»Zwischenräume« in Architektur, Musik und Literatur: Leerstellen - Brüche - Diskontinuitäten 9783839450291

Zwischen greifbaren, sichtbaren oder hörbaren Dingen liegt oftmals ein vages, opakes und leeres »Dazwischen«, das sowohl

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Jennifer Konrad, Matthias Müller, Martin Zenck (Hg.) »Zwischenräume« in Architektur, Musik und Literatur

Mainzer Historische Kulturwissenschaften  | Band 46

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Jennifer Konrad ist Juniormitglied der Gutenberg-Akademie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Matthias Müller ist Professor für Kunstgeschichte an der Johannes GutenbergUniversität Mainz mit besonderen Forschungsschwerpunkten in den Bereichen Erinnerungskultur, politische Ikonographie und Kunst europäischer Fürstenhöfe. Martin Zenck ist emeritierter Professor für Musikwissenschaft mit Schwerpunkten in Neuer Musik und Ästhetik an der Universität Würzburg.

Jennifer Konrad, Matthias Müller, Martin Zenck (Hg.)

»Zwischenräume« in Architektur, Musik und Literatur Leerstellen – Brüche – Diskontinuitäten

Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5029-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5029-1 https://doi.org/10.14361/9783839450291 Buchreihen-ISSN: 2629-5768 Buchreihen-eISSN: 2703-0245 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

I NHALT

Einleitung ............................................................................

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Der „Zwischenraum“ als Ort des (leeren) Unsichtbaren: Abt Suger von St.-Denis, Jan van Eyck und Daniel Libeskind .................................................................. 17 MATTHIAS MÜLLER 10 Mainzer Thesen zum Verhältnis von Architektur und Musik und zum Zwischenraum ................................... 51 MARTIN ZENCK Architektonische Zwischenräume: optische und konzeptuelle Unschärfe in der dekonstruktivistischen Architektur .................................... 77 JENNIFER KONRAD Zwischenräume/Übergänge. Gestalten der Uneindeutigkeit in der „Liquid Modernity“ ........................ 107 CHRISTOPH ASENDORF Die Aufhebung des Zeitregimes. Passagen und Zwischenräume in Denis Villeneuves Film Arrival ... 137 DAGMAR VON HOFF

Zwischenräume (in) der Literatur. Überlegungen mit Blick auf Maurice Blanchot, Fjodor M. Dostojewskij und Franz Kafka ................................................................... 151 ALICE STAŠKOVÁ Postpragmatische Achtsamkeit? PostPragmaticJoy als emotionaler Zwischenzustand und Ästhetik der Postironie in Leif Randts Planet Magnon .................... 163 MARVIN BAUDISCH Einige Bemerkungen zu den ‚Zwischenräumen‘ in Anton Weberns Drei kleine Stücke für Cello und Klavier op. 11 ....................................................................... 189 MARK ANDRE Auf der Schwelle: Zwischenraum in Morton Feldmans Rothko Chapel und Crippled Symmetry ............................. 213 OLIVER WIENER Zwischen strengem Strukturalismus und vagen Wegweisern. Die Verknüpfung kultur- und gattungsgeschichtlicher Horizonte im Schaffen Bernd Alois Zimmermanns ................................................. 241 JÖRN PETER HIEKEL

Autorinnen und Autoren ...................................................... 269

Einleitung JENNIFER KONRAD, MATTHIAS MÜLLER, MARTIN ZENCK

Der Zwischenraum als semantische u nd metaphorische Uneindeutigkeit Der Begriff „Zwischenraum“ 1ist zu einem etablierten Terminus in den Geistesund Kulturwissenschaften geworden, der u. a. seit dem mit dem spatial turn verbundenen Paradigmenwechsel eine größere Aufmerksamkeit erfährt.2 Mit ihm konnte sich ein neues Raumverständnis ausbilden, wonach die Kategorie des Raums nicht mehr allein aufgrund seiner physischen Eigenschaften als Behälter oder Umschließung für eine Ausdehnung verstanden wird.3 Vielmehr entwickelt sich eine Auffassung des Raumes als dynamisches Phänomen, dessen Grenzen nicht immer sichtbar sind und ebenso fluide sein können, wie es u.a. für den virtuellen bzw. digitalen oder sozialen Raum gilt.4 Mit der Frage nach dem Raum stellt sich auch die Frage nach seinen Grenzen, nach der Grenzziehung

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Eine Verschiebung in der Auffassung des „Zwischenraums“ ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass sich zwischenzeitlich statt einer strikten Begrifflichkeit von „Raum“ und „Zwischenraum“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie (RITTER, 2007) eine von der „Unbegrifflichkeit“ (BLUMENBERG, 2007) bestimmte Konzeption eines Wörterbuchs der philosophischen Metaphern (KONERSMANN, 2007; dort der Eintrag „Raum“ von Werner Köster) weitgehend durchgesetzt hat. BURBULLA, 2015; MEHIGAN, 2013; ferner SCHLITTE, 2014. GRIMMSCHES WÖRTERBUCH, Raum, Bd. 14, Sp. 275, http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/Navigator/navigator_py?sigle=DWB&lemid=GR01528&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&sigle1=DWB&lemid1=GR01528&sigle2=DWB&lemid2=GZ14035, 27.09.2020. Jammer, 1980. Siehe u. a.: LÖW, 2001; AUGART, 2020; FUNKEN, 2003, hier insbesondere Kap. 2: Raum als kommunikatives Erzeugnis.

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von innen und außen sowie den Möglichkeiten von Grenzverschiebungen.5 Der Literaturwissenschaftler Uwe Wirth stellt fest, dass hier der Zwischenraum in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, indem er als eine materielle, zeitliche sowie imaginäre Demarkationslinie verstanden werden kann.6 Oftmals steht er den Begriffen der Schwelle, Heterotopie7 oder des Dazwischens8 nahe, wodurch der Zwischenraum allein schon durch die unklare Abgrenzung zu ebenjenen Phänomenen seine charakteristische Indifferenz zum Programm erhebt: Während die klassischen Definitionen des Zwischenraums äußerst eindeutig wirken, wenn etwa die Rede von einem „Abstand zwischen zwei Dingen“ ist, gestaltet sich ein allgemeingültiges Verständnis des Zwischenraums als äußerst schwierig – schon allein, da dieser in den jeweiligen Disziplinen z. T. eine andere Bedeutung annehmen kann.9 Daraus lässt sich schließen, dass keine universale Theorie für den Zwischenraum geltend gemacht werden kann. So heterogen die Erkenntnisse über Zwischenräume ausfallen, so sehr gestaltet sich der Zwischenraum selbst auch als Ergebnis einer immer heterogener werdenden Gesellschaft. Carsten Gansel erkennt in der seit der Industrialisierung sich stetig beschleunigenden Globalisierung ein Unterlaufen von bis dato fest etablierten Gesetzen und Normen, die einem „Prozess der Hybridisierung“ zum Opfer fallen.10 Unter ‚Hybridisierung‘ ist in der Soziologie die Verflechtung von Kulturen und Identitäten über nationale und internationale Grenzen hinaus zu verstehen. Die daraus entstehenden Übergänge als „Verbindung von Nicht-Zusammengehörigem“11 innerhalb eines Raumes bedeutet insofern eine Form des Dazwischens, als dass Grenzen politischer, ökonomischer und sozialer Art sich in einer stetigen Dynamik verschieben, dadurch verabsolutierte Regeln und Leitsätze in eine Vielzahl von Relationen zersplittern, die sich allerdings

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ACHILLES/BORGARDS/BURRICHTER, 2012. WIRTH, 2012, S. 7-34, S. 7. FOUCAULT, 1993, S. 39. BHABHA, 2000. Duden „Zwischenraum“. Vgl. auch: GRIMMSCHES WÖRTERBUCH, Zwischenraum, Bd. 32, Sp. 1365: „der zwischen zwei personen, personengruppen, körperteilen, geographischen begriffen oder gegenständen liegende raum bezw. deren abstand voneinander […].“ 10 https://www.carsten-gansel.de/wp-content/uploads/2019/09/Stoerungen-imRaum_Februar_2011.pdf, 23.09.2020. Siehe auch GANSEL, 2012. 11 EBD.

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aufgrund ihres Reflexionspotenzials stetig wechselseitig antreiben können.12 Dieser Umstand zeitgenössischer Lebensbedingungen, der im Zeichen der Pluralität steht, legitimiert einerseits die Auseinandersetzung mit Zwischenräumen in allen wissenschaftlichen und auch alltäglichen Bereichen. Andererseits lässt sich gerade aus diesem Grund nicht mehr auf eine einheitliche, eindeutige Definition des Begriffes verständigen. Insofern ist der Zwischenraum nicht zuletzt auch ein genuin (post-)modernes Phänomen.

Zwischenr äume als interkulturelle Phän omene in der Kunst, Musik und Literatur Seit geraumer Zeit werden in den Geistes-, Kultur- und Medienwissenschaften binäre Gegensätze (bspw. Kultur/Natur, Präsenz/Absenz, Harmonie/Chaos) nicht mehr getrennt voneinander in einer Rangordnung betrachtet, bei der ein Aspekt zugunsten des anderen als besser oder natürlicher beurteilt wird.13 Stattdessen werden sie multilateral über eine „dritte Figur“14 in eine Spannung gesetzt, die die unabdingbare Wechselseitigkeit solcher Oppositionen betont. Widersprüche und polyvalente Strukturen werden gegenüber den klassischen, kontinuierlichen und einheitlichen Produktionsmöglichkeiten bevorzugt. Zwischenräumliche Ereignisse entstehen somit oftmals in Verbindung mit Brüchen, die speziell auf ein vermeintlich eindeutiges Verhältnis hierarchischer Gegebenheiten abzielen. Vor allem seit dem 20. Jahrhundert widmen sich die Wissenschaften derartigen Phänomenen: Opazität, Ambiguität und dadurch erzeugte Schwellen dienen dazu, eine immer pluralistischer werdende Welt mit neuen Mitteln der Darstellung zu repräsentieren und zugleich die Komplexität moderner Erkenntnis und Kommunikation zu reflektieren. Zwischenräume als „Räume der Störung“15 oder „Differenzen zwischen Ort und Nicht-Ort“16 entwickeln sich zu von der Norm abweichenden Ereignissen, welche ein Aushalten und Aufzeigen von ursprünglich sich ausschließenden Polen bzw. eine 12 ENGELMANN, 1987, S. 107: „Entsprechend den Kontexten kann man die Regeln der Dekonstruktion gewinnen, relative Regeln, die eine relative Allgemeinheit haben […].“ Siehe auch Spielmann, 2010. 13 DAHLERUP, 1998, S. 38. 14 EßLINGER, 2010; BHABHA, 2000. 15 GANSEL, 2012. 16 WIRTH, 2012, S. 9; AUGÉ, 2014.

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Dynamisierung von Sachverhalten implizieren. Dieses Verständnis folgt einem Denken der Differenz, wie es u.a. Jacques Derrida im Zuge des Poststrukturalismus seit den 1960er Jahren entwickelte. Derrida proklamiert eine „zukünftige Epoche der Differenz“, die auf einem Denken als „neutraler […], weißer Zwischenraum“ im Sinne eines Index, einer Spur, basiert.17 Derrida nimmt hier Bezug auf die espaces blancs18 von Stéphane Mallarmé, jenen räumlichen Leerstellen zwischen den Zeichen im Text, die ebenso wichtig zur Produktion von Sinn sind wie die Zeichen selbst. Jene Vorstellung eines Dazwischens von Bezeichnetem und Unbezeichnetem als unabdingbare Wechselbeziehung übertrug sich nicht nur auf die Literatur, sondern auch auf Musik, Kunst und Architektur. Aufgrund ihres selbst- und fremdreflexiven Potenzials sind solche Medien dazu in der Lage, statische Grenzen und Normen zu überschreiten und dadurch Zwischenräume zu inszenieren, welche auf semantischer, visueller und akustischer Ebene erfahrbar werden.19 Der vorliegende Tagungsband widmet sich jenen diversen Phänomenen des Zwischenraums, die einerseits kontextuell in den jeweiligen Disziplinen entwickelt werden, andererseits transdisziplinär auf ähnliche Problemstellungen verweisen. Er versammelt Texte, die aus einem 2019 stattgefundenen, interdisziplinär angelegten Studientag am Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Kooperation mit dem Institut für Musikforschung der Justus-Maximilians-Universität Würzburg hervorgehen. Der Studientag ermöglichte es, in einem fachübergreifenden Austausch in kulturhistorischer Perspektive zu erkunden, wie Zwischenräume als eine Form alternativer Ästhetik unsere Gesellschaft im Allgemeinen und unser Verständnis für die Architektur, Musik und Literatur im Speziellen prägen. Mit unterschiedlichen theoretischen Zugängen werden im vorliegenden Band in verschiedenen Bedeutungsdimensionen Varianzen des Zwischenraums in Form von Schwellen und Hybriden, Dichotomien und Leerstellen als auch Brüchen und Diskontinuitäten in Konzepten künstlerischer, musikalischer und literarischer Art erkundet. Alle Beiträge versammeln sich um die zentrale Forschungsfrage, wie und warum diese Zwischenräume in der Produktion und Rezeption sichtbar werden und welche Bedeutungskontexte sie entfalten. Wie prägen Zwischenräume unsere Wahrnehmung und welche Effekte üben sie auf 17 DERRIDA, 1983, S. 170. 18 MALLARMÉ, 1976. 19 LUHMANN, 1997, S. 118: Wenn Irritationen auftreten, so findet ein „interne[r] Vergleich von (zunächst unspezifizierbaren) Ereignissen mit […] vor allem […] etablierten Strukturen, mit Erwartungen“ des Systems statt.

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Einleitung

diese aus? Aufgrund des Zusammenhangs von Zwischenräumen und Brüchen wird daher auch untersucht, inwiefern verschiedene Formen von Devianzen Zwischenräume entstehen lassen und welche Verfahren von Sichtbarmachung solcher Unorte20 es gibt. Wie verhalten sich Raum und Zeit innerhalb solcher Diskontinuitäten? Ziel dieser Publikation ist es, das Vorhandensein bzw. die Inszenierungen von Zwischenräumen als Erkenntnis- und Rezeptionsmedium in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu untersuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen und für die Kulturwissenschaften Potentiale sowie Probleme von Zwischenräumen zu diskutieren. Die Autorinnen und Autoren der hier zusammengeführten Aufsätze erarbeiten einerseits ein jeweils spezifisches methodisches Feld ihres jeweiligen Faches und machen andererseits auf bemerkenswerte Art und Weise auf eine Interkontextualisierung oder Hybridisierung der Disziplinen aufmerksam. Übergänge von Bildender Kunst und Architektur, Architektur und Musik, Musik und Literatur, aber auch von Architektur und Philosophie, Film und Linguistik werden in allen Beiträgen als ein zentrales Thema sichtbar. Matthias Müller untersucht anhand der Deutung der Abteikirche von St. Denis durch Abt Suger, der Raumstrukturen in Jan van Eycks Dresdner und Genter Altar sowie Daniel Libeskinds Jüdischem Museum Berlin das Thema der „Zwischenräume“ als ein historisches, über die Epochen- und Gattungsgrenzen hinweg gültiges Forschungsproblem. Hierbei lassen sich raumbezogene kulturelle Vorstellungen im Kontext des mittelalterlichen Kirchenbaus oder der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Andachtsbilder auf beziehungsreiche Weise mit den architekturphilosophischen Konzepten zeitgenössischer „dekonstruktivistischer“ Museumsarchitektur verbinden. „Zwischenräume“ sind hier weder utopische Orte im Sinne von Thomas Morus, noch Heterotopien im Sinne Michel Foucaults, sondern gewissermaßen Leerstellen oder Platzhalter für den sinnlich-mental nicht fassbaren Raum einerseits des theologisch definierten Numinosen, d.h. der Unbegreifbarkeit göttlicher Wirkmacht, und andererseits der geschichtsphilosophisch begründeten Aporie, d.h. der unhintergehbaren Beschränktheit und Begrenztheit menschlicher Welterkenntnis und Welterklärung - gerade auch angesichts der Unbegreifbarkeit von Katastrophen wie dem Holocaust bzw. der Shoa..21 Die Beziehung zwischen Architektur und Musik zeichnet sich auf verschiedenen Ebenen in den zehn Thesen zum Zwischenraum von Martin Zenck ab. Ausgehend von der engen, seit der Antike entwickelten Verbindung von Proportions- und Harmonielehre 20 Vgl. dazu maßgeblich den Forschungsband Däumer/Gerok-Reiter/Kreuder, 2010. 21 S. den hier vorliegenden Beitrag von Matthias Müller.

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für Raum und Klang werden u. a. die kinästhetischen und -akustischen Erfahrungen von Konzertsälen in Verbindung mit Kompositionen analysiert. In diesem Verhältnis von Architektur und Musik können Spuren entdeckt werden, die in den Zusammenhängen von Raum und Klangspur in der Architektur von Daniel Libeskind22 und Luigi Nono ihren Ausgangspunkt genommen und sich dann in der Auswirkung zu einem die Künste wie die Literatur verbindenden neuen Konzept des „Zwischenraums“ entwickelt haben.23 Als architektonische Zwischenräume können nicht mehr nur Treppen, Flure oder Aufgänge im Sinne von transitären Räumen gelten. Jennifer Konrad zeigt auf, wie die dekonstruktivistische Architektur im Sinne einer Derridaschen ‚Verräumlichung‘ die eindeutigen Beziehungen zwischen architektonischen Elementen als Zeichen und deren Bedeutung auflöst. Hier unternimmt Peter Eisenman mit seiner Methode namens blurring den Versuch, eine unscharfe Architektur zu entwickeln, die sich einer semantischen Eindeutigkeit entzieht.24 Die Grenzen der Architektur beginnen jedoch bereits in der Moderne zu verschwimmen: Konkrete Raumfunktionen und räumliche Zuschreibungen lösen sich auf, Innen- und Außenräume beginnen sich wie Membranen zu durchringen. Anhand der Architektur zeigt sich hier die moderne Auflösung einer gesamtheitlichen Determiniertheit von Regeln, welche die bislang unhinterfragten Sicherheiten in Zustände des Dazwischens versetzt, wie es Christoph Asendorf nachzeichnet.25 Räumliche als auch zeitliche Zwischenräume können auch auf der filmischen Ebene realisiert werden, bspw., wenn intradiegetische Zwischenräume im Sinne eines Transits szenisch auf die extradiegetische Kinoleinwand als Membran oder Schwelle zwischen Zuschauer und Film hindeuten. Dagmar von Hoff zeichnet am Film Arrival nach, wie mittels einer Aufhebung chronologischer Zeitfolge Passagen zwischen menschlichem und außerirdischem Sprachverständnis entstehen. Dabei spielt ebenso der Einsatz von Musik eine zentrale Rolle, welcher Zeit-, Film- und Rezeptionsebenen auflöst. Literarische Zwischenräume sind seit dem oben genannten spatial turn anhand diverser narratologischer und poetologischer Formen nachweisbar. In der Literaturwissenschaft hat sich bereits früh Jurij M. Lotman mit räumlichen Strukturen auch hinsichtlich des Zwischenraums beschäftigt.26 Alice Staskova 22 23 24 25 26

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Vgl. HEß, 2013, S. 149-204. S. den hier vorliegenden Beitrag von Martin Zenck. S. den hier vorliegenden Beitrag von Jennifer Konrad S. den hier vorliegenden Beitrag von Christoph Asendorf LOTMAN, 1993; LOTMAN, 1984/1990.

