, S. 94. – „Übrigens kommen auch, und nicht unhäufig, die Fälle vor, da nichts gewirkt wird, meist, daß ich’s vorher sagen kann.“ (Blumhardt: Verteidigungsschrift [wie Anm. 6], S. 184). Blumhardt: Blätter aus Bad Boll (wie Anm. 10), 5. Jg. (1877), Nr. 6, S. 46 [Abkürzung im Original]. Ebd., 4. Jg. (1876), Nr. 27, S. 215. „Von einer Erneuerung der Ausgießung des heil. [!] Geistes aber kann nichts im Neuen Testament stehen; denn sonst müßte auch von einem Aufhören etwas gesagt sein. Das will aber nicht gesagt werden, eben weil’s bleiben und nicht aufhören sollte, und nur durch fortwährendes ,Betrüben des Heil. Geistes‘ von Seiten der Christenheit mag aufgehört haben. Sonst aber sagt die Weissagung viel von Zeiten, da die Gnadenbezeigungen Gottes aufhören, und von anderen, namentlich zur Letztzeit, da sie wieder anfangen werden.“ (Ebd., 4. Jg. [1876], Nr. 27, S. 215). Ebd., 2. Jg. (1874), Nr. 15, S.120. – „Aber wenn wir auch weit zurückgekommen sind bezüglich
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Schriftstudium und eigene Erfahrungen ließen in Blumhardt schließlich auch die Überzeugung reifen, dass es sich bei der Begleitung der Gottliebin und ihrer Geschwister um einen Kampf mit persönlichen Mächten der Finsternis, mit Dämonen und Zauberei gehandelt habe, aus dem er mit Jesus als Sieger hervorging. Das war sein eigentliches Bekehrungserlebnis, das wir dank seiner vielen schriftlichen Mitteilungen einigermaßen präzise nachzeichnen können. Erst wenn verstanden ist, um was genau es sich dabei handelte und was den danach einsetzenden spürbaren Zuwachs an Vollmacht im Wirken Blumhardts bewirkte, wird eine angemessene Würdigung seines Heilungscharismas möglich sein.
II. Der Sieg im Kampf mit den Mächten der Finsternis als das Blumhardt bevollmächtigende Schlüsselerlebnis Blumhardt erwarb sein Heilungscharisma erst im Verlauf des Kampfes um die Gottliebin Dittus. Die während der Jahre 1842–1843 gemachten Erfahrungen waren so umstürzend für ihn, dass er – ganz im Stil pietistischer Bekehrungserlebnisse – immer wieder darauf zu sprechen kam, nicht nur hinsichtlich des Inhalts, sondern auch des Datums. Seine Predigt zum Sonntag nach Weihnachten 1879 fiel auf den 28. Dezember, also genau auf jenen Tag, an dem er einst seinen Kampf siegreich beendet hatte. Diese Predigt, eine seiner letzten, leitete Blumhardt mit folgenden Worten ein Es sind heute 36 Jahre, da ich auf der Kanzel stand in Möttlingen […] Ich bin damals mit einem Triumpfgefühl aufgetreten […] [d]enn es war am Tag, nachdem ich mit einem eigentümlichen schweren Kampf fertig geworden war. Ich kann ihn nicht näher bezeichnen als etwa damit, daß ich sagen muß: Das war ein persönlicher Kampf mit den Persönlichkeiten der Finsternis, da wir miteinander ein und dreiviertel Jahre gerungen haben, um zu sehen, wer der Herr würde, ich im Namen des Herrn Jesu oder sie in ihrer alten Widersetzlichkeit gegen den lebendigen Gott. […] [Z]uletzt hat, ohne daß ich recht wußte, um was es sich handelte und wie es stand und welchen Umfang ein solcher Kampf hatte, auch die Finsternis müssen […] ausrufen: Jesus ist Sieger! Und damit bin ich fertig gewesen. Jesus war Sieger ; und alle seine Feinde mußten es laut, daß es fast durch den ganzen Ort gehört wurde, schreien: Jesus ist Sieger!55 der Gaben des Heil. Geistes, so dürfen wir die Hoffnung haben, es werde Alles wieder hergestellt und dann erst recht aller Welt geschenkt werden, weil ja der Herr den Heil. Geist noch über alles Fleisch ausgießen will.“ (Ebd., 5. Jg. [1877], Nr. 24, S. 192 [Abkürzungen im Original]) – Zu einer aufschlussreichen Selbstkorrektur Blumhardts, die Pneumatologie betreffend, siehe: ebd., 5. Jg. (1877), Nr. 7, S. 54. 55 Blumhardt: Vom Glauben bis ans Ende (wie Anm. 32), S. 9.
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Elf Jahre zuvor hatte er sich in einem Brief über das Ereignis wie folgt geäußert: Ich bin vor 25 Jahren […] veranlaßt worden, mich einer seltsam besessenen oder vom Satan geplagten Person aus meiner Gemeinde annehmen zu müssen. […] Ich hatte einen schweren Kampf und lernte in 134 Jahren die Tiefen der Finsternis […] aufs gründlichste kennen. Alle Arten von Zauberei […] mußten durchgekämpft werden, und es kamen Erscheinungen der seltsamsten Art […] vor und unendlich viele Äußerungen von Dämonen, die mir widerstanden. […] Der letzte Dämon, der ausfuhr, verließ die Person mit dem Ausruf – als in der Verzweiflung gesprochen: ,JEsus ist Sieger!‘ […] Es stand nicht lange an, so nahm ich wahr, daß auch Kräfte der Gesundheit, die der HErr gab, wirksam wurden.56
Das Auffallende an diesen wie auch an weiteren seiner Schilderungen dieser Ereignisse ist, dass nicht etwa die Gottliebin und ihre Geschwister als unmittelbar Betroffene den Kampf durchzustehen hatten, sondern er, Blumhardt, der sich als „Diener des Evangeliums zur Sache“ stellte57 und der sich „[e]rst mit dem Schluß der Geschichte […] über das Ganze […] klar“ wurde.58 Dazu bemerkte er : Nachdem G[ottliebin] in den ersten Anfängen (sc. des Kampfes) Treue und Glauben bewährt hatte, ging die Forderung der Treue und des Glaubens mehr auf mich über, welche darin bestand, die Angefochtene um keinen Preis eine Beute der Finsternis werden zu lassen, was nur damit möglich war, daß ich kein anderes Mittel versuchte als das Gebet, das an die unsichtbare göttliche Kraft sich hielt.59
Es war die Sorge um eines seiner ihm anvertrauten Gemeindeglieder, die den Pfarrer Blumhardt zum Kampf mit den Mächten der Finsternis nötigte, eine Erkenntnis, die ihm erst im Verlauf der Ereignisse zuwuchs und deren Durchbruch wir auf Mittwoch, den 14. September 1842 datieren können, da er am 17. jenes Monats an den Weinsberger Oberamtsarzt Justinus Kerner (1786–1862) schrieb: „Vollen Zusammenhang des Ganzen habe ich erst seit drei Tagen erkannt. Es ist ein Teufels- und Zaubergewebe ohnegleichen.“60 56 Brief an einen unbekannten Empfänger vom 22. 11. 1867, zitiert in: Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe I, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 18 [Hervorhebung im Original]. 57 Blumhardt: Verteidigungsschrift (wie Anm. 6), S. 179. 58 Blumhardt: Krankheitsgeschichte (wie Anm. 15), S. 68. 59 Ebd., S. 72. 60 Blumhardt – Krankheit und Heilung (wie Anm. 3), S. 19. – Auf dieses Ereignis Bezug nehmend, schrieb Blumhardt in der Krankheitsgeschichte (wie Anm. 15), S. 40: „Mir war es klar geworden, daß etwas Dämonisches hier im Spiele sei – nach den bisherigen Vorgängen; und ich empfand es schmerzlich, daß in einer so schauderhaften Sache so gar kein Mittel und Rat sollte zu finden sein. […] Dies war der entscheidende Zeitpunkt, der mich mit unwiderstehlicher Gewalt für die Sache hineinwarf. Ich hatte vorher auch nicht den geringsten Gedanken daran gehabt“. – Erste Nachrichten über die Gottliebin finden sich in einem Rat suchenden Brief Blumhardts vom 26. 4. 1842 an Justinus Kerner, der für seine Studien der Geisterwelt und des Geisterwesens bekannt war. Kerners populärste Publikationen über das Studium der Geisterwelt
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Blumhardt hatte zwar bereits seit April wiederholt mit der Gottliebin zu tun gehabt,61 aber erst ein halbes Jahr später wurde ihm klar, dass er sich in einem Kampf mit dunklen Mächten und Kräften befand, was seiner sonstigen Erfahrung ganz fremd war.62 Doch die Erkenntnis, in einem Kampf mit den Mächten der Finsternis zu stehen, ist nur die erste Stufe seines Bekehrungserlebnisses; die etwas später einsetzende zweite Stufe erreichte er mit der Überzeugung, dass Zauberei mit im Spiel sei. In der Krankheitsgeschichte datiert Blumhardt diese Einsicht auf den 8. Februar 1843, jenen Tag, an dem er bemerkte, „daß alles, was bisher unter dem lächerlichsten Volksaberglauben gerechnet wurde“, für ihn „aus der Märchenwelt in die Wirklichkeit übertrat.“63 Konkret bezog er sich dabei auf die Gegenstände, die im Verlauf der folgenden Zeit nach und nach aus der Gottliebin Mund, Augen, Ohren und Nase hervorkamen wie Glasscherben, Sand, Nägel, Schuhschnallen, Näh-, Strick- und Stecknadeln sowie „ein besonders großes und breites Eisenstück […]“.64 Für Blumhardt, der, um üblen Gerüchten vorzubeugen, stets mehrere Augenzeugen dabei hatte,65 bestand kein Zweifel daran, „daß unzählig viele Dinge in die G[ottliebin] […] hineingezaubert waren, die alle den Zweck zu haben schienen, sie aus der Welt zu schaffen.“66 Seinen Amtsbrüdern gestand er, dass er ohne sein „Suchen und Wollen in eine Geschichte hineingeflochten“ wurde, „die in der Folge die merkwürdigsten, aber auch grauenhaftesten Entwicklungen hatte“ und ihm dabei die Wirklichkeit eines Gebietes, das er „bisher mehr oder weniger in die Fabelwelt gesetzt hatte, schauerlich gewiß“ wurde, nämlich das Gebiet „der Zauberei, indem Erscheinungen […] her-
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sind die Erzählung: Justinus Kerner : Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere, 2 Teile, Stuttgart und Tübingen 1829; Blätter aus Prevorst, 1831–1839, und ders.: Magikon. Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiete der Geisterkunde und des magnetischen und magischen Lebens, 1840–1853. Blumhardt – Krankheit und Heilung (wie Anm. 3), S. 15. Ebd., S. 14. – Entschuldigend für seine verzögerte Berichterstattung über die Gottliebin bemerkte er gegenüber Kerner im gleichen Brief: „Aber es war schwer für mich, in einer Zeit darüber zu schreiben, in welcher ich von einer Angst in die andere getrieben wurde und der Druck, der auf mir lag, mir öfters fast unerträglich wurde.“ (ebd.) Schon zwei Monate zuvor, am 30. 7. 1842, äußerte er sich in einem Brief an Christian Gottlob Barth: „Zu dem Bisherigen war ich gedrungen, wie Einer, der einen anderen im Wasser mit dem Tode ringen sieht, genöthigt ist, sich aufs Aeusserste ins Wasser zu wagen, um zu retten. […] Daß aber unser einer nach Marc. 16 kraft seines Amtes nicht etwas wagen dürfe, kann ich nicht glauben; ich habe es im Glauben gewagt, wahrlich nur im Glauben“. (Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe III, Bd. 3 [wie Anm. 12], S. 140 [Hervorhebung im Original]). Blumhardt: Krankheitsgeschichte (wie Anm. 15), S. 58. Ebd. – In einem Brief vom 30. 3. 1843 an seine Schwiegereltern Köllner wird dieses Eisenstück näher beschrieben: „Nachdem die Gottliebin den Tag vorher ein Messer, unzählige Nadelstücke u.s.w. unter heftigen Schmerzen erbrochen hatte, kam das Herbste, ein Stück Eisen, 3 Zoll breit und etwa 4–5 Zoll lang und an den Kanten etwas scharf (halbmondförmig mit einem Stiel).“ (Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe III, Bd. 3 [wie Anm. 12], S. 164). Ebd., S. 60. Ebd., S. 58 [Hervorhebung im Original].
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vortraten, die sich mit keinem anderen Worte als mit dem Worte Verzauberung bezeichnen lassen.“67 Da die Gottliebin, die ja als Näherin und Handarbeitslehrerin arbeitete, suizidal war,68 überraschen die von Blumhardt erwähnten Gegenstände, die sie von sich gab, nicht, zumal sie an die akuten Gefährdungssituationen, denen sie sich aussetzte, keine bewusste Erinnerungen hatte.69 Es überrascht, dass Blumhardt dies offensichtlich nicht zu sehen vermochte und dementsprechende Schlüsse zog.70 Analysen dieser Krankheitsgeschichte aus medizinhistorischer Perspektive sind einstimmig zu dem Schluss gekommen, dass es sich um hysterische Störungen gehandelt haben muss,71 die psychopathologisch als Ausdruck eines Verhaltens definiert sind, das „auf den Betrachter Eindruck“ machen und „unmittelbar Staunen, Schrecken oder Erbarmen“ auslösen soll. Dies Verhalten entspringt einem mehr oder weniger unbewussten „Bedürfnis nach diesen Wirkunge[n]“,72 nicht aus erhöhtem Geltungsstreben im Sinne einer bewussten Vortäuschung oder Simulation, sondern aus „uneingestandene[r] innerer Not.“73 Zu diesem Krankheitsbild gehört auch, dass sich die Intensität der Symptome im Laufe der Zeit steigert und dass sich „demonstrativ […] alle Erscheinungen in dem Augenblick 67 Mitteilung von Pfr. Blumhardt. In: Evangelisches Kirchenblatt, zunächst für Württemberg, 1. 3. 1845, (jetzt in: ebd., Reihe I, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 95). – Eine interessante Parallele dazu, auf die mich dankenswerter Weise Frau Prof. Sahmland aufmerksam machte, findet sich in Jürgen Schlumbohm: Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012, wo auf den Seiten 72–90 von einer Patientin berichtet wird, die Kellerasseln und anderes von sich gab. 68 „Die Nachstellungen nach dem Leben der G[ottliebin] wurden fast mit jedem Tage schauerlicher. Wie schon jedes in sie eingeschmuggelte Zauberstück auf ihren Tod zielte, so wurde sie auch sehr oft zum Selbstmord versucht, jedoch in der Regel, ohne ein Bewußtsein davon zu haben.“ (Blumhardt: Krankheitsgeschichte [wie Anm. 15], S. 73; vgl. auch ebd. S. 42; 46 f.; 60). 69 Siehe z. B. ebd., S. 46 f.; 50. In diesen Zusammenhang gehören auch die vielen Ohnmachtsanfälle der Gottliebin, von denen Blumhardt in der Krankheitsgeschichte berichtet. 70 Zu Blumhardts rationalen Erklärungsversuchen dieser Ereignisse siehe ebd., S. 62–64. 71 So z. B. Johann Heinrich Schultz: Psychotherapeutische Bemerkungen zu Johann Christoph Blumhardt. In: Religionspsychologie 1 (1926), S. 65–74; Edgar Michaelis: Geisterreich und Geistermacht – Der Heilungs- und Dämonenkampf J. Chr. Blumhardts, Bern 1949; Walter Schulte: Was kann der Arzt und Psychiater zu Johann Christoph Blumhardt, zu Krankheit und Besessenheit sagen? In: Evangelische Theologie 9 (1949/1950), S. 151–169; Joachim Scharfenberg: Johann Christoph Blumhardt und die kirchliche Seelsorge heute, Göttingen 1959; Gaetano Benedetti: Blumhardts Seelsorge in der Sicht heutiger psychotherapeutischer Kenntnis. In: Reformatio, 9 (1960), S. 474–487 u. 531–539; Theodor Bovet: Zur Heilungsgeschichte der Gottliebin Dittus. In: Gerhard Schäfer (Hg.): Johann Christoph Blumhardt, Die Krankheitsgeschichte der Gottliebin Dittus – Mit einer Interpretation der Krankenheilung von Theodor Bovet, Göttingen 1978, S. 1–29. – Zur Diagnose, dass es sich bei der Gottliebin um hysterische Störungen gehandelt habe, passt auch, dass, wie Blumhardt berichtet, „sie in der sonst so schweren Zeit auch nicht ein einziges Mal genötigt war, den Unterricht einzustellen.“ (Blumhardt: Krankheitsgeschichte [wie Anm. 15], S. 77). 72 Manfred Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 10. Aufl., Berlin – Heidelberg – New York 1966, S. 479, zitiert nach: Theodor Bovet: Zur Heilungsgeschichte (wie Anm. 71), S. 2. 73 So Schulte: Was kann der Arzt (wie Anm. 71), S. 159.
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vermehren […], in dem sie Eindruck auf den machen können, auf den sie zugeschnitten sind.“74 Im Gegensatz zu den in autistischer Weise nach innen, gegen sich selbst gerichteten Halluzinationen Schizophrener oder zu epileptischen Anfallsleiden sind hysterische Symptome „in einem ganz anderen Ausmaß als organische Psychosen und Anfallsleiden“ glücklicherweise „heilbar und verhältnismäßig leicht einer Suggestivbehandlung zugänglich“, vor allem dann, wenn die hysterische Person „das verständnisvolle Milieu findet, in dem Konfliktneigungen aufgefangen werden, und eine leidliche Erfüllung (sc. des Geltungsdranges) gefunden wird“, was ja dann für die Gottliebin mit dem Einzug in das Möttlinger Pfarrhaus sichergestellt war.75
III. Heilungsvollmacht als Frucht des Kampfes Somit entpuppt sich die umsichtige Darstellung der Krankheitsgeschichte als aufschlussreiches autobiographisches Dokument der inneren Wandlung Blumhardts. Er beschreibt darin keineswegs nur das Geschehen um die Gottliebin, sondern gibt tatsächlichen Bericht von seinem ureigenen persönlichen Kampf, der von Ängsten und Anfechtungen gekennzeichnet war. Gottliebin wusste, wie Blumhardt vermerkte, von dem, was zwischen ihm „und den Geistern aus ihr vorfiel, nichts […].“76 Daher verwundert es auch nicht, dass viele Geister, die sich ihm „zu erkennen gaben, indem sie […] ihren Namen sagten“, Personen waren, die seit seiner Amtseinführung in Möttlingen gestorben waren.77 Der damit sich ergebende biographische Bezug zu den Geistern macht deutlich, wie vieles von dem, was ihm während des Kampfes als übernatürliches Phänomen erschien, Ausdruck innerster, höchst persönlicher Auseinandersetzung mit ihn bedrohenden dunklen Mächten gewesen ist, ein Kampf, der keineswegs weniger real oder weniger bedrohlich war als derjenige, von dem der Text zunächst zu sprechen scheint. Auffällig ist, dass in dem Augenblick, in dem es ihm zur existentiellen Gewissheit wurde, dass Jesus Sieger über die dunklen Mächte ist – eine Erkenntnis übrigens, zu der er nicht durch die Gottliebin, sondern durch deren Schwester Katharina gelangte –, nüchtern konstatierte: „Das war der Zeitpunkt, da der […] Kampf zu Ende
74 Ebd., S. 163. 75 Ebd., S. 160. – Zum Einzug der Gottliebin in das Möttlinger Pfarrhaus siehe die Nachschrift zur Krankheitsgeschichte (wie Anm. 15), S. 77 f. 76 Blumhardt: Krankheitsgeschichte (wie Anm. 15), S. 50. 77 Ebd., S. 54. Das trifft auch für Catharina Christiane Weiß, geb. Sixt (1788–1840) zu, die als erster Dämon einer Verstorbenen, „durch welche[n] die ganze Sache angeregt schien“, von Blumhardt angeredet und von ihrem unsteten, ruhelosen Umherirren befreit wurde. Blumhardt hatte sie „gut gekannt“ und beerdigt (vgl. S. 52 f.).
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ging. Das fühlte ich […] sicher und bestimmt […].“78 Oder Jahre später : „Und damit bin ich fertig gewesen. Jesus war Sieger […].“79 An der Darstellung weiterer dramatischer Ereignisse ist er nun nicht mehr interessiert. „Es gab freilich“, notierte er, „hintennach noch mancherlei aufzuräumen, aber es war nur der Schutt eines zusammengestürzten Gebäudes.“80 Diesem Abschluss der Krankheitsgeschichte entspricht deren programmatische Eröffnung im Vorwort, in dem er kund gibt: „[W]ie auch die Urteile (sc. über die Darstellung der Geschichte) ausfallen mögen, so bleibt mir […] die felsenfeste Gewißheit: ,Jesus ist Sieger!‘“81 Während die Gottliebin durch Blumhardt die Aufmerksamkeit erfuhr, nach der sie mehr oder weniger unbewusst verlangte, reifte ihr Seelsorger in der gleichen Zeit zu einem seines Glaubens an den Sieg Jesu über alle dunklen Mächte existentiell gewiss gewordenen Menschen heran, der in der Folgezeit vielen anderen in Zeiten persönlicher Verunsicherungen den festen, unerschütterlichen Glauben vollmächtig bezeugen konnte, dass Jesus bereits Sieger ist. Während der Kampf mit den Mächten der Finsternis für Blumhardt ein ganz realer, persönlicher Kampf gewesen war, so war seine Deutung dieses Geschehens in den Kategorien von Dämonie und Zauberei einem biblisch wie zeitgenössisch informierten Erklärungsmuster verhaftet, das heutzutage nicht mehr ohne Weiteres verständlich ist. Dabei geht es nicht um wahr oder unwahr, um real oder imaginiert; in Blumhardts Wahrnehmung von Dämonen und Zauberei geht es um die als so gedeutete und genau so unmittelbar erlebte Wirklichkeit, die schon in seinen Tagen vielfach nicht nachvollziehbar war und reichlich Anlaß zu Hohn und Spott seitens aufgeklärt liberaler Kreise bot. Mitte des 20. Jahrhunderts bemerkte Rudolf Bultmann mit brillianter Schärfe, „daß die Dämonenvorstellungen des N[euen] T[estaments], wenn sie in der modernen Welt fortbestehen oder repristiniert werden, barer Aberglaube sind“, den die Kirche schleunigst auszurotten habe, weil solcher Aberglaube „die echte Wirksamkeit des Kerygmas nur gefährden kann.“82 Deswegen seien ihm die Blumhardtschen Geschichten ein Greuel. Alles komme darauf an, „durch […] Entmythologisierung das falsche Skandalon“ zu beseitigen.83 Doch diese theologisch berechtigte Kritik greift zu kurz, da sie die Erlebnisund Lebenswelt ignoriert, aus der heraus und in die hinein Blumhardt zu seiner Zeit so segensreich wirkte. Geister, Dämonen und Zauberei haben in besonderer Weise teil an der Wirklichkeit. Sie sind, wie so vieles, Produkte spezifischer Sprach- und Vor78 Ebd., S. 76. – Andere wollten demgegenüber gehört haben: „In den Abgrund! In den Abgrund!“ (vgl. Blumhardt: Gesammelte Werke, Reihe I, Bd. 2 [wie Anm. 14], S. 112). 79 S.o. Anm. 56 [Hervorhebung vom Verf.]. 80 Blumhardt: Krankheitsgeschichte (wie Anm. 15), S. 76. 81 Ebd., S. 33 [Hervorhebung vom Verf.]. 82 Rudolf Bultmann: Kerygma und Mythos, Hamburg 1948, S. 150 (zu J. Schniewinds Thesen das Problem der Entmythologisierung betreffend). 83 Ebd., S. 153.
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stellungswelten, die die Erlebnishorizonte der Menschen, die damit aufwachsen, konditionieren.84 Worte und Sprache sind weltschöpfend.85 Daher gewinnen Dämonen und Zauberei in dem Maße an Macht und Einfluss, in dem man sich auf sie einlässt und ihnen im Denken und Leben Raum gibt.86 Der monistische Anspruch rationaler Welterklärung, die ja nur einen Teilbereich menschlichen Lebens zu erhellen vermag, wird dem als nüchtern bekannten Verfasser der Krankheitsgeschichte nicht gerecht; im Gegenteil, eine sich darauf berufende Kritik verfehlt das Eigentliche weil sie im falschen Skandalon kontingenter Welt- und Lebensdeutung befangen ist und nicht wahrzunehmen vermag, dass Blumhardt trotz alledem das echte Skandalon christlicher Verkündigung vollmächtig mit Wort und Tat bezeugte: Jesus Christus87 ist Sieger, weil er durch Kreuz und Auferstehung Krankheit, Not und Tod endgültig überwunden hat! Blumhardt konnte diesen lebensbejahenden, authentischem Jesusglauben entspringenden Zuspruch allerdings erst nach überstandenen eigenen schweren inneren Kämpfen auch denen überzeugend vermitteln, die bei ihm Hilfe suchten. Darin lag das Geheimnis seines Heilungscharismas. Man kann nicht über Heilungen im Wirken des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt sprechen, ohne wenigstens andeutungsweise noch einmal hervorzuheben, dass diesem die erlebten Heilungen nicht nur als Gebetserhörungen, sondern auch als Vorzeichen dessen galten, was dereinst der ganzen Welt zuteil werden wird. Im Rückblick auf seinen Kampf und dessen Nachwirkungen kam er in der bereits erwähnten Predigt vom 28. Dezember 1879 darauf zu sprechen: „[E]s war eine große Zeit; wer sie gesehen und erlebt hat, muß sagen: Das ist nicht von ungefähr, das ist eine Vorahnung von einer größeren Heilszeit, die noch anbrechen wird, nicht auf eine Gemeinde allein beschränkt […] sondern über die ganze Welt.“88 84 Siehe dazu Ebermut Rudolph: Die geheimnisvollen Ärzte – Von Gesundbetern und Spruchheilern, Olten und Freiburg i. Br. 1977, sowie die Studie von H. C. Erik Midelfort: Exorcism and Enlightenment: Johann Joseph Gassner and the Demons of Eighteenth-Century Germany, New Haven – London 2005, in der sich auch die folgende aufschlussreiche Bemerkung findet: „the concepts we think with, the words we use, prefigure our possible experiences.“ (S. 26). 85 Zum weltschöpferischen Aspekt von Wort und Sprache sei hier nur auf die loci classici christlicher Tradition 1Mose 1–2 sowie Joh 1, 1–3 hingewiesen. 86 Das Voodoo-Tod-Phänomen ist ein beeindruckendes Beispiel dafür ; siehe z. B. Gary Bruno Schmid: Tod durch Vorstellungskraft: Das Geheimnis psychogener Todesfälle, Wien, 2009; ders.: Der psychogene Tod. Die toxische Wirkung der Vorstellungskraft. In: Ärztewoche – Die Österreichische Zeitschrift für Medizin, Gesundheitspolitik und Praxismanagement, Nr. 17, 2010, S. 16. 87 Dass Blumhardt, wenn er von Jesus sprach, stets den erhöhten, auferstandenen Christus meinte, verdeutlicht z. B. folgende Aussage in den Blättern aus Bad Boll ([wie Anm. 10], 2. Jg. [1874], Nr. 11, S. 88): „Jesus will unser bleiben, obwohl erhöht zu Seinem Vater, auch unser mit besonderen Bezeigungen, die in Ihm den auf Erden gewesenem, in Allem zur Wunderhilfe sich erbietendem Jesum kenntlich und anschaulich machen.“ [Hervorhebungen im Original]. 88 Blumhardt: Vom Glauben bis ans Ende (wie Anm. 32), S. 10.
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1877 schrieb er : Meine Bekanntschaft mit der heiligen Schrift hat mich […] nachdenklich, auch stutzig gemacht, […] daß eben bei den Gläubigen der Schrift so Vieles ganz anders aussieht, als bei unsern Gläubigen. […] Das Bewußtsein von einer Armuth, wie sie nach den Zeugnissen Christi und der Apostel nicht sein sollte, hat mich oft […] recht wehmütig gestimmt […]. Weil ich […] [sc. in Möttlingen] ein Weniges von dem bekommen hatte, was der Christenheit abhanden gekommen ist, wuchs meine Sehnsucht nach der Rückkehr des Verlorenen. Daß ich hoffen dürfte, wurde mir immer deutlicher durch die Schrift […]; und je mehr in jetziger Zeit Alles was zum Christenthum gehört, […] zu verfallen scheint, […] desto gewisser wird mir auch ein Bald meiner Hoffnung, und je älter ich […] werde, desto mehr.89
Sich im Horizont eschatologischer Hoffnung nicht mit dem, wie es in Welt und Kirche zugeht, einfach abzufinden, sondern im Vertrauen auf die Verheißungen der Schrift mutigen Glauben zu wagen, dass, weil Jesus Sieger ist, Anderes möglich ist, das ist von Blumhardt zu lernen.90
89 Blumhardt: Blätter aus Bad Boll (wie Anm. 10), 5. Jg. (1877), Nr. 5, S. 39 f. 90 Dies ist eine Anspielung auf Erwin Rudert (Hg.): Ich will von Blumhardt lernen, dass Jesus Sieger ist – Leben und Werk von Pfarrer Johann Christoph Blumhardt, 2. Aufl., Metzingen 1985.
Musik, Literatur und Sprache
Markus Matthias
Geistliche Liebestöne. Beobachtungen zur Lyrik Gottfried Arnolds (1666–1714)
I. Einleitung Die Umstände seines Todes waren wohl seiner vegetativen Natur geschuldet. Der bereits von einer skorbutischen Krankheit geschwächte Gottfried Arnold starb am 30. Mai 1714, nachdem zehn Tage zuvor, am Pfingstsonntag (20. Mai) 1714, Werber des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. Arnolds zum Abendmahlsempfang bereitstehende Neukonfirmierte vom Altar weg zu den Waffen gerissen hatten.1 Was schon jedem Pfarrer und frommen Christen ein Gräuel sein musste, das war offenbar geeignet, dem hochempfindsamen und an dieser Welt leidenden Gottfried Arnold mit 47 Jahren das Herz zu brechen.2 Ich nähere mich mit dieser Erinnerung an sein Ende dem Lyriker Arnold von einem Bild her, das ihn nicht als barocke, spannungsreich-antithetische Persönlichkeit zwischen humanistischer Gelehrsamkeit und frommer Mystik zeichnet,3 sondern das ihn – insbesondere in seiner poetischen Schaffensperiode, der Zeit von 1697 bis 17004 – als einen hochsensiblen jungen Mann zeigt – er steht 1700 in seinem 34. Lebensjahr –, der sich schreibend seine eigene einheitliche und damit religiös tingierte Welt baut, eine Welt, die seinem Lebensgefühl und seiner Sehnsucht entspricht und der zu leben es sich für ihn lohnt. Methodisch bedeutet das: Während ein Großteil der mir bekannten Arnold-Literatur ihn gleichsam rückwärtsgewandt auf Grund der von ihm 1 Martin Schmidt: Gottfried Arnold. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, Berlin 1979, S. 136–140, hier: 137 f. 2 Geboren am 5. September 1666 in Annaberg (Erzgebirge) als Sohn des gleichnamigen Präzeptors in Annaberg († 1685), gestorben am 30. Mai 1714 in Perleberg (Altmark). 3 Traugott Stählin: Glaube und Mystik bei Gottfried Arnold. Studien zu Arnolds geistlicher Dichtung als Beitrag zur Hymnologie der spätbarocken Lyrik, Göttingen 1966 (Veröffentlichungen der evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung, Bd. 9), S. 24: „Arnold war sein ganzes Leben hindurch humanistisch gebildeter Gelehrter und pietistisch-mystischer Seelsorger zugleich.“ Ebd., S. 27 sieht Stählin bei Arnold eine typisch barocke Antithetik von humanistisch gelehrter Welt-Zugewandtheit in seinen historischen Forschungen und mystischer Weltflucht in seiner geistlichen Lyrik. Demgegenüber sieht Roger Friedrich (Studien zur Lyrik Gottfried Arnolds, Zürich 1969, S. 9) Arnold bewusst nicht als Barockmenschen, sondern als einen Pietisten mit einem neuen Lebensgefühl und geht in seinen Interpretationen einzelner Gedichte Arnolds von der Überzeugung aus, „dass sich in Lyrik und Mystik eine Befreiung von der einseitigen Weltverneinung erkennen“ lasse. 4 Nach Stählin (wie Anm. 3), S. 26, liegt der Veröffentlichungszeitraum zwischen 1696 und 1704, der Schwerpunkt um 1701.
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rezipierten Traditionen (Alte Kirche, Mystik [insbesondere Jan van Ruysbroeck], Jacob Böhme), in der Lyrik insbesondere von der Sophienmystik5 her interpretiert, will ich ihn einmal gleichsam vorwärtsgewandt von der Konstruktion seiner eigenen, religiösen Welt her zu verstehen geben. Arnold erschließt sich mir also nicht über den Aufweis seiner Traditionsgeschichte, sondern über den Versuch einer Rekonstruktion seines religiösen Weltbezuges (Religiosität). Damit versuche ich zugleich eine Spannung zu lösen, die mir in den wissenschaftlichen Interpretationen von Arnolds Lyrik immer wieder begegnet. Zum einen insistiert man nämlich darauf, dass Arnold in seiner Lyrik eigene Empfindungen, Erfahrungen oder gar mystische Erlebnisse wiedergibt,6 zum anderen interpretiert man seine Gedichte aber traditionsgeschichtlich, so dass Arnolds religiöse Erfahrung oder seine religiöse Weltsicht unbeschrieben bleibt. Deren Rekonstruktion erweist sich mir aber als ein hermeneutischer Schlüssel zu Arnolds Liedern und Gedichten. Zur Konstruktion einer solchen religiösen Welt, eigentlich einer Gegenwelt, braucht es Vorstellungs- und Sprachmaterial. Bei seiner Beschaffung ist Arnold dem Zug seiner Zeit folgend innerhalb einer kirchlich-christlichen Tradition eklektisch verfahren.
II. Arnolds religiöser Weltbezug Was ich Arnolds religiösen Weltbezug nenne, liegt in diskursiver Form vor in seiner Schrift Das Geheimniß Der Göttlichen SOPHIA oder Weißheit, Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold, Leipzig 1700.7 Als literarischer 5 Das Verständnis der Arnold’schen Lyrik als Ausdruck seiner Mystik beherrscht die Forschungsliteratur, die dabei freilich im Gegensatz zu Friedrich Brecklings Einschätzung steht, nach der Arnold nie ein Mystiker gewesen sei; vgl. William Freiherr von Schröder: Studien zu den Deutschen Mystikern des Siebzehnten Jahrhunderts I. Gottfried Arnold, Heidelberg 1917 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Neue Folge, Bd. 9), S. 116. 6 Vgl. Schröder (wie Anm. 5), S. 47: „Seine Lyrik ist ein Spiegel seiner Lebensschicksale in ihrer stürmischen Bewegtheit und Spannung.“ Für Paul Alverdes: Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus, Diss. phil. [masch.] München 1921, S. 61, schwankt Arnold zwischen einer symbolischen Einkleidung rationaler theologischer Konstrukte (S. 56. 60) und „eigenste[m] Erleben“. Steffen Arndal: Mystik und Dichtung bei Gottfried Arnold. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Vorträge, gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 10.–13. Juni 1990 in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Zusammengestellt von Hans Schneider. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner, Wiesbaden 1995, S. 20: „Zwar geht das Gedicht auf ein persönliches Erlebnis zurück, aber es zeigt weder in seinem Inhalt noch in seinem Stil die subjektiven Züge einer unmittelbaren Sprachwerdung dieses Erlebnisses.“ Chong-So Park: Babel-Kritik und Sophienmystik. Studien zur literarischen Frömmigkeit des radikalen Pietismus am Beispiel Gottfried Arnolds (1666–1714), Diss. phil. Heidelberg 2003, S. 133: „Arnolds Sophienschrift enthält nicht eigentlich eine Lehre, sondern will hauptsächlich von der Erfahrung des Geheimnisses der göttlichen Sophia zeugen.“ 7 Das Geheimniß Der Göttlichen SOPHIA oder Weißheit / Beschrieben und Besungen von Gott-
Geistliche Liebestöne. Beobachtungen zur Lyrik Gottfried Arnolds
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Abschluss von Arnolds Jugendzeit – er heiratet bekanntlich 1701 – und historischer Angelpunkt seiner Dichtung darf diese Schrift als ein hermeneutischer Schlüssel für Arnolds Poesie gelten. Ich formuliere zunächst einige Überlegungen zum Verständnis der Schrift. 1. Arnolds Beschäftigung mit der Sophia-Tradition geschieht nicht wie bei Jacob Böhme aus spekulativem Interesse.8 Das wird aus zweierlei deutlich: Arnold geht es ausschließlich um die besondere, unter dem Zeichen der Sophia geschehende Wiedergeburt des Einzelnen (seiner selbst), nicht um kosmologische oder allgemeinsoteriologische Erkenntnisse. Und wenn er immer wieder betont, dass das ihm eröffnete Geheimnis der göttlichen Sophia aus der eigenen (oder anderer) Erfahrung herrührt, dann ist für seine Sophiologie ein Erfahrungshintergrund statt einer denkerischen Einsicht anzunehmen. Erst aus dem Legitimationsdruck, dem jede bloß subjektive Erfahrung in der Theologie ausgesetzt ist, erklärt sich Arnolds historisch-eklektische Vergewisserung seiner Konstruktion durch den Aufweis ihrer biblischen und altkirchlichen Tradition. 2. Wie fügen sich die eklektisch-splitterhaften Motive und Aussagen Arnolds zu einem ansehnlichen Bild zusammen? Indem ich das literarische Kaleidoskop etwas entgegen der allgemeinen Richtung drehe, sehe ich in der Gestalt der Arnold’schen Sophia die von ihm hypostasierte9 göttliche oder reine Liebe als allgemeine Lebensquelle und Lebensordnung. Als Bezugspunkt der Liebe ist Sophia zugleich Subjekt des Liebens, indem sie als transzendente Urheberin der menschlichen (Gegen-) Liebe identifiziert wird. Für Arnold hat sich allein der Mensch dieser reinen Liebe entfremdet, hat seine eigene göttliche Würde verloren, indem er sich auf die Welt, eine von ihm selbst gebaute Welt der Äußerlichkeit und Verdorbenheit, eingelassen hat, deren deutlichstes Symptom in der Animalität und Schalheit geschlechtlicher Liebe zutage tritt. 3. Arnold erlebt – ganz spiritualistisch oder „psychophysisch“10 – die (eifried Arnold, Leipzig 1700. Faksimile-Neudruck mit einer Einführung von Walter Nigg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963. 8 Vgl. Ruth Albrecht: „Der einzige Weg zur Erkenntnis Gottes“. Die Sophia-Theologie Gottfried Arnolds und Jakob Böhmes. In: Auf den Spuren der Weisheit. Sophia. Wegweiserin für ein neues Gottesbild. Hg. von Verena Wodtke, Freiburg – Basel – Wien 1991, S. 102–117 und 185. 9 Das Geheimniß (wie Anm. 7), S. 26, § 7: „Denn sie ist eben dasjenige / wodurch sich GOtt offenbahret und in ein wesen einführet / und sich also in ihr von ewigkeit zu ewigkeit immer fasset / und ihm selbst offenbahr wird.“ Vgl. jetzt Hans-Georg Kemper: Liebe/Ehe – Liebesehe. Poesie als Hoheslied einer sympathetischen Geschlechterbeziehung [2008]. In: „Der Herr wird seine Herrlichkeit an uns offenbahren“. Liebe, Ehe und Sexualität im Pietismus. Hg. von Wolfgang Breul und Christian Soboth, Halle 2011 (Hallesche Forschungen, Bd. 30), S. 277–298, hier: 290–292: „Immerhin bildete sich in dieser Lyrik das ganze sinnliche Spektrum einer erotisch zu imaginierenden Liebes-Ehe aus.“ (S. 292). 10 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5.1: Aufklärung und Pietismus, Tübingen 1991, S. 117–141, hier: S. 128. Befremdlich an Kempers im übrigen materialreicher Darstellung ist, dass er zwar Arnolds Poesie detailliert als Übergangspoesie vom Barock zur Frühaufklärung beschreibt, ihn aber nicht ausdrücklich als hervorragenden Vertreter des Stil-
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gene) empfindsame Natur als den in ihm durch Reinigung und Züchtigung gebildeten neuen, inneren Menschen, der solcher Liebe begierig und fähig ist. Es geht ihm um das Ich seiner Innenwelt, um seine eigene Gefühlswelt, um ihn selbst als Empfindenden. Daher verschwindet das konkrete Objekt der Empfindung hinter dem Gefühl als solchem, und hier – das sei am Rande bemerkt – trifft er sich mit den neuen Liedern des hallischen Pietismus. 4. Allerdings wird mit der so gebildeten Empfindung auch deren möglicher Gegenstand und ihr Ziel neu bestimmt. Dies zeigt sich insbesondere in dem sublimen, zugleich idealisierten wie funktionalisierten Frauenbild Arnolds. 5. Arnold vertritt mit seiner Sophientheorie eine spiritualistische Anthropologie, die im Menschen einen inneren, zur Vollendung fähigen, daher bildbaren, guten und eigentlichen Kern angelegt sieht. Spiritualistisch ist diese Anthropologie darin, dass sie den kategorialen Unterschied zwischen immanenter, vergänglicher Leiblichkeit und transzendenter, ewiger Geistigkeit zugunsten der Vorstellung einer immanenten Geistigkeit oder einer spirituellen Natur aufgibt. Entsprechend sieht Arnold (christliche) Religion nicht unter den Kategorien von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit und des christlichen Transzendenzgedankens, sondern entwickelt eine neuplatonisch-naturphilosophische Vergöttlichungslehre. Daher fehlen die Topoi der christlichen Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre fast völlig. Ausnahmen wie „Blut des Lammes“, „Heil erworben“, „Erbteil“ u. a. werden nicht im Sinne der klassischen Soteriologie ausgeführt. Von einer Kreuzestheologie11 lässt sich bei Arnold beim besten Willen nicht sprechen, weil das Kreuz Christi bei Arnold immer nur Zeichen wahrer Liebe ist, nur ganz gelegentlich noch mit einem Verdienst Christi verbunden ist. Das gilt auch für die Überreste traditioneller Passionsfrömmigkeit.12
III. Die göttliche Sophia als Hypostasierung der reinen Liebe In der Vorrede seiner Schrift Das Geheimniß Der Göttlichen SOPHIA beschreibt Arnold die Entdeckung dieses Geheimnisses als einen Selbsterfahrungsprozess, bei dem er in sich, in seinem Gemüt, göttliche Wirkungen und Funktionswandels der Lyrik um 1700 benennt; vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 5.2: Frühaufklärung, Tübingen 1991, S. 11–46. 11 Stählin (wie Anm. 3), S. 100. 12 Gottfried Arnolds sämmtliche geistliche Lieder mit einer reichen Auswahl aus den freieren Dichtungen und einem Lebensabriß desselben. Ein Beitrag zur christlichen Hymnologie und Mystik. Hg. von Karl Christian Eberhard Ehmann, Stuttgart 1856, S. 285 f. (Nr. 195), hier: S. 286: „Ach mach mich doch nur würdig dieser Ehr, j Dass ich an meinem Fleisch noch kann erfüllen, j was noch von deinen Leiden übrig wär“.
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gespürt habe, die mit den traditionell den trinitarischen Personen zugeschriebenen Wirkungen nicht übereinkommen.13 Angesichts des vorrangigen Geltungsanspruches der eigenen Erfahrung14 vor jeder (dogmatischen) Lehre und unter der Voraussetzung einer allgemeinen Erfahrbarkeit seiner Erfahrungen, die die ganze Schrift durchziehen, kommt es zur Kritik oder Variation der Lehre. Arnold weiß dabei zunächst nicht, woher die Wirkungen oder seelischen Erfahrungen kommen, die doch so mächtig sind, dass er sich ihnen nicht entziehen kann, so dass er diese Erfahrungen einem göttlichen Urheber zuschreiben muss.15 (Diese Argumentation ähnelt in auffälliger Weise der Logik des Bekehrungserlebnisses von August Hermann Francke. Denn auch dieser schließt von der Kraft und Übernatürlichkeit seiner Gemütsverfassung auf einen transzendenten Bewirker, nämlich Gott in der Schrift.16) Erst nachträglich erkennt Arnold, dass seine Erfahrungen mit dem überein kommen, was zwar nicht die kanonische Schrift, wohl aber die alten Heiligen Schriften, insbesondere die dem König Salomo zugeschriebenen Bücher des Hohenliedes und des Buches der Weisheit, mit der Person der Weisheit verbinden.17 Die 13 „Seit dem ich auff mein eigen gemüth und auf das / was darinne vorgegangen / etwas bessere acht zu geben angefangen / und selbiges alles mit der schrifft genau zusammen halten lernen: hat sich in der that befunden / daß nicht allein der ewige GOtt und Vater seinen Sohn JEsum CHristum zu offenbahren und nach allen dessen wundern zu verklären gesuchet; sondern auch hiebey absonderlich die Göttl. weißheit durch ihre geheime wirckungen nach einander sich mächtig geäussert gehabt.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 2r–v, § 2). 14 „Zuförderst war ich offters sehr bekümmert über der person dieser weißheit / um von dem jenigen ursprung gewiß zu seyn / von und mit welcher mir doch alles dieses gute käm / das ich wircklich genoß / und so zu sagen mit händen greiffen / auch dahero nicht leugnen konte. So fand ich nun anfänglich in denen alten lehrern / wie Christus Jesus die weißheit des Vaters sey und heisse: und ich hatte denselben auch also warhafftig erkannt / gesehen und genossen / als das warhafftige licht und den einigen meister und den köstlichsten weg / ja die selbständige warheit.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 2v, § 4). @ „Indessen bliebe mir doch hiebey noch ein wichtiger scrupel übrig / weil ich wircklich in meinem gemüthe empfand / wie dieses ewige wesen / so sich als die weißheit in mir zeigte / noch unter einem näheren und absonderlichen Character oder merckmahl erkannt und angenommen werden müste. Worinne mich denn noch mehr bestärckte / theils was die schrifft unter denen namen / kennzeichen und wirckungen einer braut / einer mutter / und dergleichen / von der weißheit andeutete / theils was etwa die unläugbare inwendige erfahrung dißfalls an die hand gab.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 2vf., § 5). 15 „Und weil es alles ohne / ja meist wider der menschen zuthun und vorsatz in der seelen also vorgehet: so ist die Göttlichkeit dieser sache desto gewisser / und ihr annehmen oder verwerffen desto wichtiger“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 53, § 11). „Denn es ist nichts anders / als ein sanffter und lieblicher hauch und einspruch in die seele / der ihr unversehens und ungesucht geschiehet / wenn sie etwa inwendig stille ist.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 53, § 11). – Arnold spricht von einer „dir offt unangenehme[n] krafft in dir […] welche etwas mehr als menschliches mit sich gebracht“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 54, § 14). 16 Vgl. Markus Matthias (Hg.): Lebensläufe August Hermann Franckes, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 2), S. 143. 17 Das 2. Kapitel (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 11–23) dient dem Nachweis, dass das Salomo zugeschriebene Buch der Weisheit in der Alten Kirche rezipiert wurde und daher nicht wie bei
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Übereinstimmung seiner individuellen Erfahrungen mit dem in den alten Heiligen Schriften beschriebenen Wesen der Sophia macht es ihm möglich, sich wiederum über den Buchstaben der Texte hinaus auf seine eigenen Erfahrungen einzulassen.18 Ausdrücklich will Arnold mit der Betonung der Hypostase der Weisheit nicht eine andere göttliche Person der Trinität oder diese überhaupt in Frage stellen.19 Er insistiert aber auf der Hypostase der Weisheit, weil allein sie eine Religiosität (der liebenden Welterschließung) ermöglicht, die über die traditionelle, mit den trinitarischen Personen verbundene Religiosität von Schuld, Vergebung und Erneuerung hinausgeht. Entsprechend liegt für Arnold das Problem in der analytischen Trinitätstheologie selbst, nämlich in der „zertheilung und absonderung der personen“.20 Er spricht daher lieber von der „Gottheit“ oder dem „göttlichen Wesen“. Die Arnold’sche Sophia (Weisheit) ist für die menschliche Seele die Kraft, die in ihr reine Liebe zu erwecken imstande ist. Sie ist zugleich in der Lage, die Erkenntnis zu fördern. Höchste, reine Liebe und umfassende statt analytischer Erkenntnis fallen zusammen. Auf Seiten des Menschen werden beide zur empfindsamen Natur, die sich eben dieser Liebe erschließt, indem sie zugleich die bürgerliche Armseligkeit mit ihrem Jagen nach Ehre, Amt, Generation und Vererbung verwirft und sich eine umfassende Welt bildet. Diese neue Religiosität bringt mit sich auch die Forderung21 nach einem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Denn die Weisheit als liebende Erkenntnis der Wirklichkeit erschließe allererst die ganze Wirklichkeit, auch der
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Juden und Protestanten als apokryph zu gelten habe. Inhaltlich spielt die Sophienmystik hier keine Rolle. Die folgenden Kapitel bieten den historischen Nachweis für die Einzelzüge von Arnolds Sophientheologie. @ „Nun wurden zwar bey dergleichen regungen die beschreibungen der weißheit aus den schrifften derer alten Heiligen und sonderlich Salomonis im gemüthe vorgestellet: allein es ergienge doch dabey wie im buch der weißheit stehet: Ich wust es nicht / daß alles von Ihr (der weißheit) herrührete. So hatte ich auch in menschlichen büchern noch wenig oder nichts von dieser wichtigen sache gelesen das einem nachsuchenden gemüthe gäntzlich hätte ein gnügen thun können: ob mich wohl indessen die auff mich eindringende und starck brennende unsichtbahre krafft in liebreicher gewaltsamkeit obligirte/ ihrem gehorsam mich nicht zu entziehen.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 2v, § 3). „Und was ich in buchstaben nicht ausgedrucket sehen mochte / das ersetzte der H. Geist durch die vom Vater verheissene salbung gantz überflüßig / versiegelte auch alles andre durch Göttliche überredung und gewißheit zu allem seligen gebrauch und effect dieses hohen geheimnisses.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 3v, § 7). Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 4r, § 10. Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 4r, § 11. „O ihr jungen munteren und edlen gemüther / die ihr in der blüthe eurer jahre und kräffte nach wissenschafft begierig seyd: Verzehret nicht ferner eure zeit / krafft und kosten bey denen krämern und kauffleuten der falschen weißheit / welche eure unsterbliche gemüther nicht befriedigen noch dero verborgenen hunger sättigen können! Buhlet nicht mehr um die welt und um ihren huren=schmuck / sie kan euch weder dauerhaffte güter noch deren unbetrübten oder stetigen genuß und besitz geben“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 7rf., § 26).
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zukünftigen Dinge.22 Alle wahre Erkenntnis Gottes komme aus der Weisheit. Sie fehle bei denen, die nicht diese Weisheit haben, wenn sie auch als größte Theologen gelten.23 Und zwar gehe es nicht nur um die Erkenntnis der nötigen Glaubenslehren, sondern mit Hilfe der Weisheit erreiche man „durch langen umbgang und genuß ihrer lehrmeisterin in den tieffsten geheimnissen und verborgenheiten des himmelreichs einen klaren verstand“.24 Dazu komme die Gabe der Einsicht in die Zukunft: „Inzwischen ist bey diesem werck der prophezeyung / dessen die weißheit eine urheberin ist / nicht bloß auff solche materien zu dencken / welche den gemeinen zustand derer länder oder kirch=gemeinen betreffen. Sondern eine jede erleuchtete seele mag dieser gnade geniessen / so offt sie bedarff / entweder vor instehendem übel gewarnet / oder zu einem angebottenen gut auffgemuntert / oder sonst von künfftigen in ihrem eigenen wandel unterrichtet zu werden.“25 Sie lasse die Natur erkennen26 22 „Das XVIII. Capitel. Von den früchten der himmlischen Sophiae / und insonderheit von ihrer mitgetheilten geistlichen weißheit“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 122–134). 23 Ebd., S. 126, § 13. 24 Ebd., S. 126, § 14. 25 Ebd., S. 128 f., § 22. 26 „Das XXV. Capittel. Von der weißheit wirckungen im äusserlichen reich der creaturen.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 180–188). Es sei noch übrig, „kürtzlich ihre außbrüche in dem bezirck der natur und creatur / wie auch in künsten und wissenschafften“ zu zeigen, „welche an sich selbst unendlich groß / und mir in ihren tieffen annoch fast unbekannt sind“ (Ebd., S. 180, § 1). Allerdings weiß Arnold nur aus den „uhralten schrifften“, daß die göttliche Weisheit die „werckmeisterin / formiererin und erhalterin aller geschöpffe“ ist (Ebd., S. 180, § 2). @ Die Weisheit hat sich „von aussen kräfftig erwiesen / da die Gottheit auß ihrer ewigkeit herauß gegangen / und sich in die ewige natur / auch so fort in die creaturen eingeführet hat. Sintemahl Gott eben durch seine weißheit in allen welten / Elementen und principien alles weißlich geordnet / temperirt / und zur harmonie und gleichheit / wie auch zu ihrem höchsten zweck und grad gebracht hat / als worinne der weißheit kunst am meisten hervor leuchtet / und auch mit äusseren sinnen an so unzehlichen wunderbaren geschöpffen / thieren / pflantzen / metallen / mineralien / und deren so mancherley gattungen / farben / bildungen / kräfften und effecten kan erkannt werden.“ (Ebd., S. 181, § 4). @ „Alles was von anbegin der welt biß hieher in allen sprachen von wissenschafft beschrieben / oder in der that practiciret und gebrauchet worden; Das hat dieses unermäßliche auge allein außgeforscht / und erfunden / und ihr mund denen gemüthern der menschen an= und eingegeben / ihre hand und krafft außrichten und appliciren helffen.“ (Ebd., S. 182, § 7). @ „Diß ist diejenige natürliche weißheit / welche zwar in allen menschen durch die ewige Sophiam nach dem grunde und anfang eingepflanztet liegt / dadurch sie [a]uch GOtt von natur erkennen mögen und sollen: Röm. 1/ 19.20.21. 1. Cor. 1/21. Allein sie muß zu ihrem wachsthum und gehörigen grad / gebrauch und zweck / durch eben dieselbe ewige weißheit erwecket und erhöhet werden / daferne der mensch gehorsam / fleissig und zuforderst im gebät anhaltend und glaubig ist. Und dahero kan auch diese natürliche weißheit dennoch Gottes weißheit heissen / weil diese der brunn und grund von jener ist / wie die alten wohl bemercken.“ (Ebd., S. 182 f., § 9). @ „Wie nun der wille der ewigen Gottheit in seiner eigenen göttlichen beschauung sich selbst durch die innigste lust und ergetzung gefasset / und durch die Imagination oder fürmodelung in der schöpffung vermittelst der ewigen weißheit als in der allergeheimsten Magia, oder verborgenen geistlich schaffenden krafft und wurckung sich selbst offenbahret: also werden alle wercke Gottes eben in und mit dieser geheimesten wirckung oder Magia wiederum eingesehen / erkannt und gefunden / wie sie an sich selbst sind.“ (Ebd., S. 186, § 16).
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und sei der Grund aller Wissenschaft und (politischen) Weisheit. Sie führe schließlich zur völligen Gemütsharmonie.27 Die neue, richtige Form der Erkenntnis ist die eines liebenden Verhältnisses, wobei Arnold dem Lieben als Gefühl und Möglichkeit des Menschen mehr Bedeutung zumisst als dem Gegenstand der Liebe: Ergebet demnach euer hertz diesem allerschönsten liebe=wesen Gottes / ihr jünglinge / jungfrauen und andere / die ihr etwas zu lieben haben wollet. Bittet um den Geist der liebe / der euch in diese unvergleichliche schönheit verliebt und brünstig mache. Gehet ihr nur nach und haltet an / sie will gesuchet seyn und doch alsobald begegnen. Umfasset sie getrost / wo ihr sie findet in eurem inwendigen / ihr werdet bald andere dinge erfahren / die ihr nicht glauben würdet / wo sie euch gleich iemand jetzo sagen wolte. Erkennet aber und schliesset eben hieraus die unbetrieglichkeit und Göttlichkeit ihrer einladungen / weil ihr alsobald in euren hertzen etwas lockendes / reitzendes und ziehendes mercken werdet / das diese eussere worte bekräfftiget / wo ihr anders euch nicht selbst verstocket.28
Arnold will also die traditionelle Theologie und kirchliche Religionsausübung ersetzen durch eine neue Religiosität und einen neuen religiösen Weltbezug, bei der der liebende Zugang zur Wirklichkeit das entscheidende Merkmal ist. Es geht mithin nicht eigentlich um die Sophia als transzendente Gottesgestalt, sondern um den wiederentdeckten göttlichen Geist im Menschen. Entscheidende Züge dieses göttlichen Geistes im Menschen sind: 1. Die Weisheit ist das Prinzip aller göttlicher Regungen29 und muss auch das Leben des Menschen regieren. 2. Die Erkenntnis der Weisheit und die damit verbundene Selbsterfahrung 27 „Denn diß ist eben eines von den vornehmsten ämptern der weißheit mit / daß sie durch alle läuterungs= und prüfungs=wege das menschliche gemüthe in die alte paradisische unschuld / die affecten in die gehörige stille harmonie und reinigkeit / und den willen in reinen gehorsam setze: worauß denn gar gewiß eine selige ruhe und vergnügung folgen muß“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 154, § 20). 28 Das Geheimniß [wie Anm. 7], Vorrede, Bl. 7vf., § 28. Vgl. ebd., Bl. 8r, § 29: „Gebet also acht auff euch selbst / und wendet alle liebes=krafft / damit ihr auff creaturen fallen möchtet / in das inwendige und auff die darinn sich zeigende Sophiam. Sie soll euch so viel mit lieben / mit umfassen / mit ihren süssen ausgüssen zu thun geben / daß ihr frembder buhlschafft bald vergessen werdet. Ziehen wird sie euch und zugleich unendliche krafft geben zu folgen / weil ihr edler Geist leib und seel einnehmen und alles ihr zu eigen / rein / keusch / Göttlich und himmlisch gesinnet machen wird. Nichts soll so gar euch bey ihr mangeln / daß ihr den grossen überfluß allenthalben um euch herum sehen werdet. Sie wird ihre ehre und ihren grossen nahmen an euch gewaltig beweisen / daß kein feind etwas auffbringen möge / welches euch bey ihr gemangelt hätte.“ 29 „Diese offenbahrung oder dieser ausfluß der ewigen weißheit aus GOtt regieret alle bewegungen desselben in der allerheiligsten Harmonie und klugheit; weil sie in dem auge GOttes gleichsam wohnet / da jhr wille mit denen begierden GOttes zugleich ausgehet / damit / alles weißlich geordnet werde. Und diß alles / nemlich der wille und die weißheit GOttes sind doch an sich selbst ein einiges unzertheiltes wesen mit GOtt / jedoch ohne einige vermengung oder unordnung.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 26, § 8).
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ist eine höhere (oder tiefere) religiöse Erkenntnis nach Buße und Rechtfertigung.30 3. Das mit der Erkenntnis der Weisheit erfahrene Gefühl ist das dem (männlichen) Menschen (Adam) verlorengegangene weibliche und mildernde Prinzip.31 Während Jesus sich „als ein mann“ offenbart und [mit dem Versöhnungswerk] ein „männlich GOttes=werk“ vollbracht habe, offenbare sich die Göttliche Weisheit in der Schrift „unter dem bilde eines weibes / einer jungfrau / braut / mutter / pflegerin / lehrmeisterin / u.s.w.“32 Arnold sieht darin nicht nur eine Metapher, sondern eine Wesensbestimmung. Die Weisheit ist das dem Menschen mit dem Fall verlorengegangene weibliche Element, freilich nicht im natürlich-geschlechtlichen Sinne.33 Adam verlor in seiner sich nach außen kehrenden Begierde seine weiblichen Eigenschaften und behielt allein die männlichen zurück. Die neue Kreatur nach der vollkommenen Wiedergeburt ist eine „männliche jungfrau“.34 In ihr regiert zwar die männliche Feuereigenschaft, aber „durch die liechts=krafft des weibes gesänfftiget und temperiret“.35 4. Die Weisheit kann der Mensch durch Selbstbetrachtung in sich selbst wiederentdecken, da sie in ihm angelegt ist.36 Und so wird die Weisheit er30 „7. Diese zeit oder periodus eröffnet sich in der seelen hauptsächlich und am klärsten alsdann / nachdem sie so wol unter der krafft deß Vatters in dem gesetz / in der busse / und im zug zum Sohne / als auch unter dem Evangelio und Reiche der Liebe JEsu lange zeit gestanden / und alle dahin gehörige läuterungen und proben durchgegangen. So dann ergreiffet uns Sophia gleichsam noch genauer / und bringet ihr läuterendes und scharff=reinigendes feuer in die seele / machet den geistlichen Tempelbau des neuen krafft=leibes auß der menschheit Jesu / welcher in der seele nach allen geburts=schmertzen und wehen im fleisch kommen war / vollends auß / setzet ihr feuer und heerd mitten drein / und machet anstalt zur wesentlichen niederkunfft des H. Geistes / und zu dessen grossen und vollendenden reiche im geist des menschen. 8. Da tritt denn der H. Geist der verheissung / welches eben der Geist der Weißheit / und der Geist JEsu ist / näher zu / und salbet und durchdringet die an ihr selbst noch zarte und überwindliche neue menschheit / und stärcket sie also mit seinem feuer und liecht / daß die seele mit ihren gemüths=augen gleichsam eine feurige burg / einen brennenden busch / und das Allerheiligste in sich selbst erblicket / darinnen Gottes name Jehovah JEsus im Geist wohnet / und sich zum vollkommenen sieg wesentlich hervor thut.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 36, § 7–8). 31 „Das VI. Capitel. Von der ewigen Sophiä geschlechts=namen und jungfrauschafft (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 39–46). 32 Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 40 § 3f. 33 „Daß nemlich die ewige weißheit nicht zwar in manns= oder weibs= geschlechte / wie dieses nach dem fall in seiner unart / verderbnis und schande liegt / eingeschräncket / sondern in himmlischen reinen verstand eine vollkömmliche reine jungfrau sey.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 42, § 10). 34 Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 43, § 14. 35 Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 43 f, § 14. 36 Vgl. „Das VIII. Capitel. Von der ankunfft und ersten stimme Sophiä im menschen.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 50–57): „Dergestalt kan ein jeder Geist / der nach Gottes bild geschaffen gewesen / die Göttliche jungfrau in ihm selbst und in seinem wesen finden. Ursache ist / weil sie sich nach dem fall wiederum bey allen menschen auff eine geheime geistliche art angibt / und wiederum ihr voriges leben in ihnen beginnen will.“ (Ebd., S. 52, § 7). @ „Ob nun gleich diese durch die sünde entzogene weißheit nicht auf solche paradisische art mehr [wie bei
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fahren, wo der Mensch in sich ein edles Gefühl erfährt, das ihn seine normale Gefühlswelt transzendieren lässt (vgl. Anm. 15). 5. Dieses Gefühl kommt insbesondere bei jungen Leuten auf.37 Denn es ist das Gefühl des einfachen, unverbildeten Herzens,38 das sich in dem liebenden, sich selbst zurücknehmenden Verhältnis zur Wirklichkeit äußert.39 6. Sophia ist als Gegenstand der Liebe nicht eigentlich inhaltlich oder als Ziel einer unio mystica von Interesse, sondern in der Funktion, dem liebenden Gemüt einen reinen Gegenpart zu bieten.40 Es geht um die Erweckung reiner Liebe als göttliche Bestimmung des Menschen. Entgegen einer verbreiteten Interpretation sehe ich daher bei Arnold das Motiv einer ursprünglichen (und heilsgeschichtlich-finalen) androgynen Verfasstheit des Menschen nicht als zentralen Gegenstand seiner Sophienmystik an; dieses steht vielmehr symbolisch für die beschriebene empfindsame Natur. 7. Ziel der Wiederentdeckung der Weisheit ist „eine sehr merckliche veränderung und besserung des menschen“, indem „dieser sein hertz würcklich von so manchfaltigen bösen gebrechen und sünden=flecken mit freuden gereiniget / hingegen einen neuen Göttlichen willen geschaffen siehet“.41
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Adam] in dem verderbten menschen wohnet: so unterläßt sie doch nicht / aus hertzlicher liebe zu ihren uralten thron=sitzen und wohnstätten auff GOttes befehl sich bey einem jedem kinde Adams inwendig im hertzen zu melden / und die herwiederbringung des verlohrnen kleinods anzubieten. Dieses geschiehet durch ihr geheimes regen / erinnern / bestraffen / ruffen und locken in der seele / welches kein mensch läugnen / auch nicht gäntzlich austilgen / wol aber hindern / und eine zeitlang dämpffen kan“ (Ebd., S. 53, § 10 u. 11). „Woraus denn auch erhellet / und ferner durch die erfahrung bestätiget wird / daß diese holdseligste jungfrau gerne jungen / frischen und noch ungeschwächten gemüthern nachgehe / und sich mit ihnen frühezeitig verknüpffe; ehe sie von fremden buhlern und boßheiten geschändet / und zu ihrer bewohnung untüchtig gemachet werden möchten.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 56, § 24). Vgl. „Das XI. Capitel. Vom gehorsam gegen die weißheit“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 67–75): „Was ist nun in gantzem leben vor uns alle nöthiger / als ein stilles auffmercken und leises hören des hertzens / auff dasjenige / was sich darinnen vom Göttlichen willen hervor thut? Wie kan aber dieses zu wercke gerichtet werden ohne inwendige stille und befreyung / von dem geräusche der falschen gedancken / sorgen und begierden?“ (Ebd., S. 68, § 5). „Sie überhäuffet das gemüth nicht mit der menge der gesetze / sondern ein einiges fasset allen ihren willen in das eine / nemlich die liebe.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 72, § 17). „Und damit wir dieses alles in eines zusammen fassen / so erfordert diese sorgfältige zuchtmeisterin nichts mehr als dieses. ,Der Geist des menschen soll sich inwendig einkehren / in seinem willen mit der weißheit offenbarten willen einzustimmen / sie darinne lassen würcken / und in solchem vereinigten willen inwendig immer gelassen / passiv oder leidend bleiben / keines weges aber sich mit dem eigenen willen wieder auskehren / und etwas von dieser welt mehr fassen.‘ Diß ist die summa aller ihrer anforderungen und praetensionen an uns / welche ja wol billich und leichte und unserer ewigen verklärung vortheilhafftig genug seyn mögen.“ (Ebd., S. 73 f, § 22). Vgl. „Das XII. Capitel. Von ehrerbietiger furcht und reiner liebe gegen die weißheit.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 75–83). „Das gemüthe liebet immer gerne von natur etwas / und suchet sich mit einem andern / daß es vor liebens werth hält / zu vereinigen. Wie selig ists denn / den geheimen funcken der liebe von kindheit auff zu diesem liebwürdigsten gespiel / der edlen Sophia, richten“ (Ebd. S. 79, § 13) Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 98, § 10.
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8. Den lebensgeschichtlich begründeten unterschiedlichen Formen der Liebe eines Mannes zu einer Frau, entspricht die unterschiedliche Erscheinung der Sophia als Mutter, Jungfrau, Verlobte und Gemahlin.42
IV. Die Lyrik Arnolds Nachdem ich bislang aus seinen Prosatext Arnolds Weltsicht zu rekonstruieren versucht habe, wende ich mich einigen seiner Lieder zu, um sie vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Lyrik Arnolds bildet weder formal noch thematisch eine Einheit und lässt sich daher nicht einheitlich charakterisieren oder analysieren. Im Folgenden kann es daher nur darum gehen, einige Gedichte herauszugreifen, in denen Arnold in besonderer Weise einen eigenen Ton anstimmt. Die Trennung von der (menschlichen) Welt Das Lied Durchbruch aus der Unruh beschreibt die Trennung von der äußerlichen Welt als Abkehr von der Zivilisation und ihren Begehrlichkeiten sowie als Einkehr in sich selbst. Der Weg führt über die Befreiung der Sinne von den Attraktionen der Welt. Diese werden selbst nicht genannt, sondern nur von ihren Wirkungen auf die Seele her beschrieben und zugleich moralisch verurteilt, als „Lust=erregen“, „unordentlich Begehren“, „Eitelkeiten“, „Geiz, Hochmuth, Wollust, Pracht“. Die konsequent eingehaltene Perspektive auf das eigene Innenleben und die dort empfundenen Affekte ist charakteristisch. Sie kommt noch in der letzten Zeile zum Ausdruck. Nicht dem Christus in mir gilt der Lobgesang, sondern in mir wird ihm, dem Siegesfürst, das Lob gesungen. So nimmt Arnold weniger die Welt wahr als sich selbst, nämlich als einen von der Welt Affizierten. Der spiritualistisch-ganzheitliche Exorzismus in der letzten Strophe ist umso leichter, weil die mit der Metapher des Weibes angesprochene Empfänglichkeit für Verführungen durch die Sinne zunichte gemacht ist. Die traditionell als erstes Evangelium (Protevangelium) bezeichnete Bibelstelle Gen 3,15, weil darin die im Kreuz Christi sich vollziehende Überwindung des Satans, dem Samen der Schlange, angekündigt werde, kommt im eigenen Ich zur Erfüllung. Erlösung ist die Befreiung von den Weltaffekten. Zerreißt, ihr Bande meiner Sinnen, Verschwindet, und gebt bald die Flucht! Nun muß euch alle Macht zerrinnen, 42 „Den völligen hochzeitlichen Ehrentag aber / und die öffentliche vollziehung solcher vermählung versparet sie biß auff des menschen gäntzliche vollendung.“ (Das Geheimniß [wie Anm. 7], S. 112, § 7).
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Markus Matthias Die euch [recte: mich?] geplaget und versucht. Die Zeit ist da, Gott steckt das längst gewünschte Ziel, Daß ich die Fessel nicht, als wie zuvor, mehr fühl. Drum weicht! mein Vater heißt euch ziehen In das geschwärzte Höllenreich; Ihr sollt den Geist nicht mehr bemühen, Der nun den Engeln worden gleich: Kein Lust=erregen, kein unordentlich Begehren Darf nunmehr meine Ruh und tiefen Frieden stören. Der Herr hat mich von Eitelkeiten Entfernt vorlängsten und befreit, Durch seine Kraft konnt ich vermeiden Die Stricke der Vergänglichkeit, Und auf des Geistes Feur, wie Simson seine Faden,43 Geiz, Hochmuth, Wollust, Pracht versengen, reißen, braten. Du aber, überbliebner Samen Der Schlange, findest hier kein Weib! Ich sage dir in Jesu Namen, Verlasse mir Geist, Seel und Leib. Triumph! mir ist der Sieg aufs herrlichste gelungen! Lob sei dir, Siegesfürst, ohn End in mir gesungen!44
Ein taedium vitae lässt den Menschen die äußere und innere Einsamkeit suchen, die auch – übergangslos – das Grab sein kann. Im Mittelpunkt des Interesses steht „bei sich selbst zu sein“ im Gegensatz zu der Unruhe, die alle äußeren Dinge verursachen. Erst so begegnet man auch dem Göttlichen. Anstößig ist daher nicht die äußere Welt an sich, sondern die menschliche Gesellschaft und Kultur mit ihrer Unruhe, Auseinandersetzung und Not, die von dem wahrhaft Göttlichen abhält. Wo flieh ich hin? wo soll ich bleiben? Wo wird die süße Stille sein, Da ich mich könnte schließen ein, Und mich nicht lassen mehr umtreiben Die Unruh dieser äußern Dinge? Ist keine Einsamkeit bereit, Darin ich Gott ein Loblied singe, Der von Zerstreuung mich befreit? 43 Vgl. Ri 15, 14. 44 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 45 f. (Nr. 1: „Durchbruch aus der Unruh.“).