Einleitung

erörtert auf der Grundlage von Maurice Blanchots Buch L‘espace littéraire anhand von literarischen Modellen von Fjodor M. Dostojewski und Franz Kafka die Entfremdung des Subjekts qua Raumstörungen und Zwischenräumen, deren Sinnerzeugung darüber hinaus auf den Erkenntnissen der espaces blances von Mallarmé beruhen. Anhand von Leif Randts Roman Planet Magnon untersucht Marvin Baudisch Randts Konzept der ‚PostPragmaticJoy‘ als emotionalen Zwischenzustand, wie er etwa in gegenwärtigen Achtsamkeitsratgebern versprochen wird und sich zugleich durch die Aufhebung widersprüchlicher Rezeptionsphänomene im Sinne einer postironischen Ästhetik auf den impliziten Leser übertragen soll.27 Mallarmés espaces blances haben nicht nur neue Erkenntnisse in der Literatur hervorgebracht, sondern wurden ebenso in der Musik aufgegriffen. Der französische, in Berlin lebende und in Dresden lehrende Komponist Mark Andre unternimmt eine Analyse von Anton Weberns Drei kleine Stücken op. 11 für Cello und Klavier und erarbeitet eine philosophische Dimension des Dazwischen in Bezug auf die „blancs“ von Stéphane Mallarmé, die auf die Pausen , Fermaten und geräuschhaften Passagen des Werks übertragen werden können.28 Zwischenräume bilden sich im Feld der Musik nicht nur durch Überschneidungen von Linearitäten und Diskontinuitäten, die zu klanglichen Unschärfen führen – sie markieren ebenso die Auflösung medialer Grenzen zwischen Musik, Kunst und Kultur und erschaffen ferner kulturgeschichtliche, transdisziplinäre Zwischenräume.29 So lösen sich die Grenzen zwischen Bild und Musik in Morton Feldmans Werk Rothko Chapel auf. Oliver Wiener erörtert Feldmans Kompositionen in Hinblick auf die Musik als Ort des Dazwischens und zeigt detailliert auf, wie im Stück Crippled Symmetry die Repetitivität „infiltrativ und mit Unterbrechungen“ Schwellen erzeugt.30 Jene Überschreitung disziplinärer Grenzen unternimmt letztlich auch Bernd Alois Zimmermann, dessen Art des Komponierens von Jörn Peter Hiekel analysiert wird. Indem der Komponist unterschiedliche Horizonte interdisziplinärer Art in seinen Werken zusammenführt, wird ein kulturgeschichtlicher Zwischenraum erzeugt, der wiederum auf Zimmermanns pluralistischem Ansatz im Sinne eines Bewegens zwischen Tradition und Progression basiert.31

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S. den hier vorliegenden Beitrag von Marvin Baudisch. S. den hier vorliegenden Beitrag von Mark Andre. S. den hier vorliegenden Beitrag von Wiener und Hiekel S. den hier vorliegenden Beitrag von Oliver Wiener. S. den hier vorliegenden Beitrag von Jörn Peter Hiekel.

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Jennifer Konrad, Matthias Müller, Martin Zenck

Dieser Sammelband sowie der Studientag, der am 27. April 2019 stattfand, wurde von dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gefördert, für dessen Unterstützung die Herausgeber sich herzlich bedanken. Besonderen Dank möchten wir auch der Geschäftsführerin und Koordinatorin des FSP Frau Kristina Müller-Bongard aussprechen, die die Entwicklung des Projekts „Zwischenräume“ von der Idee bis zur Publikation begleitet hat. Ferner danken wir den wissenschaftlichen Hilfskräften Frau Nastja Müller und Herrn Jonas Grahl für die Organisation und Durchführung der Verpflegung während des Studientags und Frau Katharina Kresse für die letzte Durchsicht des Layouts und Drucksatzes. Alle hier verwendeten Abbildungen wurden mit bestem Wissen und Gewissen ausgewählt.

Literatur ACHILLES, JOCHEN/BORGARDS, ROLAND/BURRICHTER, BRIGITTE, Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie, Würzburg 2012. AUGART, ISABELLA (Hgs.), Im Dazwischen: materielle und soziale Räume des Übergangs, Berlin 2020. AUGÉ, MARC, Nicht-Orte, München 2014. BHABHA, HOMI K., Die Verortung der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von M. Schiffmann und J. Freud, Tübingen 2000. Blumberg, Hans, Theorie der Unbegrifflichkeit, Berlin 2007. BURBULLA, JULIA, Kunstgeschichte nach dem Spatial Turn: eine Wiederentdeckung mit Kant, Panofsky und Dorner, Bielefeld 2015. DAHLERUP, PIL: Dekonstruktion. Die Literaturtheorie der 1990er. Berlin (u.a.) 1998. DÄUMER; MATTHIAS; GEROK-REITER, ANNETTE; KREUDER, FRIEDEMANN (Hgs.), Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, (=Mainzer Historische Kulturwissenschaften, Bd. 3), Bielefeld 2010. ENGELMANN, PETER: Randgänge der Philosophie, in: Jeff Bernard (Hgs.), Semiotica Austriaca. Wien 1987: ÖGS, S. 105-118. EßLINGER, EVA (u.a.): Die Figur des Dritten - Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt 2010.

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Einleitung

FOUCAULT, MICHEL, Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hgs.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig 1993, S. 39. FUNKEN, CHRISTIANE (Hgs.), Raum – Zeit – Medialität: interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien, Opladen 2003. GANSEL, CARSTEN (Hgs.), Störungen im Raum - Raum der Störungen, Heidelberg 2012 GRIMMSCHES WÖRTERBUCH, Raum, Bd. 14, Sp. 275, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/Navigator/navigator_py?sigle=DWB&lemid=GR01528&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&sigle1=DWB&lemid1=GR01528&sigle2=DWB&lemid2=GZ14035, 27.09.2020. GRIMMSCHES WÖRTERBUCH, zwischenraum, Bd. 32, Sp. 1365, https://www.carsten-gansel.de/wp-content/uploads/2019/09/Stoerungen-im-Raum_Februar_2011.pdf, 23.09.2020. HEß, REGINE, Emotionen am Werk: Peter Zumthor, Daniel Libeskind, Lars Spuybroek und die historische Architekturpsychologie (=Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 12), Berlin 2013, S. 149-204. JACQUES DERRIDA, Grammatologie, Frankfurt am Main 1983. JAMMER, MAX, Das Problem des Raumes: die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt 1980. KONERSMANN, RALF (Hgs.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007. LOTMAN, JURIH M., Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik, übers. von Wolfgang Eismann und Roland Posner 12.4 (1984/1990), S. 287-305 LOTMAN, JURIJ M., Die Struktur literarischer Texte, München 1993. LÖW, MARTINA, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. LUHMANN, NIKLAs, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997. MALLARMÉ, STÉPHANE, Igitur/divagations/un coup de des (Poésie), Editions Gallimard, 1976. MEHIGAN, TIMOTHY J. (Hgs.), Raumlektüren: der Spatial Turn und die Literatur der Moderne, Bielefeld 2013. RITTER, JOACHIM (Hgs.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 2007. SCHLITTE, ANNIKA (Hgs.), Philosophie des Ortes: Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014. SPIELMANN, YVONNE, Hybridkultur, Frankfurt am Main 2010.

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Jennifer Konrad, Matthias Müller, Martin Zenck

WIRTH, UWE, Zwischenräumliche Bewegungspraktiken, in: Bewegen im Zwischenraum, hg. von DERS., Berlin 2012, S. 7-34, S. 7.

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Der „Zwischenraum“ als Ort des (leeren) Unsichtbaren: Abt Suger von St.-Denis, Jan van Eyck und Daniel Libeskind MATTHIAS MÜLLER

Für das Thema der „Zwischenräume“ bietet die Kunst- und Architekturgeschichte ein weites, vielfach noch unbearbeitetes Untersuchungsfeld. Wer auf diesem erste tastende Schritte unternimmt, wird bald feststellen, dass dieses Feld nicht nur selbst zahlreiche „Zwischenräume“ aufweist, sondern auch von bemerkenswerten Überlagerungen und Schichtungen bestimmt ist. Diese definieren das Thema der „Zwischenräume“ als ein historisches, über die Zeit- und Epochengrenzen hinweg gültiges Forschungsproblem, bei dem sich raumbezogene kulturelle Vorstellungen beispielsweise im Kontext des frühchristlichen oder mittelalterlichen Kirchenbaus1 oder der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Andachtsbilder2 auf beziehungsreiche Weise mit den architekturphilosophischen Konzepten zeitgenössischer Museumsarchitektur verbinden lassen. Allen diesen von mir hier in den Blick genommenen raumbezogenen kulturellen Vorstellungen ist die Annahme bzw. Überzeugung gemeinsam, dass sich in dem architektonischen Element oder dem bildlichen Motiv des „Zwischenraums“ räumliche Bereiche oder räumliche Zonen ausprägen, deren Präsenz auf die Absenz von architektonisch nicht darstellbaren und physisch nicht fassbaren 1 2

Siehe hierzu immer noch grundlegend SAUER, 1924. Siehe auch BINDING, 2012; SPURRELL, 2020. Siehe hierzu die wichtigen Ansätze von BELTING/KRUSE, 1994 zu den frühen niederländischen Andachtsbilderrn; von HAMBURGER, 1998 zur kontemplativen Bildpraxis in Frauenklöstern oder von KRÜGER, 2001 zu den Bildkonzepten der italienischen Andachtsbilder des 14. bis 16. Jahrhunderts.

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transzendenten Räumen verweisen sollen. Oder anders formuliert: Bei den in meinen Überlegungen ins Auge gefassten „Zwischenräumen“ handelt es sich um den Versuch, mit Hilfe von speziell geschaffenen, physisch existenten bzw. mit bildkünstlerischen Mitteln physisch anschaubaren Raumstrukturen eine Lösung für das theologische bzw. philosophische Paradoxon der ontologisch nicht nachweisbaren Existenz von transzendenten, spirituell konnotierten Räumen oder von Räumen einer absoluten geistigen Leere zu finden, deren Vorhandensein mit Hilfe von immanenten „Zwischenraum“-Strukturen auf imaginative Weise sichtbar gemacht werden sollen.3 In dieser Hinsicht ist der „Zwischenraum“ weder ein utopischer Ort im Sinne von Thomas Morus,4 noch eine Heterotopie im Sinne Michel Foucaults,5 sondern gewissermaßen eine Leerstelle oder ein Platzhalter für den sinnlich-mental nicht fassbaren Raum einerseits des theologisch definierten Numinosen, d. h. der Unbegreifbarkeit göttlicher Wirkmacht, und andererseits der geschichtsphilosophisch begründeten Aporie, d. h. der unhintergehbaren Beschränktheit und Begrenztheit menschlicher Welterkenntnis und Welterklärung – gerade auch angesichts der Unbegreifbarkeit von Katastrophen wie dem Holocaust bzw. der Shoa. Wie meine im Folgenden vorgestellten Beispiele zeigen, können diese Leerräume oder Platzhalter nun sowohl in der gebauten Architektur als auch in den bildkünstlerisch geschaffenen, illusionistischen architektonischen Räumen für allegorisch-symbolische Zeichen, Formen und Objekte sowie mentale, imaginative Prozesse genutzt werden, wodurch die solchermaßen erzeugten „Zwischenräume“ zu Denk- und Erfahrungsräumen aufgewertet werden. Alle meine Beispiele gehören zu den vieldiskutierten Inkunabeln der Kunst- bzw. Architekturgeschichte, doch lassen sich ihnen – dank unserer speziellen Fragestellung nach der Existenz und Bedeutung von „Zwischenräumen“ – eine Reihe von neuen Aspekten abgewinnen.

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Siehe hierzu besonders KRÜGER, 2001 (wie Anm. 2). Zu Thomas Morus „Utopia“ siehe SCHMIDTKE, 2016. FOUCAULT, 2013.

Der „Zwischenraum“ als Ort des (leeren) Unsichtbaren

1. Das Kirchengebäude als Disposition von „Zwischenräumen“: Abt Suger von St.-Denis In seinen berühmten Schriften über den Neubau und die Weihe der Abteikirche von St.-Denis thematisiert Abt Suger an verschiedenen Stellen die allegorische Bedeutung und Funktion der Kirchenarchitektur.6 Das Kirchengebäude wird dabei als ein heiliger Ort beschrieben, der sich aus einzelnen, sorgsam unterschiedenen Teilräumen zusammensetzt (Abb. 1). So werden in den Berichten Abt Sugers die Vorhalle mit den Kapellen in den Westtürmen, das Querhaus und der Chorbereich mit den Umgangskapellen und der Krypta sowie das dazwischenliegende, Westbau und Ostbau verbindende Langhaus als zwar miteinander verbundene jedoch zugleich voneinander getrennte Räume gewürdigt.

Abb. 1: Abteikirche von St.-Denis, Grundriss im Bauzustand von 1144

In diesen Teilräumen findet nun in der Beschreibung Sugers innerhalb und außerhalb der Liturgie eine permanente spirituelle Interaktion zwischen den Gläubigen auf der Erde und den Heiligen und Engeln im Himmel statt, mit Christus und Gottvater an der Spitze der himmlischen Hierarchie.7 Das räumliche und materielle Zentrum dieser Interaktion bildet der Chorbau mit seinen Umgangskapellen (Abb. 2), der unter der Aufsicht von Abt Suger ab 1140 neu errichtet 6

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SUGER, Ordinatio; ders., De consecratione; ders., De administratione, in: SPEER/ BINDING, 2000. Zur Einordnung der Schriften siehe EBD., Einleitung. Zu Abt Sugers Deutung seiner Abteikirche siehe darüber hinaus BÜCHSEL, 1997, sowie ALBRECHT, 2003. Siehe hierzu vor allem in De consecratione (wie Anm. 6), S. 218-221 (Westbau) sowie S. 240-249 (Ostteile), die Schilderungen der Weihehandlungen.

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Matthias Müller

wurde, um auf den Altären in kostbaren Reliquiaren die Heiltumsschätze der Abteikirche den Gläubigen glanzvoll zu präsentieren, darunter die als französische Reichsreliquien verehrten Gebeine des Heiligen Dionysius.8

Abb. 2: Abteikirche von St.-Denis, Grundriss des Umgangschores

Auch wenn Suger in seiner Beschreibung den Begriff des „Zwischenraums“ nicht verwendet, so charakterisiert er bestimmte Teilräume doch in eben diesem Sinne. So begreift er das Langhaus der Abteikirche unter offensichtlichem Rückgriff auf Vorstellungen, die bis in das konstantinische Frühchristentum zurückreichen, als einen passagenähnlichen Zwischenraum, der die westliche Vorhalle (als Eintrittsbereich des sündigen, auf Erlösung hoffenden Menschen) und den östlichen Chorbau (als geistliches wie liturgisches Zentrum) miteinander verbindet. Der Chorbau wiederum war nicht nur das geistliche und liturgische Zentrum der durch das Langhaus gebildeten Passage, da sich in ihm der Ort des erlösenden, in der Eucharistie verehrten Corpus Christi manifestiert, sondern auch der zentrale Ort der in ihren Reliquien in der Abteikirche präsenten Heiligen. Ihnen zu Ehren, habe er, so Abt Suger, die alte Choranlage niederlegen und durch eine umso schönere, größere und dem Rang der Heiligen – darunter der französische ‚Nationalheilige‘ Dionysius – angemessene Anlage mit lichtdurchflutetem Kapellenkranz ersetzen lassen.9 8 9

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De consecratione (wie Anm. 6), S. 242-247. De consecratione (wie Anm. 6), S. 224-225.

Der „Zwischenraum“ als Ort des (leeren) Unsichtbaren

Zuvor hatte Suger bereits die alten Westtürme (Abb. 3) mit der Vorhalle neu errichten lassen, so dass in St.-Denis das alte Langhaus zudem einen Zwischenraum zwischen zwei vollkommen neuen Bauteilen bildet und dabei zugleich auch auf eine historische Zeitebene verweist. Denn Suger betont in seinen Beschreibungen der Baumaßnahmen wiederholt den Kontrast, der sich optisch zwischen den Neubauten im Westen und im Osten und dem dazwischenliegenden alten Langhaus ergäbe, und deutet ihn zugleich als Ausdruck eines Spannungsverhältnisses zwischen der Gründungszeit der Abtei unter König Dagobert und seiner eigenen Zeit, die mit den Baumaßnamen in die Zukunft gerichtet ist.10 Die unter seiner Auftraggeberschaft mit sichtlichem Stolz neu errichteten Bauteile im Westen und im Osten versteht Suger als sein Vermächtnis gegenüber der altehrwürdigen Abtei und ihrer Zukunft, die jedoch nur unter Rückbindung an die Vergangenheit gewonnen werden kann. Das materielle Unterpfand dieser ruhmreichen Vergangenheit, der die Abtei ihren historischen Rang und ihre heilsgeschichtliche Bedeutung verdankt, bildet nicht zuletzt die alte Bausubstanz des Langhauses. Dessen Mauern sind nach der berühmten legendarischen Überlieferung von Christus selbst geweiht worden und erfüllen daher nicht nur die Funktion eines Bindegliedes zwischen Sugers neuer westlicher Turmanlage und dem neuen östlichen Chorbau, sondern verkörpern darüber hinaus ein sichtbares, beglaubigendes Zeugnis für die anhaltende Kontinuität des legendären Gründungsbaus aus der Zeit König Dagoberts selbst noch in den von Suger veranlassten Neubauten der Kirche.11

10 De Ordinatio (wie Anm. 6), S. 190-191; De administratione (wie Anm. 6), S. 328329. 11 De consecratione (wie Anm. 6), S. 222-223; De administratione (wie Anm. 6), S. 328-329. Siehe hierzu auch BÜCHSEL, 1997 und ALBRECHT, 2003 (wie Anm. 6), sowie MÜLLER, 2011.

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Abb. 3: Abteikirche von St.-Denis, Westbau Abb. 4: Abteikirche von St.-Denis, Blick in den Chorumgang mit den Umgangskapellen

Das Langhaus und Chorbau aber nicht nur über eine horizontale, sondern durch ihre Höhenerstreckung auch über eine vertikale Achse verfügen, interpretiert sie Suger zugleich als einen spirituell-imaginativ erlebbaren Zwischenraum, als begrifflich-logisch nicht fassbare anagogisch wirksame Raumzonen zwischen Himmel und Erde, gleichsam zwischen dem durch die Säulen geformten Fundament der Propheten und Apostel und dem geistlichen Überbau Gottes, Christi und des Heiligen Geistes. Diesen Gedanken formuliert Suger besonders deutlich anhand seines neuen Chorbaus, dessen um den Binnenchor bzw. das Sanktuarium herumführenden Umgang (Abb. 4) er als „Seitenschiffe“ (alae) bezeichnet:12 „In der Mitte [des Chorbaus, Anm. M.M.] nun erhoben zwölf Säulen, die die Anzahl der zwölf Apostel vorstellen, in zweiter Linie aber ebenso viele 12 De consecratione (wie Anm. 6), S. 228, Z. 351.

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Der „Zwischenraum“ als Ort des (leeren) Unsichtbaren

Säulen der Seitenschiffe (alarum), die die Zahl der Propheten bezeichnen, den Bau unvermittelt hoch, wie der Apostel sagt, indem er in geistlicher Weise baut: ‚Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, erbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, mit Christus Jesus selbst als dem vorzüglichsten Eckstein‘...“.13 Der um das sakrale Zentrum des Binnenchors mit dem Hochaltar herumführende Umgang bzw. die „Seitenschiffe“ bilden dabei wiederum einen eigenen Zwischenraum in der Horizontale aus, der zwischen dem Sanktuarium und dem die äußere Raumschicht markierenden Kapellenkranz mit den dort auf den Altären ausgestellten Reliquiaren vermittelt. Diesen spirituell-imaginativen Charakter der horizontal wie vertikal wirksamen architektonischen Zwischenräume im Sinne von räumlichen Bildern und Zäsuren auf dem Weg der kontemplativen Hinwendung der Gläubigen zu den begrifflich-logisch nicht fassbaren Räumen göttlicher Transzendenz vermögen die kunstvoll und materiell prächtig mit Gold und Edelsteinen versehenen Bildwerke, darunter das Kreuz des heiligen Eligius, wie es uns in der Darstellung der Messe des hl. Eligius durch einen niederländischen Maler des ausgehenden 15. Jahrhunderts überliefert ist (Abb. 5), zusätzlich zu unterstützen. Dieser Effekt tritt ein, indem die Bildwerke Abt Suger und andere Gläubige durch die intensive, ‚nachsinnende‘ Betrachtung (bzw. das betrachtende ‚Nachsinnen‘) „in eine Region außerhalb des Erdkreises, die nicht ganz im Schmutz der Erde, nicht ganz in der Reinheit des Himmels lag“ versetzen und ihn „wenn Gott es [...] gewährt, auch von dieser unteren [Region] zu jener höheren in anagogischer Weise hinübergetragen werden könne“.14 Auf diese Weise dienen die kostbaren Ausstattungsstücke in der Abteikirche als Stimulatoren für die Entrückung der gläubigen Betrachter in einen kontemplativ-spirituell erfahrbaren Zwischenraum, der gewissermaßen zwischen Himmel und Erde liegt und letztlich wieder auf das Kirchengebäude als Ort der räumlich-architektonischen Vermittlung zwischen Immanenz und Transzendenz zurückverweist.

13 De consecratione (wie Anm. 6), S. 228, Z. 350-361, deutsche Übersetzung zit. nach BINDING/SPEER, 2000 (wie Anm. 6), S. 229. 14 De administratione (wie Anm. 6), S. 344, Z. 224-225, deutsche Übersetzung zit. nach BINDING/SPEER, 2000 (wie Anm. 6), S. 345.