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Mein Geist will in die Wüste ziehen, Und wünscht ihm Taubenflügel45 an, Weil er vor Angst nicht bleiben kann, Da, wo die Menschen sich bemühen, Von Gott noch weiter weg zu gehen, Und niemals bei sich selbst zu sein. Ich kann den Jammer nicht mehr sehen, Und bleibe selbst dabei nicht rein. […] Ich freu mich schon auf eine Kammer, Die mich in sich verschließen wird, Und durch den engen Raum abführt Von aller Unruh, Streit und Jammer, Die große Städt und Schlösser haben; Hier soll nur meine Ruhstatt sein, Da Sicherheit und Fried mich laben, Und kein Unfriede bricht herein. Nun will ich erst recht singen, beten, Und in die Andacht kommen weit, Weil ich nicht durch so viel zerstreut, Vor Gott mit stillem Geist darf treten. Da soll kein Feind mich hindern können, Ich geh in Kanaan schon ein, Mein Paradies soll man es nennen, Hier will ich auch begraben sein.46
Das Ziel ist nicht die unio mystica, sondern das Empfinden, göttlich lieben zu können, denn „in Gott ists süßes ruhn, j Ja, nichts ist süßer auf der Erden, j Als lieben und geliebet werden.“47 Es geht Arnold um eine Neubestimmung des Gefühls der Liebe oder der „Wollust Bahn“ als eines königlichen und engelhaften Triebes, gekennzeichnet durch Sanftheit. Allein diese Liebe macht die Seele empfindsam, offen und frei für den „Bruder“. Mein König, schreib mir dein Gesetz Ins Herz, daß meinen Geist ergötz Der königliche Trieb: Zünd mir das sanfte Feuer an, Und führ mich auf der Wollust Bahn Durch engelgleiche Lieb. […] 45 Vgl. Ps 55, 7. 46 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 64 f. (Nr. 11: „Psalm 55, 7.“). 47 Gottfried Arnold: Geistliche Minne=Lieder. Hg. von K[arl] C[hristian] E[berhard] Ehmann, Stuttgart 1856, S. 22 f., hier : S. 22 (Nr. 14: „Bleib hier, o Liebes=Sohn“).
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Markus Matthias Dann wird der harte Sinn erst weich, Geschmeidig und dem Wachse gleich, Und schmelzt in heißer Brunst; Die Hochmuthsflügel fallen hin, Es zeigt der recht gesinnte Sinn Dem Bruder freie Gunst.48
Arnold sieht diese reine Liebe in Konkurrenz zur geschlechtlichen Liebe, ja spricht (an anderer Stelle) den Vorgang der (notwendigen) Sublimation geradezu an: „Ich konnt der falschen Lust bei dieser Lust vergessen, j Und was dem Leib entging, das wuchs der Seele zu.“49 Die geschlechtliche Liebe wird konnotiert mit der Herrschaft der Frau über den Mann, Treulosigkeit, Schamlosigkeit, Falschheit, betrügerischem Zauber und Untergang. Die Suche nach der reinen Liebe ist entsprechend der Grund für das von Arnold in dieser Zeit propagierte Vollkommenheitsideal der Ehelosigkeit. Mit gelegentlich neologistischem Wortgebrauch vermischt Arnold die Vorstellung von mystischer und geschlechtlicher Gemeinschaft und sublimiert gerade dadurch letztere. Obwohl in der achten Strophe mit Sophia oder schon in der vierten Strophe mit der Weisheit eine weibliche Figur als Gegenpart der Liebe auftaucht, bleibt diese doch konturenlos. Es geht Arnold offenbar einzig um die eigene Befähigung zur reinen Liebe als dem Ziel der eigenen christlichen Bildung, Erlösung oder Auferstehung. Nun weiss ich, Gott Lob, nur von einerlei Lieb, Denn eine ist meine Vollkommene reine, Die Taube, die liebste, mit mächtigem Trieb: Mir ist sie geboren, Zur Freude erkoren: O daß sie mein Eigenthum ewiglich blieb! Zwar geben sich viele zu Königin an, Mit ihrem Gebiete In meinem Gemüthe Zu herrschen, als Delila50 Simson gethan: Die Mägde ohn Zahl Sind alle zumal Bemüht, mich zu führen auf schlüpfrige Bahn. Was hat mir die Welt nicht für Netze gestellt! Was legt sie für Schlingen, Mich an sich zu bringen! Wie hätt mich ihr zauberndes Lieben gefällt, Wenn himmlische Lieb Mit stärkerem Trieb Das Herze nicht immer im Wachen erhält! 48 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 51 f. (Nr. 5: „Aus Ps. 133 und Jac. 2,8.“). 49 Gottfried Arnold: Geistliche Minne=Lieder (wie Anm. 47), S. 27–29, hier: 28, Z. 13 f (Nr. 17: „Auf einen seligen Morgen.“). 50 Vgl. Ri 16,4 ff.
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Gott reißt mir die scheinbarste51 Liebe hinweg, Die seine kann hindern, Und merklich vermindern, So ich zu der Weisheit im Innersten heg. Da muß ich so rein Und eiferig sein, Daß ich mir sonst keine Verlobte zuleg. Die Eifersucht meiner Vertrauten ist groß, Sie machet zu Schande Auch ehliche Bande, Und leidet kein sterblich Gemahl in dem Schoos: Nur Jungfrau muß sein, Was in sie geht ein, Von fremder und eigener Liebe ganz blos. Doch kann mir der Wechsel nicht hinderlich sein, Wenn jene ich hasse, Und alles verlasse, Damit ich sie hab und genieße allein. Mir bringet die Ehr Viel tausendmahl mehr, Als alle Wollüste mit trüglichem Schein. Und wenn auch ein Engel vom Himmel mich wollt52 In Liebe bezwingen, Mich in sich zu bringen, Dass ich in sein Wesen eingeben53 mich sollt: So würde die Lieb Mit eifrigem Trieb Mich zwingen zu bleiben der einigen hold. So ist mir Sophia zur Liebsten erwählt, Die eine, die reine, Ist ewiglich meine, Die mir kein Geheimniß der Liebe verhält.54 Ich will dich in mich Nun bringen, mein Ich! Sagt, was mir bei meiner Vollkommenen fehlt? So bald ihr, Jungfrauen, sie werdet ersehn, So müßt ihr sie preisen, Und Ehre beweisen, Sie muß doch an Schönheit den Engeln vorgehn. Sie ist mir vertraut, Die himmlische Braut, Nach ihrem Bild werd ich vollkommen aufstehn.55 51 Hier im eigentlichen Sinne: glänzend (vgl. Deutsches Wörterbuch. Begr. von Jakob und Wilhelm Grimm, Bd. 8, Leipzig 1893, Sp. 2433–2437). 52 Vgl. Gal 1,8. 53 Keine der bekannten Bedeutungen des Wortes eingeben (Deutsches Wörterbuch, wie Anm. 51, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 184) passt für Arnolds Verwendung an diesem Ort. Das ist wahrscheinlich Absicht, um die Grenzen zwischen geschlechtlicher und mystischer Einigung verschwimmen zu lassen. 54 Zurückhält (Deutsches Wörterbuch, wie Anm. 51, Bd. 12 I, Leipzig 1854, Sp. 508–514). 55 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 126 f (Nr. 50: „Hohel. 6, 6.7.“).
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Natur Die Natur hat in der Betrachtung Arnolds nicht die Funktion eines Verweises, sei es als theologische via eminentiae,56 sei es emblematisch-lehrhaft. Arnold versucht, sich der Natur sympathetisch zu nähern. Sie spricht nicht zu ihm, sondern in ihm. Auffallend ist die Betonung der natürlichen Schönheit als solcher, der wieder jede objektive Konkretion fehlt. Auch dieses lässt sich verstehen aus dem einseitigen Interesse an der Affiziertheit des wahrnehmenden Subjektes. Die Natur als das unverdorbene Gegenüber zur menschlichen „Welt“ der Zivilisation erweckt das Gefühl für Schönheit, die aber erst im Geist selbst in vollem Maße erfasst und dann einzig begehrt wird: Ich sehe an die Schönheit in den Wercken Die GOtt gemacht / und sprach: wie schön seyd ihr! Da konnt ich bald die Antwort in mir mercken / Das sind wir auch / doch der uns diese Zier Geschencket hat / ist denen / die ihn fassen / Noch tausendmahl so schön und Anmuths=voll / Das bist du GOtt / wie kan ich dich denn lassen / Du bist es nur / den ich begehren soll.57
Entsprechend kann die Natur aufgefordert werden, in das menschliche Loblied einzustimmen: Ihr Berg und Thäler, helft mir singen, Besingen meines Jesu Preis, Der unter so geringen Dingen Mich doch so lang zu schützen weiß.58
Anders als in der Barockemblematik, in der einzelne Elemente der Natur auf Gottes Eigenschaften und Taten verweisen, sieht Arnold in der Natur unmittelbar Jesus (oder die Weisheit oder Sophia) gegenwärtig. Die Natur zeigt sich selbst als von Jesus durchdrungen. Oder umgekehrt: Die geistliche Meditation „in meinem Haus j In aller Still“ imaginiert Jesus in lieblichen Gestalten der Natur. So wird die Natur spiritualisiert und das Geistliche zur ästhetischen Erfahrung. Es ist ja wahr, im Feld siehts lieblich aus, Wo alles sich mit Blumen kann bezieren; Ich aber geh auch hier in meinem Haus In aller Still mit meinem Lamm spazieren. Da scheint die Sonn, da singt die Nachtigall, 56 Gegen Stählin (wie Anm. 3), S. 86. 57 Stählin (wie Anm. 3), S. 87. 58 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 77 (Nr. 17: „Völliger Abschied.“).
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Da grünts und blühts, da rauschen frische Quellen; Ich seh da nichts, als Jesum überall, Sein Engel=Chor erfüllet alle Stellen. Er ist die Sonn, die Liebe, der Gesang, Dabei die Hoffnung grünt und reine Wasser springen, Ist das nicht gnug bei meinem schönen Gang? Er soll mich ja zum Paradiese bringen.59
Arnolds Paradiesische Spazier-Gedanken besingen daher nicht nur ein jenseitiges Ziel, sondern eine bereits erfahrbare, fruchtbare und göttlich durchdrungene Natur. Mein Bräutgam, führe mich spazieren In dein versprochnes Paradies, Daß ich der Früchte recht genieß, Die du mir selbst zum Mund willst führen; Laß mir den neuen Frühling grünen, Thu deines Reichthums Schäze auf. Ich kann nicht mehr dem Alten dienen, Drum fördre bald den neuen Lauf. Da will ich schöne Früchte brechen, Da sol der sonst erschrocknen Hand Kein Dorn noch Distel sein bekannt, Die andre noch mit Schmerzen stechen. Dein holder Blick sind meine Rosen, Mein Sträußchen deiner Kleider Ruch, Dein Gnadenwort mein Liebekosen Mein Weg und Ziel dein starker Zug. […] Wie strecken sich die schönen Wiesen Der unumschränkten Gnad so weit! Hier ist nur meine Ruh bereit, Hier kann ich Schatten gnug genießen, Deß ich so lange hab begehret; Nun sitz ich bei dem Lebensbaum, Und weiß, mir werde nie gewehret Zum süßen Schlaf der sichre Raum. […] Mein Bräutgam, zeuch mit allen Kräften Mich in die neue Frühlingswelt! Nimm weg, was mich noch etwan hält Von dieser Eitelkeit Geschäften! Indessen lass mich deiner warten, 59 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 281 f. (Nr. 184) („Spaziergang mit Jesu“).
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Markus Matthias Ists doch bei dir ohn dem schon ja. In jenes Paradieses Garten Sing ich dafür : Hallelujah!60
Keusche Liebe Arnold thematisiert und poetisiert eine keusche erotische Liebe. Sie wird charakterisiert durch die Intensität des Gefühls (maximale Steigerung), durch das erotische Spiel, das auf Vereinigung zielt und eine Vereinigung, die dadurch vollkommen ist, dass sie ohne Ende zu sein scheint und dass sich die beiden Subjekte in ihr verlieren, mithin auch stumm werden. In dieser Erfüllung ist die reine Liebe gleichsam Rückführung zu Gott, Vermehrung der himmlischen Liebesflamme. So spielen die lieblichen Buhlen zusammen / Und mehren im Spielen die himmlischen Flammen / Das eine vermehret des anderen Lust / Und beyden ist nichts als die Liebe bewust. Sie kämpffen im Lieben / Sie geben sich eigen / Die Vielheit muß endlich dem Einen hin weichen. Er singet; sie spielet; er küsset / sie hertzet / Er lehret / sie höret: er lachet / sie schertzet. Er saget: wie bist du mir ewig erkohren! Er ruffet: du bist mir zur Freude gebohren! Die beyde verdoppeln das Echo in Ein / Und schreyen: mein Freund ist vollkommentlich mein! Echo: Ich mein! So recht / so vermehrt sich der göttliche Schein!61
Mag der vorletzte Vers mit seinem barocken Inszenierungstrick und der gedichteten Regieanweisung nicht unserem Geschmack entsprechen, wird man doch zugeben müssen, dass Arnold die Auflösung der Liebenden in dem Einen und die damit einhergehende Sprach- weil Subjektlosigkeit geistreich symbolisiert hat. Frauenbild Die Probe aufs Exempel für meine These, dass Arnold in der Gestalt der Sophia die reine Liebe hypostasiert hat, macht aber eigentlich erst die entschieden erotische Dichtung, die der Herausgeber Ehmann nur in einem eigenen, un60 Gottfried Arnolds … Lieder (wie Anm. 12), S. 67–69 (Nr. 13: „Paradiesische Spazier-Gedanken“); vgl. ebd., S. 74–76 (Nr. 16: „Eintritt in die Einsamkeit“). 61 Gottfried Arnold in Auswahl. Hg. von Erich Seeberg, München 1934, S. 268. Zu beachten ist, wie die Metaphorik changiert zwischen dem Spiel der Mutter mit dem Kind und dem erotischen Spiel.
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gebundenen, beim Verleger besonders zu bestellenden Anhang mitteilt. Hier geht es Arnold darum, eine reine Liebe mit Bildern der sinnlichen Erotik in der Weise zu gestalten, dass diese Gedichte zumindest für den Wiedergeborenen nicht anstößig sind. In der Aufnahme von Bildern und Versen aus dem Hohenlied dichtet Arnold Lieder, in denen verschiedene Formen der Liebe eines Mannes zu einer Frau vorkommen. Dabei vermischen und vereinigen sich die lebensgeschichtlich begründeten Frauenbilder des Mannes (Jungfrau, Braut, Mutter), womit Arnold dann auch – für den fleischlichen Menschen – in tabuisierte Regionen vorstößt. Ferner wechselt innerhalb der Gedichte – zum Teil ohne klare dramaturgische Hinweise – das Geschlecht des lyrischen Ichs, indem manchmal die Liebe eines Mann gegenüber der göttlichen Sophia, ein anderes Mal die Liebe der Braut gegenüber dem Hohelied-Bräutigam beschrieben wird. Schließlich vermischen und vereinigen sich auch die Lustgefühle des lyrischen Ichs. Sie wechseln von der Lust an lebensspendender Nahrung der Mutterbrust bis zur geschlechtlichen Lust. Hier schmieg ich mich, o Weisheits=Quell, An deiner Liebe Brüste, Die mir ganz unbetrübt und hell Einflößen Himmels=Lüste Der unerschaffnen Lieblichkeit Die nur ein reines Herz erfreut. Du kannst den Brunn der Sünden stopfen, Mich waschen mit der Liebe Tropfen. Hier schmeck ich deine Süßigkeit, Wenn sich der Mund anleget, Daß deiner Gnaden Lauterkeit Dem Geist sein Theil zuträget. Ich saug getrost, ich ziehe scharf, Und trink so viel ich nur bedarf Von reinen Himmels=Nectar=Flüssen, Die meine Menschheit ganz durchsüßen. Hier find ich Milch, hier find ich auch Die starke Jünglings=Speise, Wie ichs in meinem Hunger brauch Auf meiner Pilgrims=Reise. Und wenn ich satt getrunken hab, Daß sich der matte Geist erlab, So spiel ich, wie ein Kind mag scherzen, Und kann die zarten Brunnen herzen. […] Bald sind sie mir ein Apfelbaum, Davon ich Frücht genieße:
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Markus Matthias Bald ein begrünter Gartenraum, Bald wasserreiche Flüsse: Wie schön ist deiner Brüste Zier, Sie starren voller Kraft von mir, Und möchten vor Begierd zerspringen, Mir Leben und Genüg zu bringen.62 Da werd ich ihr meine Einflüsse zuschicken, Sie wird an mein Herze die Liebes=Brust drücken: Wir werden uns halsen, wir werden uns küssen, Die süße Vermengung wird Liebe ausgießen. Ich werde ihr Wesen durchdringend tingiren. Die Menschheit zu ihrer Vergötterung führen, Ihr Funke des Lebens wird Flammen vermehren, Und alles Unreine wie Stoppeln wegzehren.63
Zu beachten ist, dass Arnold ausschließlich aus der Sicht des Mannes dichtet64 und es für eine Frau kaum die Möglichkeit gibt, sich mit dem lyrischen Ich Arnolds zu identifizieren.65 Der junge Mann Arnold sucht das weibliche Wesen, weil es als abstraktes Wesen eine zentrale Funktion (Gegenstand reiner Liebe) innerhalb seines Erlösungs- oder Vergöttlichungsprozesses hat. Ziel ist die individuelle Wiederherstellung des prälapsarischen Adams, nicht der Eva. Eine entsprechende Erlösung der Frau vollzieht sich für Arnold offenbar nur durch deren Verbindung mit einem Mann.66 62 Gottfried Arnold: Geistliche Minne=Lieder (wie Anm. 47), S. 4–6 (Nr. 3: „zu Hohel. 4 10.“). 63 Gottfried Arnold: Geistliche Minne=Lieder (wie Anm. 47), S. 3 f., hier: S. 4 (Nr. 2: „Hohel. 3,5.“). 64 Alverdes (wie Anm. 6), S. 55 f., betont die lyrische Eigenart der beiden typisch männlichen Charaktere Kuhlmann und Arnold: „Die dichterische Vertretung der Mannesgestalt“ erfolgt bei Arnold „durch den wirklichen Mann [= Arnold als Sänger], während die Braut als eine wirkliche Frau gedacht ist – im Gegensatz zu der Braut-Unnatur der zahlreichen Dichter männlichen Geschlechtes, die ihren Bräutigam Jesus besingen“. 65 Ich teile daher nicht die Ansicht von Park (wie Anm. 6), S. 138 f., Anm. 62: „Christus und Sophia sind bei Arnold als die identische Funktion der Heils-Figuren zu betrachten. Dennoch sind beide als unterschiedliche imaginative Bezugspersonen für die Seele des Menschen von erheblicher Bedeutung, weil der Weg zur Vergötterung auch die (Wieder-)Herstellung der Androgynität als ein Hauptziel einschließt, und dazu bieten sie sich alternativ als Bezugsfiguren für das jeweils andere Geschlecht an.“ Obwohl es richtig ist, daß Christus und Sophia identifiziert werden können, gibt es bei Arnold doch eine deutliche Prävalenz für die Erlösung des Mannes durch das weibliche Wesen. Die Brautmystik lässt sich ja allgemein auf die menschliche Seele beziehen und steht daher beiden Geschlechtern als Identifikationsfigur offen. 66 Ich kann diese Funktionalisierung nicht als „misogyne Genesisinterpretation“ bezeichnen (vgl. Barbara Hoffmann: Libertäre Sophienmystik und keusche Ehe. Wandel und Kontinuität weiblicher spiritueller Vorbilder im radikalen Pietismus [17. und 18. Jahrhundert]. In: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.–18. Jahrhundert. Hg. von Claudia Opitz [u. a.], Zürich 1993, S. 191–209, hier: 200), eher als „ungebrochen männliche Perspektive“ (Albrecht [wie Anm. 8], S. 117).
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V. Arnolds Lyrik als Bekenntnislyrik Arnolds Lyrik ist formal – nicht sprachlich – den Barockpoetiken (Opitz, Buchner) verpflichtet. Sie ist innerhalb dieser poetischen Schemata Ausdruck einer persönlich-bekenntnishaften Weltsicht und ist in dieser Hinsicht neuartig in der Geschichte der deutschen Lyrik insgesamt, nicht nur in der Geschichte der geistlichen Lyrik. Dem entspricht Arnolds pietistisches PoetikVerständnis, wonach ihm seine Gedichte und Lieder in einer entsprechenden Stimmung unvermutet in die Feder oder auf die Schreibtafel geflossen seien.67 Arnold lehnt daher auch jede nachträgliche Korrektur ab und möchte seine Lyrik überhaupt nicht als kunstfertig, nämlich gekünstelt, verstanden wissen, weil diese Weise den Dichter „auff ungereimte / ärgerliche und unverantwortliche Sachen“ verfallen lasse.68 Damit macht sich Arnold zugleich für die Forderung nach einer Reform der „Teutsche[n] Poesie“ stark.69 Vor dem Hintergrund des dargestellten Sophia-Motivs zeigt sich Arnolds Lyrik als sprachlicher Ausdruck einer religiös tingierten Weltsicht, in der die reine und dann auch unvergängliche Liebe, die sich als Schöpfungskraft in der Natur (Magie) zeigt, sich in einer ebensolchen Fähigkeit des Menschen zur Liebe spiegelt oder mit ihr vereint. Man könnte daher von einer „Liebesfrömmigkeit“ sprechen, wie sie Goethes Faust ergreift, als er zum ersten Mal in der reinlichen (!) Stube von Gretchen ist, und die geeignet ist, ihm seine frühere Wollust zu vertreiben.70 Die biblische Sprache (Kanaans) und die pietistischen Neubestimmungen der Wiedergeburt oder des neuen Menschen begründen oder ermöglichen jedenfalls den Ausdruck eines neuen Lebensgefühls.
VI. Quellen Erstdrucke
Das Geheimniß Der Göttlichen SOPHIA oder Weißheit, Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold, Leipzig 1700 (Faksimile-Neudruck mit einer Einführung von Walter Nigg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963). 67 Gottfried Arnold: Göttliche Liebes=Funcken, Auß dem Grossen Feuer Der Liebe Gottes In Christo Jesu entsprungen, Frankfurt a.M. 1698, Vorrede, § 2 (Gottfried Arnold in Auswahl. Hg. von Erich Seeberg, München 1934, S. 261). 68 Gottfried Arnold: Göttliche Liebes=Funcken (wie Anm. 67), Vorrede, § 2 (Gottfried Arnold in Auswahl. Hg. von Erich Seeberg, München 1934, S. 262). 69 Gottfried Arnold: Göttliche Liebes=Funcken (wie Anm. 67), Vorrede, § 2 (Gottfried Arnold in Auswahl. Hg. von Erich Seeberg, München 1934, S. 262 f.). 70 Vgl. Albrecht Schöne: Kommentare. In: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Kommentare, Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 114), S. 292.
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Göttliche Liebes=Funcken, Auß dem Grossen Feuer Der Liebe Gottes In Christo Jesu entsprungen / Und gesammlet von Gottfried Arnold, Frankfurt a.M. 1698 21701. Neue Göttliche Liebes=Funcken und Ausbrechende Liebes=Flammen in fortgesetzten Beschreibungen der grossen Liebe GOttes in CHristo JESU dargestellet von Gottfried Arnold. Dieses Werk G. Arnolds erschien als Anhang zu der Schrift: Das Geheimniß Der Göttlichen SOPHIA oder Weißheit, Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold, Leipzig 1700. Poetische Lob= und Liebes=Sprüche von der Ewigen Weißheit nach Anleitung Des Hohenlieds Salomonis. Nebenst dessen neuen Übersetzung und Beystimmung der Alten; ausgefertiget von Gottfried Arnold. Diese Schrift G. Arnolds erschien als Anhang zu der Schrift: Das Geheimniß Der Göttlichen SOPHIA oder Weißheit, Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold, Leipzig 1700. Unpartheyische Kirchen und Ketzer=Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688, Mit Königl. Pohlnischen, Churfürstl. Sächsischen und Churfürstl. Brandenburgischen PRIVILEG IIS, Franckfurt am Mayn 1729 (Reprografischer Nachdruck: Darmstadt 1967).
Ausgaben (chronologisch)
Gottfried Arnolds geistliche Lieder, zum ersten Mal gesammelt und bearbeitet von Albert Knapp, Stuttgart-Cannstadt 1845. Gottfried Arnolds sämmtliche geistliche Lieder mit einer reichen Auswahl aus den freieren Dichtungen und einem Lebensabriß desselben. Ein Beitrag zur christlichen Hymnologie und Mystik, hg. von Karl Christian Eberhard Ehmann, Stuttgart 1856. Gottfried Arnold, Geistliche Minne=Lieder. Hg. von K[arl] C[hristian] E[berhard] Ehmann. Stuttgart 1856 (ungebunden).71 Gottfried Arnold: Liebesfunken. Ausgewählte Gedichte. Hg. von Rudolf von Delius. Stuttgart [1920].
71 Vgl. Gottfried Arnolds sämmtliche geistliche Lieder mit einer reichen Auswahl aus den freieren Dichtungen und einem Lebensabriß desselben. Ein Beitrag zur christlichen Hymnologie und Mystik. Hg. von Karl Christian Eberhard Ehmann, Stuttgart 1856, Vorrede, S. IVf.: „Wären freilich alle, oder auch nur die meisten Arnold’schen Lieder so angethan, daß man eine solche Warnungstafel darüber hängen müßte, so hätte ich, nicht blos aus Rücksichten des Geschmacks, sondern vornehmlich um des Gewissens willen, nicht gewagt, sie wieder ans Licht zu ziehen. Dem aber ist glücklicherweise nicht also; vielmehr theilt nur eine verhältnißmäßig geringe Zahl derselben den erotischen Charakter des Hohenliedes. Aber auch diese Minderzahl durfte weder unterdrückt noch verändert werden, weil sonst dem Charakterbilde der Arnold’schen Poesie und Mystik gerade der hervorstechendste Grundzug fehlte, und somit die vorliegende Sammlung auf den Charakter der Vollständigkeit und Originalität, welchen sie beansprucht, von vornherein verzichten müßte, und auf das Niveau einer Auswahl nach subjectiven Grundsäzen und daher von zweifelhaftem Werth herabsänke. Um indeß auch denjenigen gerecht zu werden, die in Arnolds Liedern Erbauung suchen, aber damit die von der sinnlichen Liebe entlehnten Bilder und Ausdrücke nun einmal unvereinbar finden, habe ich die Auskunft getroffen, daß die eigentlichen geistlichen Minnelieder in einen abgesonderten Anhang zusammen gedruckt wurden, der von dem H. Verleger nur auf besonderes Verlangen abgegeben wird.“
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Gottfried Arnold in Auswahl. Hg. von Erich Seeberg. München 1934 (Mystiker des Abendlandes, Bd. [3]) Gottfried Arnold. In: Das Zeitalter des Pietismus. Hg. von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch, Bremen 1965 (Klassiker des Protestantismus, Bd. 6), S. 142–144.
Wolfgang Miersemann
„anstößige und höchst verdächtige Redens=Arten“. Orthodoxe Kritik an sprachlicher „Neurung“ in Liedern des Pietismus Die Sprache pietistischer Lieddichtung ist ein Gegenstand, dem man in der germanistischerseits betriebenen Pietismusforschung bis jetzt nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Erstaunlicherweise, bildet doch das Lied die im Pietismus mit Abstand am meisten gepflegte poetische Gattung. Mit seinen nach Tausenden zählenden neuen Liedtexten und Hunderten neugeschaffenen bzw. umgebildeten Melodien erscheint der Pietismus nicht zuletzt als eine Singbewegung1 in der Nachfolge liedkultureller Bestrebungen der Reformation. Bezeichnenderweise sind nicht wenige Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts heute noch besonders als Lieddichter bekannt: Joachim Neander, Johann Jacob Schütz, Bartholomäus Crasselius, Christian Friedrich Richter, Gerhard Tersteegen oder Philipp Friedrich Hiller, um hier nur einige zu nennen. Zudem sei daran erinnert, dass solche Repräsentanten des Pietismus wie Spener und Francke selbst als Liedschöpfer hervorgetreten sind und ein anderer Exponent wie Zinzendorf bis heute nicht nur in vielen Gesangbüchern, sondern auch in Lyrikanthologien als Lieddichter vorkommt. In wie vielen Sprachen erklingen heutzutage Lieder wie Neanders „Lobe den Herren“ oder Crasselius’ „Dir, dir, Jehova, will ich singen“! Die außergewöhnliche Fernwirkung vor allem halleschen „geist=reichen“ Gesangs habe ich selbst bei einem Gottesdienst in der lettischen Hauptstadt Riga genauso erfahren können wie bei einem solchen in einer kleinen dänischen Dorfkirche – besonders aber in der Begegnung mit Gästen der Franckeschen Stiftungen aus Südindien, die eindrucksvoll Zeugnis zu geben vermochten von der dort bewahrten Lebendigkeit „Hallischer Lieder“, wie sie, von halleschen Missionaren ins Tamilische übersetzt, einen interessanten Aspekt jenes ersten protestantischen Missionsunternehmens darstellen, das vor genau 300 Jahren begann und dessen wir als Dänisch-Hallische Mission gerade in diesem Jubiläumsjahr gedenken. Wie derartige Übersetzungen erst in jüngster Zeit stärkere Beachtung finden,2 so hat man auch die Sprachform ihrer Vorlagen – und damit komme 1 Vgl. dazu das instruktive Nachwort von Christian Bunners zu dem von ihm herausgegebenen Band: Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 6), S. 145 ff. 2 Vgl. hierzu – außer der Pionierarbeit von Steffen Arndal: „Den store hvide Flok vi see …“. H.A. Brorson og tysk pietistisk vækkelsessang, Odense 1989 (Odense University Studies in Literature,
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ich auf meinen Ausgangspunkt zurück – bislang nur selten einer genaueren Untersuchung gewürdigt.3 Dabei ist das pietistische Lied und seine Sprache von Anbeginn als etwas durchaus Eigenes, etwas Neues wahrgenommen worden, wie ich im Folgenden anhand kritischer Reaktionen auf die Verbreitung speziell halleschen „geist=reichen“ Gesangs zeigen will. Indem ich das Thema von dieser Seite aus angehe, bietet sich hier nicht allein die Gelegenheit, einen Eindruck von der Heftigkeit einstiger Auseinandersetzungen um Ausdrucksformen solchen neuartigen „geist=reichen“ Gesangs zu vermitteln. Zugleich lassen sich von dieser Kritik aus recht gut Wege weiterer Forschung zum pietistischen Lied und seiner Sprache aufzeigen.
I. Wie dem allmählich erstarkenden Pietismus insgesamt ist auch seiner aufblühenden Liedkultur aufseiten der lutherischen Orthodoxie eine überaus massive Gegnerschaft erwachsen. Diese äußerte sich in handfestem Druck auf Produzenten und Rezipienten pietistischer Gesangbücher ebenso wie in zahlreichen Manifesten wider den sich zunehmend regenden Liedergeist der neuen Frömmigkeitsbewegung. Innerhalb der nach 1690 flutartig anschwellenden antipietistischen Literatur bilden Stellungnahmen gegen die Liedkultur der Frommen denn auch eine eigene Gruppe, die mit einer Reihe ihrer wichtigsten Texte hier erstmals in den Blick genommen werden soll, nachdem einige der zu dieser Gruppe zählenden Schriften bisher – teils von mir selbst – nur einzeln behandelt worden sind. Dabei beschränke ich mich allerdings auf den Zeitraum zwischen den frühen Neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts und den Mittdreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts, d. h. auf jenen Zeitraum, Bd. 24) – eine Reihe entsprechender Beiträge zu dem Tagungsband: „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Hg. von Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch, Tübingen 2008 (Hallesche Forschungen, Bd. 20). 3 Aus der älteren einschlägigen Forschungsliteratur ist besonders Paul Alverdes’ leider ungedruckte Münchener Dissertation von 1921 „Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus“ von Bedeutung, während die 1932 im Druck erschienene Heidelberger Dissertation „Die Stilmittel im Kirchenlied des Pietismus“ von Erich Ernst Roth nur geringen Wert hat. Als wichtige Erträge neuerer Forschung verdienen vor allem drei Arbeiten Erwähnung: die in der zweiten Hälfte Lieddichtungen Gottfried Arnolds und Nicolaus Ludwig von Zinzendorfs analysierende Habilitationsschrift von Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus, Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 154), sowie die Tagungsbeiträge von HansJürgen Schrader: Hortulus mystico-poeticus. Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens ,Blumengärtlein‘. In: Gerhard Terstegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. von Manfred Kock, Köln 1997, S. 47–76, und: Zinzendorf als Poet. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 134–162.
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der hymnologisch besonders geprägt ist durch die Entstehung und Verbreitung halleschen „geist=reichen“ Gesangs mit dem zweiteiligen „Freylinghausen“ von 1704 und 1714 als dessen wichtigstem Zeugnis. Auseinandersetzungen um liedkulturelle Zeugnisse anderer – zeitgleicher oder späterer – Ausprägungen des Pietismus bleiben hier also außer Betracht. Zunächst ein chronologischer Überblick über die Schriften, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Hingewiesen sei gleich an dieser Stelle darauf, dass es sich dabei um durchaus unterschiedliche Texte handelt, was Form, Umfang und Adressatenkreis anbelangt. Neben Einzelveröffentlichungen stehen hier Texte, die in Publikationen periodischen Charakters oder als Teile eines Ganzen, als Vorbericht oder als einzelner Abschnitt eines Werkes, erschienen sind. Als Frucht akademischer Arbeit haben einige lediglich im gelehrten Diskurs ihren Platz, während sich andere durchaus an ein breiteres Publikum wenden. Sowohl die Verschiedenartigkeit der eingesetzten Textformen (Sendschreiben, Dissertation, Annotation, Traktat, Gutachten, Pamphlet) als auch die der involvierten Institutionen (Schule, Universität, Kirchenbehörde, Landesregierung, Magistrat) zeigt deutlich die Breite, in der orthoxerseits gegen den liedkulturellen Neuerungsgeist der Pietisten Front gemacht wurde. Wie ernst man diesen genommen hat, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sich hier zur Gegenwehr ausgesprochen hochrangige Kirchenmänner, ja die besten Köpfe der lutherischen Spätorthodoxie herausgefordert fühlten. (1) Am Anfang steht eine 1694 in Greifswald veröffentlichte 53-seitige Schrift von Conrad Tiburtius Rango (1639–1700), als Professor Primarius und Dekan der Theologischen Fakultät damals zugleich Rektor der Greifswalder Universität als auch „des Königl[ich] geistl[ichen] Constistorii Præsident“ sowie „des Herzogthums Pommern und Fürstenthums Rügen General-Superintendent“. Der Titel lautet Von der MUSICA, Alten und neuen LJEDERN / Sende=Schreiben – eine Gattungsbezeichnung, die sich hier auf den Einleitungsund Schlussteil gründet, während der Mittelteil lediglich den Wiederabdruck einer bereits Anno 1675. vor Sehl. Johann Krügers Gesang=Buch / Stettinischer Edition [vgl. DKL 167601] publicierten Vor=Rede darstellt. Dieses Sende=Schreiben von 1694 (DKL 169301)4 kann als das erste relevante Dokument orthodoxen Widerstands gegen die sich entfaltende pietistische Liedkultur gelten.5 (2) Der nächste Text antwortet bereits direkt auf das offiziell 1704, eigentlich aber schon 1703 im Verlag des Halleschen Waisenhauses herausgebrachte 4 Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Rango. 5 Vgl. Wolfgang Miersemann: Auf dem Wege zu einer Hochburg „geist=reichen“ Gesangs: Halle und die Ansätze einer pietistischen Liedkultur im Deutschland des ausgehenden 17. Jahrhunderts. In: „Geist=reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied. Hg. von Gudrun Busch und Wolfgang Miersemann, Tübingen 1997 (Hallesche Forschungen, Bd. 3), S. 11–80, hier S. 12–34.
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Geist=reiche Gesang=Buch (DKL 170404) von Johann Anastasius Freylinghausen,6 welches gemäß seiner herausragenden Bedeutung – meist als „Hallisches“, teils auch als „Glauchisches Gesangbuch“ bezeichnet – zum Hauptangriffspunkt orthodoxer Kritik an den neuen Liedern der Pietisten werden sollte. Betitelt ist der nur vier Seiten zählende Text mit Nöthige Anmerckungen über das neue Gesang=Buch des Hällischen Wäyssen=Hausses, und als Verfasser tritt der dazumal als „Pastor und Superint[endent] zu Delitzsch“ amtierende Valentin Ernst Löscher (1673–1749) auf, der diese Anmerckungen7 als Nr. III in das „XV. Zehen“ des 1706 in Leipzig und Magdeburg erschienenen „Dritten Theils“ seiner Evangelischen Zehenden GOtt=geheiligter Amts=Sorgen eingerückt hat. (3) Die dritte Schrift kommt als eine aus gymnasialer Disputationspraxis erwachsene Dissertation ausgesprochen gelehrt daher : De PROPAGATIONE HAERESIVM PER CANTILANAS heißt der Titel dieser 1708 in Coburg gedruckten Abhandlung von 14 Seiten, die den damaligen Theologieprofessor und Direktor des Coburger Gymnasium Academicum Casimirianum, Ernst Salomon Cyprian (1673–1745), zum Autor hat.8 Obwohl in dieser Abhandlung9 als einer „Dissertatio historico-ecclesiastica“ nirgendwo unmittelbar von Pietisten und deren Liedern die Rede ist, steht doch außer Frage, dass wir es hier gleichfalls mit einer – eben bloß indirekten – Anwort auf jenes Furore machende „neue Gesang=Buch des Hällischen Wäyssen=Hausses“ zu tun haben. (4) Ganz direkt wieder geht es um solcherart „geist=reichen“ Gesang in einem drei Jahre darauf erschienenen Text:10 dem – man höre und staune – 886 Zu diesem Hauptwerk pietistischen Gesangbuchschaffens vgl. ders.: Vom Werden einer Gesangbuchstadt. Entstehung und Aufstieg des „Freylinghausen“ im Kontext der Gesangbuchproduktion in Halle um 1700. In: „Weil sie die Seelen fröhlich macht“. Protestantische Musikkultur seit Martin Luther. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 22. April bis 23. September 2010. Hg. von Cordula Timm-Hartmann, Halle 2012 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 28), S 69–81. – Zitiert wird im Folgenden, unter Verwendung der DKLSigle Frey-G 1708 (vgl. DKL 170804), nach der 4. Ausgabe des Buches von 1708: Geist=reiches Gesang=Buch / Den Kern Alter und Neuer Lieder / Wie auch die Noten der unbekannten Melodeyen Und dazu gehörige nützliche Register in sich haltend; Jn gegenwärtiger bequemer Ordnung und Form / samt einer Vorrede / Zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung im Glauben und gottseligen Wesen / Zum viertenmal herauß gegeben von JOHANN ANASTASIO Freylinghausen / Past. Adj. HALLE / Gedruckt und verlegt im Wäysenhause / MDCCVIII. Mit Königl. Preuß. Privilegio. 7 Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Löscher. 8 Vgl. Wolfgang Miersemann: Ernst Salomon Cyprians Schrift „De propagatione haeresium per cantilenas“ von 1708 im Kontext der Kontroverse über neue geistliche Gesänge um 1700. In: Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Vorträge des Internationalen Kolloquiums vom 14. bis 16. September 1995 in der Forschungsund Landesbibliothek Gotha Schloß Friedenstein. Hg. von Ernst Koch und Johannes Wallmann, Gotha 1996 (Veröffentlichungen der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, Bd. 34), S. 167–186. 9 Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Cyprian. 10 Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Zeibich.
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seitigen „Vorbericht“ zum Baruthischen Gesang= und Gebet=Buch von 1711, welcher eine als Warnung für das Kirchenvolk gedachte Generalabrechnung mit „irrigen“ Liedern – ob katholischer, reformierter oder eben pietistischer Provenienz – darstellt und der auf immerhin acht Seiten unmittelbar von jenem „Hällischen Gesangbuch“ handelt. Als Verfasser zeichnet der Herausgeber des in Leipzig verlegten Buches,11 Christoph Heinrich Zeibich (1677–1748), dazumal „Past[or] und Superintendent zu Baruth“, einer kleinen Herrschaft in der Nähe von Bautzen, und am Ende seiner wechselvollen Laufbahn dann „dritter Professor der Theologie“ in Wittenberg.12 (5) Von Sachsen führt uns unser Überblick weiter nach Hamburg. Hier veröffentlichte der Königlich Dänisch-Norwegische Kirchenrat, Generalsuperintendent der Herzogtümer Schleswig und Holstein sowie Propst zu Rendsburg, Theodor Dassov(ius) (1648–1721), 1713 einen 56 Seiten umfassenden antipietistischen Traktat De pura doctrina,13 dessen letzter Abschnitt („CAPUT VII. Pura doctrina custoditur, si liber sacrarum cantionum Halæ A. 1710. excusus,14 propter cantilenas Pietisticas fanaticas & enthusiasticas rejiciatur“) auf drei eng bedruckten Seiten ebenfalls eine ins Einzelne gehende Kritik des Geist=reichen Gesang=Buches von Freylinghausen bietet. (6) Doch die bei weitem gewichtigste Kritik an diesem Buch liegt uns in einer 28-seitigen Schrift vor, die im September 1714 verfasst und 1716 in Frankfurt am Main und Leipzig publiziert wurde: Der Löblichen Theologischen Facultæt zu Wittenberg Bedencken über das zu Glauche an Halle 1703. im Wäysen=Hause daselbst edirte Gesang=Buch eingeholt und zum Druck befördert durch Hoch=Gräfliche Waldeckische zur Regierung Verordnete Land=Drost und Räthe – so der Titel dieser zwar häufig zitierten, kaum aber genauer analysierten Schrift,15 die gerade in Sachen Sprachkritik, neben Zeibichs „Vorbericht“ von 1711, besonders bedeutsam ist und als solche auch das dem Titel meines Beitrags vorangestellte Zitat hergegeben hat. Dieses Gutachten, das von offenbar antipietistisch gesinnten Regierungsbeamten der Grafschaft Waldeck in Auftrag gegeben worden war,16 firmiert unter dem Namen der 11 Der volle Titel lautet: Baruthisches Gesang= und Gebet=Buch / Einfältigen Christen zum besten Mit reinen und deutlich erklärten Lutherischen Liedern / auch kurtzgefasten Concordanzien / nicht weniger mit kurtzen und nöthigen Gebethen / so viel einem einfältigen Christen unentbehrlich / versehen / numehro auff ergangen gnädiges Ansinnen ausgefertiget von Christ. Heinr. Zeibichen / der heil. Schrifft Doct. Past. und Superintendenten zu Baruth. Leipzig / Bey Friedrich Lanckischens Erb. Anno 1711. 12 Vgl. Zedler, Bd. 61 (1749), Sp. 532. 13 Der volle Titel dieser im Folgenden mit Dassov 1713 abgekürzt zitierten Schrift lautet: De pura doctrina, Sanctissime custodienda, ad Dnos Præpositos, Seniores, Pastores, & Sacerdotes, fidei suæ commissos, cœlestis Veritatis Statores & assertores laudatissimos, Fraternum alloquium. Hamburgi, A. MDCCXIII. apud Christ. Liebezeit. 14 Gemeint ist hier die 5. Ausgabe des „Geist=reichen Gesang=Buches“ (vgl. DKL 171010). 15 Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Bedencken. 16 Vgl. dazu Ulrike Harnisch: „Ob man solches … öffentlich introduciren / und jederman ohne besonderes Aergernis in die Hände geben könne?“ Die Grafschaft Waldeck, die Theologische
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gesamten Wittenberger Theologischen Fakultät,17 wobei als federführend die damaligen Inhaber ihrer drei Professuren Gottlieb Wernsdorf (1668–1729), Caspar Löscher (1636–1718) und Martin Chladni (1669–1725) anzusehen sind.18 (7) Dagegen handelt es sich bei der folgenden, 1720 in Flensburg erschienenen Schrift19 im Umfang von 32 Seiten um ein erst jüngst wieder aufgefundenes Dokument. Hier lässt bereits der Titel nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: Treuhertzige WARNUNG vor die Qväckerische und Enthusiastische LJEDER / Welche Jm Hallischen Gesang=Buch / So Anno 1698.20 1703. gedruckt / und folgende Jahre wieder aufgeleget / und Anno 1719.21 vermehret heraus gegeben / Häuffig enthalten sind / Zur Ehre GOttes und Bewahrung der Schleßwig=Hollsteinischen Kirchen / für die Augen geleget. Autor dieses in 14 Thesen untergliederten Pamphlets ist ebenjener Theodor Dassov, der hier seine sieben Jahre davor im Traktat De pura doctrina begonnene Kritik am „Hallischen Gesang=Buch“ fortführt.22 (8) Die achte und letzte der hier herangezogenen Schriften hat nicht mehr Freylinghausens Liedsammlung selbst zum Gegenstand, sondern eines der vielen von ihr maßgeblich beeinflussten Gesangbücher, nämlich die 1731 von Johann Hermann Schrader (1684–1737) in der schleswigschen Stadt Tondern herausgegebene Anthologie mit dem – deutlich an den „Freylinghausen“ anknüpfenden – Titel Vollständiges Gesang=Buch, in einer Sammlung Alter und Neuer Geistreichen Lieder.23 Überschrieben ist dieser 1736 in Leipzig publizierte 54-seitige Text mit Schrifftmäßige Prüfung Des Jn Tondern gedruckten, und Bey dem Gottesdienst Zum öffentlichen Gebrauch eingeführten Gesang=Buchs, nach welcher Einige darinn enthaltene gefährliche Jrrthümer
17 18 19 20 21 22
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Fakultät Wittenberg und das Geistreiche Gesangbuch von Johann Anastasius Freylinghausen. In: Hof- und Kirchenmusik in der Barockzeit. Hymnologische, theologische und musikgeschichtliche Aspekte. Hg. von Friedhelm Brusniak und Renate Steiger, Sinzig 1999 (Arolser Beiträge zur Musikforschung, Bd. 7), S. 128–166, hier S. 129 f. Vgl. Bedencken (s. Anm. 15), S. 28: „Geschrieben zu Wittenberg am 17. Septemb[er] 1714. Dechand, Senior Auch übrige Doctores und Professores der Theologischen Facultät daselbst“. Vgl. hierzu auch Anm. 40. Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Dassov 1720. In Rede steht hier ein in Darmstadt erschienener, in die Gesangbuchgeschichte als Züehlsches Gesangbuch eingegangener gleichnamiger Vorläufer des „Geist=reichen Gesang=Buches“ von Freylinghausen. Gemeint ist hier die 11. Ausgabe des „Geist=reichen Gesang=Buches“. Vgl. Näheres zu dieser Streitschrift bei Wolfgang Miersemann: Ein „Liebes=Poet“ als geistlicher Dichter. Zu Menantes’ Gedicht Bey Betrachtung der Liebe GOttes. In: Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Hg. von Cornelia Hobohm, Bucha b. Jena 2006 (Palmbaum-Texte zur Kulturgeschichte, Bd. 21), S. 181–222, hier S. 204–206. Vgl. hierzu den Beitrag von Steffen Arndal: Der „Freylinghausen“ und das Vollständige Gesang=Buch, in einer Sammlung Alter und Neuer Geistreichen Lieder (Tondern 1731). In: „Singt dem Herrn nah und fern“ (wie Anm. 2), S. 399–412.
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Kürtzlich entdecket werden. Der Text selbst24 ist anonym überliefert, als Herausgeber aber hat sich der damalige Hauptpastor an St. Jacobi in Hamburg, Erdmann Neumeister (1671–1756), zu erkennen gegeben, von dem auch das achtseitige Vorwort25 stammt.
II. In all diesen Schriften nun zielt die Kritik wesentlich – wenn auch mehr oder minder betont – auf die Sprache der ins Visier genommenen Lieder. Zurückweisung durch solche Gesänge vermittelter „irriger Lehre“ und Aufweis in ihnen verwendeter „anstößige[r] und höchst verdächtige[r] Redens=Arten“26 bedeutet den Autoren geradezu ein und dasselbe – entsprechend einer einfachen Gleichung, die hier als Argumentationsmuster figuriert und die da lautet: „neue und fremde Lieder“27 = „neue Theologie“28 = „ungewöhnliche“,29 „zweydeutige“ und „verfängliche“30 Sprache. Und in der Tat ist im pietistischen Lied der Zusammenhang zwischen theologischer und sprachlicher „Neurung“31 unschwer zu erkennen. Ganz offensichtlich wird dieser Zusammenhang in der häufigen Verwendung von Leitbegriffen bzw. charakteristischen „Redens=Arten“ der Pietisten. Von „wahre[r] Frömmigkeit“,32 „buß=kampff“,33 „tapfferm ringen“34 und „heiligung“35 ist hier genauso die Rede wie von der „neue[n] creatur“,36 vom „neue[n] mensch[en]“,37 von „erneurte[n] sinnen“38 und „neue[m] geistes=leben“.39 Typisch Erweckliches zeigt sich schon sehr deutlich an manchen Incipits: „AUf / ihr Christen / CHristi glieder!“, „AUf! triumph! es kommt die stunde“, „MAche dich / mein geist / bereit“ oder „WAchet auf ihr faulen Christen!“ Wie die neue „Lehre“ übrigens auch in den Titeln nicht weniger Rubriken des „Hallischen Gesangbuches“ klar zum Ausdruck kommt: „Vom wahren und falschen Christenthum“, „Von der wahren Busse und Bekehrung“, 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Schrifftmäßige Prüfung. Im Folgenden abgekürzt zitiert mit Neumeister. Bedencken, S. 9. Schrifftmäßige Prüfung (s. Anm. 24), S. 3. Bedencken, S. 11. Schrifftmäßige Prüfung, S. 6. Bedencken, S. 6. Ebd., S. 9. Frey-G 1708 (s. Anm. 6), S. 690 (Nr. 443, Str. 4). Ebd., S. 615 (Nr. 398, Str. 9). Ebd., S. 487 (Nr. 317, Str. 3). Ebd., S. 142 (Nr. 97, Str. 28) Ebd., S. 81 (Nr. 62, Str. 1). Ebd., S. 1119 (Nr. 727, Str. 8). Ebd., S. 779 (Nr. 499, Str. 1). Ebd., S. 1128 (Nr. 733, Str. 6).
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„Von der geistlichen Wachsamkeit“, „Vom geist[lichen] Kampf und Sieg“, „Von den Klagen Zions“, „Von der Hoffnung Zions“, um es bei einigen Beispielen zu belassen. Doch damit ist hier nur eine gewissermaßen äußere Seite benannt. Orthodoxe Kritik am pietistischen Lied und seiner Sprache geht tiefer, indem sie ihren Gegenstand durchaus in seiner poetischen Eigenart in den Blick nimmt. Vor Augen halten muss man sich dabei, dass wir es hier mit einer Gegnerschaft zu tun haben, die sich selbst als Hüter eines großen dichterischen Erbes versteht, in welchem das evangelische Lied in seinen verschiedenen Ausprägungen vom Lutherischen Choral bis hin zu Paul Gerhardts Geistlichen Andachten (1666/67) einen besonders kostbaren Schatz darstellt.40 Und nach Gerhardt sind die dichterischen Kräfte auf seiten der Orthodoxie41 ja keineswegs erloschen. Gleich zwei ihrer hier als Kritiker das Wort ergreifenden Repräsentanten, Valentin Ernst Löscher und Erdmann Neumeister, haben sich selbst als Lieddichter einen Namen gemacht (und sind als solche – neben etlichen der von ihnen bekämpften hallesch-pietistischen Schule – ebenfalls noch im heutigen Evangelischen Gesangbuch vertreten). Neumeister hat sogar mit immerhin fünf Liedtexten in das so befehdete „Hallische Gesang=Buch“ Eingang gefunden,42 was ganz klar auf – erst noch näher zu untersuchende – Beziehungen zwischen pietistischem und orthodoxem Lied jener Zeit hindeutet. Ja gerade bei Neumeister haben wir es mit einem als Neuerer par excellence auftretenden orthodoxen Poeten zu tun, wenn wir an seine Kantatendichtungen und deren enormen Einfluss auf die weitere Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik denken. Zu erinnern gilt es überdies daran, dass eine Hochburg der Orthodoxie wie die in den hier thematisierten Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielende Wittenberger Universität auch im Bereich der Dicht- und Redekunst einige Bedeutung erlangt hatte – und zwar nicht zuletzt durch den Paul Gerhardt-Lehrer August Buchner (1591–1661), dem bemerkenswerterweise einer unserer orthodoxen Lieder-Wächter, Theodor Dassov, von 1678 bis 1690 in der Wittenberger Poetik-Professur 40 Vgl. Bedencken, S. 4 f. (Abschnitte III. und IV.). – Bermerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die verschiedenen Vorreden in den zeitgenössischen Ausgaben des Wittenberger Gesangbuches, angefangen von der Abraham Calovs über die Caspar Löschers bis zu der Gottlieb Wernsdorfs, die alle drei in der von mir herangezogenen Edition des „Wittenbergischen Gesang=Buches“ von 1733 im Anschluss an die drei kanonischen Vorreden Luthers abgedruckt sind, hier noch ergänzt durch eine – wiederum vom Gedanken der Abwehr „irriger“, in ihrer Diktion „dunckel[er]“ Lieder bestimmte – „Neue Vor=Rede“ von Johann Georg Abicht (1672–1740), der seit 1730 gleichfalls als Theologieprofessor in Wittenberg wirkte. 41 Vgl. den Tagungsband: Orthodoxie und Poesie. Hg. von Udo Sträter, Leipzig 2004 (LeucoreaStudien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, Bd. 3). 42 Vgl. Wolfgang Miersemann: Lieddichtung im Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und Pietismus: Zu Erdmann Neumeisters Weißenfelser Kommunionbuch Der Zugang zum Gnaden=Stuhl JEsu Christo. In: Weißenfels als Ort literarischer und künstlerischer Kultur im Barockzeitalter. Hg. von Roswitha Jacobsen, Atlanta – G.A. 1994 (Cloe, Bd. 18), S. 177–216, bes. S. 178 f. und 197 f.
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gefolgt war43 – ein Amt, das übrigens auch der junge Gottlieb Wernsdorf angestrebt hatte.44 An Kompetenz mangelte es den Kritikern hier also keineswegs. Um so größere Aufmerksamkeit verdient eine ihrer Feststellungen, die nachgerade als kritisches Fazit angesehen werden kann, nämlich die gegen Ende jenes Wittenberger Bedenckens zu findende, sich hier auf eine einzelne Liedstrophe45 beziehende Bemerkung, dass „dergleichen Expressiones“ aus einem „Enthusiasm[us] Poetic[us]“ herrührten.46 Mit ebendieser Bemerkung stößt die Kritik zum Wesen „geist=reichen“ Gesangs vor, wie er von (halleschen) Pietisten verstanden wurde. Gesang ist hier nämlich – um den dänischen Germanisten Steffen Arndal mit seiner prägnanten Deutung des programmatischen Frontispizes zu Freylinghausens Geist=reichem Gesang=Buch zu zitieren – Teil eines kosmischen Kreislaufes, einer emanatio und einer remanatio. Die Gnade der Erweckung geht von Gott aus, wandelt sich in den von der Erweckung ergriffenen Menschen in Gesang und erreicht als ein Lob, das sich mit dem Gesang der Erlösten und der Engel vermischt, wieder seinen Ausgangspunkt. Das Ganze ist von Gott durch den Heiligen Geist gewirkt. Wie die Erweckung und die Wiedergeburt einzelner Menschen stammt auch der Gesang ursprünglich von Gott. Er ist es, der sich im Munde der Menschen ein Lob bereitet. Die pietistischen Lieder sind nicht Menschenwerk, sie sind von Gott durch den Heiligen Geist hervorgerufen und damit grundsätzlich inspiriert. Das eben ist das „Geist=reiche“ an den pietistischen Liedern.47 43 Vgl. hierzu Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1507–1817, Köln u. a. 2002, S. 298. 44 Vgl. Dietrich Meyer : Wernsdorf, Gottlieb. In: BBKL, Bd. XV (Ergänzungen II), Sp. 1464–1472, hier Sp. 1464. 45 Es handelt sich dabei um Strophe 4 („Was ist es / daß hier und dort mich noch anficht j der eltern / der brüder / der kinder gesicht? j weg / weg ihr verwandten / j ihr freund’ und bekanten! j schweigt alle nur stille / ich kenn euch ja nicht.“) des bei Freylinghausen unter der Rubrik „Von der Freude im heil. Geist“ als Nr. 459 (Frey-G 1708, S. 716 f.) abgedruckten amphibrachischen Jesusliedes „O JEsu / mein Bräut’gam! wie ist mir so wohl“, das mit seinem Text auf Heinrich Müller zurückgeht, hier aber in einer von Ahasverus Fritsch stammenden Bearbeitung zusammen mit einer neuen, vermutlich im Umkreis des halleschen Pietismus entstandenen „enthusiastischen“ Melodie erscheint. Vgl. dazu die eingehende Studie von Christian Bunners: „O JESU / mein Bräut’gam / wie ist mir so wohl!“ Heinrich Müller (1659) und das Lied Nr. 459 in Johann Anastasius Freylinghausens Geist=reichem Gesang=Buch (1704). In: Pietismus und Liedkultur. Hg. von Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch, Tübingen 2002 (Hallesche Forschungen, Bd. 9), S. 81–94, hier bes. den Schlussteil, S. 92–94, mit seiner Erörterung der Kritik des Wittenberger Gutachtens an diesem Lied und deren Bedeutung für das Erfassen des Zusammenhangs zwischen originär halleschem „geist=reichem“ Gesangs und älteren Gesangstraditionen. 46 Bedencken, S. 20. 47 Steffen Arndal: Inspiration und subjektive Erfahrung. Zum Begriff des „Geist=reichen“ bei Johann Anastasius Freylinghausen und Christian Friedrich Richter. In: „Geist=reicher“ Gesang (wie Anm. 5), S. 157–170, hier S. 159.
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Grundsätzlich geistgewirkt heißt nun allerdings nicht, dass hier nicht verschiedene Grade der Inspiriertheit unterschieden würden. Und so gilt die Aufmerksamkeit der orthodoxen Kritiker gerade den besonders „geist=reichen“ Liedern, wie sie im Wittenberger Bedencken fortlaufend nach ihren „Freylinghausen“-Nummern aufgeführt sind in einer gut 17-seitigen Liste, die außer zahlreichen jeweils als Beleg dienenden Liedzitaten durchgängig kritische Kurzkommentare bietet. Gemäß jener Feststellung eines „Enthusiasmus poeticus“ als Brunnquell „falsche[r] Lieder“48 finden sich hier immer wieder Bemerkungen zu den inkriminierten Texten wie „halten lauter Enthusiastisch Zeug in sich“,49 „voll von Enthusiastischen Entzückungen“50 oder „(scheinet) von einem Fanatischen Trieb herzu fliessen“51 – Bemerkungen, denen solche Urteile über die Sprache derartiger Texte korrespondieren wie „dunckel“,52 „abgeschmackt“,53 „seltsam“,54 „ungereimt“,55 „wunderlich“56 oder „hochtrabend“.57 Und am Schluss wird einem Erzzeugen für solcherart Dichtung wie dem „bekandten Arnold“ denn auch ausdrücklich ein „Geist der Verwirrung“ attestiert unter eindeutig kritischer Bezugnahme auf die Idee eines „unmittelbahre Eingebungen von dem Heiligen Geist“58 empfangenden Poeten, wobei als endgültiger Beweis ein zwar nicht in das „Hällische Gesang=Buch“ eingegangenes, aber doch aus einer seiner Hauptquellen stammendes Musterbeispiel lieddichterischer Glossolalie dient.59 Worauf hier nun Sprachkritik ganz konkret zielt, lässt sich besonders gut an Christoph Heinrich Zeibichs „Vorbericht“ zu dem von ihm edierten Baruthischen Gesang= und Gebet=Buch von 1711 erkennen, so dass dieser Text einen durchaus eigenen Wert besitzt. Anders als im Wittenberger Gutachten werden hier nämlich Liedern entnommene „Pietistische Redens=Arten“60 quasi in Abbreviatur, d. h. meist aus dem Verszusammenhang herausgelöst und fast ohne Zwischenkommentar, präsentiert. Entstanden ist damit ein „Redens=Arten“-Katalog, der eindrücklich Charakteristika neuartiger Liedsprache der Pietisten herausstellt und in seiner Gedrängtheit durchaus etwas Sa48 Neumeister (s. Anm. 25), S. 4. – Vgl. hierzu Miersemann: Lieddichtung (wie Anm. 42), S. 209–214. 49 Bedencken, S. 15. 50 Ebd., S. 26. 51 Ebd., S. 17. 52 Ebd., S. 10. 53 Ebd., S. 13. 54 Ebd., S. 15. 55 Ebd., S. 19. 56 Ebd., S. 20. 57 Ebd., S. 24. 58 Ebd., S. 27. 59 Es handelt sich hier hier um einen 56 Strophen umfassenden, „Ein Geheimniß=volles Triumph=Lied“ betitelten Text mit dem Incipit „JAuchzet / ihr Brüder! im Himmel wirds klar“, der den Schlussgesang des 1701 in Frankfurt am Main erschienenen „Anderen Theils“ der Arnold’schen „Göttlichen Liebes=Funcken“ bildet. 60 Bedencken, S. 18.
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tirisch-Komisches hat, in welchem sich bereits eine Form der Sprachkritik ankündigt, wie wir sie dann ausgeprägt bei der Gottschedin in ihrer Pietisterey im Fischbein=Rocke (1736) finden. Ausgangspunkt ist hier die von Zeibich dem Leser gestellte rhetorische Frage: „Lieber / worzu dienen die ungewöhnlichen und wegen Mystischer / und andern verborgenen Absichten verdächtige Redens=Arten?“61 Worauf der besagte Katalog folgt: So singet man: So werd ich mich denn endlich scheiden / von ichheit / zweyheit und von beyden. […] Halt uns in Enge / biß uns mag die Tauff im Geist und Feur durchziehn; Jn GOttes Abgrund sich versencken; Die Sinnen einwerts kehren / daß die Bilde der Dinge zerrinnen; Jns göttliches Wesen eindringen; Von Freudenreichen Strahl verzuckt / und in seinen Blitz eingedruckt werden; Das Füncklein der Seele soll ins Feuer der Gottheit einfallen / und mit dem Leibe in GOtt eine Flamme seyn; Das ewge Wollust=Meer soll uns erträncken / da soll man zerfliessen / sich selbsten nicht wissen / sondern sich darinnen verlieren; Diffluo, liqvesco; Die Seraphinen zerrinnen im Liebes Feuer; Das neugebohrne Leben ist GOtt selbst wesentlich / und das will sich wieder in den Brunnen begeben / der GOtt nur ist; Jn GOtt einsincken; Christus zerschmeltzt in seinem Blute; Jn dem die Menschheit Christi uns angezogen ist / ist das Hochzeit=Kleid in uns wesentlich bereit; Die Christen sind eine Funcke und Flämmlein aus göttlicher Flamme; Wenn die Hoffnung Zions kömmt / wird ein grosser Freuden=Schein dz liebe Volck überspreuten; Jch bin in GOtt verschlungen; Lehre mich kehren in innern Grund / laß mich in Wesen der Gottheit genesen; Wenn werd ich in der süssen Fluth zerfliessen und verschwinden? o wonnigl[ich] Gut / zeuch doch mein gantzes Wesen in deinen Abgrund ein.62
In der Tat ist hier manches von dem eingefangen, was an pietistischer Sprache allgemein und an der „geist=reichen“ Gesangs im besonderen auffällt: angefangen von ungewöhnlichen Substantivierungen mit „-heit“ oder „-keit“ über bestimmte Wortzusammensetzungen, oft Elemente eines neuartigen, stark von Feuersymbolik geprägten Liebesvokabulars, bis hin zum häufigen Einsatz von Verben mit solchen Präfixen wie „durch-“, „ver-“, „zer-“ oder „ein-“, die hier ein wichtiges Mittel zum Ausdruck intensiver, nicht selten mystischer Glaubenserfahrungen darstellen.63 Zu einer Art Rundumschlag, der an Violenz nichts zu wünschen übrig lässt, gerät schließlich auch die zweieinhalb Jahrzehnte darauf in jener Schrifftmäßigen Prüfung des Tondernschen Gesangbuches geübte Sprachkritik. Nach einem Durchgang durch zehn in dieser Sammlung gefundene „irrige, ge61 Zeibich (s. Anm. 10), S. 29. 62 Ebd., S. 30 f. 63 Vgl. hierzu August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2., erg. Aufl., Tübingen 1968, und Hans-Jürgen Schrader : Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter in Verbindung mit Hartmut Lehmann u. a. Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/1), S. 55–81.
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fährliche und verführische Lehrsätze“64 richtet der anonyme Autor im XI., letzten Kapitel „Die Fanatische Enthusiastische Redens=Arten“ sein Augenmerk ganz auf bestimmte Spracheigentümlichkeiten der für das Buch charakteristischen Liedtexte, ausgehend von der Feststellung, dass „ausser und neben diesen“ verworfenen „Lehrsätzen“ (in bemeldetem Gesangbuch) noch andere ungewöhnliche, und von denen Schwärmern entlehnete Redens=Arten vorgetragen (werden), welche aber wie die obige durchzugehen, viel zu weitläufftig seyn würde.65
Auf immerhin sechs Seiten sind in diesem Schlusskapitel neun solcher „Redens=Arten“ in der Weise aufgelistet, dass der ungenannte „Prüfer“ für jede einzelne – „Die thierische wilde Krafft“,66 „Die Eigenheit“,67 „Annihilation oder Vernichtung“,68 „Sich selbst verlassen von der Creatur scheiden“,69 „Sich selbst verliehren“,70 „Die stille Wüste“,71 „Einkehren in die Stille, und das Führen in die Verborgenheit durch die Abgeschiedenheit“,72 „Ausgehen aus sich selbst“,73 „Einkehren in GOtt“74 – akribisch Belege samt Rubrik-, Liednummern- und Strophenangabe beibringt, so dass sich uns hier ein eigenes Kompendium orthodoxer Kritik an sprachlicher „Neurung“ in pietistischer Liedpoesie darbietet, handelt es sich doch bei den beanstandeten Texten großteils um solche, die gerade durch den „Freylinghausen“ Verbreitung gefunden hatten.75 Höchst interessant ist nun, in welchem thematischen Umkreis sich die Auseinandersetzung mit derartigen „ungewöhnlichen, und von denen Schwärmern entlehneten Redens=Arten“ verdichtet. An dieser Stelle endlich gerät eine Gruppe von Texten in den Blick, die von Anfang an, seit Rangos Sende=Schreiben von 1694, im Mittelpunkt orthodoxer Polemik gegen „geist=reiche“ Lieddichtung gestanden hat. Die Rede ist hier von Liedern chiliastischer Prägung, wie sie bei Freylinghausen vor allem unter der Rubrik „Von der Hoffnung Zions“ erscheinen und wie sie sich nicht allein mit den 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Schriffmäßige Prüfung (s. Anm. 24), S. 4. Ebd., S. 48. Ebd. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 52. Ebd. Ebd. Ebd. Solche hier kritisierten Texte sind der Reihenfolge nach: „Mein gnug beschwerter Sinn“ von Christian Friedrich Richter, „So führst du doch recht selig, Herr, die deinen“ sowie „Jehovah, nimm doch meine Kräfte hin“ von Gottfried Arnold, das anonym überlieferte Lied von der Selbstverleugnung „O der alles hätt’ verloren“, „Ich will einsam und gemeinsam“ von Christian Andreas Bernstein und „Erleucht mich, Herr, mein Licht!“ von Ernst Wilhelm Buchfelder.
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Namen solcher hier stark vertretenen Radikalpietisten wie Johann Wilhelm Petersen und Gottfried Arnold verbinden, sondern auch mit denen hallescher Pietisten wie Johann Heinrich und Sophia Tranquilla Schröder, Bartholomäus Crasselius, Christian Friedrich Richter, Michael Müller oder Freylinghausen selbst. War bei Rango 1694 ein einzelnes Lied dieser Prägung Gegenstand der Polemik gewesen, so stehen derartige Gesänge bereits seit Löschers Nöthigen Anmerkungen76 als eine eigene Gruppe im Fokus orthodoxer Beobachtung der pietistischen Liedproduktion – besonders deutlich erkennbar an jener Dassov’schen Treuhertzigen Warnung von 1720, indem deren Schlussteil77 unter „THESIS XIV. & ultima. Das Tausend=jährige Reich ist nicht zu hoffen“ eindringlich vor einer ganzen Reihe entsprechender „falscher Lieder“78 warnt, um so – wie in der folgenden Schlussbitte formuliert – „allen Rotten und Aergernissen [zu] wehren“. Und wieder zeichnet sich dabei der Vorbericht von Zeibich durch seine Art der Registrierung von sprachlich „Ungewöhnlichem“ aus, wenn es hier unter Verweis auf Lieder jener so zentralen Rubrik des „Hällischen Gesangbuches“ heißt: wie schreyet man nicht / es sey ein Babel in der Evangelischen Kirche? Wie bläset man nicht schon lang / daß Babels Mauren sollen geschleiffet werden? das 1000jährige Reich soll par force kommen / die es anjetzo lästern / sollen so dann mit Reu / bekennen / daß Zions Reich weder Traum noch Narrethey gewesen.79
Worauf der Baruther Superintendent einen kurzen, sich eines Luther-Zitats bedienenden Zwischenkommentar einbringt, um von da aus wiederum be76 Löscher (s. Anm. 7), S. 193–195.: „Jnsonderheit ist das Capitul von der Hoffnung Zions voll von ausdrücklichen Chiliastischen Liedern / darinnen auch unsre Kirche als Babel ausgeschrien wird“, worauf Zitate aus vier Liedern – aus Nr. 538 („Erit, erit illa hora“ von J.W. Petersen), 543 („JESU! hilff / schau doch in gnaden“ von J.H. Schröder), 546 („MEin JEsu / der du mich zum lust=spiel ewiglich“ von Johann Christian Lange) und 547 („NUn ruh’t doch alle welt und ist fein stille“ von B. Crasselius) – als „exempel“ folgen, die schließlich in der rhetorischen Frage münden: „Was wird hiermit anders befördert als Zerrüttung / Rotten und allerhand Jrrtümer?“. 77 Dassov 1720 (s. Anm. 19), S. 30 f. 78 Aus Freylinghausens „Geist=reichem Gesang=Buch“ sind hier aufgeführt die Nummern 516 („O Licht vom Licht! o Vaters Glantz!“ von J.A. Freylinghausen), 519 („ACh HErr! wenn kommt das jahr die deinen zu erlösen?“ von B. Crasselius), 525 („HErr JEsu! schau’ / wie deine feinde toben“ von Johann Caspar Schade), 526 („HJlff GOtt / mein HErr! wo kömmts doch her“ von Nathan Chytraeus [!]), 534 („AUf! triumph! es kommt die stunde“ von J. Chr. Lange), 539 („HERR! wenn wirst du Zion bauen“ von Joachim Lange), 541 („JAuchtzet all’ mit macht / ihr frommen!“ von S.T. Schröder), 543 („JESU! hilff / schau doch in gnaden“ von J.H. Schröder), 544 („IEsu! perpetuo cujus delicio“ von J.W. Petersen), 545 („LObet / ihr himmel! den Höchsten dort oben“ von M. Müller), 546 („MEin JEsu / der du mich zum lust=spiel ewiglich“ von J.Chr. Lange), 547 („NUn ruh’t doch alle welt und ist fein stille“ von B. Crasselius), 548 („O HErr der Herrlichkeit“ von J.W. Petersen), 553 („WAs ist doch diese zeit? was sind die leiden?“ von Bernhard Eberhard Zeller) und 673 („AUf leiden folgt die herrlichkeit“ von Peter Lackmann). – Vgl. dazu auch Dassov 1713 (s. Anm. 13), S. 54–56, bes. S. 56 (§ 10.). 79 Zeibich, S. 33. – Bezug genommen wird hier auf Strophe 4 des Liedes Nr. 554 „WAnn endlich / eh’ es Zion meynt“ von Johann Paul Astmann, Frey-G 1708, S. 875.