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Abb. 5: Meister des hl. Eligius: Die Messe des heiligen Eligius (Ausschnitt) (um 1495, London, National Gallery)

2. „Zwischenräume“ als anagogische Raumstr ukturen bei Jan van Eyck Die Funktion solcher zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen irdischmaterieller und göttlich-spiritueller Realität angesiedelter architektonischer Zwischenräume als Orte einer anagogischen, d. h. durch gelehrte und zugleich kontemplative Versenkung ermöglichten Annäherung an das göttliche Arkanum hat dreihundert Jahre nach Abt Suger auch die Künstler in den burgundischen Niederlanden beschäftigt. Unter diesen unternahm nicht zuletzt Jan van Eyck den Versuch, in der für Andachtszwecke konzipierten Tafelmalerei künstlerisch anspruchsvolle „Zwischenräume“ für eine allegorische und anagogische Bildbetrachtung zu entwerfen.15 Dabei entwickelte er zwei Verfahren: Zum einen übertrug er die im Kirchenbau begründete und u. a. von Abt Suger ausgedeutete

15 Zur Entwicklung besonderer Bildkonzepte in der altniederländischen Tafelmalerei für die Aufgaben einer an der spätmittelalterlichen Mystik sowie der Devotio moderna orientierten Bildmeditation siehe SCHEEL, 2014.

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Abb. 6: Jan van Eyck: Dresdner Marienaltar (1437, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie) vielteilige, differenzierte Struktur des Kirchengebäudes auf die Struktur des Bildraums und zum anderen adaptierte er bestimmte Architektur- und Raumtypen des spätmittelalterlichen Schloss- bzw. Palastbaus für die besonderen Anforderungen einer durch die Bildräume evozierten religiösen Andacht. Das erste Verfahren lässt sich exemplarisch am sog. Dresdner Marienaltar (Abb. 6) aufzeigen, einem 1437 geschaffenen Triptychon, dessen dreigeteilter Bildraum dem Raum einer romanischen Basilika nachempfunden wurde.16 Die drei Schiffe dieses Kirchenraums nutzt Jan van Eyck nun dazu, um die Verehrung der Gottesmutter und ihres Sohnes durch den Stifter als einen Vorgang imaginativer Kontemplation zu veranschaulichen, indem er den Stifter in das linke Seitenschiff platziert, von wo aus dieser die sich im Mittelschiff ereignende Erscheinung Mariens und des Christuskindes aus angemessener Distanz wahrnimmt. So wie Abt Suger die Seitenschiffe seines neuen Umgangschors im Sinne von Zwischenräumen beschreibt, die dem Binnenchor mit dem Hochaltar als sakralem Zentrum vorgelagert sind, so charakterisiert Jan van Eyck die Seitenschiffe seiner gemalten Basilika als jenen Raumbereich, der den Aufenthaltsort 16 Zu Jan van Eycks Dresdner Altar siehe NEUNER, 1994/1995, S. 31-43; EICHBERGER, 2003.

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des andächtig kontemplierenden Gläubigen vom Ort der spirituell-transzendenten Präsenz Mariens und Christi trennt und diesem wie ein Zwischenraum vorgelagert ist. Und ähnlich wie in der Abteikirche von St.-Denis, wo der von Abt Suger als „Seitenschiffe“ bezeichnete Chorumgang als Zwischenraum zwischen dem Binnenchor und den Chorumgangskapellen fungiert, dienen auch die gemalten Seitenschiffe in Jan van Eycks Dresdner Altar als Zwischenräume zwischen dem Mittelschiff mit dem sich daran anschließenden Hauptaltar (der bei Jan van Eyck durch die thronende Gottesmutter ersetzt wurde) und den Seitenschiffskapellen, aus denen heraus auf Höhe des Stifters auf der linken Seite der Erzengel Michael und auf der rechten Seite die Hl. Katharina leibhaftig herauszutreten scheinen. Ihr unmittelbarer räumlicher Bezug zu den hinter ihnen befindlichen Kapellen lässt sie wie bildkörperliche Vergegenwärtigungen ihrer ansonsten nur über Altarbilder oder Altarreliquien vermittelbaren Existenz erscheinen, was wiederum auf Abt Suger zurückverweist: Die in und auf den Altären seiner Abteikirche in kostbaren Reliquiaren und Schreinen aufbewahrten Heiligenreliquien beschreibt Suger mit einer imaginativen Suggestionskraft, als ob sie leibhaftig anwesend seien – eine Vorstellung, die letztlich auf die katholische Auffassung vom Reliquiar bzw. Reliquienschrein als irdischem Wohnort der Heiligen rekurriert.17 Schließlich ist in Jan van Eycks Dresdner Altar auch der bereits durch Abt Suger beschriebene ‚vertikale Zwischenraum‘ vorhanden, indem die Säulen des Mittelschiffs ähnlich wie die Säulen von Sugers neuem Binnenchor und Chorumgang „den Bau unvermittelt hoch [heben], wie der Apostel sagt, indem er in geistlicher Weise baut: ‚Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, erbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, mit Christus Jesus selbst als dem vorzüglichsten Eckstein‘...“.18 Im Dresdner Altar wird dieser Gedanke sogar explizit zum Ausdruck gebracht, in dem sich oberhalb der Säulenkapitelle, in den Zwickeln der Arkadenbögen, Figuren von Aposteln und Heiligen befinden. So markiert das von Säulen emporgehobene Mittelschiff auch bei Jan van Eyck einen spirituellimaginativ erlebbaren Zwischenraum und eine anagogisch wirksame Raumzone zwischen dem durch die Säulen geformten Fundament der Propheten und Apostel und dem geistlichen Überbau Gottes und Christi. 17 Zur theologischen und kultischen Bedeutung von Heiligenreliquien siehe ANGENENDT, 1994; zu den Reliquiaren siehe REUDENBACH/TOUSSAINT, 2005. 18 De consecratione (wie Anm. 6), S. 228, Z. 350-361, deutsche Übersetzung zit. nach BINDING/SPEER, 2000 (wie Anm. 6), S. 229.

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Das zweite und letztlich komplexere Verfahren findet sich bei Jan van Eyck geradezu mustergültig ausgeführt auf der Werktagsseite des um 1432 entstandenen Genter Altars (Abb. 7). Von der Forschung wurde das Arrangement der hier miteinander in Beziehung gesetzten unterschiedlichen Bildräume nicht zu Unrecht als problematisch und in gewisser Weise experimentell empfunden, ohne aber den dahinter stehenden Anspruch angemessen zu würdigen.19 Denn das durchaus richtig erkannte Problem mangelnder Raumlogik ergab sich für Jan van Eyck vor allem aus dem erkennbaren Bemühen, die gesamte Werktagsansicht mit Hilfe der heterogenen, illusionistisch erzeugten Raumarchitekturen als vielschichtige Thematisierung des irdischen Architekturraums im Sinne eines Zwischenraums für einen nur kontemplativ-spirituell erfahrbaren transzendenten Raum zu gestalten. Diesem Anliegen dienen sowohl die nach hinten verschlossenen Nischenräume des unteren Registers mit den Bildnissen des Stifterpaars und den beiden Johannes-Figuren als auch die partiell über dem Fenster nach hinten geöffneten Räume des oberen Registers mit der Verkündigungsszene. Denn im Moment der Öffnung der Werktagsseite, der sog. Wandlung des Altars, bewegen sich diese Räume sprichwörtlich zur Seite, um den Blick freizugeben auf die prachtvolle Schau des mystischen Lammes im Paradiesgarten (Abb. 8), dessen aufsehenerregendes Landschaftspanorama sich jeglicher irdischer architekturräumlicher Begrenzung entzieht.20

19 Die Forschungsliteratur zum Genter Altar ist zahlreich und vielfältig. Zu den grundlegenden Positionen siehe daher HERZNER, 1995; JOLLY, 1998; KEMPERDICK/ RÖßLER, 2014; HINDRIKS, 2019. Zu den Ergebnissen der erst kürzlich abgeschlossenen umfassenden Restaurierung und technologischen Untersuchung siehe FRANSEN/STROO, 2020. 20 Zur Paradieslandschaft siehe die Überlegungen von SCHNEIDER, 1986.

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Abb. 7: Jan und Hubert van Eyck: Genter Altar (ca. 1432-35, Gent, Kathedrale St. Bavo), geschlossener Zustand, Werktagsseite

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Abb. 8: Jan und Hubert van Eyck: Genter Altar (ca. 1432-35, Gent, Kathedrale St. Bavo), geöffneter Zustand, Feiertagsseite Angesichts der hier mit den Mitteln der illusionserzeugenden Malerei ins Bild gesetzten Außerkraftsetzung irdischer Architekturräume und ihrer Raumbegrenzungen ist die anagogische Funktion des auf der Werktagsseite vorgeblendeten Raums der Verkündigung an Maria (Abb. 9) von Bedeutung. Denn dieser Raum fungiert nun in zweifacher Weise hinsichtlich der Paradiesszene als Zwischenraum. Zum einen spielt er in seiner tabernakelartigen Struktur auf Maria als irdisches Gefäß des göttlichen Logos an, und zum anderen entspricht er von seiner Raumlogik her einem hochgelegenen, einem Palast zugehörigen Turmraum, durch dessen hintere Fenster wir auf die Betriebsamkeit eines zeitgenössischen niederländischen, städtischen Marktplatzes (Abb. 10) blicken.21 21 Zu dieser Raumstruktur siehe BRAND PHILIP, 1967, wobei die Interpretation der Raumschöpfungen als vielschichtig miteinander verwobene Lokalisierungen transzendenter und irdischer Orte der Heilsgeschichte (vom Himmlischen Jerusalem bis Nazareth) nicht immer überzeugt.

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Abb. 9: Jan und Hubert van Eyck: Genter Altar (ca. 1432-35, Gent, Kathedrale St. Bavo), geschlossener Zustand, Werktagsseite, Verkündigungsszene

Für einen zeitgenössischen Betrachter musste der Raum der Verkündigung damit wie ein Zwischenraum zwischen dem Raum der kontemplativen Andacht (d. h. der Familienkapelle in der heutigen Kathedrale St. Bavo, der damaligen Pfarrkirche St. Johannes) und dem städtischen Alltagsraum erscheinen, ein Zwischenraum, der nicht nur durch den Engel und Maria, sondern auch Gegenstände wie Wasserkanne und -becken oder das Handtuch allegorisch-symbolisch aufgeladener anagogisch wirksamer Raum ausgewiesen wurde.22

22 Zur ikonographischen und symbolischen Ausstattung der Verkündigungsräume siehe LÜKEN, 2000.

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Abb. 10: Jan und Hubert van Eyck: Genter Altar (ca. 1432-35, Gent, Kathedrale St. Bavo), geschlossener Zustand, Werktagsseite, Verkündigungsszene, Blick durch das mittlere Biforienfenster

Abb. 11: Jan und Hubert van Eyck: Genter Altar (ca. 1432-35, Gent, Kathedrale St. Bavo), geschlossener Zustand, Werktagsseite, Verkündigungsszene, Mittelteil

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Der Raumbereich, in dem sich diese Gegenstände befinden, markiert wiederum selbst einen Zwischenraum, in dem Jan van Eyck genau zwischen dem Engel und Maria eine bedeutungsvolle Mitte schafft, in der keine Handlung stattfindet, sondern vielmehr die zu einer Art Stillleben arrangierten Gegenstände zur nachsinnenden, kontemplativen Betrachtung und Deutung auffordern (Abb. 11). Die besondere anagogische Funktion dieses Zwischenraums wird in Gänze aber erst dann nachvollziehbar, wenn wir das sich zum Marktplatz hin öffnende Fenster (vgl. Abb. 10) nicht nur als Ausblick, sondern als symbolische Form begreifen, in der wir auf verborgene, gewissermaßen verhüllte Weise neben Maria als Mediatrix und Sinnbild der fenestra coeli23 vor allem den Tod und die Auferstehung Christi memorieren sollen: Denn das Fenster wird durch eine Doppelsäule mit einem aus gotischen und romanischen Elementen zusammengefügten Kapitell unterteilt, womit Jan van Eyck, wie bereits durch Stephan Hoppe aufgezeigt werden konnte, eine Nachbildung jener Doppelsäulen schuf, die in Jerusalem die um 1055 gestaltete Übergangszone zwischen der Anastasis-Rotunde und dem damals neu konzipierten Ostabschluss der Grabeskirche Christi schmücken (Abb. 12).24 Die gemalte Doppelsäule dient hier gewissermaßen als zu memorierende virtuelle Spolie bzw. Architekturreliquie, die an genau jener Stelle den Ort des Grabes Christi in Erinnerung ruft, an welcher der von Jan van Eyck gemalte, den Vorgang der Kontemplation anzeigende Zwischenraum in den betriebsamen Außenraum der ebenfalls gemalten und daher nur durch die Imaginationskraft des Bildes existierenden Stadt übergeht. Das Motiv der Doppelsäule aus der Jerusalemer Anastasisrotunde befindet sich übrigens auch in den Biforienfenstern hinter Gabriel und Maria auf den Seitentafeln (vgl. Abb. 9). Dort sitzen die Säulen jedoch nicht in einer Außenwand, sondern in Zwischenwänden, die den Blick in altanartige, gegenüber dem Mittelteil nach außen vorspringende Turmräume freigeben, durch deren Fenster wiederum jene Stadt zu sehen ist, die sich auch durch das mittlere Biforienfenster im Zwischenraum zwischen Gabriel und Maria erblicken lässt. Was auf den ersten Blick lediglich wie die Schaffung von zwei die Tiefenräumlichkeit

23 Siehe hierzu mit weiterführender Literatur KRÜGER, 2001, S. 46-59. 24 HOPPE, 2009, S. 129-130.

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Abb. 12: Jerusalem, Grabeskirche: Anastasis-Rotunde mit DoppelkompositKapitellen (rechts), ca. 1055 aus Spolien zusammengefügt verstärkenden Raumbereichen oder Raumzonen erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als Versuch Jan van Eycks, mit den Raumzonen zugleich auch Zeitzonen im Bild sichtbar zu machen.25 Denn während die in der vorderen Bildebene befindlichen Zwischenwände über die aus dem Mittelfeld bekannten romanischen Biforienfenster verfügen, sitzen in den Außenwänden zweigeteilte spätgotische Maßwerkfenster, wie sie in der nordalpinen Architektur auch noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts üblich waren. Durch die auffällige Unterscheidung zwischen einer älteren, ‚romanischen‘ bzw. ‚antiken‘ und einer zeitaktuellen, ‚spätgotischen‘ Raumschicht wollte Jan van Eyck offenbar bewusst eine zeitliche, historische Differenz verdeutlichen: die Differenz zwischen der Zeit 25 Siehe hierzu auch HOPPE, 2009 (wie Anm. 24), S. 103, S. 105-106.

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des Lebens Mariens und Jesu und der Zeit der burgundischen Niederlande sowie der Entstehung des Genter Altars. Damit wird aber nicht nur der Mittelteil der Außenseite, der wie ein kontemplativer Zwischenraum zwischen Gabriel und Maria eingeschoben wurde, sondern werden auch die in die Tiefe sich erstreckenden Zwischenräume hinter Gabriel und Maria zu Räumen auf einer eschatologischen Zeitachse, die die biblische Zeit bis hinein in die damals aktuelle Zeit des 15. Jahrhunderts verlängert. Diese über die Zwischenräume vermittelte Aktualisierung der biblischen Historia zu einem Ereignis, das im Augenblick der Bildbetrachtung erneut in aller Präsenz stattfindet, ist ohne die bildzugewandte Theologie der Mystik des 14. Jahrhunderts – z. B. Heinrich Seuses oder Brigitta von Schwedens – sowie der Devotio moderna eines Geert Grootes, Gerard Zerbolt van Zutphen oder Thomas von Kempen nicht denkbar und erweist die „Zwischenräume“ im Genter Altar damit letztlich auch als bildstrukturelle Angebote an die zeitgenössische Andachtspraxis.26

3. Der Zwischenraum als Verräumlich u ng eine s „leeren Unsichtbar en“: Da niel Libe ski nds Jüdisc hes Museum Berlin Die bei Abt Suger und Jan van Eyck sichtbare Deutung architektonischer Zwischenräume als sinnbildliche Orte einer durch Kontemplation und Imagination erfahrbaren Gottesschau und eschatologisch begründeten Auferstehungshoffnung wurde in den sakralen Bau- und Bildwerken in unterschiedlicher Weise bis in die Moderne hinein weitergeführt. Spätestens nach den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges und der menschenverachtenden Negation der Würde des Individuums durch den Holocaust konnte diese Tradition nicht ohne radikale Brüche und semantische Verschiebungen aufrechterhalten werden. Ich möchte meine Überlegungen daher mit einem Blick auf einen Architekten abschließen, der das Thema des Zwischenraums in zwei seiner frühesten und

26 Grundlegend hierzu: LARGIER, 2018. Siehe auch LÖSER, 2014; GROOTE, 1978; SCHEEL, 2014 (wie Anm. 15), S. 155-169 (am Beispiel der Meditationsanleitung „De Spiritualibus Ascensionibus“ von Gerard Zerbolt van Zutphen).

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Abb. 13: Berlin, Jüdisches Museum Berlin, Gesamtansicht von oben Abb. 14: Osnabrück, Felix Nußbaum-Haus, Gesamtansicht von oben

zugleich wichtigsten Museumsbauten explizit vor dem Hintergrund von Holocaust und Shoa einer neuen Bedeutung und Gestaltung zuzuführen versucht hat.27 Es war Daniel Libeskind, der in seinen Entwürfen für das 1999 eröffnete Jüdische Museum in Berlin28 (Abb. 13) sowie das ein Jahr früher, 1998, fertiggestellte Felix Nußbaum-Haus in Osnabrück29 (Abb. 14) den Zwischenraum zur inhaltlichen wie gestalterischen Leitform erhob. Dabei verzichtete Libeskind radikal auf die Disposition wohlgeordneter, abgeschlossener Räume, wie wir sie sowohl in der realen Architektur der Abteikirche von St.-Denis als auch in den gemalten, illusionistischen Bildräumen von Jan van Eyk vorfinden, und erzeugte stattdessen Fragmente und Splitter, die sich wie übriggebliebene Resträume eines früheren urbanen Systems oder wie Übergangsräume eines noch im Entstehen begriffenen neuen Systems in den übergeordneten Stadtraum von Berlin bzw. Osnabrück einschreiben. Besonders eindrucksvoll ist dies Libeskind im Jüdischen Museum Berlin gelungen, wo ein zickzackförmiges Band 27 Zum Folgenden siehe auch MÜLLER, 2004; AL-TAIE, 2008. 28 Zur Entstehungsgeschichte und zum Konzept von Libeskinds Jüdischem Museum Berlin siehe DORNER, 1999; SCHNEIDER, 1999; YOUNG, 2000, S. 152-174. 29 RODIEK, 1999.

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aneinandergereihter Teilräume durch den im Zweiten Weltkrieg ausgelöschten Stadtgrundriss des preußischen Berlins mäandert, dort bestimmte Bereiche markiert und Verbindungen zu nicht mehr existierenden Straßen und Adressen herstellt. Es sind Zwischenräume zwischen einem nicht mehr existenten, in weiten Teilen jüdischen Berlin und einem durch den Wiederaufbau nach 1945 neu entstandenen Berlin, dessen Nachkriegsgrundriss infolge der deutschen Wiedervereinigung von 1990 und der Aufhebung der geteilten Stadt erneut überformt und überschrieben wird – auch durch den Neubau des Jüdischen Museums selbst.30

Abb. 15: Berlin, Jüdisches Museum Berlin, Grundriss

Das zickzackförmige Band, „das unsichtbare Dinge miteinander verbindet, die kein Muster in der Stadtlandschaft bilden“,31 und das zugleich das neue Hauptgebäude des Museums verkörpert, wird im Inneren durch eine linear verlaufende Raumachse ergänzt und zugleich immer wieder gekreuzt (Abb. 15). An den Kreuzungs- bzw. Schnittstellen von Zickzackband und linearer Raumachse lässt Libeskind Freiräume entstehen, die allerdings – bis auf eine Ausnahme – nicht betretbar sind, sondern ausschließlich durch Einblicke aus Wand- bzw. Fensteröffnungen visuell und damit nur aus der Distanz erfahren werden

30 Siehe hierzu LIBESKIND, 1995, hier: S. 78-79 sowie S. 81-85. 31 EBD., S. 81.

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können (Abb. 16).32 Diese physisch unzugänglichen, von Libeskind als Voids bezeichneten Leerräume, welche mittels der linearen Raumachse in die durch das Zickzackband gebildete Folge aus aneinandergereihten Teilräumen geschoben wurden, sind riesige turmartige Schächte aus aschegrauem Beton, in denen die verbrannte deutsch-jüdische Kultur Berlins, die zurückgebliebene geistige wie materielle Leere zu imaginativer Anschaulichkeit gefunden hat.