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sonders solche chiliastisch geprägten Lieder mit ihrem prophetischen Gestus ins Visier zu nehmen: Ein rechtgläubiger Theologus mummelt und kauet nicht / sondern er redet frey / mit freudigem Aufthun seines Mundes die Warheit heraus; Coxias heist einer / der mit der Sprache nicht recht heraus will. […] Warum setzt man vom Fall des Antichrists [in Rede steht hier eine Liedstrophe des halleschen Pietisten Michael Müller] nicht etwas deutlichers; doch / der folgende Vers giebt schon ein ziemliches Licht / da wir hier auf Erden den neuen Most u[nd] Freuden=Wein mit Christo zu trincken vertröstet werden.80 […] Anderweit schreyet man wieder viel von Babel / und von Victoria, wenn der HErr kommen wird; Lieber / warum erklärt man sich nicht / was es vor eine Zukunfft seyn soll? weils Lied auch so gar auff die Melodey : Mein JEsu / der du mich zum Lust=Spiel etc. gehet / mercket man leichte / wohin das freudige Zujauchzen gehöre [gemeint ist in diesem Fall wiederum ein Lied von Michael Müller].81 […] Das gantze Capitel von der Hoffnung Zions schmücke und ziere man / wie man wolle / die Untugend wird doch hervorleuchten. Man erwege noch folgendes. Man kauet und würget / ehe man etwas heraus bringet / wärs ein rechter Glaubens=Articul / müste er klar und hell vorzustellen seyn. Diese Hoffnungs=Lieder sind denen Himmels= und Jüngsten=Tags=Liedern contradistingvirt / und stehen denen Todes=Liedern vor / nun rathe man / was das vor Hoffnungs=Lieder seyn müssen? Unter andern Tituln lauffen doch noch alte Lieder mit unter : Aber hier sind lauter neue / nicht ein einig altes / so muß wohl eine neue Lehre darinne stecken / von der die alten Rechtgläubigen nichts haben singen können und wollen.82
Wird hier besonders das Kraftvoll-Lautstarke solcher „Hoffnungs=Lieder“83 als etwas „Ungewöhnliches“ registriert, so kommt damit endlich auch die musikalische Seite „geist=reichen“ Gesangs in den Blick, zumal von dieser bei Zeibich mit seiner Erwähnung einer jener vielen im Pietismus neugeschaffenen Melodien direkt die Rede ist. Verstehen lässt sich schließlich auch „geist=reicher“ Gesang erst, wenn man ihn in seiner poetisch-musikalischen Doppelgestalt, in seiner Einheit von Text und Melodie, betrachtet – eigentlich eine Binsenweisheit der Liedforschung, die es dennoch immer aufs neue – eben auch in der weiteren Forschung zum pietistischen Lied – zu beherzigen gilt. Hier nun sind es vor allem die Wittenberger Gutachter gewesen, welche die Bedeutung jener neuen Melodien erfasst und diese auch entsprechend scharf kritisiert haben.84 Auf die in der Literatur schon mehrfach behandelte Kritik85 80 Vgl. die Strophen 11 und 12 aus Müllers als Nr. 51 erscheinendem Neujahrslied „NUn das alte jahr ist hin“, Frey-G 1708, S. 63 f. 81 Vgl. Müllers unter Nr. 229 abgedrucktes Abendmahlslied „AUf / Seele / sey gerüst’t!“, Frey-G 1708, S. 334 f. 82 Zeibich, S. 33–36. 83 Ebd., S. 35. 84 Vgl. Bedencken, bes. S. 25 f. 85 Vgl. hierzu insbesondere Dianne Marie McMullen: Melodien geistlicher Lieder und ihre kon-
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will ich nicht näher eingehen, sondern nur den dabei entscheidenden Punkt herausheben, der als solcher für das Ganze orthodoxer Polemik gegen die neuen Gesänge der Pietisten besonders aufschlussreich ist. Wenn sich die Wittenberger hier so dezidiert gegen den tänzerischen Dreiertakt vieler Melodien „geist=reicher“ Lieder aussprechen, so heißt dies nämlich keineswegs, dass damit ein gänzlich neues Phänomen zum Gegenstand der Kritik geworden wäre.86 Zu bedenken gilt es dabei, dass es gerade ein Wittenberger Poetik-Professor wie August Buchner gewesen war, der sich gegen erheblichen Widerstand eingesetzt hatte für den Gebrauch des Daktylus und des Anapäst als metrischen Entsprechungen zum musikalischen Dreiertakt. Schon längst gab es daktylisches Versmaß und Dreiertakt nicht nur im weltlichen, sondern auch – wenngleich dort weitaus seltener – im geistlichen Lied.87 Was die Wittenberger in dieser Frage so heftig reagieren ließ, war der Umstand, dass hier ein gewissermaßen modisches Element musikalisch-poetischer Sprache weidlich genutzt wurde zur „Zier“ einer „neuen Lehre“, die in ebensolchem „Schmuck“88 unerhörte Wirkung zeitigte. Erst von daher ist es zu verstehen, weshalb bei ihnen derartige tänzerisch-beschwingte Gesänge89 unter das vernichtende Urteil „liederlich“ und „leichtsinnig“90 fallen – ein Urteil, zu dem sich bei Cyprian in seiner Traditionslinien knüpfenden Rückschau eine Parallele findet, wenn es dort – in deutscher Übersetzung – heißt: Ähnlicherweise [d. h. ähnlich wie die zuvor angeführten Gnostiker] blies auch Arius die Flöte, von dem Philostorgius sagt, als er sich von der Kirche entfernt hatte, habe er Seemanns-, Müller- und Wanderlieder verfasst und auch anderes nach bestimmten Melodien geschrieben und so die Seelen der Unerfahrenen, die Süßigkeit der Musik zu seiner Frevelhaftigkeit allmählich verführt. Denn er verwendete die sotadische Art des Gesangs, welche die Alten für die laszivste hielten.91
Ebenjene abzusehende Wirkungskraft „geist=reichen“ Gesangs war es gewesen, die schon Conrad Tiburtius Rango auf den Plan gerufen und ihn einen
86 87 88 89
90 91
troverse Diskussion zur Bach-Zeit: Pietistische kontra orthodox-lutherische Auffassungen im Umkreis des Geist=reichen Gesang=Buches (Halle 1704). In: „Geist=reicher“ Gesang (wie Anm. 5), S. 197–210. Vgl. ebd., S. 205–207. Vgl. dazu Bemerkungen im Rahmen einer exemplarischen Analyse eines Hohelied-Gedichts von Gottfried Arnold bei Dohm: Poetische Alchimie (wie Anm. 3), S. 252. Vgl. das in Anm. 82 nachgewiesene Zitat. Vgl. in diesem Zusammenhang den in der Erörterung liedgeschichtlicher Grundfragen überaus anregenden Beitrag von Gudrun Busch: Lieder in „liederloser Zeit“, oder: der „Freylinghausen“ (1704/1714) als wiederentdeckte Klammer zwischen zwei Jahrhunderten deutscher Liedgeschichte. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: „Singt dem Herrn nah und fern“ (wie Anm. 2), S. 1–53, hier bes. den Abschnitt 5.2.: Der verborgene Schwung der tänzerischen Rhythmen, S. 45–49. Bedencken, S. 7. Cyprian (s. Anm. 9), Bl. B2b.
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abgefangenen „Chiliastische[n] Brieff“92 publizieren lassen hatte, in dem die – im wahrsten Sinne begeisternde – Wirkung eines entsprechenden „Neue[n] Lied[es] der Pietisten“93 in einem Halberstädter Konventikel geschildert wird. Und bei diesem von Rango mit Text und Noten abgedruckten94 „Neuen Lied“ haben wir es genau mit jenem Titel zu tun, dessen ausgemacht tänzerische Melodie dann einem weiteren Kritiker, Zeibich, als Erkennungszeichen für den Gehalt eines anderen, auf ebendiese „Melodey“ zu singenden Liedtextes95 gilt. Gemeint ist hier das daktylische „Hoffnungs=Lied“ „MEin JEsu / der du mich zum lust=spiel ewiglich“,96 dessen Text den einstigen Francke-Schüler Johann Christian Lange zum Autor hat und von dem noch eine von Johann Wilhelm Petersen stammende Übersetzung ins Lateinische, „IEsu! perpetuo cujus delicio“,97 existiert.98 Auf ein weiteres „ungewöhnliches“ Ausdrucksmittel „geist=reichen“ Gesangs verweisen wiederum die Wittenberger Gutachter, wenn sie eine Reihe von „Hallischen Liedern“ aufs Korn nehmen, die „aus keinen Reimen / sondern einer prosaischen Rede bestehen“.99 Bei diesen nach Art der Psalmen gestalteten und entsprechend zu singenden prophetischen Texten handelt es sich durchweg um Dichtungen Petersens, die fast alle aus dessen im Verlag des Halleschen Waisenhauses erschienenen Stimmen Aus Zion (1698/1701) stammen. Gerade hier zeigt der Kommentar deutlich, dass es – wie bei den „springende[n] / hüpffende[n]“ Versfüßen100 – nicht die Form an sich ist, die zur Kritik herausfordert, sondern deren Verquickung mit einem „Fanatischen Geist“. Ausgehend von der Feststellung, dass dergleichen „Choral=Gesänge […] scheinen aus einer andern Sprache übersetzet zu seyn“, heißt es nach einem Zitat verschiedener Verse aus einem dieser Texte:
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Rango, Kolumnentitel S. 41. Ebd., Kolumnentitel S. 37–40. Ebd., S. 37–40. Vgl. wiederum das in Anm. 82 nachgewiesene Zitat. Frey-G 1708, S. 858–860 (Nr. 546). – Vgl. den Abdruck dieser Dichtung bei Bunners (s. Anm. 1), S. 39 f. (mit Kommentar S. 103–105), wie auch die Wiedergabe von Text und transkribierter Melodie dieses Liedes in der kritischen Neuedition des Freylinghausenschen Gesangbuches: Johann Anastasius Freylinghausen: Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar. Im Auftrag der Franckeschen Stiftungen zu Halle hg. von Dianne Marie McMullen und Wolfgang Miersemann. Bd. I: Geist=reiches Gesang=Buch (Halle, vierte Ausgabe 1708). Tl. 2: Text [Lied 396–758 / Melodien-Büchlein], Tübingen 2006, S. 785 f. Frey-G 1708, S. 856 f. (Nr. 544). – Drei Strophen dieser lateinischen Version mit jener signalartigen, bei den Frommen offenbar ebenso beliebten wie von orthodoxen Liederhütern gerügten „Melodey“ bietet eine als CD vorliegende Aufnahme pietistischer Gesänge in Originalfassungen: „CHriste / wahres seelen=Licht“. Lieder des Pietismus in Ausschnitten aus einem Konzert in den Franckeschen Stiftungen zu Halle mit der Lautten-Compagney Berlin. Vgl. auch das Vorkommen dieser (beiden) Liednummer(n) in Anm. 76 und 78. Bedencken, S. 24. Ebd, S. 7.
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Und so gehet es noch ferner fort / da man nicht sehen kan / wie eine Christliche Gemeine durch diese seltsame Gedancken […] erbauet werden kan / massen es nicht anders lässet / als ob ein gantzer Hauffe und Schwarm entzückter und Quäckerischer Leute aufgestellet würde / welche vor ihren Traum nicht wissen / was sie reden / thun oder vornehmen sollen. Dergleichen Lieder hat unsere Evangelische Kirche durch Gottes Gnade noch niemahls in ihre Gesang=Bücher bringen lassen / sondern sie ihren Tichtern überlassen.101
III. Gerade an dieses letzte Zitat lassen sich Überlegungen zur weiteren Erforschung speziell halleschen „geist=reichen“ Gesangs anschließen – Überlegungen, die von übergreifenden literaturgeschichtlichen Fragen bis hin zu spezifischen Problemen der Ausdrucksform pietistischer Lieder reichen. Die besondere Brisanz „geist=reichen“ Gesangs, wie sie sich in der Reaktion orthodoxer Glaubenswächter widerspiegelt, erwuchs offenbar daraus, dass sich hier deutliche Kirchen- und Sozialkritik bis hin zu offener Heterodoxie nicht in quasi geschlosserer Dichtung artikulierte, sondern eben in der populären Gattung des geistlichen Liedes, welches über eine Publikationsform wie das Gesangbuch weiteste Verbreitung finden und so zu einem Politikum werden konnte – wobei die Berufung auf entsprechende biblische „Exempel“102 wesentlich bedeutete, ein an diesen herausgestelltes Phänomen wie das der „Weissagung“103 auch im Hinblick auf das jüngst hervorgebrachte „neu Lied“104 geltend zu machen – und es so letzten Endes jeglicher Kritik zu entziehen. Und genau mit dieser heftig umstrittenen Frage neuerlicher, sich in „neuem“ „geist=reichem“ Gesang bekundender unmittelbarer göttlicher Offenbarungen sind zugleich dichtungsgeschichtlich besonders relevante Momente der im Pietismus entstandenen Liedpoesie angesprochen. Indem sich pietistische Liedschöpfer entschiedener denn je in der Geschichte des neueren geistlichen Liedes als Mittler göttlicher Botschaften darstellen, erscheint das von ihnen Mitgeteilte, so radikal kritisch bzw. heterodox es sich auch ausnehmen mag, als in höchstem Grade geweihte und somit unangreifbare poetische Rede. Dabei ist entscheidend, dass der hier wiederbelebte VatesGedanke keinesfalls bloß zu einer Art Schutzbehauptung diente, sondern außergewöhnliche religiöse Erfahrungen wie Visionen und Auditionen sehr wohl eine beträchtliche Rolle gespielt haben, so dass damit die barocke Vorstellung vom Poeta doctus weit in Richtung einer Restitution dichterischer 101 102 103 104
Ebd., S. 25. Frey-G 1708, Vorrede, Bl. [):(9b]. Ebd., Bl. ):(6a. Ebd., Bl. [):(10a].
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Intuition überschritten war. So sehr, dass davon die weitere – wesentlich auf Vergöttlichung des Poeten und seiner Schöpfungen hinauslaufende – Entwicklung des Dichterbildes wie des Dichtungsbegriffs nicht unbeeinflusst bleiben konnte. Ganz unverkennbar ist die Wirkung auf das „in den späteren dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts von Immanuel Jacob Pyra [als Vertreter des sogenannten älteren Halleschen Dichterkreises] begründete und dann vor allem von Friedrich Gottlieb Klopstock virtuos ausgeschriebene Konzept einer Heiligen Poesie“, wie es Joachim Jacob eingehend untersucht und dabei an dessen Begründer einen solchen Einfluss herausgestellt hat – unter nachdrücklichem Hinweis darauf, dass „die etwa gleichzeitig zur Heiligen Poesie verlaufende Ausprägung einer philosophischen Ästhetik“ durch (den Hallenser!) Alexander Gottlieb Baumgarten alles andere als eine „zufällige historische Parallele“105 gewesen sei. Und ist tatsächlich die „Nähe“ von Baumgartens „Bestimmung des Poetischen […] zu Pyras dichterischen Bemühungen“106 unübersehbar, so stellt sich im hier erörterten Zusammenhang speziell die Frage, inwieweit hierbei der gerade in Halle als Zentrum „neuen“ „geist=reichen“ Gesangs gegebenen unmittelbaren Berührung mit dem pietistischen Lied konstitutive Bedeutung zukommt, von daher des Ästhetikers Leitvorstellung „schöne[r] Fülle der Vollkommenheit“107 ebenso mitgeprägt ist wie des Laublinger Poeten Dichtungsauffassung im Allgemeinen und dessen Liedbegriff im Besonderen.108 Genauer nachzugehen wäre in diesem Kontext Fragen, wie sie sich ergeben aus solchen mit „geist=reichem“ Gesang eng verknüpften „sonderbahren“109 105 Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 144), S. 17. 106 Bibliothek mitteldeutscher Denker. Abt. I: Hallesche Aufklärer. Bd. 5: Laublinger Dichterkreis. Hg., bearb. und mit begleitenden Texten versehen von E. Bartsch und J. Sailer, Halle 1992, Einleitung, S. VII. 107 Vgl. die Überschrift des ersten, Baumgartens ästhetischer Theorie gewidmeten Kapitels der Studie von Jacob (wie Anm. 105), S. 17. 108 Vgl. z. B. Pyras Rede von „[s]ein[em] – „den Hochzeitliedern“ entgegengesetzten – „Lied“ im Proömium zum „erste[n] Gesang“ seines das Programm der Heiligen Poesie formulierenden Lehrgedichts „Der Tempel Der Wahren Dichtkunst“ (1737) oder auch die wenig später folgenden Verse: „Ich sang, fast gantz entzückt, in dunckler Einsamkeit j Zu meinem Saytenspiel des grossen Davids Psalmen, j Der sich den Dichterkrantz um sein gesalbtes Haar j Und königliches Gold durch seine Lieder flochte. j […] Die Engel stimmten selbst in seine Lieder ein, j Wenn er die Harfe schlug, daß Wald und Thal erklungen; j Wenn er voll Lust erzählt, wie sein Jehova ihn j An einen frischen Quell auf süsse Weide leite.“ Zitiert nach: Freundschaftliche Lieder von I.J. Pyra und S.G. Lange. Hg. von August Sauer, Heilbronn 1885 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken, Bd. 22), S. 84 f. 109 Vgl. hier den Einleitungssatz der „Vorrede“ Freylinghausens zu seinem „Geist=reichen Gesang=Buch“ (Frey-G 1708, Vorrede, Bl. ):(4a), welcher denn auch in dem – auffällig die Figur des Polysyndetons wie das Mittel des Paradoxons nutzenden – Bild eines „in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen / lieblichen Liedern übergeflossen[en] [Hervorh. vom Verf.]“ „Mund [es] der geistlich=Unmündigen und Säuglingen“ endet.
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Phänomenen wie ekstatischen – im Sprachgebrauch der Zeit meist als „Entzückungen“110 bezeichneten – Erscheinungen. Was also bedeutete die von pietistischen Liedschöpfern so prononciert behauptete Schaffenssituation religiöser Entrücktheit für die nachfolgende dichtungstheoretische und –praktische Entwicklung? Weiterzuverfolgen wären damit wichtige Ansätze, wie sie sich in Gerhard Kaisers großer Monographie zum Hauptvertreter Heiliger Poesie Klopstock. Religion und Dichtung insbesondere im dritten Kapitel „Klopstock und der Pietismus“ finden, und hier vor allem im zweiten Abschnitt „Der Prophet“, in dem „die Idee der prophetischen Inspiration“ als „eines der (für Klopstock) wichtigsten“ vom „Pietismus bereitgestellt[en]“ „Vorstellungsmodelle“111 unter anderem an signifikanten Bekundungen des Radikalpietisten Johann Wilhelm Petersen exemplifiziert wird. Welchen Autoren bzw. literarischen Strömungen neben oder nach den Vertretern der Heiligen Poesie boten sich unter dem Stichwort eines „Enthusiasmus sacer Poeticus“112 in ähnlicher Weise Anknüpfungsmöglichkeiten, welchen anderen dagegen Angriffsflächen für entschiedene Kritik? Welche Auswirkungen hatte jene Überzeugung von der Geistgewirktheit pietistischer Lieder speziell auf die zeitgenössische Diskussion einer so zentralen poetologischen Kategorie wie der der Fiktion? In diesem Zusammenhang gibt es zu denken, wenn gerade Baumgarten in seiner den Begriff der Ästhetik prägenden Hallenser Dissertation Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) unmittelbar im Anschluss an seine Ausführungen zum Thema „Erdichtungen“113 in vier Paragraphen114 auf den poetischen Charakter von „Weissagungen“ zu sprechen kommt und den Kommentar dazu mit den beiden Sätzen beginnt: „Zu weissagen geziemt dem Dichter ganz besonders. Deshalb findet auch die Heilige Schrift bei recht vielen Prophezeiungen Gefallen an der Poesie.“115 Von der These einer bis in das Gebiet ästhetischer Theoriebildung reichenden Wirkungsgeschichte „geist=reichen“ Gesangs will ich am Schluss nun wieder auf diesen selbst zurückkommen und mich einem hier formulierten leitmotivischen Gedanken zuwenden, der bei der Frage nach einer spezifisch pietistischen Poetik bzw. Ästhetik des Liedes geradezu heuristischen Wert gewinnt. Gemeint ist der Gedanke eines Singens aus „erneurten sinnen“, wie ihn der hallesche Pietist Johann Daniel Herrnschmidt mit programmatischer Verve zum Ausdruck gebracht hat, wenn es zu Beginn seiner im „Freyling110 Vgl. den in Anm. 108 zitierten Beginn von Pyras Erstlingswerk. 111 Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung, 2. durchges. Aufl., Kronberg/Ts. 1975, S. 133. 112 Vgl. ebd., S. 149. 113 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes]. Übers. und mit einer Einl. hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, S. 40–51 (§ LI.–LIX). 114 Vgl. ebd., S. 50–53 (§ LX.–LXIV.). 115 Ebd., S. 53.
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hausen“ erstveröffentlichten Psalmdichtung „SJngt dem HErrn nah und fern“ heißt: das alte ist vergangen / das neue angefangen. Lasst die erneurte sinnen ein neues lied beginnen!116
Zum einen kann diese Losung als Hinweis darauf verstanden werden, wie sehr pietistisch inspiriertes Singen, bei aller programmatischen wie praktischen Bezugnahme auf das Lied der Reformation, in der Kultur des Barock als einer Epoche höchster Sinnenhaftigkeit wurzelt. So ist von Steffen Arndal zu Recht betont worden, dass nicht Emotionalität an sich das entscheidene Charakteristikum des pietistischen Liedes darstellt: Die Dichter des Pietismus knüpfen sowohl an das Bußpathos Johann Rists an als auch an die Innerlichkeit Paul Gerhardts und die mystische Inbrunst Johannes Schefflers. Das Neue am pietistischen Lied darf also nicht in seiner Emotionalität gesucht werden. Bußfrömmigkeit, Innerlichkeit und mystische Inbrunst gab es schon vorher.117
Insofern erscheinen pietistische Liedschöpfer tatsächlich als unmittelbare Erben einer neuen, nachreformatorischen Entwicklung des geistlichen Liedes – einer Entwicklung, die bereits wesentlich gekennzeichnet war durch eine auf Intensivierung religiösen Erlebens abzielende Indiestnahme poetischer und musikalisch-rhetorischer Mittel der Affekterregung, wie sie sich im weltlichen Bereich bewährt hatten –wie übrigens auch das für pietistisches Musizieren so charakteristische Singen im Konventikel sehr wohl schon in der Praxis des geistlichen Barockliedes angelegt war. Zum anderen verweist jener Leitbegriff der „erneuerten sinnen“ insofern klar auf spezifisch Pietistisches, als hier das Partizipialattribut deutlich abhebt auf einen so zentralen Gedanken jener religiösen Reformbewegung wie den der Wiedergeburt als einen den Menschen von Grund auf „verneuenden“,118 als „Durchbruch“ verstandenen Vorgang radikaler Abkehr von der Sünde und völliger Hinwendung zu Gott. Wiedergeburt und damit einhergehende Heiligung erscheinen so als Vorbedingung für die Schöpfung des „neuen“, pietistischen „Liedes“ als eines Erweckungsliedes: Erst wiedergeborene, geheiligte Sinne als Inbegriff eines aufs äußerste geschärften, erweiterten Fühlens und Denkens sind imstande, jene neuen göttlichen Heilsbotschaften zu vernehmen und in Gesang umzusetzen. „Geist=Reichtum“ geht hier also gewissermaßen in „sinnen“-Reichtum auf, wie er zwar durchaus schon das barocke 116 Frey-G 1708, S. 779. 117 Arndal (wie Anm. 47), S. 159 f. 118 Vgl. unter dem Artikel „Änderung“ den Eintrag „Erneuerung, erneuern“ bei Langen (wie Anm. 63), S. 149.
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Erbauungslied geprägt hatte, nunmehr aber durch jene erneut bewiesene „sonderbahre Gnade“119 unmittelbarer Offenbarungen eine andere, höhere Qualität gewinnt. Dies wirkt sich in einer weiteren Emotionalisierung des geistlichen Liedes aus, welches so ästhetischer Gestaltung religiösen Erlebens neue Artikulationsformen, neue Ausdrucksmöglichkeiten erschließt. Weitaus stärker noch als davor bei Johann Rist, Paul Gerhardt oder Johannes Scheffler wird das Lied jetzt zum Medium künstlerischer Auslotung des Innern der gläubigen Seele, die sich nunmehr infolge von Wiedergeburt und Begabung mit „erneurten sinnen“ durch ein wesentlich reicheres, differenzierteres psychisches Leben auszeichnet. Daran knüpft sich insofern ein gesteigertes literar- wie musikhistorisches Interesse, als auf diese Weise jene kultische Urgattung des Liedes nicht bloß zu einem Sammelbecken jüngst von barocker Dichtung und Musik bereitgestellter Gestaltungsmittel wird, sondern zugleich zu einer Art Experimentierfeld für poetisch-musikalische Ausdrucksformen im Bereich des Geistlichen avanciert. Einen deutlichen Hinweis darauf bildet schließlich Freylinghausens Herausstellung solcher Eigenschaften des von ihm propagierten „geist=reichen“ Gesangs, wie sie mit Vokabeln wie „lieblich“,120 „süßiglich“,121 „fröhlich“122 oder, zusammengefasst, mit der barocken Prägung „majestätisch=lieblich=triumphirende Harmonie“123 auf den Begriff gebracht sind. (Übrigens wird in der Arnold-Würdigung der Reitz’schen Historie dem Autor der Göttlichen Liebes=Funcken und der Poetischen Lob= und Liebes=Sprüche mit gleichen bzw. ähnlichen Vokabeln als einem „Meister der teutschen Sprach“ gehuldigt, nämlich als einem „fürtreffliche[n] teutsche[n] Poet[en] […] / dessen Gedichte so lieblich / honigfliessend und zierlich / als innig und geistig […] erscheinen“.)124 Der Größe des „auffs neue“125 anhebenden „sonderbahren“ Heilshandelns Gottes Ausdruck zu verleihen, erfordert mithin die Aufbietung, ja Überbietung alles bis dahin Geschaffenen zur Darstellung von Inniglich-Schönem wie Erhaben-Feierlichem und Empfin119 120 121 122 123 124
Frey-G 1708, Vorrede, Bl. ):(4a. Vgl. Anm. 109. Frey-G 1708, Vorrede, Bl. [):(9a]. Ebd., Bl. ):(6b. Ebd., Bl. ):(6a. Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Bd. 2: Teile IV und V (1716/1717), Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, Bd. 29/2), S. 263. – Erörterungen zu den Lizenzen der Kunstschönheit in der pietistischen Poesie schon bei Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989 (Palaestra, Bd. 283), S. 35 und 350, und ders.: Die Literatur des Pietismus. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. In Zusammenarbeit mit Ruth Albrecht u. a. hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004, S. 386–403, hier S. 394 f. 125 Frey-G 1708, Vorrede, Bl. [):(10a].
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dungen des Frohlockens – gestalterische Anstrengungen, denen auf der anderen Seite, unter dem Aspekt „noch nicht zum Ziel“ gekommener Entwicklung,126 nicht mindere Bemühungen um die Artikulation von Affekten wie Angst, Klage oder Zerknirschung entsprechen. Eine generelle Aufgabe hier ansetzender Untersuchungen besteht also darin, jene erstrebte „Harmonie“ von neuer theologischer Aussage und neuer ästhetischer Form sowohl im Einzelnen, am jeweiligen Text, wie an der jeweiligen Melodie, als auch in deren Verbindung zu einem Lied-Ganzen aufzuweisen – oder aber das Nichteingelöste eines solchen Anspruchs festzustellen. Dabei dürfen allerdings bestimmte heute befremdlich anmutende Konkretionen jenes Drangs nach Überbietung tradierter ästhetischer Gestaltungsmittel nicht vorschnell mit Urteilen wie „gekünstelt“ oder „abwegig“ abgetan werden; vielmehr sollte hier grundsätzlich das Phänomen der Darstellungsnot bedacht werden, wie es sich in der Aporie mystischer Dichtung, das eigentlich Unaussprechliche in Worte zu fassen, in archetypischer Weise darbietet. Von spezifisch literaturwissenschaftlichem Interesse ist nicht zuletzt die dabei entwickelte besondere Bildlichkeit. Allgemein hat bereits Hans-Jürgen Schrader auf sprachschöpferische Leistungen speziell radikalpietistischer Autoren als lohnenden Gegenstand weiterer germanistischer Pietismusforschung abgehoben.127 Hier nun liegt der Schluss sehr nahe, dass sich Sprachschöpferisches besonders deutlich in „geist=reicher“ Lieddichtung niedergeschlagen hat. Nachzugehen gilt es dabei der Frage, inwieweit typische Bildlichkeit speziell der Sondergruppen der apokalyptischen Prophetie, der Inspiration, des Visionsberichts und des Bußrufs gerade in das von Freylinghausen propagierte „neu Lied“ eingegangen ist – ja dieses selbst sich darstellt als spezifische, in gewissem Sinne höchste Ausprägung solcher insgesamt für den Pietismus überaus charakteristischen Formen. In seiner Untersuchung Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten hat Ulf-Michael Schneider darauf hingewiesen, wie sehr gerade auch in extrem schwärmerisch-pietistischen Kreisen Lied- bzw. liedartige Dichtung eine Rolle gespielt hat: nämlich indem von ihm hier dem lyrischen Schaffen Johann Friedrich Rocks ein ganzes Kapitel gewidmet worden ist unter der ein bezeichnendes Gedicht-Zitat voranstellenden Überschrift „,die Lieder, Sie sind vor mich‘: Subjektivität und Individualität in der Lyrik Johann Friedrich Rocks“.128 So wie Schneider hier Zukunftsweisendes radikalpietis126 Ebd., Bl. ):():(4a. 127 Schrader: Literaturproduktion (wie Anm. 124), S. 44 f.; vgl. ders.: Die Sprache Canaan (wie Anm. 63). 128 Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra; Bd. 297), S. 108–126. – Ausführlichere Untersuchung von Rocks Poesie bei Hans-Jürgen Schrader: Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. von Alfred Messerli und Roger Chartier, Basel 2000, S. 351–382.
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tisch geprägter dichterischer Subjektivität und Individualität an einem markanten Beispiel aus der Hochphase des Pietismus dargetan hat – eben im Aufweis der Artikulation eines seiner „eigenen Zeit vorauseilende[n] Dichtungsverständnis[ses]“ und der Andeutung einer sich dann in der Idee eines „autonomen dichterischen Genies“ manifestierenden „neue[n] Rolle des Dichters“129 –, so wäre, denke ich, durchaus zu zeigen, wie in dem 1703 von Freylinghausen in klassischer Weise formulierten Konzept „geist=reichen“ Gesangs an sich schon dieserart literarhistorisch Neues angelegt war.
129 Ebd., S. 126.
Rüdiger Kröger
Die Gemeintage, Form und Funktion Beobachtungen zu einer Textsorte des Herrnhuter Pietismus*)
Was ist „Gemein-Sprache“ Der Begriff „Gemein-Sprache“ hat im Herrnhuter Kontext nicht allzuviel mit dem Begriff der Gemeinsprache, des Gemein-Deutschen, zu tun, wie ihn Hans-Jürgen Schrader gerne als Kontrast zur „Sprache Canaan“ gebraucht.1 Vielmehr bezeichnet der herrnhutische Begriff „Gemein-Sprache“ eben gerade die Sonderform, die Eigensprache der religiösen Gruppe, in ihrer Brüdergemein-Ausprägung. Wenn also im Folgenden von Gemein-Sprache die Rede ist, so ist die speziell herrnhutische Bedeutung gemeint. Es wurde mir von verschiedener Seite berichtet, dass die Herrnhuter (noch) in der Gegenwart eine auffallende Sprache haben. So stellt man bereits im Kindergarten mit dem weitgehenden Fehlen dialektaler Formen sprachliche Unterschiede zwischen den Herrnhuter Kindern und solchen aus den Nachbarorten fest. Auch erwachsene Herrnhuter stehen im Ruf, eine spezielle Ausdrucksweise zu besitzen. Vor etwa 80 Jahren wird in der Zeitschrift ,Herrnhut‘ eine kleine Diskussion über die „Gemein-Sprache“ geführt, in der einzelne spezifisch herrnhutische Ausdrücke und Begriffe thematisiert sind. Vieles wäre hier zur Erläuterung und Interpretation zu sagen, etwa zur Diskrepanz dessen, was mit „Herrnhuter“ bezeichnet wird, zur klassischen StadtUmland-Beziehung oder zur Ausbildung von Ausgleichssprachen etc. Mir ist hier jedoch nur wichtig, dass in der Sprache der Herrnhuter bis heute etwas Besonderes und Eigenständiges gesehen wird. Um so erstaunlicher ist daher die geringe Zahl an wissenschaftlichen Untersuchungen zu dieser Sprache. Zinzendorf beginnt seinen Strafbrief an die Brüder-Gemeinen, der im Jahr 1749 das Ende der sogenannten „Sichtungszeit“ einläutete, mit zwei die
*) Der Beitrag basiert auf dem Kenntnisstand des Jahres 2006; inzwischen erschienene Beiträge sind zwar in den Fußnoten nachgetragen, doch nicht mehr dem Inhalt nach eingearbeitet worden. 1 Zum Beispiel Hans-Jürgen Schrader : Die Sprache Canaan, Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4, hg. von Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann, Göttingen 2004, S. 404–427; desgl. erweitert in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung. 2001, Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17), S. 55–81.
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Sprache unmittelbar betreffenden Punkten.2 Er verbietet den Gebrauch von Diminutiva und Neologismen; jedoch nicht pauschal,3 sondern nur von nicht in der Bibel vorkommenden Diminutiva bzw. von Neologismen, die in einem anderen als von ihm selbst öffentlich eingeführten Sinn gebraucht werden. Der brüderische Sprachgebrauch scheint hier mit von zentraler Bedeutung zu sein, ja sogar über die Möglichkeit des Weiterbestehens der Gemeinschaft mitzuentscheiden. Die „Sichtungszeit“, in der sich die Brüdergemeine in den 1740er Jahren befand, gilt geradezu als Inbegriff sprachlicher Kreativität, die einige besondere Blüten trieb. Die sprachlichen Extravaganzen ließen sich die Gegner Zinzendorfs nicht entgehen und nutzten sie zur Diffamierung der Brüdergemeine.4 Zinzendorf beabsichtigte den Bruch mit diesen sprachlichen Traditionen und mit den Verhältnissen in der Gemeine, die seiner Ansicht nach dazu geführt hatten. Zinzendorfs Erben gingen seit den Sechziger Jahren recht pragmatisch mit diesem Kapitel ihrer Geschichte um: was inhaltlich oder sprachlich – sofern das denn einen Unterschied ausgemacht hat – anstößig erschien, wurde zum größten Teil kassiert. Doch manches entging ihnen. Einiges konnte oder sollte nicht gänzlich verschwinden, was aus heutiger Sicht zu äußerst bedenklichen Korrekturen der historischen Dokumente führen konnte: Passagen wurden geschwärzt, Auszüge gefertigt, die die als problematisch erachteten Volltexte ersetzten, andere Texte umgeschrieben. Letzteres betraf auch eine große Anzahl von Liedern. So wurden die in Strophen gegossenen religiösen Erfahrungen und Wahrheiten der voraufgegangenen Generation von Christian Gregor durch Umdichtungen für die eigene kirchliche Tradition „gerettet“.5 Bevor ich zu der Frage komme, was die Kennzeichen der Gemein-Sprache sein könnten, von der sich Zinzendorf 1749 lossagt, möchte ich noch einen Blick darauf werfen, wie die Zeitgenossen den Wandel selbst wahrgenommen haben. Offen bleiben muss allerdings, ob es tatsächlich einen grundsätzlichen Wandel oder nur einen graduellen oder auf bestimmte Bereiche beschränkten Wandel der brüderischen Gemein-Sprache gegeben hat. Einem kurzen Aufsatz über die Gemein-Sprache aus der Zeit nach Zinzendorfs Tod ist zu entnehmen, 2 Edition zuletzt bei Paul Peucker : „Blut’ auf unsre grünen Bändchen“. Die Sichtungszeit in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum, 49/50 (2002), S. 41–94, hier S. 81–82. Es wäre interessant, einmal zu untersuchen, in wieweit Zinzendorf sich selbst an diese Bestimmung gehalten hat. 3 Ein solches Pauschalurteil fällt beispielsweise – hinsichtlich der Diminutiva – Elisabeth Schneider-Böklen: „Amen, ja, mein Glück ist groß“. Henriette Louise von Hayn (1724–1782) eine Dichterin des Herrnhuter Pietismus, Herrnhut 2009 (Beiheft zu Unitas Fratrum, Bd. 17), S. 103 unter Berufung auf Beyreuther. 4 Vgl. Bettina Volz: „Mache du sie lächerlich und stäupe sie mit Verachtung“. Zur Kritik an den Herrnhutern und ihrer Sprache am Beispiel der schweizerischen moralischen Wochenschrift ,Der Eidsgenoss‘ (1749). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 1), S. 465–479. 5 Dietrich Meyer: Christian Gregor als Kantor, Liederdichter und Bischof der Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum, 47 (2001), S. 61–82.
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dass man sehr wohl an den Bezeichnungen für eigentümliche Sachen, Erfahrungen, Unternehmungen und Anstalten der Gemeine festhielt, während man Außenstehenden gegenüber auf den Gebrauch von Wörtern zu verzichten bereit war, die innerbrüderisch eine spezielle, andersartige Bedeutung beinhalteten, um „allen bösen Schein der Sonderlichkeit, wie alles dem Kommen des Reichs Gottes hinderliche Aufsehen zu vermeiden“.6 Zinzendorf hatte die von den Gegnern kritisierten Worte sammeln lassen und man war sich relativ sicher – weil die Gemeine einerlei Sprache zu sprechen geübt war –, die nunmehr als mißbräuchlich erkannten Ausdrücke allein durch die offizielle Nichtbenutzung beseitigen zu können.7 Im Aufsatz wird aber auch deutlich, dass es um mehr als anstößige Einzelwörter ging; es ging um die ganze Art und Weise der Rede: Es wurde damals im öffentlichen Vortrage, [um] das Gleichnis zu [ge]brauchen, immer weniger Hausbacken-Brod und endlich gar nichts als künstlich Gebackenes aufgetischt und man war, wie zu Athen, „auf nichts anders gerichtet, als immer etwas neues zu sagen und zu hören.“ Dieser Gusto zog Kranckheiten nach sich, aber doch nur bey den wenigsten. Die mehrsten blieben gesund und haben auch bey derselben Speise erfahren, was man vom Manna erzehlet, sie schmeckten das, wornach sie hungerte, sie schmeckten Ihn, das Brod vom Himmel, wie sie Ihn erfahren hatten und noch erfuhren. Daher waren sie, als das hausbackene Brod wieder in seinen gehörigen Werth und Gebrauch kam, so gleich wieder mit Leib und Seele drinnen. Ja einige haben bezeugt, sie hätten den Unterschied erst bey Bekantmachung der Abstellung des Vorigen recht wahrgenommen.8
Der Schreiber gibt schließlich der Verwunderung Ausdruck, wie kurzfristig der doch mehrere Jahre hindurch geübte Gebrauch habe umgestellt werden können.9 Auf den ersten Blick unorganisch folgt in der Handschrift ein Abschnitt, der „Von alten und neuen Liedern“ überschrieben ist und im wesentlichen aus Liedanfängen besteht. Die Verbindung stellt der Verfasser aber schon zuvor in einer Fußnote her, nämlich, dass „die Redens-Arten aus [den eigenen] Liedern ein Hauptstück deßen sind, was man Gemein-Sprache nennt“.
6 Herrnhut, Unitätsarchiv (im Folgenden: UA), R.28.88.b.2, pag. 6. 7 „Das wird in vielen Stücken durch bloße stillschweigen Abstellung und Nicht-Gebrauch oder durch eine bloße Anzeige und Erinnerung an die Gemeine es abzustellen, können bewerckstelliget werden.“ UA, R.28.88.b.2, pag. 10. 8 UA, R.28.88.b.2, pag. 9 f. 9 „Wer hätte gedacht, daß die Gewohnheit etlicher Jahre so bald hätte abgeschaft werden können?“, UA, R.28.88.b.2, pag. 11. Hermann Wellenreuther wies in der Diskussion in diesem Zusammenhang auf einige charakteristische Ersetzungen bei der redaktionellen Bearbeitung von Diarien um 1780 hin, die die Herausbildung einer einheitlichen Terminologie zeigen. Vgl. Hermann Wellenreuther / Carola Wessel (Hg.): Herrnhuter Indianermission in der Amerikanischen Revolution. Die Tagebücher von David Zeisberger 1772–1781, Berlin 1995, S. 82–88.
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Die Sprache der Lieder der Sichtungszeit Jörn Reichel hat 1969 eine ausführliche Darstellung zur Sprache der brüderischen Lieddichtung veröffentlicht10 und konnte dabei auf eine Vorarbeit Wilhelm Bettermanns11 vom Jahr 1935 aufbauen. Beide wenden sich schwerpunktmäßig der Sichtungszeit zu. Während sich Bettermann in seiner Studie zu Theologie und Sprache bei Zinzendorf ausschließlich auf Texte Zinzendorfs beschränkt, untersucht Reichel die Lieddichtung im 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch. Bettermann betrachtet die Ausdrücke und Begriffe lediglich in Abhängigkeit von den theologischen Äußerungen Zinzendorfs und gerät dabei in die Gefahr eines Zirkelschlusses, indem er die Theologie wiederum aus den Begriffen der Lieder ableitet. Das grundsätzliche Dilemma, vor dem auch Reichel stand und wir heute stehen, ist, dass Zinzendorf keine systematischen Äußerungen, weder zu seiner Theologie noch zu Sprache oder Dichtung hinterlassen hat, ja dass anscheinend jegliche Systematisierung seinem Wesen und Arbeiten fremd war : Zinzendorf begnügte sich nie mit dem Erreichten, sondern besserte ständig nach und widerrief gegebenenfalls die Gültigkeit früherer Ausgaben seiner Schriften und korrigierte die Neufassungen erneut. Die ideale Sprache hatte Zinzendorfs eigenen Äußerungen zufolge natürlich und kindlich einfältig zu sein. Er bemühte sich, „den der Sache entsprechenden Ausdruck zu finden und diese Ausdrücke immer wieder zu verbessern, aber eben der Sache wegen und nicht der Form wegen.“12 Gelehrsamkeit und gekünzelte Formulierungen verabscheute er. Zinzendorf diente für die von ihm angestrebte Sprache die Sprache der Luther-Bibel als Vorbild. Sie diente ihm auch bei der sprachlichen Gestaltung eigener Prosa und Dichtung als Muster. Die meisten der von ihm verwendeten Begriffe und Bilder hat eine Vorlage in der Luther-Bibel. Auch sein traditioneller Wortschatz basiert auf dem Luther-Deutsch seiner Zeit (Canstein-Bibel)13. Doch die dort gefundenen Ausdrücke und Bilder reichten ihm nicht aus. Reichel verweist auf Zinzendorfs Auffassung von der durch die Babylonische Sprachverwirrung hervorgerufenen Unvollständigkeit der verschiedenen Sprachen. Dieser kann durch Entlehnungen aus anderen Sprachen abgeholfen werden, so dass Zinzendorf, der neben seiner Muttersprache ja auch Latein, Griechisch, 10 Jörn Reichel: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch, Bad Homburg v. d.H. – Berlin – Zürich 1969 (Ars poetica, H. 10). Zur Sprache der Lieder Zinzendorfs namentlich im XII. Anhang zum „Herrnhuter Gesangbuch“ vgl. auch HansJürgen Schrader: Zinzendorf als Poet. In: Martin Brecht / Paul Peucker (Hg.): Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 134–162. 11 Wilhelm Bettermann: Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Leipzig 1935. 12 Ebd., S. 97. 13 Heinz-Joachim Berger : Wortschatz und Sprache der Ebersdorfer Bibel. Hochschulschrift: Berlin, Lehramtsprüfung, ca.1957.
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Hebräisch, Französisch, und im Ansatz Englisch und Niederländisch beherrschte, es nicht scheute, „passende“ Fremdwörter zu integrieren. Seiner Auffassung nach gab es für diejenigen seiner Zuhörer (und Leser) auch keine Verständnisprobleme, die zwar die fremden Sprachen nicht beherrschten, jedoch „inclination“ im Herzen zu der Sache trugen. Zinzendorf erhebt gar das Gefühl zum obersten Erkenntnisweg. In der Praxis zeigen die Lieder einige Ausdrucksmuster wie die Reduktion, die Versinnlichung und Konkretisierung, die assoziative Weiterführung, die Parodie und Umdeutung, die Diminutivbildungen, die Verwendung der Alltagssprache und Tempusumwandlungen zur Vergegenwärtigung. Vieles dabei ist ein gewagtes sprachliches Experiment: neue Begriffe und Neuschöpfungen, die jeweils wieder Ausgangspunkt von Analogien und Versuchsreihen bilden. Reichel kennzeichnet die Sprache der sichtungszeitlichen Lieder als Gemeinschaftssprache, die nach innen verstanden, für Außenstehende aber weitgehend unverständlich bleiben musste. Sie diente der Identifikationsstiftung innerhalb der Gemeine: Wer über den rechten Sprachgebrauch verfügte, gehörte dazu, Fremde dagegen vielen schnell auf. Reichel schreibt, neugefundene Ausdrücke gingen von Gemeine zu Gemeine, doch wie die individuelle Aneignung bei den in weltweiter Verteilung agierenden Brüdern und Schwestern vonstatten ging, bleibt unbeantwortet. Hier ist natürlich zuerst an die nicht zu unterschätzende Bedeutung des Gesangs in der Brüdergemeine zu denken. Mehrfache tägliche Singgelegenheit in den Gemeinen und die Vielzahl der Gesangbuchausgaben und ihrer Ergänzungen sind sicherlich ein wesentlicher Baustein.14 Doch blieb es ja eine Notwendigkeit, auf dem Laufenden zu bleiben, bzw. überhaupt erst den Zugang zur Gemeine und ihren sprachlichen Eigentümlichkeiten zu erlangen, nicht nur auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks, sondern auch der Aneignung von inhaltlichen und gestalterischen Formen. Von daher ergibt sich die Frage, wie innerhalb der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert überhaupt kommuniziert wurde. In dem Bewusstsein, hier nur einen exemplarischen Ausschnitt aus einem viel komplexeren Ganzen darstellen zu können, beschränke ich mich auf eine Kommunikationssituation, die Gemeintage. Sie erscheinen mir aber besonders geeignet, weil sich in ihnen eine größere Gesamtheit widerspiegelt.
14 Für ein Beispiel schneller internationaler Verbreitung von Liedgut der Brüdergemeine siehe neuerdings Rüdiger Kröger : Kommentierte Bibliographie zur lettisch-sprachigen Literatur der Brüdergemeine im Unitätsarchiv. In: Unitas Fratrum, 65/66 (2010), S. 187–210, hier: S. 190 f.
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Die Gemeintage Der erste „Gemeintag“ wurde bereits 1728 als Dank- und Fasttag gehalten, ein halbes Jahr nach der als Gemeindestiftung empfundenen Abendmahlsfeier.15 Zinzendorf hatte zu Beginn geschickt über einige biblische Geschichten gesprochen, die die Zuhörer unmittelbar auf ihre eigenen Verhältnisse beziehen konnten. Unterbrochen war sein Vortrag durch das gemeinsame Singen von Liedern. Zum Ende seiner Rede rief Zinzendorf dazu auf, „etwas auf Gott zu wagen“ und sprach über fremde Länder. Im Rückblick sah man darin den ersten Aufruf zur Mission. Nach Beilegung einer anscheinend länger währenden Differenz mit dem Berthelsdorfer Pfarrer hielt dieser beim anschließenden Liebesmahl eine Rede über die Worte „Ihr seyd das außerwehlte Geschlecht (etc.)“. Obwohl der Text der Rede nicht überliefert ist, lässt sich unschwer erahnen, dass es den Kindern Gottes leicht fiel, sich als das „auserwählte Volk“ zu empfinden. In dem später verfassten Bericht im Herrnhuter Gemeindiarium16 schließt sich eine wundersame Bekehrungsgeschichte an, die sich während des Liebesmahls ereignete.17 Wahrscheinlich wurden auch zwei an die Gemeine gerichtete Briefe verlesen. Außerdem wurde eine Neueinteilung der weiblichen Seelsorgegruppen vorgenommen. Der zweite Gemeintag im April desselben Jahres verlief im Prinzip ganz ähnlich.18 Zu seiner Vorbereitung hatte es tags zuvor eine Besprechung („Konferenz“) gegeben. Am Tag selbst wurde unter anderem eine kurze Nachricht von den waldensischen, böhmischen und mährischen Brüdern verlesen. Dieser historische Exkurs machte viele der mährischen Exulanten, vor allem aber die Erweckten „aus dem Reich“, mit der Vor- und Frühgeschichte der Kirche vertraut, in deren Tradition sich die Zuhörer befanden. Wie schon beim ersten Gemeintag, so wird auch beim zweiten das Gegenwärtige nicht vergessen. Hier werden Überlegungen angestellt, „einige Reisen nach Halle, Stockholm, England“ und anderen nicht genannten Orten vorzunehmen. Und wieder sind die Teilnehmer bereit, sich zu engagieren. Das Ergebnis ist ein gemeinsamer Beschluss, Brüder auf die Reise zu schicken.19 Die Gemeintage sind Wendepunkte, besser Orientierungspunkte auf dem Wege der Gemeinschaft. Die Teilnehmer, d. h. die Gemeine, lernt dabei, etwas ganz Besonderes zu sein und teilzuhaben am Bau des Reiches Gottes. Die Kontakte Zinzendorfs und von Mitgliedern und Freunden der Gemeine auf 15 Herrnhuter Diarium zum 10. Februar 1728, UA, R.6.A.b.8, 37–39. 16 Der Beginn der Mission unter den Grönländern (1733) liegt bereits zum Abfassungszeitpunkt in der Vergangenheit. 17 Eine katholische Ehefrau, die nicht am Liebesmahl teilnehmen durfte, wurde allein durch ihr Mitverfolgen des Geschehens durch das Fenster bekehrt. 18 Herrnhuter Diarium zum 20. April 1728, UA, R.6.A.b.8, 112 ff. 19 August Gottlieb Spangenberg: Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, Bd. 3 [Barby 1773], S. 475 f.
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Reisen miteinander und mit anderen Baumeistern am Reiche Gottes hatten einen wachsenden Informationsfluss zur Folge, erst recht, als 1732 (Mission) bzw. 1736/37 (Gemeingründungen) die kontinuierliche Arbeit von Brüdern und Schwestern an entfernten Orten bzw. auch von anderen Orten aus begann. Die Mitteilung von solchen Informationen an die Gemeine konnte grundsätzlich bei vielen Gelegenheiten erfolgen. Zunächst war ihr Ort die tägliche Singstunde. Klassisch aber wurde dafür der Gemeintag. In der Folge ging man zu einer vierwöchigen Frequenz der Gemeintage über ; die Termine wurden in den Losungen seit Ende der Vierziger Jahre und mit den vorzunehmenden Bibellektionen vorab veröffentlicht. Damit war man nun aber auf den ersten Blick weniger flexibel und konnte weniger auf aktuelle Begebenheiten eingehen. Der Zweck der Gemeinschaftsstiftung und -erhaltung wird dadurch aber nicht beeinflusst.20 Bis Mitte der dreißiger Jahre liegen nur Aufzeichnungen über die Gemeintage in Diarieneinträgen vor. Separate und ausführlichere Berichte sind aus Herrnhut seit 1735 überliefert.21 Die Geschichte, ja die faktische Überlieferung und Verbreitung der Gemeintagsnachrichten selbst ist noch weitgehend unbekannt. Nachrichten über Gemeintage sind bisher aus den 1730er und 1740er Jahren von Amsterdam/Herendyck, Berlin, Ebersdorf, Herrnhaag, Herrnhut, Jena, Kopenhagen, London, Marienborn, Oberpeilau (Gnadenfrei) und Pilgerruh bezeugt. Tatsächlich verbreitet – soweit der bisherige Eindruck – wurden aber nur die Gemeintagsnachrichten von Herrnhut und aus der Wetterau (Herrnhaag/Marienborn). Diese finden sich auch in Archiven der erst später gegründeten Gemeinen wie z. B. in Christiansfeld. Fest steht, dass es neben Volltextfassungen auch gekürzte („Extrakte“) gibt, die auf eine 20 Entsprechend formuliert Christian David den Sinn der Gemeintage 1735: „Denn einerley Gnade, einerley Wohlthat, einerley Hülfe und Rettung soll auch einerley Sinn, einerley Glauben, einerley Erkäntniß, einerley Lob und danck wircken, ein Geist und ein Leib, wie sie auch berufe ist auf einerley Geduld und Hoffnung, auf einerley Trost und Freude, zu einerley Herrlichkeit und Ehre, zu einerley Segen und Sieg, aber auch einerley Leiden und Schmach, soll auch gemeinschaftlich sich darum kümmern, gemeinschaftlich ihn darum bitten, sich dieses alles lassen gemeinschaftlich vorhalten und erinnern, damit sie wissen, alle Pflichten und Rechte des Hauses Gottes vom kleinsten bis zum größten, um dem HErrn darinnen treulich zu dienen: Und das ist auch der Zweck von unserm allgemeinen Fast- und Bettag.“ (Christian David: Beschreibung und Zuverläßige Nachricht von Herrnhut in der Ober-Lausitz, Wie es erbauet worden, […] nach Lutheri Sinn […], Leipzig 1735, S. 53). Als Germanist möchte ich hinzufügen: einerlei Sprache sprechen und einerlei Form gebrauchen. 21 Spangenberg erwähnt den Juli 1734. Dies wird bestätigt durch einen entsprechenden Eintrag im „Katalog“ des verbrannten Herrnhuter Gemeinarchivs. Hanns-Joachim Wollstadt: Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde. Dargestellt an den Lebensformen der Herrnhuter Brüderunität in ihren Anfängen, Göttingen 1966 (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Bd. 4), S. 86–91 und Nicole Schatull: Die Liturgie in der Herrnhuter Brüdergemeine Zinzendorfs, Tübingen 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, Bd. 14), S. 81 ff. beschreiben anhand edierter und handschriftlicher Nachrichten die Gemeintage relativ ausführlich; die Gemeintagsnachrichten sind aber von diesen beiden wie von der Forschung überhaupt kaum je zur Kenntnis genommen oder gar ausgewertet worden.
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Adressaten-/Rezipientenorientierung verweisen, also eine komplexe Redaktionstätigkeit erschließen lassen. Ob es bereits eine zentrale Redaktion gab oder die jeweiligen Gemeinen eigenverantwortlich waren, ist ebenfalls noch nicht bekannt. Das Vorhandensein von Textfassungen mit Korrekturen – z. T. von Zinzendorfs Hand – legt ersteres zumindest für einige Gemeintage nahe. Dadurch, dass „Die auf denselben verhandelten Materien […] zum Gebrauch für andere Gemeinen, zu Papier“22 gebracht wurden, entstand das erste brüderische Nachrichtenmagazin. Die Verbreitung von Nachrichten in der Brüdergemeine erfährt 1747 eine bedeutsame Veränderung. Mit Beginn des Jahres startet ein für eine doch recht kleine Gruppe kaum vorstellbares Unternehmen, welches die Gemeintagsnachrichten ohne Vorankündigung ablöst und beinahe 200 Jahre in unterschiedlich modifizierter Form fortsetzt: Die Verbreitung von wöchentlichen Mitteilungen in handschriftlicher Form.23 Ziel war es, die Einigkeit des Geistes unter allen Gemeinen zu erhalten und dahin zu sehen, daß sie alle, sie mögen nach ihrer äussern Lage noch so verschieden und in den Inseln und Wildnissen der Heiden abgelegen seyn, in der Erkentnis der heilsamen Wahrheit zugleich fortwachsen und einander nicht fremde, oder mit den inn- und äußeren Umständen anderer Gemeinen nicht unbekant werden möchten. Hierzu diente die Correspondenz, die Mittheilung erbaulicher Reden und der Nachrichten aus allen Gemeinen.24
Den Kern der Mitteilungen bildet das Diarium des Jüngerhauses, also eine tageweise Zusammenfassung der Ereignisse um Zinzendorf und seinen engsten Mitarbeiterstab. Als Beigaben werden nachgeschriebene Reden (vor allem Zinzendorfs), die Diarien und Nachrichten der Gemeinen und Missionen sowie Lebensläufe von verstorbenen Mitgliedern mitgeteilt. Eine zentrale Redaktion erstellt nach den zugegangenen Mitteilungen die Vervielfältigungsvorlage, die von Zinzendorf revidiert und von einem Schreiberkreis (meist Studenten des theologischen Seminars) in geringer Anzahl abgeschrieben wurden. Diese wurden an die Gemeinen versandt, an den Zielorten gegebenenfalls übersetzt, wiederum vervielfältigt, verlesen und aufbewahrt oder auch an weitere Gemeinen oder andere Leserkreise weitergeleitet. Übersetzungen sind bezeugt in englischer (London, Bethlehem/Pa.), französischer (Montmirail/Schweiz),25 schwedischer (Stockholm) und tschechischer 22 Spangenberg: Leben Zinzendorfs (wie Anm. 18), S. 868 f. 23 Zu den brüderischen Zeitschriften im allgemeinen vgl. Dietrich Meyer: Deutschsprachige Zeitschriften der Brüderunität. In: Unitas Fratrum, 1 (1977), S. 53–65, hier speziell S. 54. 24 David Cranz: Alte und Neue Brüder-Historie oder kurzgefaßte Geschichte der Evangelischen Brüder-Unität in den älteren Zeiten und insonderheit in dem gegenwärtigen Jahrhundert, Barby 1771, S. 786. 25 Im Sozietätsarchiv Basel befinden sich auch französische Übersetzungen zu Gemeintagen von 1746/47.
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(Berlin)26 Sprache; denkbar wäre auch eine dänische (Kopenhagen) und niederländische (Zeist/Niederlande) Ausgabe.27 Die Einrichtung der Gemeintage hat von 1728 bis 1770 bestanden. Nachweisen lässt sich für Herrnhut der letzte begangene Gemeintag am 16. April 1770.28 Ausführlichere Nachrichten finden sich, wie gesagt, zwischen 1735 und 1747. Exemplarisch möchte ich den Ablauf am Beispiel eines Gemeintags nachverfolgen.
Der Herrnhaager Gemeintag vom 4. Januar 1744 Der Gemeintag beginnt mit einer Versammlung der Stundenbeter (Singen von Liedversen, Gebet); die Gemeine versammelt sich dann und singt wiederum einige Liedverse, woran sich ein Gebet des Versammlungsleiters anschließt. Es folgt die Verlesung von 16 Briefen, in denen um die Aufnahme gebeten wird. Daran schließen sich zwölf sonstige Briefe an. Die sonstigen Briefe werden soweit möglich zu Gruppen regionaler Herkunft (Liefland, Schweiz) zusammengefasst. Nach einer Pause wird im zweiten Teil mit nochmals 23 Briefen an die Gemeine fortgefahren. Es folgt die Lektüre einer Rede des Grafen Zinzendorf, die er andernorts bei der Ordination eines Bruders zum Bischof hielt. Nach der Verlesung von fünf Briefen aus den Herrnhuter Gemeintagsnachrichten hört man eine Nachricht von einer in Herrnhut verstorbenen Schwester (Lebenslauf ?). Hierauf werden neue Mitglieder aufgenommen, darunter einige derjenigen, deren Aufnahmegesuche vormittags verlesen worden waren. Den Abschluss dieses Teils bildet eine Rede des Leiters über die Losung. Der dritte Teil besteht aus einer Rede des neuen Bischofs Johann Michael Langgut zum Lammestext (Lehrtext). Alle Lesungen und Reden werden von Liedversen begleitet oder unterbrochen. Die Textfassung Die handschriftliche Gemeintagsnachricht umfasst 32 Quartseiten. Es handelt sich allerdings nicht um eine wortgetreue Wiedergabe aller gesprochenen oder verlesenen Texte. Die einzelnen Texte werden nicht immer in extenso wiedergegeben. So fehlt jeder Hinweis auf den Inhalt der Gebete. Lieder 26 Erhalten sind im Berliner Brüdergemeinarchiv Übersetzungen aus den Jahren 1769–1801. 27 Dieter Gembicki sei für meine Einsichtnahme in sein Manuskript vor dessen Veröffentlichung gedankt. Der Beitrag erschien mittlerweile unter dem Titel: Kommunikation in der Brüdergemeine. Überlegungen zur Rolle der Gemeinnachrichten. In: Unitas Fratrum, 63/64 (2010), S. 245–306. Siehe ferner auch Gisela Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857, Göttingen 2009. 28 Diarium: UA, R.6.A.b.23.a.
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werden durch ihre Anfänge abgekürzt, teilweise unter Verweis auf die Gesangbuchnummern. Der Leser wird also in den Stand gesetzt, alle gesungenen Liedtexte sich zu vergegenwärtigen. Briefe scheinen teilweise vollständig, teilweise auszugsweise zitiert zu werden oder werden nur kurz referiert. Von der Verlesung der zinzendorfschen Ordinationsrede wie der Nachricht über eine Verstorbene wird lediglich eine Mitteilung gegeben. Die gelesenen Auszüge aus den Herrnhuter Gemeintagsnachrichten werden erneut aufgezeichnet. Während die „Nachrichten“ von der Rede des Versammlungsleiters über die Losung nur den Hauptgedanken wiedergeben, scheint die Rede über den Lammestext im Ganzen mitgeteilt zu werden.
Die Gemeintagsnachrichten als Zeitschrift Mit vierwöchiger Frequenz und gelegentlichen Sonderausgaben (außerordentliche Gemeintage) haben die Gemeintagsnachrichten eine über den gesamten Zeitraum hinweg gleichbleibend häufige Erscheinungsweise. Sie erscheinen entsprechend ihres Protokollcharakters in mindestens zwei komplett unterschiedlichen Lokal-Ausgaben (Wetterau und Herrnhut), d. h. im Jahr gibt es mindestens vierundzwanzig Stücke. Neben der Protokollfunktion des Ereignisses für die ausrichtende Gemeinde selbst – was vielleicht auch das Vorhandensein der sonstigen Gemeintagsnachrichten erklären könnte – dienen die einzelnen Stücke auch der Information und Erbauung für eine gemeininterne Öffentlichkeit, indem sie handschriftlich vervielfältigt als Brief versandt werden.29 Als Titel fungiert eine Überschrift, die Anlass, Ort und Datum angibt: „Gemeintag der Gemeinen in der Wetterau gehalten zu Herrnhaag den 4. Januar 1744.“ Bei einheitlichem Aufbau variiert die Benennung des Ereignisses gelegentlich. Die Gleichheit des Ablaufs der Gemeintage erzeugt notwendigerweise auch eine strukturelle Gleichheit im Aufbau der Nachrichten. Dieser Einheitlichkeit gegenüber steht ein buntes Gemisch an repräsentierten Textsorten: Gebet, Lied, Rede bzw. Predigt, Brief, Lebenslauf, Losung/Tagestexte. Bei dem vorgestellten Beispiel wurden ausnahmsweise keine Diarien verlesen; außerdem verlautet nichts von den üblichen sogenannten Gemeintagslektionen (Bibellektüre).30 29 Gleichzeitig mit dem Beginn der Gemeintagsnachrichten befasst sich der damals noch nicht in die Gemeine aufgenommene G.P. Müller mit dem Gedanken der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift. Auch Zinzendorfs ,Freywillige Nachlese‘ nahm ihren Anfang 1735 (Marche, bis 1740). 1740–1744 erschienen dann parallel zu den Gemeintagsnachrichten die ,Büdingische Sammlung‘ (Stöhr). 30 Ich orientiere mich bei der Charakterisierung an Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus, Halle u. a. 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 18), S. 28 ff.
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Jedes Gemeinmitglied hat potenziell Zugang und Anteil an den „Nachrichten“. Die Mitteilungen selbst aber unterliegen einer erstaunlichen Selbstbeschränkung auf wahr(haftig)e Geschichten. „Weltliches“, das zeigen die Äußerungen in den Briefen an die Gemeine, ist stigmatisiert als Versuchungsbereich des Teufels. Darüber hält sich niemand, der in der Gruppe akzeptiert werden will, länger als nötig auf.31 Die Berichte erzählen vom tatsächlichen Erleben und Erfahren der Wirksamkeit eines gegenwärtigen Heilands – individuell und als Gemeinschaft. Diese Selbstbeherrschung entspricht dabei durchaus den Instruktionen Zinzendorfs für die Heidenboten. Es sei ein Fehler, „Gantze Diaria mit Schwürigkeiten an[zu]füllen, und die Wege des Heylandes aus den Schwürigkeiten heraus, entweder gar nicht oder doch ganz seichte [zu] berühren.“32 Ihnen liegt ein Deutungsmuster zugrunde, das Bezug nimmt auf Erlebnisse und Erfahrungen, die frühere Menschen mit Gott und dem Heiland Jesus Christus hatten. Man fühlt sich eingebundenen in eine biblische Kontinuität. Die Berichterstattung als ein abgelegtes Zeugnis vor Gott und den nachfolgenden Kindern Gottes ist durchaus zu verstehen als Fortschreibung der Apostelgeschichte, nämlich eine Geschichte des Wirkens Gottes und seiner Kinder auf Erden. Als solche gelangen die Nachrichten eben auch in die Gemeindearchive. Die Gemeintagsnachrichten stellen als Periodikum ein Phänomen der Brüdergemeine dar. Zinzendorf schaffte ähnlich wie mit den Losungen mit ihnen ein eine Gemeinschaft konstituierendes (neues?) Medium, indem er bestehende Formen, wie etwa die Halleschen Berichte aus Ostindien, die Zirkularbriefe und die Praxis der handschriftlich umlaufenden Einzeltexte kombinierte. Die Gemeintagsnachrichten haben sogar die Eigenschaft der Aktualität und Internationalität, indem die neuesten greifbaren (erbaulichen) Nachrichten aus der ganzen (brüderischen) Welt mitgeteilt werden, was sie sogar in die Nähe von Zeitungen rückt. Bei der Suche nach vergleichbaren Serien fiel meine Aufmerksamkeit auf Johann Friedrich Rocks gedruckte „Extracta aus dem allgemeinen Diario der wahren Inspirationsgemeinden im Isenburgischen“ (1736 ff.). Sie enthalten zwar – wie die Gemeintagsnachrichten – Auszüge aus Diarien, Wiedergaben von Reden inklusive Angaben über gesungene Lieder und Gebete. Auch Briefe werden abgedruckt, aber es
31 Als anschauliches Beispiel für die Problematik ist die Editionsgeschichte von Oldendorps Geschichte der Mission in der Karibik, die als zu weltlich, zu wissenschaftlich und zu wenig heilsgeschichtlich schließlich von „berufenerer“ Hand umgeschrieben und erheblich gekürzt herausgegeben wurde. Vgl. dazu inzwischen Ingeborg Baldauf: Christian Georg Andreas Oldendorp als Historiker. Freiheit und Grenzen eines Autors in der Brüderkirche. In: Christian Georg Andreas Oldendorp: Historie der caribischen Inseln Sanct Thomas, Sanct Crux und Sanct Jan. Kommentarband. Hg. von Gudrun Meier, Peter Stein, Stephan Palmi8, Horst Ulbricht, Herrnhut 2010 (Beiheft zu Unitas Fratrum, Bd. 19), S. 53–142. 32 Rüdiger Kröger (Hg.): Johann Leonhard Dober und die Anfänge der Herrnhuter Mission, Herrnhut 2006 (Schriften aus dem Unitätsarchiv, Bd. 1), S. 80.
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fehlt ihnen an der Periodizität bzw. Frequenz des Erscheinens und der Aktualität der Nachrichten.33 Eine weitere Besonderheit ist die grundsätzliche Erscheinungsweise in Vollund Kurzfassung. Hierin zeigt sich die in der Brüdergemeine vorgenommene Dreiteilung. „Überhaupt muß die Druck- und Schriften-Sache recht reguliert werden; und so allemal voraus festgesetzt werden, ob eine Sache für die Welt, für die Diaspora oder für die Gemeinen gehören soll.“34 Die Kurzfassung ist für die sogenannte Diaspora, den Freundeskreis der Brüdergemeine außerhalb der Ortsgemeinen bestimmt. Für die Welt waren die von Zinzendorf herausgegebenen Zeitschriften, Freywillige Nachlese und Büdingische Sammlung, bestimmt, die einen nur annähernd ähnlich bunten Inhalt haben. Für die Gemeine die Volltextfassung. Der Teilnehmer erlebt die Verlesung der Texte und das Mitsingen der Lieder in noch anderer Weise, als es dem Leser der Nachrichten möglich ist. Selbst dort, wo der Leser den Eindruck der vollständigen Wiedergabe eines Briefes hat, sind Kürzungen nicht ausgeschlossen. In einem „Extrakt“ sind die Kürzungen weitaus stärker, unter Umständen wird sogar nur die Verlesung an sich vermerkt.35 Diese potenziell mehrfach reduzierte Wiedergabeauswahl ist für die Verbreitung und Aneignung der Sprachformen, der Textsorten sowie des inhaltlichen Kanons36 von größter Bedeutung. Die Redakteure bestimmen über das Maß der Teilhabe (Anwesende – Mitglieder – Freunde). Sie festigen durch Wiederholung von bekannten Mustern oder modifizieren durch Neuerungen. Die Gemeintagsnachrichten stellen damit eine einmalige Quelle für die Rezeption der brüderischen „Gemein-Sprache“ dar ; weit besser noch, 33 Bibliographie der 42 Bände dieser „Extracta“ der Inspirierten sowie ihrer Neudrucke in Pennsylvanien bei Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palestra, Bd. 247), S. 222–224; siehe ihre abermalige Neuausgabe in dem Gemeinde-Quellenbuch von Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie, 2 Bde., Amana/Iowa 1884 (Nachweis bei Schneider, ebd., S. 232 f.); ergänzende Information bei Konstanze Grutschnig-Kieser : Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „UNIVERSAL-Gesang=Buch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49) und Hans-Jürgen Schrader : Traveling Prophets: Inspirationists Wandering Through Europe and to the New World – Mission, Transmission of Divine Word, Poetry. In: Pietism in Germany and North America 1680–1820. Hg. v. Jonathan Strom, Hartmut Lehmann [u. a.], Farnham/Surrey – Burlington, VT 2009, S. 107–123. 34 Das Zitat stammt zwar erst aus der Zeit unmittelbar nach Zinzendorfs Tod, charakterisiert aber schon die frühere Zeit. Protokoll der Rats-Conferenz, 10. 06. 1760, UA, R.6.A.b.44. 35 So wurde zum Beispiel ein Brief Abraham Dürningers an Carl Heinrich von Peistel in Herrnhaag aus Straßburg vom 1. Oktober 1744, ediert in Abraham Düninger – ein Herrnhuter Kaufmann. Hg. von Rüdiger Kröger, Herrnhut 2006 (Schriften aus dem Unitätsarchiv, Bd. 2), S. 23–28, beim Pilger-Gemeintag am 18. November 1744 verlesen. Im ,Gemeintag‘ ist der Text auf etwa ein Drittel des Umfangs geschrumpft. Leser des „Extracts“ (für die Diaspora in Buchsweiler bestimmt) erfuhren lediglich den Tatbestand: „9.) von Br. Dürninger in Strasburg“ und welche Verse gesungen wurden. 36 Fred A. van Lieburg: Internationale pietistische Erzähltraditionen vom 17. bis 21. Jahrhundert. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 1), S. 733–743.
Die Gemeintage, Form und Funktion
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als es die Lied-Dichtungen erlauben würden, die nur von solchen Personen stammen, die bereits zum vertrauten Kreise der Mitglieder gehören. Unter nahezu idealen Voraussetzungen, bei bekannten und gleichbleibenden Rahmenbedingungen, lassen sich vielfältige Differenzierungsmöglichkeiten nutzen: (Teil-)Textsorten, Gender, Ort und Zeit.
Fazit Die Brüdergemeine kann als eine Gruppe mit bewusster Sprachverwendung gekennzeichnet werden. Das Liedgut und der Austausch von schriftlichen Informationen spielt eine entscheidende Rolle bei der Etablierung und Weiterentwicklung der eigenen Sprachvarietät. Die regelmäßigen Gemeintage bzw. die darüber angefertigten Dokumentationen stellen die vermutlich beste Quelle für die künftige Forschung dar. Eine Reihe von Aspekten konnte nicht einmal angerissen werden: Handelt es sich um eine besondere Sprache oder nur einen Soziolekt? Welche Wechselwirkung hat die grundsätzliche Förderung der Volkssprachen in den Missionsgebieten auf die deutsche Sprachentwicklung innerhalb der Brüdergemeine?
Alfred Messerli
Das Tagebuchführen bei Ulrich Bräker zwischen jüdisch-christlichen Voraussetzungen und pietistischer Schreibpraxis Am 5. Juni 1696 arbeitete P. St., ein Brunnenmacher aus dem Bergischen Land, in einem Brunnen, um diesen vom Schlamm zu befreien. Als er einen Stein der Brunnenwand, der sich gelockert hatte, aus dem Mauerwerk herauszog, um ihn dann wieder richtig einzusetzen, stürzte der ganze Brunnen in sich zusammen und begrub ihn unter einem Haufen von Steinen. Nur der Zuber, worin er sich herunter gelassen hatte, und ein Stück Mauerwerk schützten ihn und retteten ihm so das Leben. In seiner Todesangst verlor er alles Gottesvertrauen. Er schreibt in einem autobiographischen Bericht, den Johann Henrich Reitz im ersten Band seiner Historie der Wiedergebohrnen (1698) abdruckte: „Gott stellte mir meine Sünden miteinander [= gleichzeitig] vor Augen / auch die / deren ich mich nicht mehr erinnert; ich lase sie warhafftig wie in einer Handschrifft / und zwar mit den grössesten Buchstaben / wie dieselbe in dem A. B. C. Buch vorkommen.“1 Nach 28 Stunden wird er heil geborgen. Was aber ist hier der Fall? Dem Brunnenmacher P. St. war es offenbar vergönnt, noch vor dem Jüngsten Gericht einen Blick in sein Sündenregister zu tun. Im folgenden Aufsatz sollen in einem ersten Schritt die jüdisch-christlichen Voraussetzungen des Tagebuchschreibens nachgezeichnet werden, um diese in den theologischen und literarischen (Selbst-)Reflexionen des 17. und 18. Jahrhunderts – wenn auch in veränderter Form – aufzuspüren und sie dann, in einem zweiten Schritt, mit den diaristischen Schreibpraktiken, Schreibmotiven und Schreibprogrammen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie man sie aufgrund der Tagebücher Ulrich Bräkers und anderer belegen und rekonstruieren kann, zu konfrontieren.
1 Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohren. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Ausgaben. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. 4 Bde., Tübingen 1982, Bd. 1, S. 163. Vgl. dazu Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München1989, S. 151: „Er [sc. der Moment] ist seiner Natur nach ein Augenblick von radikaler Zeiterfahrung, Zeitraffung auch, ein Aufblitzendes Lebensganzen, wie man es sonst nur der Todesstunde nachsagt.“ Vgl. dazu das Kap. „Bergson[,] le theme de la vision panoramique des mourants et la juxtaposition“ in Georges Poulet: L’Espace proustien, Paris 1963, S. 137–183. In der deutschen Ausgabe (Georges Poulet: Marcel Proust – Zeit und Raum, Frankfurt a.M.1966 [Bibliothek Suhrkamp, Bd. 170].) fehlt dieses Kapitel.
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Alfred Messerli
Lassen Sie mich, ausgehend von Hans Blumenbergs Untersuchungen, etwas Ordnung in die himmlischen Bücher bringen. Nach biblisch-jüdischer bzw. neutestamentlicher Vorstellung ist das ,Buch des Lebens‘ ursprünglich eine Namensliste der Auserwählten.2 Es ist Ausdruck, ja „Metapher für die Unverbrüchlichkeit des göttlichen Prädestinationsbeschlusses“.3 Wer, und das von Beginn der Welt her, nicht drinsteht, wird wie nicht gewesen sein. Man darf das ruhig im Sinne der modernen Bürokratie verstehen. „Nur wer registriert ist, lebt oder hat gelebt.“4 In diesem Buch sind also die „zur Fortexistenz Bestimmten verzeichnet, was der im Evangelium des Johannes fassbaren Form eines Auferstehungsglaubens entspricht, der nur die Gerechten das Heilsgut des Lebens erlangen, die Bösen in den Gräbern bleiben lässt.“5 Im Laufe der Durchsetzung „substantiell verbürgter Unsterblichkeit aus hellenistischer Metaphysik wird die Funktion des Gerichtstages umfassender : auf Gute und Böse ausgedehnt“.6 Vor allem im Christentum wird nun entweder Gott oder eine von ihm autorisierte Person zur buchführenden Instanz; das Aufgeschriebene wird am Jüngsten Gericht zur Beurteilung herangezogen.7 In der Offenbarung Johannes, 20. Kapitel, 12. Vers, ist dieser Sachverhalt, in der Übersetzung Martin Luthers, folgendermaßen beschrieben: „Vnd ich sahe die Todten beide gros und klein stehen fur Gott / vnd die Bücher wurden auffgethan / Vnd ein ander Buch ward auffgethan / welchs ist des Lebens / vnd die Todten wurden gerichtet nach der Schrifft in den Büchern / nach jren wercken.“8 Nach den 1927 erschienenen Jugenderinnerungen des Orientalisten
2 Vgl. 2Mose 32,32; Ps 69,29; Jes 4,3; Dan 12,1; Lk 20; Phil 4,3; Offb 3,5; 17,8; 20,12; 20,15. Das biblische ,Buch des Lebens‘ nahm nach Leo Koep einerseits die vorbiblischen Vorstellungen eines ,Schicksalbuches‘ oder eines ,Buches der Werke‘ in sich auf, während es die Bedeutung einer ,himmlischen Bürgerliste der Auserwählten‘ aus dem römischen Bürgerrecht entlehnte. Schon in der frühchristlichen Zeit wurden Listen (Taufmatrikel, Messdiptychen, Bücher der Heiligen) als gleichsam irdische Entsprechung zum himmlischen ,Buch des Lebens‘ geführt. Die beiden Listen müssen aber nach Augustinus „nicht identisch oder notwendig voneinander abhängig“ sein; entscheidend aber ist immer die himmlische. Leo Koep: Das himmlische Buch in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur altchristlichen Bildsprache, Bonn 1952 (Theophaneia, Bd. 8), S. 112. 3 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. (1986) 31991 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 592), S. 57. Zum „Buch des Lebens“ vgl. auch Alfred Messerli: Vom ,Buch des Lebens‘ zum Lebensfilm: Mediale Phantasien in Text und Bild. In: Zeitschrift für Volkskunde 98 (2002) S. 16–33. Zur Genealogie des Tagebuches ders.: Der papierene Freund. Literarische Anregungen und Modelle für das Tagebuchführen. In: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). Hg. von Kaspar von Greyerz, Hans Medick und Patrice Veit, Köln –Weimar – Wien 2001, S. 299–320, und: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz, Tübingen 2002 (Reihe Germanistische Linguistik, Bd. 229), S. 299–321. 4 Blumenberg: Die Lesbarkeit (wie Anm. 3), S. 23. 5 Ebd., S. 24. 6 Ebd., S. 26. 7 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München 1995, S. 298. 8 Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene
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Mark Lidzbarski war der Gedanke vom großen Kontobuch im Judentum seiner Kindheit noch lebendig gewesen. Es bestand die Vorstellung, das ganze Jahr hindurch würden die Werke eines Einzelnen in ein großes Kontobuch eingetragen; zu Beginn jeden Jahres werde daraus das Fazit gezogen und das Schicksal eines jeden bestimmt.9 Es muss als Akt der Emanzipation gedeutet werden, wenn im 18. Jahrhundert einer eines Tages darauf besteht, für ihn dürfe das ,Buch seines Lebens‘ nicht im Himmel geführt, sondern er wolle es selbst verfassen.10 In diesem Sinne erhofft sich Jean-Jacques Rousseau gleich im ersten Abschnitt seiner Autobiographie Les Confessions (1782, 1789) nicht etwa lediglich Übereinstimmung zwischen seinem und jenem himmlischen Buch, sondern tritt mit der Gewissheit an, durch seine Schrift den ,himmlischen‘ Text gültig ersetzt zu haben: Que la trompette du jugement dernier sonne quand elle voudra; je viendrai ce livre / la main me pr8senter devant le souverain juge. Je dirai hautement: voila ce que j’ai fait, ce que j’ai pens8, ce que je fus. J’ai dit le bien et le mal avec la mÞme franchise. Je n’ai rien tu de mauvais, rien ajout8 de bon, et s’il m’est arriv8 d’employer quelque ornement indiff8rent, ce n’a jamais 8t8 que pour remplir un vide occasionn8 par mon d8faut de m8moire.11
Diese grandiose Unverfrorenheit überrascht noch in anderer Hinsicht, indem man als Genre die Autobiographie nicht unbedingt erwartet hätte. Dem himmlischen ,Buch der Werke‘ ist als irdisches Pendant eher die Annotationspraxis einer Liste, einer Chronik oder eines Tagebuches angemessen, in der ein als bedeutsam empfundenes Geschehen laufend protokolliert wird. Hier aber ist das Geschehen durch die „konzeptuelle Konfiguration“12 eines späteren Zeitpunktes und, damit ursächlich verbunden, eines veränderten Gesichtspunktes in Lebensgeschichte überführt, die sich in einer Perspektive ordnet, die „prinzipiell schon ihren Anfang und ihr Ende überschaut und beide in ihrer Relation zu erfassen vermag.“13 Rousseaus Text bedarf daher keiner abschließenden Bilanz: Er ist diese Bilanz. Als irdisches ,Lebensbuch‘ bleibt die Autobiographie die Ausnahme. Nur Benjamin Franklin lässt in ironischer Gleichsetzung von Buch und Leben die Vorstellung anklingen,
9 10 11 12 13
Ausgabe. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, Textredaktion Friedrich Kur, 3 Bde., Zürich 1974, Bd. 2, S. 2509. Zit. nach Blumenberg: Lesbarkeit (wie Anm. 3), S. 27. Vgl. ebd., S. 31 f. Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complHtes. I. Les Confessions; autres textes autobiographiques. Hg. von Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Robert Osmont, Paris (1959) 1981 (BibliothHque de la Pl8iade, Bd. 11), S. 5. Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hg. von Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey, München 1979 (Beiträge zur Historik, Bd. 3) S. 85–118, hier S. 93. Ebd., S. 94.
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Alfred Messerli
wenn er in seiner Autobiographie schreibt, einer Wiederholung seines Lebens, sollte ihm denn eine solche angeboten werden, nicht abgeneigt zu sein. Er erbittet sich lediglich das Recht, das jedem Autor bei einer zweiten Auflage zustehe, einige ,Druckfehler‘ der ersten zu korrigieren.14 Wenn wir die Linie der irdischen Lebensbücher weiterverfolgen, so sind es die Chronik und das Tagebuch einerseits, die Buchhaltung andererseits, die sich dem ,Buch der Werke‘ annähern oder mit diesem in eins fallen. Die innerseelische Instanz des Gewissen bzw. des Gedächtnisses konnotiert im Laufe des 17. Jahrhunderts das Bild der ökonomischen Buchführung. Die beiden Seiten der Metapher, der Bildspender ,Buchhaltung‘ und der Bildempfänger ,Gewissen‘ – nun nicht mehr als innere Stimme, sondern als innere Schrift –, werden im Laufe der Zeit endlich austauschbar. Während Pfarrer Felix Wyß (1596–1666) in seinem 1661 erschienenen Gebetbuch das Gewissen ein Schreibebuch („Handrodel“) nennt, „darin auffgezeichnet werden die täglichen sünden“,15 und Pfarrer Bartholomäus Anhorn (1616–1700) es 1674 in seiner Magiologia als ein Rechenbuch bezeichnet, aus welchem der Mensch Gott Rechenschaft geben müsse,16 hat ein Kaufmann, nach den Ausführungen des Baslers Jacob Sarasin, „seine Handlungs-Bücher vom größten bis zum kleinsten als ein Heiligtum u[nd] als die Seele seines Gewerbs an[zu]sehen“.17 Diese Umkehrung, die Bedeutsamkeit einer häuslichen Buchhaltung durch die Metapher des Gewissens zu veranschaulichen, greifen gemeinnützige Zeitschriften des 19. Jahrhunderts vielfach auf und machen sie dadurch populär. Ein Artikel im Centralschweizerischen Haushaltungsblatt nennt das Haushaltungsbuch einer Hausfrau „Dein Gewissen […], mit dem Du Dich gut 14 „That Felicity, when I reflected on it, has induc’d me sometimes to say, that were it offer’d to my Choice, I should have no Objection to a Repetition of the same Life from its Beginning, only asking the Advantage Authors have in a second Edition to correct [somme] Faults of the first.“ Benjamin Franklin: The autobiography of B. F. A genetic text ed. by J[oseph] A. Leo Lemay and P[aul] M. Zall, Knoxville 1981, S. 1. Vgl. dazu Alfred Messerli: Auf- und absteigende Linien. Darstellungsformen und Darstellungsprobleme in autobiographischen Texten. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 84 (1988), S. 104–110. Max Frischs Theaterstück Biografie: Ein Spiel (1969) versucht, dem Leben als „Entwurf“ eine „Reinschrift“ (Anton Tschechow) versuchsweise folgen zu lassen; vgl. Max Frisch: Biografie: Ein Spiel, Frankfurt a.M. 1969. Diesen Hinweis verdanke ich Peter von Matt. 15 Felix Wyß: Christliches Bätt-Büchlein / Auff allerley leibs- vnd der seelen nothwendigkeiten; auf vnderschidliche zeiten vnd auff sonderbare stände vnd personen gerichtet. Durch F. W. / Dienern der Kirchen zum Frawen-Münster Zürich. Gedruckt in Zürich / bey Joh. Heinrich Hamberger / in verlag Nichael Schaufelbergers / 1661, S. 35. 16 Vgl. Bartholomaeus Anhorn: Magiologia. Christliche Warnung für dem Aberglauben vnd Zauberey : Darinnen gehandlet wird Von dem Weissagen / Tagwellen und Zeichendeuten / von dem Bund der Zauberer mit dem Teufel: von den geheimen Geisteren / Waarsagen / Loosen vnd Spielen: […] Der fürwizigen Welt zum Ekel / Schewsal vnd Vnderweisung fürgestelt Durch B. A. / Pfarrer der Evangelischen Kirchen und Germeind zu Bischoffzell. Basel: Johann Heinrich Meyer 1674, S. 410. 17 Staatsarchiv Baselstadt: PA 212: F19,1 D1, p. 5 („Gedanken über den Stand eines Kaufmanns in die Feder dictiert von einem Oheim an seinen Neffen“). Zu Jacob Sarasin (1742–1802) vgl. Rudolf Trefzer: Die Konstruktion des bürgerlichen Menschen. Aufklärungspädagogik und Erziehung im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel der Stadt Basel, Diss.phil. Zürich 1989, S. 124.
Das Tagebuchführen bei Ulrich Bräker
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stellen mußt, wie unbequem seine Stimme Dir auch manchmal sei“.18 Es ist nach dem Hausfreund eine „wahre moralische Kontrolle“, die der Hausfrau einen Spiegel vorhalte „mit den fortwährenden Fragen: War diese oder jene Ausgabe nöthig?“19 Ein solches Journal stellt – so der Verbreiter gemeinnütziger Kenntnisse – der Hausfrau „ihre Thorheiten täglich vor Augen“ und werde sie bald zu einer weisen Verwendung des Geldes zurückführen.20 Dem Troste „Einmal ist Keinmal“, der bei häuslichen Ausgaben „sonst als Versucher“ herantrete, werde, meint das Schweizerische Familien-Wochenblatt, durch eine pünktliche Buchhaltung „aller Boden entzogen“.21 In Christian Scrivers Andachtsbuch Gottholds Zufällige Andachten (1671) gibt es eine Meditation mit dem Titel „Das Buch Papier“: Als Gotthold in beyseyn eines guten Freundes etlich Papier gekaufft hatte / sagte er : Ich gedencke ietzt an einem berühmten und klugen Weltmann / der / als er von einem jungen Herrn gefraget worden / was vor ein Buch / von Welt-Händeln / er ihm vor andern recommendiren wolte? geantwortet: Ein Buch rein Papier / das nehmet und reiset damit durch die Welt / habt fleißige Acht auff alles / was euch merckwürdiges vorkömmt / in Regiments- und andern Sachen / und verzeichnet es euch und andern zur Nachricht / so werdet ihr ein gut Buch haben / daraus ihr viel lernen könnet. Dieser kluge Mann hat die Erfahrung / und die Beobachtung der Exempel höher gehalten / als alle andere Bücher : Gewiß / ich solte fast auff gleiche Gedanken / in geistlichen Dingen / kommen; Wann iemand von Kindesbeinen an dazu angehalten würde / daß er Register hielte / über die Wolthaten GOTTES / und über die Wunder seiner Güte und Gerechtigkeit / die er an ihm selbst und andern sein Lebenlang siehet und erfähret / was meinet ihr wie ein herrliches / nützliches Buch solt ihm einer zusammen bringen? Wie erbaulich und tröstlich würd es seyn / im durchblättern sich zuerinnern / wie uns GOtt so wunderlich / doch gnädiglich / geführet / so väterlich versorget / so mächtiglich beschützet / so kräfftig getröstet / und seine väterliche Liebe / Treue / Langmuth / Sorgfalt / und Güte so reichlich und mannigfaltig an uns erwiesen: Was mich betrifft / wann ich alle grosse Barmherzigkeit / die mein GOtt an mir gethan hat / solte nach allen Umständen auffschreiben / ich wolt mehr als ein Buch Papier damit erfüllen: Ich weiß es nicht allein aus dem Worte meines Gottes / sondern hab es auch in meinem ganzen Leben erfahren und befunden / daß GOTT
18 Const. Franken: Einnahmen und Ausgaben im Haushalte. In: Schweizerisches Haushaltungsblatt. Blätter für Gemeinnützigkeit, Haushalt und Erziehung 11 (1898), Luzern: H[einrich] Keller, S. 1–2, hier S. 2. 19 Der Hausfreund. Schweizer Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für das Volk 13 (1884/1885), Bern: Suter u. Lierow, S. 7. 20 Der Verbreiter gemeinnütziger Kenntnisse 10 (1842), Solothurn: Jent u. Gaßmann 1839, S. 337 („Das Haushaltungs-Journal“). 21 Schweizerisches Familien-Wochenblatt für Belehrung und Unterhaltung. Ein Leidfaden und Ratgeber für unsere Frauen und Töchter 4 (1884/1885), Zürich: Schröter u. Meyer, S. 389 f. („Werth der Wirthschaftsbücher“), hier S. 389.
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allmächtig / allweise / allwissend / gerecht / heilig / gnädig / gütig / langmüthig und von grosser Gnad und Treue sey.22
Scrivers Ausführungen deuten das Schreibbuch hier nicht spirituell aus, sondern assoziieren damit zwei Schreibpraktiken. Der Reisechronik oder dem ,Merkbuch‘ des Weltmannes, der für sich und andere aufschreibt, was er Interessantes („in Regiments- und andern Sachen“) sieht, wird das religiöse Journal gegenübergestellt. In beiden Fällen wird die verschriftlichte persönliche Erfahrung und Beobachtung dem gedruckten Buch, das heißt einem bereits gespeicherten Wissen, das die Erfahrung anderer enthält, vorgezogen. Damit sind zwei Wurzeln des Tagebuches benannt. Neben der chronikalischen Annalistik sind es Aufschriebe religiöser Erfahrungen.23 In dieser frühen Phase geht es um ein Annotieren, was Gott an einem getan, um eine Chronik „de la pr8sence et des actes de la pr8sence de la Divinit8 en soi-mÞme“.24 Das Tagebuch ist hier noch nicht ein Instrument der Selbstprüfung und Perfektionierung, sondern ein Ort des Eingedenkens der immerwaltenden Gnade Gottes; es ist Erinnerungshilfe und Trost („Wie erbaulich und tröstlich würd es seyn / im durchblättern sich zuerinnern“) für einen späteren Zeitpunkt. Die Formulierung „register halten“ verweist dabei auf eine Darstellungsstruktur, welche die einzelnen „Wolthaten GOTTES“, Wunder und Gnadenzüge, noch unbesorgt um einen Kausalnexus, lediglich aneinanderreiht. Dieser stellt sich erst bei einer späteren, als erbaulich bezeichneten Lektüre, im Erkennen der darin waltenden göttlichen ,Regie‘ ein.25 Wie weit hier allerdings ein „Modell“ oder eine Anregung zum Führen einer Chronik vorliegt, bleibt ungewiss, da Scriver nicht den tatsächlichen Vollzug, sondern die potentiellen Möglichkeiten eines solchen Buches verhandelt. Nach Christoph Girtanner waren Gottholds zufällige Andachten übrigens im Ancien R8gime, besonders unter den Sennen im Kanton Bern, überaus populär.26 22 Christian Scriver: Gottholds zufälliger Andachten Vier Hundert / Bey Betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur […] ietzo verbessert Und zum siebenden mahl außgefertiget, Leipzig: Johann und Friedrich Lüderwald; Druck Andreas Ball (1671) 71686, S. 687–688. Zu Christian Scriver vgl. Holger Müller : Seelsorge und Tröstung. Christian Scriver (1629–1693). Erbauungsschriftsteller und Seelsorger, Waltrop 2005. 23 Zum Hausbuch, zur Familienchronik und zum Tagebuch vgl. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Erfahrung, Stuttgart 1977. 24 Jean-Claude Dupas: Dire „je“ en Angleterre au XVIIe siHcle. In: Individualisme et Autobiographie en Occident. Hg. von Claudette Delhez-Sarlet und Maurizio Catani, Brüssel 1983, S. 155–126, hier S. 117. 25 Zum Begriff der Erbaulichkeit, vgl. Eva-Maria Bangerter-Schmid: Erbauliche illustrierte Flugblätter aus den Jahren 1570–1670, Frankfurt a.M. [u. a.] 1986 (Mikrokosmos, Bd. 20), S. 18–28. 26 Unter den religiösen Büchern, „mit denen sich die reformierten Älpler, besonders die des BernerKantones, beschäfftigen, verdient vorzüglich genannt zu werden: Gottholds vier hundert zufällige Andachten: ein merkwürdiges Buch, welches bei den Älplern, nächst der Bibel, des größten Ansehens genießt“.[Christoph Girtanner:] Vormaliger Zustand der Schweiz zum Aufschluß über die neuesten Vorfälle in der Schweiz. Von einem Augenzeugen. Erster Theil, Göttingen: Johann
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In ausdrücklicher Anlehnung an Richard Steeles (1671/1672–1729) und Joseph Addisons (1672–1719) The Spectator (1711/1712),27 aus dem sich wohl auch Benjamin Franklin die Anregung zu seiner moralischen Buchhaltung geholt hatte,28 empfahlen Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger in der von ihnen herausgegebenen moralischen Wochenschrift Der Mahler Der Sitten (1746) den Lesern, „Tagebücher in der Absicht zu machen, daß sie sich darinnen von Zeit zu Zeit umsehen können, was sie gutes in ihrem Leben gethan, und wie weit sie ihren moralischen Zustand gebessert haben“.29 Und weiter : Eine Chronick, die aus dergleichen moralischen Kalendern zusammengesetzt wäre, und in einer Familie ohne Unterbrechen ein oder zwey Jahrhunderte vom Vater zum Sohn fortgeführet worden, würde ohne Zweifel etwas recht seltsames seyn. Sie würde uns in die wahren Verdienste derer, von denen sie verfasset wäre, tiefer hineinsehen lassen, als die prächtigsten Erzehlungen solcher Scribenten, die ihren Gehalt von Fürsten und Königen haben, damit sie ihre Thaten auf die Nachwelt bringen.30
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Christian Dietrich 1800, S. 264–265. Vgl. ebenso Karl Spazier: Wanderungen durch die Schweiz, Gotha, in der Ettingerschen Buchhandlung 1790, S. 353. In The Spectator Nr. 317 (Tuesday, March 4, 1712) und Nr. 323 (Tuesday, March 11, 1712) kommt Joseph Addison auf das Tagebuchschreiben zu sprechen; vgl. James E. Evans / John N. Wall: A guide to prose fiction in The Tatler and The Spectator, New York – London 1977 (Garland reference library of the humanities, Bd. 71), S. 295–296. „If we look into the Behaviour of many whom we daily converse with, we shall find that most of their Hours are taken up in those Important Articles of Eating, Drinking and Sleeping. I do not suppose that a Man loses his Time, who is not engaged in Publick Affairs, or in an Illustrious Course of Action. On the contrary, I believe our Hours may very often be more profitably laid out in such Transactions as make no Figure in the World, than in such as are apt to draw upon them the Attention of Mankind […]. I would, however, recommend to every one of my Readers, the keeping a Journal of their Lives for one Week, and setting down punctually their whole Series of Employments during that Space of Time. This kind of Self-Examination would give them a true State of themselves, and incline them to consider seriously what they are about. One Day would rectifie the Omissions of another, and make a Man weigh all those indifferent Actions, which, though they are easily forgotten, must certainly be accounted for.“ Zit. nach Michael G. Ketcham: Transparent Designs. Reading, Performance, and Form in the Spectator Papers, Athens (Georgia) 1985, S. 96. Benjamin Franklins ,moralische Buchführung‘ (vgl. Franklin: The autobiography [wie Anm. 14], S. 78–81) wurde relativ oft in populären Lesestoffen aufgegriffen, so etwa im Luzerner Lehr- und Lesebuch für die reifere Jugend (1852): „Mit dem Wunsch, daß dies Verfahren recht viele Nacheiferer finden möge, setzen wir die Tabelle her.“ Lehr- und Lesebuch für die reifere Jugend. Ein Bildungsbuch für Schule und Haus, Luzern: Kaiser’sche Buchhandlung 1852, S. 120. Der Mahler Der Sitten. Von neuem übersehen und starck vermehrte. [Hg. von Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger], 2 Bde., Zürich: Conr. Orell und Comp. 1746, Bd. II, S. 140. Jakob Bächtold hatte allerdings nachgewiesen, dass Bodmer als Herausgeber und teilweiser Verfasser der Discourse der Mahlern (Zürich, 1721–1723) nicht die englische Originalausgabe kannte, sondern von der „geschmälerten Basis des Spectateur“ einer französischen Übersetzung eines Teils des Spectator, ausging. Fritz Rau: Zur Verbreitung und Nachahmung des ,Tatler‘ und ,Spectator‘, Heidelberg 1980 (Anglistische Forschungen, Bd. 145), S. 175. Vgl. Jakob Bächtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, Frauenfeld 1892, S. 529. Maler der Sitten (wie Anm. 29), Bd. II, S. 144.
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Zwei Funktionen ergeben sich aus dem Tagebuchschreiben. Die Person, die das Tagebuch führt, kann durch die Lektüre desselben ihren persönlichen Entwicklungsgang überprüfen. Für ihre Nachkommen wird es darüber hinaus zu einem einmaligen historischen Dokument. Auch wenn nach heutiger Ansicht „Tagebücher entsprechend ihrer Konzeption und ihrer Anwendung nicht mehr Wahrheit vermitteln können als andere Formen der literarischen Selbstdarstellung“,31 ihre angeblich Leistung, „tiefer hineinsehen [zu] lassen“, in jedem einzelnen Falle der kritischen Überprüfung bedarf, liegt hier eine ganz neue Wertschätzung derartiger „moralischer Kalender“ vor. Darin zeigt sich der neue Ansatz Bodmers – er versah zwischen 1725 und 1775 die Stelle eines Professors für Vaterländische Geschichte am Zürcher Carolinum – einer „kritisch-emanzipatorische[n] Geschichtswissenschaft“.32 Nach Dem Mahler Der Sitten (1746) informiert das individuelle Tagebuch („moralische Kalender“), indem es regelmäßige wieder gelesen wird, denjenigen, der es führt, über den Stand seiner ,Vervollkommnung‘. Johann Conrad Nüscheler, der eine Biographie über Hans Rudolf Schinz (1745–1790) verfasste, würdigt ihn auch als einen großen Tagebuchschreiber : Die Krone aber, aller der verschiedenen Rechnungen die Er führte, war die, über Seine moralischen Handlungen, die Sein fast zwanzigjähriges Tagbuch, daß Er bis an Seine letzte Krankheit fortsetzte, in sich faßt; Er drang damit durch, auch wann Er noch so viele Geschäfte hatte, Nachts auch wann Er noch so müd, so mußte doch noch die Geschichte des Tags niedergeschrieben seyn. Was so ein Tagbuch dem Menschen seyn kann, wann es aus treuem aufrichtigem Herzen, und nur als für sich selbst geschrieben wird, weiß nur der, so seit Jahren selbst so eins zu schreiben gewohnt ist. Was für ein Schatz von Gottes-[,] Menschen- und Selbstkenntniß da herauskommt: was für ein wahres Mittel zur Vervollkomm[n]ung des Menschen es ist; wie man das Gute immer mehr bey sich befestigen und hingegen das Böse eines nach dem andern, um so leichter ablegen lernt. Es ist vielleicht kein besseres Mittel, um die Ebbe und Fluth der Menschen vom Bösen zum Guten, und wieder von der Höhe zur Tiefe – den Ursprung seiner Schwäche und Größe, die Folgen seiner Tugenden und Fehler, die Stufenweise Entwicklung[,] sein Vor- oder Zurückschreiten zu überschauen, diese Ueberschauung zu benutzen und anwenden zu lernen, als die Haltung eines umständlichen und genauen Tagbuchs. Vielleicht kein dienlicheres den Menschen kennen zu lernen, vom kleinen aufs große zu schließen, von dem Gang einzelner Familien, von dem Gang dieser, auf Staaten, und aus Uebersicht des Ganzen sich Grundgesetze abzuziehen, nach denen die moralische Natur der Menschheit geleitet wird, diese dann mit den Grundgesetzen[,] die unser göttliche Lehrer uns vorschreibt zu vergleichen, und am Ende über beyder Harmonie zu erstaunen. Vielleicht ist keines, das auf die Führung Gottes mehr Licht wirft, und zeigt, wie alles Böse dem Guten zum Guten, und selbst das Gute dem Bösen zum Bösen geleitet wird; wie das 31 Peter Boerner: Tagebuch, Stuttgart 1969 (Sammlung Metzler, Bd. 85), S. 31. 32 Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien R8gime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen – Zürich 1984, S. 288.
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Leiden dem, der es für moralische Arzney ansieht, und es so benutzt, und willig darein sich ergiebt, ihm nur Läuterung, Reinigung, Licht und Gutes bringt, und wie hier, gegen die Freuden für den, der ihre von Gott und der Natur gesetzten Gränzen überschreitet – in Leiden sich wandeln – keines das Ihn lehrt wie dieses, die edlern Freuden den unedlern vorzuziehen, sparsam mit seiner Zeit umzugehen, seine Stunden und Kräfte auf die beste Weise auszufüllen und anzuwenden, seine eigene tief durchgedachte Geschichte dient dem einzelnen Menschen mehr als alles ihn über die Geschichte der ganzen Menschheit aufzuklären.33
Das Tagebuch wird hier ausdrücklich als konsequente Weiterführung der Buchhaltung gewürdigt. Wie diese setzt es ein „treues aufrichtiges Herz“ voraus. Das Tagebuchführen ist ein Instrument der Selbstverbesserung, indem es Einsicht in „den Ursprung seiner Schwäche und Größe“ und der dadurch ausgelösten Kausalität („die Folgen seiner Tugenden und Fehler“) durch die skriptographische Repräsentation ermöglicht und dadurch anleitet, „diese Ueberschauung zu benutzen und anwenden zu lernen“. Nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft wird das Tagebuch angelegt. In der Nachfolge Max Webers sehen wir die Wurzeln dieser Schreibpraktik im radikalen Protestantismus. Da den Reformierten, ebenso wie den Pietisten insgesamt, die Sakramentsgnade der katholischen Kirche nicht als ein „Ausgleichsmittel eigener Unzulänglichkeit“ zur Verfügung stand, wurde es für sie zur unabdingbaren Notwendigkeit, die eigene Lebensführung konsequent und systematisch zu gestalten, den eigenen Gnadenstand beständig zu überprüfen und sich gewissermaßen „selbst den Puls zu fühlen“.34 Schinz wird mit Hilfe des Kontrollinstruments Tagebuch zu dem, was die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts einen „innengeleiteten Sozialcharakter“ bezeichnen wird.35 Das Tagebuch fand in Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) seinen engagierten Fürsprecher. In seinen Moralischen Vorlesungen rät er seiner Briefadressatin, ein Tagebuch über ihr ,eigenes Herz‘ zu führen und wenigstens einmal pro Woche eine genaue Prüfung ihres Verhaltens anzustellen. Dabei dürfe sie „keinen Fehler, keine unerlaubte Neigung, keinen unedlen Gedanken“ verschweigen, aber auch nicht „die Siege über sich selbst, Ihre guten Schritte auf der Bahn der Tugend“. Und er fährt fort: „[U]nd dies thun Sie, nicht als vor meinen Augen, sondern als vor den Augen des Allwissenden.“36 Die eigentliche Popularisierung des Genres aber hatte Johann Caspar Lavater durch sein 1771 und 1773 anonym erschienenes Geheimes Tagebuch 33 J[ohann] C[onrad] Nüscheler: Denkmal auf Herrn H[an]s. Rudolf Schinz, gewesenen Pfarrer zu Uetikon. Der naturforschenden Gesellschaft vorgelesen von J.C.N. Nebst einigen Zusätzen, Zürich – Leipzig: Ziegler und Söhne 1791, S. 103–105. Schinz’ Tagebücher finden sich zum Teil in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur: Car. XV 144–148, 155 a–c. 34 Zit. nach Trefzer: Aufklärungspädagogik (wie Anm. 17), S. 61. 35 Vgl. ebd., S. 23. 36 C[hristian] F[ürchtegott] Gellert: Moralische Vorlesungen. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von Johann Adolf Schlegel u. Gottlieb Lebrecht Heyer, 2 Bde., Zürich: Orell, Geßner, Füßli u. Comp. 1770, Bd. 1, S. 175.
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ins Werk gesetzt, indem er, trotz der Versicherung, es dürfe „schlechterdings nicht als ein schriftstellerisches Werk angesehen werden“,37 dieses literarisch nobilitierte und zugleich den Lesern und Leserinnen praktische Anleitung und theoretische Begründung für das Führen eines Tagebuchs vermittelte.38 Goethe hat darüber ein vernichtendes Urteil gesprochen. Die Attitüde, Empfindungen und Gedanken mehr oder weniger ausdrücklich für das Tagebuch zu produzieren,39 verleitete ihn zu der Feststellung, die Lavater wiederum in seinem Tagebuch festhielt, er sähe dort „einen Menschen, der das Schnupftuch immer in der Hand hat, zu schneüzen, und unwillig wird, wenn er nicht[s] heraus zuschneützen findet.“40 Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Gleichsetzung Lavaters von Tagebuch und ,Buch des Lebens‘, indem man alles, was auffallend in „Gange und Umlaufe“ der Gesinnungen sei und auf die Bildung des „moralischen Characters einen merkbaren Einfluß“ habe, wahrnehmen und so genau niederschreiben müsse, als wenn ich Gott selbst mein Tagebuch vorlesen müßte; – so genau, daß ich einst auf meinem Sterbelager, nach diesen Urkunden eine solche Rechnung über mein Leben machen kann, die derjenigen gleich ist, welche mir vorgelegt werden wird, wenn ich den letzten Athem verhaucht haben werde.41
Das irdische Tagebuch („Urkunden“) bzw. die „Rechnung“ soll dereinst identisch mit jener auf der Grundlage des himmlischen ,Lebensbuches‘ sein; 37 [Johann Caspar Lavater:] Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches Zweyter Theil, nebst einem Schreiben an den Herausgeber desselben, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1773, S. XXIV. 38 Nach Käte Silber hat die Lavater-Schwärmerei gegen Ende der sechziger Jahre in Zürich einen unheimlichen Umfang angenommen: „Die Macht seines Wortes übte einen gewaltigen Einfluss aus, und empfindsame Beichten nach der Art seines ,Geheimen Tagebuches (von einem Beobachter seiner Selbst)‘ entstanden in Fülle.“ Käte Silber: Anna Pestalozzi-Schulthess und der Frauenkreis um Pestalozzi. In: Anna Pestalozzis Tagebuch. Hg. von Fritz-Peter Hager und Daniel Tröhler, Bern – Stuttgart – Wien 1993, S. 73–242, hier S. 128. 39 Vgl. Boerner: Tagebuch (wie Anm. 31), S. 32. 40 Heinrich Funck (Hg.): Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher, Weimar 1901 (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 16), S. 301 (Eintrag vom 16. Juli 1774). 41 [Johann Caspar Lavater:] Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 13. Vgl. dazu Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987 (Germanistische Abhandlungen, Bd. 62), S. 89 f. Schon im Erinnerer, einer Moralischen Wochenschrift, schrieb Lavater: „Haltet ein moralisches Tagbuch über euch selbst, über euere Handlungen, euere Reden, euere Begierden und Gedanken; aber zeichnet nicht nur eure tugenhafte[n], sondern auch eure bösen und fehlerhaften Handlungen – nicht nur das Äußerliche, auch das Innere, die Bewegungsgründe, Triebfedern und Absichten derselben auf. – Liebet euch selbst nicht! – schreibet es so auf, wie es von der Wahrheit in dem Buch euers Lebens aufgeschrieben wird. – Das sey dann euer angenehmstes Buch – Einmal wird es gewiß das lehrreichste seyn! Ihr werdet die nöthigste und die interessanteste Wissenschaft lernen, die ein Sterblicher lernen kann, die Kenntniß euer selbst.“ Der Erinnerer. Eine Wochenschrift, Auf das Jahre MDCCLXVI [2. Jg.], Zürich, Bey Füeßli und Compagnie, 1766, S. 12.
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in dieser ,doppelten Buchhaltung‘ offenbart sich der ungeduldig-ängstliche Vorgriff auf die kommende große Abrechnung. Am eindrücklichsten hat Lavater Vorstellung und Praxis des ,Lebensbuches‘ in der Moralischen Wochenschrift Der Erinnerer, dem Organ der patriotischen Jugendbewegung Zürichs der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts, entwickelt.42 Er berichtet darin, gleich im ersten Stück des neuen Jahres 1766, von einem Traum: Ein Greis führte ihn, „durch die hohe furchtbare Pforte“43 in den Vorhof eines ungeheuren Palastes. Es war, wie sich herausstellen wird, die „Wohnung des ewigen Schreckens“,44 „das Haus der Verzweiflung“,45 Läuterungsort der abgeschiedenen Seelen, eine Art reformiertes Purgatorium. (Lavater schätzte übrigens die Zahl derjenigen, die „nach dem Tode unglücklich seyn werden“,46 allein für die Stadt Zürich auf jährlich über 300 Menschen bei etwa 500 Todesfällen). Durch einen unermesslich langen, von „schwachen unzähligen der Reihe nach hangenden Lampen“47 erleuchteten Gang, vorbei an mehr als hundert Türen (auf jeder stand der Name einer Stadt oder eines Dorfes) gelangten sie endlich zur Türe, über welcher der Name seiner Vaterstadt stand. Der Führer öffnete die Tür, und dahinter befanden sich, wie in einem Großraumbüro angeordnet, lange Reihen von Tischen, „jeder unter einer matten hängenden Lampe“,48 und auf jedem Tisch ein Buch – für jeden Bewohner und jede Bewohnerin der Stadt Zürich eines. Lavater belauschte nun, immer noch träumend, den verzweifelten Monolog einer armen männlichen Seele beim Lesen ihres, allerdings nicht von ihr verfassten, Lebensbuches. Dessen permanente Lektüre ist Teil des Reinigungs- und Strafdispositivs: Ach! das habe ich geredet, das habe ich gethan, […] seufzte er immer bey sich, da er immer fortlas – Ja den Armen habe ich von mir gewiesen! den Unschuldigen gedränget! ja den Tugendhaften verleümdet – auch das – ach – auch das habe ich gethan – und es ist gethan und wird gethan bleiben – […] ich sehe alles, was ich gethan habe – nichts ist weggelassen, nichts vergessen – alles ist aufgezeichnet, wie ich es gethan habe.49
Ja, durch eine Art Laterna Magica-Projektion werden den armen Seelen endlich ihre Opfer und ihre Sünden als lebendige Bilder auf einem weißen
42 Vgl. ebd., S. 1–16. Zum Erinnerer s. die vorzügliche Disseration von Bettina Volz-Tobler: Rebellion im Namen der Tugend. „Der Erinnerer“– eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767. Diss. phil., Zürich 1997. 43 Der Erinnerer 1766 II (wie Anm. 41), S. 2. 44 Ebd., S. 6. 45 Ebd., S. 9. 46 Ebd., S. 10. 47 Ebd., S. 4. 48 Ebd., S. 4. 49 Ebd., S. 5 f.
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Vorhang vorgeführt.50 Im weiteren Verlauf des Traumes wird Lavater sogar in sein eigenes Lebensbuch („das Buch meines Lebens“) schauen und sich darüber beruhigen, „noch ziemlich viel leere Blätter“51 darin zu finden. Den Lesern aber ruft er zu, sie sollten bedenken, dass alles, was sie in diesem kommenden Jahr tun, reden, denken und wünschen werden, auf irgendeine Art aufgeschrieben werde – so aufgeschrieben, wie sie es tun, reden, denken und wünschen werden.52 Der Schrecken aber, den dieser Traum noch für uns bereithält, hat weniger mit der szenischen und räumlichen Anordnung zu tun, die an einen frühromantischen Horrorroman denken lässt, als vielmehr mit der gleichsam bürokratischen Organisation dieses Ortes, wo Alphabet und Chronologie verbindliche Ordnungskriterien bleiben. Eine kritische Position gegenüber dem Tagebuchschreiben nimmt Johann Georg Müller (1759–1819), Bruder des Historikers Johannes von Müller, seit 1794 Professor für Griechisch am Collegium humanitatis in Schaffhausen, gegenüber der Mode ein, Tagebuch zu führen. Seine Bedenken formulierte er in einem Brief an seinen Freund Johannes Büel vom 23. Juni 1792. Eine tägliche Selbstprüfung vor dem Einschlafen über den Tag sei immer bildend. Der dreifachen Frage: „Wo übertrat ich das Maß? Was ward gebührend verrichtet? Was versäumte ich zu tun, was die Pflicht erfordert hätte?“53 solle man alles, „vom ersten bis letzten“, unterwerfen, sich für die „begangenen Fehler“ strafen und der Tugend freuen. Der selbstbezogenen Introspektion aber eignete ein asozialer Zug, indem man sich zu wichtig nähme: Von dieser Selbstbeobachtung rühren auch die Tagebücher her ; ich darf kaum sagen, was ich von Lavaters Tagebuch denke. Der Nimbus um diesen Mann ist zu hehr und zu heilig, als daß man sich ihm ungestraft nahen dürfte; aber er ist größtentheils an dieser Mode schuld. Ich liebe die pythag[o]räische Tagsprüfung und halte sie für die beste Übung; aber warum jede Empfindung, die uns den Tag über aufstößt, sogleich 50 Ebd., S. 7 f.: „Alsbald rollte sich, wie ein weisser Vorhang, aus der Höhe des Zimmers, hinter der Lampe, bis zu dem Tische niederwärts auf, – und auf dem weissen Vorhang erhuben sich nach und nach lebendige Bilder, – Menschen-Gestalten mit mancherley Geberden! o erschrecklicher, donnernder, tödtender Anblick! Sie seufzten, und sprachen – ,Wehe dem, der uns verführet, wehe dem, der uns gedränget, wehe dem, der uns verläumdet hat!‘ und diese Bilder flohen aufwärts, und waren verfolgt von neuen lebendigen Bildern – die wiesen vor sich und hinter sich! winselten! lästerten! schwiegen! – Sünden ohne Zahl, Himmel-rufende Sünden – Elend ohne Namen – immer gedrängtere Haufen, und immer neue schrecklichere Bilder – jedes mit neuer Verzweiflung bewaffnet – drohten dem bebenden Sünder ins bleiche Antlitz –“ 51 Ebd., S. 9. 52 Vgl. ebd., S. 10. 53 Karl Stokar: Johann Georg Müller, Doktor der Theologie, Professor und Oberschulherr zu Schaffhausen, Johannes von Müllers Bruder und Herders Herzensfreund. Hg. vom historisch-antiquarischen Verein im Schaffhausen, Basel 1885, S. 365. Vgl. Hans Noll: Hofrat Johannes Büel von Stein am Rhein 1761–1830. Ein Freund großer Zeitgenossen, Frauenfeld – Leipzig 1930, S. 160. Zur Selbstprüfung und den entsprechenden Fragekatalogen, wie sie etwa der Erinnerer (wie Anm. 41) abdruckte (Der Erinnerer 1765 I: 97–104, 145–152), vgl. ebenso Volz-Tobler: Rebellion (wie Anm. 42), S. 166–175, 179 f.
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in seine Schmetterlingssammlung anspießen? Was kommt da heraus? Nichts als Empfindelei. […] Dein Tagebuch ist dein vertrautester, vielleicht einst dein aufrichtigster Freund; man gefällt sich gar zu sehr, wenn man viele zarte Empfindungen in demselben aufschreiben kann, als daß man sie nicht aufsuchen sollte. In diesem Falle bräche ich von Stund an, ohne ein einziges Abschiedswörtchen zu sagen, alle Vertraulichkeit mit diesem papierenen Freunde ab.54
Diesen jüdisch-christlichen Voraussetzungen einerseits und theologischen und literarischen Reflexionen andererseits begegnet man überraschend häufig, wenn man sich in die ,Niederungen‘ des praktischen Tagebuchschreibens hinunterlässt. Über die Motive und Absichten der Schreibenden geben die Texte oft selber Aufschluss. Bei Aufschrieben, die ins haus- und landwirtschaftliche Fach schlagen, ist der Zweck in der Regel offensichtlich. Bei anderen, etwa chronikalischen Notizen, mag dieser weniger ins Auge springen. Werden hier die Gründe für das Aufschreiben in den Texten selber explizit angegeben, so liegt darin nicht die Verdoppelung eines Tatbestandes, der sich auch anders hätte rekonstruieren lassen, sondern ein Signal, das einen mehr oder weniger problematischen Sachverhalt anzeigt. Der Alltag als Raum der Selbstverständlichkeit, der Bornierung und Sicherheit55 bedarf einer schriftlichen Versicherung nicht, und Schreiben wiederum hat keinen Teil an diesem unausgesprochenen Selbstverständnis. Im Schreiben wird vielmehr eine Distanz zum Alltäglichen geschaffen, die nach Rechtfertigung und Erklärung verlangt. Die angegebenen Zwecke, die die Schreibenden vorgeblich leiteten, müssen als Symptom bzw. Rationalisierung eines Konfliktes zwischen subjektivem Anspruch und gesellschaftlicher Norm verstanden werden, als der mehr oder weniger geglückte Versuch, allgemeine Rollenerwartungen und -stereotype mit eigenen Bedürfnissen in Übereinstimmung zu bringen. Als Rechtfertigung, ja Selbstermächtigung reagieren sie auf einen bestimmten historischen Kontext und belegen dadurch eine als prekär erlebte Schreibpraxis. Schon in dem Umstand, dass die Schreibenden sich Zeit zum Schreiben erübrigen mussten, über die sie im Grund nicht verfügten, und diesem Dilemma nur dadurch zu entgehen vermochten, indem sie durch strenge Gliederung und Planung des Tagesablaufes und Entmischung der Tätigkeiten (Departementialisierung von Arbeit und Freizeit) Zeit schafften und durch das Verschieben der Schreibaktivität in die Nacht die Dauer der Reproduktion verkürzten, wird der gesellschaftliche Druck sichtbar. So weist der Hofbauer Jost von Brechershäusern (1590–1657) aus Brechershäusern (Kanton Bern) im Emmental darauf hin, seine Chronik „in langen Kiltnächten geschrieben“56 zu haben. Der ökonomische Druck und die Rollenerwartung an die Hausväter als Ernährer der Familien erlaubten keinerlei arbeitsfremde 54 Stokar: Johann Georg Müller (wie Anm. 53), S. 127. Vgl. Noll: Johannes Büel (wie Anm. 53), S. 160. 55 Vgl. Hermann Bausinger: Alltag und Utopie. In: Kuckuck 6 (1991), H. 2, S. 12–21. 56 Jost von Brechershäusern: Chronik. Hg. von Alfred Bärtschi. In: Burgdorfer Jahrbuch 25 (1958), S. 95.
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Aktivitäten während der Arbeitszeit. Bräkers Frau, Salome, spricht diesen Sachverhalt deutlich aus: „Du Narr! was nützt dir itzt all’ dein Lesen und Schreiben? Kaum wirst du noch dir und deinen Kindern den Betelstab daraus kaufen können.“57 Dieselben wirtschaftlichen Belange und Erwartungen hatte die Frau von Leonhard Karl Inderbitzin im katholischen Kanton Schwyz im Sinne, als sie sich dem Herausgeber gegenüber kritisch über die Neigung ihres Mannes zum Schreiben äußerte: ,Mein Herr! so böse war’s gegen meinen Mann nicht gemeint: aber ich dachte immer, was will ein Bauer, der kaum recht Buchstabieren und das A B C schreiben lernte, vom Studieren und Bücherschreiben verstehen; hätte er während der Zeit, da er bey seinem Schreiben oft schwitzte und dämpfte, Schwefelhölzlein gemacht, so wäre damit mancher Gulden verdient worden; wozu wird jemals dieses Gekratz nützen?‘58
Der zwinglianisch reformierte Kleinbauer Hans Rudolf Baur unterscheidet genau zwischen Arbeitszeit und Erholungsstunden. Da er jene nach seiner Pflicht zubringt, glaubt er sich im Recht, diese nach seiner persönlichen Neigung, das heißt unter anderem zum Schreiben, nutzen zu dürfen. Dabei kommt bei der Gegenüberstellung gemeiner Freizeitvergnügen und dem Gebrauch, den er von der freien Zeit macht, der Imperativ der neuen Zeitökonomie zur Anwendung: Wie mancher liebe Tag, wie viele, viele Stunden, Sind, (o der großen Schand!) bey eitler Lust verschwunden! Durch Fressen, Sauffen, Spiel, durch Tanz, durch Geiz und Pracht, Wird die so schäzbar Zeit, verscherzt und zugebracht: Wie wär es doch so gut, wenn man sie thät vertreiben, Durch mehrung des Verstands, durch Singen, Bätten, Schreiben! Ich habe dieß erwählt, ich thu es für und für, Und frage nichts darnach, was die Welt redt von mir, Ich will die Arbeits-Zeit nach meiner Pflicht zubringen, Und an dem Ruhe-Tag des Höchsten Ruhm besingen! Und käme der Welt einst mein Büchlein ins gesicht, So ist und bleibts mir gleich, was Sie dann von mir spricht.59 57 Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften des Armen Mannes im Tockenburg, 1. Theil: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Hg. von H.[ans] H.[einrich] Füßli, Zürich: Orell, Geßner, Füßli & Co. 1789, S. 211. Ebenso Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften, 4. Bd.: Lebensgeschichte und vermischte Schriften. Bearbeitet von Claudia Holliger Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli u. Heinz Graber, München – Bern 2000, S. 499. 58 [Leonhard Karl Inderbitzin:] Kaleidoskop, oder unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der EhestandsFarben. Von einem sonderbaren und seltenen Autor im Hirtenhemd und Holzschuhen, aus dem Kanton Schwytz, Zug, gedruckt bey Joh[ann] Mich[ael] Aloys Blunschi 1824, S. XI. 59 Hans Rudolf Baur: Gedanken und Geschichten aus meinem Leben. Geschrieben in den Jahren 1805–1826. Abschrift nach dem Manuskript durch Reinhold Möhrle, Stallikon 1988 (Urkunden und Materialien zur Geschichte von Stallikon, H. 302), S. IX.
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Und Bräker will zum Schreiben nur die ehemals unnütz vertane Zeit in Anspruch nehmen.60 Dieser Druck zwang ihn zu einer „eintheillung der zeit“, zu einem haushälterischen Umgang mit ihr. In den ersten sieben Jahren (1768–1774), in denen Bräker Tagebuch führte, ist es vor allem ein Motiv, das ihn beim Schreiben leitete – Gott zu loben: „es ist meine lust von seiner gütte zu schreiben“.61 Das Soli Deo Gloria, welches im Innendeckel des ersten Bändchens steht („mein schöpfer deine ehr allein j sol mir der zweck im schreiben sein“)62 ist in nuce sein formuliertes Schreibprogramm, das ihm zugleich einen Freiraum eröffnet. Durch die religiöse Legitimierung wird dem möglichen Vorwurf begegnet, die Zeit an einen unnützen, eitlen Gegenstand zu verschwenden.63 Ebenso formulierte Abram Louis Sandoz (geb. 1712), Bauer bei La Chaux-de-Fonds (Gemeinde Valangin) und Inhaber mehrerer Ämter, auf den ersten Seiten seines Journals (1737–1766) seine Absicht, die Wohltaten Gottes, die dieser an ihm und den Seinen getan, zum Gedächtnis festzuhalten: Au reste comme dans tout le Cour de ma vie, jay receu des Graces signal8[ de Dieu, il est juste que je les publi[, & que je reconnoisse en la presence & au vu & su de ma famille, mes Deffauts & Manquement qui ne sont que trop grand, & par la on voira combien cet Etre Supreme est bon envers les pauvres humains & particulierement envers moi, qui malgr8 tant d’imperfection, de pech8 de comission, Mais sur tout & principalem[en]t domission, qui sont en si grand nombre que je ne saurois les calculer. a daign8 me supporter, h8 que di je, me supporter, mÞme me combler de ses plus precieuses Benedictions temporelles & spirituelles.64
60 „witers hab ich freilich wenig zeit, allein der herr schenckt mir dan und wan eine einsamme stunde. ich kan die stunden die ich vorhin unütz zugebracht darzu anwenden auch habe ich den sabath des herren und nächtliche stunden. und wan ichs recht betrachte, so ist es eines vatters pflicht, vor allem anderen auß, für däs ewige heil seiner kinder zusorgen.“ Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften. 1. Bd.: Tagebücher 1768–1778. Bearbeitet von Alfred Messerli u. Andreas Bürgi, München – Bern 1998, S. 29. 61 Ebd., S. 504 (Eintrag vom 14. 2. 1773). 62 Ebd., S. 3. 63 Des gleichen Sachverhaltes versicherte sich auch ein Vorschriftenbuch, das wohl in St. Gallen erschienen war: „Soli Deo Gloria. A. Furmular Allerhand vblichster vnnd gemeinster Schriften als Fractur, Cantzley, Current Latein etc. der liebben Jugendt in Sant Gallen zu nutzlichem Vnterricht zusammen geordnet vnd ins Kupffer verfertigt, durch Johann Hochreütiner. […] M.D.CLVII [= 1657].“ Oskar Bätschmann (Hg.): Schreibkunst. Schulkunst und Volkskunst in der deutschsprachigen Schweiz 1548 bis 1980, Zürich 1981, S. 49 (Abb. 32). Für den Kanton Graubünden vgl. Paul Zinsli: Volkstümliche Schreibkunst in Safien vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 47 (1951), S. 175–288, und Leo Zihler: Die von den volkstümlichen Schreibkünstlern Safiens im 17. Jahrhundert verwendeten Kupferstichvorlagen. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 52 (1956), S. 227–233. 64 Zit. nach Simone Ecklin: Le journal de Daniel Sandoz 1770–1779. Essai de lecture critique. M8moire de licence [masch.], Universit8 de Neuch.tel, Facult8 des Lettres Histoire, Neuch.tel 1990, S. 112 f. Das Original befindet sich in der Stadtbibliothek von La Chaux-de-Fonds.
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Zwei Grenzen dieses Schreibprogramms zeichnen sich ab. Es ist einmal die Gefahr, in eitler Selbstüberschätzung den biblischen Horizont zu überschreiten. Was nicht mit der Schrift konform ist und aus ihr fließt, entspringt – nach orthodoxem und pietistischem Selbstverständnis – eigener Willkür, ist Erdichtetes, kurz: Lüge, Selbstvergottung. So versichert Bräker in seiner Vermahnung an seine Kinder, darin nichts „in eigner macht, oder nach eigenem gutdünken gelehret“, sondern sie nur „in das wort des herren gewisen“65 zu haben. Die Angst, im Schreiben weniger die Ehre Gottes besungen als vielmehr eitle Weltdinge verhandelt und das Eigene befördert zu haben, konnte zum Abbruch des Schreibens oder gar zur Vernichtung des schon Geschriebenen führen. Hans Rudolf Baur war oft im Zweifel gewesen, ob er das Büchlein verbrennen wolle oder nicht: „ich hätte es auch gethan, wan nicht meine eigene Erfahrung mich daran gehindert hätte, den ich hatte in meiner Jugend viele Bücher von ungleichen Meinungen und Lehrsäzen gelesen und gab mir viel Müh, die Christliche Lehr recht zu verstehen“.66 Und in einem in das erste Tagebuch eingeklebten Brief an Pfarrer Martin Imhof (1750–1822) bekannte Bräker 1789, vor 21 Jahren das bis dahin auf einzelne Blätter Geschriebene gesichtet, einzelnes davon ausgezogen und überarbeitet, das übrige aber wie Gassenliedchen, Liebesbriefe, da es ihn nicht erbaulich dünkte, vernichtet zu haben.67 Den gleichen Skrupeln gibt Baur in einem längeren Gedicht, das den Zweck seiner Autorschaft verhandelt, Raum: Warum komt mir in den Sinn? ich woll ein Büchlein schreiben: Ich kenne keine Kunst, kan dieß Handwerk nicht treiben, Sehr arm an Wissenschaft, auch arm an Geld und Guth; Wo nehm ich Worte her, zu schreiben wie man thut, […] Ich lebe allezeit im sehr geringen Stand, Von dieser Welt veracht, und Einsam auf dem Land: Doch dieß die Ursach ist so meinen Geist aufweket, Und ihn zum schreiben treibt, davon gar nicht abschreket, Ich schreibe nur für mich, so gut ich schreiben kan, Zur Lehr und Ehre nicht, wie ein gelehrter Mann, Denn mein geringer fleiß mir oft viel freude machet, Ich bin in Gott vergnügt, wenn mich die Welt verlachet,jj Ich lese Gottes Wort, ich denke nach und schreib, Und dieses dient mir oft zum frohen Zeitvertreib, Es seye fern von mir, nach eitlem Ruhm zu streben! Und wer kan dieser Welt noch bessre Lehren geben? Als Moses schon gethan, und der Propheten Schaar, Und Jesus Christus selbst, als er auf Erden war? Und darnach hat sein Geist die Jünger auch getrieben, 65 Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 115. 66 Baur: Gedanken und Geschichten (wie Anm. 59), S. 80. 67 Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 3.
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Daß sie die reine Lehr, zu unserm Heil geschrieben: […] Hört man nun dieses; wer wollte Mich dann hören? Und – kan ich diese Welt, durch dieses Büchlein lehren? O nein! die Üebung dient mir selbst zum Unterricht: Und was mir Freude macht, liebt diese Welt ja nicht.68
Hier nun sind alle Bescheidenheitstopoi an einem Ort versammelt. Als ungeübter Laie schreibt er nur für sich, will andere nicht belehren, sucht nicht „eitlen Ruhm“ noch Ehre, und was er schreibt, liegt innerhalb des Rahmens der „reinen Lehr“, wie sie im Alten und Neuen Testament überliefert ist. Dieser vorgeblich reproduktive Schreibgestus will nichts Eigenes erfinden, sondern lediglich etwas wiedergeben und nachbilden, das schon vorhanden ist. Der anderen Grenze begegnen wir in den Eingeständnissen der eigenen Insuffizienz. Es ergäbe ein imaginäres „ungeheüres buch“, wenn man die Wohltaten, die einem nur während eines Jahres von Gott widerfahren, aufzählen und aufschreiben wollte. Die Endlichkeit des Schreibens steht gegen die Ewigkeit der Güte Gottes, das eigene Schreibbuch gegen das unendliche Buch der Natur: solte ich armer staub alle sein gütte auf deise wenige bleter schreiben könen, da doch himmel, erde und das meer vol geschreiben sind von seiner gütte, und doch noch nicht alle[s] geschriben ist: solte ich sey außsprechen könen; nein, dan seine gütte wehret ewiglich.69
Neben das Problem der ungenügenden Schreibleistung tritt das dem Schreiben vorausgehende Wahrnehmungsproblem.70 Die Leiden, die Jesus durchgestanden habe, sei er nicht im Stande zu beschreiben: „mein verstand begrifft es nicht, meine sinen fasen es nicht jch glaube es seye unbegriflich, unbeschriblich, und allen menschen-verstand überstigent gewesen.“71 Der Topos der Unbeschreibbarkeit ist durchaus populär. In Volksliedern wird etwa die Größe der Liebe, die ein junger Mann seiner Geliebten gegenüber empfindet, in quantifizierende Bilder aufgelöst, indem die Anzahl der Schreiber, die Größe des Papiers und der Zeitraum der Schreibakte ins Unermessliche gesteigert werden.72 Aus der Erfahrung der Unfähigkeit und des Scheiterns erwächst die Bitte um Unterstützung und endlich der Wunsch, nur noch Instrument, passives Organ sein zu dürfen, das dem Willen eines anderen folgt und das ihm Eingegebene in Schrift verwandelt. Einem Schulkinde gleich, 68 Baur: Gedanken und Geschichten (wie Anm. 59), S. VIIf. 69 Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 584 (Eintrag vom 31. 12. 1773). 70 „jch habe schon je u.[nd] je von der gütte des herren geschriben; und wil noch mehr davon schreiben, dan sey erfühlet mein hertz; und doch hab ich noch das wenigste darvon erkandt“. Ebd., S. 461 (Eintrag vom 29. 11. 1772). Vgl. ebd., S. 687 (Eintrag vom 10. 10. 1774). 71 Ebd., S. 72. 72 Vgl. H[einrich] Messikommer: Aus alter Zeit. Volksleben (im Dialekt), Gesang und Humor im zürcherischen Oberlande. Ein Beitrag zur Volkskunde. Zweiter Teil, Zürich 1910, S. 220.
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bittet Bräker den „himmlischen Lehrmeister“, ihm beim Abschreiben der „Vorschrift“ die Hand73 bzw. „die feder selbsten [zu] führen“.74 Schreiben dient – wie schon gesagt – nach pietistischem Verständnis, laufend den eigenen Zustand zu protokollieren, um dem Vergessen und Verdrängen durch Verschriftlichung entgegenzuarbeiten und die eigene Entwicklung, den Gnadenstand, zu überprüfen. Die primäre Funktion der Schrift, die begangenen Vergehungen vor dem Vergessen zu bewahren, leitet sich von der Pflicht nach Perfektionierung des eigenen Lebenswandels her : „er schenke mir ein aufrichtiges hertz, das ich meine vergehungen nicht verschwige, sonder die selben zu meiner eignen warnung auf schribe“.75 Das eigene Leben misst sich als Zeit der Bewährung und der Prüfung an einer gedachten Norm, der vita perfecta. Der pietistische Perfektibilitätsgedanke steht unter einem Geständniszwang. Überprüfung des eigenen Gnadenstandes bedarf sowohl des Aufschriebs (Datengrundlage) als auch des Lesens und Bilanzierens (Datenauswertung). Als Materialisierung des Gewissens wird das Tagebuch zu einem Verzeichnis, zu einer Liste der eigenen Verfehlungen. In Anlehnung an das biblische Bild vom „Buch der Werke“ und an die populäre Vorstellung eines im Himmel existierenden Sündenregisters prüft nun der Gläubige sich laufend und im Vorgriff auf die finale Bilanz, welche Gott ziehen wird, selbst,76 ohne der Norm eines vollständigen Erfassens seiner Sünden je genügen zu können.77 Anstelle der göttlichen Prüfung setzt sich die Selbstprüfung, weniger als doppelte als vielmehr verdoppelnde Buchhaltung des eigenen Gnadenstandes. Das Bilanzziehen fällt nicht nur bei Bräker dabei oft mit dem Ende des Jahres zusammen.78 Bei Katholiken begegnet man dem Aufschreiben der begangenen Sünden als Gedächtnisstütze für die Beichte. Ein Sohn Lienhard Karl Inderbitzins, der in jungen Jahren gestorben war und der „vermuthlich Priester geworden wäre, […] hatte ein außerordentliches Talent“. Er war so fromm, „daß er jeden Fehler aufschrieb, damit er ihn nicht vergesse zu berichten.“79 Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 539 (Eintrag vom 5. 9. 1773). Ebd., S. 489 (Eintrag vor dem 1. 1. 1773). Vgl. ebd., S. 123 (Eintrag vor dem 1. 1. 1770). Ebd., S. 122 (Eintrag vor dem 1. 1. 1770). Vgl. Markus Schär: Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich 1500–1800, Zürich 1985, S. 216. 77 „ich werde auch nimmer mehr alle meine fähler könen aufschriben, dan wer kan wüsen wie offt er fählet, ach mein heyland verzeihe mir doch auch meine verborgene fähler, und lehre mich meine eigene wege prüfen“. Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 122 f. (Eintragung vor dem 1. 1. 1770). 78 „wir sind nun in den letzsten tagen eines jahrs unsers [Lebens, A.M.]; in den letzsten tagen eines so gutten und gesegneten jahrs: da solt ich wol billich deise wenige tage noch darzu anwenden; mich zu prüffen und rechnung zuhalten wie ich diß jahr hingebracht habe; wie viel ich von meinem gott guttes empfangen; wie sich gott gegen mir verhalten das gantze jahr von anfang biß zum ende. und wie ich mich aber hinweider gegen ihme verhalten, wie ich auf seinen wegen gewandlet und seine gebott vor augen gehabt auf allen meinen wegen.“ Ebd., S. 707 (Eintrag vom 28. 12. 1774). 79 [Leonhard Karl Inderbitzin:] Ehestand-Spiegel, worin die jungen Leute sehen, was für Rosen im
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Das Tagebuchführen bei Ulrich Bräker
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Zwei Metaphernkomplexe erlauben es Bräker, die Evidenz seiner Schreibpraxis vorzuführen, der der Reise und des geistlichen Kampfes. Das Bild des Erdenlebens als einer Pilgerschaft ist ihm von der Bibel her vertraut.80 Nach Hebräer 13,14 haben wir „hie kein bleibende Stad“, sondern suchen „die zukünfftige“. Die Erbauungsliteratur wie John Bunyans (1628–1688) The Pilgrim’s Progress from this World to That which is to Come (1678; 1684) hat zur Popularisierung dieser Bildvorstellung beigetragen.81 Das Bild des Erdenlebens bzw. der Welt als einer Nachtherberge hält einmal die Endlichkeit und die zeitliche Gerichtetheit dieser Übergangsstation fest und konstituiert darüber hinaus eine Wahrnehmungsstruktur, die ein ,Aufmerken‘ den Zufällen gegenüber fördert und ihre Notierung legitimiert: „geistliche, und auch leibliche zufeligkeiten, zufelige gedanken, auch allerhand ordentliche, oder auch userordentliche sachen, die sich in unserer bilgrimschafft einfinden und begeben können.“82 Dank dieser Bildlogik kann Bräker seine kurze Lebensgeschichte „beschribung meiner leiblichen reiß und pilgerschafft, in diser armen welt“83 nennen. Ebenso ist sein Tagebuch, in welchem das zeitliche Hintereinander der Ereignisse im Schreiben graphisch, das heißt räumlich, abgebildet wird, eine Chronik dessen, was ihm auf seiner Pilgerreise begegnet. Die Aufwertung „geistlicher und leiblicher zufeligkeiten“ erlaubt zudem das Aufschreiben scheinbar unbedeutender Dinge. Damit wird das Feld des Sagbaren entschieden erweitert. Dieses Notationsprinzip hatte der Rezensent einer 1794 in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erschienenen Kritik des zweiten Bandes von Bräkers Schriften, der Auszüge aus seinen Tagebüchern enthält, durchaus vermerkt, wenn auch ins Lächerliche gezogen.84 Bildspender der Reisemetapher sind, neben Bibel und Andachtsliteratur, Reiseberichte selbst. Zwar achtete Bräker ihre Lektüre „zur säligkeit nicht nothwendig“,85 auch wenn sie für einige Personen nützlich sein mochten. Oft hatten sie in ihm „eine lust zum reisen […] erwekt, und ein mißvernügen mit meinem stand, und vatterland, in welches mich gott gesetzet hat“,86 oft aber dachte er beim Lesen derselben, „ach möchten doch dise gelehrten mäner, so vil müh und fleiß anwenden, das himlische vatterland, das neüe Jerusalem, die stadt des
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Ehestande wachsen, und die Eltern sehen, wie sie selbe warten und pflegen müssen, wenn sie vollständige und wohlriechende Rosen haben wollen, Zug, gedruckt bey Johann Michael Aloys Blunschi 1826, S. 123. Vgl. 1Petr 1,17 u. 2,11; ebenso 2Kor 5. Zur Rezeption von The Pilgrim’s Progress in Deutschland vgl. August Sann: Bunyan in Deutschland. Studien zur literarischen Wechselbeziehung zwischen England und dem deutschen Pietismus, Gießen 1951 (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 96). Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 278 (Eintrag vor dem 1. 1. 1771). Ebd., S. 19 (5. 3. 1768). Vgl. dazu Samuel Voellmy: Ulrich Bräker, der Arme Mann im Tockenburg. Ein Kultur- und Charakterbild aus dem achtzehnten Jahrhundert; nach den Handschriften dargestellt, Zürich 1923, S. 246 f. Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 107 f. Ebd., S. 108.