Abb. 16: Berlin, Jüdisches Museum Berlin, Leerraum („Void“) Libeskind wörtlich: „Diese ‚Leere‘ (‚void‘), die sich durch die heutige Kultur Berlins hindurchzieht, soll also meiner Ansicht nach sichtbar gemacht werden, soll zugänglich sein. Sie soll zum Strukturmerkmal werden, das sich an dieser 32 Zur Entwicklung dieser Idee und zu den hierzu angefertigten frühen Zeichnungen siehe AKCAN, 2010, S. 163-167.

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Stelle der Stadt kristallisiert und in einer Architektur bloßgelegt wird, in der das Namenlose im Namen, der stumm bleibt, erhalten ist“.33 Mit den Voids sei es gelungen, „einen Ort zu haben, an dem das, was ohne Namen ist, stumm bleibt – das Namenlose wird nicht beseitigt, es wird nicht in die Zukunft projiziert, es bleibt stumm“.34 In Osnabrück ist es der „Gang der ungemalten Bilder“, eine abschüssige, ebenfalls von aschegrauen Betonwänden begrenzte, jedoch für die Besucher betretbare Passage, in der die personale Auslöschung und getötete Kreativität des zunächst immerzu auf der Flucht befindlichen und schließlich in Auschwitz ermordeten Malers Felix Nußbaum und damit seine „Stummheit“ in eine psychisch wie physisch wirkmächtige architektonische Form gegossen wurde. Anders als bei Abt Sugers Kirchenbau und Jan van Eycks illusionistischen Andachtsräumen sind diese Räume nicht länger Zwischen- oder Passagenräume einer imaginativen, transzendenten Gottesschau, sondern Anschauungsräume der absoluten Vernichtung und Negation menschlicher Existenz und ihrer religiösen oder philosophischen Wertschätzung. Es sind gewissermaßen durch die Krematoriumsöfen von Auschwitz oder Dachau ausgebrannte Leerräume, die symbolisch wie funktional zunächst jegliche transitorische Funktion verloren haben. In Anlehnung an Jacques Derrida, den Libeskind in der Definition von Zickzack-Band und linearer Raumachse als „zwei Linien“ im Sinne von „Linien der Differenz“ explizit rezipiert,35 können wir die Voids auch insofern als 33 LIBESKIND, 1995 (wie Anm. 30), S. 85. Vgl. hierzu auch das Zitat Libeskinds in Anm. 35! 34 EBD. 35 Den Rekurs auf Derridas Begriff der „Différence“ bzw. „Différance“ gibt Libeskind 1989 in seinem Vortrag und daraus abgeleiteten Aufsatz „Between the Lines“ zu erkennen: „Der ganze Plan [des Neubaus, Anm. M.M.] läuft letztlich auf zwei Linien hinaus: die eine gerade, aber in Stücke gebrochen, in Fragmente zerteilt; die andere mehrfach geknickt und zusammengesetzt, sich aber unendlich fortsetzend. Für mich sind dies die zwei Linien der zeitgenössischen Dichotomie. Sie sind die Linien der Differenz, die Linien, die die Spaltung zwischen Glauben und Handeln, zwischen politischer Überzeugung und architektonischer Antwort verursachen. [...] Es gibt keine Möglichkeit, eine Verbindung, eine gegenseitige Verflechtung zwischen den beiden Linien aufrechtzuerhalten. Die Linien zeigen sich selbst als getrennt voneinander, so dass sich die Leere, die sich mitten durch das Kontinuierliche hindurchzog, nach außen materialisiert als das, was zerstört wurde, oder vielmehr als der Überrest oder das Residium autonomer Struktur. Dies nenne ich die ‚entäußerte Leere‘ (‚voided void‘). Eine Leere, die selbst entleert wurde. Eine Dekonstruktion, die selbst dekonstruiert wurde. Fragmentierung und Verlagerung kennzeichnen den Zusammenhang des Ganzen in diesem Unterfangen, denn das Ganze wurde

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„Zwischenräume“ bezeichnen, als sie Derridas Begriffsschöpfung der différance architektonische, raumbildliche Gestalt verleihen – différance im Sinne der Existenz eines dichotomen, unüberbrückbaren „Dazwischen“ in vermeintlich rational nachvollziehbaren bzw. lesbaren Strukturen, die durch Differenzen zwischen der äußeren Erscheinung und ihrer vermeintlichen Bedeutung und ihrem tatsächlichen semantischen Gehalt in Wirklichkeit unlesbar und unverständlich werden.36 So können wir die Voids zwar als leere Räume sehen und als „Leerräume“ kognitiv erfassen, sie in ihrer Semantik jedoch nicht ohne Vorwissen begreifen, da wir sie (bis auf eine Ausnahme) nicht betreten können, so dass uns das tiefergehende, erst durch das physisch-psychische Erleben mögliche Verständnis als imaginative Orte der totalen existenziellen Auslöschung sprichwörtlich verschlossen bleibt.37 Obwohl wir die Leerräume visuell wahrnehmen, verhindert ihre Unzugänglichkeit überdies die Möglichkeit der Überbrückung dieser „Zwischenräume“ und der durch sie verkörperten différance. „Der neue Erweiterungsbau“, so Libeskind, „ist konzipiert als ein Emblem, ein sinnbildliches Zeichen, in dem sich das ‚Nicht-Sichtbare‘ als ein leeres ‚Unsichtbares‘ offenbart hat.“38 Doch mit dieser radikalen und totalen Auslöschung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur nicht zuletzt in Berlin und diesem unüberbrückbaren „Dazwischen“ bzw. der dichotomen différance wollte sich Libeskind nicht abfinden. Entscheidend hierfür war seine „Erkenntnis, daß nur durch die Anerkennung und Verarbeitung dieser Auslöschung jüdischen Lebens in Berlin und der so entstandenen Leere Berlin und Europa eine menschliche Zukunft haben können.“39 Libeskind wollte daher aufzeigen, „wie sich die Vergangenheit nach wie vor auf die Gegenwart auswirkt und wie durch die Aporien der Zeit ein hoffnungsvoller Horizont erschlossen werden kann.“40 Aus diesem Grund blieben die Voids, jene ausgeglühten Räume einstiger menschlicher Zivilisation und jüdischer Kultur, nach oben hin offen. Dort oben, gleichsam am Himmel, ziehen sich über den Räumen der radikalen, absoluten Leere, der unüberbrückbaren Derrida‘schen différance, Linien aus weißem Licht entlang, in denen sich für

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‚demontiert‘, um zugänglich zu werden, sowohl funktional als auch intellektuell“ (LIBESKIND, 1995, S. 87). Siehe hierzu DERRIDA, 1972. Wiederabdruck in ENGELMANN, 2004, S. 76-113. Siehe hierzu auch AL-TAIE, 2008 (wie Anm. 27), S. 91. LIBESKIND, 1995, S. 85. Libeskind im Gespräch mit Doris Erbacher und Peter Paul Kubitz, in: LIBESKIND, 2000, S. 10. Daniel Libeskind, zit. nach SCHNEIDER, 2001, S. 19.

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Libeskind die Konstruktionslinien des künftigen Berlins als Synonym für eine neuerrichtete humanistisch gesinnte Politeia manifestieren.41 Durch diese hoch oben über den Voids verlaufenden Lichtbänder (vgl. Abb. 16), die die durch die Leerräume unterbrochene lineare Raumachse im Medium einer horizontal ununterbrochen verlaufenden Lichtachse sprichwörtlich überbrücken, erhalten die Leerräume plötzlich jene Charakteristika, die bereits das von Abt Suger erbaute und von Jan van Eyck gemalte Kirchengebäude auszeichneten: neben den horizontal wirksamen Zwischenräumen auch solche in der Vertikalen auszubilden. Und wie in der weiter oben behandelten christlichen Sakralarchitektur bzw. dem gemalten, illusionistisch erzeugten Kirchenraum dienen die auf den ersten Blick von einer totalen materiellen wie geistigen Leere bestimmten Voids in ihrer vertikalen Ausrichtung schließlich doch noch einer von Libeskind bewusst ermöglichten Transzendierung der Leere – in diesem Fall in die nur schemen- bzw. fragmenthaft erkennbare Zukunft der Neukonstitution einer geistig-kulturellen Existenz menschlicher Individuen und Gesellschaft an den Orten ihrer vorherigen Auslöschung durch den Holocaust bzw. die Shoa. Auf einem collageartig aufgebauten Lageplan des Jüdischen Museums (Abb. 17) hat der Architekt dieser Überzeugung bildlichen Ausdruck verliehen, indem er den Museumsbau in das aus einem Davidstern heraustretende Straßenraster der alten, vergangenen Friedrichstadt einfügte und über ein mit Namen versehenes Liniensystem die Verbindung zu den Adressen bedeutender Berliner herstellte. Darunter ist auch „jene Linie aus weißem Licht“, die aus den Leerräumen der Voids heraus sichtbar wird und die sich, so Libeskind wörtlich, „durch Berlin zieht, und die Oranienstr. Nr. 1, die Wohnung von Paul Celan, mit einem Traum des Dichters verbindet und hinüberweist in die Tektonik Berlins, in das konstruktive Berlin von morgen.“42

41 LIBESKIND, 2000 (wie Anm. 39), S. 15. 42 LIBESKIND, 2000 (wie Anm. 39), S. 30.

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Abb. 17: Berlin, Jüdisches Museum Berlin, collageartig stilisierter Lageplan mit Adressen deportierter Berliner Juden und Figur des deformierten Davidsterns So ist Libeskind als Dekonstruktivist zugleich ein Metaphysiker, auch wenn er die Anfrage, ob er ein „Architekt der Metaphysik“ sei, verständlicherweise verneinen muss.43 Libeskind wagt mit seiner Auffassung von Architektur gewissermaßen einen Spagat, der ihn auf der einen Seite in den Untergrund zu den fragmenthaften Überresten einer katastrophenartig auseinandergerissenen Nation und Gesellschaft sowie den jüdischen Anteilen ihrer Kultur führt und ihn dabei in den Trümmern eines zerstörten metaphysischen Weltgebäudes stehen lässt, dessen Umrisslinien, Wegeführungen und Verbindungslinien er nun mit seiner Architektur zur Ansichtigkeit verhelfen möchte. Mit diesem einen Bein steht Libeskind somit ganz und gar auf jenem gefährdeten Grund menschlichen Seins, den der französische Philosoph Jacques Derrida einmal als den trügerischen „Untergrund“ eines Gebäudes bezeichnet hat, das „schlüpfrig und veränderlich, 43 LIBESKIND, 2000 (wie Anm. 39), S. 44.

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vermint und unterminiert“44 und dessen feste Fundierung nicht mehr als bloßer Schein ist. Hierfür steht paradigmatisch der Untergang des durch Humanismus und Aufklärung geprägten Deutschlands in der nationalsozialistischen Barbarei. Umso erstaunlicher erscheint daher der andere Standpunkt Daniel Libeskinds zu sein, dessen Abkunft aus einer jüdisch-polnischen Familie ihn selbst zu einem Betroffenen des Holocaust werden ließ. Denn auf der anderen Seite, gleichsam mit dem anderen Bein steht Libeskind auf einem Grund, über dem sich soeben wieder in ersten, zarten Ansätzen die Umrisse eines neuen metaphysischen Gebäudes abzuzeichnen beginnen, in dessen Struktur sogar unverkennbar einzelne Trümmer des alten, im Untergrund verschütteten Gebäudes eingebaut werden sollen. Die Voids im Jüdischen Museum Berlin (vgl. Abb. 16) verkörpern daher als Zwischenräume beides: einerseits ‚ausgebrannte‘ Leerräume als Ausdruck für die geistige und kulturelle Vernichtung und andererseits visionäre Transzendenzräume,45 die den Blick in eine ungewisse Zukunft deutsch-jüdischer Neuanfänge ermöglichen, ohne dabei aber die unermesslichen Auslöschungen und Zerstörungen ungeschehen machen zu können. Und so zerteilen die Voids das im Zickzack über den kriegszerstörten Stadtgrundriss des Vorkriegs-Berlin mäandernde Band der passagenartig aneinandergereihten Zwischenräume (vgl. Abb. 13, 15 u. 17) und bilden dabei unüberbrückbare Unterbrechungen und Zäsuren. Für diesen Vorgang einer sinnzerstörenden Fragmentierung syntaktischer und semantischer Strukturen hat Libeskind zeitgleich mit den Entwürfen für das Jüdische Museum Berlin einen Text über das englische Wort für Geist bzw. Sinn, „Spirit“, verfasst.46 In diesem Text erscheint „Spirit“ bis auf sechs Ausnahmen nur in fragmentierter Gestalt (Abb. 18), indem eine endlose Kette aneinandergereihter „Spirits“ scheinbar willkürlich in unleserliche, sinnentstellende Wortgebilde zertrennt wurde.

44 DERRIDA, 1988, S. 34, zit. nach WIGLEY, 1994, S. 47. 45 Libeskind sieht es explizit als besondere Aufgabe seiner Architektur an, „einer Hoffnung und dem gemeinsamen Erleben einer inneren Vision auf die Sprünge zu helfen [...] und Berlin wieder mit seiner eigenen ausgemerzten Geschichte zu verbinden, die nicht vertuscht oder vergessen werden darf“ (LIBESKIND, 1995, S. 84). 46 LIBESKIND, 1991, S. 87.

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Abb. 18: Daniel Libeskind: Spirit (aus: Daniel Libeskind, Countersign, in: Architectural Monographs, Nr. 16, London 1991, S. 87) Die durch die Zerstörung der Syntax und Fragmentierung der endlosen Kette von „Spirits“ entstandenen Zwischenräume zwischen den Wortfetzen füllte Libeskind mit scheinbar logisch gesetzten Satzzeichen wie Kommata, Punkten etc. und signalisiert damit, dass die zunächst willkürlich und chaotisch erscheinende Anordnung der Wortfragmente einer eigenen Logik folgt. Erst bei genauerem, intensivem Studium der fragmentierten Buchstabenkette erschließt sich die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der Wortpartikel. Es ist das keineswegs dadaistisch gemeinte Bild von einer zerrissenen Einheit, der sinnstiftenden Einheit des menschlichen Geistes, dessen einstige Manifestationen in einer Vielzahl von kulturell miteinander verbundenen und doch nicht kulturell identischen Menschen durch das Geschehen des Holocausts radikal in Frage gestellt und in ihrer Sinnhaftigkeit zerstört worden sind. Doch hat sich in den Resten der alten, vernichteten sinnstiftenden Ordnung in der Folgezeit eine neue Ordnung eingenistet, die das Vergangene überformt und seine Spuren wie unleserliche Relikte im

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Raum stehen lässt. Die Zwischenräume zwischen den Wortfragmenten sind somit nicht nur Kennzeichen der Zerstörung von Sinn und Sinnhaftigkeit, sondern darüber hinaus in die Textstruktur übersetzte Abbrüche, Abgründe und Leerräume, vergleichbar mit den Voids des Jüdischen Museums Berlin. Als scheinbar willkürliche Zwischenräume fordern sie zu einer De- und Rekonstruktion der ursprünglichen Sinneinheit auf, auch wenn sich dadurch die Fragmentierung und Zerstörung und die damit verbundene Unlesbarkeit nicht ungeschehen machen lassen.47 Das Verfahren, nicht nur Architektur, sondern auch Schrift in dieser Weise als Sinnbild für das Aufbrechen und Fragmentieren vorhandener räumlicher oder semantischer Strukturen bzw. Sinneinheiten anschaulich werden zu lassen, erinnert an Jacques Derridas Deutung der Schrift bzw. des (Ein-)Schreibens als Vorgang der „Verräumlichung“.48 So definiert Derrida in seiner 1967 erschienenen „Grammatologie“ und in Auseinandersetzung mit der Tradition der Metaphysik und deren Privilegierung der geistigen Rede gegenüber der materiellen Schrift das Schreiben bzw. die Schrift als Ursache für die Entstehung von Raum: „Sie [die Schrift, Anm. M.M.] betrifft nicht einen bereits konstituierten Raum als zufälliges Ereignis, sondern bringt die Räumlichkeit des Raumes überhaupt erst hervor“.49 Raum ist hier – im Sinne der Metaphysik – der Bereich der Repräsentationen und der sinnlich erfahrbaren Signifikanten, deren Strukturen durch den Prozess der „Verräumlichung“ bzw. der „Raumwerdung“50 aufgebrochen werden. Die dabei entstehende Dynamik bzw. Bewegung ist für Derrida keineswegs nur eine destruierende, zerstörende Kraft, sondern ebenso eine produktive, auf kreative Veränderung ausgerichtete Tätigkeit: „Verräumlichung ist ein Konzept, das auch, aber nicht ausschließlich, die Bedeutung einer produktiven, positiven, erzeugenden Kraft besitzt. (...) Sie führt ein genetisches Motiv mit sich: sie ist nicht bloß das Intervall, der durch den

47 Zu diesem Aspekt und zur Bedeutung des Vorgangs und Elements der „Störung“ im Kontext dekonstruktivistischer Diskurse siehe künftig auch die unter der Betreuung des Verfassers an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entstehende Dissertation von Jennifer Konrad zum Thema „Architektur als visuelle Störung: zum Verhältnis von Bauform und Wahrnehmung im Dekonstruktivismus“. 48 Zu Derridas Auseinandersetzung mit der Kategorie und dem Begriff des Raums siehe auch WIGLEY, 1994 (wie Anm. 44), S. 71-83. 49 DERRIDA, 1983, S. 497-498. 50 EBD., S. 481.

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Abstand zwischen zwei Dingen konstituierte Raum (...), sondern ebenso das Verräumlichen, die Tätigkeit, zumindest die Bewegung des Verrückens“.51 Als eine solche „Bewegung des Verrückens“ sind auch Libeskinds Voids zu verstehen, indem sie im Jüdischen Museum Berlin die Strukturen der überlieferten städtischen Topographie aufbrechen und zu einer Auseinandersetzung mit der im Holocaust vernichteten deutsch-jüdischen Kultur auffordern, genauso wie die „Verräumlichung“ von „Spirit“ in Libeskinds Textcollage eine „Bewegung des Verrückens“ auslösen, indem sie zu fragmentierenden „Zwischenräumen“ führt, die eine damit verbundene Störung der Lesbarkeit und ein Nachdenken über den (ursprünglichen) Schriftsinn bewirken.52 An dieser Stelle verbinden sich Libeskinds an Derrida geschulten Auffassungen der „Zwischenräume“ letztlich auch wieder mit den älteren Vorstellungen von „Zwischenräumen“, wie sie uns bei Abt Suger oder Jan van Eyck begegnet sind. Die im frühgotischen Kirchengebäude oder im spätmittelalterlichen Altarbild thematisierten Zwischenräume „verräumlichen“ zwar nicht die Katastrophe des Holocausts bzw. der Shoa, doch dafür die im Alten und Neuen Testament beschriebenen Katastrophen der größten Entfernung des Menschen von seinem göttlichen Ursprung: die Vertreibung aus dem Paradies und die Hinrichtung Christi als Hinrichtung des Mensch gewordenen Gottes am Kreuz von Golgatha. Und ähnlich wie Libeskinds „Zwischenräume“ eine innere Erschütterung und eine Selbstbesinnung bewirken sollen, war es das Ziel der gebauten oder gemalten sakralen „Zwischenräume“ Abt Sugers und Jan van Eycks, die Gläubigen seelisch zu erschüttern und im Sinne einer „Bewegung des Verrückens“ zur Besinnung und Umkehr anzuhalten.

51 DERRIDA, 1981, S. 106, in der deutschen Übersetzung zit. nach WIGLEY 1994 (wie Anm. 44), S. 76. Die „Verräumlichung“ ist gewissermaßen die Raumwerdung von différance und verweist auf die Prozessualität der Sprache und die damit einhergehende permanente Verschiebung von Bedeutung. Der Begriff wurde von dem amerikanischen Architekten Peter Eisenman für seine dekonstruktivistisch reflektierten Architekturkonzepte übernommen, worauf Jennifer Konrad in ihrem Beitrag für vorliegenden Band eingeht. 52 Durch die im Schriftbild erzeugte netzartige Struktur von „Spirit“ soll den Lesern bewusst werden, dass die Unterscheidung von Lesbarkeit und Unlesbarkeit letztlich arbiträr ist und Verstehen und Nichtverstehen durch keine feste, klar definierte Grenze getrennt sind, sondern permanent oszillieren. Siehe hierzu künftig auch Konrad (wie Anm. 47).