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lebendigen gottes zubeschriben“.87 Durch die Reiseliteratur fühlte sich Bräker nun selber legitimiert, die Fährnisse, die ihm auf seiner „Reise oder Pilgrimschaft“ widerfahren, genau festzuhalten, auch wenn sie im Vergleich mit den Reiseberichten großer Männer unbedeutend erscheinen mochten.88 Das Bild vom christlichen Leben als einem geistlichen Kampf, dem anderen Metaphernkomplex, geht zurück auf Hiob 7,1 und Eph 6,11–17. Ebenso finden sich in den anderen Paulus-Briefen zahlreiche Stellen, die das Ringen um ein Leben in der Nachfolge Christi mit Bildern von Krieg und Streit ausdrücken. Zur Popularisierung dieser Thematik haben John Bunyans The Holy War, made by Shaddai upon Diabolus, for the regaining the Metropolis of the World. Or, the Losing and Taking again of the Town of Mansoul von 1682 nachhaltig beigetragen.89 Auch hier wiederum ist Schreiben Rechenschaft ablegen, „genau achtung geben, ja alle tag auf aufschriben wie vil wir dem find abgewonen, oder aber verlohren haben, damit wir jelanger je klüger werden, und unserem getreüen feldherren immer getreüer werden.“90 Jenseits von all den Rechtfertigungen und Rationalisierungen des Schreibens, die auf die Frage nach dem Wozu und nach dem Sinn und der Notwendigkeit mit einer rationalisierenden Motivierung reagieren, gibt es auch Spuren einer gleichsam ursprünglichen Freude am Hervorbringen von Buchstaben. Bräker hatte von Jugend auf Freude am Schreiben und am Betrachten schön geschriebener großer Buchstaben: „wo ich einen haben konte machte ich den selben in der einfalt nach“.91 Die Lust am Schreiben ist zuerst einmal Freude an der ästhetischen Gestaltung und an der Gestalt der Buchstaben. Indem der Würde des Wortes Ausdruck verliehen wird, sollen diese Schriften weniger gelesen als vielmehr betrachtet und angeschaut werden. Die Lust Bräkers an der Schrift, „nach lust u[nd] einfalt des hertzens etwas einzuschreiben“,92 erschöpfte sich oft im Schreibakt selbst. Der späteren Lektüre des Geschriebenen kommt lediglich sekundäre Bedeutung zu. Als ,Notdurft der Seele‘93 bezeichnete Hotz, ein Küher aus Quadt (Kanton Bern), das Schreiben, auf die Frage des deutschen Reisenden Karl Spazier (1761–1805), dem er im Berner Oberland als Führer diente, ob man, da doch so vieles geschrieben würde, das Schreiben nicht besser lassen sollte.
87 Ebd. 88 Vgl. ebd., S. 121 f. (Eintrag vor dem 1. 1. 1770). 89 Auf Deutsch erschienen als: J[ohn] Bunyans Heiliger Krieg Jesu Christi wieder den Teufel, umb und über die menschliche Seele, Hamburg 1693; vgl. August Lang: Puritanismus und Pietismus. Studien zu ihrer Entwicklung von M. Butzer bis zum Methodismus, Neukirchen 1941 (Beiträge zur Geschichte und Lehre der Reformierten Kirche, Bd. 6), S. 227–235 und Sann: Bunyan in Deutschland (wie Anm. 81), S. 42–89. 90 Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 122. 91 Ebd., S. 539 (Eintrag vom 5. 9. 1773). 92 Ebd., S. 587 (Eintrag vor dem 1. 1. 1774). 93 Vgl. Spazier: Wanderungen durch die Schweiz (wie Anm. 26), S. 262 f.
Das Tagebuchführen bei Ulrich Bräker
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Schreiben als Notdurft der Seele hat sein Analogon in der Beichtsituation. Wie dort darf die Rede sein von Dingen, von denen man sonst nicht zu sprechen wagt. Dem Beichtgeheimnis, das Unbefugte als Mitwisser ausschließt, entspricht die ,Verschwiegenheit‘ der Schrift bzw. des Tagebuchs. In einem Dialog mit seinem Tagebuch („Büchelgen“) lässt Bräker dieses sagen: Komm nur, und vertrau’ mir, was du willst; ich bin verschwiegen, und nehme alles an, ohne dir ein Wort einzureden, und ohne einem Menschen davon auch nur eine Sylbe zu sagen, wo du mich anders selber vor ihren Augen verhehlen willst. […] Entschütte deine Brust; oder, wenn du’s nicht kannst, so trag’ es meinetwegen, oder geh’ zum Arzt, und laß dir von dem ein Mittel verschreiben.94
Dem Schweigen beim Schreiben entspricht die Verschwiegenheit des Tagebuches. Mit dem Hinweis auf den Arzt, dessen Therapie als Äquivalent zum Schreibakt steht, wird die therapeutische Bedeutung des Schreibaktes unterstrichen. Mit dieser modernen Schreibhaltung nimmt Bräker eine Entwicklung vorweg, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele weibliche Tagebuchschreiberinnen leiten wird. So hatte Helene Thommen (geb. 1870) in der Pensionatszeit ein Tagebuch als Erinnerungshilfe zu führen begonnen; später wurde es zum „intimsten Freund“, zum „Vertrauten“, mit dem man sich aussprach. Diesen Wandel formulierte Helene Thommen (geb. 1872) selbst: Anfangs schrieb ich hinein, weil ich mich freute, später mein schönes Welschlandjahr wieder durchleben zu können dieses Buch lesend, jetzt aber fühle ich ein Bedürfnis mich auszusprechen und manches niederzuschreiben, was ich gerne Jemandem sagen möchte, aber nicht kann.95 Nur selten findet sich eine Stelle, wo ein Tagebuchschreiber, wie hier Heinrich Nehracher, sein Scheitern im Schreiben eingesteht: Anfangs handelte ich planlos. – Ein Abend – ein Freund – konnte mich zum Entschluß bringen meine Gedanken niederzuschreiben. Fragte ich mich, was willst du schreiben, so war die Antwort: Kommt Zeit, kommt Rath. – Und – wie willst du schreiben? Ein jedes wie es sich schickt. – Nun packte ich Alles an, was mir auffiel, Großes und Kleines, Tragisches und Komisches, – griff allenthalben nach dem Bleistift und kritzelte meine Schreibtafel zu beiden Seiten voll. So entstuhnd ein Mischmasch ohne Wahl und Geschmack, das mir täglich weniger gefiel, besonders das Komische, zu dem ich gar nicht geschaffen bin. Nun, was anfangen? Das Gute mit dem Schlechten vertilgen und nicht im Stande sein, 52 Wochen einen Plan durchzusetzen? Jetzt wagte ich mich bloß an das Ernsthafte, und beschloß dann, Auszüge 94 Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften des Armen Mannes im Tockenburg, 2. Theil: Tagebuch des Armen Mannes im Tockenburg. Hg. von H.[ans] H.[einrich] Füßli, Zürich: Orell, Geßner, Füßli & Co. 1792, S. LXIf. (Eintrag vom 18. 3. 1777). Vgl. ebenso Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 735. 95 Ursi Blosser – Franziska Gerster: Töchter der guten Gesellschaft. Frauenrolle und Mädchenerziehung im schweizerischen Großbürgertum um 1900, Zürich 1985, S. 249.
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zu schreiben, die aber, weil ich meiner selbst zu wenig mächtig war, und noch zu wenig Gedanken unterdrücken lernte, abermals zu weitläufig wurden.96
Abram Louis Sandoz verwahrt sich gegen die Unterstellung, aus purer Lust zu schreiben. Das Führen eines Journals ist nur die eine Seite. Der eigentliche Sinn aber liegt in der späteren Lektüre, die einem einen kritischen Blick auf sein Leben und auf sein Betragen erlaubt. Sein Journal ist Gedächtnishilfe, nicht nur für sich selber, sondern auch für andere, denen er bereitwillig Einblick in sein Buch gewährt: [J]e necrit pas pour plaire, mais pour instruire, non tant les autre que moi meme, puis que come je vien de le dire, chacun doit faire la revu[ de sa vie & conduite, Ce n’est pourtant pas non plus comme quelques un pourroient le croire, la passion que j’ay[ pour la plume qui me guide depuis lann8e 1737 que je tien Journal. Mais je l’ay fait pour soulager ma Memoire & pour l’utilit8 de plusieurs a qui par lui j’ay rendu de grand Service, par faire voir dans mes Journaux, ce qui en differentes ocasion setoit pass8 en ma presence qui les interressoit, ou il pouvoient ce remettre parfaitement de ce qui leur en fesoit, Et ce que je ne refuse a personne, moyennant qu’il m’indique a peu pres l’Epoque de ce qu’il demande.97
Daneben finden sich aber auch elaborierte Schreibprogramme für das Tagebuchschreiben, die über das bloße Festhalten bzw. eigene Innewerden der begangenen Fehler in der Lektüre hinausgehen. Das Fehlverhalten soll durch seine schriftliche Repräsentation analysierbar werden, um die daraus gewonnenen Einsichten für das zukünftige Leben fruchtbar werden zu lassen. Der reformierte Johannes Niederer (1779–1843) kam mit seinem Freund Tobler 1798 überein – er war Pfarrer im Bühler geworden –, ein Tagebuch zu führen. Folgende Punkte wollte Niederer regelmäßig in seinem Tagebuch berücksichtigen: 1. Charakteristik interessanter Personen, die unsere Lebensgeschichte durchkreuzen, oder deren Einfluß wichtig auf das Vaterland oder der Gegend ist, die wir bewohnen. Bemerkungen der Wege, die sie einschlagen, ihre gemeinnützigen Zwecke zu erreichen. 2. Hoffnungen, Aussichten für die Zukunft, worauf sie von uns gegründet werden. 3. Bemerkungen über den Geist der Zeit, wie sie im Gespräche, bei historischen Auftritten etc. uns aufstoßen. 4. Plane, Entwürfe für unser eigenes Leben – dargestellt mit unsern individuellen Eigenschaften, auf die wir sie gründen. 5. Bemerkungen über ihre Ausführung, warum sie erreicht wurde, warum nicht? 6. Wünsche, die wir erfüllt wünschten, deren Erreichung in dem Talent unserer Freunde liegt, Aufforderungen an sie. 7. Verzeichnisse unserer Lektüre und ihrer Resultate; 96 Heinrich Nehracher : Hinterlassene Schriften des Volks- und Vaterlandsfreundes H. N. von Stäfa. Mit vorangehender Beschreibung von dessen Leben. Hg. v. J.[ohann] J.[acob] Leuthy, Zürich: J. J. Leuthy zum hintern Rechberg bei der Peterskirche 1839, S. XIII–XV. Reprint: Charleston, S.C. 2011. 97 Zit. nach Ecklin: Le journal de Daniel Sandoz (wie Anm. 64), S. 112.
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welches der Gewinn der Wahrheit aus derselben sei; Bücher, deren Kenntniß nützlich und allen lehrreich wäre.98
Wichtig an diesem Schreibprogramm Niederers sind weniger die Punkte, die er für aufschreibenswert hält, als vielmehr seine Absicht, das Tagebuch als eine Kontrollinstanz einzusetzen. So sollen Hoffnungen (Punkt 2) und Pläne (Punkt 4) niedergeschrieben werden, um in einem späteren Zeitpunkt zu prüfen, wie weit sie in Erfüllung gingen oder sich realisieren ließen (Punkt 5). Ebenso sollen die Resultate aus der persönlichen Lektüre (Punkt 7) festgehalten werden. Indem die Möglichkeit des Scheiterns erwogen wird und die Absicht, seine Ursachen zu analysieren, wird das Tagebuch, wenigstens der Intention nach, ein Instrument der Perfektibilität im aufklärerischen Sinne. Ebenso formulierte der Zürcher Ingenieur und Erfinder Johann Georg Bodmer (1786–1864) in seinem „Tagebuch ueber meine Reise, im Ineren von England angefangen am 5 8bre 1816“ gleich am Anfang, es sei oft von Nutzen, den Erfolg seines Tuns und Lassens zu wissen, „indem man sich dan in ähnlichen Fällen darnach richten“ könne. Von noch größerem Nutzen für sich und andere sei es jedoch, alle Abende, sich dessen zu erinern, was man den Tag ueber gethan; so soll in dieses Buch, nicht nur eingeschrieben werden, wo u[nd] was ich am verflossnen Tage gesehen, das des aufschreibens werth wäre, und was mir besonderes aufgestoßen, sondern auch, wie ich selbst, meine Zeit verwendet und wie ich Ursache habe, mit meinem Thun zufrieden oder unzufrieden zu seyn.99
Konrad Deringer stellte für sich nach dem bewunderten Vorbilde Benjamin Franklins100 als sein „eigener Gesetzgeber Lebensregeln auf“.101 Zehn der dreizehn Tugenden Franklins hatte Deringer übernommen, nämlich Mäßigkeit (1), Schweigsamkeit (6), Ordnungsliebe (4),102 Entschlossenheit (16), Einfachheit (3), Arbeitsamkeit (8), Wahrheitsliebe (5), Gerechtigkeit (7), Vertragsamkeit (13), die Franklinsche Mäßigung und Reinlichkeit (2). Es fehlen bei ihm Gemütsruhe, Keuschheit und Demut. Dafür berücksichtigte er 98 Sidler: Johannes Niederer, ein Lebensbild. In: Jahrbuch der Luzernischen Kantonallehrerkonferenz. Luzern: J. L. Bucher 1875, 74–87, hier 76 f. 99 Helen u. Paul Schoch-Bodmer (Hg.): Ein Tagebuch von Johann Georg Bodmer (1786–1864) aus den Jahren 1816/17 nebst biographischen Notizen. In: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 81 (1936) S. 1–26 (u. Anhang), hier S. 8. 100 Vgl. Benjamin Franklin: Lebenserinnerungen. Hg. von Manfred Pütz. In der deutschen Erstübertragung Gottfried August Bürgers (Teil I, 1792) sowie der Kapp-Auerbachschen Fassung (Teil II–IV, 1876), durchgesehen und nach der kritischen Ausgabe von L. W. Labaree (Yale, 1964) ergänzt von Gottfried Krieger, Zürich 1985, S. 122–136. 101 Konrad Deringer: Chronica meiner Erlebnisse, nebst Notizen über Weltbegebenheiten u. Naturereignisse, von K. D. im Thal in O/Stammheim. 1. Bd. 1830–1852, 2. Bd. 1852–1857. Transkription nach dem Original von Barbara Blickenstorfer. Typoskript, Zürich 1988, Bd. 2, S. 116. 102 „Regel IV: Ordnungsliebe. Ich will in meinem Hauswesen, in meinen Büchern u. Schriften u. in meinen Geschäften keine Unordnung dulden. […] Ich will über Einnahmen u. Ausgaben Rechnung führen.“ Ebd.
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sechs weitere, nämlich Sparsamkeit (9), Wohltätigkeit (10), Gehorsamkeit (11),103 Freundlichkeit (12), Frömmigkeit (14) und Zufriedenheit (15).104 Bräker versteht die Aufzeichnungen seiner Verfehlungen als Warnung an seine Kinder und an sich selber.105 Als „vermahnung“ sollen sie auch über seinen physischen Tod hinaus sie zum richtigen Handeln anleiten.106
103 „Regel XI: Gehorsamkeit. Ich will allen Gesetzen, die human u. nützlich sind, gehorchen. Meinen Pflichten als Bürger, als Sohn u. als Christ will ich nachzukommen suchen.“ Ebd. 104 Vgl. ebd., S. 116 f. 105 Vgl. Bräker: Tagebuch 1768–1778 (wie Anm. 60), S. 65, 414 (Eintrag vom 24. 5. 1772), 496 f. (Eintrag vom 15./16. 1. 1773), 611 (Eintrag vom 22. 2. 1774). 106 Vgl. ebd., S. 122 u. 29. Und an anderer Stelle: „ach möchte doch deise meine einfaltige schrifft, noch nach meinem tod, ein donner schlag sein in die hertzen meiner kinder, das sey doch möchten abgehalten werden von dem allgemeinen welt lauff, der in die hölle geht. jch empfellen eüch deises büchlein, und bitte eüch noch einmal, um eüeren unsterblichen seelen willen, laset eüch doch bewegen eüer heil zuwürken mit forcht und zitteren al die wil es hütt heist.“ Ebd., S. 115 f.
Ruth Albrecht
Blut-Theologie und Blut-Mystik bei Charles Huddon Spurgeon, Elias Schrenk und Adeline Gräfin Schimmelmann I. Das christliche Blut-Symbol in Literatur und Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts Emanuel Quint, die Hauptfigur in einem Roman Gerhart Hauptmanns, lauscht in einem kleinen schlesischen Schulzimmer, zwischen alten Männern und Frauen auf den Schulbänken sitzend, dem Prediger Bruder Nathanael Schwarz.1 Emanuel horchte von neuem auf! – Er [der Prediger] sprach von dem rosenfarbenen Blute des Lammes, durch das der Gläubige rein von jedem Flecken der Sünde gewaschen sei. So schneeig und weiß, daß kein Makel an ihm zu erfinden wäre.2
Für den Prediger, einen Herrnhuter, bildet die Ausmalung des Blutes Christi nur ein Bild in einer ganzen Fülle von Erlösungsmetaphern, die zum großen Teil der Johannes-Apokalypse entnommen sind, wie z. B. die erste Auferstehung und das himmlische Jerusalem.3 Wenn er sich in missionarischer Absicht der Bevölkerung zuwendet, dann kommt der Herrnhuter Wanderprediger auf das Thema des Blutes Christi zu sprechen. So lautet seine werbende Botschaft einem jungen Mann gegenüber, mit dem er ein längeres Gespräch führt: Haben Sie nie daran gedacht, sich mit all ihren heimlichen Nöten und Schmerzen dem anzuvertrauen, der all unsere Schmerzen und Nöte kennt und der aus Liebe zu uns, damit wir von allen Sünden entbunden und selig würden, sein Blut am Kreuze vergossen hat?4
1 Hauptmann (1862–1945) wuchs in Schlesien auf, kehrte hierhin immer wieder zurück und verarbeitete diese regionalen Kenntnisse in vielen seiner Werke. 1878/79 lebte er einige Zeit bei Verwandten, die zur Herrnhuter Brüdergemeine gehörten, s. Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, Gütersloh 1954, S. 52, 233, 301, 314 f., 329, 339 f., 344, 358 f.; Wolfgang Leppmann: Gerhart Hauptmann. Leben, Werk und Zeit, Bern – München – Wien 1986, S. 41–48. 2 Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint, Berlin 1910, S. 32. Zu bibliographischen Angaben über diesen Roman vgl. Roy C. Cowen: Hauptmann-Kommentar zum nichtdramatischen Werk, München 1981, S. 69–80, 315 f.; Sigfrid Hoefert: Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns. Bd. 1, Berlin 1986, S. 98–101. 3 Apk 19,5 f.; 21,1–22,5. 4 Hauptmann: Quint (wie Anm. 2), S. 37.
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Ruth Albrecht
Dieses Panorama lässt Hauptmann in seinem 1910 veröffentlichten Roman entstehen: Der Narr in Christo Emanuel Quint.5 Er verarbeitet hier eigene religiöse Jugenderfahrungen, u. a. mit den Herrnhutern.6 Der Protagonist Quint, der sich für den Messias hält, bezieht sich in einigen seiner Äußerungen und Gedanken auf das Motiv des Blutes Christi. Ihm ging durch den Kopf, was die Schlange im Paradiese gesagt hatte. War nicht durch das rosenfarbene Heilandsblut die jahrhunderttausende alte Sünde wettgemacht und dadurch der Zugang zum Baum der Erkenntnis freigeworden?7
In seinen Träumereien und Phantasien sieht Quint öfter das Haupt Christi vor sich, „mit der Krone aus Stacheln über der Stirn, von denen langsam Tropfen um Tropfen des heiligen Blutes über die Augen des Schmerzensmannes herunterrann“.8 Quints Beschäftigung mit Aussagen der Bibel führen ihn zu theologischen Spekulationen, die in der Geschichte des christlichen Denkens nicht völlig fremd, jedoch umstritten sind. Im Umfeld der Mystik wurden solche Überlegungen entwickelt, die der schlesische Narr vorträgt.9 Quint entwirft die Idee einer Blutsverwandtschaft von Gott und Mensch und begründet hiermit seinen Auftrag; in diesem Zusammenhang spricht er über Gott als Vater: „Ein Vater liebt seine Kinder, denn seine Kinder sind sein Blut. Wir sind aber Gottes Blut“.10 Für sich selber zieht er daraus die Folgerung: „In mir ist Gott!“11 Die Idee einer besonderen Verbindung von Gottheit und Menschheit durch das Blut dient bei Quint dazu, plausibel zu machen, dass er 5 Dieses Werk kann als moderner „Christus-Roman“ verstanden werden, s. Heinz Dieter Tschörtner: Gerhart Hauptmann. Ein Lebensbild, Würzburg 1995, S. 76. Zur Bearbeitung religiöser Themen in Hauptmanns Werk s. auch Felix A. Voigt: Gerhart-Hauptmann-Studien 1934–1958. Hg. von Mechthild Pfeiffer-Voigt, Berlin 1999 (Veröffentlichungen der GerhartHauptmann-Gesellschaft e.V., Bd. 9), S. 49 f., 70–78, 118–127; Samuel D. Stirk: Gerhart Hauptmanns „Jesusstudien“ in ihrer Beziehung zu dem Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“. Ein Beitrag zum Studium von Hauptmanns Religion, Breslau 1937; Waltraud WendeHohenberger: Gerhart Hauptmanns „Der Narr in Christo Emanuel Quint“. Eine religions- und gesellschaftskritische Romananalyse, Frankfurt a.M. 1990; Leppmann: Hauptmann (wie Anm. 1), S. 273–276. 6 Die Auseinandersetzung mit herrnhutischen Einflüssen begegnet in vielen Werken Hauptmanns, s. Wilhelm Sulser : Gerhart Hauptmanns Narr in Christo Emanuel Quint. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen religiösen Dichtung, Bern 1925, S. 56 f. Gute Kenntnisse Hauptmanns über die Erweckungsbewegung zeigen sich u. a. darin, dass die Schweizerin Dorothea Trudel erwähnt wird, Hauptmann: Quint (wie Anm. 2), S. 42 f. Diese habe in der Nähe von Zürich „eine Anstalt errichtet, wo allerlei Sieche und vom Teufel Besessene Aufnahme und Behandlung fänden.“ Sie heile durch die Kraft ihres Gebets, ebd., S. 42 f. Vgl. hierzu Stephan Holthaus: Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874–1909), Gießen 2005, S. 336–339. 7 Hauptmann: Quint (wie Anm. 2), S. 71. 8 Ebd., S. 88. 9 Einflüsse insbesondere der schlesischen Mystik auf Hauptmann sind nachweisbar, s. Stirk: „Jesusstudien“ (wie Anm. 5), S. 6; Cowen: Hauptmann-Kommentar (wie Anm. 2), S. 77. 10 Hauptmann: Quint (wie Anm. 2), S. 232. 11 Ebd., S. 233.
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der Messias sei. In einem Zwiegespräch mit dem Herrnhuter Prediger zitiert er einen Liedvers Zinzendorfs ohne den Autor zu nennen. Es klingt eher so, als ob der schlesische Messias diesen Satz aus ganz eigener Erfahrung spricht: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.“12 Während Quint, der Herrnhuter Prediger und Teile der armen Landbevölkerung Schlesiens sich in diesem Roman ansprechbar zeigen für eine ChristusMystik, in der das Blut eine hervorgehobene Rolle spielt, äußern die Vertreter der kirchlichen und lokalen Hierarchie keinerlei Hinneigung zu solchen christlichen Überlieferungen. Einer der Geistlichen, die in diesem Werk vorkommen, argumentiert für Gottes Ordnung und die Einteilung in Stände, das Predigen ist Aufgabe der ausgebildeten Pastoren, Laien dürfen das Volk nicht beunruhigen.13 „Herrnhut in Ehren! Aber, ob der Schade, der von dort ausgeht, den Segen nicht überwiegt, bleibe dahingestellt.“14 Diese Äußerungen fallen gegenüber Emanuel Quint im Beisein des örtlichen Amtsvorstehers, eines Barons. Hauptmann verortet die Redeweise vom Blut Christi ausschließlich bei den sozialen Randfiguren, den Alten auf der Schulbank, dem Predigerbruder sowie der Figur des Narren. Ihnen gegenüber stehen die Garanten der kirchlichen und bürgerlichen Ordnung, Pastor und Amtsvorsteher, die mit anderen Worten und Begriffen in Verbindung gebracht werden. Das Blut Christi bildet eine nebensächliche Spur des Romans, das theologische Hauptthema ist das Reich Gottes.15 Die von Hauptmann in Szene gesetzten Ereignisse spielen gegen Ende des 19. Jahrhunderts.16 Der Schriftsteller greift mit der Thematisierung des Blutes Christi Überlieferungsstränge auf, die im religiösen Panorama dieser Zeitepoche präsent waren, aber nicht bestimmend im Vordergrund standen.17 12 Ebd., S. 24. Im Evangelischen Gesangbuch, Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, Hamburg – Kiel 1994, Nr. 350, wird zu diesem Lied angegeben, dass die Strophen 2–5 von Zinzendorf stammen und von Christian Gregor bearbeitet wurden. Zu Gregor ebd., S. 957. 13 Dieser trägt den Namen Schimmelmann. Ob dies eine Anspielung auf Adeline Gräfin Schimmelmann und ihre Herkunftsfamilie darstellt, lässt sich nicht erweisen; zu ihrer Person s. unten in diesem Beitrag. Seit Beginn des Kaiserreichs lebten Mitglieder der gräflichen Linie der Schimmelmanns in Berlin. Bei den Schimmelmanns aus Mecklenburg gab es im späten 15. und 16. Jahrhundert Pastoren; diese erlangten allerdings keine überregionale Bedeutung. Diese Informationen verdanke ich Herrn Hans Schimmelmann, Briefe vom 17. 1. 2006 und 3. 2. 2007. In Schlesien konnten bisher keine Mitglieder der Schimmelmann-Familie nachgewiesen werden. Vgl. ferner Hans Georg Haack: Die Pfarrergestalten bei Gerhart Hauptmann, Berlin 1930 (Studien zur Geschichte des evangelischen Pfarrerstandes, Heft 6); Gerd Schimansky: Die Last und Lust, ein Christ zu sein. Evangelische Pfarrergestalten in der Literatur, Hannover 1995, S. 99–102. 14 Hauptmann: Quint (wie Anm. 2), S. 13. 15 Ebd., S. 540; Sulser : Narr (wie Anm. 6), S. 47 f. 16 Zur Zeitebene des Romans s. Wende-Hohenberger : „Der Narr“ (wie Anm. 5), S. 33. 17 Vgl. hierzu Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005. Das 19. Jahrhundert stellt Hölscher dar als „Zeitalter der Kirche“, S. 177–400. Zur Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung s. ebd., S. 347–351.
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Seine Vertrautheit mit diesem heilsgeschichtlichen Topos verdankt er Begegnungen mit Herrnhutern, Vertretern der Erweckungsbewegungen und der schlesischen Mystik. Blut als Symbol für Leiden, Opfer und Passion bildet im Traditionskomplex des Christentums einen unverzichtbaren Bestandteil, in Theologie und Frömmigkeitspraxis tritt die Beschäftigung mit diesem Grundelement aber nur gelegentlich in den Vordergrund. Nicht nur in den protestantischen Erweckungsbewegungen, sondern auch in Segmenten der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts kommt dem göttlichen und menschlichen Blut besondere Aufmerksamkeit zu. Das gilt z. B. für die Stigmatisation der Nonne Anna Katharina Emmerick, deren Visionen Clemens Brentano niederschrieb.18 Die blutenden Verwundungen Emmericks, die von kirchlicher und ärztlicher Seite als Entsprechung zu den Wundmalen Christi anerkannt wurden, galten als Zeichen einer herausragenden Nähe zur Person Christi und insbesondere zu seiner Passion. In den von Brentano aufgezeichneten und ihrer Echtheit nicht unumstrittenen visionären Berichten spielen diese keine Rolle; für die Zeitgenossen galt die Augustinerin dadurch jedoch als besonders glaubwürdig.19 Das Thema Blut begegnet in der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht nur unter Bezug auf die Person Christi, sondern auch allgemein als Symbol für Leben, Schuld und Opfer. Theodor Fontanes Roman Quitt thematisiert eine andere Art von Blut-Mystik, die dem menschlichen Blut-Opfer eine sühnende Funktion zuschreibt.20 Dieses Werk beschäftigt sich nicht ausdrücklich mit der christlichen heilsgeschichtlichen Deutung des Blutes, Motive dieser Tradition klingen gleichwohl an. Der junge ungestüme Lehnert Menz verletzt seinen Nachbarn tödlich; dieser verstirbt nach mehreren Tagen in einem abgelegenen Waldgebiet.21 Das sterbende Opfer notiert in seinem Notizbuch u. a. als Bitte an den Grafen, in dessen Dienst er stand, dieser möge für seine Familie sorgen und führt als Begründung an: „ich habe mein Blut für Dich vergossen“. Diese letzten Sätze sind „nur kurz und abgerissen und Blutstropfen dazwischen“.22 Ohne dass eine 18 Das Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Nach den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich aufgeschrieben von Clemens Brentano. Bd. 2, Regensburg 1858; Leben der heil. Jungfrau Maria. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Augustinerin des Klosters Agnetenberg zu Dülmen. Aufgeschrieben von Clemens Brentano. 2. Aufl., München 1854; Anna Katharina Emmerick. Die Mystikerin des Münsterlandes. Hg. von Clemens Engling u. a., Dülmen 1991; Andreas-Pazifikus Alkofer: Stigma/ Stigmatisation. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. von Walter Kasper. 3. völlig neu bearb. Auflage, Bd. 9, Basel [u. a.] 2000, Sp. 1004 f. 19 Joseph Adam: Clemens Brentanos Emmerick-Erlebnis. Bindung und Abenteuer, Freiburg i.Br. 1956; Laura Benzi: Resakralisierung und Allegorie im Spätwerk Clemens Brentanos. Das Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838) und Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi (1833), Bern 2003. 20 Theodor Fontane: Quitt. Roman. Hg. von Christina Brieger, Berlin 1999 (Theodor Fontane. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählende Werk, Bd. 12). 21 Ebd., S. 93, 111. 22 Ebd., S. 114 f.
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direkte Parallele hergestellt wird, klingen die neutestamentlichen Verse der Abendmahlstradition deutlich an: Jesus vergießt unschuldig sein Blut für die Schuld der Vielen.23 Jahre später stirbt der einstige Mörder, mittlerweile Mitglied einer amerikanischen Mennoniten-Kolonie, bei einem tragischen Unfall. Kurz vor seinem Tod schreibt Menz mit seinem eigenen Blut mangels anderer Hilfsmittel auf einem Zeitungsblatt Sätze des Vaterunser nieder, vor allem die Bitte um Vergebung der Schuld, und als letztes das Wort „quitt“.24 Schuld- und Blutmotiv, die Fontane hier miteinander verknüpft, verweisen neben iher Verankerung in der christlichen Tradition auch auf die mythische und symbolische Ebene dieser beiden Momente.25 Diese Facetten aus Literatur und Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts können nur einen kleinen Hinweis auf die Vielgestaltigkeit des Symbols Blut darstellen, das zu den zentralen Elementen der christlichen Überlieferung gehört.26 Die alttestamentliche Passatradition mit der Schlachtung des Opferlamms wurde als Deutung auf den Kreuzestod Christi übertragen und somit zum Kern der Erlösungslehre des Christentums.27 Das im Neuen Testament entwickelte Abendmahlsverständnis verkündet die Heilswirksamkeit des Blutes Christi für alle Gläubigen, die die Stellvertretung des Gottessohnes für sich annehmen.28 In der Frömmigkeitspraxis entwickelten sich spezifische Formen der Verehrung des Blutes Christi;29 Passions-Betrachtungen, die die Leiden Christi verlebendigen, verbinden sich bei einigen Autoren und Autorinnen des Mittelalters mit mystischem Erleben. Dies trifft etwa zu für Katharina von Siena, für sie ist Blut „die Chiffre für das Heilsgeschehen, für die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen“.30 Bei Franz von Assisi kam die Intensität 23 Vgl. Mk 14,24 parr. 24 Fontane: Quitt (wie Anm. 20), S. 283. 25 In einem anderen Roman lässt der Schriftsteller eine adlige Herrenrunde für kurze Zeit über das Motto „Blut sühnt“ debattieren, allerdings kommt diesem Motiv keine tragende Bedeutung für die Gestaltung des gesamten Werkes zu, s. Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman, Zürich 5. Aufl. 1986, S. 274–278. 26 Vgl. Melissa Meyer : Thicker than Water. The Origins of Blood as Symbol and Ritual, New York 2005; Otto Böcher: Blut I. und II. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin – New York, Bd. 6 (1980), S. 727–736. 27 Ex 12; Mk 15; Mt 27; Lk 23; Joh 19; Hebr 9–10. Ein Teil der Passions-Überlieferung zum Blut Jesu hat antijudaistische Implikationen, s. hierzu Rainer Kampling: Das Blut Christi und die Juden. Mt 27,25 bei den lateinischsprachigen christlichen Autoren bis zu Leo dem Großen, Münster 1984 (Neutestamentliche Abhandlungen NF, Bd. 16). 28 Mk 14,22–24; Mt 26,17–30; Lk 22,2–23; Joh 6,22–59. 29 Karl Kolb: Vom Heiligen Blut. Eine Bilddokumentation der Wallfahrt und Verehrung, Würzburg 1980; Leopold Kretzenbacher: Bild-Gedanken der spätmittelalterlichen Hl.Blut-Mystik und ihr Fortleben in mittel- und südosteuropäischen Volksüberlieferungen, München 1997 (Bayerische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen NF 114). 30 B8atrice Acklin Zimmermann: Katharina von Siena. In: Lexikon für Theologie und Kirche (wie Anm. 18), Bd. 5 (1996), Sp. 1334. Die Verehrung der mittelalterlichen Mystikerin für das Blut und die Wunden Christi kommt auch in der Legenden-Überlieferung zum Ausdruck, s. 33 Jahre für Christus. Raimund von Capua. Die Legenda Maior. Das Leben der hl. Caterina von Siena,
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der Christus-Nachfolge und der Verehrung des leidenden Gottessohnes in seiner Stigmatisation zum Ausdruck.31 Viele Aspekte von Theologie und Frömmigkeit erfuhren in der Reformation eine grundlegende Veränderung – das Thema des Blutes Christi blieb im Zentrum der Soteriologie präsent.32 Fortleben und Verwandlung der mittelalterlichen Verehrung des Blutes Christi in den Kirchen der Reformation lassen sich beispielsweise in den Liedern des Lutheraners Paul Gerhardt beobachten, der dieses Thema des Öfteren aufgreift.33 Er beschreibt eindringlich die bleibende gegenwärtige Bedeutung des einmal vergossenen Blutes Christi für den einzelnen Gläubigen. In antithetischer Zuspitzung wird mit den Metaphern des Blutes gespielt, wenn es bei Gerhardt heißt, dass Christus „macht schnee-weiß, was ist rot“.34 Die Folgen dieses Verwandlungsprozesses fasst der lutherische Theologe in diese Worte: „Nichts, nichts kann mich verdammen, nichts nimmt mir meinen Mut: die Höll und ihre Flammen löscht meines Heilands Blut“.35 Im Pietismus waren es vor allem Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine, die der Beschäftigung mit den Wunden Christi als Versinnbildlichung seines erlösenden Leidens einen zentralen Platz einräumten. In der herrnhutischen Frömmigkeitspraxis entstand ein ausgefeilter Kult zur Betrachtung und Verehrung des Blutes und insbesondere der Seitenwunde Jesu; dieser kam vor allem in den Liedern zum Ausdruck.36 HansJürgen Schrader hat gezeigt, wie die überbordende Bilderflut Zinzendorfs sukzessive aus seinen Liedern eliminiert und abgemildert wurde – das gilt auch für viele Motive der Blut- und Wunden-Metaphorik, die in der Dichtung des Grafen zum Symbol-Inventar gehört und teilweise in ganz unerwarteten Zusammenhängen vorkommt.37 Mit der Mission der Herrnhuter verbreitete sich diese bildhafte Anschauung des Erlösungsgeschehens weit über die Grenzen der Brüdergemeinen hinaus. So wurden z. B. Teile des Liedguts von
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übers. Von Josef Schwarzbauer, Kleinhain 2006, S. 32, 104, 151, 155, 163, 204, 211, 219, 246, 249, 285, 289 f., 429, 438, 440, 496, 511. Justin Lang: Franziskus von Assisi. In: Lexikon für Theologie und Kirche (wie Anm. 18), Bd. 4 (1995), Sp. 44–47. Hans Schneider: Blut Christi IV.2. In: Theologische Realenzyklopädie (wie Anm. 26), Bd. 6, 1980, S. 740–742. Evangelisches Gesangbuch (wie Anm. 12), Nr. 36,2; 83,2.7; 133,3; 325,3; 370,11; Christian Bunners: Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung, Göttingen 2006, S. 152 f. Evangelisches Gesangbuch (wie Anm. 12), Nr. 351,5; vgl. Jes 1,18; Ps 51,9; Apk 7,14. Ebd., Nr. 351,6. Dietrich Meyer: Zinzendorf und Herrnhut. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 3–106, hier : 49 f.; Peter Voigt: „Gloria Pleurae!“ Die Seitenwunde Jesu in der Theologie des Grafen von Zinzendorf. In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 32 (2006), S. 175–212. Hans-Jürgen Schrader: Zinzendorf als Poet. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 138 f., 149, 152–155, 157, 160; vgl. auch Craig Atwood: Interpreting and Misinterpreting the Sichtungszeit. In: ebd., S. 174–187.
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Rezipientinnen und Rezipienten übernommen, die sich nicht fest der Organisation der Herrnhuter anschlossen. Während die herrnhutische Hervorhebung des Blutes Christi als Versinnbildlichung des Erlösungsgeschehens im 18. Jahrhundert als auch später viel Beachtung fand, ist dagegen Johann Albrecht Bengels Beschäftigung mit diesem soteriologischen Topos viel unbekannter geblieben. Martin Brecht spricht von einem „eigenwilligen Beitrag“ Bengels „zur Lehre von der Rechtfertigung oder Versöhnung“, die „eine beträchtliche Ausstrahlung auf den württembergischen Pietismus und darüber hinaus“ hatte.38 Brecht betont, dass Bengels Blut-Theologie aus der Auseinandersetzung mit Vertretern der lutherischen Orthodoxie erwuchs und theologisch breiter verankert war als bei Zinzendorf. Gleichwohl sieht er bei Bengel die Gefahr, dass dieser seine Blut-Lehre nicht ausreichend mit der Soteriologie verknüpfte.39 Im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts insgesamt spielt die Beschäftigung mit den Wunden und dem Blut Christi nur eine untergeordnete Rolle.40 Diese wenigen Skizzen zu Literatur und Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts sowie die Rückblicke auf Traditionen, die in dieser Zeitepoche weiterhin wirksam waren, beleuchten, dass dem Symbol Blut in der christlich geprägten Kultur und Frömmigkeit eine ungebrochen hohe Bedeutung zukam. Allerdings war die intensive Auseinandersetzung damit auf wenige eher randständige Gruppierungen der christlichen Konfessionen begrenzt. In einigen Richtungen der Erweckungsbewegungen zeichnete sich eine Konzentration auf das Thema des Blutes Christi ab, die dieses zum zentralen Inhalt des Heilsgeschehens erklärt. Prominente Vertreterinnen und Vertreter dieser Frömmigkeitsrichtung forderten eine Art von Bekenntnisakt: Nur wer das Blut Christi als Zentrum der Erlösung betrachte, könne als gläubiger Christ anerkannt werden. Während bei der Mehrzahl der Theologen und Prediger das Blut Christi ein Element im Gesamtzusammenhang der Soteriologie bildet, isolierten einige diesen heilsgeschichtlichen Topos und machten ihn zum Inbegriff ihrer Verkündigung. Als Beispiel sei hier auf ein Publikationsorgan verwiesen, das im Zentrum der Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung entstand. Von 1886 an erschien in Schleswig-Holstein der Gemeinschaftsfreund; als Redakteur und Herausgeber dieser Zeitschrift betätigte sich der 38 Martin Brecht: Johann Albrecht Bengels Lehre vom Blut Jesu Christi. In: ders., Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2: Pietismus, Stuttgart 1997, S. 308–334, hier: 308 f. 39 Ebd., S. 315–317, 322. Zur weiteren Tradierung und Umsetzung dieses Motivs im württembergischen Pietismus s. Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertums. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005 (Bürgertum NF. Studien zur Zivilgesellschaft, Bd. 2), S. 108, 128, 136, 153, 163, 317. 40 Vgl. Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 46), S. 166, 247. Vgl. dagegen die noch im 17. Jahrhundert reich entfaltete mystische Tradition, Paul Alverdes: Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus, Diss. phil. [masch.] München 1921.
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Havetofter Pastor Johannes Witt. Er gehörte zum Kern der Gemeinschaftsbewegung und versah seine schriftstellerische Tätigkeit im Auftrag des Vereins für innere Mission in Schleswig-Holstein. Im ersten Heft formulierte Witt als Grundlage aller Mitarbeiter an dieser neuen Zeitung, „daß wir uns von dem heiligen Geiste leiten lassen und nur die Ehre des Herrn und die Rettung der durch sein Blut erkauften Seelen dabei im Auge haben“.41 Im zweiten Heft wurden die Statuten des den Gemeinschaftsfreund tragenden Vereins abgedruckt. Nur eine Bedingung wird für die Mitgliedschaft als Minimalkonsens genannt; hierbei handelt es sich nicht um formale Voraussetzungen wie Kirchenmitgliedschaft o. ä., sondern das Bekenntnis zum Blut Christi wird als Zentrum christlicher Lehre behandelt. „Mitglied des Vereins kann jeder werden, der die erlösende Kraft des Blutes Jesu Christi an seinem Herzen erfahren hat“.42 Die Zustimmung zu diesem Theologumenon erscheint hier als Signal für die gemeinsame Basis, die den Verein und dessen Zeitschrift prägt. Witt, die von ihm redigierte Zeitschrift und der schleswig-holsteinische Verein sind Repräsentanten einer Strömung innerhalb der Erweckungsbewegungen, die das Blut Christi als das wichtigste Element aller christlichen Lehrinhalte betrachtet. Es geht bei dieser theologischen Ausrichtung nicht nur um die Zustimmung zu einem Lehrkonsens, sondern kennzeichnend ist gleichzeitig die Betonung der Erfahrungsebene. Wenn Christus und sein Blut in der skizzierten Weise aufgefasst werden, dann verbindet sich damit ein Erlebnisvorgang, der mit den zitierten Metaphern umschrieben wird. Dem Blut Christi wird eine Eigenmächtigkeit zugeschrieben, die die involvierten Personen verändert. Der hier aufscheinende in sich geschlossene Zirkel von geistigen und affektiven Komponenten begegnet auch bei anderen Männern und Frauen, die sich in ähnlicher Weise zum Blut Christi äußerten. In den folgenden Ausführungen werden drei Vertreter der Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts vorgestellt, bei denen eine Form von BlutTheologie nachzuweisen ist. Anhand von zwei Männern und einer Frau sollen in exemplarischer Weise Konturen einer spezifischen Beschäftigung mit dem Blut Christi und Profile der theologischen Deutung analysiert werden. Als Repräsentanten unterschiedlicher Ausgestaltungen von Blut-Theologie und -Mystik werden modellhaft ein englischer Prediger, ein freier Evangelist in Deutschland sowie eine unkonventionelle Frau im männerdominierten Terrain der Erweckungsprediger porträtiert.
41 Der Gemeinschaftsfreund. Monatsblatt des Vereins für innere Mission in Schleswig-Holstein, Heft 1 (1896), S. 16. 42 Der Gemeinschaftsfreund (wie Anm. 41), Heft 2 (1896), S. 26, § 3; die übrigen neun Paragraphen regeln Formalia. In § 1 wird zwar die Confessio Augustana als Bekenntnisgrundlage des Vereins genannt, eine Mitgliedschaft in der lutherischen Kirche wird aber nicht als Voraussetzung für die Zugehörigkeit gefordert.
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II. Charles Haddon Spurgeon (1834–1892) Der baptistische Prediger Charles Haddon Spurgeon war bereits zu seinen Lebzeiten weit über die Grenzen Englands hinaus berühmt wegen seiner von Tausenden besuchten Gottesdienste, in denen er seine Ansprachen hielt. Seine gedruckt erhaltenen Reden füllen allein 63 Bände, Nachdrucke in verschiedenen Sprachen sind bis in die Gegenwart zu verzeichnen.43 1986 veröffentlichte ein baptistischer Verlag Spurgeons Ratschläge für Prediger in deutscher Übersetzung, 1966 wurden Auszüge aus seinen exegetischen Vorarbeiten zu Psalmen-Predigten neu übersetzt.44 Der Hamburger Theologe Helmut Thielicke räumte in seinen Werken zur Homiletik dem englischen Baptistenprediger eine große Bedeutung ein, indem er als Ausdruck seiner Hochschätzung Teile aus dessen Schriften edierte – diese Bücher erlebten Nachdrucke bis in die 1980er Jahre hinein.45 Neben den Predigten wirkte Spurgeon insbesondere durch seine prägnanten Geschichten und Anekdoten, die sowohl zu seinen Lebzeiten als auch postum in Florilegien gesammelt und in unübersehbarer Fülle gedruckt wurden.46 Im 19. Jahrhundert waren es in Deutschland nicht nur die Baptisten oder die Erweckungsbewegungen, die Spurgeon rezipierten, sondern auch Lutheraner wie der Hamburger Hauptpastor Georg Behrmann oder der Kieler Theologe Gustav Kawerau setzten sich mit ihm auseinander.47 In der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung erfuhr er ebenfalls eine positive Würdigung.48 Charles Haddon Spurgeon kam am 19. Juni 1834 in einem Dorf der Grafschaft Essex als Spross einer puritanischen Predigerfamilie zur Welt.49 1850 erlebte er in einem methodistischen Gottesdienst seine Bekehrung, ließ sich 43 Burkard Krug: Spurgeon, Charles Haddon. In: Bibliographisch-biographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich-Wilhelm Bautz, Herzberg, Bd. 10 (1995), Sp. 1080. 44 Charles Haddon Spurgeon: Ratschläge für Prediger, 4. Aufl. Wuppertal – Kassel 1986; ders., Aus der Schatzkammer Davids. Eine Auswahl, Kassel 1966. 45 Helmut Thielicke: Vom geistlichen Reden. Begegnung mit Spurgeon. Mit Auszügen aus den Werken C.H. Spurgeons, Stuttgart 1961, 4. Aufl. 1978; ders., Auf dem Weg zur Kanzel. Sendschreiben an junge Theologen und ihre älteren Freunde, Stuttgart 1983. 46 Zu seinen Publikationen s. Spurgeon: Alles zur Ehre Gottes. Autobiographie, Wuppertal – Kassel 1984, S. 285–298; es handelt sich hierbei um Auszüge der vierbändigen englischen Autobiographie. 47 Georg Behrmann: Charles Haddon Spurgeon. Vortrag gehalten im Lutherhause in Kiel, Hamburg 1887. Behrmann (1846–1911) war seit 1880 Hauptpastor an St. Michaelis, s. Friedrich Hammer / Herwarth von Schade: Die Hamburger Pastorinnen und Pastoren seit der Reformation. Teil I, Manuskript Hamburg 1995, S. 10. Kawerau verfasste das Vorwort für die deutsche Ausgabe der Spurgeon-Biographie von Richard Schindler: Ein Fürst unter den Predigern. Leben und Wirken von C.H. Spurgeon, Hamburg 1892. Kawerau (1847–1918) nahm seit 1886 die Professur für Praktische Theologie in Kiel wahr, s. Christoph Flegel: Kawerau, Gustav. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 43), Bd. 3 (1992), Sp. 1268–1271. 48 Johannes von Walter : Die Geschichte des Christentums. Halbbd. 3, Gütersloh 1939, S. 923. 49 Spurgeon: Autobiographie (wie Anm. 46), S. 9.
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kurz danach taufen und fing an in einer Sonntagschule mitzuarbeiten. Nach ersten Tätigkeiten als Lehrer und Prediger einer kleinen Baptistengemeinde in der Nähe von Cambridge begann 1854 mit der Berufung nach London die eigentliche Predigerkarriere Spurgeons. Außer frühen Schulbesuchen erhielt er keine formelle theologische Ausbildung, er war Autodidakt. 1854 heiratete er Susannah Thompson, die in späteren Jahren mit der Gründung eines sog. Bücher-Fonds eine eigene Tätigkeit entfaltete.50 Von 1861 an war die im Süden Londons gelegene baptistische Tabernakel-Gemeinde die Wirkungsstätte Spurgeons; nach einem Umbau fasste der Gottesdienstraum 6000 Menschen.51 Bis zu seinem Tod am 31. Januar 1892 koordinierte Spurgeon von hier aus seine vielfältigen Wirksamkeiten, zu denen neben dem umfangreichen publizistischen Werk auch etliche sozial-diakonische Einrichtungen gehörten.52 An den Trauerfeierlichkeiten nahmen in London nach den Angaben der Hinterbliebenen mehr als 100000 Menschen teil.53 An seinem Grab wurde u. a. der folgende Liedvers gesungen: Dear dying Lamb, Thy precious blood Shall never loose its power, Till all the ransomed Church of God Be saved to sin no more.54
Es handelt sich dabei um die dritte Strophe eines Liedes von William Cowper, das von dem Methodisten Ernst Gebhardt ins Deutsche übersetzt wurde und eine ungeheuer breite Wirkung erzielte.55 Spurgeon verarbeitete unterschiedliche theologische Traditionen, neben puritanischen und baptistischen Überlieferungen, mit denen er sich lebenslang intensiv beschäftigte, spielt auch die Aufnahme von reformatorischem Gedankengut eine wichtige Rolle für sein Denken. Die Lektüre von Schriften Calvins und Luthers lässt sich anhand seiner Äußerungen nachzeichnen.56 Das englische Umfeld Spurgeons war geprägt von vielfältigen Impulsen der Er50 51 52 53 54
Ebd., S. 196–202; Schindler: Leben (wie Anm. 47), S. 124–135. Schindler: Leben (wie Anm. 47), S. 46–85. Ebd., S. 87–123. Ebd., S. 198–210. Spurgeon: Autobiographie (wie Anm. 46), S. 318; die deutsche Autobiographie gibt nur eine Rohübersetzung wieder. Vgl. C.H. Spurgeon’s Autobiography, compiled from his diary, letters, and records, by his wife and his private secretary. Bd. 4, 1878–1892, London 1900, S. 376. Diese Informationen verdanke ich Günter Balders, der mich auch auf die deutsche Version und deren Bedeutung aufmerksam machte. 55 Cowpers (1731–1800) Lied trägt den Titel: There is an fountain filled with blood, Hinweis von Günter Balders. Gebhardts Übersetzung der dritten Strophe des Liedes „Es ist ein Born, draus heilges Blut für arme Sünder quillt“ lautet: „O Gotteslamm, dein teures Blut Hat noch die gleiche Kraft. Gieß aus des Geistes Feuerglut, Die neue Menschen schafft.“ Zu Gebhardt (1832–1899) s. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 525–535; zu diesem Lied ebd., S. 531. 56 Spurgeon: Autobiographie (wie Anm. 46), S. 95–103; Iain Murray: C.H. Spurgeon – wie ihn keiner kennt, Hamburg 1992, S. 190.
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weckungsbewegungen, er arbeitete mit unterschiedlichen Vertretern dieser Strömungen zusammen. Obwohl er z. B. durchaus Kritik an den Missionsmethoden der Amerikaner Dwight Lyman Moody und Ira D. Sankey übte, hinderte ihn dies nicht, mit beiden 1875 in London gemeinsame Unternehmungen zu starten.57 Spurgeon rief zwar selber seine Zuhörer zur Bekehrung auf, lehnte jedoch die Methoden Moodys wie das Drängen zur sofortigen Entscheidung oder das Nach-Vorn-Kommen am Schluss der Versammlungen als Zeichen der persönlichen Umkehr entschieden ab. Zum methodischen Vorgehen des amerikanischen Laienpredigers gehörten ferner spezielle NachVersammlungen für die Neubekehrten. Spurgeon war mit Moody „eins […] in seiner Verkündigung der unmittelbaren Errettung durch den Glauben in das Blut Jesu“.58 An hagiographischer Literatur über Spurgeon herrscht kein Mangel – an wissenschaftlich-theologischer hingegen schon. 1978 veröffentlichte Adalbert Geduhn seine Dissertation über die Rherotik in den Predigten Spurgeon und hebt insgesamt „die christozentrische Ausrichtung der Verkündigung Spurgeons“ hervor. In Bezug auf das Thema des Blutes Christi ergibt seine Auswertung von Predigten folgendes Fazit: Spurgeon rät seinen Hörern an den Ort zu gehen, wo über Jesus und sein versöhnendes Blut gepredigt würde. Das Blut Jesu wird geradezu als ein Kriterium aufgestellt, um beurteilen zu können, ob eine Predigt dem Evangelium gemäß gehalten wird oder nicht […] So ist es nicht verwunderlich, daß das Blut Jesu fast in jeder Predigt erwähnt wird und sogar an die Stelle des Namens oder der Bezeichnung Jesus Christus treten kann […] Mit dem Stichwort ,blood’ oder ,precious blood‘ ist Spurgeon ein Mittel in die Hand gegeben, um auf die Zuhörer affektiv einzuwirken. Er spricht ausdrücklich von der Wirksamkeit des Blutes Christi, ,the efficacy of Christ’s blood‘, die der Absicht Gottes entspreche. […] Das Stichwort ,blood‘ bietet sich ihm oft an, um eine Verbindungslinie zum Schmerzensmann am Kreuz herzustellen. […] Neben ,blood‘ erscheint in den Predigten fast immer auch das Kreuz Jesu […] als Terminus christologischer Verdichtung und als hilfreich gedachter Orientierungspunkt für die Predigthörer.59
Trotz dieser präzisen Analyse geht Geduhn nicht der Frage nach, welche Einflüsse bei Spurgeon zu dieser Konzentration führten. Peter Spangenberg, der sich 1969 ausführlich zu Theologie und Glaube bei Spurgeon äußerte, erwähnt zwar den Topos des Blutes Christi und dessen Verankerung in der Erlösungslehre, eingehende Erörterungen fehlen jedoch. Er betont, dass das Kreuz Christi im Mittelpunkt der Theologie des baptistischen Predigers stehe.
57 Zu beiden s. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 27 f., 192 f., 518 f. 58 Murray : Spurgeon (wie Anm. 56), S. 171. 59 Adalbert Geduhn: Simplicitas Evangelica. Rhetorik in den Predigten bei C.H. Spurgeon, Münster 1978, S. 111 f.
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Als zusammenfassende Charakterisierung Spurgeons spricht er von einer „Theologie der Heiligung“ bzw. einer „biblikalen Theologie“.60 Bei den folgenden Erörterungen geht es nicht um Fragen zu Genese und Wurzeln der Theologie Spurgeons in Hinsicht auf den Topos des Blutes Christi; hier sollen lediglich einige Beobachtungen zur sprachlichen Einbindung des Blut-Motivs vorgestellt werden.61 Spurgeon verfügte über eine sehr bildhafte Gestaltungskraft, die sich in einprägsamen und plastischen Beschreibungen niederschlägt. Als Prediger weicht er auch vor Ausmalungen nicht zurück, die auf heutige Hörer und Leser wohl eher abschreckend wirken. In einem Brief an einen jungen Mann beantwortet er dessen Fragen nach dem Inhalt des christlichen Glaubens. Am Schluss dieses Schreibens aus dem Jahr 1854 fordert er den Korrespondenzpartner eindringlich zur Bekehrung auf. Im Mittelpunkt der abschließenden Sätze dieses werbenden Briefes stehen Kreuz und Blut Christi. Mein lieber Mitsünder, vernachlässigen Sie nicht diese Erweckungszeit; auf, lassen Sie es sich Ernst sein! Es ist Ihre Seele, Ihre eigne Seele, Ihr ewiges Wohl, das auf dem Spiele steht! Dort ist das Kreuz und an demselben der blutende Gott=Mensch; schauen Sie auf zu Ihm, so werden Sie selig! Der Heilige Geist ist da, um Sie jeder Gnade teilhaftig zu machen. Schauen Sie betend auf zu dem dreieinigen Gott, dann werden Sie erlöst.62
Bei einem Besuch in dem von ihm in London gegründeten Waisenhaus für Jungen trifft Spurgeon auf einen Schwerkranken. Er spricht diesen auf sein baldiges Sterben an und tröstet ihn mit Blick auf die Ruhe in der Ewigkeit. Nach kurzen Fragen wie „Hast du Jesus lieb?“ erfolgt auch hier inmitten der Trostrede für den sterbenden Jungen der Verweis auf das Blut Christi, allerdings nicht so drastisch wie in dem eben zitierten Beispiel. „Jesus liebt dich. Er hat dich erkauft mit seinem kostbaren Blut und weiß, was am besten für dich ist.“63 Einige Sprachbilder tauchen bei Spurgeon häufig auf wie die Verbindung von Blut mit dem Adjektiv kostbar und das Verb waschen, etwa in dem Wunsch: „möge der Heiland euch mit seinem kostbaren Blute waschen“.64 Das Motiv des Waschens kann auch auf folgende Weise angereichert werden: Als Erlöste gelten nur diejenigen, „die gewaschen sein müssen an der Quelle, die gefüllt ist mit seinem Blute“.65 Durch das Waschen mit dem Blut Jesu werden die Gläubigen „weißer als Schnee“.66 In diesen Formulierungen sind biblische 60 Peter Spangenberg: Theologie und Glaube bei Spurgeon, Gütersloh 1969, S. 186. 61 In den autobiographischen Aufzeichnungen taucht dieser Topos etliche Male auf, s. Spurgeon: Autobiographie (wie Anm. 46), S. 34, 56 f., 68, 75, 92, 95, 99, 100, 102, 140, 146, 232. 62 Schindler: Leben (wie Anm. 47), S. 89. 63 Ebd., S. 121. 64 Spurgeon: Geistesstrahlen. Tausend ausgewählte Stellen, Bd. 2, Leipzig 1902, S. 174. 65 Ebd., S. 319. 66 Spurgeon: Ganz aus Gnaden. Hg. von Otto Ekelmann, Berlin 1966, S. 78.
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Wendungen verarbeitet, meist in freien Umschreibungen und neuen Kombinationen. In der Johannes-Offenbarung ist vom Waschen der Sünden mit dem Blut Christi die Rede (Apk 1,5). Die Farbe weiß wird der Sphäre des Göttlichen zugeordnet: Nach Mt 17,2 werden die Kleider Jesu während seiner Verklärung weiß wie das Licht; der Engel, der an Jesu Grab sitzt und die Auferstehung verkündet, trägt ein Gewand „weiß wie der Schnee“ (Mt 28,3). Nach der Vorstellung der neutestamentlichen Apokalypse tragen die endzeitlich Geretteten weiße Kleider als Zeichen ihrer Reinheit.67 In Ps 51,9 spricht der Beter Gott gegenüber die Bitte aus: „wasche mich, daß ich schneeweiß werde“. In Jesaja 1,18 lautet die Verheißung an das Volk Israel: „Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.“ Wenn Spurgeon vom Blut des Lammes spricht, dann nimmt er Bezug auf Verse der neutestamentlichen Offenbarung. In Abwandlung des geprägten Topos predigt er über „das lebenspendende Evangelium von dem blutenden Lamme“.68 Neben den Bildern, die sich auf biblische Quellen zurückführen lassen, gibt es etliche, bei denen die Herkunft nicht geklärt werden kann bzw. bei denen Spurgeons eigene sprachgestaltende Arbeit in Betracht zu ziehen ist. So spricht er seine Hörer an mit der Aufforderung: „Fasse Mut, deines Heilands Füße haben deinen Weg mit Blut gezeichnet und geheiligt.“69 Aus Spurgeons Sicht ist das der beste Trost, den er spenden kann für schwierige Lebenslagen. Den Leidensweg Christi fängt er ein in Bildern wie: Dieser musste „durch Meere seines teuren Blutes hindurchwaten, um die Krone zu erringen“.70 In direkter Anrede an Christus formuliert er : „und doch blutest du, um unsere Wunden zu heilen“.71 Das Blut Christi wird bei Spurgeon zur Metapher für den gesamten Vorgang der Erlösung des Menschen. Direkt an den Leser gewandt heißt es: „Achte dabei das Blut Christi noch als den Grundstein deiner Hoffnung“.72 Diejenigen, die erlöst worden sind, haben „die Macht des Blutes Jesu an sich erfahren,73 für diese gilt: „Wir haben Frieden erlangt durch sein Blut“.74 Die Auserwählten tragen „das Blutzeichen“, sie sind die „geliebten, bluterkauften Kinder“ Christi.75 In der Auslegung zu Hebr 12,24, wo unter Rückgriff auf das Alte Testament vom „Blut der Besprengung“ die Rede ist, lässt sich das Vorgehen Spurgeons in seiner
67 Apk 3,4 f.; 7,9; 19,13. 68 Spurgeon: Geistesstrahlen (wie Anm. 64), S. 190. 69 Spurgeon: Tägliche Andachten. Hg. von Otto Ekelmann, Berlin 1953, 23. Januar. Das Buch enthält keine Paginierung, sondern ist als Kalender geordnet; die Angaben in den folgenden Fußnoten beziehen sich jeweils auf die Daten. 70 Ebd., 29. März. 71 Ebd., 14. April. 72 Ebd., 23. Juli. 73 Ebd., 8. Mai. 74 Ebd., 3. September. 75 Ebd., 15. September, 15. Oktober.
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Konzentration auf diesen Topos gut beobachten. Das Blut bildet die Mitte allen Heilsgeschehens. Bist du zu dem Blut der Besprengung gekommen? Es handelt sich nicht darum, ob du zu der Erkenntnis der christlichen Lehre oder zum Gebrauch der Heilsmittel oder zu einer gewissen inneren Erfahrung gekommen bist. Wenn du wahrhaft zu Jesus gekommen bist, so wissen wir, wie das zuging. Der Heilige Geist hat dich liebevoll hingeführt. Du kamst ohne jegliches Verdienst. Schuldbeladen, verloren, hilflos bist du hergekommen zu diesem Blut, um es dir schenken zu lassen, und einzig allein dieses Blut ist deine unsterbliche Hoffnung. Du bist zum Kreuz Christi gekommen mit einem zitternden und zagenden Herzen, und welch ein süßer Ton wars, als du die Stimme des Blutes Jesu vernehmen durftest! Wir sind voller Sünde, aber der Heiland heißt uns, unsere Augen zu ihm zu erheben. Und wenn wir auf seine blutenden Wunden blicken, so sehen wir einen Tropfen nach dem anderen fallen, und jeder Tropfen redet und ruft: Es ist vollbracht; ich habe der Sünde ein Ende gemacht; ich habe eine ewige Erlösung zustande gebracht! Wenn du nur erst einmal zu diesem Blut gekommen bist, so kommst du immer wieder. Dein Leben wird ein Aufblick zu Jesu. Nicht das ist die Frage, zu wem ich gekommen bin, sondern das, zu wem ich immer wieder komme. Wenn du je einmal zum Blut der Besprengung gekommen bist, so wirst du das Bedürfnis in dir verspüren, jeden Tag aufs neue zu kommen.76
Unterschiedliche Aspekte der Heilsbedeutung des Blutes Christi fügt Spurgeon an anderer Stelle aneinander : Das Blut Christi hat versöhnende, erlösende, reinigende und bewahrende Kraft, heiligen Einfluss und überwindende Macht.77 Als weiteres Motiv verwendet er die Bildrede vom „Herzblut“ Christi, für die es ebenfalls keine biblischen Vorlagen gibt. Des Öfteren zitiert Spurgeon Liedverse, die vermutlich bei seiner Hörer- und Leserschaft bekannt waren, und in denen ebenfalls das Blut Christi als bildliche Umschreibung für den gesamten Erlösungsprozess verwendet wird. Es ist ein Born, draus heiliges Blut Für arme Sünder quillt, Ein Born, der lauter Wunder tut, Und jeden Kummer stillt.78
Spurgeon galt und gilt als berühmter Prediger, jedoch nicht als einseitiger Verfechter einer Blut-Theologie oder Blut-Mystik. Das Bild des Blutes Christi gehört zu den von ihm auffallend häufig verwendeten rhetorischen Topoi, das allerdings nicht alle anderen Facetten der christlichen Heilslehre in den Hintergrund drängte. Die Rede vom Blut Christi wird in eindringlichen 76 Ebd., 17. April. 77 Ebd., 16. April. 78 Ebd., 7. Mai. Günter Balders verdanke ich den Hinweis, dass es sich bei der von mir benutzten Ausgabe durch Ekelmann um eine stark gekürzte und veränderte Fassung des englisches Originals handelt, nicht alle Liedverse stimmen mit den in der englischen Version zitierten überein. Zu diesem Liedvers vgl. die Angaben in Anm. 55.
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Sprachbildern gestaltet und tritt prominent hervor, bleibt aber eingebunden in eine Fülle biblisch fundierter Erlösungsmetaphern. Der Impetus seines rhetorischen Vorgehens zielt darauf ab, das biblische Geschehen zu verlebendigen. Spurgeon bemüht sich darum, seinen Hörern und Lesern eigene Erfahrungen zu vermitteln. Sie sollen das Blut Christi als wirksam erleben, als eine wirkmächtige Größe mit Macht, Stimme und Handlungsfähigkeit. Dem baptistischen Theologen geht es nicht in erster Linie um die richtige Lehre über die soteriologische Funktion der Leiden Christi, sondern er stellt in seinen sorgfältig ausformulierten Darlegungen eine affektive Bindung zwischen seinem Publikum und dem Blut Christi her.
III. Elias Schrenk (1831–1913) Elias Schrenk bewegte sich in Deutschland, England und der Schweiz im Milieu der Erweckungsbewegungen und durchlief unterschiedliche berufliche Stationen, bevor er von 1886 an als freier Evangelist tätig wurde.79 Zu den Personen, die ihn beeinflussten, gehört u. a. der Laienprediger Moody. In der Schrenk gewidmeten hagiographisch ausgerichteten Literatur der Gemeinschaftsbewegung des 20. Jahrhunderts wird er verehrt als „Bahnbrecher der Evangelisation in Deutschland“.80 Geboren wurde Elias Schrenk als Sohn einer frommen Handwerker- und Bauernfamilie am 19. 9. 1831 in Württemberg.81 Nach einer kaufmännischen Lehre trat er 1854 in das Missionsseminar in Basel ein und wurde von dort zweimal nach Afrika ausgesandt, von 1859 bis 1864 und von 1866 bis1872.82 Beim zweiten Aufenthalt begleitete ihn seine Ehefrau, die Schweizer Pfarrerstochter Bertha Tappolet.83 In den nach 1872 folgenden 14 Jahren versah Schrenk unterschiedliche Aufgaben als Prediger in der Schweiz und in Deutschland. Zunehmend konzentrierte er sich dabei auf Evangelisationsveranstaltungen, die z. T. in Absprache mit den Landeskirchen und z. T. mit wechselnden Kooperationspartnern des gesamten Spektrums der Erweckungsbewegungen stattfanden. Im Rückblick auf diese Phase der beruflichen Umorientierung vom fest angestellten Missionar zum freien Evangelisten hebt Schrenk die Thematisierung des Blutes Christi als Kriterium für seine Ar79 Vgl. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 199–203. 80 Johannes Weber : Elias Schrenk. Der Bahnbrecher der Evangelisation in Deutschland, Gießen 1951. 81 Die biographischen Daten beziehen sich auf die Autobiographie: Elias Schrenk: Pilgerleben und Pilgerarbeit, 2. Aufl., Kassel 1905. 82 Während dieser Jahre in der Schweiz lernte Schrenk die im Roman Hauptmanns erwähnte Dorothea Trudel in Männedorf kennen, bei der er Heilung von einer schweren Krankheit fand, s. Weber : Schrenk (wie Anm. 80), S. 53 f.; vgl. oben Anm. 6. 83 Schrenk: Pilgerleben (wie Anm. 81), S. 111, 115 f.
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beitsfelder hervor. Nach seinen Worten sagte ihm „der Herr, daß ich in keiner Kirche mehr arbeiten soll, auf deren Kanzel die Gottessohnschaft Jesu Christi und das Blut Jesu Christi keine Heimstätte hatten“.84 Als Schrenk zunächst von Marburg aus 1886 seine freie Evangelistentätigkeit begann, war dieses Berufsbild in Deutschland nicht verankert. Zeitlich begrenzte Auftritte vor allem von englischen und amerikanischen Evangelisten hatten für eine gewisse Vorbereitung gesorgt. Trotz seiner Loslösung aus jeder institutionellen Bindung verstand sich Schrenk ausdrücklich als „kirchlicher Evangelist“.85 Obzwar er auf der Eigenständigkeit seiner Arbeit bestand, war er der Gemeinschaftsbewegung zutiefst verbunden, so nahm er etwa an den Konferenzen in Bad Blankenburg teil und gehörte zu den Mitunterzeichnern der Berliner Erklärung, die 1909 die Abgrenzung von der Pfingstbewegung vollzog. Elias Schrenk verstarb am 21. 10. 1913 und wurde in Bethel bei Bielefeld beigesetzt.86 Schrenk verfasste neben vielen anderen Schriften eine Autobiographie mit dem Titel Pilgerleben und Pilgerarbeit. In diesen Rückblicken geht der Autor an bezeichnenden Stellen auf das Motiv des Blutes Christi ein. Den größten religiösen Einfluss in seiner Kindheit schreibt er seiner Großmutter zu und zitiert in seinen Erinnerungen mehrere Liedverse, die er von ihr lernte. Die zwei ersten Verse gehören zu dem weit verbreiteten und mit dem Namen Zinzendorfs verbundenen Lied, dessen Eingangszeile Hauptmann den Narren Quint nachsprechen ließ. Der zweite Teil des abendlichen Gebets ließ sich nicht identifizieren, vielleicht stammt er aus einer familiären oder regionalen Überlieferung.87 Schrenk schreibt über seine Großmutter und deren abendliches Gebetsritual: Als kleines Knäblein durfte ich in ihrem Zimmer schlafen, und sie ist die erste Person, die mir in früher Kindheit etwas von der Kraft des Blutes Jesu Christi in mein Herz hinein betete. Ich werde es nie vergessen, wie sie jeden Abend mit Inbrunst betete: Christi Blut und Gerechtigkeit Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid; Damit will ich vor Gott bestehn, Wenn ich zum Himmel werd eingehn. Drum soll auch dieses Blut allein Mein Trost und meine Hoffnung sein. Ich bau im Leben und im Tod Allein auf Jesu Wunden rot. 84 85 86 87
Ebd., S. 184. Ebd., S. 226. Weber : Schrenk (wie Anm. 80), S. 74. Günter Balders danke ich für die Suche nach einer Quelle für diesen Vers. Er wies darauf hin, dass es sich um ein gereimtes Gebet handelt; für eine Liedstrophe sei das Metrum unüblich, Schreiben vom 12. 12. 2006.