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10 Mainzer Thesen zum Verhältnis von Architektur und Musik und zum Zwischenraum MARTIN ZENCK I. Frank Gehry und der Boulez-Saal in Berlin: „Architecture as frozen musi c“ Die vom Architekten Frank Gehry1 im Zusammenhang der Kooperation zwischen Los Angeles (Walt Disney Concert Hall) und Berlin (Scharoun-Philharmonie und Boulez-Saal) im Englischen zitierte These, dass in der Übersetzung „Architektur gefrorene Musik“ und „Musik flüssige/aufgelöste Architektur“ sei, geht auf eine Auffassung von Schopenhauer zurück. Bei Schopenhauer steht im 39. Kapitel „Metaphysik der Musik“ im zweiten Band des Buches Die Welt als Wille und Vorstellung dieser Satz, dass „Architektur gefrorene Musik“2 sei. Im Zentrum der Parallelisierung steht dabei keine äußerlich angenommene Metapher, sondern eine Proportionenlehre, die vergleichbar zwischen der Architektur mit ihrer „Symmetrie im Raum“ und der Musik mit ihrem abgestuften System des Metrums und des Rhythmus in der Zeit bestimmend ist. Modell hierfür ist

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Frank Gehry, 2002, hier zitiert nach NIERHOFF-WIELK/WÖLDICKE, 2019, S. 131; vgl. dort auch den Beitrag über Musik- und Architektur-Räume von ZENCK, 2019a. SCHOPENHAUER, 1892, Kap. 39 „Zur Metaphysik der Musik“, S. 533; vgl. dazu grundsätzlich: PASCHA, 2004.

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eine erst viel später, etwa von Rolf Dammann3 erkannte Spiegelung der Proportionen der Kuppel des Florentiner Doms in Dufays Florentiner Domweihmotette „Nuper rosarum flores“ von 1436 mit den numerischen Verhältnissen der vier Teile der Motette von 6:4:2:3.

Abb. 1 und 2: Katalog „Strong Resonances“, Quelle: Nierhoff-Wielk, Barbara/Wöldicke, Evelyn, Frank Gehry/Hans Scharoun – Strong Resonances/Zusammenklänge, Berlin, 2019, S. 131

II. Ferruccio Busoni Eine vergleichbare Parallelisierung von Architektur und Musik hat Ferruccio Busoni zwischen der von ihm vollendeten Kunst der Fuge J. S. Bachs in der Fanatasia contrapunctistica4 und den Portalfluchten eines Domes, vielleicht 3 4

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DAMMANN, 1964. Ferruccio Busoni, Fantasia contrapunctistica, erste Ausgabe und Fassung für ein Klavier im Verlag Breitkopf &Härtel in Leipzig 1910 unter dem Werkverzeichnis BV 256; in der 1920er Jahren erstellte Busoni dann eine Fassung für zwei Klaviere, die er für die einzig angemessene hielt. Es wurde Busoni die Vollendung der letzten Quadruppelfuge, über der Bach verstarb, als Anmaßung angelegt. Es bleibt aber bei Busoni nicht bei einer Fuge mit vier Themen, sondern er erweitert zum einen noch die Stimmenzahl auf 5 Themen unter Einbeziehung des B-A-C-H und des Chorals

10 Mainzer Thesen

auch des Straßburger Münster erkannt. Busoni hat hier die 12 Sätze seiner BachVollendung in den 12 Rundbögen der Kathedrale wiedererkannt, wobei die Seitenteile der Nummern 5/9/12 ausgesprochene Zwischenräume darstellen. (Karlheinz Stockhausen hat in diesem Zusammenhang einer idealen Konzerthalle von „Wandnischen“5 in der Rückseite eines Konzertsaals gesprochen, in denen Musiker aufgestellt werden könnten, um von dieser Seite des Saals den musikalischen Raum zu bespielen). Gleichwohl muss bei Busoni eingewandt werden, dass die in der Vorderansicht des Doms erkennbaren Verhältnisse der proportionalen Staffelung nicht eins zu eins auf die Musik übertragen werden können, weil sich dort diese räumlichen Proportionen in den zeitlichen Verhältnissen der Musik spiegeln. Dabei steht im Vergleich der Widerspruch an, dass das, was in der Architektur und in der erschreckenden Ansicht der Laokoon-Gruppe im Sinne von Lessings Laokoon mit einem Blick als räumlich proportional aufgefasst werden kann, in der Musik erst im Nacheinander der zeitlichen Sukzession erkannt wird. Gleichwohl kann mit Leibniz’ Definition der Musik, dass sie „eine geheime arithmetische Übung/Kunst sei, die sich ihres Zählens nicht bewußt sei“ („musica est excercitium occultum nesciens se numerare animi“; Brief von Leibniz vom17. April 1712 an Christian Goldbach), doch eine Parallele gezogen werden, weil ich beim Hören oder Spielen die Zeit nicht (mit-)zählen muss, um mögliche Proportionen er-messen zu können, dass sich mir aber die Musik fortlaufend den Eindruck vermittelt, sie gehorche einer bestimmten Ordnung. Stravinsky hat dies so später auf den Punkt gebracht, dass – entgegen der Auffassung des 19. Jahrhunderts – die Musik nichts ausdrücke, sondern „Verhältnisse und Ordnungen in der Zeit“ verfolge.

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„Ehre sei Gott in der Höhe“, zum anderen erfolgt eine Steigerung, die ganz ins Phantastisch-Pianistische und Transzendente ausgreift. Wichtig ist hier aber Busonis Rückführung der Musik auf die Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts, die für Bach maßgeblich war. Mit der Ausnahme von Bruckner ist dem 19. Jahrhundert die Nähe von Musik und Architektur ganz fremd und Busoni stellt hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts dies Verhältnis ganz neu dar. Vgl. dazu ZENCK, 1997a; ZENCK, 1997b. Vgl. den ansonsten kenntnisreichen Aufsatz von Karlheinz Stockhausen, „Musik und Raum“, der ausdrücklich Willaerts mehrchörige Werke in San Marco von Venedig diskutiert: STOCKHAUSEN, 1963; vgl. zum Begriff der Wandnische, S. 158; vgl. insgesamt zur Raum-Konzeption die vorzügliche Arbeit von NAUCK, 1997.

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Abb. 3: Aufbau von Ferruccio Busonis Fantasia contrappuntistica (1910/1921) als Zeichnung einer Kathedrale (Bachs „Vollendung der Kunst der Fuge“), Quelle:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fantasia_Contrappuntistica_ Plan.jpg (public domain)

III. Praetorius und Adrian Willaert Bisher wurde eine mögliche Parallelisierung von Architektur und Musik in den Ordnungen des Raums und der Zeit aufgesucht. Eine andere, durchaus historisch sich entwickelnde Vergleichbarkeit wurde im Aufführungsraum der Musik in Kirchen und Konzertsälen gesucht. Musik, Chöre der sakralen Musik, konnte auf einander gegenüberliegenden Seitenemporen zum Erklingen gebracht werden, womit jede Musik, die in diesen Räumen aufgeführt wurde, auch die akustischen Verhältnisse in Form der jeweiligen Resonanzverhältnisse des Klangraums angenommen hat. Dies betrifft aber nicht nur die Positionierung der

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schematisch geteilten Chöre (etwa von zwei mal vier Stimmen im achtstimmigen Chorsatz) auf der Haupt- und auf den Seitenemporen, sondern die entsprechenden Differenzräume sind durch die verschieden besetzten Chöre auch in der Partitur ausgewiesen.

Abb. 4: PRAETORIUS, MICHAEL, Syntagma musicum (1620), hg. von Arno Forchert, Faksimile, Kassel 2001, Bd. II, Titelseite Theatrum Instrumentorum (Sciagraphia) Keineswegs handelt es sich dabei, wie Karlheinz Stockhausen behauptet hat, nur um eine äußerliche Aufteilung des Raums durch die Disposition der Chöre, sondern – wie mein Vater Hermann Zenck6 1949 gezeigt hat – innerhalb eines „Theatrum instrumentorum“7 (Abb.4 M. Praetorius, Syntagma Musicum) um die 6 7

ZENCK, 1949. PRAETORIUS, 2001.

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Verwirklichung eines antiphonalen Prinzips, das bei Adrian Willaert in den Salmi spezatti nicht eingeebnet wird durch einen planen, strikt durchimitierenden Stil einer „streng doppelchörigen Schreibweise“, sondern zugleich erfolgt, um mit der „neuartigen Lösung vermöge der oben beschriebenen polyphon-deklamatorischen und klanglich-harmonischen Mittel […] den Ausgangspunkt eines bestimmten Gattungsstils zu begründen […].“8 In der Psalm-Komposition der Salmi spezzati ist also nicht nur dank des kontrapunktischen Stils eine objektivierende Erfassung des Textinhalts maßgeblich, sondern ebenso eine affektiv deklamatorische Darstellung des Textgehalts wirksam. Es ergibt sich schließlich ein durch die Chorhälften und dessen Aktionen durchbrochener Rundumklang, ein Surround-Klang, dieser aber nur vor dem Hintergrund von kompositorisch fixierten Differenz-Räumen.

IV. Nischen als Zwi sche nräume in Kon zertsälen Karlheinz Stockhausen hat geschichtlichen Entwicklungen einer Verräumlichung von Musik durch den jeweiligen Aufführungsort strikt, weil als äußerlich abgelehnt. Vielmehr hat er mit seiner Einführung eines fünften Parameters des „Tonorts“ das Argument geltend gemacht, dass erst eine Musik, die genuin von der Kompositionsart räumliche Parameter systematisch entwickle, auch dann zu einer räumlichen Topografie in der Aufstellung des Orchesters im Konzertsaal führe. Stockhausens Gruppen für drei Orchester mit drei Dirigenten wie Pierre Boulez’ Poésie pour pouvoir nach Gedichten von Henri Michaux für zwei Orchester mit zwei Dirigenten sind Modelle dafür, einen Raum in der Musik erst dort zu unterstellen, wo die Spatialität im Kompositionsverfahren selbst verankert ist. Musik wird demnach nicht erst räumlich, wenn sie an einem bestimmten Ort aufgeführt wird, sondern wenn sie selbst räumlich und auf bestimmte Orte in ihm organisiert ist. Bereits in Boulez’ spiralförmiger Aufstellung der beiden Orchester im Saal kann auch eine „spiralförmige Konzeption“ in der Komposition angenommen werden (vgl. Skizzen; Abb. 9). Im Gegensatz zu linear gerichteten Prozessen oder kreisförmig-zyklischen Vorgängen, in denen die Abstände zum Ausgangspunkt immer größer werden oder in ihm wieder zusammenfallen, zeigen Spiralen eine Bewegungsform an,

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ZENCK, 1949, S. 106.

10 Mainzer Thesen

deren Schleifen trotz der großen Entfernungen doch fast übereinander zu liegen kommen.

Abb. 5: Premiere für Karlheinz Stockhausens Gruppe für 3 Orchester im Rheinsaal, Köln-Deutz 1958. Quelle: Dirigierpartitur von Karlheinz Stockhausen, Gruppen für 3 Orchester, Werk Nr. 6 (UE 12020), mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition Wien Hier könnte sinnvollerweise erstmals von kompositorisch verfassten Zwischenräumen gesprochen werden, von relativ kleinen Abständen der einander überlagernden Verlaufskurven. Boulez hat solche spiralförmigen Bewegungsverläufe mit den Aufgängen zum Guggenheim-Museum in New York gesehen. Dort hätte man das Ziel entweder durch ein geradliniges Laufband oder einen Aufzug erreichen können, aber statt des linearen oder vertikalen Aufgangs wurde ein spiralförmiger gewählt. Bei Stockhausen ist die Frage zu stellen, inwiefern die räumlichen Abstände zwischen den drei Orchestern, zwischen der linken Seitenempore, der Mitte und der rechten Seitenempore als wirksame Zwischenräume verstanden werden können, wobei diese räumlichen interspaces konzeptionell aus der musikalischen Konstruktion hervorgehen und nicht nur auf der spezifischen räumlichen Disposition der drei getrennt aufgestellten Orchester beruhen. Darüber hinaus hat Stockhausen im Aufsatz „Musik im Raum“, wo er den Raum staffelt, sogar von Nischen in den Wandpodien gesprochen, die sich für die Aufstellung kleinerer Ensembles eignen würden. Damit wäre im ausdrücklichen Sin der Architekturtheorie von Eisemann ein Zusammenhang mit den Nischen gegeben, welche als Zwischenräume verstanden werden.

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Abb. 6: Donaueschinger Musiktage; Pierre Boulez und Hans Rosbaud, „Poesie Pour Pouvoir“, Quelle: Bernd Künzig, Redakteur des SWR in Badenbaden. Mit Freundlicher Genehmigung des WDR in Köln

V. Mobil konstruiert e Konzertsäle: IRCAM Mit den live-elektronischen Konzepten des Pariser IRCAM im Centre Pompidou, in den „Electronic Laboratories, Records“ der University of Stanford, im elektronischen Studio des SWR in Günterstal bei Freiburg und im von Renzo Piano erbauten Klangschiff in San Lorenzo in Venedig ist nach der seriellen Konstruktion von möglichen Zwischenräumen bei Stockhausen und Boulez nun erstmals im IRCAM und in San Lorenzo für Luigi Nono ein ganz neuer nichteuklidischer Raum erzeugt worden. Während der euklidische Raum ein oben und unten, links und rechts und vorne und hinten kennt, in dem die Orte und Tonorte der erklingenden Musik strikt fixiert sind, geht der nicht-euklidische Raum von einem multi-vektoriellen Raum aus, in dem in Echtzeit jedes Klangereignis durch computergesteuerte Projektion in alle Richtungen zerstreut werden kann. Im Gegensatz zum euklidischen Klang-Raum, für den die vollkommene Identität von Sound und Source, also von Ort und Bewegungsrichtung des Klangs bestimmend ist, treten hier im nicht-euklidischen Raum Klang und Klangquelle vollkommen auseinander, weil die Klänge im Raum nach allen Richtungen in real time zerstreut werden können.

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Abb. 7: IRCAM Centre Pompidou, Foto von Clusternote, lizensiert durch Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ircam_espro.jpg

Abb. 8: Renzo Piano, Schiff in der Kirche San Lorenzo von Venedig für die Uraufführung von Luigi Nonos Prometeo, Quelle: Marcela Chao, http://xhurches.org/filter/Marco-Polo/Church-of-San-Lorenzo.

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Das hat auch Konsequenzen für eine möglicherweise viel offenere Konzeption von Zwischenräumen, die sich ständig, unabhängig von einem fixierten Ort oder zwischen zwei fixierten Orten im Raum ereignen können. Denkbar ist aber auch eine Kritik, weil die zunehmende Beherrschung kraft einer dynamisch den Raum ergreifenden Bewegung, die diesen vollständig erfasst, sich auch die Möglichkeiten verzehren, überhaupt noch Zwischenräume zu besetzen, weil ein alles zentrierendes Zentrum zu fehlen beginnt. Ich möchte dies mit einer entscheidenden Bestimmung der „Atmosphäre“ in Rilkes Rodin-Interpretation vergleichen. Nach Rilke ist die Figur des Balzac dergestalt dynamisiert, dass sie immer mehr den Raum ergreift. Gleichwohl bleibt noch die stehende Figur auch in ihrer Ausdehnung erhalten und damit ein Zwischenraum zwischen Figur und ausgreifender Atmosphäre. In der live-elektronischen Musik verliert sich die Möglichkeit eines Zwischenraums, weil jeder Ort im Raum in Echtzeit jederzeit erfasst werden kann. Denkbar wäre aber auch die Annahme, dass Zwischenräume nicht nur im euklidischen Raum entstehen können, wo die Orte eindeutig fixiert sind, sondern dass gerade im nicht-euklidischen Raum der Live-Elektronik, variable und distributiv zerstreute Orte gebildet werden, die auf anderer Ebene Zwischenräume eröffnen.

VI. Zwischenr aum in der Philosop hie (Derrida), Dichtung (Mallarmé) und Musik (Bo ulez) „Denken ist an dieser Stelle […] für uns ein vollkommen neutraler Name, weißer Zwischenraum im Text, der notwendigerweise unbestimmte Index für eine zukünftige Epoche der Differenz.“9

So umfassend dies Zitat im Kontext der Grammatologie auszulegen wäre, weist es vor allem auf die leeren Zwischenräume, den „blancs“ in Mallarmés Un coup de dés hin. Dort umgeben sie einzelne Worte, auch dass sie vom Schweigen (silence) umhüllt sind. Von ihnen soll sich der Leser nach Mallarmé seine eigene theatrale und spatiale Inszenierung machen. Boulez ist dieser Konzeption in seiner dritten Klaviersonate10 von 1957 insofern gefolgt, als er dem Pianisten Frei9 DERRIDA, 1983, S. 170. 10 Vgl. dazu ausführlich mit Bezug auf die Phoneme und „blancs“ bei Mallarmé und den Zwischenklängen in Boulez’ dritter Klaviersonate: ZENCK, 2019b, dort insbesondere zur Pedal-Technik, S. 160-161.

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und Zwischenräume bei der musikalischen Interpretation mittels einer spezifischen Pedaltechnik des stumm gedrückten Sostenuto- Pedals überlässt (wodurch mit der Aufhebung des Pedals sfumato-artige Flageolett-Klänge zwischen secco- oder mit normalen Pedal angeschlagene Töne entstehen) und vor allem im dritten Teil Constellation – Miroir die relative freie Wahl von 8 Pfaden, die in unterschiedlicher Farbe markiert sind.

VII. Spatiale Zwischenräume bei Earle Brown Eine grundsätzliche Frage hinsichtlich von interspaces besteht darin, unter welchen Bedingungen überhaupt in der Musik von Zwischenräumen gesprochen werden kann. Auf der einen Seite kann durchaus behauptet werden, dass serielle und live-elektronische Kompositionsverfahren den Raum von Musik dergestalt systemisch erobern und bis in die kleinsten Nischen besetzen, so dass buchstäblich kein Platz für einen Zwischenraum bleibt. Auf der anderen Seite kann aber in der postseriellen Musik, vor allem von Earle Brown und Morton Feldman davon ausgegangen werden, dass nicht nur lange Pausen und Zeitstrecken der Stille für Zwischenräume sorgen, sondern Taktstriche, die Angst vor ihnen und sogenannte interspaces der musikalischen Aktionen den Raum für Zwischenräume eröffnen können. Wenn man die Aufführung von „Four Systems“ mit David Tudor hört, würde man zunächst nie auf die Vorstellung verfallen, dass diese Musik nicht sehr streng notiert wäre. Sie ist es zwar in der Notation der vier Systeme und in der Anleitung zur Realisierung, aber diese grafische Partitur lässt dem Interpreten doch viele Frei-Räume, sich zwischen diesen vier Dimensionen der Notation zu bewegen: nach vorne und nach hinten, vorwärts und rückwärts, nach rechts und nach links, nach oben und unten, so dass sich jede Aktion relativ frei zwischen diesen vier rotierenden Positionen bewegen kann. Die Ereignisse können sich überstürzen, ein Augenblick mit einem einzelnen Klavierton kann lange festgehalten werden, Abstände und Zwischenräume können hergestellt werden, aber nach Maßgabe dessen, wie der Pianist, sich in dieser grafischen Partitur bewegt. Während die traditionelle Notation den Spieler doch einengt, ermöglich ihm die grafische Notation von Earle Brown inmitten einiger Festlegungen doch eigene Wege zu gehen, vgl. ev. mit der dritten Klaviersonate von Boulez.

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Abb. 9: Earle Brown: Time Spans, 1972. Quelle: Edition Peters, Quelle: https://issuu.com/editionpeters/docs/ep_11145__earle_brown__time_spans__s core

Earle Brown: Time spans (1972):die folgende Erläuterung bezieht sich auf das Vorwort und auf den Brief von Earle Brown an Hans Zender in der unter dem link angegebenen Partitur: Das Orchesterstück Time spans, das der Komponist und Dirigent Hans Zender für die Olympischen Spiele 1972 in Auftrag gab und auch die Uraufführung dirigierte, beginnt zunächst mit teils wuchtigen teils vollkommen zurückgenommenen Akkorden in zwei Klavieren, die nach und nach dann im Orchester entweder detonieren oder dort ihr Echo haben. Zwischen den Einschlägen gibt es verschieden dichte oder gedehnte Zwischenräume, die ihre besondere Wirkung dadurch erzielen, dass sie außerhalb der gezählten Zeit, außerhalb eines erwartbaren und regelmäßigen Metrums liegen. Für Die Aufführung gibt es nur „Time spans“, Zeit-Zonen, aber keine Taktstriche.

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Abb. 10: Earle Brown, 4 Systems, 1954

IX. Mark Andre: Zwische nraum, Orche sterstück Der Komponist, der den Zwischenraum grundlegend für seine eigene Arbeit entdeckt hat, ist Mark Andre mit seinen Werken, die nicht zufällig etwa den Titel Zwischenraum oder Riss I-III tragen (die vollständige Aufführung aller drei Werke riss I-III konnten wir am zweiten Mai 2019 in der Alten Oper Frankfurt unter dem Dirigenten Ingo Metzmacher hören). Einige dieser seiner Signaturen

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des „Dazwischen“ seien hier, auch unter Einbeziehung eigener langjähriger Forschung11, dargelegt. Zwischenraum für Ensemble (2012/12) nimmt Bezug auf das Gedicht Zwei Berge von Paul Klee in der Interpretation von Roman Jakobson mit dem Titel Der Maler Paul Klee als Dichter. In diesem Gedicht werden die Menschen so beschrieben, dass sie sich unten zwischen zwei hohen Bergen befinden, eingezwängt zwischen den beiden unerreichbar hohen Bergen und dabei sehnsüchtig nach oben blicken. Die Menschen beziehen dabei Positionen zwischen den genannten Bergen der Tiere und der Götter: den Tieren, denen ein nicht-wissendes Wissen eigen ist und den Göttern, die ein wissendes Wissen haben. Den Menschen dagegen, von unten hoch auf die beiden Berge blickend, haben ein Wissen, das sie eigentlich nur als ein Nicht-Wissen ausweisen können. Es liegt also mit dem Gedicht von Klee auch der Komposition von Mark Andre eine räumlich-hieratische und diagrammatische Architektur zugrunde, welche die Menschen als eingezwängt in diese Zwischenräume zeigt, die sie ertragen lernen müssen. Für den vorliegenden Band ist relativ spät ein sehr wichtiger Beitrag von Mark Andre über die Bedeutung von Zwischenräumen in Weberns frei-atonaler Phase hinzugekommen. Dieser analytische Text, der aus einem intensiven Studium der vier Geigenstücke op. 7 und der drei Cello-Stücke op. 11 von Anton Webern hervorgeht, ist insofern besonders aufschlussreich, weil sich im Nachhinein zeigt, dass das Denken in Zwischenräumen für den Komponisten Mark Andre sehr stark eben aus seiner Befassung mit den ganz kurzen Stücken von op. 7 und op. 11 hervorgeht mit der Pointe, dass gerade in intensiv komprimierten Stücken, die von extrem kurzer Zeitdauer sind (eines mit nur 30 Sekunden wie das zweite Stück von op. 11), dass sich also gerade in äußerst reduktiven Stücken, Miniaturen oder Aphorismen, Zwischenräume in Form von Fermaten und Pausen auftun und mit der Grenze von Klang, Echo und Geräusch zugleich an der Grenze des kaum noch Hörbaren und nicht mehr Hörbaren liegen, um dort ihre besondere Wirkung zeigen. Das Paradox dieser Stücke besteht also darin, dass bei Komprimierung, Verdichtung und Verkürzung der Zeitdauer gleichzeitig vermöge der energetischen Impulse in den Pausen und Fermaten die Zeit nachweisbar gedehnt wird. Die Stücke sind also nur von der äußeren Dauer aus betrachtet kurz, während sie von ihrer inneren Intensitätswerdung einen großen zeitlichen Bogen spannen.

11 ZENCK, 2016; vgl. auch zur weiteren Studie die bibliografische Angabe unter Fußnote 12.

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An dieser Stelle ist auch an den Sachverhalt zu erinnern, dass Adorno12 in der Philosophie der Neuen Musik13 von 1949 diese kurzen Stücke in Verbindung mit Hölderlins Gedicht Die Kürze („Warum bist du so kurz…“) bringt und dass sich Samuel Beckett14 während seines Aufenthalts im Jahre 1936 in Hamburg und dem Besuch der dortigen Kunsthalle die Insel-Ausgabe mit den Gedichten von Hölderlin erwarb und sich dort ausgerechnet am Rande der zweiten Strophe „Wie mein Glück, ist auch mein Lied“ dieses zitierten Gedichts von Hölderlin besondere Anstreichungen mit den bekannten Folgen für Becketts eigene Poetik15 machte. Es gibt also nach Hölderlin bei Adorno und Beckett nach einem ausufernden und ausschweifend reichem Gesang in der Jugend, dann einen Zustand des zunehmenden Verstummens, in dem der Dichter in der Sprache relativ kurz angebunden‘ ist.

12 Mark Andre hat sich zu Beginn seines hier vorliegenden Beitrags der Analyse des op. 11 vor allem auf zwei Rundfunksendungen von Adorno über Anton Webern mit dem Sendedatum im März 1959 und der Wiedergabe dieser Sendungen in den Schriften Adornos bezogen. Vgl. ADORNO, 2003: Dabei lohnt es sich nicht nur auf die „Kürze und Aufgelöstheit“ hinzuweisen auf das „Äußerste in Weberns Produktion“ (S. 677), sondern auf den weiteren Kommentar Adornos zu den drei Stücken für Cello und Klavier op. 11, die nach Adornos Auffassung geradezu nach einer Anleitung für den Hörer verlangen. 13 ADORNO, 1958, S. 41; dort ist auch Hölderlins Gedicht in einer Fußnote abgedruckt mit Überlegungen von Adorno am extensiven Schema der Musik des 19. Jahrhunderts, vor allem von Beethoven und der Kritik an den zeitlich ausgedehnten Werken in den kurzen Stücken von Schönberg (op. 19) und Webern (op. 7+11) sowie von Alban Berg (op. 5). 14 MÜHLING/SCHNEEDE, 2003; vgl. weiter die von Beckett benutzte und mit Eintragungen versehene Ausgabe der Werke Hölderlins im Insel-Verlag mit den Anstreichungen von Beckett in Hölderlins Gedicht Die Kürze in der Insel-Ausgabe, S. 89; aufrufbar unter Samuel Beckett Digital Manuscript. Beckett International Foundation, The University Reading. 15 Vgl. über diesen Zusammenhang und den Konsequenzen, die Beckett mutmaßlich aus seiner Hölderlin-Lektüre zog: HENRICH, 2016.

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Abb. 11: Anton Webern: Op. 7. Mit freundlicher Genehmig des Verlags Peters und der Universal Edition

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Eine besondere Beachtung verdient die Introspektion in die ersten drei Takte des dritten Stückes von op. 7. Dort akzentuiert Andre bei dem langen durchgehaltenen Ton A auf dem tiefen Ton der Geige eine innere Bewegung auf Grund des von ihm angenommenen Bogenwechsels. Es ist dabei denkbar, dass er davon ausgeht, dass dieser Ton wegen des vorgeschriebenen Dämpfers erst langsam anspricht und dann mehr an Klang gewinnt, obwohl Webern ausdrücklich „ppp ohne cresc.“ vorschreibt. Andre geht damit von einer doch körnigen Tongebung aus (er spricht von „granulierten“ Klängen, die eine bestimmte Morphologie zur Folge haben). Es könnte sich dabei um eine vom Komponisten angenommene ideelle Suggestion einer inneren Bewegung handeln, die im Gegensatz zur musikalischen Praxis steht, in der, wie bei der legendären Aufnahme16 von Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann, dieser tiefe Geigenton unbewegt in der Zeit und in der Luft steht, sozusagen „fahlstimmig“, um einen Ausdruck von Paul Celan zu verwenden. Dies findet seine Fortsetzung zunächst in der Geigenstimme durch das Spiel am Steg mit stark geräuschhaften Anteilen, die aber wieder zum Anfangston auf dem tiefen A in T. 3 zurückführen, wodurch eine Krebsgängigkeit entsteht, wenn vom tiefen Ton a über b (auch über das spätere es) zurückgelesen wird in den Ausgangston, der von den hingetupften Tönen des b in der linken Hand des Klaviers pulsierend, aber auch verebbend sekundiert wird. Die Klavierstimme nimmt dann diesen Verlauf auch ausdrücklich vom Halbton as tiefer als A in der Geige auf, indem sich an das as im Klavier dann die Töne b und es anschließen. Gleichwohl überlappen sich hier die Töne zwischen der auslaufenden Bewegung auf dem tiefen A in der Geige (T. 4) und dem sich anschließenden Ton b in der rechten Hand des Klaviers, wobei der Unterschied zwischen den gleichzeitig in T. 1 erklingenden Tönen a+b und dieser Töne in der Sukzession in T. 4 zu unterscheiden ist. In diesem Zusammenhang hebt Mark Andres Analyse den Sachverhalt hervor, dass im op. 7 die vorigen Klangimpulse noch in die Pausen hinüberklingen im Sinne sprechender Pausen, dagegen haben im op. 11 die Pausen die Funktion, die Kontraste zwischen den Klangaktionen vor und nach der Pause zu 16 Anton Webern, Vier Stücke für Geige und Klavier, op. 7, gespielt von Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann (Aufnahme während der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik im Konzert vom 9. September 1958 im Schloss Heiligenberg, IMD 12305/59. Mit freundlicher Genehmigung des IMD; vgl. auch die Comprehensive Discography der Werke und Aufnahmen von Eduard Steuermann von Werner Unger, Archivon, Kehl/Rhein und der Publikation dieser Discographie im KongressBericht Steuermann in Linz, herausgegeben von Lars Laubhold (Druck in Vorbereitung).

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verschärfen.17 Die Zwischenräume sind Ort und Zeitphase der Fesselung wie der Entfesselung von äußerst minimalen Trieb-Energien. Die Analyse ist also auch für uns alle ein besonderer Gewinn, weil sie den Zusammenhang des Denkens in Zwischenräumen zwischen dem Beginn der Neuen Musik um 1910 – in der die Parallele des Klangtimbres (des neuen Parameters der Klangfarbe) in der Musik von Webern und Debussy besonders virulent wurde – und den Werken von Mark Andre nach 2010 aufdecken. Aus der Konzeption der „blancs“ (der „weißen“ Zwischenräume) in der Poetik Mallarmés gewinnt Andre maßgebliche Kriterien für die Übertragung der ‚Leerstellen‘ von Mallarmé auf die Fermaten und Pausen von Webern, die zusätzlich durch Sonogramme, Spektrogramme, Oszillogramme und vor einem Audio-Sculpt sichtbar gemacht werden. Dies ist ein Verfahren, wie es Mark Andre bereits mit einem Aufnahme-Team des elektronischen Studios des SWR in Günterstal bei Freiburg entwickelt hat: mit einem Sonogramm „Echografien“18 von dem Grabstein der Grabes-Kirche in Jerusalem Schwingungen, Resonanzen, also Klangspuren von vor über 2000 Jahren ab- und aufzunehmen und diese vermöge elektronischer Verfahren in seiner Oper wunderzaichen hörbar zu machen, womit das Verhältnis von Architektur und Musik explizit entfaltet wird. Vergleichbares versucht Andre anhand der Aufnahme von Weberns Cello-Stücken op. 11 mit Heather Harper, Cello und Charles Rosen, Piano: von der CD aus per Sono- und Spektrogramm die spezifischen Ausschnitte mit den Zwischenräumen aufzunehmen und diese Klangspuren per bildgebenden Verfahren in Form von Diagrammen sichtbar zu machen.

17 Siehe Analyse und Abbildungen im hier vorliegenden Beitrag von Mark Andre. 18 Ein Ausdruck, den Mark Andre selbst verwendet hat; vgl. dazu HIEKEL, 2015. S. 32.

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Abb. 12: Mark Andre, Zwischenraum. Mit freundlicher Genehmig des Verlags Peters und der Universal Edition

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Für Kunsthistoriker bietet sich hier der Begriff der Autopsie an, wie durch Röntgenaufnahmen von Gemälden deren Tiefen- und Entstehungsgeschichte sichtbar gemacht wird. Dem entspricht die Aufmerksamkeit, mit der Mark Andre einen zentralen Aspekt der Höranalyse von Adorno unterstreicht: dem „Mikrologischen“ und „Mikroskopischen“19 der Partitur des ersten Stückes aus dem op. 11. Nur ein Hören, das dieser Bedeutung des ganz Minimalen in der einzelnen, auch kaum hörbaren Aktion innerwird, vermag bei Mark Andre wie bei Adorno das Wesentliche dieser drei Stücke des op. 11 erahnen und erfassen. Grundlage für eine dabei auch computergestützte Analyse des kaum mehr und nicht mehr Hörbaren an der Grenze von Ton und Geräusch ist die FFT-Analyse (= „FastFourier-Transform“), welche alle periodischen d. h. obertonreichen wie a-periodischen Signale (also auch des Geräuschs und des minimalen Hauchs) von Klang-Spektrogrammen und Amplituden-Spektren in Form von Diagrammen sichtbar macht, von Vorgängen also, die sowohl von der Notations- und Aufführungspraxis als auch von der hörenden Wahrnehmung sich im Bereich des Liminalen bewegen.

IX. Mark Andre: Risse I-III 20 und iv 17 Acht Miniaturen für Sopr an und Klavier (2019) Die Rupturen, Unterbrechungen und gedehnten Fermaten wie die detonierenden Einschläge markieren Risse unterschiedlicher Heftigkeit in diesen drei Ensemblestücken. Ihre Position zwischen explosiver Gewalt, Schweigen und Stille kann als transgressiver Übergang beschrieben werden, bei dem selbst noch jeder Übergang zum Zerbersten gebracht wird. Es sind nicht Passagen gleitender Übergänge, sondern Verwerfungen und Auf-Würfe.

19 ADORNO, 2003, S. 677, dort der Hinweis auf eine „Art Mikroskop oder wenigstens Vergrößerungsglas“. 20 Vgl. dazu ZENCK, 2015: In Martin Zencks Aufsatz wird das Ensemblestück „Riss“ auf Aspekte einer Zwischenzeit und eines Zwischenraums hin untersucht, hier sei ebenfalls auf die dort gedruckten Abbildungen „Risse I-III“ verwiesen.

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Eine besondere Position des Da-Zwischen zeigt sich im jüngsten Werk von Mark Andre in den Acht Miniaturen für Sopran und Klavier21. Da gibt es einen Raum zwischen dem Text der Bibelstelle (Joh. 3, 8), der bildhaften Vorstellung, die auch durch eine Illumination dargestellt werden kann – deswegen der Begriff der „Miniatur“ im Sinne der mittelalterlichen Buchmalerei - und der Musik. Nur an einer Stelle in der ersten Miniatur in T. 8 soll die Sängerin den „Text aus Joh. 3, 8 in ihrer Muttersprache bitte „schnell“ schattenhaft murmeln“, also kaum erahnbar artikulieren. Ihr Echo findet diese Stelle in der Anweisung für den Pianisten am Ende des ersten Stückes in T. 31, wo es heißt: „den Text aus *Joh. 3, 8, in ihrer Muttersprache bitte „schnell“ schattenhaft flüstern“. Diese Stelle bleibt mit dem Sostenuto-Pedal klingen. Es gibt damit also einen ausgesprochenen, wenn auch entfernten Dialog zwischen der Sängerin und der Pianistin. Ansonsten bleibt der semantische Aspekt von Sprache zugunsten eines ikonischen, phonetischen und numerischen22 Aspekts ganz zurückgedrängt. Die Musik nimmt eine Interlinearversion zwischen Text – Bild – Zunehmender Absenz von physischem Klang (Schweigen und Verstummen) wahr und thematisiert auf ganz unterschiedliche Weise die Bewegung des Windes, seine Eigenschaft als Hauch, als Odem (pnéuma) des Geistes (nóus) und damit den Assoziationsreichtum des Transmitters „Luft“, über den sich der Geist wie die Musik überträgt. Die Musik eröffnet also über den Klang, über den kleinsten Hauch in Form einer „Anmutung“ eine Sphäre von Transzendenz, ohne über sie buchstäblich zu verfügen. Mark Andre betont dabei die Herkunft von pnéuma und nóus aus dem „Aramäischen ‚ruach‘ (Atem, Luft, Wind...Geist)“ und vernimmt in seinem Stück „Echos aus diesem Wortfeld, wie es von Jesus von Nazareth artikuliert wird als Heiliger Geist. Im Stück selbst geht es um eine nüchterne, strikte, nicht illustrative Kategorisierung durch die Entfaltung der kompositorischen Zwischenräume im Prozess des Verschwindens“.23 21 Mark Andre, iv 17 (8 Miniaturen für Sopran und Klavier), 2018-2019; Verlag Litolff/Peters. EP 14441). Aufnahme mit Yuko Kakuta, Sopran und Yukiko Sugawara, Uraufführung Luzerner Festspiele 2019 und Konzert im Eclat-Festival Stuttgart 2020. 22 Vgl. die mehrfache Spiegelung der Zahl 8, im dritten Kapitel des Johannes-Evangelium, auf das die Acht Miniaturen anspielen. Zugleich ist diese Zahl wirksam, wenn der entsprechende Vers nochmals nach syntaktischen Einheiten aufgeschlüsselt wird, wodurch sich ebenfalls die Zahl 8 ergibt. Zugleich ist diese Endzahl dadurch ausgezeichnet, dass der Komponist am Schluss seiner achten Miniatur im Gegensatz zu den früheren sieben Stücken nicht mehr mit dem Bibel-Zitat enden lässt, sondern auf einen offenen Horizont ausrichtet. 23 E-Mail vom 21. 4. 2020 von Mark Andre an den Verfasser.

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Abb. 13: Mark Andre, IV 17 8 Miniaturen für Sopran und Klavier. Mit freundlicher Genehmig des Verlags Peters und der Universal Edition

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X. Zusammenfassung und weiterführende Perspektive n. Inter-esse: Dazwischen- Sein der Existenz zwischen zumindest zwei Möglichkeiten Gewöhnlich wird Interesse, auch das zielgerichtete wissenschaftliche Interesse mit Blick auf Identität und Nicht-Identität bestimmt. Dabei ist es hier irreführend von einem sich verselbständigenden eigenen oder fremden Interesse zu sprechen, weil mit dem Inter-esse, mit dem Dazwischen-Sein, gerade eine labile und brüchige und passagere Bewegung zwischen einem Ich- und Anders-Sein bezeichnet wird. Im wörtlichen Sinn ist denn dem Inter-esse eine passagere und fragile Bewegungsform zwischen einer scheinbar gesicherten Identität und offenen Nicht-Identität in der Anerkennung eines Anderen und Fremden eigentümlich. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich systematisch das Standard-Buch Bewegen im Zwischenraum und das Kapitel „Zwischenzeiten – Zwischenräume“24 im Buch „Hybridkultur“ von Yvonne Spielmann.25 In Erweiterung mit Bezug auf Verhältnis von Choreografie und architekturalem Raum wäre die Studie von Kirstin Maar über William Forsythe26 heranzuziehen, die vor allem von den Zwischenräumen handelt, die im „Entwerfen von Schauplätzen und Handlungsräumen“ entstehen, die „keine abgeschlossenen Werke, sondern dynamische Gefüge von Körpern und Räumlichkeit“ entstehen lassen. Dass der Bedeutung von Musik in Forsythes Arbeiten dabei keine weitere Beachtung geschenkt wird, ist für die Frage von Zwischen-Räumen von Architektur, Köperbewegung und Installation bemerkenswert. Denn in den vergleichsweise eindeutigen mit Musik verbundenen Choreografien wie A quiet Evening und vor allem der Choreografie mit Bachs berühmter Chaconne in d-moll (Full-length mit dem Ballett Frankfurt) spielen gerade auch die nicht Spiegel-symmetrischen Verläufe von rhythmisierter Körperbewegung und musikalischer Metrik/Rhythmik eine entscheidende Rolle. Dies gilt vor allem auch für die Beziehung zwischen den relativ metrik-freien Partien der Kadenzen in der Chaconne J. S. Bachs und ihrer Umsetzung der rhythmisierten Bewegungsabläufe der Figuren auf der TanzSzene. Die Studie von Maar verdient aber im Kontext der Diskussion einer 24 WIRTH, 2012; vgl. dort vor allem den Beitrag von Uwe Wirth. 25 SPIELMANN, 2010; dort insbesondere das Kapitel „Zwischenzeiten – Zwischenräume“, S. 177-199. 26 MAAR, 2019.

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„Zwischenkörperlichkeit“ insofern besondere Beachtung als sie über die „exzentrische Positionalität“ der Selbstabständigkeit hinaus, wie sie die philosophische Anthropologie Helmut Plessners entwickelt hat, auch eine besondere Dimension des „Dazwischen“ im architekturalen Raum der Choreografie geltend macht. Denn man könnte beim Tanz auf Grund der Nähe der Körper und der Verschlungenheit der Bewegungen der Körper annehmen, dass ein ‚Dazwischen‘ gar nicht wirksam wird, weil der Hautsinn des einen Körpers sich unmittelbar mit dem anderen berührt, aber das zitierte Buch macht gerade auch in der separaten Positionierung der Tanzkörper im Raum eine indirekte Berührung durch bestimmte „cues“27 wie Atem, Rhythmus usw. geltend. Es entsteht damit eine spezifische ‚Zwischenkörperlichkeit‘, die auch für die Musiker im Konzertsaal oder bei den Proben geltend gemacht werden kann.