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Ich steh’ in Gottes Macht, Ich steh’ in Gottes Kraft, Ich steh’ in Christi Blut, Das ist für alle bösen Geister gut.88
In seinen autobiographischen Aufzeichnungen spricht Schrenk ausdrücklich von einer biblischen Lehre vom Blut Christi und einer Blut-Theologie; diese bilden für ihn die entscheidenden Bestandteile jeglicher christlichen Existenz. Bevor er nach Basel ging, sah er sich in verschiedene Konflikte bei seiner kaufmännischen Tätigkeit verwickelt, es ging u. a. um Fragen der Ehrlichkeit. Rückblickend interpretierte er diese Erlebnisse als Versuchung, die er mit Hilfe der Orientierung am Blut Christi überwand. Wie viele Tausende sind in derselben Not, in der ich damals war. O, möchten viele Leser dieser Mitteilungen im einfältigen Glauben an das Blut Jesu Christi dieselbe Erfahrung machen, die ich damals machte, und die andere mit mir machten. Innere Absage an die Sünde und völliges Vertrauen auf Jesu Blut führen zum Sieg. Diese tiefgehende Erfahrung, und viele ähnliche Erfahrungen, die ich in den letzten fünfzig Jahren machen durfte, erklären es mir, warum Satan das Blut Jesu Christi so grimmig haßt. Ein ganzes Heer moderner Menschen hat nicht nur keine Ahnung mehr von der Kraft des Blutes Jesu Christi, sondern bietet alles auf, die sogenannte Bluttheologie in der christlichen Gemeinde zu vertilgen. So lange es eine gläubige Gemeinde gibt, deren Ruhm Jesus Christus, der Gekreuzigte ist, werden auch die Pforten der Hölle die biblische Lehre vom Blut Jesu Christi nicht beseitigen können.89
In einer Krisenerfahrung während der Ausbildung in Basel erhielten Verse der Johannes-Offenbarung mit den Motiven des Waschens der Kleider und dem Blut des Lammes (Apk 7,13–17) eine entscheidende Bedeutung für Schrenk. Auch angesichts dieser Erlebnisse betont er die alles überragende Wichtigkeit des Blutes Christi für seinen Glauben und sein Leben. Diese individuelle Verankerung wird ausgedehnt als Maßstab für die Beurteilung aller Entwicklungen im kirchlichen Bereich. Nach der Lektüre des Offenbarungstextes erfuhr der junge Mann eine entscheidende Veränderung: Vom Moment an erfüllte heilige Ruhe und Stille mein Herz, wie ich das nie vorher erfahren hatte; der Herr hatte mich heimgesucht. Von jenem Abend an, also seit 48 Jahren blieb mir mein Gnadenstand gewiß. Ist mir schon vorher das Blut Christi teuer gewesen, so war es mir von dort an noch köstlicher und unentbehrlicher, mein Kleinod für Zeit und Ewigkeit, und wenn ich seither Strömungen sehe, in denen Christi Blut zurücktritt, so kommen sie mir vor wie Feuerwerk von Kindern.90 88 Schrenk: Pilgerleben (wie Anm. 81), S. 8 f. An diese beiden Teile schließt sich noch ein Vers an, in dem der Tod und der Teufel thematisiert werden. 89 Ebd., S. 48. 90 Ebd., S. 53.
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In späteren beruflichen Herausforderungen erscheint jeweils der Verweis auf das Blut Christi als Inbegriff der Glaubensauffassung, die Schrenk vertritt: „das Blut Christi war mein Trost“.91 Er verknüpft das Blut-Motiv nicht nur mit eigenen Erfahrungen, sondern stellt es auch in den Zusammenhang der Rechtfertigungslehre. Bei diesen theologischen Reflexionen wird das KreuzChristi-Motiv eingebunden in die Erlösungslehre, bei deren Darlegung Schrenk sich an Luther orientiert.92 In anderen Texten, wie etwa den fiktiven Seelsorgerlichen Briefen, fällt als sprachliches Element an vielen Stellen die Verknüpfung des Blutes Christi mit dem Substantiv Kraft auf: „damit wir die Kraft des Blutes und Geistes Christi immer tiefer an unseren eigenen Herzen erfahren und es jedem bezeugen könne, daß das Blut Christi uns rein macht von aller Sünde“.93 Wie es der theologischen Selbstbeschreibung in seinem Pilgerleben entspricht, legt der Briefschreiber seinen Korrespondenzpartnern oft nahe, sich in allen Schwierigkeiten in erster Linie mit dem Blut Christi zu befassen. Bei diesem Theologen tritt der heilsgeschichtliche Topos des Blutes Christi zwar als wichtiges Merkmal seiner Theologie hervor, Schrenk bemüht sich jedoch darum, dieses Motiv theologisch und biblisch zu verankern. Unter Bezug auf Bibelstellen wie Röm 3,25; 1Kor 6,19 f.; 1Joh 1,7 und Apk 5,9 verwendet er eine Breite von Sprachbildern, die den Motivkomplex des Blutes ausschmücken mit Umschreibungen wie dem Freikaufen des Sünders: „denn Christus hat uns erkauft mit seinem Blut“.94 Die häufig bei ihm vorkommende Formel vom Blut des Lammes bezieht sich ebenfalls auf neutestamentliche Texte wie Apk 5,9–12; dabei gelangt der Evangelist zu Formulierungen, die das biblische Bildinventar weiter ausschmücken. In einem Trostbrief skizziert er Reaktionen auf den Tod von Missionaren während ihres Einsatzes: „und wie dankbar ist man, sich immer wieder völlig in des Lammes Blut einhüllen zu dürfen“.95 Bei Elias Schrenk ist durch seine eigenen Aussagen eine Prägung durch herrnhutische Frömmigkeit zu erkennen, die allerdings in einem Verbund steht mit vielen anderen Einflüssen, die sich in den europäischen Erweckungsbewegungen amalgamierten. Aufgrund seiner württembergischen Herkunft könnte auch die Bengelsche Tradition für ihn von Bedeutung gewesen sein. Obzwar er durch seine theologische Ausbildung und Berufstätigkeiten gute Kenntnisse hinsichtlich der traditionellen Erlösungslehre besaß, zeichnet sich für das Thema des Blutes Christi eine Zuspitzung ab, die dieses Motiv zum entscheidenden Kriterium der Rechtmäßigkeit von Glaubensauffassungen werden ließ.
91 92 93 94 95
Ebd., S. 93. Ebd., S. 211. Elias Schrenk: Seelsorgerliche Briefe für allerlei Leute, Kassel 1909, S. 134. Ebd., S. 146, vgl. 109, 117, 149. Ebd., S. 191, vgl. 48, 169.
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IV. Adeline Gräfin Schimmelmann (1854–1913) Der Theologe Johannes Witt, ein Freund von Adeline Schimmelmann, beschrieb unmittelbar nach ihrem Tod die letzten Lebenstage und -stunden der Gräfin:96 Am Dienstag, den 18. November, in aller Morgenfrühe ist sie von ihren Leiden erlöst worden. Bis zuletzt horchte sie auf das Wort: Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde. Und unter den Gebeten der Umstehenden ist sie heimgegangen.97
In den vorhergehenden Tagen sprach die Sterbende oft mit Witt und zog eine Art von Bilanz im Hinblick auf ihre Arbeit. Jedesmal beendete sie diese Gespräche nach Witts Aufzeichnungen mit der Versicherung: Es ist Gnade, daß ich habe so arbeiten dürfen. Ich setze mein Vertrauen für die Ewigkeit nicht auf meine Arbeit, sondern nur auf das Blut Jesu Christi, das auch für mich geflossen ist, das Er mir ins Herz gegeben hat.98
Das Motiv des Blutes Jesu Christi stand demnach im Vordergrund der letzten Lebensäußerungen Schimmelmanns. Ein weiterer Hinweis auf die Dominanz dieser Thematik liegt in der Ansprache vor, die die Gräfin als Abschiedsrede entwarf; diese sollte gemäß ihrer Bestimmung nach ihrem Tod im Hamburger Pflegeheim Zoar verlesen werden.99 Vermutlich waren dabei die Diakonissen und einige weitere Freunde anwesend. Diese Abschiedsrede spricht in den ersten Sätzen von der Hoffnung auf die bevorstehende Seligkeit „wegen Seines 96 Witt (1862–1934) war zunächst Pastor in Schleswig-Holstein, dann Prediger und Inspektor des Gemeinschaftsvereins in Kiel; 1897 gründete er die Kieler China-Mission, s. Johannes Witt: „Hallo, mein lieber Großvater …“ Versuch einer Begegnung. In: Zwischen Fremdheit und Nähe. China und Nordelbien: 100 Jahre kirchliche Beziehungen. Hg. vom Nordelbischen Missionszentrum, Schenefeld 2003, S. 100–111. Im gleichen Zeitraum war ebenfalls in Schleswig-Holstein im Rahmen der Gemeinschaftsbewegung der oben bereits erwähnte Pastor gleichen Namens tätig, dieser Johannes Witt arbeitete jedoch vornehmlich als Gemeindepastor in Havetoft/ Angeln, s. Berufen zur Gemeinschaft. 1857–1957. 100 Jahre Gemeinschaftsverein in SchleswigHolstein. Hg. von Alfred Korthals, Neumünster 1957, S. 124–127. Die beiden werden leicht verwechselt, s. z. B. Friedrich Hammer : Verzeichnis der Pastorinnen und Pastoren der Schleswig-Holsteinischen Landeskirche 1864–1976, Neumünster 1994, S. 415. 97 Johannes Witt: Adeline Gräfin Schimmelmann †. In: ER kommt! Organ der Kieler ChinaMission, 16. Jahrgang Nr. 24 (1913), S. 369–378, hier: 374. 98 Johannes Witt: Kurzer Bericht über Leben, Zeugnis und Heimgang der Gräfin Adeline Schimmelmann, Kiel o. J. [1913], S. 13. 99 Zoar in Eppendorf war zunächst mit dem Hamburger Diakonissenmutterhaus Bethesda verbunden. Das Krankenhaus und die Diakonissengemeinschaft Bethesda waren von Elise Averdieck gegründet worden, s. Inke Wegener: Zwischen Mut und Demut. Die weibliche Diakonie am Beispiel Elise Averdiecks, Göttingen 2004 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 39). Um 1900 hatte sich diese Anbindung gelöst und eine kleine freie Diakonissengemeinschaft versah hier ihren Dienst.
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kostbaren, kostbaren Blutes, das Er für mich vergossen hat und in meine Seele gegeben“. Schimmelmann kritisiert, dass es nicht ausreiche, im Abendmahl das Blut Christi zu sich zu nehmen, es muss nach ihrer Auffassung eine intensivere Verbindung zwischen Christus und den Glaubenden geben. „Damit mein Heiland dir es wirklich geben kann im Abendmahl oder ohne dasselbe, mußt du dich Ihm auch mit Leib und Seele ganz und völlig als Sein Eigentum hingeben. Du bist teuer erkauft mit dem Herzblute Gottes und Seines Sohnes.“ So wie sie für sich reklamiert, dass das Blut Christi in ihre Seele gegeben worden sei, so spricht sie davon, dass dieses Blut auch bei den Anwesenden ins Herz fließen müsse. Mit dem Bild des Blutes verbindet die Gräfin neben der geistlichen eine körperliche Dimension: „Gib dich und dein ganzes Leben dem Heilande hin und ruhe nicht, bis daß du weißt, daß sein Blut dich durchdrungen hat.“ Mit diesen letzten Worten hinterlässt Adeline Schimmelmann so etwas wie ein geistliches Testament, in dem die Bildrede des Blutes Christi das theologische Hauptthema bildet.100 An einer anderen Stelle erklang ebenfalls postum die Stimme der Gräfin mit Ausführungen zu diesem christologischen Topos. Ihr Adoptivsohn führte die von ihr gegründete Zeitschrift zunächst weiter und brachte darin Ansprachen der Verstorbenen zum Abdruck. 1915 erschienen die letzten Aussagen Adeline Schimmelmanns in gedruckter Form zu der Thematik, mit der sie sich in theologischer Hinsicht am intensivsten beschäftigt hatte: „Das Blut Jesu Christi zur Vergebung der Sünden“ und „Die neue Geburt durch das Blut Jesu Christi und das darauffolgende Leben“.101 Adeline Schimmelmann stellt sich als Persönlichkeit dar, die so gut wie keine Einflüsse von außen in sich aufnahm.102 Nur an ganz wenigen Stellen gibt sie zu erkennen, dass bestimmte Personen und deren theologische Auffassungen für sie von Bedeutung waren. Als entscheidend wichtig erwähnt sie den Bremer Pastor Otto Funcke.103 Des Öfteren weist sie auf den dänischen Lu100 Witt: Kurzer Bericht (wie Anm. 98), S. 20 f. Witt selber, der auch eine kurze Ansprache hielt, setzt andere theologische Akzente; er spricht nicht vom Blut Christi. Die Verstorbene würdigt er als „Gotteskind“, ebd., S. 18. 101 Schimmelmann: Leuchtfeuer, 13. Jahrgang, 1915, S. 14, 25 f. Die Hefte der Zeitschrift erschienen in diesem Jahr nur noch unregelmäßig wegen des kriegsbedingten Mangels an Material und Mitarbeitern. 102 Die wichtigsten Quellen zur Rekonstruktion der Biographie sind: Adeline Schimmelmann: Streiflichter aus meinem Leben am deutschen Hofe, unter baltischen Fischern und Berliner Sozialisten und im Gefängnis, Berlin 1898; Emil Richard Wettstein: Lebensbild der Gräfin Adeline Schimmelmann weil. Hofdame I.M. der Kaiserin Augusta, Berlin 1914. Vgl. ferner Ruth Albrecht [u. a.]: Adeline Gräfin von Schimmelmann. Adlig – Fromm – Exzentrisch, Neumünster 2011; www.adelineschimmelmann.de (01. 06. 2014). 103 Schimmelmann: Streiflichter (wie Anm. 102), S. 25, 28–48; Witt: Kurzer Bericht (wie Anm. 98), S. 5. Funcke (1836–1910) war von den Erweckungsbewegungen beeinflusst und arbeitete im Rahmen der Inneren Mission, s. Ruth Albrecht: Adeline Gräfin Schimmelmann. Deutsche Evangelistin nach amerikanischem Vorbild? In: Transatlantische Religionsgeschichte 18. bis 20. Jahrhundert. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2006, S. 72–108, hier: 80–82.
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theraner Wilhelm Beck hin.104 In Bezug auf das Motiv des Blutes Christi macht sie keine Andeutungen, durch welche Lektüre oder persönliche Begegnungen diese soteriologische Zuspitzung in ihrem Denken zum alles andere überragenden Sprachbild wurde. Das Zinzendorf zugeschriebene Lied „Christi Blut und Gerechtigkeit“ war ihr vertraut; der erste Vers steht am Ende eines kurzen Berichtes, in dem sie vom Tod eines Matrosen erzählt.105 In diesem Zusammenhang geht sie jedoch weder auf Zinzendorf noch auf weitere theologische Überlieferungen der Herrnhuter ein. Schimmelmann kannte Person und Werke Spurgeons, wieweit sie sich jedoch intensiv mit diesen beschäftigte oder nur aus den verbreiteten Florilegiensammlungen zitierte, muss offen bleiben.106 Schrenk stellte für sie eine Autorität dar ; seine Anerkennung ihrer Tätigkeit war ihr wichtig. Jedenfalls gibt ihr Biograph das Verhältnis beider zueinander so wieder, dass nach einer kritischen Phase eine Annäherung erfolgte.107 Ob Schrenk dies seinerseits auch so sah, kann nicht belegt werden. Bei seinem Versuch, das theologische Denken Schimmelmanns zusammenfassend zu skizzieren, weist Jörg Ohlemacher „auf das Motiv der reinigenden, erlösenden Kraft des Blutes Christi“ als hervorstechendes Merkmal hin.108 Ohlemacher geht auf die reformatorische Verankerung dieses soteriologischen Grundgedankens ein, weist aber darauf hin, dass Schimmelmann diesen Ausgangspunkt „im Sinne einer Blut-Mystik erweitert“.109 Als Gruppierungen, die in ähnlicher Weise die Erlösung am Blut Christi festmachen und die Schimmelmann möglicherweise beeinflusst haben könnten, nennt er die Herrnhuter, die Heiligungsbewegung, die Waleser Erweckung sowie insbesondere Jessie Penn-Lewis, Theodor Jellinghaus und Otto Stockmayer.110 Ohlemachers Fazit geht jedoch dahin, die geistliche Verwurzelung der Gräfin nicht so sehr in der Heiligungsbewegung, sondern viel eher in den altpietistischen Gemeinschaftskreisen Württembergs zu sehen. Obwohl dieser Autor die Verbindung Schimmelmanns zu Herrnhutern erwähnt, spricht er diesen 104 Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 86 f.; Schimmelmann: Leuchtfeuer, 8. Jahrgang, März 1910, S. 30 f. Beck (1829–1901) war einer der wichtigsten Vertreter der dänischen Inneren Mission, s. Friedrich Wilhelm Bautz: Beck, Wilhelm. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 43), Bd. 1 (1975), S. 446 f.; Günter Weitling: Die historischen Voraussetzungen des „Kirchlichen Vereins für Indre Mission in Nordschleswig“ und dessen Verbindung zur reichsdänischen Indre Mission bis zur Jahrhundertwende, Flensburg 1971 (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, I, 23), S. 123–136, 149–151. 105 Schimmelmann: Leuchtfeuer, 9. Jahrgang, September 1911, S. 107. 106 Leuchtfeuer, 8. Jahrgang, April 1910, S. 41 f.; Adeline Schimmelmann: Sechs Vorträge, Als Manuskript gedruckt [1901], S. 46. 107 Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 212. 108 Jörg Ohlemacher : Adeline Gräfin Schimmelmann (1854–1913). In: Frauen gestalten Diakonie, Bd. 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Adelheid M. von Hauff, Stuttgart 2006, S. 392–406, hier: 402. 109 Ebd., S. 403. 110 Ebd., S. 403.
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nur eine untergeordnete Rolle zu. Hier liegt m. E. jedoch die Spur, der die größte Bedeutung für die Genese der Theologie Schimmelmanns zukommt.111 Adelaide Luise Caroline Schimmelmann, so der Taufname, wurde am 19. 7. 1854 auf Schloss Ahrensburg geboren, heute Mittelpunkt der Kleinstadt Ahrensburg am nordöstlichen Rand Hamburgs.112 Sie war ein Spross der im späten 18. Jahrhundert in dänischen Diensten geadelten Familie, die innerhalb einer Generation zu großem Reichtum und Einfluss gelangte.113 Ihre Eltern, Adelaide und Ernst Schimmelmann, pflegten Kontakte zu Johann Hinrich Wichern und mehreren Diakonissenhäusern; sie können jedoch nicht als genuine Vertreter einer Erweckungsfrömmigkeit gelten.114 Von den 10 Geschwistern Adelines bewegte sich niemand im frommen Milieu der Erweckungsbewegung. Der Begründer dieser Adels-Dynastie, Heinrich Carl Schimmelmann, erwarb von der dänischen Krone mehrere Plantagen auf drei Antillen-Inseln in der Karibik, auf denen Sklaven aus Afrika angesiedelt wurden.115 Die christliche Erziehung der autochtonen und hierher verschleppten schwarzen Bevölkerung übernahmen die Herrnhuter. Insofern bestand seit dem späten 18. Jahrhundert eine Verbindung zwischen Mitgliedern der Familie Schimmelmann und der Brüdergemeine.116 Soweit es sich nachweisen lässt, schloss sich niemand aus dieser Adelsfamilie den Herrnhutern förmlich an, gewisse Kontakte blieben jedoch bis ins 19. Jahrhundert bestehen. So engagierten die Eltern Adeline Schimmelmanns eine herrnhutische Erzieherin, Emma Henriette Garve, eine Enkelin des Liederdichters und Herrnhuter Predigers Karl Bernhard Garve.117 Die seit Generationen für die Ahrensburger Schlossbewohner vertraute Frömmigkeit der Brüdergemeine könnte die Ausgangsbasis für eine gewisse Öffnung der Eltern Adeline Schimmelmanns zur Erweckungsbewegung hin gewesen sein. Die Ahrensburger Schimmelmanns waren Mitglieder der lutherischen Kirche und in ihrer Funktion als Patrone auch aktiv engagiert in der lokalen Gemeinde. Adeline Schimmelmann diente von 1872 bis 1890 als Hofdame bei Kaiserin 111 Anscheinend nahm sie im Lauf ihres Lebens immer wieder Kontakt zu Herrnhutern auf, s. Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 53, 92, 228. Auch ihr Biograph, E.R. Wettstein, hatte enge Verbindungen zur Brüdergemeine. 112 Angela Behrens: Das Adlige Gut Ahrensburg von 1715 bis 1867. Gutsherrschaft und Agrarreformen, Neumünster 2006 (Stormarner Hefte, Nr. 23); Christa Reichardt / Wolfgang Herzfeld / Wilfried Pioch: 400 Jahre Schloß und Kirche Ahrensburg. Grafen. Lehrer und Pastoren, Husum 1995. 113 Vgl. Christian Degn: Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen, Neumünster 1974. 114 Vgl. hierzu Ruth Albrecht: Schloss Ahrensburg als Ausgangspunkt diakonischer Aktivitäten. In: Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-)deutschen Kirchengeschichte, FS Inge Mager. Hg. von Rainer Hering [u. a.], Hannover 2005, S. 295–343. 115 Behrens: Ahrensburg (wie Anm. 112), S. 167–233. 116 Vgl. Degn: Die Schimmelmanns (wie Anm. 113), S. 44 f., 50–52, 76 f., 96, 110 f., 113, 331–337, 448–463. 117 Vgl. Albrecht: Schimmelmann (wie Anm. 103), S. 77 f.
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Augusta in Berlin;118 neben vielem anderen nahm sie dabei auch Anteil am sozialen und kirchlichen Engagement der Monarchin.119 In diesem Rahmen vertiefte sie vermutlich ihre Kenntnisse der Erweckungsbewegungen. Die vom deutschen Kaiserpaar herangezogenen Hofprediger Rudolf Kögel, Wilhelm Baur, Emil Frommel und Adolf Stoecker waren alle in irgendeiner Weise mit dieser Frömmigkeitskultur verbunden.120 In Berlin gab es darüber hinaus eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen, die ein breites Spektrum erwecklicher Ausprägungen vertraten. Neben den Herrnhutern gehörten hierzu etwas die Berliner Stadtmission, die Gemeinschaft um Toni von Blücher, die von Julius Rohrbach geleitete freie Gemeinde und die Heilsarmee.121 Während ihrer Zeit als Hofdame könnte Schimmelmann an den Evangelisationen des amerikanischen Laienpredigers R. Pearsall Smith teilgenommen haben, der 1875 mehrere Tage lang in Berlin missionierte.122 Smith ist einer der wichtigsten Vertreter der Heiligungsbewegung; bei einigen prominenten Befürwortern dieser perfektionistischen Interpretation des christlichen Glaubens und Lebens spielte das Motiv der Errettung durch das Blut Christi eine wichtige Rolle.123 Schimmelmann lernte in der Hauptstadt und während ihrer Reisen mit der kaiserlichen Familie in den Jahren von 1872 bis 1890 vermutlich etliche Gruppen des erwecklichen Milieus und der sich ausbildenden Freikirchen kennen. So sind z. B. Kontakte der Gräfin zu Methodisten nachweisbar ; nicht eindeutig rekonstruierbar ist aber, ob sie John Wesleys Lehre vom Blut Christi kannte.124 Gegen Ende der 1880er Jahre begann Schimmelmann mit sozialen und missionarischen Projekten, nach dem Tod der Kaiserin 1890 widmete sie sich vollständig ihrer missionarischen Arbeit.125 Neben ihrer 118 Marie von Bunsen: Kaiserin Augusta, Berlin 1940. 119 Schimmelmann: Streiflichter (wie Anm. 102), S. 16–23; Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 17–36. 120 Ernst Ferdinand Klein: Rudolf Kögel. Aus Leben und Wirken eines Hofpredigers, Berlin 1933; Hans Schöttler : Emil Frommel. Ein Menschensucher, Berlin 1940; Hammer / Schade: Pastorinnen (wie Anm. 47), S. 8; Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers. Hg. von Günter Brakelmann u. a., Hamburg 1982 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 17). 121 Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 52–54; Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 314 f., 322–324, 326. 122 Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 37–68. 123 Ebd., S. 61. 124 In Kopenhagen besuchte Schimmelmann 1894 den dänischen Methodistenprediger Duckert, s. Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 85 f. Zu den Methodisten vgl. Hölscher : Frömmigkeit (wie Anm. 17), S. 354; Schneider: Blut (wie Anm. 33), S. 740–742; Christoph Raedel: Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Zweig der Bischöftlichen Methodistenkirche, Göttingen 2004 (Kirche – Konfession – Religion, Bd. 47), S. 124, 134. Raedels Untersuchung streift das Motiv des Blutes Christi in seiner Bedeutung für die deutschen Methodisten nur kurz. 125 Einen Wendepunkt in ihrer Biographie stellt die von ihrer Familie zwangsweise arrangierte Einweisung in eine dänische Psychiatrie im Jahr 1894 dar, s. Schimmelmann: Streiflichter (wie Anm. 102), S. 70–114; Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 56–79.
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Vortragstätigkeit in Deutschland, England, Italien, Monaco und Amerika leitete sie von ihrer Missionszentrale in Berlin aus die vielfältigen Aktivitäten, zu denen auch publizistische Arbeiten mit eigenem Verlag und einer Zeitschrift gehörten.126 Gräfin Schimmelmann verstarb am 18. 11. 1913 in Hamburg; nach ihrem Tod kam es zu öffentlich ausgetragenen Kontroversen zwischen ihrem Adoptivsohn Paul Fredrik Schimmelmann und einigen ihrer Freunde.127 Das Credo der letzten mündlichen und schriftlichen Äußerungen Schimmelmanns, dass dem Blut Christi ihr Hauptaugenmerk als Zusammenfassung der christlichen Botschaft zukomme, zieht sich wie ein Leitfaden durch den Großteil ihrer Veröffentlichungen. Allerdings lässt sich das Profil der von ihr vertretenen Blut-Mystik nur für die Phase von etwa 1895 an bis zu ihrem Tod anhand von gedruckten Texten verfolgen. In ihren autobiographischen Aufzeichnungen betont sie zwar, dass sie bereits in ihrer Kindheit von der Wirkmächtigkeit des Blutes Christi überzeugt war ; aber bei dieser Darstellung muss mit einer nachträglichen Perspektivverzerrung gerechnet werden. Die frühesten erhaltenen Dokumente über Ansprachen sowie Traktate der Jahre 1893 bis 1897 erwähnen das Thema des Blutes Christi kaum; Schimmelmann rief zur Befolgung des Wortes Gottes und zur Bekehrung auf unter Verweis auf die Liebe des Heilands und seine Hingabe für die Sünder am Kreuz. Bei einer Rede in Hamburg vor Arbeitern in einem großen Versammlungssaal kündigt sich die Konzentration auf das Blut Christi als Zentrum ihrer Missionspredigt an. Hier spricht sie von „dem vergessenen, verspotteten Evangelium vom Blute Jesu Christi“.128 Eine während des Amerika-Aufenthalts 1899 gehaltene Ansprache zeigt, dass die Gräfin zu diesem Zeitpunkt eine Blut-Theologie als Zentrum der christlichen Heilswahrheit vertritt. Formelhaft begegnet hier die Wendung, die zum Kennzeichen ihrer Verkündigung wird: Sie spricht viele Male „die rettende Macht des Blutes Jesu Christi“ an.129 Das Blut Christi wird von ihr wie eine eigenständige Größe behandelt, die mit Macht und Kraft ausgestattet ist und eigenständig zu agieren vermag. Schimmelmann verspricht den Anwesenden, „um die Kraft des Blutes Christi, daß sie über alle hier wohnenden Christen komme“, zu bitten.130 Die eindringlichen Aufforderungen zu Umkehr und Bekehrung verweisen ausschließlich auf das Blut 126 Zum Aufenthalt in Amerika s. Albrecht: Schimmelmann (wie Anm. 103). Die Zeitschrift „Leuchtfeuer“ erschien von 1903 bis 1915. Der Verlag druckte vor allem die Traktate Schimmelmanns, daneben auch z. B. einen Text ihres Adoptivsohns sowie einiger anderer Autoren. 127 Witt: Kurzer Bericht (wie Anm. 98), S. 10–12; Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 227 f.; Leuchtfeuer, 11. Jahrgang, Dezember 1913, S. 14; 12. Jahrgang, März 1914, S. 29–31; April 1914, S. 36, 48. 128 Die Rede ist abgedruckt bei Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 110, vgl. 111. Der Zeitpunkt wird bei Wettstein nicht angegeben, vermutlich ist diese Ansprache in die Jahre zwischen 1895 und 1898 zu datieren. 129 Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 168 f., 170, 174, 177. 130 Ebd., S. 179, vgl. 173.
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Christi, andere Elemente der biblischen Botschaft kommen kaum vor. Die Wahrheit, die sie verkündet, lautet: „Sucht keinen andern Weg zum Heil als das Blut Christi.“131 Die in Stuttgart gehaltenen und 1901 gedruckten Reden Schimmelmanns bestätigen die Beobachtung, dass die Rednerin trotz einer gewissen thematischen Vorentscheidung für die einzelnen Vorträge das Blut Christi als zentralen Inhalt ihrer Verkündigung herausstellt. Zu Beginn fordert sie ihre Zuhörer auf: „Nehmt einmal eure Konkordanz, wenn ihr wißt, was das ist, und schlagt euch da auf, was alles Jesus über sein erlösendes Blut gesagt hat.“132 Den Bekehrungswilligen schlägt sie als Gebetsformulierung vor: „Und dann rufe: Jesus Christus, werde du mein Heiland, thue das Wunder an mir, daß deine Blutskraft über mich komme!“133 Schimmelmann führt aus, dass in ihren Augen die Konfessionszugehörigkeit nicht wichtig sei, es komme nur auf das richtige Verständnis der Erlösung an: „Wenn nur Jesus und seine Erlösung der Grundstein ist, so daß du gewiß wirst, du bist durch sein Blut erlöst, dann ist die Sache recht.“134 Das Bekenntnis zur Erlösung durch das Blut Christi steht für die Gräfin nicht nur im Mittelpunkt ihrer missionarischen Ansprachen, es ist für sie „das Evangelium, die frohe Botschaft“.135 Wenn die Bekehrung erfolgt ist, die Verbindung zu Gott durch Umkehr zustande gekommen ist, dann entsteht zwischen Gott und Mensch eine „Blutsverwandtschaft“.136 Für Krisen und lebensgefährliche Situationen empfiehlt Schimmelmann als Gebet: „Rufe: Herr Jesus, laß deine Blutskraft über mich kommen! und du wirst eine Kraft spüren, die dir sagt, daß das Wahrheit ist.“137 Zu den Wendungen, die nur gelegentlich im Kontext der Blutbilder bei Schimmelmann vorkommen, gehört die Rede vom „Herzblut“ Christi, das Gott für die Menschen geopfert hat.138 Gegen Ende der Stuttgarter Vorträge, die sich über eine Woche hinzogen, resümiert die Evangelistin als Ergebnis ihrer Anwesenheit und Tätigkeit: Es „haben in diesen Tagen in Stuttgart sehr viele den Herrn Jesus und seine Blutskraft kennen gelernt“.139 Die letzten Sätze, mit denen diese Bekehrungsaufrufe in der württembergischen Hauptstadt enden, münden in einem Gebet, das wiederum den Hauptfokus der Verkündigung der Gräfin anklingen lässt: „und Gott, unser himmlischer Vater, 131 Ebd., S. 168. Von der Macht des Blutes Christi spricht auch Otto Stockmayer häufig, jedoch nicht in dieser Zuspitzung wie Schimmelmann, s. Otto Stockmayer: Zu Gottes Verfügung. Nach Vorträgen, 3. Aufl. Düsseldorf 1924, S. 6, 10, 48, 50, 53; ders.: Unser Vater in den Himmeln. Hausandachten über Luk. 11,1–4, 3. Aufl. Gotha o. J., S. 21, 23, 26, 30, 35 f., 42–45, 47 f., 50, 53. Zu seiner Bedeutung für die Heiligungsbewegung s. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 135–146. 132 Schimmelmann: Vorträge (wie Anm. 106), S. 4. 133 Ebd., S. 16, vgl. 32, 50. 134 Ebd., S. 26. 135 Ebd., S. 40. 136 Ebd., S. 61. 137 Ebd., S. 77. 138 Ebd., S. 103. 139 Ebd., S. 100.
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höre uns um des Blutes Jesu willen und laß die Blutskraft Jesu mächtig in jede Seele dringen, daß sie dadurch selig werden kann“.140 In der von ihr redigierten Zeitschrift Leuchtfeuer kommen ihre theologischen Hauptanliegen in jedem Heft vor: Schimmelmann dringt auf Bekehrung und Umkehr. In Beispielgeschichten führt sie vor, wie dies geschehen kann, wenn sie z. B. von einem englischen Seemann berichtet, welcher „ein Leben voller Schande geführt hatte“. Ihre ermahnenden Worte in Verbindung mit erbaulicher Lektüre führten dazu, dass er „zum Frieden im Blute Jesu“ fand.141 Nach einem Besuch auf der Wartburg versicherte die Gräfin ihren Lesern, dass auch Luther genau wie sie im Vertrauen auf „das Wort von dem Blute Jesu Christi“ gegen den Satan und alle feindlichen Angriffe gekämpft habe. Als Bekräftigung dieser Feststellung zitiert sie Apk 12,11.142 Die Sakramente spielen in Adeline Schimmelmanns Äußerungen nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie an etlichen Stellen betonte, dass sie sich als Mitglied der lutherischen Kirche verstand und dass ihr die Theologie Luthers viel bedeute.143 Wenn sie Abendmahl und Taufe erwähnt, dann kommen auch hierbei die für sie charakteristischen Deutungen vor. Ein Leitartikel des Leuchtfeuer widmet sich der Frage: „Was ist das Abendmahl?“ Nach Schimmelmanns Überzeugung muss das Sakrament unter der Voraussetzung empfangen werden, dass darin dem Gläubigen Leib und Blut Christi gereicht werden. Wer so am Abendmahl teilnimmt, dem wird „die Blutskraft“ Christi zuteil, und diese „macht ihn zu Gottes blutsverwandtem Kind“.144 Die Vorstellung einer Art von körperlicher Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen durch das Blut des Gottessohnes klingt auch bei anderen Theologen an, die Schimmelmann gekannt haben könnte, so z. B. bei Theodor Jellinghaus.145 Insgesamt war Schimmelmann eine Einzelgängerin, auch wenn sie sporadisch mit Vertreterinnen und Vertretern der Erweckungsbewegung zusammenarbeitete wie mit General Georg von Viebahn, Toni von Blücher oder Karl
140 Ebd., S. 108. 141 Leuchtfeuer, 9. Jahrgang, September 1911, S. 107 f.; s. auch April 1910, S. 71. 142 Leuchtfeuer, 10. Jahrgang, März 1912, S. 28. Diese höchst eigenwillige Luther-Rezeption steht im Kontext der häufig bei ihr vorkommenden Bezugnahme auf den Reformator. Schimmelmann beschäftigte sich mit ihm, allerdings in einer eher simpel zu nennenden Weise, vgl. Leuchtfeuer, 8. Jahrgang, April 1910, S. 71; Adeline Schimmelmann: Unsere Erfahrungen in der Waleser Erweckung, Berlin o. J., S. 64. 143 Schimmelmann: Streiflichter (wie Anm. 102), S. 122. 144 Leuchtfeuer, 5. Jahrgang, Mai 1905, S. 49 f. 145 Zu seiner Bedeutung für die Heiligungsbewegung s. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 146–162. Von einer „massiv gedachten Lehre von dem den Wiedergeborenen und Geheiligten einwohnenden Blute Christi“ spricht Ernst Rietschel: Lutherische Rechtfertigungslehre oder moderne Heiligungslehre? Ein Beitrag zum Verständnis der modernen Heiligungsbewegung mit besonderer Berücksichtigung des Buches von Th. Jellinghaus: „Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum“, Leipzig 1909, S. 37 f.
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Wilhelm Kumm.146 Wenn sie theologisch mit andern übereinstimmte, dann beruhte für sie die Gemeinsamkeit auf dem Bekenntnis zur erlösenden Funktion des Blutes Christi. Nachdem sie 1905 nach Wales gereist war, um die dort seit 1904 aufgetretenen Erweckungen kennenzulernen, stellte sie fest, dass die walisischen Führer der Bewegung genau wie sie „das erlösende Blut Christi“ als Fundament allen missionarischen Wirkens betrachteten.147 In Bezug auf die deutsche Heiligungsbewegung sprach sie nicht von einer ähnlichen gemeinsamen Basis, vielmehr übte sie an dieser massive Kritik.148 Dass auch hier das Bekenntnis zur reinigenden Kraft des Blutes Christi wichtig war, spielte für ihre Beurteilung keine Rolle.149 In ihren autobiographischen Rückblenden, Streiflichter, verknüpft Schimmelmann die Erkenntnis von der Wichtigkeit des Blutes Christi mit einem Ereignis, das um 1864 stattfand. Ein zum Tode verurteilter Mörder aus ihrer heimatlichen Umgebung habe sich wegen ihrer Gebete bekehrt, er sei „in tiefer Reue über seine Sünde zum Kreuz Christi gekommen“ und habe „in Seinem Blut Vergebung gefunden“.150 Kurz vor dem Tod von Kaiserin Augusta, die am 7. 1. 1890 in Berlin verstarb, führte Schimmelmann mit der Monarchin ein langes Gespräch „über den Mittelpunkt der Wahrheit unseres evangelischen Glaubens – Erlösung allein durch das Blut Christi, nicht durch unsere Werke“.151 Schimmelmann rekurriert hier auf die Rechtfertigungslehre, die im Zentrum des evangelischen Bekenntnisses steht. In einer Hinsicht gibt sie das Charakteristicum der reformatorischen Lehre durchaus zutreffend wieder, dass nämlich die Werke für das Rechtfertigungsgeschehen keine Rolle spielen; in anderer Hinsicht wird an dieser Zusammenfassung die einseitige Blickrichtung der Gräfin überaus deutlich. Denn die grundlegenden Texte der lutherischen Kirche wie die Confessio Augustana sehen die Rechtfertigung verwurzelt in der Hingabe Christi in seinem Tod am Kreuz; nicht das vergossene Blut allein, sondern der gesamte Weg des Gottessohnes von der Menschwerdung bis hin zu seinem Tod bilden den Grund für die Gerechtsprechung des Sünders vor Gott.152 Wie in ihren öffentlichen Reden so verkürzt Schimmelmann auch hier die unterschiedlichen Elemente des Heilsgeschehens zu diesem einen Bild mit einprägsamem Symbolwert. Die deutsche Kaiserin zeigte religiöse Interessen, diese gingen jedoch in vielfältige Richtungen. Das Monarchenpaar unterstützte zwar die Erweckungsbewegungen, es gibt jedoch keine weiteren Belege dafür, dass 146 Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 46, 54, 113; vgl. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 206, 484–486. 147 Vgl. hierzu Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 563–567; Schimmelmann: Waleser Erweckung (wie Anm. 142), S. 18 f., 31, 49, 51, 7 f. 148 Ebd., S. 12, 19, 37 f., 42, 47, 72 f., 76. 149 Vgl. Holthaus: Heil (wie Anm. 6), S. 128 f., 159. 150 Schimmelmann: Streiflichter (wie Anm. 102), S. 15. 151 Ebd., S. 22. 152 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 6. durchgesehene Auflage, Göttingen 1967, Art. 4, S. 56; dieser Artikel verweist auf Röm 3 und 4.
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Augusta eine Verfechterin der Blut-Theologie im Sinne Schimmelmanns war.153 Aller Wahrscheinlichkeit nach festigte sich für Adeline Schimmelmann in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre eine theologische Position, die das Blut Christi als Mittelpunkt der christlichen Lehre sah.154 Einige der Einflüsse, die auf die autodidaktisch gebildete Adlige einwirkten, lassen sich nachzeichnen. Sie bewegte sich zeitlebens in Kreisen, die auf unterschiedliche Weise mit den Erweckungsbewegungen verbunden waren. Im Blut Christi fand sie ein Sprachbild und Symbol, das auf anschauliche Weise den Inhalt des christlichen Glaubens versinnbildlichte. Ihre Bevorzugung drastischer Aussagen, die sich auch in den von ihr ausgewählten Beispielgeschichten bei ihren Vorträgen spiegelt, könnte zu dieser Konzentration auf die formelhaften Redewendungen vom Blut Christi beigetragen haben. Ihre Bemühungen, die Ergebnisse von Bekehrungen möglichst anschaulich darzustellen, führten sie zu solchen Beschreibungen wie der von der Blutsverwandtschaft zwischen den Gläubigen und Gott. Von einem mystischen Ansatz bei ihr kann insofern gesprochen werden, als sie mit Hilfe des Elementes Blut eine wesenhafte Veränderung der Bekehrten in Gang gesetzt sah. Wenn nach ihrer Anschauung die wahrhaft Gläubigen die Blutskraft Christi in sich tragen, dann wird damit eine körperhaft erfahrbare Begegnung mit dem Göttlichen bekundet. Schimmelmann ging es darum, den Glauben als Erfahrungstatsache einsichtig zu machen; für diese Versuche greift sie zu sprachlichen Mitteln, die eine Art von Selbstevidenz des Blutes Christi beschwören, wenn sie von dessen Kraft und Macht spricht. Adeline Schimmelmanns Person und Wirken riefen neben ausdrücklicher Zustimmung auch unterschiedliche Formen von Kritik hervor, die von theologischer Distanzierung bis hin zu massiver persönlicher Polemik reichte.155 Der Tuttlinger Dekan Friedrich Fischer, der in seinem Bezirk positive Auswirkungen ihrer dort gehaltenen Vorträge vermerkte, riet ihr, das Thema des Blutes Christi nicht so stark in den Vordergrund zu stellen. In seinem Brief formulierte er : Nur glaube ich, würden Ihre Vorträge noch mehr der Gefahr einer gewissen Monotonie […] entgehen, wenn Sie, statt bei Jesu nur einseitig dabei zu verweilen, wie er uns durch sein Blut erlöst hat, noch mehr aus der biblischen Fülle für Ihre Vorträge schöpfen […] würden.156 153 Vgl. hierzu Bunsen: Augusta (wie Anm. 118). 154 Schimmelmann: Streiflichter (wie Anm. 102), S. 120: Hier berichtet sie von einem Vortrag in Hamburg gegen Ende der 1890er Jahre, in dem das Blut Christi das zentrale Thema bildet. 155 Vgl. Ernst Bunke: Innerkirchliche Evangelisation. In: Kirchliches Jahrbuch, Bd. 30 (1903), S. 236–272, hier: 237–239; Ludwig Heinrich Hunzinger: Gräfin Schimmelmann und Gottes Wort. Zwei Vorträge, Rostock 1896; Kirchlicher Anzeiger für Württemberg. Organ des Evangelischen Pfarrvereins, XI. Jahrgang Nr. 22 (1902), 29.5., S. 186 f. 156 Zit. nach Wettstein: Lebensbild (wie Anm. 102), S. 197. Kirchenoberarchivrat Dr. Hermann Ehmer, Stuttgart, danke ich für die Identifizierung Fischers, der von 1898–1908 als Dekan in
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Fischers Reaktion, die auf einer gewissen wohlwollenden Zustimmung beruht, analysiert die mangelnde theologische Einbindung und Reflexion der von Schimmelmann verkündeten Erlösungsbotschaft durch das Blut Christi. Der württembergische Dekan bestreitet nicht die Heilsnotwendigkeit des vergossenen Blutes Christi, er bemängelt jedoch die Isolierung dieses soteriologischen Topos zur Zentralaussage des ganzen Evangeliums. In einem anderen Kontext postuliert die Gräfin geradezu, dass ihr Vorgehen und ihre theologische Auswahl die einzige Möglichkeit darstellen, um bei missionarischen Veranstaltungen Erweckungen zu erzielen. Sie formuliert: Zu einer Erweckung sind nur drei Dinge nötig: 1. unentwegt auf JEsus selbst und sein erlösendes Blut hinzuweisen, 2. daß der Mund, welcher die Worte spricht, jemandem gehört, der selbst die Blutskraft Christi in sich trägt, 3. daß man sich nicht rechts noch links durch irgend welche Nebenlehren blenden läßt und wahr beim Mittelpunkt der Wahrheit bleibt.157
Schimmelmann verficht einseitig und konsequent ihre Position, wenn sie das Blut Christi zum Mittelpunkt erklärt, dem gegenüber alle anderen Aspekte des christlichen Glaubens zu Nebenlehren herabgestuft werden. Nach Auffassung der Gräfin ist das Ziel der Bekehrung erst dann erreicht, wenn eine wesenhafte Veränderung mit den Gläubigen vor sich gegangen ist. Diese sollen dahin gelangen, eine körperhaft erfahrbare Verbindung zu Christus aufzubauen.
V. Zur weiteren Tradierung der Blut-Theologie Die drei hier vorgestellten Personen sind Hinweise darauf, dass in einigen Richtungen der Erweckungsbewegungen im Laufe des 19. Jahrhunderts das Blut Christi zu einem bevorzugten Thema wurde. Etliche Vertreter und Vertreterinnen dieser Frömmigkeitsrichtung verwendeten dieses bildhafte Segment der Erlösungslehre wie eine Bekenntnisformel, die eindeutige Zuordnungen zu kirchlichen Fraktionen und Richtungen ermöglichen sollte.158 Während Spurgeon und Schrenk weit über ihr unmittelbares Umfeld und ihre Lebenszeit hinaus traditionsbildend wirkten, kann dies von Schimmelmann nicht gesagt werden. Die bei ihr zu beobachtende Verabsolutierung dieses einen Segmentes der Heilslehre fand keine Fortsetzung, da es ihr nicht gelungen war, dauerhaft Anhänger und Anhängerinnen zu finden. Tuttlingen tätig war. Dr. Ehmer stellte mir gleichfalls die in Anm. 155 erwähnte Zeitungsnotiz des Kirchlichen Anzeigers zur Verfügung. 157 Schimmelmann: Waleser Erweckung (wie Anm. 142), S. 75. 158 Dass eine Bezugnahme auf das Blut Christi auch möglich war ohne die einseitige Zuspitzung, zeigt sich z. B. bei Friedrich Naumann (1860–1919), s. Friedrich Naumann. Zeugnisse seines Wirkens. Lebensbild und Auswahl. Hg. von Kurt Oppel, Stuttgart 1961, S. 88.
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In allen mentalitäts- und frömmigkeitsgeschichtlichen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts wahrte ein Teil der Erweckungsbewegungen den ausdrücklichen Bezug auf das Blut Christi als Bekenntnismerkmal. Ein Vertreter der Gemeinschaftsbewegung, der spätere Gründer einer freien Gemeinde in Hamburg, ging während einer kurzen Phase in den 1930er Jahren von einer gewissen Parallele zwischen dem deutschen Blut als Grundlage des Nationalsozialismus und dem Blut Christi als Grundlage des Christentums aus. Friedrich Heitmüller trat in einem 1934 gedruckten Text für die Vereinbarkeit von nationalsozialistischer und erwecklicher Positionsbestimmung ein.159 Unter Rückgriff auf die Thesen von Alfred Rosenberg plädierte er für diese Übereinstimmung, von der er sich jedoch kurz darauf wieder distanzierte.160 Eine nahtlose Anknüpfung an die Tradition des 19. Jahrhunderts zeigt sich im Reichsliederbuch, das als Gesangbuch der Gemeinschaftsbewegung entstand. Die Neubearbeitung von 1931 wurde 1952 nachgedruckt. Das bei Spurgeon vorkommende Lied von Cowper in seiner deutschen Fassung von Gebhardt ist darin enthalten.161 Dieses Lied, neben vielen anderen Versen mit Bezügen zum Blut Christi, spielt eine auffallend große Rolle für einen 1967 erschienenen Traktat: Die Bedeutung des Blutes Jesu. Am Schluss der Einleitung wird der fünfte Vers abgedruckt, der in Abwandlungen verschiedene Male vorkommt:162 Dies Blut sei all mein Leben lang die Quelle meiner Lust! Das bleib mein ew’ger Lobgesang an meines Heilands Brust!
Der Verfasser dieser Broschüre, Heinrich Müller, bemüht sich darum, die von ihm propagierte Blut-Theologie auf biblische Quellen zurückzuführen; er setzt sich nicht explizit mit der pietistischen und erwecklichen Tradition auseinander, in der er zweifelsohne steht. Müller scheint darauf zu hoffen, dass der in seinem Text entfaltete heilsgeschichtliche Topos mehr Beachtung findet.163 159 Friedrich Heitmüller : Sieben Reden eines Christen und Nationalsozialisten, Neumünster 1934, S. 82, 87. Zu einem Teilabdruck s. Simon Gerber : Eine freikirchliche Werbeschrift für Christentum und Nationalsozialismus. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Bd. 54 (2009), S. 113–164. Heitmüller (1888–1960) führte die Gemeinde am Holstenwall in die Freikirchlichkeit, s. ebd. 160 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1940. 161 Reichs=Lieder. Deutsches Gemeinschafts=Liederbuch, Neumünster 1952, Nr. 225. Unter Nr. 219 ist das Zinzendorf zugeschriebene Lied „Christi Blut und Gerechtigkeit“ abgedruckt. 162 Heinrich Müller : Die Bedeutung des Blutes Jesu, Evangelische Landeskirchliche Volks- und Schriftenmission Lieme in Lippe 1967, Vorwort S. 3, vgl. S. 13, 37, 45. Das Zinzendorf zugeschriebene Lied kommt ebenfalls mit mehreren Strophen vor. Diesen Text verdanke ich ebenfalls Günter Balders, ihm sei von Herzen für seine Mithilfe gedankt. 163 Ebd., Vorwort: „Da viele Christen die Bedeutung und Notwendigkeit des Blutes Jesu noch nicht
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Die in diesem Beitrag zusammengetragenen Beobachtungen lassen viele Fragen offen, die weiter zu verfolgen sind: Wie kommt es zu dieser Ablösung des Blut-Symbols vom übrigen Passionsgeschehen, für das in der christlichen Heilslehre das Kreuz steht? Die Betonung der Sündhaftigkeit des Menschen bildet eine der Grundlinien der Erweckungsbewegungen; welche Entwicklungen tragen dazu bei, dass das Blut Christi zwar nicht völlig von diesem Hintergrund losgelöst wird, aber sich dennoch als eigenes Thema etablieren kann? In welchem Verhältnis stehen Abendmahlsfrömmigkeit und Blut-Verehrung zueinander? Wodurch kamen insbesondere Prediger und Predigerinnen zu der Überzeugung, dass die Metapher des Blutes ausgezeichnet geeignet sei für missionarische Veranstaltungen?
erkannt haben, will ich in dieser Schrift darüber etwas sagen und auf die Kraft des Blutes Jesu hinweisen.“
Reinhard Breymayer
„Dees ischd a’ Abbild dessa’ davon …“ Zum pietistischen Sprachgebrauch in einer schwäbischen Erbauungsstunde des 20. Jahrhunderts Dem Andenken an die Lehrerin Erika Kullen (1919–2005) gewidmet
Die im Jahre 1968 in Hülben bei Urach gehaltene Ansprache des Böhringer Bauern Georg Länge ist ein Beispiel für die Laienpredigt im Pietismus und hier für die Wirkung der Theosophie Friedrich Christoph Oetingers auf das sogenannte einfache Volk. Zugleich ist sie ein Exempel für eine von der akademischen Theologie lange Zeit vernachlässigte „narrative Theologie“, wie sie von Harald Weinrich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in gewisser Weise wiederentdeckt wurde. Länge besaß, wie ich bei einem Besuch in seinem Hause feststellen konnte, unter seinen etwa 330 Büchern und Schriften fast ausschließlich geistlichen Inhalts neben sämtlichen Werken Michael Hahns, den klassischen Erbauungsschriften wie Johann Arndts Wahrem Christentum auch einige Werke Oetingers (Predigtbände). Er war sehr belesen: die Frage nach den Quellen lohnt sich also. Auch die Region, der Länge entstammt, ein Land, „in dem“, mit Uhlands Gedicht Wanderung von 1834 zu reden, nicht „die Orangen glühn“, sondern „die Kartoffeln blühn“, ist keineswegs unbedeutend. Von Böhringen ging der Lebensweg eines wichtigen Wegbereiters des niederländischen Frühpietismus aus. Der 1595 in Böhringen geborene, 1661 in Amsterdam verstorbene Pfarrerssohn Ludwig Friedrich Gifftheil, ein Anhänger Johann Arndts, ist vor allem durch pazifistische Schriften bekannt geworden. In den Niederlanden kam er in freundschaftliche Verbindung mit Theologen wie Hermann Jung und Friedrich Breckling. Mit dem Böhringer Nachbarort Urach war der pietistische Theosoph Friedrich Christoph Oetinger durch seine aus Urach stammende Frau eng verbunden. Der ebenfalls Böhringen benachbarte Ort Hülben wiederum gilt als ein Zentrum des württembergischen Altpietismus. Entscheidende Anstöße gaben für dieses Zentrum der in Hülben 1764–1766 als Pfarrer wirkende Johann Ludwig Fricker, ein Freund der Pietisten Friedrich Christoph Oetinger, und Friedrich Christoph Steinhofer, die beide auf die Umwelt des jungen Goethe gewirkt haben, besonders auf Susanne Catharina von Klettenberg. Frickers Musiktheorie strahlte offensichtlich auf Mozart und Hölderlin aus. Je ein Exemplar von Oetingers Werk Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie, das einen Abschnitt über Frickers „Philosophie der Music“ enthält,
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fand sich nicht nur in der Hülbener Bibliothek der Familie Kullen, sondern war auch in der Liste der nach Mozarts Tod versteigerten Bücher verzeichnet. Für die Weitergabe der pietistischen Tradition sorgte die in Hülben bis heute ansässige Familie Kullen*, deren von Georg Länge erwähnten Nachkommen überregionale Bedeutung erlangt haben. Stellvertretend seien neben dem Geographieprofessor Siegfried Kullen die Söhne der Pfarrwitwe Johanna Busch, geborener Kullen (1869–1954), die Evangelisten Wilhelm Busch und Johannes Busch genannt, von Johannes Busch wiederum dessen Söhne Johannes, Direktor der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld, und Professor Eberhard Busch, der letzte Assistent Karl Barths und Inhaber des Karl-Barth-Lehrstuhls für Reformierte Theologie in Göttingen, ferner als weitere Enkel der Pfarrwitwe der Prälat Rolf Scheffbuch, der Dekan Klaus Scheffbuch, dazu der frühere Superintendent der Bundeshauptstadt Bonn Burkhard Müller, der lange als Sprecher beim Wort zum Sonntag im Fernsehprogramm Das Erste mitgewirkt hat, der Synodalpräsident Hans Eißler und dessen Bruder Konrad Eißler, der als Pfarrer an der Stuttgarter Stiftskirche durch seine Redekunst besonderes Ansehen gewonnen hat. Ein Neffe der beiden Brüder und Urenkel von Johanna Busch, der junge Pfarrer Bern* Vgl. Wilhelm Busch [sen.]: Aus einem schwäbischen Dorfschulhause (Familie Kullen), 2. Aufl., Elberfeld 1906. Friedrich Baun: Die Familie Kullen. Zweihundert Jahre im Dienst der Schule zu Hülben (1722–1922), Stuttgart 1922. [Julius] Rauscher : Kullen. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Bd. 3, Tübingen 1929, Sp. 1337. Zweihundert Jahre Kullenstunde in Hülben (Altpietistische Gemeinschaftsstunde) 1768–1968, mit Beiträgen von Kuno Wanderer, Rolf Scheffbuch, Konrad Eißler u. a. (Hg. von Reinhard Breymayer und Karl Buck), 2. Aufl., Metzingen [Württemberg] 1979. Karl Ebinger : Die Kullen, eine pietistische Lehrerfamilie. In: Glauben, Leben, Erziehen. Pädagogik und pädagogische Konzepte im Pietismus. Hg. von Dieter Velten, Gießen – Dillenburg 1988, S. 123–143. Burkhard Müller [* 1938; Superintendent i. R.]: Die „Stund“ im alten Schulhaus [in Hülben]. In: Wo mein Glaube zu Hause ist. Heimatkunde für Himmelssucher. Hg. v. Klaus Möllering, Leipzig (2006), S. 231–240. Rolf Scheffbuch: Das Kullen-Schulhaus in Hülben. Hg. [und Verl.]: Siegfried Kullen, Hülben [, Hauptstr. 18,] 2011. [Erschienen anläßlich des 200-Jahr-Jubiläums der Erbauung.] Reinhard Breymayer: Friedrich Christoph Steinhofer. Ein pietistischer Theologe zwischen Oetinger, Zinzendorf und Goethe, Dußlingen 2012. – Vgl. bes. S. 7 f. zu Hülben als Filialort von Steinhofers Amtsort Dettingen an der Erms, S. 24–30: „Steinhofer und Goethes Umwelt“; dazu auch S. 67–69. Die Anfangszeile von Goethes Gedicht „Wandrers Nachtlied“ („Der du von dem Himmel bist“) klingt an diejenige von Zinzendorfs Vaterunser-Lied an, das Steinhofer ins Ebersdorfer Gesangbuch aufgenommen hat: „Der du in dem Himmel bist“. Vgl. zu dieser vordem übersehenen Beobachtung ebd., S. 24–27. Zur Ikonographie der Schulmeisterfamilie Kullen vgl. Wolf Eiermann: Das unbekannte Œuvre des deutsch-englischen Malers Carl Bauerle (1831–1912). In: Schwäbische Heimat 57 (2006), Heft 1 (Januar – März), S. 13–17 (Titelbild: Mina [Schäfer, geb.] Kullen [1883–1955] aus Hülben, Pastellbild von Carl Bauerle). Bauerle war Hofmaler am Hof von Königin Victoria I. von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien; seit 1. Juni 1900 wohnte er zeitweilig in der von Georg Länge erwähnten „Villa“ in Hülben, einem Ateliergebäude in der dortigen Königstraße 12.
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hard Elser im Böhringer Nachbarort Zainingen, hat im Jahr 2013 einen Wettbewerb (Predigt-Slam) am Zentrum für Predigtkultur in Wittenberg gewonnen und so als akademisch gebildeter Homilet seinerseits zur Rhetorikgeschichte der Gemeinde Römerstein wie auch der Familie Kullen beigetragen.
Die Ansprache Georg Länges Die Jubiläumsstunde in der Christuskirche in Hülben am Sonntag, dem 22. September 1968, war Röm 5, 1–11 gewidmet. Der Leiter der Altpietistischen Gemeinschaftsstunde in Hülben, der damalige Technische Bundesbahnoberamtmann Eberhard Kullen in Zell am Neckar (geb. 1911 in Hülben, dort gest. 2007), forderte als zwölften von dreizehn Rednern den Landwirt Georg Länge, genannt „Ritterbauer“, zum Reden auf. Länge, geb. 11. Dezember 1896 in Böhringen (Schwäbische Alb), dem heutigen Ortsteil der Gemeinde Römerstein (Württemberg), dort gest. 9. Februar 1990, war Leiter der zugleich von der altpietistischen Gemeinschaftsbewegung und von der Theosophie Michael Hahns geprägten Böhringer Gemeinschaftsstunde: „Br0dr GÞkrg Lenge fon Bö:ringen, bidde, sag uns aF / Wkrd! Kom di` fir, ni` bischd bessr dsom HÞr/!“ (,Bruder Georg Länge von Böhringen, bitte, sag uns auch ein Wort! Komm da vor, nach [= danach, dann] bist du besser zum Hören! [= zu hören] !‘)
Der Text der Ansprache Georg Länges I. Anfang des Originaltexts in mittelschwäbischer Mundart (Probe) (Notation in internationaler phonetischer Umschrift) [nUwHdem m{ jedsd Si soy fiyl hend Hhey{˛ Hdi{f˛ fon de Hfeyd{ HkHulen ?iSd m{ niy ˚ ˚ ˚ besond{s ?in ˚ ?˛H{in˛{uN ˚ ˚ ˚ ˚ ?˛ ?˛{Hleybnis g.nds {…}] ˚ II. Der vollständige Originaltext in mittelschwäbischer Mundart (Wiedergabe in konventionellen Buchstaben mit diakritischen Zeichen) Nkchdem mr jedsd scho si f%l hHnd hÞr/ dirf/ fon de FÞ`dr Kulen, ischd mr ni˜ / frlÞ`bnis g/nds besondrs in frin/rung fon den Mytrn, di/ ao en d%s/r F/m%lje Kulen gewirgd hHnd Fnd sich /uswirg/ hHnd dirf/ … fon dr li/b/ FraF Bfar/r Busch, wi/ mr vkrhin kÞrd hHnd.
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s w.r /mi` l em Gr%/g – % wa's neme gnaF, isch dr 9rschde Weldgr%/g gwÞ`/ odr dr Dswa'de Weldgr%/g. W/il – em Haus Kulen ischd aF / gris/ Gaschdfr/e˜ndschafd gwÞ`/, ond s send f%l Geschd /us Fnd /e˜ g/ng/, ond – s-ischd Þ`b/ / bekand/ F/m%lje gwÞ`/. Di` send aF em Gr%/g f%le komH en %re NÞd/, en %rer Bedrengnis, en %re frsch%dene L.g/ ond hHnd dkrd %r HHrds /usgschid/d. Ond di` w.r mrs / i˜ frgHslichHs frlÞ`bnis, w%/ mr aF en BÞring/ Konde gr%/gd hHnd, das em Sch0lhaus en Hilb/ aF / Nid hHrschd, das en dÞ`r/ Ds/id, wi al/s beschl.gn.` md gwÞ`/ ischd –d’ Kardofl aF besondrs –, des / bsondrs frdsHignis gwÞ`/ ischd en dÞ`r/ Ds/id, w/il di/ aF beschl.gn.` md gwÞ`/ send. Ni` hkd d Gm/e˜schafd en BÞreng/ sich /ufgmachd ond hHnd Kardofl ds/m/glegd ond m/ h/d /usgmachd: „Di/ wHrd/d nkch Hilb/ g’f.r/.“ Ond % h/n d/ fufdrag gr%/gd fon onsr/m l%/b/ Br0/dr Grischdj.` n Schileng en BÞreng/, % sol d%/ Kardofl nkch Hilb/ f%/r/, mid saem BfÞ`rd. fr hkd / BfÞ`rd ked, dÞs hkd g0/d schbreng/ ken/. (W/il di` hkd mr sol/ ed si l/ng ondrwÞ`/gs s/e˜ – mr hkd ed gwisd, k/n mr …, wird mr .` ghald/ odr ed/.) Ond dÞs w.r / Luschd, mit sim/ BfÞ`rd dsu f.r/. Ond % ben wilbehaldH en HilbH .` kom/. Ond dr Fadr fon onsr/m Albrechd, … fon onsr/m Þ`brhard, dr AlbrHchd, hkd sofkrd s Sch/ir/dir /ufgmachd – om/ ischd r/e˜gf.r/ – ond h/d schnHl w%dr s Sch/ir/dir ds0/gmachd. Ond ni` send mr n/us nkchÞ`r midn/ndr. Was dÞs fir / Fra'd ond fir / frlHbnis gwÞ`/ ischd ! Sen mr n/us nkchÞ`r /uf d’Wil.. Di` hkd d’Frau BfarHr Busch g’wind %br d/ Gr%/g. Ond – % k/n /ich s.gH, dÞs w.r / frlÞ`bnis; di` m/ gr.d gm/e˜nd, % kom mit dHm G/ul fom Heml r., mit dHne Kardofl ! … Si send d%/ /uf / dirs L/nd gfal/. Ond – di` ischd mr s g/ng/: wemr s%d d% Frichde, d%se frds/ignise s/e˜nr FHldr dHrf en d Schdad God/s breng/: dÞs ischd / Abild des/ ‘d.fin. On ni` , was e ni s.ga mechd, ni` h/d mr d’FraF Bfar/r Busch – %r g/nds/s ` ffl%g/ /ns HHrds glÞgd: was s%/ fir grise Skrg/ h/d … om %re dsÞ/n Kendr ond finf/dr/isig Engglkendr. (Ond di` sids/d jedsd si f%le:) di` dse mr Hle di/ Bu/b/, di/ frsch%dene, jedsd en %re N.˜ mensend/rong/, hkd se mr Hle d.rglÞgd: „Edsd send s d’fislrsbu/b/, d’Buschbu/b/ ond d Schefbu/chsbu/b/ ond d SchÞ`frsmÞ`dl/.“ Ja, dÞs, dÞs w.r / grise Nid fir d%/ Mudr : Fir d%/ Hle – hkd se gsagd –, se wHr gar neme /l/e˜ ferdig, fir d%/ Hle dsu bÞ`d/. Ond di` hkd se om / Schdidsong, om Ondrschdidsong gebÞ`d/. ` ds.l jedsd Ond edsd – send d%/ Bu/b/ Hle gris wkr/: Di` sidsd / g.` nds/ ff ` di’rom om dHn Disch. Ond % fra' me si %br d%/ Bu/b/ – /, jedsd send se ji` gris wkrd/! … Wen-e s’ jedsd bela'digd h/n, % ben bera'd alsi, mae Wkrd dsrigdsnHm/d! DÞs – dÞs ischd Þ`b/ d% Schpr.che fon dr Mudr Busch gwÞ`/: %re „B0/b/“ ond %re „Engg/l/“. Ond w.s dÞs fir s%/ gwÞ`/ ischd: Se hkd d%/ B0/b/ ond d%/ Engg/l/ g/nds omlÞgd, d%/ send gl/ichsam omrengd wkr/ mit l/udr GebÞ`de fon si /e˜nr Mutr. Was d%se Mitr en d%sr F/m%lje gwÞ`/ send und was /us d%sen GebÞ`ten – d%/ B0/b/ hHnd ken/ g.r ed /ndrs: d%/ send g/nds /e˜gmachd gwÞ`/ odr /e˜gewigld
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gwÞ`/ – und sÞ`/d d%se fuswirgungen aenr gla'bigen SÞ`le odr /e˜nr gla'bigen Mudr! Wen d’FHdr di` send, ni` dHrfHd d’Midr aF ed fÞ`l/ Soziolektisch ist der Wechsel, die ,Stufenleiter‘, zwischen der schwäbischen Grundmundart und versuchter Annäherung an die Standardsprache bemerkenswert, wie sie für das „Honoratiorenschwäbisch“ charakteristisch ist. Der Sprecher ist sich dessen bewusst, dass er aus besonders feierlichem Anlass spricht, und deshalb pendelt er immer wieder zwischen Dialekt und Standardsprache, zum Beispiel bei der lautlichen Realisation des Wortes für „Mutter“ zwischen „Mudr“ der Grundmundart (mit der ,binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung‘ von [th] zur stimmlosen Lenis [d]) und dem ˚ an die Standardsprache angenäherten „Mutr“. III. Umsetzung des Texts in die Lautung der deutschen Standardsprache Nachdem wir jetzt schon so viel haben hören dürfen von den Vätern Kullen, ist mir noch ein Erlebnis ganz besonders in Erinnerung von den Müttern, die auch in dieser Familie Kullen gewirkt haben und sich auswirken haben dürfen …, von der lieben Frau Pfarrer Busch, wie wir vorhin gehört haben. ’s war einmal im Krieg – ich weiß nicht mehr genau, ist ’s der Erste Weltkrieg gewesen oder der Zweite Weltkrieg. Weil – im Haus Kullen ist auch eine große Gastfreundschaft gewesen, und ’s sind viel Gäste aus und ein gegangen, und – ’s ist eben eine bekannte Familie gewesen. Da sind auch im Krieg viele gekommen in ihren Nöten, in ihrer Bedrängnis, in ihren verschiedenen Lagen und haben dort ihr Herz ausgeschüttet. Und da war mir ’s ein unvergessliches Erlebnis, wie wir auch in Böhringen Kunde gekriegt haben, dass im Schulhaus in Hülben auch eine Not herrscht, dass in deren [= jener] Zeit, wo alles beschlagnahmt gewesen ist – die Kartoffeln auch besonders –, das ein besonderes Erzeugnis gewesen ist in deren [= jener] Zeit, weil die auch beschlagnahmt gewesen sind. Nach [= Danach, eigentlich „(zeit)nah“] hat die Gemeinschaft in Böhringen sich aufgemacht und haben Kartoffeln zusammengelegt. Und man hat ausgemacht: ,Die werden nach Hülben gefahren.‘ Und ich habe den Auftrag gekriegt von unsrem lieben Bruder Christian Schilling in Böhringen, ich solle die Kartoffeln nach Hülben führen [= fahren], mit seinem Pferd. Er hat ein Pferd gehabt, das hat gut springen [= rennen] können. (Weil da hat man sollen nicht so lange unterwegs sein – man hat nicht gewusst, kann man …, wird man angehalten oder nicht.) Und das war eine Lust, mit so einem Pferd zu fahren. Und ich bin wohlbehalten in Hülben angekommen. Und der Vater von unsrem Albrecht, … von unsrem Eberhard, der Albrecht, hat sofort ’s Scheurentor aufgemacht – und man ist ’reingefahren – und hat schnell wieder ’s Scheurentor zugemacht.
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Und nach [= danach] sind wir hinaus nachher miteinander. Was das für eine Freude und für ein Erlebnis gewesen ist! Sind wir hinaus nachher auf die Villa [= zur Villa], da hat die Frau Pfarrer Busch gewohnt über den Krieg. Und – ich kann euch sagen, das war ein Erlebnis; da hat man gerade gemeint, ich komme mit dem Gaul vom Himmel ’rab, mit denen [= diesen] Kartoffeln! … So sind die auf ein dürres Land gefallen. Und – da ist mir ’s gegangen: wenn man sieht die Früchte, diese Erzeugnisse seiner Felder darf in die Stadt Gottes bringen: das ist ein Abbild dessen davon. Und [da]nach, was ich noch sagen möchte, [da]nach hat mir die Frau Pfarrer Busch – ihr ganzes Anliegen ans Herz gelegt : was sie für große Sorgen hat … um ihre zehn Kinder und fünfunddreißig Enkelkinder. (Und da sitzen jetzt so viele :) da hat sie mir alle die Buben, die verschiedenen jetzt in ihren Namensänderungen, hat sie mir alle dargelegt : „Jetzt sind ’s die Eißlersbuben, die Buschbuben und die Scheffbuchsbuben und die Schäfersmägdlein [= Schäfersmädchen] …“ Ja, das, das war eine große Not für die Mutter : Für die alle – hat sie gesagt –, sie werde gar nicht mehr alleine fertig, für die alle zu beten. Und da hat sie um eine Stützung, um Unterstützung gebeten. Und jetzt – sind die Buben alle groß geworden: Da sitzt eine ganze Anzahl jetzt da ’rum um den Tisch. Und ich freue mich so über die Buben – ah, jetzt sind sie ja groß geworden! … Wenn ich sie jetzt beleidigt habe, ich bin bereit also, mein Wort zurückzunehmen! Das – das ist eben die Sprache von der Mutter Busch gewesen: ihre „Buben“ und ihre „Enkelein“. Und was das für sie gewesen ist: Sie hat die Buben und die Enkelein ganz umlegt, die sind gleichsam umringt worden mit lauter Gebeten von so einer Mutter. Was diese Mütter in dieser Familie gewesen sind und was aus diesen Gebeten – die Buben haben können gar nicht anders: die sind ganz eingemacht [= eingehüllt] gewesen oder eingewickelt gewesen – und sehet diese Auswirkungen einer gläubigen Seele oder einer gläubigen Mutter! Wenn die Väter da sind, dann dürfen die Mütter auch nicht fehlen!
IV. Analyse und Interpretation der Ansprache Georg Länges Aufbau der Rede Die Rede ist klar gegliedert: ein kurzes Exordium leitet von der Situation zum Redekern über ; der Hauptteil besteht aus einer längeren Narratio, in der die Beseitigung einer materiellen und einer geistlichen Notlage geschildert werden; die kurze Peroratio endigt auf eine Sentenz, welche die Antithese des Exordiums wieder aufnimmt. Es handelt sich also um einen didaktischen
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Ringschluss.1 Bausinger sagt über dieses Strukturmerkmal in der Volkserzählung: Die Pointe, die Katastrophe, die Erlösung – diese Höhepunkte liegen gegen das Ende der Erzählung zu. Aber die Erzählung ist damit nur selten abgeschlossen. Es folgt noch ein Ausklang. […] Dieser Abschluß zeigt, was das langsame Ausklingen oft bedeutet: der Erzähler vergegenwärtigt sich darin noch einmal das Wesentliche der Erzählung, im Scherz oder im Ernst. Er greift das Wesentliche heraus und hebt es in die Gegenwart herein. So kommt es auch oft zu wörtlichen Wiederholungen dieses Wesentlichen am Schluß.2
Schwäbische Dialektik In der Einleitung haben wir ein schönes Beispiel dafür, wie weit verbreitet im schwäbischen Volk die Vorliebe für die Synthese von Gegensätzen ist: wenn von den „Vätern“ die Rede ist, müssen auch die „Mütter“ zu ihrem Recht kommen. Diese dialektische Grundhaltung ist bei dem schwäbischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger ausgeprägt.3 Diese Einstellung wirkt sich auch auf die Struktur der Rede aus: Oetinger, der das biblische Buch Weisheit Salomonis sehr schätzt, hebt an Salomo hervor: „Er stellt die meiste Sprüche per antithesin […]. Er stellt diese Antithesin also, daß der Schüler lerne das eine Stück des Gegen-Satzes durch das andere ergäntzen, oratione semiduplici […].“4 Ein weiteres Beispiel für Dialektik bietet das Begriffspaar „gewirkt haben und sich ausgewirkt haben dürfen“. Die von Karl Barth herausgestellte „Betonung und die Bewertung des Werkes und der Persönlichkeit im Pietismus“5 zeigt sich im Begriff „wirken“, nach August Langen „einem der gebräuchlichsten Ausdrücke“ im Pietismus.6 Die Verbindung beider Komponenten ist nach Ansicht des schwäbischen Pietisten Michael Hahn in der Notwendigkeit begründet, dass „das Wollen und Würken des Menschen mit dem Wollen und Würken Gottes vereinigt werden muß“7. (An anderer Stelle sagt Hahn: „so wie die Menschen nicht können, wenn Gott nicht will, so kann auch Gott nicht, so 1 Vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 162. 2 Hermann Bausinger: Lebendiges Erzählen. Studien über das Leben volkstümlichen Erzählgutes auf Grund von Untersuchungen im nordöstlichen Württemberg, Diss. phil. [masch.] Tübingen 1952, Bl. 183. 3 Zu Oetingers eigener Haltung vgl. Robert Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen, Würzburg-Aumühle 1938, S. 51–54, 70–72, 102–112. 4 Friedrich Christoph Oetinger : Reden nach dem allgemeinen Wahrheits-Gefühl, Th. 2, Tübingen 1759, S. 1098 f. 5 Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, 3. Aufl., Zürich (1960), S. 99 f. 6 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, 2. Aufl., Tübingen 1968, S. 25. 7 Johann Michael Hahn: Schriften, Bd. 4, und Bd. 3 über das N[eue]. Testament, Tübingen 1820, 2. Abth., S. 516.
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der Mensch nicht will […].“)8 Joachim Trautwein spricht vom „semipelagianischen Synergismus“9 der Gnadenlehre Hahns.
Zum Typus des unwissenden Erzählers Immer wieder betont der Redner die Wichtigkeit seiner eigenen Erlebnisse. Die im schwäbischen Pietismus ritualisierte Betonung der Wichtigkeit des eigenen Anliegens („dees ischd mir wichtig worde“) ist hier operationalisiert. Das Erlebnis ist dem Erzähler so unvergesslich, dass darüber die Konturen anderer weltbewegender Ereignisse verschwimmen. Nach Bausinger erzielt der Verzicht auf „eine bestimmte Aussage“ durch die Angabe „,amol‘ (= einmal)“ für die Zeit gerade eine besondere „Gültigkeit“ der Aussage: „In diesem ,einmal‘ steckt Ferne und Nähe: was ,einmal‘ war, kann auch wiederkehren und ist noch gültig.“10 Das gewiss nicht zum Umgangston von Wissenschaftlern, sondern zum ,Volkston‘ gehörende Eingeständnis „Ich weiß nicht […]“ – Heinrich Heine hat es in seinem weltberühmten Loreley-Gedicht virtuos nachgeahmt –, rückt zunächst das tatsächlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Geschehen in mythische Ferne, umhüllt es sozusagen mit Nebeln, ähnlich wie Leonardo da Vinci bei seinen Gemälden die Technik des „Sfumato“ (des „Verrauchten“) zur Evokation der Ferne nutzt.11 Länges Eingeständnis „Ich weiß nicht mehr genau, ist ’s der Erste Weltkrieg gewesen oder der Zweite Weltkrieg“ hat, wie aus Bausingers Dissertation hervorgeht, Parallelen im „lebendigen Erzählen“ der Schwaben überhaupt: „,Do isch au ama Handwerker – i woiß net, wo des war aber no net lang – ja, ond der hot grad ebbes grichtet, no fliagt bei em d’ Scheib rei …‘“12 lautet eine der von Bausinger aufgezeichneten Erzählungen. Darüber hinaus entspricht dieses Eingeständnis aber auch der pietistischen Forderung nach Wahrhaftigkeit beim Erzählen: 8 Ebd., S. 514. 9 Joachim Trautwein: Die Theosophie Michael Hahns und ihre Quellen, Stuttgart [1969] (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, Bd. 2). Vorher Diss. theol., Heidelberg 1967, S. 203. 10 Bausinger : Lebendiges Erzählen (wie Anm. 2), Bl. 185 f. 11 Vgl. zur Sfumato-Technik auch Johann Wilhelm Freiherr von Stubenberg (1619–1663). Er sagt: „Item Mahler wann sie etwas gemahlet / könden sie es mit artiger schattierung und dunckelen Farben dermassen bedecken / und in die Nacht stellen / dass ob es schon gemahlet / dannoch nicht wol zu sehen ist. So wissen sie auch manches Bildstat / Baum oder Landschafft dermassen zuerjüngern / dass es sich in dem Gesicht gleichsamb verliehret / und gar ferrn scheinet / ob es schon am nächsten zugegen ist.“ Zitiert bei Sabine Koloch, unter Mitarbeit von Frank Böhling und Hermann Ehmer: Akkumulation von Ansehenskapital. Die Gedenkschrift für Johann Valentin Andreae. Edition mit einer Bibliographie der gedruckten Werke von Gottlieb Andreae. In: Daphnis 35 (2006), S. 51–132, hier S. 120. 12 Bausinger : Lebendiges Erzählen (wie Anm. 2), Bl. 200.
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In Erzählungen sei sehr behutsam. Denn der Lügengeist herrschet darinnen. Man ersetzet die Umstände aus eigner Erfindung, wenn das Gedächtniß nicht alles behalten. Man prüfe sich, wenn man etwas erzählet, ob man nicht in diesem und jenem mit Ungewißheit geredet […] und wo dir etwas entfallen ist, so halte es für keine Schande es zu gestehen.13
Diese Forderungen an einen pietistischen Erzähler stellt August Hermann Francke in seinen XXX Reglen zur Bewahrung des Gewissens und guter Ordnung in der conversation oder Gesellschaft.14 Auch der schwäbische Pietist Philipp David Burk, ein Schwiegersohn Johann Albrecht Bengels, fordert: „Was du nicht weißt […], da schweige nicht nur, sondern bekenne lieber deine Unwissenheit.“15 Schon für die ersten Textabschnitte gilt die Feststellung Bausingers über schwäbische Volkserzählungen: „Auffallend ist die Häufung von Umstandswörtern, Konjunktionen und scheinbar funktionslosen Füllwörtern.“16 Besonders fällt im Originaltext das gehäufte „scheinbar nichtssagende und doch so bedeutsame ,au‘ (= auch)“ auf, zum Beispiel: „[…] wie wir auch in Böhringen Kunde gekriegt haben, dass im Schulhaus in Hülben auch eine Not herrscht […].“ Bausinger sagt über die Funktion von „auch“: „Dieses ,auch‘ stellt die Erzählung in einen sozialen Raum“ und fügt hinzu: „Das ,auch‘ besagt die allgemeine Gültigkeit der Erzählung als Erzählung.“17 Im vorliegenden Text schafft das „auch“ eine Atmosphäre der Vertrautheit und inneren Beteiligung; die in der Erzählung genannten Gruppen stehen miteinander in Kommunikation und Interaktion, die Geschehnisse betreffen die ,Allgemeinheit‘. Angefügt sei noch eine komparatistische Feststellung: Zwei Merkmale der gesprochenen Sprache im erörterten Text, die Häufung eines scheinbar funktionslosen Füllwortes („auch“) und die ,Unwissenheit‘ des Erzählers, finden sich auch zum Beispiel in der Sprache von Gogol’s Novelle Sˇinel’ (Der Mantel). Von dem Slawisten Dmitrij Tschizˇewskij wird der ungewöhnlich häufige Gebrauch des Wortes ,sogar‘ (,dazˇe‘) in der Novelle“18 hervorgehoben. 13 August Hermann Francke: XXX Reglen zur Bewahrung des Gewissens und guter Ordnung in der Conversation oder Gesellschaft (Schriftmäßige Lebensreglen). In: Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild, Th. 1, Halle a. S. 1880, S. 269–272, hier S. 269 f. 14 Von Paul Raabe und Almut Pfeiffer noch nicht erfasste mutmaßliche Erstausgabe: I. N. J. A. j X X X. [Dreißig] j Reguln / j zu j Bewahrung des Ge- j wissens und guter Ordnung j in der Conversation oder j Gesellschafft. j Aufgesetzet j von j M[agistro]. Aug[ust]. Herm[ann]. Francken. j [Verlagssignet] j LEIPZIG / j Zufinden bey Johan Heinichen / j 1690 [vordatiert für 1689?]. – 24 S., 128. 15 Philipp David Burk: Evangelischer Fingerzeig auf den wahren Verstand und heilsamen Gebrauch der gewöhnlichen Sonn – Fest- und Feyertäglichen Evangelien, zur gründlichen Erbauung aufmerksamer Christen hg., Bd. 1, Leipzig 1760, S. 655. 16 Bausinger : Lebendiges Erzählen (wie Anm. 2), Bl. 185. 17 Bausinger, ebd., Bl. 186. 18 Dmitrij Tschizˇewskij: Gogol’-Studien. In: Gogol’. Turgenev. Dostoevskij. Tolstoj. Zur russischen
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Überhaupt arbeite Gogol’ gerade in dieser Novelle mit der häufigen Verwendung von Wörtern“, „die an sich keine sachliche Bedeutung tragen.“19 Auch das Wort „schon“ (uzˇe, uzˇ) sei „auf mancher Seite ungewöhnlich oft “20 anzutreffen. Die ungewöhnlichen Wortwiederholungen sind nach Tschizˇewskij „wohl eines der äußeren Kennzeichen der stilisierten ,gesprochenen Rede‘ (,skaz‘), in der die Novelle abgefaßt ist“21. Tschizˇewskij verweist außerdem auf die Unwissenheit des fiktiven – nicht mit Gogol’ identischen – Erzählers: In der Erzählung finden sich Wendungen wie: „wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht“, „der Name der Stadt ist mir nicht erinnerlich“, „Es war schwer zu sagen, an welchem Tage es war“, usw.22 Eben diese ,Unwissenheit‘ ist ein Zeichen der (hier stilisierten) gesprochenen Sprache: Der Sprecher hat nicht so viel Zeit zur Reflexion und zur Auffrischung der Erinnerung wie der Schreiber. Gemeinschaftsideal und Liebeskommunismus Der Abschnitt „Da sind auch im Krieg viele gekommen in ihren Nöten, in ihrer Bedrängnis, in ihren verschiedenen Lagen und haben dort ihr Herz ausgeschüttet“ schildert, wie die Kommunikation der Pietisten untereinander gerade auch in Krisenzeiten sich bewährt. Für die pietistische Sprache bezeichnend sind die Wörter „Nöte“ mit dem intensivierenden Plural, die biblische Vokabel „Bedrängnis“23 und schließlich die biblische Metapher „sein Herz ausschütten“24, vor allem aber auch das charakterisierende Beiwort25 „lieb“ als Attribut einer Person: „von unsrem lieben Bruder Christian Schilling“. Der Pietismuskritiker Friedrich Bernritter parodiert 1787 die Verwendung dieses Adjektivs: Das dritte Wort ist beim Pietisten: der liebe Gott, der liebe Heiland, ach und o, und diß wechselt bis zum Ekel ab. Liebe scheint das Signal zu seyn, und man hörte schon den Ausdruk: der liebe Heiland segne der lieben Schwester die liebe Kartoffeln, die er mir auf meinem lieben Mistbeete nach seiner Liebe beschehret hat.26
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Literatur des 19. Jahrhunderts, München [1969] (Forum Slavicum, Bd. 12), S. 57–126, hier S. 100. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102. Nur einmal belegt (Hi 36, 16). Vgl. Langen: Wortschatz (wie Anm. 6), S. 229 f.; 1Sam 1,15: „Ich habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet.“ Vgl. Bausinger : Lebendiges Erzählen (wie Anm. 2), Bl. 184. „[…] so kommt es oft zu charakterisierenden Beiwörtern, und zwar auch zur Bezeichnung innerer Eigenschaften: ein dummer Mann, ein liebes Mädchen, ein böses Weib.“ [(Amandus) Friedrich Bernritter]: Wirtemberg. Pietismus. Schreiber. Schulen. Und Erziehung
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Die „Verbindung von individualistischem und bruderschaftlichem Ideal“27 wird durch das Nebeneinander von kollektiver und pluralischer Ausdrucksweise deutlich, so in der constructio ad sensum „Da hat die Gemeinschaft […] sich aufgemacht und haben [!] Kartoffeln zusammengelegt.“ Die Vokabel „zusammengelegt“ erinnert an den urchristlichen „Kommunismus“: Röm 15, 26 heißt es: „die aus Mazedonien und Achaja haben willig eine gemeinsame Steuer zusammengelegt den armen Heiligen zu Jerusalem.“ Philipp Jacob Spener greift auf urchristliche Gedankengänge zurück, wenn er in den Pia Desideria von 1675 betont, dass zwar nicht die Gütergemeinschaft der Jerusalemischen Christen übernommen werden könne, dass aber eine „andere gemeinschafft der güter gantz notwendig sey“28. Bei Friedrich Christoph Oetinger finden sich ähnliche Gedanken in seiner Schrift Die Güldene Zeit29 aus den Jahren 1759 und 1761. In dem Kapitel „Von der allgemeinen Glückseligkeit Aller und Jeder“ dieses Buches entwirft Oetinger ein verhältnismäßig fortschrittliches Zukunftsbild: Zu den Bedingungen der „wahren Glückseligkeit in einem Reich“ gehören nach ihm als Bedingungen: „erstlich, daß die Unterthanen bey aller Mannigfaltigkeit, die zur Ordnung gehört, bey allem Unterscheid des Standes eine Gleichheit unter einander haben […]. Zweytens, daß sie Gemeinschaft der Güter haben […].“30 Bemerkenswert ist die Reihenfolge, in der die einzelnen Vorgänge bei der Hilfsaktion dargestellt sind: ,Information‘ („Kunde“), ,Aktion‘ („Da hat die Gemeinschaft in Böhringen sich aufgemacht“), ,Diskussion‘ („Und man hat ausgemacht: ,Die werden nach Hülben gefahren!‘“).31 Durch die Reihenfolge Aktion – Diskussion kommt die Spontaneität des Entschlusses gut zum Ausdruck: „Unsere Wercke und Gebärden sollen zuerst reden / hernach unsere Worte“, schreibt Oetinger.32
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und Aufklärung überhaupt. Help Godd mit Gnoden, Hie wird ok Seepe gesoden. [Stuttgart] Gedrukt im Jahr 1787, S. 24 [Ausgabe A] bzw. S. 29 f. [Ausgabe B]. Erich Beyreuther: Stille im Lande. In: RGG, 3. Aufl., Bd. 6 (1962), Sp. 380 f. Philipp Jacob Spener : Pia Desideria, hg. von Kurt Aland. 3. durchges. Aufl. Berlin 1964 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 170), S. 30. [Friedrich Christoph Oetinger]: Die Güldene Zeit oder Sammlung wichtiger Betrachtungen von etlichen Gelehrten zur Ermunterung in diesen bedenklichen Zeiten zusammen getragen, [Stük 1], Stük 2. 3, Frankfurt und Leipzig [vielmehr Herrenberg] 1759. 1761. 1761. [Oetinger :] Die Güldene Zeit, [Stük 1], 1759, S. 52. Die Hervorhebung der „Gemeinschaft der Güter“ ist nicht original. Zu diesen Begriffen vgl. Dorothee Sölle. In: Egbert Höflich, Marie Veit, Michael Dohle, Dorothee Sölle: „Politisches Nachtgebet“ als Modell zu einer Veranstaltung des ökumenischen Arbeitskreises in der ev. Antoniterkirche am 1. Oktober 1968 in Köln, [Köln 1968] (Argumente zur Zeit, 64. Sonderdruck aus „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 11/1968), S. 14 f. Friderich Christoph Oetinger : Etwas gantzes vom Evangelio […] Samt Verschiedenen Anmerckungen über die Göttliche Mund- und Schreib-Art der Männer Gottes; Wie auch über die Catechetische / und durch ordentliches Predigen fortgehende Lehr-Art […], Tübingen 1739, S. 71.
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Nun wird geschildert, wie die Hilfsaktion zum Erfolg führt: In der auswegslosen Situation erscheint der Bauer mit seiner Wagenladung Kartoffeln gewissermaßen als „Deus ex machina“33. Wie das Geschenk ,ankommt‘, wird mit der in der Bibel verwendeten Metapher von dem nach Regen dürstenden „dürren Land“ umschrieben. Ps 143, 6 heißt es: „Meine Seele dürstet nach dir wie ein dürres Land.“ In der Mystik und im Pietismus ist das Bild weit verbreitet.34 Es erinnert an Sir 35, 26: „Gleichwie der Regen wohl kommt, wenn es dürr ist, also kommt die Barmherzigkeit auch in der Not zu rechter Zeit.“ Es wird sich noch zeigen, dass die Metapher auch in einem ähnlichen Kontext steht: Sir 35, 16–26 ist von Gottes Gebetserhörung die Rede: „Er verachtet des Waisen Gebet nicht noch die Witwe, wenn sie klagt. […] Wer Gott dient mit Lust, der ist angenehm, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet der Elenden dringt durch die Wolken. […].“35 Es ist ja von der Pfarrwitwe Johanna Busch, geborener Kullen, ihren Kindern, ihren Sorgen um sie und ihren Gebeten für sie die Rede.
Die Spuren der „Emblematischen Theologie“ Friedrich Christoph Oetingers in der Ansprache des Landwirts Georg Länge Die geistliche Funktion der Metapher vom dürren Land zeigt sich hier auch schon dadurch, dass sie die Transgression auf das Himmlische einleitet, die durch das Stichwort „Himmel“ („vom Himmel ’rab“) begünstigt worden ist. Wie bei dem pietistischen Pfarrer Andreas Hartmann (1677–1729), der im achtzehnten Jahrhundert den Begriff „Transgression auf das Himmlische“ für das pietistische Stilmerkmal des Analogieschlusses vom weltlichen auf den geistlichen Bereich geprägt hat, ergibt sich eine semantische Brücke: „Früchte – Glaubensfrüchte“, mit der die ,Korrespondenz‘, die Urbild-Abbild-Relation, begründet wird. Dem Zwang des Polizeistaats, der Beschlagnahme, wird die Freiwilligkeit, das ,Bringen-Dürfen‘, das sich dereinst beim Einzug in das neue Jerusalem ereignen wird, gegenübergestellt. Auch hier knüpft Länge an Gedanken Oetingers an: Die dritte Bedingung, die Oetinger in seiner Schrift Die Güldene Zeit für die „wahre Glückseligkeit in einem Reich“ aufgestellt hatte, war, dass die Untertanen „nichts von einander als Schuldigkeit fordern“. Oetinger spricht davon, dass „die Gewalt des Einen über den Andern […] nach dem Fall aufgekommen“ sei; „in der güldenen Zeit“ hingegen werde „we33 Vgl. Hans R[ichard] G[erhard] Günther: Psychologie des deutschen Pietismus. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (1926), S. 144–176, hier S. 158: „mechanistische Deus-ex-machina-Kausalität“. 34 Vgl. Langen: Wortschatz (wie Anm. 6), S. 120. 35 Sir 35,17. 20 f.
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nigstens die Gleichheit, Gemeinschaft der Güter und Freyheit von der Dienstbarkeit […] in allem den Vorzug haben […].“36
Zur Analogie „Stadt Gottes“, eine Bezeichnung, die im Alten Testament Jerusalem37 bezeichnet, ist hier auf das Neue Jerusalem38 der Offenbarung des Johannes bezogen. Die Redundanz in „dessen davon“ entspricht der durch einen Analogieschluss vom Zeitlichen aufs Ewige ausgedrückten Heilsgewissheit des Sprechers. Die Redundanz „dessen davon“ erhöht auch die Feierlichkeit der Sprache, und dieser Feierlichkeit wegen beschränkt sich der Redner – vor allem in den resümierenden Teilen (Vorherrschen des ,docere‘ als Redeziel) – nicht auf das Vokabular der Grundmundart, sondern macht Anleihen bei der Hochsprache: zum Beispiel oben die Wörter „Kunde“, „Kartoffeln“ (statt der [’aebi:re ] „Erdbirnen“ der Grundmundart): „Erzeugnisse“. „In hervorgehobenen Stellen der Erzählung nähern sich die Erzähler am meisten der Hochsprache“, charakterisiert Bausinger diese Erscheinung. Nach diesem Überblick muss noch die Analyse im einzelnen erfolgen. Erwähnt wurde bereits die ,apokalyptische‘ Färbung des Textes. Zum Vergleich ziehe ich ein Buch des aus dem Böhringer Nachbarort Feldstetten stammenden Stuttgarter Pietisten Georg Schmid heran. Das in Stuttgart 1913 erschienene Werk trägt den Titel Die Auferstehung des Leibes und Herrlichkeit des zukünftigen Erbes.39 Schmid bedient sich ausdrücklich der Urbild-AbbildRelation: Somit scheint auch dieser durch Christum eröffnete Himmel nach dem Abbild der Stiftshütte wieder dreiteilig zu sein; denn Mose machte die Stiftshütte nach dem Urbild, das der Herr ihm auf dem Berge zeigte […].40
Wichtig ist, wie Schmid die „Früchte“ und Pferde in der Offenbarung sieht: Auch ist die Rede […] von Bäumen des Lebens, die zwölferlei Früchte tragen und jeden Monat ihre Früchte bringen (Offb. 22, 2) […] von himmlischen Rossen nach Offb. 6, 2; und 19, 11 sieht Johannes den Herrn kommen auf einem weissen Pferd; Elias wurde mit feurigem Wagen und Rossen in den Himmel abgeholt. Daraus können wir erkennen, daß die irdischen Dinge und Kreaturen Abbilder von der himmlischen Schöpfung sind. Ja alles Geschaffene hienieden ist eine äußere Darstellung der unsichtbaren Welt, worauf der Apostel Paulus ganz besonders in Römer [Oetinger]: Die Güldene Zeit (wie Anm. 29), [Stük 1], 1759, S. 53 f. Zum Beispiel Ps 87,3. Apk 3,12: „des neuen Jerusalems, der Stadt seines Gottes“. Stuttgart [1913]. Ein nachmals weltberühmter Hausgenosse des Hausmeisters Georg Schmid war der Dirigent Karl Münchinger. 40 Georg Schmid: Auferstehung, S. 44 f.
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1, 20 hinweist, da er sagt: Gottes unsichtbares Wesen, Seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt.41
Stück für Stück lässt sich jetzt die zunächst überraschende Verquickung sehr profaner und geistlicher Dinge entwirren: 1. Im Text der Offenbarung – die zur Zeit der „Jubiläumsstunde“ auf dem Lektüreplan der Altpietistischen Gemeinschaften in Württemberg stand – findet sich die Vorstellung vom Holz des Lebens, das „Früchte bringt“ (Apk 22, 2). 2. Das erinnert an die Forderung, „Frucht zu bringen“, die an die Gläubigen in der Bibel oft gerichtet wird. Röm 7, 4 wird betont, dass die Gläubigen Christus angehören, „auf dass wir Gott Frucht bringen.“ So konnte diese Wendung auch im Sinne von „Frucht transportieren“ umgedeutet werden. 3. Insbesondere bedeutet „Frucht“ in der Bibel die beobachtbare Auswirkung des Handelns: der Apostel gleicht dem ceyqc|r, der an der Frucht, die er durch seine Arbeit hervorgebracht hat, teilnehmen darf 2Tm 2, 6 [,Es soll aber der Ackermann, der den Acker baut, die Früchte am ersten genießen.‘] 1K 9,7; die Kollekte zugunsten der jerusalemischen Christen ist eine Frucht der paulinischen Gemeinden R 15, 28.42
Der Satz des Landwirts Georg Länge steht auch in einem ähnlichen Zusammenhang wie Röm 15, 26. Hier wie dort wurde eine Spende „zusammengelegt“. 1. Die Wendung „in die Stadt Gottes bringen“ wird von Michael Hahn gern gebraucht.43 Sie konnte sich an einem ähnlichen Ausdruck in der Offenbarung des Johannes orientieren: „Die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in sie [die Stadt Gottes] bringen […]. Und man wird die Herrlichkeit und die Ehre der Heiden in sie bringen.“ (Apk 21, 24. 26.) Die Vorstellung von der zukünftigen Ernte der „Glaubensfrüchte“ findet sich gerade auch bei Michael Hahn: „gehe nicht vom Ursprung zur Creatur […]; dann kann keine Frucht heraus kommen, über der man sich am Herbsttage der Einerndte freuen könnte.“44 Über den „Glaubigen“ sagt Hahn: […] seine Glaubensfrüchte aber trägt er in der äussern Welt sichtbar, aber nur seines Gleichen bekannt. Die Reifen werden ins Lichtreich gesammelt, und machen Gott
41 Ebd., S. 60. 42 (Friedrich) Hauck: jaqp|r. In: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. von Gerhard Kittel, Bd. 3, Stuttgart [1967], S. 617 f., hier S. 618. 43 Johann Michael Hahn: Schriften, Bd. 5 und Bd. 4 über das N[eue] Testament, 2. Aufl., Stuttgart 1846, Abth. 1, Brief 16, S. 666. 44 Ders.: Schriften, Bd. 11, Tübingen 1828, Abth. 1, Brief 118, S. 739.
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und den Engeln Freude; rechte Kenner sehen und fühlen in den Früchten schon hier die edle himmlische Tinktur […].45
Dem Sprecher ist es hier gelungen, nach dem Beispiel von Christian Scrivers und Andreas Hartmanns Zufälligen Andachten (oder von Brockes’ Irdischem Vergnügen in Gott, wo auch „Früchten“ eine Betrachtung gewidmet ist46) durch Sakralisierung einem so profanen Gegenstand wie Kartoffeln eine besondere Würde und geistliche Funktion zu verleihen – um mit Oetinger zu reden, „das Geheimniß-reiche mit dem Gemeinen“ zu „temperiren“47. Die Textferne (Röm 5, 1–11 liegt der Erbauungsstunde zugrunde!) der Ansprache ist durch die besondere Situation der Jubiläumsstunde erklärlich. Ludwig Harms spricht einmal von einem schwierigen Text, der ein Kreuz für alle rechtschaffene Prediger ist. Für alle rechtschaffene Prediger, sage ich, denn die anderen fragen wenig danach, was im Text steht, wenn von Christo im Text steht, können sie von Kartoffeln predigen.48
Sicher hat Länges Ansprache den Naturbezug mit der Naturpredigt der Aufklärung gemein; aber nur oberflächliches Verständnis könnte behaupten, dass Länge von Kartoffeln predigt.
Die Funktion des Pferdes Der Ausdruck „Ich kann euch sagen, das war ein Erlebnis; da hat man gerade gemeint ich komme mit dem Gaul vom Himmel herab, mit diesen Kartoffeln!“ drückt zunächst den Überraschungseffekt aus, ähnlich wie in Gottfried Kellers Sinngedicht, wo Lucie, Reinhart und seinen „Mietgaul“ vor Augen, sagt: „,Ich muß gestehen, mein Herr, das ist mir das seltsamste Ereignis! Ein Unbekannter fällt, Mann und Pferd, vom Himmel […]!‘“49 Lucie bittet Reinhart, seine „wunderbare Herkunft zu erklären.“50 Wie bei Gottfried Keller gewinnt 45 Ders.: Schriften, Bd. 4 und Bd. 3 über das N[eue] Testament, Tübingen 1820, Abth. 2, Brief 42, S. 513. 46 Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Faksimiledruck nach der Ausgabe von [Hamburg] 1738. Mit einem Nachwort von Dietrich Bode, Stuttgart [1965] (Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts, hg. von Paul Böckmann und Friedrich Sengle), S. 371–377: „Eine Schüssel mit Früchten“. 47 Friedrich Christoph Oetinger: Reden nach dem allgemeinen Wahrheits-Gefühl, Th. 2, Tübingen 1759, S. 1072. 48 Ludwig Harms: (Predigt über Joh 14, 15–31), S. 1; zitiert nach Hugald Grafe: Die volkstümliche Predigt des Ludwig Harms. Ein Beitrag zur Predigt- und Frömmigkeitsgeschichte im 18. Jahrhundert, Göttingen 1965 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 14). Vorher Diss. theol. Leipzig 1959, S. 104 mit Anm. 26. 49 Gottfried Keller: Sinngedicht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter Leitung von Walter Morgenthaler, Bd. 7, Basel und Frankfurt am Main – Zürich 1998, S. 7–329, hier S. 32. 50 Keller : Sinngedicht, ebd., S. 33.
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auch bei Georg Länge das Pferd besondere Ausdruckskraft, eben die des Hinweises auf eine „wunderbare Herkunft“ (Deus-ex-machina-Prinzip). Auch die Gestalt des Pferdes gewinnt Beziehungen zur Mythologie – zu den geheimnisvollen Pferden in der Bibel, vor allem, wie bei Georg Schmid, zu den Pferden in der Apokalypse – und zur Alchemie: Im Gespräch mit Georg Länge über seine Ansprache tauchte beim Autor sehr bald die Assoziation an die Vorstellung Michael Hahns von den apokalyptischen „Tinkturialpferden“ auf, die sich ja des alchemistischen Terminus „Tinktur“ bedient. Trautwein referiert Hahns Auffassung von „Tinktur“: „Tinktur ist die innere Lebenskraft in allen Dingen, ,durch sie sehen und leben die Kreaturen‘, durch sie ,wirkt der Geist im Leib‘.“51 Auch Oetinger legt dem Pferd eine besondere Bedeutung bei. Im biblischen Teil seines Biblischen und Emblematischen Wörterbuchs sagt er über den Reiter auf dem weißen Pferd von Apk 19, 11: Wie JEsus ehemalen in Knechts-Gestalt zu Jerusalem auf einem Esels-Füllen sanftmüthig eingeritten, so wird er unvermuthet auf einem weissen Pferd in der letzten Zeit als ein Krieges-Mann daher kommen. […] Man lese hierüber mein Buch: Herabkunft Christi auf weisen Pferden, und nehme das gestochene Kupfer dazu. Wer dieser Sachen spottet, und es für GOtt und JEsum ungeziemend hält, sich so körperlich zu beweisen an seinen Feinden; der sehe wohl zu, daß er nicht auch unter die Feinde falle.52
Im emblematischen Teil sagt er in dem Artikel „Thiere“: Warum stellt die heilige Offenbarung JEsum sowol als seine Glaubige auf weissen Pferden vom Himmel herabfahrend vor? und bezeichnet es Kap. 19, 11. mit Siehe. Siehe ein weiß Pferd und der darauf saß hieß treu und wahrhaftig. Ich sage, daß es 51 Trautwein: Theosophie, S. 193, Anm. 15. – Zu Georg Länges Ausdruck „Tinkturialpferde“ vgl. Johann Michael Hahn: Schriften, Bd. 5 und Bd. 4 über das N[eue] Testament, Tübingen 1820, Abth. 1, (Abschnitt 2), Brief 30, S. 302: „Tinkturleiber hatten diese [weißen] Pferde [der Braut des Herrn und ihres Bräutigams], die das alles nicht nöthig haben, was Pferde bedürftig sind auf Erden; und doch können sie ihre Reuter tragen und fortbringen. Es sind also meines Erachtens erneuerte Thiere, in wahrer Originalgetalt, in Geistnaturen, so wie sie nur im Reinelement bestehen können.“ – Zum Pferd als magischem Helfer vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hg. von Karl Eimermacher, (Frankfurt am Main) 1975, S. 79–83, hier bes. S. 80. 82 f. 52 [Friedrich Christoph Oetinger]: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, dem Tellerischen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesezt, [Heilbronn am Neckar : Johann Adam Zobel] 1776, S. 517 f., s. v. „Der Reuter auf dem weisen, rothen, schwarzen, fahlen Pferd“; vgl. Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hg. von Gerhard Schäfer [u. a.], Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 7, Bd. 3, Teil 1). – Vgl. [Friedrich Christoph Oetinger (Mitverfasser und Hg.); Johann Ludwig Fricker (Mitverfasser):] Kurzgefasste Grundlehre des berühmten Würtenbergischen Prälaten [Johann Albrecht] Bengels betreffend den Schauplatz der Herabkunft Jesu zum Gericht des Antichrists […], [Nürnberg: Hieronimus Pius Steinmetz u. a. ] 1769. – Das beigegebene große Kupfer über die Herabkunft Christi und der Glaubigen auf weißen Pferden ist von J[ohann] A[ndreas] Steinmetz gemalt und von Georg Paul Nusbiegel gestochen. – Zu nennen ist auch eine thematisch verwandte Lithographie des Künstlers Heinrich Franz Gaudenz von Rustige (1810–1890), die in manchen Versammlungsräumen der M. Hahn’schen Gemeinschaft anzutreffen ist.
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noch wirklich im Unsichtbaren solche weisse Pferde gebe, und daß diß keine Bilder, sondern wirkliche wahre Originale der irrdischen Pferde seyn.53
Oetingers Theosophie 1. Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung: In dem Satz Georg Länges: „Wenn man sieht die Früchte […]: das ist ein Abbild dessen davon“ kommt die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere des Gesichtssinnes, deutlich zum Ausdruck. Der Oetinger-Forscher Wilhelm-Albert Hauck verweist auf die Bedeutsamkeit des sensitiven Moments bei Oetinger.54 Der „Sensus communis“ nimmt bei diesem als „das allgemeine ,Gefühl für die Wahrheit‘ und als Auffangorgan für die ,Weisheit auf der Gasse‘“55 eine wichtige Stellung ein. Durch den ,Sensus communis‘ gibt es „die Möglichkeit eines unmittelbaren Verhältnisses zu Natur und Leben“: „Der Sensus communis ist zugleich das Empfindungsorgan für das Leben und die Natur.“56 Hauck sagt: „Erfahrung und Intuition gewährleisten einen unmittelbaren Lebensbezug […], wobei man ,bei dem bleibt, was jeder Mensch sieht, hört, schmeckt, riecht und fühlt‘.“57 Hervorgehoben werden „Observationen“, „was jeder mit gesunden Augen sehen kann“58 und was „allen Menschen so gleich in die Augen fällt.“59 Von der Erfahrung des Lebens und von der Anschauung der Natur her wird nach Wilhelm-Albert Hauck von Oetinger „auch die biblische Botschaft interpretiert.“60 „Diese Auslegung der Bibel durch das Leben selbst, also die Anwendung des Lebensprinzips auf die Schriftexegese nennt Oetinger selbst Theologia emblematica naturalis oder Signatura rerum.“61 Oetinger gibt die Definition:
53 [Oetinger]: Wörterbuch (1776, wie Anm. 52), S. 779. 54 Wilhelm-Albert Hauck: Das Geheimnis des Lebens. Naturanschauung und Gottesauffasssung Friedrich Christoph Oetingers, (1.–3. Tsd.), Heidelberg (1947), S. 32. 55 Hauck: Geheimnis, S. 33 mit Anm. 5 f. – „Weisheit auf der Gasse“ ist ein von Oetinger aus Spr 1, 20 übernommener Ausdruck. 56 Hauck: Geheimnis, S. 33. 57 Hauck: Geheimnis, S. 66 mit Anm. 1. 58 F. C. Oetinger: Die Philosophie der Alten wiederkommend in der güldenen Zeit, Th. 2, Frankfurt und Leipzig [vielmehr Herrenberg] 1762, S. 152; zitiert bei Hauck: Geheimnis, S. 66 mit Anm. 5. 59 Friedrich Christoph Oetinger: Der Irrdischen und himmlischen Philosophie, Zweyter Theil. […], Franckfurt und Leipzig [vielmehr Mötzingen im Gäu u. a.] 1765, S. 253. Vgl. Hauck: Geheimnis, S. 67 mit Anm. 1. 60 Hauck: Geheimnis (wie Anm. 54), S. 69. 61 Hauck, ebd., S. 69 mit Anm. 1.
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Signatura rerum oder Theologia emblematica naturalis ist eine Wissenschaft, das Unsichtbare aus den sichtbaren Geschöpfen durch den Verstand zu ersehen, und die ewige Kraft und Gottheit aus der Natur zu erblicken (Röm.1, 19. 20).62
„Unter ,Emblema‘ will er ,ein aus den sichtbaren Geschöpfen genommenes Bild, welches teils unsichtbare, teils andere sichtbare Dinge bezeichnet‘63, verstanden wissen.“64 An dieser Definition zeigt sich Oetingers archaischrudimentäres Verständnis der Emblematik; er greift vordergründig auf die vor Andrea Alciato liegenden Wurzeln der Emblematik, zum Beispiel die bereits antike und mittelalterliche Gattung der Herbarien, zurück. Das Bild als Leib des Emblems ist für ihn das Wichtigste; „Emblema“ steht deshalb in dieser Definition als ,pars pro toto‘ für das dreiteilige Emblem aus Inscriptio, Pictura und Subscriptio; nur gelegentlich erwähnt Oetinger ein Motto. Ungeachtet seines rudimentären theoretischen Wissens verfährt Oetinger in der Praxis seiner Bibelexegese jedoch stillschweigend emblematisch: die jeweils zu interpretierende, oft rätselhafte Aussage der Bibel entspricht der Inscriptio des Emblems, der aus der Naturanschauung genommene Gegenstand steht für die Pictura, und die vom Exegeten und Prediger zu erstellende Deutung des Schriftworts, die sich die Werke Gottes in der Natur zunutze macht, steht für das enträtselnde Epigramm des virtuell existierenden dreiteiligen Emblems. So hängt die emblematische Theologie Oetingers virtuell durchaus mit der seit 1531, dem Erscheinungsjahr des Emblematum liber von Andrea Alciato, stürmisch entwickelten Emblematik und wie diese mit der Alchemie zusammen. Die Beziehungen zwischen der Emblematik (emblematischer „Verweisungs-, Entsprechungs- und Lebenslehre“65) und Naturschau verdeutlicht zum Beispiel Albrecht Schöne auf diese Weise: Daß die Welt in all ihren Erscheinungen von heimlichen Verweisungen und verborgenen Bedeutungen, von verdeckten, also entdeckungsfähigen Sinnbezügen erfüllt sei, ist eine Bedingung des emblematischen Verfahrens. Deshalb zeigt der Emblematiker im Idealfall auch nicht das Selbstverständliche und für jedermann Offensichtliche, sondern er öffnet erst die Augen, vertieft die Einsicht.66
62 [Friedrich Christoph Oetinger (Hauptverfasser)]: Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie. Hg. von Halophilo Irenaeo [d. i. Gottlieb Friedrich Oetinger], Schw[äbisch] Hall [1770], S. 17. 63 [Oetinger], ebd., S. 18. 64 Hauck: Geheimnis (wie Anm. 54), S. 69 mit Anm. 3. 65 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, 2. Überarb. u. erg. Aufl., München 1968, S. 50. – Vgl. Reinhard Breymayer : Friedrich Christoph Oetinger und die Emblematik. Zu Oetingers Emblematischem Wörterbuch. In: Oetinger: Wörterbuch (1999; wie Anm. 52), Teil 2, S. 42–70. 66 Schöne, ebd., S. 41.
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2. Bedeutung der Körperlichkeit Hauck sagt: „In engstem Zusammenhang mit Oetingers Wertung der Erfahrung steht sein Verhältnis zur Körperlichkeit.“67 Die sinnliche Wahrnehmung erfordert Körperlichkeit: „[…] keinen Geist oder Seele kan man ohne Leib sehen“68 ; „alles geistliche ist zugleich auch leiblich.“69 Daraus folgt für Oetinger das Ziel des göttlichen Handelns: „Es muß alles, was unsichtbar war, sichtbar und körperlich dargestellt werden“70, oder – mit ausdrücklichem Bezug auf den im Fleisch geoffenbarten Gottessohn: „[…] daher muß alles Geistliche leiblich, und alles Unsichtbare sichtbar werden, durch den Menschen, Jesum Christum.“71 Diese Vollkommenheit kann erst am Ende aller Dinge erreicht werden. Daraus ergibt sich der eschatologische Bezug der Aussage: „Ich stehe vest und unüberwindlich darauf, daß die lezte Dinge körperlich müssen da stehen […]“72, und vor allem in dem berühmten Satz Oetingers. „Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes, wie aus der Stadt GOttes klar erhellet Offenb. 20. [vielmehr 21.]“73 Dieses Wort aus dem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch Oetingers ist vom „biblischen Realismus“ des schwäbischen Biblizismus her zu verstehen, der die Aussagen der Heiligen Schrift weitgehend kyriologisch, das heißt in ihrem ,eigentlichen Verstande‘, „nach dem Buchstaben und nicht verblümt“74, das heißt nicht metaphorisch, interpretiert. Oetinger bekennt sich zum ,Materialismus‘ der
67 Hauck: Geheimnis (wie Anm. 54), S. 124. 68 [Oetinger :] Grundbegriffe des neuen Testaments in einem neuen Jahrgang von Predigten über die Sonn- Fest- und Feyertägliche Episteln, samt einem Anhang einiger andern von verschiedener Materie, von einer Wahrheitlieenden Gesellschaft zum Drucke befördert, [Heilbronn am Neckar : Johann Adam Zobel] (1777 [erschienen 1776], [Erster Theil]), S. 235. 69 Friderich Christoph Oetinger : Offentliches [Öffentliches] Denckmahl Der Lehr-Tafel einer weyl[and]. Wirtembergischen Princeßin Antonia […], Tübingen 1963, S. 307. – Historischkritische Edition: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hg. von Reinhard Breymayer und Friedrich Häußermann, Teil 1, Berlin – New York 1977 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 7, Bd. 1,1), S. 210. 70 [Oetinger :] Grundbegriffe, Theil 2 u. d. T.: [Friedrich Christoph Oetinger]: Zweyter Theil der Predigten über die Sonntägliche Episteln vom Fest Trinitatis an bis zu Ende, [o. O. 1776], S. 537. 71 [Oetinger :] Zweyter Theil der Predigten, ebd., S. 575. 72 Friedrich Christoph Oetinger: Predigten über die Sonn- und Feiertags-Evangelien, nebst einem Anhang von Passionspredigten. Samt einer Vorrede von Christoph Friedrich Sartorius, [Th. 1.] 2, Tübingen 1780; Th. 2 u. d. T.: [Oetinger.] Zweiter Theil der sonntäglichen Evangelien-Predigten […], S. 31. 73 [Oetinger]: Wörterbuch (1776, wie Anm. 52), S. 407, s. v. „Leib, Soma“. – Vgl. dazu Martin Weyer-Menkhoff: Christus, das Heil der Natur. Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers, Göttingen 1990 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 27). Vorher Diss. theol. Marburg a. d. Lahn 1985, S. 205–230: „Die Konkretion des ,Ganzen‘. ,Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes‘“. 74 Friedrich Christoph Oetinger : Reden nach dem allgemeinen Wahrheits-Gefühl Zweyter Theil, S. 693.
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Schrift, zu ihren „erstaunlichen Worten, die so materialisch klingen“75. „In der Johannes-Offenbarung ist alles ,sinnlich, massiv, handtastlich und voll körperlicher Reden‘“76. Stadt Gottes Besonders markant sind die biblischen Aussagen über die Stadt Gottes, deren Ausmaße in der Offenbarung des Johannes sogar genau angegeben werden. Hier steht Oetinger in der Tradition seines Lehrers Johann Albrecht Bengel, der in seinen Tischreden sagt: „Daß das neue Jerusalem ein Ort sein wird, ist ganz gewiß; denn wir behalten ja Leiber, welche einen Raum brauchen werden.“77 Als Symbol der Leiblichkeit und der zukünftigen Vollkommenheit nimmt die Stadt Gottes bei Oetinger eine zentrale Stellung ein: Unter dem Stichwort „Stadt GOttes – neu Jerusalem, Polis hagia, Ierusalem Kaine Offenb. 21, 1“ schreibt Oetinger in seinem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch: „Weil alles in heiliger Schrift aufs Lezte der Stadt GOttes hinaus läuft, so ist der sehr irrdisch gesinnt, der dieser Sache nicht nachdenkt […].“78 Aus dieser Tradition der zukunftsbezogenen Oetingerschen Theologie heraus erklärt sich der zunächst verblüffende Sprung Georg Länges vom Schildern eines irdischen Geschehnisses auf die ,letzten Dinge‘!
Die Gebete der Mutter für ihre Kinder und Enkel als „potentiae Dei corporaliter manifestatae“ Durch die ,Transgression auf das Himmlische‘ hat der Sprecher den Übergang zum geistlichen Bereich erzielt; das säkularisierte Wort „Anliegen“ ist hier in seiner ,eigentlichen‘ geistlichen Bedeutung als Gebetsanliegen, noch dazu in einer etymologischen Figur, verwendet: „Und dann […] hat mir die Frau Pfarrer Busch – ihr ganzes Anliegen ans Herz gelegt.“ Ps 55, 23 heißt es bei Luther : „Wirf dein Anliegen auf den Herrn; Eph 6, 18: „Betet stets in allem Anliegen mit Bitten und Flehen.“ Dadurch, dass Länge nicht schreibt: „[…] da hat sie mir alle die verschiedenen Namensänderungen der Buben dargelegt“, sondern : „ […] da hat sie mir alle die Buben, die verschiedenen jetzt in ihren Namenänderungen, hat sie mir alle dargelegt“, gewinnt das Verb „dargelegt“ seine konkrete Bedeutung wieder : Die einzelnen werden dem Gesprächs75 Oetinger: Sämmtliche Predigten, zum ersten Mal vollständig gesammelt und unverändert hg. von Karl Chr[istian] Eberh[ard] Ehmann, [Abt. 1], Bd. 5: Nachlese, Reutlingen 1857, S. 295. 76 Oetinger, zitiert nach Elisabeth Zinn: Die Theologie des Friedrich Christoph Oetinger, Gütersloh 1932. Vorher Diss. theol. Berlin 1931, S. 151 = Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, [Reihe 1,] Bd. 36, Heft 3, S. [401]. 77 Johann Albrecht Bengel: Tischreden. (Hg. von Karl Chr[istian] Eberh[ard] Ehmann), Reutlingen 1869, S. 52, 165. 78 [Oetinger]: Wörterbuch (1776, wie Anm. 52), S. 569.
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partner gewissermaßen „auf dem Präsentierteller“ entgegengebracht (vgl. Mt 25, 20: „Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte andere fünf Zentner dar“). Die Wichtigkeit des Namens steht für die Wichtigkeit des Individuums im Pietismus. Gerade in pietistisch beeinflusstem Kontext findet sich in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre die Feststellung: „Der Name bleibt doch immer der schönste lebendige Stellvertreter der Person.“79 Aus dieser Tradition heraus ist es verständlich, dass die schwäbische Pietistin Johanna Busch, geborene Kullen, sich nicht mit einem pauschalen Gebet begnügt: Die ihr zugeschriebenen 45 Kinder und Enkel80 müssen alle je einzeln namentlich im Gebet bedacht werden.
Die „Auswirkungen“ der Gebete Zum Schluss wird der Skopus der Erzählung sichtbar : „Und sehet diese Auswirkungen […]!“ Die „Auswirkungen“ dieser Gebete können jetzt vermöge der Anwesenheit der Enkel bei der Versammlung ad oculos demonstriert werden. Es sind nach einem Ausdruck der ,Bekenntnisse einer schönen Seele‘, die Goethe übermittelt, „die sichtbaren Wirkungen einer höhern Kraft.“81 Das ist ganz im Geiste Oetingers gesprochen, der ja auf die sinnliche Wahrnehmung so großen Wert legt: Die Früchten und Auswürkungen der ewigen Kraft des himmlischen Vaters sehen alle Menschen, aber die Kraft selber sehen sie niemal.82 […] Wir nehmen also zu betrachten vor, wie die unsichtbare Kraft Gottes in allen Geschöpfen, ohne Wunder, sich demnach handtastlich beweißt, daß wir im Wachsthum und Vermehrung der Kräften, GOtt fühlen und finden.83
Die Enkelkinder selbst sind – um mit Oetinger zu reden – gewissermaßen „receptacula potentiarum Dei corporaliter manifestatarum.“84 Die von Günther Müller aufgezeigte Tendenz jeder Erzählung zur Vergegenwärtigung und Verkörperung85 wird hier durch die bereits erwähnte theologische Grund79 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, W. A., Bd. 25, I, S. 246, Z. 15 f. 80 Bei der von Länge angegebenen Anzahl wirkt die vergrößernde Wirkung der Erinnerung mit. In Wirklichkeit hatte Johanna Busch insgesamt 9 Kinder und 29 Enkelkinder; zum fraglichen Zeitpunkt lebten maximal 8 Kinder und 26 Enkelkinder. 81 Goethe: Bekenntnisse einer schönen Seele (= Wilhelm Meisters Lehrjahre, 6. Buch). In: Goethes Werke, W. A., Bd. 22, S. 346, Z. 6. 82 [Oetinger]: Zweyter Theil der Predigten (wie Anm. 70), S. 570. 83 [Oetinger], ebd., S. 578 f. 84 Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta in sex locos redacta […], Francofurti et Lipsiae [vielmehr Ulm an der Donau] 1765, S. 379. Vgl. Theologia ex idea vitae deducta. Hg. von Konrad Ohly (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 7, Bd. 2, Teil 1), S. 202. 85 Vgl. Günther Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung 1946, Bonn 1947, S. 5.
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haltung Oetingers unterstützt: „Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes, wie aus der Stadt GOttes [siehe oben!] klar erhellet Offenb. 20.“86 Von dieser Tendenz zur Vergegenwärtigung her erklärt sich auch, dass sich in dem Text Vergangenheit und Gegenwart eigentümlich durchwirken: In die Erzählung des vergangenen Geschehens ist die Beobachtung seiner gegenwärtigen Auswirkungen eingeblendet: (Und da sitzen jetzt so viele:) da hat sie mir alle die Buben […] dargelegt […]. Und jetzt – sind die Buben alle groß geworden: Da sitzt eine ganze Anzahl jetzt da ’rum um den Tisch. […] Das – das ist eben die Sprache von der Mutter Busch gewesen. […] und sehet diese Auswirkungen einer gläubigen Seele oder einer gläubigen Mutter!
Hinzu kommt schließlich das rhetorische Streben nach 1m\qceia, nach der wirksamen Darstellung durch „visiones“87, um es in Begriffen des großen Rhetorikprofessors Quintilian auszudrücken. In diesem Zusammenhang muss die große Bedeutung des Pietismus für den Anschauungsunterricht hervorgehoben werden: Der ,Vorpietist‘ Johann Valentin Andreae hat in der Betonung dieser Methode auf Johann Amos Comenius gewirkt und auch über diesen auf den hallischen Pietismus.
„In Seilen der Liebe“ Gerade die Schilderung der Gebetswirkungen auf die Kinder ist typisch pietistisch. Langen sagt: „Eine der pietistischen Grundvorstellungen ist die, daß Gott die in Welt und Sünde versunkene Seele zu sich ,zieht‘. Sie hängt eng zusammen mit der Grundhaltung der Passivität: die Seele […] überläßt sich tatlos dem ,Zug‘ der Gnade.“88 In Länges Text heißt es: Die Kinder „haben können gar nicht anders: die sind ganz eingemacht gewesen oder eingewickelt gewesen.“ Hier wird deutlich – wie im ganzen Text noch öfter (weiter oben etwa bei „umlegt“ – „umringt“) –: „Das auffallendste Stilmerkmal des Pie86 [Oetinger :] Wörterbuch (wie Anm. 73). 87 Quintilian: Institutiones oratoriae 6, 2, 29–31. Vgl. Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg vor der Höhe–Berlin–Zürich 1968 (Respublica Literaria. Studienreihe zur europäischen Bildungstradition vom Humanismus bis zur Romantik, Bd. 2), S. 118: „Das Wesen der vamtas_a besteht darin, daß sie Abwesendes dem Geiste so wieder vergegenwärtigt, daß es vor Augen zu stehen scheint.“ – Zur Ansprache von Karl Jud in der Jubiläumsstunde von 1968 vgl. Reinhard Breymayer: Mit dem Herzen gesehen: visuell-verbale Rhetorik in einer schwäbisch-pietistischen Erbauungsstunde. In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 24 (1998)), S. 354–367; zu pietistischer Rhetorik allgemein Ders.: Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1191–1214; zur „Stunde“ speziell auch Ders.: Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Schanze, Frankfurt am Main 1974 (Schwerpunkte Germanistik), S. 87–104. 88 Langen: Wortschatz (wie Anm. 6), S. 45; vgl. auch S. 378.
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tismus sind die verbalen Präfixbildungen.“89 Das Wort „eingemacht“ spricht zwei Bildbereiche gleichzeitig an90 : 1. das Umzäunen, das ,Vermachen‘ von menschlichen Abwegen durch Gott: „O so vermache alle meine auch gut scheinende Abwege, und schränke mich nur recht enge ein“, heißt es bei Bogatzky91 in Anlehnung an Hos 2, 8. 2. die Fürsorge Gottes für den hilflosen Menschen wie für ein Wickelkind. Angedeutet ist hier das vorgeprägte Bild „In Seilen der Liebe“, das aus Hos 11, 4 stammt und im Pietismus eine große Rolle spielt.92 Besonders deutlich wird das in den illustrierten Ausgaben von Arndts Wahrem Christentum seit der Ausgabe von Riga 1678/79. Unter den Emblemen („Sinn-Bildern“) befindet sich eines, das ein „Wickelkind“ zeigt und als inscriptio hat: „In Seilen der Liebe“93 : Ich gebe hier das Emblem der Ausgabe Johann Arndt: Vier Geistreiche Bücher Vom wahren Christenthum, Riga 1679, wieder. Der pietistische Mystiker Gerhard Tersteegen erinnert in seiner Schrift Der Frommen Lotterie daran, dass sich Jesus selbst in die Abhängigkeit eines Wickelkindes begeben hat (Lk 2, 7: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“) und stellt ihn als Vorbild für den Gläubigen hin: Das Jesuskind sagt selbst: „Ich laß mich stille wickeln ein, j Ich laß mich legen, wenden, heben j So must du auch abhänglich seyn, j Und dich in meine Bande geben.94 Der Evangelist Pastor Wilhelm Busch [iun.], einer der Söhne von Johanna Busch, von der die Erzählung Georg Länges handelt, schildert die Wirkungen, 89 Langen, ebd., S. 385. 90 Vgl. Hermann Fischer [Hg.]: Schwäbisches Wörterbuch, Bd. 2, Tübingen 1908, Sp. 627, s. v. „einmachen“. 91 [Carl Heinrich Freiherr von Bogatzky :] Güldnes Schatz – Kästlein der Kinder Gottes […]. Zum 9ten mal gedrucket, Halle 1730, Bl. [H 18] b, [Nr.] 158: „Ich will deinen Weg mit Dornen vermache, […] Hos. 2/ 6. 7. s. a. [siehe auch] Luc. 15/ 17. 18. […] [Bogatzky?] Herr wie groß ist deine Treu / daß du mich nicht also frey j Eigne Wege lässest lauffen; j Solt’ es auch mit Dornen seyn (/ j so vermache meine Wege / j Daß mein Fuß nicht wanckt noch weicht / j bis ich einst das Ziel erreicht.“ – Siehe auch Michael Hahn bei Gottlob Lang: Michael Hahn (wie Anm. 40), S. 211: „Wohl dem Menschen, den Gott führet, dem er den Weg mit Dornen vermacht, daß er nicht ausweichen kann […].“ 92 Vgl. Langen: Wortschatz (wie Anm. 6), S. 51: „Seil der Liebe – Liebesseil“; „Liebeband“. 93 Vgl. Johann Arndt [Hauptverf.], [Johann Fischer, Mitverf. und Hg.]: Vier Geistreiche Bücher Vom Wahren Christenthum […] nebenst vielen schönen Sinnebildern / und deroselben nützlichen Erklärung, Riga 1679. – [Bandtitel von Buch 1:] Das Erste Buch Vom Wahren Christenthum: LIBER SCRIPTURAE […]: Durch Herrn JOHANNEM ARND […]. RIGA / Im Jahr 1679, nach S. 18: „In Seilen der Liebe“ [Kupferstich, entworfen von Dietrich von Dunte]; dazu auf dessen Rückseite das Sinngedicht [vermutlich von Andreas Mejer] über „ein Gottes Kind“: „Es wird von seines lieben Vaters Hand / j In windeln des Gehorsams eingewunden j Und durch ein sanfftes Liebes-Band j Zu seinem eignen Heyl gebunden.“ 94 (G. T. ST. [Gerhard Tersteegen]: ) Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen […]. Nebst der Frommen Lotterie. Sechste und vermehrte Edition. Auf Kosten guter Freunde, Franckfurt und Leipzig [vielmehr Duisburg: Johann Christoph Böttiger], 1765, S. 483–486, [Los Nr.] 365–381, hier S. 485 u. d. T.: „[Los Nr.] 375. Abhänglich und ergeben“.
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Kupferstich aus: Johann Arndt: Vier Geistreiche Bücher vom wahren Christenthum, Riga 1679.
die das Gebet seiner Eltern auf ihn ausgeübt hat, in seinem in hoher Auflage verbreiteten Buch Jesus unser Schicksal ganz ähnlich: Das ging mit mir, auch als ich gottlos wurde, daß da zu Hause gebetet wurde. Und als ich abfiel und als junger Offizier auf schlimme Wege kam, da war das Gebet der Eltern wie ein Seil, das mich zurückriß.95 95 Wilhelm Busch [jun.]: JESUS unser Schicksal, Gladbeck/Westfalen 1967, S. 110. – Busch war seit 1924 Pfarrer in Essen (Ruhr), von 1929/1930 bis 1962 dort Jugendpfarrer als Nachfolger von Wilhelm Weigle. Wie lebendig die Wendung „In Seilen der Liebe“ in seinem eigenen Umkreis war, zeigt ein Beileidsbrief von Gertrud Pape anlässlich des plötzlichen Kindstodes seines 1931 geborenen Sohnes Eberhard Busch sen. im Jahre 1933: „ ,Ich will sie in Seilen der Liebe leiten‘, war der Text der Taufrede. Ihr dachtet es Euch anders bei der wunderschönen Taufe. Aber sicher gehört auch dies uns unbegreifliche Tun Gottes hinein in das Leiten in Seilen der Liebe. […] Gott weiß warum. Und Ihr werdet Euch auch jetzt von ihm führen lassen in Seilen der Liebe. Wenn
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Wilhelm Busch schildert in demselben Kapitel „Kann man mit Gott reden?“ das Gebetsleben seiner Mutter : Meine Mutter lebte in Hülben bei Urach auf der Schwäbischen Alb. Im Krieg schrieb sie mir mal: ,Ich bin heute nacht um drei Uhr aufgewacht. Da dachte ich an meine Kinder im Feld und an die Enkel und an Euch im Bombengebiet und an Elisabeth [Krieger, geb. Busch] in Kanada, von der ich keine Nachricht habe. Und da überfiel mich die Sorge, als wenn ein Gewappneter mit eisernen Handschuhen mich würgen würde. Ich habe es nicht ausgehalten. Und dann habe ich gebetet: ,Herr Jesus, gib mir ein Wort! Ich halte es nicht aus vor Sorge!‘ Dann habe ich das Licht angeknipst, meine Bibel genommen […] und aufgeschlagen. Und das erste Wort, das ich fand, hieß: ,Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch.‘ Der Brief meiner Mutter schloß dann mit den herrlichen Worten: ,Da habe ich flugs alles auf meinen Heiland geworfen, das Licht ausgelöscht und bin fröhlich eingeschlafen.‘96
Diese Parallele bezeugt, wie gut Georg Länge mit seiner Hervorhebung der „großen Sorgen“ der Mutter Johanna Busch das Wesentliche getroffen hat. Auch Eberhard Busch schildert seine Großmutter Johanna Busch als vollmächtige Beterin. Eine Begebenheit verdeutlicht, ähnlich wie die Erzählung Georg Länges, die „mechanistische Deus-ex-machina-Kausalität“97, die von der pietistischen Gebetsauffassung vorausgesetzt wird: In der Inflationszeit hatte die Witwe Busch, nachdem sie darüber gebetet hatte, ihren letzten Kohlenvorrat einer alten Tante weggeschenkt, zunächst gegen den Protest ihres Sohnes Johannes. Da „schellte es, und sie fanden vor der Haustür ein Wägelchen mit Kohlen.“98 Dieser Sohn Johannes Busch sagt über die Bedeutung seiner Mutter : Welch ein priesterliches Herz hatte sie. Daß aus uns Kindern etwas geworden ist, ja, daß unbegreiflicherweise auch alle Schwäger, Schwägerinnen und Enkel den gleichen Weg mit Jesus mitziehen, verdanken wir wohl allein ihren unablässigen Gebeten.99
Das ist eben dies, was Georg Länge mit seiner elliptischen Aussage andeutet: Was diese Mütter in dieser Familie gewesen sind und was aus diesen Gebeten – die Buben haben können gar nicht anders: die sind ganz eingemacht gewesen oder
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auch Seile zuweilen reiben und verwunden können …“ (In: Emmi [eigtl. Emilie] Busch, [geb. Müller] [Hg.]: Ein Bündel Briefe, Wuppertal 1980, S. 22 f.) Wilhelm Busch [jun.]: JESUS, S. 116. Günther: Psychologie (wie Anm. 30), S. 158. Eberhard Busch [jun.]: Johannes Busch [sen.]. Ein Herold des Königs. 2. Aufl. (9.–14. Tsd.), Gießen und Basel 1961 (Sammlung „Zeugen des gegenwärtigen Gottes“, Bd. 149), S. 11. – Als Quelle für Eberhard Busch vgl. (Johannes Busch [sen.]:) („Erinnerungsbuch“.) In: Wilhelm Busch [iun.]: Johannes Busch. Ein Botschafter Jesu Christi. Sein Leben, erzählt von seinem Bruder, Wuppertal 1956, S. 26–67, hier S. 40. Quelle für Eberhard Busch vgl. (Johannes Busch [sen.]), („Erinnerungsbuch“), ebd., S. 42.
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eingewickelt gewesen – und sehet diese Auswirkungen einer gläubigen Seele oder einer gläubigen Mutter!
„Auswirkungen einer gläubigen Seele“ – „Bekenntnisse einer gläubigen Seele“: der Anklang ist nicht ganz zufällig. Das Band der pietistischen Sprachtradition verbindet die Frankfurter ,Schöne Seele‘, Susanne Catharina Freiin von Klettenberg, mit der Hülbener Schulmeisterstochter. Beider religiöses Umfeld wurde nachweislich von Friedrich Christoph Steinhofer (1706–1761) beeinflusst. Das von ihm als Hofprediger im thüringischen Residenzdorf Ebersdorf herausgegebene ,Ebersdorfer Gesangbuch‘ gehörte in seiner zweiten Auflage von 1745 zur Lektüre des jungen Goethe. Als zeitweiliger Mitbischof des lutherischen Tropus der Herrnhuter Brüdergemeine (1746–1749) wirkte Steinhofer nach seiner Lösung von Zinzendorf 1749–1753 als Pfarrer der Gemeinde Dettingen an der Erms, zu deren Parochie Hülben gehörte. Wie ich zu zeigen versuchte, sind die Gebete nach einem Ausdruck der ,Bekenntnisse einer schönen Seele‘, die Goethe übermittelt, „die sichtbaren Wirkungen einer höhern Kraft.“100 Johanna Busch, geborene Kullen, war lange Zeit Pfarrfrau in Frankfurt am Main und hat dort ihre letzte Ruhestätte gefunden: ihr Grab birgt der Friedhof auf dem Sachsenhäusener Berg in der einstigen Kaiserstadt, der Wirkungstätte Speners und Heimatstadt Goethes.
100 [Johann Wolfgang von] Goethe: Bekenntnisse einer schönen Seele (= Wilhelm Meisters Lehrjahre, 6. Buch). In: Goethes Werke. W. A., Bd. 22, S. 346, Z. 6.
Zur Erinnerung an Christa Habrich
Christoph Friedrich, Wolf-Dieter Müller-Jahncke und Sabine Anagnostou
Zum Tod von Professor Dr. Dr. Christa Habrich*
Am 6. September 2013 verstarb, für viele völlig überraschend, Frau Prof. Dr. Dr. Christa Habrich in Gießen. Die Beerdigung fand am 17. September auf dem Kirchhof St. Georg in München-Bogenhausen statt, wo sie in einer würdigen und stimmungsvollen Trauerfeier von Verwandten und Freunden zusammen mit einer Vielzahl von Repräsentanten des Landes Bayern, der Apothekerschaft, der Universitäten, Museen und wissenschaftlichen Gesellschaften zur letzten Ruhe geleitet wurde. Obwohl Christa Habrich in den letzten Jahren viele ihrer mit großem Engagement ausgeübten Tätigkeiten und Ämter abgegeben hat, so die Leitung des Medizinhistorischen Museums Ingolstadt und auch die ihrer Apotheke, war sie nach wie vor tätig und an der Vorbereitung von Ausstellungen in Ingolstadt beteiligt, hielt Vorträge oder verfasste medizin- und pharmaziehistorische Aufsätze. Trotz des Wissens um ihre Krankheit und der damit verbundenen Zurücknahme bei einigen Aktivitäten hatte sie noch Pläne. Einem der Unterzeichnenden versprach sie etwa noch wenige Tage vor ihrem Tode, im Pharmaziehistorischen Vorsymposium des DPhG-Kongresses in München 2015 einen Vortrag zu übernehmen. Ihr ganzes Wesen, ihr Drang nach Klarheit, fundiertem Wissen, gepaart mit dem Bedürfnis und der Fähigkeit, auch komplizierte Zusammenhänge originell, spannend und eingängig darzustellen, gestatteten ihr einfach nicht, auf diesen integralen Bestandteil ihres Lebens zu verzichten. In allen von ihr bearbeiteten Wissensbereichen hinterlässt Christa Habrich eine große und schmerzliche Lücke. Christa Habrich wurde am 24. November 1940 in Gießen als Tochter des Apothekers August Habrich und dessen Ehefrau Ilse geboren. Während ihrer Kindheit hielt sie sich häufig bei ihrer in Bayern lebenden Großmutter mütterlicherseits auf und entwickelte seitdem eine große Liebe zu diesem Land, die sie nicht nur im Sprachduktus nachhaltig prägte. Nach dem Abitur an der Ricarda-Huch-Schule in Gießen begann sie ihre pharmazeutische Ausbildung in der väterlichen Engel-Apotheke. Das Pharmaziestudium absolvierte sie von 1963 bis 1966 in München und bestand hier das Pharmazeutische Staatsexamen mit „sehr gut“. Schon in der Schulzeit zeigten sich ihre vielfältigen Begabungen, die neben den Naturwissenschaften auch Sprachen, Latein und Französisch, wie auch die Musik – sie spielte vorzüglich Klavier und hatte * Erstveröffentlicht in Deutsche Apotheker-Zeitung, 153. Jg., Nr. 40 (3. 10. 2013), S. 140 f.