Literatur ADORNO, THEODOR W., Philosophie der neuen Musik (1949), Frankfurt am Main 1958. ADORNO, THEODOR W., Über einige Arbeiten von Anton Webern, in: Musikalische Schriften V, hg. von DERS., Frankfurt am Main 2003, S. 673-679. ANDRE, MARK, iv 17 (8 Miniaturen für Sopran und Klavier), 2018-2019; Verlag Litolff/Peters. EP 14441). BUSONI, FERRUCCIO, Fantasia contrapunctistica, erste Ausgabe und Fassung für ein Klavier im Verlag Breitkopf & Härtel in Leipzig 1910 unter dem Werkverzeichnis BV 256. 27 MAAR, 2019. Zum Zusammenhang von Bewegungen von Körpern im Raum, von solchen, die sich nahe stehen und berühren und solchen, welche in weitem Abstand voneinander ihre Aktionen ausführen und spezifisch zur ‚Zwischenkörperlichkeit‘ schreibt Kirsten Maar Folgendes: „Die Mischung der Trainingsformen von klassischem Ballett und zeitgenössischen Techniken sowie die gleichzeitige Anwendung nach innen gerichteter Techniken und streng analytischer Verfahren, welche die Antizipation von Bewegungen ermöglichen, trainieren diese körperlich-sinnliche Fähigkeiten und machen nebst den Alltagserfahrungen der Tänzer die Zwischenkörperlichkeit der Tänzer aus [Hervorhebungen vom Verf. Martin Zenck]. Auch die Fähigkeit, Impulse am anderen Ende des Raumes aufzunehmen, wird durchaus mittels jener Relationen reguliert, denn die Art des Verhältnisses bleibt bei größerer oder geringerer Entfernung bestehen, hier wird es jedoch nicht über Hautkontakte, sondern über bestimmte cues, wie z. B. ein gemeinsames Atmen oder einen bestimmen Rhythmus vermittelt.“ MAAR, 2019, S. 143.

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DAMMANN, ROLF, Die Florentiner Domweihmotette Dufays (1436), in: Der Dom von Florenz mit Guillaume Dufays Motette zur Domweihe von 1436 auf Schallplatte (= Architektur und Musik, Band I), hg. von WOLFGANG BRAUNFELS, Olten u.a. 1964, S. 73-85. DERRIDA, JACQUES, Grammatologie, Frankfurt am Main 1983. HENRICH, DIETER, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016, S. 19-38. HIEKEL, JÖRN PETER, Resonanzen des Nichtevidenten. Mark Andres Musiktheaterwerk wunderzaichen, in: Mark Andre. Musik-Konzepte 167 (II/2015). Neue Folge, hg. von ULRICH TADDAY, München 2015, S. 15-39. HÖLDERLIN, FRIEDRICH, Die Kürze; aufrufbar unter Samuel Beckett Digital Manuscript. Beckett International Foundation, The University Reading, 01.09.2020. MAAR, KIRSTIN, Entwürfe und Gefüge. William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen (= Reihe Tanz Script), Bielefeld 2019. NAUCK, GISELA, Musik im Raum – Raum in der Musik. Ein Beitrag zur Geschichte der Seriellen Musik (= BzAfM, Bd. XXXVIII), Stuttgart 1997. NIERHOFF-WIELK, BARBARA/WÖLDICKE, EVELYN, Frank Gehry/Hans Scharoun – Strong Resonances/Zusammenklänge, Berlin, 2019. PASCHA, KAHLED SALEH, „Gefrorene Musik“. Das Verhältnis von Architektur und Musik in der ästhetischen Theorie, Phil. Diss., Berlin 2004. PRAETORIUS, MICHAEL, Syntagma musicum, hg. von ARNO FORCHERT, Faksimile, Kassel 2001. SCHNEEDE, UWE/MÜHLING, MATTHIAS, Mit Samuel Beckett in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2003. SCHOPENHAUER, ARTUR, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Leipzig 1892. SPIELMANN, YVONNE, Hybridkultur, Frankfurt am Main 2010. STOCKHAUSEN, KARLHEINZ, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Köln 1963. WEBERN, ANTON, Vier Stücke für Geige und Klavier, op. 7, gespielt von Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann (Aufnahme während der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik im Konzert vom 9. September 1958 im Schloß Heiligenberg), IMD 12305/59. WIRT, UWE, Bewegen im Zwischenraum, (= Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Band 3 Logik der Kulturforschung), Berlin 2012.

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Architektonische Zwischenräume: optische und konzeptuelle Unschärfe in der dekonstruktivistischen Architektur JENNIFER KONRAD I. Unschärfe: von der Optik zur Kun st und Architektur Die Unschärfe – ein Phänomen, welches spätestens mit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht mehr bloß als die Schattenseite des vermeintlich klaren, scharfen Wahrnehmens verstanden wurde, sondern sich zu einem breiten künstlerischen Phänomen entwickeln konnte. Als Inbegriff künstlerischer Unschärfe wird häufig der Impressionismus verstanden, der das Vage und Eindruckshafte zu einer Bildsprache erhob.1 Seither hat sich die Inszenierung von und die Operation mit Unschärfe in der Kunst etabliert, die Auseinandersetzung mit einer Geschichte der Unschärfe verdeutlicht ein breites Spektrum an Anwendungs- und Rezeptionsmöglichkeiten im Wandel der Zeit. Dabei wird sie als künstlerisches Mittel in Form eines visuellen Effekts verstanden, der primär in der Malerei, Fotografie und Grafik zu verankern ist. Berühmtes, jüngeres Beispiel ist u. a. der von Gerhard Richter 1988 angefertigte Zyklus 18. Oktober 1977, bei dessen Entstehung Richter Fotografien zur Vorlage nahm und diese auf Leinwand übertrug. Die noch feuchte Farbe ist mit einem trockenen Pinsel

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SCHWARZ, 2009, S. 40. Unschärfe ist in Einzelfällen wesentlich früher in der Kunstgeschichte auszumachen, u.a. in Tizians Spätwerk, welches rekursiv mit der impressionistischen Bildsprache in Relation gesetzt wird.

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derart verblendet, so dass die alltäglichen, realistischen Motive den fotografischen Effekt einer fehlerhaften Scharfstellung oder Verwackelung erhalten.2 Allerdings ist Unschärfe, trotz ihrer Gegenwärtigkeit in diversen visuellkünstlerischen Gattungen, keine genuin künstlerische Operation, sondern – ebenso wie ihr Positivpendant, die Schärfe – zuallererst eine rein optische Eigenschaft, die mit Wahrnehmung zusammenhängt: Sehschärfe ist nach Marc Wellmann die „größtmögliche Identität eines Gegenstandes mit seiner optischen Repräsentation“3, sie definiert die saubere Unterscheidung einzelner Details. Dagegen unterminiert die Unschärfe diese Unterscheidung, es entsteht eine optische Ungenauigkeit, welche die Grenzlinie zwischen den Dingen verschwimmen lässt, wodurch eine klare Zuordnung von Elementen innerhalb eines bestimmten Sichtfeldes nicht mehr bestimmbar ist. Auch wenn nach dieser gängigen Definition visuelle Unschärfe zunächst als ein störender Nebeneffekt erscheint, beispielsweise in Form von physiologischen Krankheiten wie grüner oder grauer Star, nimmt sie einen signifikanten Stellenwert für die allgemeine optische Perzeption ein, denn der Bereich des maximalen Scharfsehens umfasst nur einen Grad innerhalb des Gesichtsfeldes (der Ausschnitt, den das menschliche unbewegte Auge wahrnimmt). An der visuellen Peripherie dagegen reagiert das Auge z. B. wesentlich empfindlicher auf Bewegungen – ein Effekt, der ebenso wichtig ist wie der scharfe Fokus.4 Die Unschärfe definiert damit einen wesentlichen Großteil der Optik und ist rein physiologisch eine Bedingung für das Scharfsehen. Als eminente Eigenschaft der Perzeption, welche jedoch im Prozess größtenteils latent bleibt, kann die optische Unschärfe künstlerisch inszeniert werden.5 Sie stellt sich als Eigenschaft heraus, die ein Schwanken zwischen verschiedenen visuellen und affektiven Zuständen provozieren kann: zwischen Wahrheit und Illusion.6 Unschärfe ist symptomatisch für den Zwischenraum, insofern über ihren Einsatz verschiedene Formen des Dazwischen evoziert werden können, da sie die Möglichkeit einer eindeutigen Verortung von Elementen

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GAßNER/KOEP, 2011; WELLMANN, 2005, S. 15. WELLMANN, 2005, S. 12. WELLMANN, 2005, S. 13. Ähnlich wie der blinde Fleck, siehe FOERSTER, 1993, S. 21; vgl. auch METZ, 2018, S. 495: Christian Metz betont, „dass die ergreifende Wirkung unscharfer Bilder darauf beruht, dass ihr Betrachter hier jener Unschärfe ins Antlitz schaut, die ihm eigen ist, die er aber gemeinhin verdrängt.“ WELLMANN, 2005, S. 12.

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verhindert und zu einer Auflösung von klaren, festgelegten Zuschreibungen führt. Dadurch initiiert Unschärfe fluide Räume, die zwischen klar markierten Orten und Nicht-Orten oszillieren.

II: Unscharfe Architektur: eine Definition Nun stellt sich die Frage: Kann Architektur unscharf sein? Klar ist, dass architektonische Unschärfe nicht derjenigen in der Bildkunst ähneln kann. Bei letzterer wird Unschärfe im eigentlichen Sinn – als optischer Effekt – produziert. Da Architektur jedoch an weiteren Charakteristika als nur ihrer formalen Erscheinung definiert werden muss, ist es nötig, nach alternativen Möglichkeiten zu suchen, wie Unschärfe für die Baukunst anwendbar gemacht werden kann. Gerade weil Unschärfe keine spezielle künstlerische Gestaltung, sondern zunächst visueller Zustand ist, kann angenommen werden, dass sie nicht nur in planimetrischen Kunstgattungen und auf der Ebene der Gestaltung, sondern ebenfalls auf räumliche Weise und in unterschiedlichen Bedeutungsebenen in der Architektur angewandt wird. An der Schwelle zwischen den zwei- und dreidimensionalen Gattungen stößt man zunächst auf eine Crux: Peter Eisenman thematisiert 1995 in seiner Publikation Blurred Zones7 die Notwendigkeit einer Differenzierung von Unschärfe in der Kunst und Architektur. Er erkennt einerseits eine Schwierigkeit in den Beschaffenheiten der Künste selbst und andererseits in der Bedeutung der Figur/Grund-Relation. Zunächst einmal wird die Bildkunst von der Kontur definiert, welche sich auf einer planimetrischen Ebene mit der Figur und dem Hintergrund befindet. Die Architektur dagegen besitzt ein räumliches Profil, wodurch die Bedeutung von Figur und Grund dementsprechend neu ausgelegt werden muss.8 Ursprünglich aus dem Bereich der optischen Sinneswahrnehmung stammend, ist die Figur-Grund-Wahrnehmung die Unterscheidung zwischen dem mit dem Auge fokussierten Vordergrund, der als Figur bezeichnet wird, und dem unfokussierten Hintergrund.9 Unschärfe entsteht dann, wenn die Differenz zwischen Figur und Grund nicht mehr eindeutig bestimmt werden kann. In Malerei und Grafik erfolgt die Unterminierung zwischen Grund und Figur auf der gleichen, zweidimensionalen Ebene bspw. durch die Verminderung 7 8 9

EISENMAN, 2003a. EISENMAN, 2003b, S. 98. ARNHEIM, 2000, S. 228f.

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von Kontrasten oder die Auflösung von Konturen.10 Die Architektur ist allerdings ein dreidimensionales Medium, welches zunächst keine Kontur als Grenze von Figur und Grund auf derselben Ebene besitzt. Stattdessen verfügt die Architektur über ein realräumliches Profil.11 Das Verhältnis von Figur und Grund wird für die Architektur laut Inge Hinterwaldner nicht als optische Eigenschaft definiert, sondern als physisches Verhältnis zwischen dem Bauwerk als materialisierte Figur und dem bebauten Boden als Grund.12 Wie lässt sich in Anbetracht dieser Unterscheidung Unschärfe für die Architektur verstehen? Geht man von Christoph Asendorfs Definition aus, so besteht sie aus einer mehrdeutigen Botschaft, die sich als „Schleier“ oder „Rauschen“ auf die Wahrnehmung auswirkt: Mehrdeutigkeiten entstehen dann, „wenn Überlagerungen oder Unschärfen einen eindeutigen Wahrnehmungsbezug erschweren.“13 Hier geht es weniger um die gestalterische Negation von fester Form als vielmehr um eine Verklärung von präzisen Signalen im Allgemeinen, die dem Rezipienten eine Eindeutigkeit der Zuschreibung verwehren bzw. ihm die Entscheidungsmöglichkeit zwischen mehreren Optionen geben. Für die Architektur „[…] werden Gestaltungsmodi entwickelt, die statt auf die Separation der Dinge in statischen Räumen auf deren dynamische Interaktion setzen.“14 Diese Unschärfe als Unentschiedenheit zweier Modi formen Zwischenräume auf gleich mehreren Ebenen: in gebauter Form, bspw. durch transitorische Räume, visuell qua optischer Täuschungen als auch konzeptionell. Auf Grundlage der bisherigen Ausführungen lautet meine These, dass erstens Unschärfen verschiedener Art im Werk von Peter Eisenman zum Einsatz kommen, welche speziell am Wexner Center for the Arts analysiert werden sollen, ein Bauwerk, welches eng mit seinen architekturkritischen Denkansätzen verknüpft werden kann. Eisenmans Prinzipien der Unschärfe können dahingehend sowohl in seiner Theorie, seinen Entwürfen als auch am gebauten Werk identifiziert werden. Zweitens spielt die u. a. in der Malerei relevante, visuelle 10 ASENDORF, 2001, S. 155.: „Die Künstler der Moderne beginnen, dieses Verhältnis [Trennung von Figur/Grund] bis zum Erreichen eines Grenzwertes auszureizen, wo die Unterscheidung der beiden Faktoren und die Erkennbarkeit des Dargestellten unmöglich würde.“ 11 Vgl. EISENMAN, 2003b, S. 98. „The process of blurring in painting is of necessity different for architecture. […] Contour in painting is on the same plane as both its figure and its ground. In architecture the profile is not on the same plane; it is always elevated and separate from its ground.” 12 HINTERWALDNER, 2013, S. 176f.; EISENMAN, 1995c, S. 148. 13 ASENDORF, 2001, S. 155. 14 EBD.

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Figur-Grund-Relation entgegen Eisenmans oben erwähnter Differenzierung der Bild- und Baukünste dennoch eine Rolle für sein Schaffen, wodurch neben den architektonischen auch bildkünstlerische Unschärfen auffindbar sind. Und drittens dienen Unschärfen der Visualisierung von Eisenmans Diskursreflexion in Form einer „Architektur des Dazwischen“15 (engl. „Architecture of Becoming“16), welche mit seiner Kritik an der sog. anthropozentrischen Architektur zusammengeführt werden können.

III: Peter Eisenmans Wexner Center als Bauwer k der Unschärfe Das Wexner Center for the Arts auf dem Campus der Ohio State University in Columbus wurde 1983 bis 1989 von Peter Eisenman gemeinsam mit Richard Trott entworfen (Abb. 1).17 Ausgangspunkt des Gebäudeentwurfes ist einerseits das städtische Raster von Columbus sowie das der Universität. Um dem Campus eine eigene Identität zu verleihen, entwarf Frederick Olmsted im Jahr 1909 eine spezielle Rasterstruktur, die etwas außerhalb der Stadt für den Campus angelegt wurde und um 12,5 Grad vom bereits bestehenden Stadtraster abwich.18 Peter Eisenman schichtet nun die beiden Raster und organisiert aus den entstehenden Überlagerungen die Raum- und Bauelemente für das Wexner Center. Der Plan veranschaulicht die konkurrierenden Strukturen beider Raster, welche auf den ersten Blick bereits prädestiniert sind, Zwischenräume in Form eines Wechselspiels zwischen Stadt und Campus zu erzeugen (Abb. 2). Doch Eisenmans diagrammatische Entwürfe stehen darüber hinaus in einem engeren Verhältnis zum Begriff des Zwischenraums – oder dem „Interstitiellen“19, wie er es nennt – als es der erste Eindruck vermuten lässt.

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Vgl. EISENMAN, 1995a. EISENMAN, 2003b, S. 96. GOLDBERGER, 1989, S. 1. Oval, The Ohio State University: Proposed Olmsted campus plan, 1906, Ohio State University Archives, Zugangsnummer 05_0004142, Nr. X1129 (http://hdl.handle.net/1811/37803, 10.01.2020). 19 EISENMAN, 2003b.

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Abb. 1: Peter Eisenman, Wexner Center for the Visual Arts, Ohio, 1983-1989, Foto von OZinOH, CC BY-NC 2.0 license, https://search.creativecommons.org/photos/fdd2415f-21ef-47a9-a240011695d72b46 Der Architekt arbeitet seit Beginn seiner Schaffenszeit mit dem Diagramm als Entwurfsmittel und nutzt dieses zur Umsetzung seiner kritischen, theoretischen Positionen.20 Einer der größten thematischen Schwerpunkte Eisenmans ist das Versäumnis, ein zeitgemäßes Paradigma für die Architektur zu entwickeln, welches von alten Traditionen wie dem Anthropozentrismus abkehrt, welcher mit dem mathematisch-logischen Sehraum und Konstruktionen wie dem menschlichen Maßstab, Symmetrie, Achsialität etc. operiert.21 Eisenman kritisiert, dass im Gegensatz zu allen anderen Disziplinen die Architektur des 20. Jahrhunderts totalisierende Verfahren nicht überwinden konnte und keine Kritik an den obsoleten modernen Einheitsglauben entwickelt habe, wie es etwa in den Geistesund Naturwissenschaften der Fall war.22 Dabei erkennt Eisenman speziell in der Baukunst ein immenses Bedürfnis, ja sogar die Grundbedingung, sich stetig neu definieren zu müssen. Als dreidimensionale, reale Verkörperung stellt Architektur immer ein Zentrum dar, welches Wahrheit für sich beansprucht, und zugleich

20 HÖFLER, 2013, S. 153. 21 EISENMAN, 1995f, S. 206. 22 EISENMAN, 1995c, S. 146.

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jenes Zentrum negieren muss: „Sie muß stören, ohne ihr eigenes Sein zu zerstören […].“23 Das Diagramm besitzt das Potential, die Linearität logischer Räume sowie die Nachvollziehbarkeit des Entwurfsprozesses aufzuweichen.24 Es kann selbst als ein Darstellungsmedium angesehen werden, welches sich in einem Dazwischen von Text und Bild verortet, indem sich der rational-strukturelle Inhalt über bildstrategische Aspekte wie die Anordnung von Formen und Flächen in einem logisch nachvollziehbaren System äußert.25 Für Eisenman nehmen diagrammatische Entwürfe „weder eine Struktur noch eine Abstraktion einer Struktur“26 an und besitzen durch ihre Unentschiedenheit die Möglichkeit, „Voraussetzungen wie Lage, Programm, Funktion und Bedeutung zu destabilisieren.“27 Prozesse des Interstitiellen sowie Eisenmans Methode des Blurrings liegen im Diagramm begründet, „wo nicht nur das Profil, sondern die gesamte Organisation konzeptionell verwischt wird […].“28 Um dies zu evozieren, geht der Architekt folgendermaßen vor: Es wird ein erstes Diagramm hergestellt, welches Faktoren wie eine Organisation von Funktionen, eine Typologie und eine Struktur des Baugeländes besitzt.29 Dieses erste Diagramm beinhaltet zunächst bekannte Parameter, die einer gewissen architekturtraditionellen Ordnung und Norm unterliegen. Das Diagramm und seine implizierten „traditionellen Modi“30 sollen nun unterlaufen werden. Dafür wird ein weiteres Diagramm angefertigt, „daß Prozeße enthält, die, sobald sie mit dem ersten Diagramm überlagert werden, ein Verwischen der Form/Funktion- und Bedeutung/Ästhetik-Beziehung verursachen, welche das erste Diagramm hervorgebracht zu haben scheint.“31

23 24 25 26 27 28 29 30 31

EISENMAN, 1995b, S. 100. HÖFLER, 2013, S. 153. BACHMANN, 2013, S. 9. EISENMAN, 2005c, S. 145. EISENMAN, 2005a, S. 167. EISENMAN, 2005e, S. 92. EBD., S. 88. EBD. EBD., S. 89.