402 Christoph Friedrich, Wolf-Dieter Müller-Jahncke und Sabine Anagnostou engen Kontakt zu der bekannten Pianistin Elly Ney – umfassten. So war es nur eine folgerichtige Entwicklung, dass sie nach dem Staatsexamen in München blieb und Medizingeschichte und Paläontologie studierte. Unter Leitung des dortigen Pharmaziehistorikers Günter Kallinich schrieb sie ihre Dissertation, in der sie sich mit der Geschichte des Apothekenwesens in Regensburg seit dem Mittelalter beschäftigte. 1969 wurde sie zum Dr. rer. nat. promoviert, und zwei Jahre später gründete sie in Gießen die Adler-Apotheke, die sie am 1. April 2010 verkaufte. Bei der Wahl ihrer Nachfolger achtete sie sehr darauf, dass die Apotheke in ihrem Sinne weitergeführt wurde, wozu für sie immer eine anspruchsvolle pharmazeutische Beratung durch qualifiziertes Personal gehörte. Wie auch anderen ehemaligen Doktoranden der Pharmaziegeschichte ihrer Generation reichte ihr die tägliche Arbeit in der Apotheke nicht. Die Begeisterung für die Forschung hatte sie ergriffen und sollte fortan viel mehr als ein „Hobby“ sein. 1972 wurde sie freie Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin in München und nahm von 1977 bis 2003 Lehraufträge für Pharmazeutische und Medizinische Terminologie sowie von 1979 bis 2003 für Geschichte der Naturwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Pharmazie wahr. Daneben publizierte sie zu pharmazie- und medizinhistorischen Themen, hielt zahlreiche Vorträge auch auf pharmaziehistorischen Veranstaltungen und konnte sich 1982 an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit zum Thema „Untersuchungen zur pietistischen Medizin am Beispiel Johann Samuel Carls und seines Kreises“ für Geschichte der Medizin und der Pharmazie habilitieren. Seitdem betreute sie engagiert Doktoranden; 18 Dissertationen konnten abgeschlossen werden, von denen einige wichtige neue Erkenntnisse für die Pharmaziegeschichte brachten. Eindrucksvoll und für die Zuhörer aufgrund ihrer lebhaften Darstellung stets anregend, stellte sie ihre Forschungsergebnisse in zahlreichen Vorträgen vor. Dabei beschränkte sie sich keinesfalls nur auf die BRD oder das westliche Europa, sondern zählte auch zu den wenigen Wissenschaftshistorikern, die schon lange vor dem Fall der Mauer regelmäßig in die DDR reisten. Hier war sie ein stets gern gesehener Gast in Halle, einem der Zentren der pietistischen Medizin im 18. Jahrhundert, aber auch in Jena und Greifswald. Dabei gelang es ihr, mit ihrer liebenswürdigen, offenen und ehrlichen Art viele Freunde zu gewinnen, die sie unterstützte und denen sie Mut machte. 1988 wurde sie zur außerplanmäßigen Professorin für die Geschichte der Medizin und Pharmazie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ernannt. Neben ihrer Tätigkeit an der Universität München war Christa Habrich maßgeblich am Aufbau des Medizinhistorischen Museums Ingolstadt beteiligt, das sie von 1974 bis 2008 leitete. Dabei verdient zum einen Bewunderung, wie sie sich als Apothekerin in die unterschiedlichsten medizinhistorischen Fragestellungen einzuarbeiten verstand, wie über 30 von ihr, teils mit Koautoren verfasste Kataloge zeigen. Zum anderen wusste sie aber auch in „ihrem“ Medizinhistorischen Museum durchaus pharmazeutische Akzente zu
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setzen: Erinnert sei an Ausstellungen zur Geschichte der biochemischen Analyse, zur Tierheilkunde, zu Aromata und Düften, zum Kräuterbuchautor Leonhart Fuchs oder zu Medizinalbonbons. Nicht zuletzt spiegelte das Medizinhistorische Museum aber auch ihren Sinn für Ästhetik, Schönheit und für die Kunst wider, Eigenschaften, die sie im besonderen Maße auszeichneten. Hier hatte sie die Aufgabe gefunden, an der sich ihre Gestaltungskräfte bewähren konnten. Das traf ganz besonders auf den von ihr geschaffenen Arznei- oder Heilpflanzengarten zu. Wer sie dort erlebt hat, wurde unweigerlich von ihrer Freude und ihrem Elan mitgerissen. Insgesamt hat sie über 70 Ausstellungen mitgestaltet, Filme und Videodrehbücher erarbeitet; ihre Ausstellungseröffnungen zählten zu den kulturellen Höhepunkten in Ingolstadt. Es war für sie eine große Freude, mit Frau Prof. Dr. med. Marion Maria Ruisinger eine Nachfolgerin zu finden, die die Museumsarbeit mit Engagement in ihrem Sinne weiterführt. Auch nach dem Ausscheiden aus dem Museum blieb ihr Rat hier und in zahlreichen anderen bedeutenden Sammlungen sehr gefragt; auch im Deutschen Apotheken-Museum in Heidelberg war sie ein stets willkommener Gast, dessen Expertenwissen hoch geschätzt wurde. Christa Habrich hat zusätzlich eine große Anzahl von Ämtern übernommen. Sie gehörte den Vorständen der Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie und der Gesellschaft Liebig-Museum Gießen an und war Mitglied des Verwaltungsrates des Deutschen Apotheken-Museums Heidelberg. 1990 wurde sie zur Präsidentin der European Association of Museums of History of Medical Science gewählt, ein Amt, das sie bis 2004 wahrnahm. 1991 wählte man sie zur ersten Vorsitzenden der Julius-Hirschberg-Gesellschaft. Sie gehörte jahrelang als Leiterin der Regionalgruppe Bayern der DGGP auch dem erweiterten Vorstand an und würzte dessen eher trockene Sitzungen mit bajuwarischem Humor, der nicht selten auch ins Sarkastische umschwenken konnte. Sie selbst verglich sich wegen ihrer Museumssammelwut gerne mit einem „Trüffelschwein“, und mancher Kollege konnte über eines ihrer Bonmots („gleicht einer Novalis-Spätlese“) vielleicht nicht unbedingt lachen. Für diese zahlreichen Tätigkeiten und Aufgaben – manchmal hatte man das Gefühl, sie brenne wie eine Kerze an zwei Enden, weil sie sich so viel zumutete – erhielt sie eine Reihe von Auszeichnungen wie die Heinrich-Palmatz-vonLeveling-Medaille, die Schelenz-Plakette der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, die Ferchl-Medaille der Stiftung Deutsches Apotheken-Museum, die Avicenna-Medaille der Medizinischen Fakultät der Universität Istanbul, das Bundesverdienstkreuz am Bande und das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, den Bayerischen Verdienstorden und die Bürgermedaille in Gold der Stadt Ingolstadt. Im September 2013 sollte sie auf dem Internationalen Kongress für Geschichte der Pharmazie in Paris im Rahmen der Sitzung der Acad8mie Internationale d’Historie de la Pharmacie, der sie seit vielen Jahren angehörte,
404 Christoph Friedrich, Wolf-Dieter Müller-Jahncke und Sabine Anagnostou die Carmen-Franc8s-Medaille erhalten. Wegen wichtiger Termine in Ingolstadt konnte sie diese Auszeichnung, über die sie sich sehr freute, nicht selbst in Empfang nehmen. Die Verleihung musste nun postum erfolgen. Ihr plötzlicher Tod hat den Kongress in Paris überschattet. Christa Habrich blieb bei allen Leistungen, die sie erbrachte, und Ehrungen, die sie verdientermaßen erhielt, ein sehr bescheidener Mensch. Sie konnte auf Personen unterschiedlichster Herkunft zugehen und mit allen einen respektvollen, stets freundlichen und warmherzigen Umgang pflegen. Kein Wunder, dass jedermann sie schätzte, obwohl sie durchaus auch mit abweichenden Meinungen nicht hinter dem Berg hielt. Sie war ein überaus vielseitig interessierter Mensch, begeisterte sich für die Musik, das Theater, die Kunst. Sie liebte ihre Familie, ihre Schwester und deren Kinder und Enkel gaben ihr viel Kraft. Auch zu vielen Kolleginnen und Kollegen pflegte sie eine enge Freundschaft und der Unterzeichnenden war sie ebenso ein großes Vorbild wie eine treue und ermutigende Mentorin. Manche noch geplante Verabredung hat ihr früher Tod verhindert. Wir werden sie sehr vermissen und sind traurig, dass wir sie nicht mehr sprechen können, aber sie lebt sicherlich wie nur wenige in den Herzen aller derer, die sie kannten und verehrten, weiter.
Marion Maria Ruisinger und Thomas Schnalke
Zum Gedenken an Christa Habrich*
Am 6. September 2013 ist die Pharmazie- und Medizinhistorikerin Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Christa Habrich im Alter von 72 Jahren völlig überraschend in Gießen verstorben. Ihr Tod reißt viele Lücken in den unterschiedlichsten Wirkungskreisen, in welchen die Verstorbene forschend, lehrend und vor allem vermittelnd aktiv gewesen ist. Dem Vorstand der DGGMNT gehörte sie von 1976 bis 1985 als Schatzmeisterin und von 1985 bis 1988 als stellvertretende Vorsitzende an. Für die Unterzeichnenden war ihr Engagement für eine objektbezogene Forschung und eine wissenschaftlich fundierte Museumsarbeit im Rückblick von dominierender Bedeutung. Jagen und Sammeln seien ihre großen Leidenschaften, das hat Christa Habrich immer wieder unumwunden von sich selbst gesagt. Sie liebte die dezidierte Feststellung, das klare Wort, das Faktum, die Dinge. In allem, was sie sagte, dachte und tat, stand sie mit beiden Beinen auf dem Boden. Sie kam stets schnörkellos zur Sache, referierte klar und dennoch überaus anschaulich und eingängig in unverkennbar bayerischer Tönung mit einem freudigen Zwinkern in den Augen. Ihr Wissen war grandios, von Gott und der Welt, vor allem aber von jenen Themen, die sie ein Leben lang umgetrieben haben und die sie letztlich allesamt in unvergesslichen Ausstellungen in jenem Kosmos zum Leben erweckte, den sie sich selbst erschuf und ausgestaltete: im Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt. Christa Habrich kam am 24. November 1940 in Gießen zur Welt. Die bayerische Epigenetik, die sie so markant verkörperte, bildete sich in ihren Jugendjahren aus. Zeitweise wuchs sie in Kriegs- und schwierigen Nachkriegszeiten in Regensburg sowie in Prien am Chiemsee auf. Ihre künstlerische Ader verdichtete sich in ihrem ausgeprägten musischen Talent. Sie spielte mit dem Gedanken, eine Laufbahn als Pianistin einzuschlagen, fügte sich dann aber der Familienraison. Dem Abitur an der Gießener Ricarda-Huch-Schule schloss sich eine Ausbildung als Pharmaziepraktikantin in ihrer Geburtsstadt an. Im Jahre 1963 absolvierte sie in Darmstadt die Pharmazeutische Vorprüfung und studierte daraufhin an der Ludwig-Maximilians-Universität München Pharmazie. Der inzwischen stärker verspürten und kultivierten Neigung, geschichtlichen Fragestellungen nachzugehen, folgte sie nach ihrem Staats* Erstveröffentlicht im Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, DGGMNT, Ausgabe 2/2013, S. 70–73.
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Marion Maria Ruisinger und Thomas Schnalke
examen 1966. Sie vertiefte sich in medizinhistorische und paläontologische Studien und begann eine pharmaziehistorische Dissertation. Unter Prof. Dr. rer. nat. Gunter Kallinich wurde sie 1970 mit einer Arbeit „Zur Geschichte des Apothekenwesens von Regensburg in reichsstädtischer Zeit“ promoviert. Ein Jahr später schuf sie mit Gründung und Aufbau der Adler-Apotheke in Gießen, die sie bis 2010 leitete, die Grundlage ihrer beruflichen Existenz. Gleichzeitig begann sie ein wissenschaftliches Nomadendasein, das sie im Dreieck zwischen Apotheke, Universität und Museum fast ihr ganzes weiteres Leben lang führte. Oftmals waren dabei ihr Auto und ein kleines Zimmer hier und da ihr eigentliches Zuhause, der Koffer ihr Archiv und ihre Bibliothek, vor allem aber ihr klarer Geist und Verstand der Quell ihrer Ideen und Inspiration. Ab 1972 arbeitete Christa Habrich zunächst als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Münchener LudwigMaximilians-Universität. Ab 1976 versah sie dort offiziell Lehraufträge für medizinische und pharmazeutische Terminologie sowie für Geschichte der Naturwissenschaften. Im Jahr 1982 erfolgte ihre Habilitation für Geschichte der Medizin und Pharmazie mit der Studie „Untersuchungen zur pietistischen Medizin am Beispiel Johann Samuel Carls und seines Kreises“. Gastvorlesungen führten sie danach an die Universitäten von Greifswald, Halle/Saale, Jena und die Berliner Humboldt-Universität (1987–1988). Schließlich wurde sie 1988 an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität zur außerplanmäßigen Professorin für Geschichte der Medizin und Pharmazie ernannt. Wenngleich ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt vor allem auf der Geschichte der Pharmazie und der pietistischen Medizin lag, weitete sich ihr fachliches Interesse über einen spezifischen, durch sie nahezu paradigmatisch verkörperten methodischen Zugriff schließlich enzyklopädisch auf nahezu alle Felder der Geschichte der Medizin: Sehr früh im Fach begann sie sich für die dinglichen Hinterlassenschaften in Medizin und Pharmazie zu interessieren, eine objektbezogene Forschung zu betreiben und damit die Grundzüge einer materialen Kultur in ihrem Metier auszulegen. Stets war es ihr ein besonderes Anliegen, die Dinge als historische Quellen wirklich ernst zu nehmen und sie nicht immer nur als schmückend-illustratives Rankenwerk neben gewichtige Texte zu stellen. Gelegenheit für eine konkrete Ausformung ihres Engagements hatte sie seit 1973. Von Beginn an arbeitete sie am Aufbau des in diesem Jahr auf Initiative des Instituts für Geschichte der Medizin der Münchener Ludwig-MaximiliansUniversität gegründeten Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt mit. Im Jahre 1983 wurde sie dessen Direktorin. Über die nächsten 25 Jahre hinweg formte sie – stets im Ehrenamt – diese Einrichtung zu einer auch in Europa führenden Institution ihrer Art. Im Zuge der Landesgartenschau, die 1992 in Ingolstadt gezeigt wurde, gelang es ihr, sich einen Traum zu erfüllen: Im Außenbereich des Museums konnte sie auf dem historischen Gelände des ehemaligen „Hortus medicus“ der Ingolstädter Universität einen Arzneipflanzengarten im barocken Zuschnitt anlegen, der mit seinen 200 verschie-
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denen Heilpflanzen bis heute zu den Glanzlichtern des Museums zählt. Dazu kam noch ein Duft- und Tastgarten mit Hochbeeten, der, rollstuhlgerecht angelegt und mit Legenden in Blindenschrift bestückt, eine maximale Zugänglichkeit ermöglicht. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt der Museumsdirektorin 2008 blieb sie bis zuletzt als Kuratorin des Arzneipflanzengartens ihrer Einrichtung verbunden. Noch 2013 kuratierte sie in Ingolstadt die Sonderausstellung „Rendezvous der Düfte. Aromatische Heilpflanzen aus Bayern und der Provence“. Ihr Wirken als Objektsammlerin, Dingforscherin und Museumsfrau dehnte Christa Habrich weit über die Grenzen Ingolstadts hinaus aus. Im Nachgang zu ihrer Grundsatzrede „Zur Bedeutung von Sammlungen und Museen für die Wissenschafts- und Medizingeschichte“, die sie 1990 als Karl-Sudhoff-Gedächtnisvorlesung der DGGMNT in Mannheim vortrug, etablierte sie für den deutschen Sprachraum einen Arbeitskreis „Medizinische Museologie“, der sich bis heute einmal pro Jahr an wechselnden Orten zu Workshops trifft. Inzwischen haben sich diese Symposien zum wichtigsten Forum für medizinhistorische Sammlungen und Museen in Deutschland entwickelt. An den meisten Tagungen, zuletzt auch noch 2013 in Gütersloh, hat Christa Habrich aktiv teilgenommen und mit ihrem engagierten Eintreten für die Sache der Dinge und Sammlungen die Diskussionen bereichert. Auf internationaler Bühne gilt Christa Habrich bis heute als die „Grande Dame“ des medizinhistorischen Museumswesens. Maßgeblich war sie 1984 an der Gründung der einzigen internationalen Fachgesellschaft auf diesem Gebiet, der „Association Europ8enne des Mus8es d’Histoire des Sciences M8dicales“ beteiligt. Zwischen 1990 und 2004 leitete sie als Präsidentin die Geschicke dieser Vereinigung und wirkte auch danach noch als Ehrenpräsidentin höchst segensreich für deren Ziele. Auf deutscher wie auf europäischer Ebene entfaltete Christa Habrich eine unvergleichliche katalytische Wirkung. Sie stellte Kontakte zwischen den Sammlungen und Museen her, ermunterte jüngere WissenschaftlerInnen, an den Treffen teilzunehmen, und ging auch auf Museumsleute ohne akademischen Hintergrund zu. Ihr ist es zu verdanken, dass auf diesen Treffen stets eine offene, konkurrenzfreie und anregende Atmosphäre herrscht, in der auch und gerade kreatives („wildes“) Denken gewünscht ist. In Deutschland wurde Christa Habrich nicht nur durch ihr Engagement in ihrem Museum, sondern auch durch Beiträge in Funk und Fernsehen einem breiten Publikum bekannt. Als Expertin für medizin- und pharmaziegeschichtliche Themen war sie im Bayerischen Fernsehen nicht nur ein häufiger Gast in der „Sprechstunde“, sondern hob 1994 auch die Sendereihe „Querbeet durchs Gartenjahr“ mit aus der Taufe, die sie bis zuletzt mit viel Herzblut und unzähligen Drehterminen im Arzneipflanzengarten des Museums begleitete. Für ihr Wirken erfuhr Christa Habrich reichlich Ehrungen und Auszeichnungen. So erhielt sie 1999 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 2000 die Schelenz-Plakette der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Phar-
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mazie, 2004 den Bayerischen Verdienstorden, 2005 die Bürgermedaille in Gold der Stadt Ingolstadt und 2010 die Ferchl-Medaille der Stiftung Deutsches Apotheken-Museum. Mit Christa Habrich verliert die deutsche Medizingeschichte, vor allem aber auch die medizin- und wissenschaftsgeschichtliche Sammlungs- und Museumswelt einen ihrer profiliertesten Köpfe, eine Frau, die mit Herz und Verstand weit über die engen Fachgrenzen hinaus mitten in die Gesellschaft hinein gewirkt hat. Wir werden ihr Wissen, ihren Humor und ihren Rat sehr vermissen.
Hans-Jürgen Schrader
Pietistische Sympathetik Grußwort zur Gedenkfeier für Christa Habrich im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt, 14. Nov. 2013
Die zahlreichen Nachrufe nach ihrem uns alle so unvorbereitet treffenden Tod aus vollster Lebensfreude und energetischem Planen haben die verschiedenartigen Facetten von Christa Habrichs Persönlichkeit und Leistung gewürdigt. Erinnert wurde, nachlesbar im Internet, mit dem sie selbst immer auf Kriegsfuß blieb, an ihre Generationen prägenden Einsätze als Münchener Professorin für Medizin-, Pharmazie- und Ethikgeschichte, dabei als Doktormutter von 15 intensiv betreuten Doktorarbeiten, als nebenher Gießener Apothekerin mit Leib und Seele, als die in TV-Serien des Bayerischen Rundfunks regelmäßig in die deutschen und österreichischen Wohnzimmer einkehrende Heilpflanzen-Expertin (oder, wie sie selbst dies nannte, „Kräutertante“), schließlich und vor allem an die jahrzehntelang abermals neben- und vollkommen ehrenamtliche Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums. Das hat sie seit 1973 mit aufgebaut und seit 1983 geleitet, durch zahlreiche Ausstellungen bekannt gemacht und sich mit besonderer Liebe noch jenseits der Emeritierung um dessen Heilpflanzengarten als „lebendigen Teil des Museums“ gekümmert. Ihre herausragende Leistung auf dem Feld der Museologie hat sie in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik und zur Präsidentin der Association Europ8enne des Mus8es d’Histoire des Sciences M8dicales berufen lassen, hat ihr zahlreiche Orden und Ehrenzeichen eingebracht. Ihre Nachfolgerin Prof. Ruisinger, dank Christa Habrichs alle Widerstände beugenden Verhandlungsgeschicks nun fest und honoriert angestellt, hat 2010 in dem schönen Katalog der Ausstellung zu ihrem 70. Geburtstag, Mit Sinn und Verstand, als ihre herausragenden Eigenschaften „Leidenschaft, Klugheit und Humor“ herausgestellt. Leidenschaftlich, weise und umwerfend humorvoll habe auch ich sie immer erlebt, wenn sie wie ein Rastelli zwischen den mindestens drei Vollberufen in München, Gießen und Ingolstadt, zwischen Kolloquien, Vorträgen und Beutezügen über die Flohmärkte fürs Museum hin und her pendelnd meist nur per Handy im Zug erreichbar war. Geistreich hat sie stets alles Aufgeblasene entsteigert – am meisten sich selbst –, konnte stillvergnügt oder bis zu Tränen herzhaft lachen. So ist es Recht, die überreich besuchte Gedenkveranstaltung zu ihrem heutigen 73. Geburtstag nicht nur den Tränen zu überlassen. Erinnern möchte ich hier an eine weniger bekannte Facette ihres Wirkens, der auch noch ihr letzter leidenschaftlicher Einsatz gegolten hat: ihren sehr
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Hans-Jürgen Schrader
markanten Beitrag zur internationalen Pietismus-Forschung. Natürlich ist bekannt, dass ihre umfänglichste wissenschaftliche Arbeit dem Thema Untersuchungen zur pietistischen Medizin am Beispiel Johann Samuel Carls und seines Kreises gewidmet war, mit dem sie 1982 habilitiert und Münchener Privatdozentin wurde. Und Kennern blieb auch nicht verborgen, dass ein recht maßgeblicher Teil ihrer zahllosen Aufsätze Ärzte namentlich des radikalen Pietismus und von ihnen angestoßene Medizinalreformen erforscht hat, ihre zur modernen Heilkunst und wissenschaftlichen Pharmazie hinführenden „sanften“, wir würden heute sagen ganzheitlichen und psychosomatischen Heilungsmethoden, ihre fortschrittliche Ethik, aber auch die alchimistischen Experimente ihres Laborierens. Neben dem Hortus medicus der Ingolstädter Anatomie hatte sie stets auch etwa Tersteegens Geistliches Blumengärtlein und seine Melissenexperimente im Blick, die Geistlichen Würtz= Kräuter= und Blumen=Gärten für fromme Seelen und Emblembücher, die Christus als Arzt oder Apotheker abbildeten. Seit 2000 wurde die völlig undogmatisch, ja antidogmatisch herzensfromme Frau durch drei Wahlperioden hindurch als Vertreterin der Medizingeschichte in die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus der Union Evangelischer Kirchen gewählt. Die „Dame im Trachtenkostüm“ hat sich in diesem Gremium verdient gemacht – auch durch kluge Anstöße und als Weglacherin von Konfliktsituationen, sie hat sich höchster Wertschätzung erfreut. Für April 2014 hatten wir gemeinsam – über Jahre schon – eine Tagung über Pietismus und Heilkunst – Ethik, pansophischalchimistische und magnetische Traditionen vorbereitet, deren Plan sie der Kommission mit der ihr eigenen Begeisterungsfähigkeit wenige Tage vor ihrem plötzlichen Tod präsentiert hat. Dank des selbstlosen Einspringens ihrer Marburger Kollegin Irmtraut Sahmland kann dieses Kolloquium in Frankfurt am Main stattfinden, leider aber nur noch ihrem Gedächtnis gewidmet werden. Der Christus anatomicus, der als Bildmotiv für die Einladung und auch für das Buchcover des Berichtbandes gewählt worden ist, konnte dank eines ihrer Jagdzüge durch die wissenschaftsgeschichtlichen und Kunstauktionen für die Sammlungen des Deutschen Medizinhistorischen Museums angeschafft werden. Der Vorsitzende der Pietismus-Kommission, Prof. Otte, hat mich gebeten, Ihnen namens der Kommission, der UEK und EKD Betroffenheit und Trauer zu bekunden. Damit ich nicht melancholisch ende, vielmehr Christa Habrichs nicht allein wissenschaftliche, sondern auch experimentatorische und magnetisch-praktische Nähe zum Gegenstand offenbare, erzähle ich Ihnen nur, wie geradezu spökenkiekerisch kurios und burlesk uns beidseitige (und bald dann auch wiederholt gemeinsame) Pietismus-Studien vor fast 33 Jahren zusammengeführt haben. 1981, als sie noch an ihrer Habilschrift über Johann Samuel Carl arbeitete, hatte ich für einen internationalen Kongress zum 150. Geburtstag Wilhelm Raabes – den auch Christa sehr schätzte – den gerade nach Gießen berufenen, mir persönlich noch unbekannten Germanisten und Poeten Peter Horst Neumann anzurufen, den wir zu einem öffentlichen Festvortrag einla-
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den wollten. Als ich mich meldete, hörte ich auf der anderen Seite nur ein lautes „Rampababam“ und erst später ein etwas klägliches „Entschuldigen Sie, mir ist das Telephon heruntergefallen, ich hab mich so erschrocken!“ Auf meine erstaunte Rückfrage nach dem Grund solcher Bestürzung, da wir einander doch nie begegnet seien, berichtete er mir, er sitze gerade für ein Kennenlerngespräch mit seiner neuen Wohnungsvermieterin Christa Habrich zusammen, die ihm von ihrer Arbeit über den pietistischen Hofarzt Carl erzähle. „Leider unbekannt.“ Über den gebe es aber einen Artikel auch eines Germanisten, ob er den wohl kenne, Hans-Jürgen Schrader aus Göttingen. „Leider nein.“ Und genau in diesem Moment klingele nun das Telephon und es melde sich, offenbar herbeigerufen, jemand genau mit diesen Worten! Jeder spätere Brief- oder Telephonkontakt, ob privat oder in Kommissionsangelegenheiten, hat sich dann ähnlich sympathetisch angekündigt, und Christa konnte mich sogar („sagt es niemand, nur den Weisen j weil die Menge gleich verhöhnet“) aus ihrer überstarken Kompetenz in die Praxis magnetischer Kopfschmerztherapie einführen. Ich bin sicher, bei dieser Gedenkfeier in Ingolstadt wie auch beim Frankfurter Kolloquium in memoriam Christa Habrich wird ihr guter Geist spürbar zugegen sein.
Personenregister Abicht, Johann Georg 286 Ackva, Friedhelm 119 Addison, Joseph 323 Agerholm, Frank Juul 50 Agonius (Bruder) ! Wohlfahrt, Michael Agrippa (Bruder) ! Miller, Peter Aland, Kurt 383 Alberti, Michael 11, 14, 74, 94, 229 Albrecht, Baron von Elster und Ederheim 110 Albrecht, Johann Georg 83 Albrecht, Ruth 7, 108, 179, 257, 274, 341 Alciato, Andrea 390 d’Alembert, Jean Le Rond 145 Alverdes, Paul 256, 274, 280 Amburger, Erik 127 Amdisen, Asser 146 Anagnostou, Sabine 7, 401 Anderegg, Johannes 13, 200 Andreae, Gottlieb 380 Andreae, Johann Valentin 380, 394 Angelus Silesius ! Scheffler, Johannes Anhalt-Dessau, Henriette Amalie, Prinzessin von 81 Anhorn, Bartholomäus 320 Arius, Presbyter in Alexandria 293 Arndal, Steffen 256, 379, 284, 287, 298 Arndt, Johann 36, 373, 395 Arnold, Gottfried, sen. 255 Arnold, Gottfried 6, 36, 145, 211 f., 232, 255–277, 291, 293, 299 Arnold, Maria Elisabetha 138 Arouet, FranÅois-Marie ! Voltaire Assisi, Franceso de ! Franz von Assisi Astmann, Johann Paul 291 Augusta, deutsche Kaiserin 363, 367 f. Augustinus, Kirchenlehrer 167, 318 Augustus, röm. Kaiser 25 Avicenna, Abu¯ ‘Alı¯ Ibn Sı¯na¯ 29
Baader, Franz von 13 Bach, Jeff (Jeffrey A.) 6, 211, 213 Bach, Johann Sebastian 293 Bächtold, Jakob 323 Baeumerth, Angelika 125 Baldauf, Ingeborg 313 Baldinger, Ernst Gottfried 140 Balint, Elisabeth Maria 102 Bardili, Andreas 235 Barkhoff, Jürgen 200, 206, 208 Barner, Christoph von 110 Barner, Jakob 21 Barth, Christian Gottlob 246 Barth, Karl 235 f., 374, 379 Barthold, Georg Theodor 93 Bartmann (Separatist in Eckartshausen) 78 Bary, August de 46, 48 f., 54, 60, 67, 71, 73 f., 76–80, 85, 124, 127, 132 Basedow, Johann Bernhard 148 f., 152 Bauer, Gerhard 186 Bauer, Thomas 47, 54, 71, 73 f., 78–80, 85, 124, 127, 132 Bauerle, Carl 374 Baum, Johann Wilhelm 138 Baumann, Christoph 216 Baumgarten, Alexander Gottlieb 296 f. Baun, Friedrich 374 Baur, Hans Rudolf 330, 332 Baur, Wilhelm 363 Bausinger, Hermann 379–382, 385 BaviHre, Elisabeth-Charlotte, Comptesse de ! Orl8ans, Elisabeth-Charlotte, Duchesse de Baxter, Richard 206 f. Bayle, Pierre 145 Beck, Wilhelm 361 Becker, John 233 Becker, Peter 211
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Personenregister
Behrmann, Georg 349 Beissel, (Georg) Conrad (Vater Friedsam Gottrecht) 6, 12, 211–214, 216, 222 Bell, Albert Dehner 216 Bellon, Ferdinand Friedrich 125 Bender, Wilhelm 225 Beneditti, Gaetano 247 Benedum, Jost 27 Bengel, Johann Albrecht 225, 227, 347, 358, 381, 388, 392 Benneville, George de 216–218, 221 Benz, Ernst 179, 191–193, 202, 205, 207 Berchelmann, Johann Philipp 127, 134 Berger, Heinz-Joachim 306 Berger-Fix, Andrea 201 Bernd, Adam 6, 12, 50, 52 f., 57, 165–178 Bernritter, (Amandus) Friedrich 381 Bernstein, Christian Andreas 290 Bernstorff, (Johann) Hartwig Ernst (ab 1767 Graf) von 147 Bettermann, Wilhelm 306 Betz, Isolde 224 Betz, Otto 224 Beyreuther, (Walter Hans) Erich 383 Bilguer, Johann Ulrich 51 Billing, Siegmund 114 Bittel, Karl 207 Blankenburg, Martin 200 Bleuler, Manfred 247 Blücher, Toni von 363, 366 Blumenberg, Hans 318 Blumhardt, Christoph 241 Blumhardt, Doris 236 Blumhardt, Johann Christoph 6, 13, 235–251 Blumhardt, Theophil 236 Böcking, Johann Karl 147 f. Bode, Dietrich 387 Bodmer, Johann Georg 339 Bodmer, Johann Jacob 323 f. Boerhaave, Herman 122, 158 Boerner, Peter 45 Bogatzky, Carl Heinrich, Freiherr von 395
Bogen, Cornelia 53, 63, 166 Böhling, Frank 380 Böhme, Gernot 51 Böhme, Hartmut 51 Böhme, Jacob 185, 198–202, 205, 211, 219 f., 224, 227, 231, 256 f. Böhmer, Philipp Adolf 147 Boldemann, Johannes 121 Bolten, Johann 147 Bolten, Johann Christian 147 Bopp, Marie-Joseph 115 f. Borchers, Stefan 103 Bornkamm, geb. Zinn, Elisabeth 392 Boschung, Urs 67, 127, 131 Bost, Ami 180 Böttiger, Johann Christoph 395 Bovet, Theodor 247 Bowman, Derek Edward 192 Bräker, Salome 330 Bräker, Ulrich 6, 317, 330–332, 334–337, 340 Brandt, Enevold 148, 162 f. Brangier (Familie) 125 Brecht, Martin 225 Breckling, Friedrich 181, 183, 256, 373 Breitinger, Johann Jacob 323 Brentano, Clemens 344 Breymayer, Reinhard 7, 116, 126, 128, 130, 202, 206, 208, 226, 229, 373 f., 391, 394 Brockes, Barthold Hinrich 387 Brockliss, Laurence 112 Bromley, Thomas 184 Browne, John 21 Bruch, Carl Ludwig 135 Bruch, Friedrich Daniel 127 Bruch, Johann Paul 117 Bruch, Susanne 118 Brückner (Familie) 132 Brückner, Hieronymus 181 f., 185 Buchfelder, Ernst Wilhelm 290 Buchner, August 275, 286, 293 Buchner, Karl 63 Büchner, Andreas Elias 147
Personenregister Büchner, Johann Andreas Wilhelm 147 f. Büel, Johannes 328 Bultmann, Rudolf 249 Bunners, Christian 13, 279, 287, 294 Bunyan, John 166, 335 f. Burk, Philipp David 381 Burkardt, Johannes 47, 78, 129, 205 Burnett, George Murray 192 Burton, Robert 53 Busch, Eberhard, sen. 396 Busch, Eberhard, jun. 374, 397 Busch, geb. Müller, Emilie 397 Busch, verh. Krieger, Elisabeth 397 Busch, Friedrich 397 Busch, Gudrun 293 Busch, geb. Kullen, Johanna 374–378, 383, 392–398 Busch, Johannes, sen. (Evangelist) 374, 397 Busch, Johannes, jun. 374 Busch, Wilhelm, sen. 374, 396 Busch, Wilhelm, jun. (Evangelist) 374, 395–397 Busch (Kinder) 374 f., 376, 378, 384, 392–394, 397 Busch, „Kinder im Feld“ (Friedrich und Johannes Busch sen.) 397 Busch (Enkel und Urenkel) 374–376, 378, 392–394, 397 f. Busch (Schwäger und Schwägerinnen) 397 Buß, Uwe 71 Bütikofer, Kaspar 99 Calov, Abraham 286 Calvet, Claude-FranÅois 112 Calvin, Jean (Johannes) 82, 350 Camerer, Johann Friedrich 149, 157 Cardano, Girolamo 167 Carl, August Ernst 147, 157 Carl, Horst 27 Carl, Johann Samuel 5, 11 f., 14, 19 f., 30–44, 47, 72, 77 f., 91 f., 95–97, 102,
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105, 111, 113, 131, 140 f., 144, 147 f., 151, 157, 207, 402, 406, 410 f. Castro, Roderico a 21 f., 28 Cellarius (Freund Dippels) 75 Chladni, Martin 284 Christian VI., König von Dänemark 128, 144 Christian VII., König von Dänemark 144, 161 f. Christianus Democritus ! Dippel, Johann Conrad Chrysostomus Vratislaviensis ! Neumann, Caspar Chytraeus, Nathan 291 Clarus, Johann Felician 138 Clericuzio, Antonio 179 Comenius, Johann Amos 394 Cook, Harold J. 105 Cowper, William 350, 370 Cranz, David 310 Crasselius, Bartholomäus 279, 291 Crellin, John 95 Creutz, Friedrich Carl Casimir von 125, 136, 138 Cyprian, Ernst Salomon 282, 293 Darnton, Robert 200 Dassov(ius), Theodor 283 f., 286, 291 Daston, Lorraine 96 Dauser, Regina 96 David, Christian 309 Dechert, Georg 218 Deckert, Erich 125 Deigendesch, Johann 102 Dellsperger, Rudolf 138 Deppermann, Andreas 47, 73, 99, 223 Deringer, Konrad 339 Descartes, Ren8 32, 41 Dhaun, Louise, Gräfin von 84 Diderot, Denis 145 Dienst, Karl 228 Dieterlen, Christoph 238 f. Dinwiddie, Robert 215 Dippel, Johann Conrad 11, 15, 31, 33,
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Personenregister
35–37, 42, 47, 63–66, 72 f., 75–78, 84, 97, 225 Dittus, Gottliebin 236–238, 240 f., 244–249 Dittus, Katharina 236, 240, 245, 248 Divisˇ, Prokop 202, 205 f. Dockhorn, Klaus 394 Dohle, Michael 383 Dohm, Burkard 181, 230, 280, 293 Dölemeyer, Barbara 79, 127, 133 Donovan, Jane 215 Dose, Kai 225 Dostoevskij, F[dor Michajlovicˇ 381 Dreyer, Johann Matthias 148 Dunte, Dietrich von 395 Durnbaugh, Donald Floyd 222 Dürninger, Abraham 314 Dürr, Renate 109
Elisabeth, Heilige 42 Elkeles, Barbara 21, 28 Elser, Bernhard 374 f. Emmerick, Anna Katharina 344 Engelbrecht Hans 197 Enke, Ulrike 27, 94 Ensched8, Izaak 181 f. Ensched8, Johannes 182 Ernst, Katharina 46, 51, 58, 104 Ertingen, Eleonora Polyxena Leutrum, Baroness von 110 Esse Hemmens ! Hemmens, Esse Ettmüller, Michael 140 Eugenia, Schwester 214 Eulner, Hans-Heinz 47, 71 Ewald, Johann Ludwig 180 Exter, Christlieb Leberecht von 205 Exter, Johann Gottfried von 147 f.
Eberhard, Johann Peter 147 Ebinger, Karl 374 Eckart, Wolfgang U. 21, 23, 41 Eckerlin, Emmanuel 212, 214 Eckerlin, Gabriel (Bruder Jotham) 214–216 Eckerlin, Israel (Bruder Onesimus) 213a–217a Eckerlin, Samuel (Bruder Jephune) 6, 211 f., 214–218, 221 f. Eckermann, Johann Peter 206 Eckstein, Christian (Dr. Gideon, Bruder Gideon) 211, 213 f., 221 f. Eckstein, Elisabeth 214 Edelmann, Johann Christian 64, 125 Ehmann, Karl Christian Eberhard 258, 267, 272, 276, 392 Ehmer, Hermann 380 Eicher, Maria (Mutter Maria) 214 f. Eiermann, Wolf 374 Eimermacher, Karl 388 Eißler (Buben) 376, 378, 394 Eißler, Hans 374 Eißler, Konrad 374 Elias (Elia/Elijah), bibl. Prophet 385
Falckenskiold, Seneca Otto von 148 Faßhauer, Vera 5, 45–47, 74, 104 Faust, Christoph Bernhard 39 Felgenhauer, Paul 183 Fende, Christian 47 f., 73, 78 f., 223 f. Finckler, Friedrich Ernst 92 f. Fiorentini, Francesco Maria 103 Fischer, Friedrich 368 f. Fischer, Hermann 395 Fischer, Johann 395 Fischer, Ludwig Eberhard 239 Fischer, Ludwig Friedrich 237 Fischer, Ole 145, 161 Fischer-Homberger, Esther 51 Fitzpatrick, John Clement 215 Flamand, M. 100 Fleckstein, Heinrich Jakob, Baron von 117 Fleischbein, Johann Friedrich von 47, 79, 205 Folz, Hans 103 Fontane, Theodor 344 Foucault, Michel 166, 171 Fouqu8, Friedrich, Baron de la Motte 201
Personenregister Fracastoro, Girolamo 152 Franc, Johann 102 Francke, August Hermann 14, 55, 57–60, 63, 66, 144, 169 f., 175, 182, 205, 259, 279, 294, 381 Franklin, Benjamin 202, 206, 319, 323, 339 Franz von Assisi 42, 65, 345 Fresenius, Johann Philipp 230 Freylinghausen, Johann Anastasius 280, 282 f., 287 f., 290 f., 296–301 Fricker, Johann Ludwig 373, 388 Friedrich VI., König von Dänemark („Tom Jones“) 152 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 255 Friedrich, Christoph 7, 401 Friedrich, Roger 255 Friedsam, Vater ! Beissel, Conrad Fritsch, Ahasverus 287 Frommel, Emil 363 Fuchs, Leonhart 403 Fugger, Hans 96 Funcke, Otto 360 Gaas, Jacob (Bruder Lamech) 211, 214 f. Gäbler, Ulrich 179 Galenos von Pergamon 103 Garve, Emma Henriette 362 Garve, Karl Bernhard 362 Gassner, Johann Joseph 250 Gebhardt, Ernst 350, 370 Geduhn, Adalbert 351 f. Gellert, Christian Fürchtegott 51, 325 Gembicki, Dieter 311 Gerhardt, Paul 286, 298 f., 346 Gerson, David 148 Gerson, Hartog 148, 150 f. Gestrich, Andreas 179 Geyer-Kordesch, Johanna 98, 100 Gichtel, Johann Georg 181, 211 Gideon (Bruder), Dr. ! Eckstein, Christian Giese, Christian 27
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Gifftheil, Ludwig Friedrich 373 Girtanner, Christoph 322 Gleixner, Ulrike 46, 48, 102 Gmelin, Eberhard 186 f. Goebel, Karl Gottfried 138 Goebel, Max 115 Goethe, Johann Wolfgang von 6, 12, 30, 33, 51, 69, 126, 133, 135, 162, 167, 195, 199–202, 206, 208 f., 223–234, 275, 326, 373 f., 393, 398 Gogol’, Nikolaj Vasil’evicˇ 381 f. Goldschmidt, Stephan 63, 97, 225 Göllner, Johann Gottfried 145 Gomperz, Samuel N. 145 Gontard, Susanna Marie, geb. d’Orville 82 Goody, Jack 45 Gottlieb, Bernward Josef 20 Gottrecht, Friedsam ! Beissel, Conrad Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 289 Götz, Anna Elisabetha 92 Götz, Ernst Felix Christoph 97 Götz, Johann Christoph 5, 12, 91–112 Götz, Johann Philipp 92, 106 f. Grafe, Hugald 387 Gregor, Christian 304 Greyerz, Kaspar von 109 Grimm, Jacob 269 Grimm, Wilhelm 269 Gritsch, Johann Christoph von 162 Groß (Gross), Andreas 47, 78 Grosser, Susanne 104 Grossmann, Sigrid 226 Gruber, Eberhard Ludwig 137 Gruber, Johann Adam 138 Grundlach, Horst 179 Grundmann, Christoffer H. 6, 235 Grutschnig-Kieser, Konstanze 5, 73, 79, 113, 124, 126 f., 202, 223, 314 Günther, Hans Richard Gerhard 48, 384, 397
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Personenregister
Häberlein, Mark 92, 96 Habrich, August 401 Habrich, Christa 3, 7, 9 f., 13 f., 19 f., 27, 31 f., 34, 43 f., 77, 86, 91 f., 95–97, 113, 128, 130 f., 141, 144, 233, 399, 401–411 Habrich, Ilse 401 Hackenbach, Johann Philipp 130 Hahn, (Johann) Michael 373, 375, 379 f., 386, 388, 395 Hahn, Alois 45 Hahn, Johann Sigismund 152 Haller, Albrecht von 48 f., 52, 59 f., 62 f., 67, 84 Halophilos, Irenaeus ! Oetinger, Gottlieb Friedrich Hamm, Johann Jakob 115, 136 Hannak, Kristine 64 Hansen, Holger 161, 163 Hanssen, Peter 66 Hardenberg, Friedrich Leopold, Freiherr von 13, 403 Harms, Ludwig 387 Harnisch, Ulrike 283 Hartknoch, Johann Friedrich 167 Hartmann, Andreas 384, 387 Hartmann, Peter Immanuel 147 Hartmann, Sven 226 Hattendorff, Mathias 145 Hauck, Friedrich 386, 391 Hauck, Wilhelm-Albert 389–391 Hauffe, Friederike 183, 200 f., 207 f. Haug, Johann Friedrich 47, 78 Haug, Johann Jacob 78 Hauptmann, Gerhart 341, 343, 356 Häußermann, Friedrich 391 Hayen, Hemme 6, 179, 181 f., 184–191, 193–199, 203 f., 206–210 Hayn, Henriette Louise von 304 Hecht, Koppel 224 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 379 Heider (Patient Senckenbergs) 81 Heine, Heinrich 380 Heinichen, Johann 381
Heinsius, Johann Samuel 165 Heinzmann, Johann Georg 49 Heister, Lorenz 93, 107 Heitmüller, Friedrich 370 Hell, Maximilian 193, 202 Hellmund, Egidius Günther 93 Helm, Jürgen 16, 20, 32, 95, 110, 161 Helmont, Franziscus Mercurius van 99 Helmont, Jan Baptist van 41, 99, 179, 202 Hemme Hayen ! Hayen Hemmens, Esse 196 Hensler, Peter Wilhelm 148 Hensler, Philipp Gabriel 146, 148 f., 160 Herder, Johann Gottfried 167 Heringen, Rudolf Anton von 49, 77 Hermann, Otto 238 Herrenschwand, Johann Friedrich von 127 Herrnschmidt, Johann Daniel 297 Hess, Volker 74, 152 Hesse, Hermann 207 Hessen-Homburg, Christiane Charlotte, Landgräfin von 129 Hessen-Homburg, Friedrich III. Jacob, Landgraf von 79, 124, 128, 134, 137 Hessen-Homburg, Friedrich IV., Landgraf von 128, 135 Hessen-Homburg, Ludwig Gruno, Prinz von 127 f. Hessen-Kassel, Wilhelm IX., Landgraf von 135 Heye Lübben ! Lübben Heyen, Hemme ! Hayen Hiller, Philipp Friedrich 279 Hiob, bibl. Dulder 171 Hippokrates 23–25, 29 Hirsch, August 135 Hirzel, Martin 180, 188, 197 Hoburg, Christian 189 Hoffmann, Barbara 274 Hoffmann, Ernst Theodor Heinrich (Amadeus) 199
Personenregister Hoffmann, Friedrich 11, 14, 22, 61, 72, 74, 94, 102 f., 122, 158 Hoffmann, Paul Theodor 147 Hoffmann, Volker 52, 165 Höflich, Egbert 383 Hoheisel, Daniel Friedrich 49, 76 f. Hohenheim, Theophrastus Bombastus ! Paracelsus Hohenlohe, Heinrich August Wilhelm, Fürst von 148 Höhne, Hans 148 Hölderlin, Friedrich 373 Hollweg, Walter 181–185, 191 f., 196, 199, 205 Holtermann, Michael 200, 207 Homann, Ursula 232 Hooke, Robert 151 Horch, Henrich 185 Hotz (Kuhhirt im Kanton Bern) 336 Hövelmann, Hartmut 95 Huff, Stephen R. 186 Hunold, Elisabeth 75 Hurter, Johann Georg 137 Huxham, John 158 Imhof, Martin 332 Imme Lamberts ! Lamberts Immler (Inspirierter) 78 Inderbitzin, Leonhard Karl 330 Inn- und Knyphausen, Dodo, Freiherr zu 184 Isenburg ! Ysenburg Ising, Dieter 113 f., 223, 235, 238 f., 241 Jacob, Joachim 296 Jan van Ruysbroeck 256 Jankrift, Kay Peter 91, 94, 104, 106 f., 109 f. Jean Paul ! Richter, Johann Paul Friedrich Jehn, Mathias 47, 70, 81 Jellinghaus, Theodor 361, 366 Jephune (Bruder) ! Eckerlin, Samuel Johannes, apok. Seher 385 f., 392
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Johannes, Evangelist 318 Joris, David 183, 199 Jotham (Bruder) ! Eckerlin, Gabriel Jud, Karl 394 Juncker, Johann 11, 14, 72, 74, 77, 132, 147 f., 152, 158, 202, 229 Jung (Junge, Jungius), Hermann 373 Jung, Margu8rite Isabelle 135 Jung[-Stilling], Johann Heinrich 15, 180, 197, 201, 207 f. Jurgensen, Manfred 45 Jürgensen, Renate 95, 99, 110 Jütte, Robert 118–121, 124, 146 Kaiser, Gerhard 297 Kallinich, Günter 402, 406 Kämpf, Dorothea 119 Kämpf, Friedrich Gustav 135 Kämpf, Georg Paul 119 Kämpf, Jakob Wilhelm 135 Kämpf, Johann(es) 119–123, 130, 133, 135, 138, 140 Kämpf, Johann [Sohn] 12 Kämpf, Johann Ludwig 12 Kämpf, Johann Philipp 5, 12, 79, 113–141, 202, 226 Kämpf, Maria Johanna Louysa 119 Kämpf, (Maria) Susanna 119, 125 Kämpf, Wilhelm Ludwig 119, 130, 133–135, 138, 140 Kanne, Johann Arnold 180, 187 f., 190, 196–198, 204–206, 208 f. Kant, Immanuel 35, 51 Kantorowicz, Ernst 163 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 186 f. Kanz, Johann Conrad 12 Katharina von Siena 345 Kathe, Heinz 287 Kawerau, Gustav 349 f. Keitsch, Christine 162 Keller, Gottfried 387 Kemper, Hans Georg 63, 233, 257 Kempis ! Thomas von Kempen Kerner, Georg 159
420
Personenregister
Kerner, Justinus 13, 183, 186, 188, 194 f., 200–202, 204, 206–208, 241, 245 f. Kerner, Theobald 206 Kettering, Denise Danielle 111 Khun, Johann Caspar 136 Kinzelbach, Annemarie 5, 91, 94, 103 f., 106 f., 109–111 Kirn, Hans-Martin 55, 63, 167, 180 Kleist, Heinrich von 186, 192, 200 f., 206, 208 Klettenberg, Remigius von 229 Klettenberg, Susanna Catharina von 12, 126, 229–233, 373, 393, 398 Klopfer, Balthasar Christoph 185 Klopstock, Friedrich Gottlieb 296 f. Knieriem, Michael 47, 78, 129, 205 Knod, Gustav Carl 116 Koch, Daniel Emil 130, 133 Koch, Eduard Emil 116 Koch, Eleonore Magdalena 133 Koch, Walter 115, 117, 119, 125, 138 Koep, Leo 318 Kögel, Rudolf 363 Kohler (Pfarrer) 78 Köhler, Walther 27 Köhler, Werner 118 Köllner, Karl und Maria 246 Kollak, Ingrid 186, 199, 201 f. Koloch, Sabine 380 König, Christian Christoph 124 Kormann, Eva 46 Korte (Inspirierter) 78 Kosˇenina, Alexander 68 Krafft, Fritz 31 Krahl, Theodor 71, 78 Kramer, Gustav 381 Kriechbaum, Karl Ludwig 130, 133, 138 Krieger, geb. Busch, Elisabeth 397 Kriegk, Georg Ludwig 46, 54, 70 f., 78, 80 f., 132 Kröger, Rüdiger 6, 303, 307, 313 f. Kroh, Andreas 47, 64 Krügelstein, Johann Friedrich 147 f. Krüger, Kersten 145, 161
Kuby, Alfred H. 119, 121 Kullen, Albrecht 376 f. Kullen, Eberhard 375 f. Kullen, Erika 373 Kullen, Johannes 376 f. Kullen, verh. Schäfer, Mina (Martina Christiana) 374 Kullen, Siegfried 373 Kullen (Familie) 374–377, 381, 397 Kumm, Karl Wilhelm 366 f. Kummer, Ulrike 223 Kunz, Carl Friedrich 188 f. Lackmann, Peter 291 Lagny, Anne 6, 57, 104, 165 f. Lamberts, Imme (Hemme Hayens Frau) 181, 198 f., 208 f. Lamech (Bruder) ! Gaas, Jacob Lämmert, Eberhard 379 Lang, Gottlob 395 Lang, Johann Michael 94–96, 102, 106 Länge, Georg 373–398 Lange, Joachim 49, 291 Lange, Johann Christian 291, 294 Langen, August 195, 289, 298, 379, 382, 384, 394 f. Langer, Ernst Theodor 230 f., 233 Lauer, Andreas 138 Laux, Gerd 140 Lavater, Anna 209 Lavater, Johann Caspar 135, 207, 209 f., 325–328 Lavoisier, Antoine 222 Leade, Jane 182, 184 Lehmann, Hartmut 179 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 169 Leonardo da Vinci 380 Leonardy, Ernst 186, 199 Lepinthe, Christian 199 Leser, G8rard 115 Lessing, Gotthold Ephraim 148 Leven, Karl-Heinz 146 L8vi-Strauss, Claude 178 Lichtenberg, Georg Christoph 51
Personenregister Lidzbarski, Marl 319 Liebe, C. (Maler und Porträtist) 44 Lieburg, Fred A. 314 Linsenmann, verh. Oetinger, Christiana Dorothea 373 Liscow, Christian Ludwig 145 Löber, Karl 52 Loch, Werner 205 Locher, Johann Heinrich 99 Locke, John 33, 152 Löffler, Katrin 53, 166 Löscher, Caspar 284, 286 Löscher, Valentin Ernst 281 f., 286, 291 Lotz, Friedrich 125 Louis XIV., König von Frankreich 120 Lübben, Heye 181 Lückel, Ulf 6, 47, 64, 126, 223, 225 Lüders, Detlev 229 Luginbühl-Weber, Gisela 207 Luther, Martin 82, 171, 174, 286, 306, 317, 350, 366, 392 Macchiavelli, Niccolk 21, 88 MacDonald, Gerald 211 Mack, Alexander, jun. 213–215 Mack, Alexander, sen. 213 f. Mack, Rüdiger 27 Mack, Valentin 214 Mahrholz, Werner 188, 190 f. Maier-Petersen, Magdalene 63 Mainz, Johann Friedrich Karl, Erzbischof von 128, 139 Maio, Giovanni 25 Malebranche, Nicole 169 Mandeville, Barnard 51 Mann, Gunter 64 Marcard, Hinrich Matthias 209 Marche, Christian Gottfried 312 Maria, Mutter ! Eicher, Maria Marsay, Charles Hector, Marquis de 47, 79, 200, 207 f. Marschall, Veronika 5, 47, 69 f., 81 Martens, Wolfgang 59 Martin, Jacob 6, 211, 214, 218–222
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Martin, Lucinda 111 Maskowsky, Wilhelm Ludwig 116 Maternus de Cilano, Georg Christian 159 Matthews, William 46, 68 Matthias, Markus 6, 175, 255, 259 Mauchart, Immanuel David 114 f., 128 Mäußli ! Müslin, Johann Heinrich McMullen, Dianne Marie 292 Mead, Richard 158 Meckel, Johann Friedrich 159 Meier, Marcus 213 Meier, Pirmin 232 Mejer, Andreas 395 Melodius ! Bernd, Adam Bernd Mendel, Andreas Martin 37 Merlau, Johanna Eleonora ! Petersen, Johanna Eleonora Mesmer, Franz Anton 186, 193, 199, 202, 207, 209 Messerli, Alfred 6, 317 Mettele, Gisela 311 Metternich, Ernst von 109 Metting, Katharina Rebekka 47 Metz, Franz 229 Metz, Johann Friedrich, jun. 6, 12, 126, 223 f. Metz, Johann Friedrich, sen. 228 f. Meusel, Johann Georg 132 Meyer, Dietrich 287, 304, 310 Meyer, Johann Friedrich von 201, 208 Meyer-Habrich, Christa ! Habrich, Christa Meynert, E. 145 f., 159 Mezger, Magdalena Euphrosina 103 Michaelis, Christian Friedrich 140 Michaelis, Edgar 247 Michel, Reinhard 125 Middelfort, Erik H. C. 250 Miersemann, Wolfgang 6, 12, 279, 281 f., 284, 286 Miller, Peter (Bruder Agrippa) 211, 214 f. Modrow, Irina 104 Mohr, Rudolf 185, 188
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Personenregister
MoliHre, Jean Baptiste Poquelin 172 Möller, Georg Christoph 93 Montaigne, Michel Eyquem de 145, 167 Moody, Dwight Lyman 351, 355 Moraw, Peter 27 Moritz, Johann Friedrich 233 Moritz, Karl Philipp 68, 114, 166–168, 192 Mose(s), bibl. Erzvater 385 Moser, Friedrich Carl von 116 Moser, Johann Jacob 129 Mozart, Wolfgang Amadeus 373 Mücke, Marion 96 Müller, Adam 186 Müller, Burkhard 374 Müller, Gerhard Andreas 132 Müller, Gottfried Polycarp 312 Müller, Günther 393 Müller, Heinrich 58, 287, 370 Müller, Johann Daniel 227 Müller, Johann Friedrich Wilhelm 125 Müller, Johann Georg 328 Müller, verh. Busch, Emilie („Emmi“) 397 Müller, Michael 291 f. Müller, Zacharias 125 Müller-Jahncke, Wolf-Dieter 7, 179, 401 Mulsow, Martin 148 Münchinger, Karl 385 Münter, Balthasar 161 f. Musa, Antonius 25 Müslin, Johann Heinrich 78 Nagel, Johann Ludwig 138 Naujoks, Horst 46 Neander, Joachim 279 Nehracher, Heinrich 337 Neisser, Friedrich Wenzel 229 Neßler, Johann Georg 155, 159 Neumann, Caspar 169 Neumann, Peter Horst 410 f. Neumann, Therese 205 Neumeister, Erdmann 285 f. Newton, Isaac 52, 199
Ney, Elly 402 Nied, Rudolf 219 Niederer, Johannes 338 f. Niekus Moore, Cornelia 204 Niese, Charlotte 143 Nieuwentijt, Bernhard 208 Niggl, Günter 46, 68 Noth, Isabelle 43, 234 Novalis ! Hardenberg, Friedrich Leopold, Freiherr von Nusbiegel, Georg Paul 388 Nüscheler, Johann Conrad 324 Oetinger, Friedrich Christoph 12, 63, 113 f., 116 f., 126, 130–132, 137 f., 186, 193, 199–203, 205 f., 208, 223–234, 373 f., 379, 383–385, 389–394 Oetinger, geb. Linsenmann, Christiana Dorothea 373 Oetinger, Gottlieb Friedrich 390 Offeney (Inspirierter) 138 Ohlemacher, Jörg 361 Ohly, Konrad 393 Onesimus (Bruder) ! Eckerlin, Israel Ong, Walter J. 45 Opitz, Martin 166, 275 Orl8ans, Elisabeth-Charlotte, Duchesse de 120 Oswalt, Else 48 Otte, Hans 410 Pagel, Walter 179 Panning, David 148 Pape, Gertrud 396 Paracelsus, Theophrastus Bombastus von Hohenheim 38, 179, 193, 232 Park, Chong-So 256, 274 Paschen, Ulrich 155 Passern, von (Inspirierter) 138 Pasteur, Louis 117 Paul, Norbert 160 Paulus, Apostel 385 f. Peistel, Carl Heinrich von 314
Personenregister Pelloutier, Jacob 147 Penn, William 111 Penn-Lewis, Jennie 361 Perckentien, Gebhard Ulrich von 147 Petersen, Johann Wilhelm 73, 291, 294, 297 Petersen, Johanna Eleonora 73, 111 Petrarca, Francesco 167 Peucker, Paul 230, 233, 304 Peyer, Salomon 130, 133–135, 138 Peyer, Salomon d.Ä. 137 f. Pfaff, Christoph Matthäus 228 Pfaff, Johann Christoph 92 Pfaff, Peter 230 Pfäfflin, Friedrich 201 Pfaffmann, Anton 125 Pfalz, Liselotte von der ! Orl8ans, Elisabeth-Charlotte, Duchesse de Pfalz-Zweibrücken, Christoph III., Herzog von 119 Pfalz-Zweibrücken, Gustav Samuel, Herzog von 119 Pfeiffer, Almut 381 Philostorgius 293 Piderit, Philipp Jacob 140 Piepmeier, Rainer 223 Pietsch, Roland 200 Piller, Gudrun 51 Plitt, Johann Jacob 83 Ploennies, Johann Samuel von 78 f., 124 Pockels, Carl Friedrich 167 f. Pomata, Gianna 96, 98 Portwich, Philipp 146 f. Potinius, Benjamin 183 f., 196, 198 f., 206 Potinius, Conrad 183 Pott, Sandra 32 Priestly, Josiah 222 Profe, Gottfried 149 Propp, Vladimir Jakovlevicˇ 388 Prueschenk von Lindenhofen, Karl Sigismund 12, 47, 78 f., 129, 205
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Purmann, Johann Georg 83 Pyra, Immanuel Jacob 296 f. Qualen, Henning von 147, 159 Quast, Elisabeth 110 Quintilian (Marcus Fabius) 394 Raabe, Paul 381 Raabe, Wilhelm 410 Rabener, Gottlieb Wilhelm 145 Rahel, bibl. Erzmutter 171 Raisig, Gerhard Johannes 230 Ramm, Heinz 181 Rango, Conrad Tiburtius 281, 290 f., 293 f. Rantzau, Catharina, Reichsgräfin zu 153 Rantzau, Hans, Graf zu 153 Rantzau, Schack Carl, Reichsgraf zu 148, 153 Rapp, Georg 240 Rastelli, Enrico 409 Rau, Tilman Tassilo Rupert 97 Rauscher, Julius 374 Rauwolf, Leonhard 92 Reich, Johann Jacob 78 Reichel, Jörn 306 f. Reimann, Georg Friedrich 103 Reimarus, Hermann Samuel 148 Reimarus, Johann Albrecht Heinrich 148 f. Reineck, Friedrich Ludwig 132 Reitz, Johann Henrich 44, 47, 78, 169, 182–184, 187 f., 191–193, 197–200, 206, 299, 317 Reupke, Hansjörg 157 Rexrath, (Johann) Jacob Hartmann 79, 129 Richter, Christian Friedrich 11 f., 14, 158, 279, 291 Richter, Georg Gottlob 84 Richter, Johann Paul Friedrich 188 Riederer, Peter Franz 140 Rist, Johann 298 f. Ritter, Johann Jacob 127, 129
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Personenregister
La Rochefoucauld, FranÅois de 145 Rock, Johann Friedrich 43, 78, 117, 137–139, 205, 224, 300 Roederer, Johann Georg 159 Roehrich, Timotheus Wilhelm 115 Roelcke, Volker 180 Roentgen, David 200 Rohrbach, Julius 363 Römer, Jgfr. (Somnambule) 201 Roos, Merethe 162 Roques, Jean Christophe 138 Rosenbach, Johann Georg 94 Rosenberg, Alfred 370 Roth, Erich Ernst 280 Rothschuh, Karl Eduard 121 f. Rousseau, Jean-Jacques 145, 167, 319 Rudert, Erwin 251 Rudolph, Ebermut 250 Rüdiger, W. 115, 125, 127 f., 133, 135, 138, 140 Ruisinger, Marion Maria 5, 7, 91, 94, 104, 106 f., 109 f., 403, 405, 409 Rustige, Heinrich Franz Gaudenz von 388 Ruysbroeck ! Jan van Ruysbroeck Ryhiner, Johann Heinrich 130, 134, 138 Sahmland, Irmtraut 5, 9 f., 19, 25, 30 f., 33–37, 42 f., 64, 77, 87, 96, 100, 108, 113, 247, 410 Salomo, bibl. König 191, 259, 379 Salzmann, Johann 116 Saltzmann, Philipp Jacob 78, 88 Sandoz, Abram Louis 331, 338 Sangmeister, Ezechiel 211 f., 214, 216, 218, 221 Sankey, Ira D. 351 Sarasin, Jacob 320 Sartorius, Christoph Friedrich 391 Sauder, Gerhard 9, 187 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Casimir Graf zu 77, 144, 225 Schade, Georg 148 Schade, Johann Caspar 291
Schäfer, (Gottlob) Gerhard 199 f., 388 Schäfer, geb. Kullen, Mina (Martina Christiana) 374 Schäfer (Töchter von Mina Schäfer) 376, 378 Scharfenberg, Joachim 247 Schatull, Nicole 233, 309 Schauer, Eva Johanna 224 Schäufele, Wolf-Friedrich 228 Scheffbuch, Klaus 374 Scheffbuch, Rolf 374 Scheffbuch (Buben) 376, 378, 394 Scheffler, Johannes (Angelus Silesius) 298 f. Schelling, Friedrich Wilhelm (Joseph) von 13, 379 Scheuner, Gottlieb 128, 130,132, 137, 139, 314 Schian, Martin 145 Schicketanz, Peter 47 Schiffner, Conrad-Jacob 97 Schilling, Christian 376 f., 381 Schilling, Johann 215 f. Schimmelmann, Adelaide, Gräfin von 362 Schimmelmann, Adeline, Gräfin von 7, 359–369 Schimmelmann, Ernst, Graf von 362 Schimmelmann, Heinrich Carl von 362 Schimmelmann, Paul Fredrik 360, 364 Schindler, Barbara 212 Schindler, Günter (oder Gustav) 145 Schings, Hans-Jürgen 53, 63, 166, 170 Schinz, Hans Rudolf 324 f. Schipperges, Heinrich 50 Schlaaf, Henning Nikolaus Johannes 130, 132, 137 f. Schlette, Magnus 46 Schlifke, Reinhard 147, 154, 157, 159 Schlosser, Johann Georg 162 Schlumbohm, Jürgen 247 Schmid, August 129 Schmid, Gary Bruno 250 Schmid, Georg 385, 388
Personenregister Schmid, Pia 205 Schmidt, Johann Georg 133 Schmidt, Johann Lorenz 75, 148 Schmidt, Martin 255 Schmidt-Brentano, Antonio 110 Schnalke, Thomas 7, 96, 405 Schneider, Hans 47 f., 64, 108, 137, 212, 223, 226, 230, 256 Schneider, Karl 187 Schneider, Robert 379 Schneider, Ulf-Michael 43, 47, 73, 137 f., 224, 234, 300, 314 Schneider-Böcklen, Elisabeth 304 Schneiders, Siegfried 53 Schniewind, Julius 249 Schnurr, Jan Carsten 180 Schöffler, Herbert 166 Scholl, Johann Eberhard 185 Schönberg (Philadelphier in Hannover) 182 Schönborn, Sibylle 45, 46, 48 f., 51, 67 Schöne, Albrecht 195, 275, 390 Schott, Heinz 186, 201 f., 208 Schrader, Hans-Jürgen 5–7, 9 f., 13, 31, 33–35, 43 f., 47, 73, 76 f., 80, 126, 133, 135, 139, 141, 144, 167, 169, 179 f., 182–189, 191 f., 195, 200, 202, 204–208, 210, 213, 222, 226, 230 f., 233 f., 280, 289, 299 f., 303, 306, 314, 346, 409, 411 Schrader, Johann Hermann 284, 289 Schremmer, Bruno 191 Schrenk, Elias 7, 355–358, 361, 369 Schröder, Johann Heinrich 291 Schröder, Sophia Tranquilla 291 Schröder, William, Freiherr von 256 Schubert, Gotthilf Heinrich 13, 186–188, 194–197, 200 f., 203, 206 f., 210 Schulte, Walter 247 Schultz, Johann Heinrich 247 Schütz, Christoph 47, 73, 79, 124, 126, 129, 223
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Schütz, Johann Jacob 47, 73, 79 f., 99, 223, 279 Schütz, (Maria) Catharina 79, 124–126, 223 Schütze, Ingo 103 Schweitzer, Friedrich 204 Schwinge, Gerhard 201, 208 Sciver, Christian 58, 183, 321 f., 387 Seeber, Kurt 201 Seeberg, Erich 272, 275 Segner, Johann Andreas von 84 Senckenberg, Anna Margaretha, geb. Raumburger 54–57, 61 f., 64, 66, 73 Senckenberg, Antonetta Elisabetha, geb. Rupprecht 80 Senckenberg, Catharina Rebekka, geb. Mettingh 79 f. Senckenberg, Heinrich Christian, Freiherr von 84 Senckenberg, Johann Christian 5, 11, 15 f., 45–91, 124, 127, 130, 132–134, 155 Senckenberg, Johann Hartmann 55–57, 66, 73 f. Senckenberg, Johanna Rebecca, geb. Riese 79 f. Senckenberg, Otto Rudolph 85 Senckenberg, Renatus Leopold Christian Karl, Freiherr von 69, 78, 83 Serkova, Polina 58 Shimbo, Sukeyoshi 208 Showalter, Michael 222 Siefert, Helmut 201 Silber, Käte 326 Simmern, Elisabeth-Charlotte, Gräfin von ! Orl8ans, Elisabeth-Charlotte, Duchesse de Sindlinger, Peter 114 Smit, Menno 181 Smith, Pearsall R. 363 Snorrason, Egill 145 Soboth, Christian 257
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Personenregister
Söhlenthal, Georg Wilhelm, Reichsfreiherr von 159 Sölle, geb. Nipperdey, Dorothee 383 Sonntag, Marcus 149 Spalding, Georg Ludwig 209 Spalding, Johann Joachim 209 Spangenberg, August Gottlieb 308 f. Spangenberg, Peter 351 Sparn, Walter 108, 179 Spazier, Karl 336 Spener, Christian Maximilian 12 Spener, Philipp Jacob 27, 55, 63, 73, 111, 169, 185, 379, 383, 398 Spilger, Ludwig 52 Spindler, Guntram 200 Spinoza, Baruch de 42, 148 Spitz, Felix 93 f., 110 Spitz, Margaretha Catharina 93 Spizel, Gabriel 44 Splinter, Susan 91, 93 f., 97, 101 Sprengel, Kurt 140 Spurgeon, Charles Haddon 7, 349–355, 361, 369 f. St., P. (Brunnenmacher in Mülheim/ Ruhr) 317 Staehelin, Ernst 186, 209 Stahl, Eva 38 Stahl, Georg Ernst 11, 14, 20 f., 26, 28, 31 f., 40, 42, 61, 74, 94, 97 f., 103, 106,116, 132, 158, 161, 229 Stahläcker, Reinhold 228 Stählin, Traugott 255, 258, 270 Starkey, George 99 f. Steel, Richard 323 Steiger, Robert 162 Stein, Baron von (Inspirierter) 137 Stein, Johann Adam 186 Steinhofer, Friedrich Christoph 373 f., 398 Steinke, Hubert 52 Steinmetz, Hieronimus Pius 388 Steinmetz, Johann Andreas 388 Stemme, Horst 195 Stenzel, Jürgen 12
Stier, Johann Caspar Theophil 48, 78 Stiles, Joseph C. 215 Stockhorst, Stefanie 35 Stockmayer, Otto 361 Stoecker, Adolf 363 Stöhr, Johann Christoph 312 Stolberg, Michael 22, 25, 104 Stolberg-Gedern, Friedrich Carl, Graf zu 147 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold, Graf zu 153 Strahlenheim, Henning von 118 Sträter, Udo 185 Struensee, Adam 144, 147, 157, 162 Struensee, Johann Friedrich 5, 12, 143–163 Struensee, Maria Dorothea, geb. Carl 144 Struve, Christian August 36, 40 Stubenberg, Johann Wilhelm, Freiherr von 380 Stukenbrock, Karin 103, 155 Sturm, Beate 189 Suchrecht (Separatist) 78 Suphan, Bernhard 167 Supper, Sophie 239 Süßmilch, Johann Peter 156 Swammerdam, Jan 195, 197, 204 Swedenborg, Emanuel 227 Swift, Jonathan 151 Sydenham, Thomas 158 Sylvius, FranÅois de le Bo[ 41 Tafel, Johann Friedrich Immanuel 227 Tappolet, Bertha 355 Telle, Joachim 226 Tersteegen, Gerhard 12, 15, 47, 79, 131, 197, 204 f., 279, 395, 410 Tgahrt, Reinhard 201 Thielicke, Helmut 349 Tholuck, Friedrich August Gottreu 187 Thomas von Kempen 183 Thomas, Ursula 186 Thomasius, Christian 92
Personenregister Thommen, Helene 337 Thoner, Augustin 105 Thums, Barbara 50, 53 Tielke, Martin 182 Tissot, Samuel Auguste David 156 f., 163 Tobler, Johannes 338 Toellner, Richard 32, 52, 67, 179 Töllner, Justinus 170 Tolstoj, Lev Nikolaevicˇ 381 Tom Jones ! Friedrich VI. Trautwein, Joachim 380, 388 Trew, Christoph Jacob 91 Tschizˇewskij, Dmitrij Iwanowitsch 381 f. Tuchtfeld, Victor Christoph 47, 78 Turgenev, Ivan Sergeevicˇ 381 Uhland, (Johann) Ludwig 373 Unzer, Johann August 51, 154, 158 Valenti, Ernst Joseph Gustav de 236 f., 239 Valentini, Christoph Bernhard 27 Valentini, Michael Bernhard 20 f., 25–30, 36, 40 f., 94 Valentinus, Basilius 218 f. Vanek, Klara 23, 41 Vasold, Manfred 146 Veit, Marie 383 Victoria I., Königin von Großbritannien 374 Viebahn, Georg von 366 Vinke, Michiel 181 f. Vogt, Peter 46, 184 Voisine, Jacques 46 Voltaire (FranÅois-Marie Arouet) 145 Volz-Tobler, Bettina 304, 327 von Brechershäusern, Jost 329 von Matt, Peter 200, 320 Voss, Karl-Ludwig 63 Wagner, A. M. 145 Wagner, Friedrich 66
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Wallmann, Johannes 179 Wanderer, Kuno 374 Wanner, Friederike ! Hauffe Washington, George 215, 222 Watt, Ian 45 Webel, Christian Gottfried 75 Weber, Max 32, 325 Weber, Peter 209 Weder, Katharine 31, 186, 232 Wegehausen, Konrad 127 Wegleiter, Christoph 99, 110 Wegleiter, Leonhard 102 Wegleiter, Sabina Elisabeth 111 Weidmann, Werner 116, 127 Weigelt, Horst 207 Weigle, Wilhelm 396 Weinrich, Harald 373 Weiß, Catharina Christiane 248 Welck, Frau von (Blumhardt-Kreis) 239 Welling, Georg von 219 Wenneker, Erich 185 Wenzel, Matthias 224 Wernsdorf, Gottlieb 284, 286 Wettstein, Emil Richard 361 Weyer-Menkhoff, Martin 227, 391 Wichern, Johann Hinrich 362 Wilhelm I., deutscher Kaiser 367 Willis, Thomas 154 Wilson, Renate 216–218 Winckler, Christoph Andreas 106, 110 Winckler, Gottfried 110 Winkle, Stefan 144–162 Wintermeyer, Rolf 166 Wirth, Ambrosius 94 f., 110 Witt, Johannes 348, 359 Wittern, Renate 100 Witzel, Jörg 79 Wöbkemeier, Rita 5, 143 Wodtke, Verena 257 Wohlfahrt, Michael (Bruder Agonius) 212 Wölfel, Dieter 186 Wolff, Christian 83, 166 Wolff, Eberhard 149, 153
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Personenregister
Wollstadt, Hanns-Joachim 309 Wulf, Jan Hendrik 148 Wunder, Heide 28 Württemberg, Antonia, Prinzessin von 224, 391 Wust, Klaus 215 f. Wuthenow, Ralph-Rainer 45 f., 67 Wyss, Felix 320 Ysenburg-Büdingen, Ernst Casimir, Graf von 43 Zedler, Johann Heinrich 171 Zeibich, Christoph Heinrich 283, 288, 291, 294
Zelle, Carsten 162 Zeller, Bernhard Eberhard 291 Zglinicki, Friedrich von 119, 123 f. Zimmermann, Hildegard 169 Zimmermann, Paul 231 Zimmermann, Rolf Christian 201, 228, 231, 234 Zinn, verh. Bornkamm, Elisabeth 392 Zinzendorf und Pottendorf, Nicolaus Ludwig, Reichsgraf von 200, 204 f., 225, 279 f., 304, 305–308, 310–314, 343, 346, 361, 374, 398 Zobel, Johann Adam 388, 391 Zsindely, Endre 141 Zumbusch, Cornelia 150