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Abb. 2: Peter Eisenman, Wexner Center for the Visual Arts, Ohio, 1983-1989, Entwurf Eisenman Architects Beide Entwürfe stehen für sich und werden in einem dritten Schritt zusammengeführt bzw. übereinandergelegt, wodurch sie ihre jeweilige Gültigkeit bewahren, ohne sich gegenseitig auszuschließen.32 In diesem Moment entstehen Kollisionen, Brüche und Verschiebungen, die einen Zustand des „Dazwischen“33 evozieren, indem vielfältige, gleichwertige Beziehungen zwischen dem ersten und zweiten Diagramm geknüpft und zugleich verworfen werden. Indem weder der eine noch der andere Text wahr oder falsch ist, ist der Entwurf in der Lage, eine Oszillation zwischen beiden architektonischen Optionen zu generieren, ohne eine Seite auszuschließen. Das hat zur Folge, dass eine dritte Form des Interstitiellen zwischen den Entwürfen initiiert wird. Das Konzept bildet dahingehend eine Unschärfe aus, als dass das unentschiedene Mäandern zwischen den Aspekten eine klare Zuordnung bzw. Grenzziehung nicht mehr zulässt. So kann Eisenmans reflexive Architektur entstehen, die zum einen konstituierende Eigenschaften besitzt, wie z.B. die Zentrierung der „architektonische[n] Schutzfunktion […] während [sie] zugleich dieses Zentrum zerstreut und entschärft […].“34 Mit der Schichtung von Stadt- und Campusraster als erstes und zweites

32 EISENMAN, 1995a, S. 163. 33 EBD., S. 164. 34 EBD., S. 135.

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Diagramm ist ein erster Schritt in Richtung einer Architektur des Dazwischen getan, die die Eindeutigkeit ihres eigenen Konzepts hinsichtlich Sinn, Funktion und Ästhetik verwischt.

IV: Unsc härfe von Figur und Grund Peter Eisenman unterscheidet, wie oben angemerkt, eindeutig zwischen den Möglichkeiten von Unschärfen in der Bildkunst und Architektur. Nichtsdestotrotz ist die bildkünstlerische Figur/Grund-Relation Bestandteil seiner Entwurfsund Gestaltungspraxis, und das sowohl in zwei- als auch dreidimensionaler Form, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Während des gewöhnlichen Wahrnehmungsaktes entsteht eine automatische Erkennung und Trennung von Vorder- und Hintergrund, wobei in der Regel ersterer fokussiert wird, während letzterer in die visuelle Peripherie fällt.35

Abb. 3: Necker-Würfel, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Neckerwuerfelrp.png

Dieses Verhältnis von Priorisierung ist allerdings nicht konstant und kann durch bestimmte figurale Kompositionen zu einem Wechsel führen, so dass der Hintergrund zum Vordergrund wird und umgekehrt. Das sogenannte „Vexieren“ von Figur und Grund findet sich in vielen Bildstudien wie dem Necker-Würfel 35 SCHOBER/RENSCHLER, 1972, S. 18.

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wieder (Abb. 3). Solche Konstruktionen, die auch Vexier- oder Kippbilder genannt werden, sind doppeldeutige, instabile Darstellungen, da sie mehrere gleichplausible optische Möglichkeiten darbieten, wobei immer jeweils nur eine Ansicht wahrgenommen werden kann: Der Blick muss wechseln, um alles (nacheinander) erkennen zu können.36

Abb. 4: Peter Eisenman, Wexner Center for the Visual Arts, Ohio, 1983-1989, Entwurf Eisenman Architects Bemerkenswert ist, dass jener Effekt in einer farbigen Collagenstudie Eisenmans für das Wexner Center erfahrbar wird: Diese ist in drei vertikale Abschnitte geteilt, die jeweils unterschiedliche Farbigkeiten aufweisen. An den Konturen sind zum Teil Elemente zu erkennen, welche reibungslos über die senkrechte Aufteilung hinaus fortführen, wohingegen an anderen Stellen eindeutig Brüche der Formen entstehen (Abb. 4). Sowohl flächige Rasterbänder als 36 ZSCHOCKE, 2006, S. 75.

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auch perspektivische Gitterstrukturen erstrecken sich über die Bildfläche, die deutlich machen, dass Planimetrie in dreidimensionale Volumina übergeht. Auffällig ist die von diversen Seiten ausgehende Zentrierung aller Raster, welche in der Mitte aufeinandertreffen. An genau diesem Punkt, dem Ort des maximalen Konflikts, entspringt nun das räumlichste Element, nämlich jene später im Bau weiße Gitterstruktur, welche die Achse des Wexner Centers markiert. Man kann nicht sofort erkennen, ob es sich um ein zweidimensionales Muster oder um einen dreidimensionalen Körper handelt. Eisenmans Collage weist zudem frappierende räumliche Ähnlichkeit mit Giovanni Battista Piranesis Tafel XIV der Serie Carceri d‘Inventione von 1745 auf (Abb. 5).37 In Piranesis Kerkerserie tauchen auf mehreren Blättern optische Täuschungen in Form von Vexiermotiven, ergo Kippbildern auf.38 Da das menschliche Wahrnehmungssystem auf Eindeutigkeit ausgelegt ist, erzeugt der Raum zwei gleichwertige Informationen, welche zu einem unauflösbaren Widerspruch führen, indem der Blick zwischen den beiden im Vexierbild angelegten Figuren zu oszillieren beginnt.39 Das Oszillieren zwischen Figur und Grund ist nun das, was zu Mehrdeutigkeit und damit zur Unschärfe führt. In seiner Collage verblendet Eisenman ebenso zwei- und dreidimensionale Elemente auf einer Fläche und fügt zudem einzelne Bildfragmente zu einem heterogenen Konglomerat. Die sich immer wieder überkreuzenden Schichten machen es unmöglich, Figuren als solche von einem klaren Grund zu trennen. Eisenman bedient sich jener bildkünstlerischen Unschärfe in Form der planimetrischen Figur/Grund-Relation: Hier entstehen mittels Überlagerung und Tiefenillusionen optische Unklarheiten, die analog zu den konfrontierenden Rastern die physische Struktur und Formgebung des Bauwerks bedingen. Das Kippen als Unschärfe wird zu einem Mittel für die Auflösung von räumlichen Ordnungen.

37 Giovanni Battista Piranesi ist ein Künstler, mit dem sich Peter Eisenman in mehreren Aufsätzen intensiv beschäftigt hat. Vgl. u. a.: EISENMAN 2004a, EISENMAN 2005b; EISENMAN, 2004b; SCHWARZ, 1993; EISENMAN, 2005f. 38 SCHÖNHAMMER, 2011, S. 2; MERSCH, S. 12. 39 ZSCHOCKE, 2006, S. 82.

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Abb. 5: Giovanni Battista Piranesi, Carceri d’Inventione, XIV, 1761, Quelle: Vogt-Goeknil, Ulya, Giovanni Battista Piranesi. Carceri, Zürich 1958, Abb. 19 Entgegen der von Eisenman behaupteten Problematik einer bildkünstlerischen Figur-Grund-Unschärfe in der Architektur, soll im Folgenden nachgewiesen werden, dass solch visuelle Mehrdeutigkeiten zwischen Zwei- und Dreidimensionalität sehr wohl auch in der Architektur anzutreffen sind. Die Kräfte der Stadt- und Campusraster des Wexner Centers sind nicht nur in Eisenmans diagrammatischem Entwurf erkennbar, sondern materialisieren sich ebenso mit der gebauten Substanz. Das Kernstück des Centers bildet die 165 Meter lange Gerüststruktur, die quer durch das Ensemble verläuft und die planaren Gittersysteme des Entwurfs in eine dreidimensionale Matrix extrudiert. Eisenman halbiert die Gebäudeanlage durch diesen Korridor, der auf der Nord-Süd-Achse dem Stadtraster folgt, also zum Graphen für die 12,5 Grad Verschiebung wird. Das aus Stahl bestehende, weiß gestrichene Gerüst steht zum einen Teil frei, zum anderen Teil ist es mit Wandstücken des Neu- und Altbaus verbunden und impliziert absichtlich eine Unvollständigkeit, wie bspw. das Mäandern zwischen Masse und Leerraum, zwischen architektonischem Schutz und Bloßstellung.

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Abb. 6: Wexner Center, Durchblick durch Achse, rechts das Mershon Auditorium, Foto von leah1201l, CC BY-NC-ND 2.0 license, https://search.creativecommons.org/photos/a4a7d82e-8803-48cf-9d6dfdce70960790, 20.09.2020 Zwischenraum entsteht hier zunächst aus der baulichen Komposition heraus: Westlich neben der Achse befindet sich das 1957 erbaute Mershon Auditorium, das gemeinsam mit der im Osten befindlichen Weigel Hall durch den Neubau des Wexner Centers verbunden werden sollte. Zwischen den weißen Gitterstäben und der Außenwand des Mershon-Baus bildet sich neben dem südlichen Eingang ein keilförmiger Zwischenraum, der aufgrund der kollidierenden Ausrichtungen der Bauwerke entsteht: Das Auditorium richtet sich nach dem Campusraster, wohingegen die Wexner-Achse am Stadtraster orientiert ist. Dem Zwischenraum sind ein polygonaler und ein zersprungener Turm vorgelagert, wodurch jenes Areal unpassierbar wird und dennoch eine räumliche Realität erhält. Weiter oben nähern sich Achse und Mershon Auditorium so an, dass sich beide Baukörper in Richtung nördlichen Eingang berühren: Hier wird die Ostwand des Auditoriums zum begrenzenden Element des weißen Gitters, wodurch die ehemalige Außenwand auf einmal als Innenwand fungiert (Abb. 6). Die Achse ist zwar ein Bauelement des Wexner-Neubaus, durch die Interaktion mit

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dem Mershon Auditorium und durch ihre eigene, einmalige Gestaltung erscheint sie jedoch weder als Teil des Neu- noch des Altbaus, sondern als etwas Drittes, das sich je nach Position dem einen oder dem anderen zuschreiben lassen kann.40 Eine bildkünstlerische Figur/Grund-Täuschung entsteht von der südlichen Eingangssituation her: Steht man unmittelbar vor dem Gerüstschacht, entwickelt dieser eine starke perspektivische Sogwirkung in Richtung Passage, wobei der Durchblick von einem am Ende befindlichen, querliegenden Backsteinbau gestoppt wird. Verändert man seinen Standort nach Osten in Richtung Mershon Auditorium, legen sich die einzelnen Gitter des Rasters übereinander, das klare Muster verschiebt sich netzartig zu einer Überlappung an weißer Substanz, die nun ganz im Gegenteil jegliche Tiefenwahrnehmung verwehrt und ein optisch planimetrisches Muster bildet (Abb. 1). Das Spiel einer Verortung von Figur und Grund wird von der zwei- auf die dreidimensionale Ebene gehoben und mit einem kinästhetischen Erlebnis verknüpft, indem die Einschätzung von Raum und Tiefe von den verschiedenen Standpunkten aus jeweils vollkommen unterschiedlich erscheint – es handelt sich hierbei um eine optische Täuschung. Eisenmans Kritik an der anthropozentrisch ausgerichteten Zentralperspektive findet anhand der Gitterachse eine treffliche Visualisierung, indem perspektivische Logik sowohl impliziert als auch negiert wird. Als Unterminierung und damit Verwischung von Figur und Grund operiert die Achse mit den Mitteln einer Anamorphose, die in der Art und Weise der Inszenierung wie eine Vexierfigur funktioniert, insofern auch sie zwei Figuren in sich birgt, die jedoch nacheinander und nur durch den Wechsel des Standpunktes hervortreten. Ein weiterer Blick auf das Gerüst verdeutlicht, dass die Subversion von Figur und Grund auch noch auf andere Weise und ohne zusätzliche Bewegung erzeugt werden kann: Mit dem Wechsel des Standorts Richtung Osten, der die Verschiebung des Gitters und damit die optisch-dichte Schichtung der weißen Streben verursacht hat, entsteht ein visueller Eindruck des Flimmerns, der als MoiréEffekt bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um eine ursprünglich in der Vervielfachung von Drucken auftauchende optische Täuschung, die eine unruhige Bildmusterung durch das Übereinanderschichten von Rastern erzeugt, und als Störung galt, die zu vermeiden war.41 Die dicht beieinander liegenden, überlappenden Linien nimmt das Auge als Flirren wahr, da es die Strukturen nicht mehr eindeutig unterscheiden kann. Sie scheinen sich optisch aufzulösen (Abb. 7).42 40 EISENMAN, 2005d, S. 177. 41 BORN, 1972, S. 437. 42 SCHNEIDER, 2011, S. 129. Siehe auch: WELLMANN, 2005.

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Der Moiré-Effekt, auch als „Papillotage“43 bezeichnet, ist inzwischen eine etablierte künstlerische Strategie der visuellen Überreizung, welche untere anderem in der Op Art Anwendung findet. Beide Phänomene können eindeutig als Unschärfe-Effekt bezeichnet werden, indem ein Unterscheiden zwischen Figur und Grund in diesem Zustand nicht mehr möglich ist.44 Gleichzeitig kann der Rezipient zwischen den Optionen „perspektivischer Raum“ und „Netzstruktur“ wählen und diese qua Positionswechsel stufenlos und in mehreren ineinanderfließenden Ansichten abrufen. Damit finden ursprünglich in der Bildkunst etablierte Inszenierungen von Unschärfe, welche mit der Unterminierung einer räumlichen Verortung der Objekte operiert, hier in der Architektur Einzug.

Abb. 7: Moiré. Stockfotos, Foto von Nilsjohan, public domain license, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Moir%C3%A92.png

Peter Eisenmans Vorstellung einer Figur/Grund-Relation speziell für die Architektur zielt nun weniger auf die Formgebung und Gestaltung als auf das architektonische Konzept, welches qua Diskontinuitäten Zwischenräume entwickelt, um sich von der Architekturtradition zu emanzipieren. Für die Architektur wird, wie bereits erörtert, die Figur/Grund Relation in Form des Bauwerks als Figur und dem Boden als (Hinter-)Grund räumlich differenziert. Diese Definition ist nach Eisenman „eine der Hauptbedingungen, die traditionellerweise die Architektur legitimiert haben“45 und einen Anspruch auf Wahrheit evozieren, von

43 „Papillotage“, in: GILLON, 1960. 44 DIDEROT, 1967, S. 9. 45 EISENMAN, 2005f, S. 127.

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dem er sich entfernen möchte.46 Es ist abermals Giovanni Battista Piranesi, der laut Eisenman mit einem weiteren Werk jene architektonische Relation überwunden hat: dem Plan des Campo Marzio von 1762. Als eine Zeit- und Raumschichten verwischende, den Maßstab zerstreuende Kartografie der Stadt Rom im 18. Jahrhundert besitzt Piranesis Campo Marzio keine Straßen- oder Wegeführungen mehr, sondern stellt einen flächigen Baugrund dar, auf dem sich ein Gewebe aus realen und fiktionalen Bauwerken ausbreitet, welche sich, ebenfalls wie in der Collage, zum Teil in ihren Strukturen überschneiden (Abb. 8).47 Laut Eisenman wird die Figur/Grund-Beziehung zunächst dadurch zerstört, dass Piranesis Plan ausschließlich aus Figuren besteht, bei denen „der Hintergrund lediglich ein Leersein ist“, welche „das Filigrane der Figuren unterstreicht“48, und keinen Baugrund im klassischen Sinne markiert. Zusätzlich werden die zwischen den Figuren noch vorhandenen Leerstellen mit sogenannten „interstitiellen Figuren“49 gefüllt. Sie sind zwischenräumlich, da sie keine realen, historischen Bauwerke skizzieren, sondern entweder reale, aber an einen falschen Ort versetzte, oder ganz fiktive Gebäude darstellen, welche es so in Rom niemals gegeben hat.50 Die Idee des Interstitiellen entsteht hier durch das wechselseitige Verhältnis zwischen den Eigenschaften der jeweiligen Figuren und nicht mehr zwischen der Figur und dem Hintergrund.51 Erst auf dem zweiten Blick ist auch hier eine unmittelbare Ähnlichkeit hinsichtlich der Komposition erkennbar, wenn man den anfangs von Eisenman aufgezeigten Achsenplan wiederholt betrachtet (Abb. 2).

46 Vgl. EISENMAN, 1995b, S. 99, S. 100: „[W]eil sie [die Architektur] Mörtel und Ziegel ist, gibt die Architektur das Versprechen von Wirklichkeit, von Authentizität und reiner Wahrheit.“ 47 EISENMAN, 2004a, S. 85. 48 EISENMAN, 2005f, S. 127. 49 EBD. 50 EISENMAN, 2004a, S. 84. 51 EISENMAN, 2005e, S. 100.

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Abb. 8: Campo Marzio. Quelle: Höper, Corinna (u.a.): Giovanni Battista Piranesi - die Poetische Wahrheit, in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit, 1999, S. 305.

V: Konzeptionelle Unschärfe Peter Eisenman möchte mit dieser Idee den Grund als statischen Ort, auf den ein stabiles Bauwerk gesetzt wird, umwandeln in eine Figur, welche dem Bauwerk als ‚erste‘ Figur gegenübersteht. Eisenman versteht das Verhältnis nicht mehr in Form von Bauwerken als reale dreidimensionale Figuren auf ebenem Grund, sondern als zwei gleichwertige Aspekte, die in einem heterarchischen statt hierarchischem Verhältnis zueinanderstehen. Jene Auflösung von Grenzziehungen soll in Form einer konzeptionellen Unschärfe erreicht werden. Mit dem Wandel von einem Figur/Grund- zu einem Figur/Figur-Verhältnis erkennt der Architekt ferner die Möglichkeit einer, wie er es nennt, „Verräumlichung“ Anstatt einer

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Formung.52 Der Begriff wurde Jacques Derridas Philosophie entlehnt, mit der sich Peter Eisenman in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts intensiv auseinandersetzte.53 In Eisenmans Fall meint Verräumlichung das Entstehen eines Zwischenraums, in dem sich Elemente gleichwertig und in einem Wechsel aufeinander beziehen können: „Die Zonen des Wechsels oder des Pulsierens bringen einen interstitiellen Zustand hervor, der weder vollständig körperlich noch vollständig leer ist, sondern eher etwas, das beides umfaßt.“54 Bei dem eingangs erörterten Prinzip der Superpositionierung von zwei Diagrammen können die einzelnen Entwürfe gleichermaßen als Figuren angesehen werden, welche jeweils für sich eine eigene Logik besitzen und durch das Übereinanderlegen in Interaktion treten. Die daraus entstehende Oszillation ist nun genau jene Verräumlichung, ein Zwischenraum. Eisenman beschreibt diesen Prozess letztlich als „Tätigkeit einer Moiré-Schablone beziehungsweise Filters, der es erlaubt, diese externen Spuren unabhängig von ihren bisherigen architektonischen Zusammenhängen zu betrachten.“55 Der aus der Bildkunst entlehnte Moiré-Effekt wird hier konzeptionell auf die dreidimensionale Architektur übertragen. Bislang konnte die von Eisenman definierte Unschärfe der Architektur in seiner Theorie bzw. in seinen Konzepten in Form der diagrammatischen Entwürfe nachgewiesen werden. Das Interstitielle im Sinne einer neuen Figur/Figur-Relation kann allerdings auch am real gebauten Wexner Center aufgezeigt werden. Peter Eisenman erkennt durchaus die Möglichkeit, sein Konzept in das gebaute Werk zu übertragen, indem er in Form eines Transfers „das verwischte zweidimensionale Diagramm der Überlagerungen nimmt und es in die dritte Dimension projiziert.“56 Dieser Prozess ist vor allem an der im Süden des Centers befindlichen Turmgruppe nachzuvollziehen. Die Türme bestehen aus rotem Backstein, der farblich sowie formästhetisch mit der modernen Ästhetik des Gerüsts dramatisch kollidiert (Abb. 9). Sie stellen eine Referenz zu einem historischen Zeughaus von 1898 dar, welches bis 1959 an diesem Ort stand, bevor ein Feuer es zerstörte. 52 EISENMAN, 2005e, S. 79f. 53 Jacques Derrida und Peter Eisenman haben sich Mitte der 80er Jahre kennengelernt und in einem andauernden intellektuellen Austausch ihre Überlegungen zu Architektur und Philosophie geteilt sowie gemeinsam Texte verfasst, welche in einem Sammelband publiziert wurden: DERRIDA, 1995; EISENMAN, 1995e; KIPNIS/LEESER/DERRIDA, 1997. 54 EISENMAN, 2005g, S. 140. 55 EISENMAN, 2005c, S. 157. 56 EISENMAN, 2005e, S. 88.

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Abb. 9: Türme des Wexner Centers, Foto von puroticorico, CC BY 2.0 license., https://search.creativecommons.org/photos/5dc6c550-f9c6-4887-9ddcc3d7667bc771, 20.09.2020 Der Hauptturm ist aufgespalten, wobei ein Drittel seiner Substanz gänzlich fehlt, während die anderen zwei Drittel sich um eine getönte Vorhangfassade gruppieren, die ein Aluminiumraster aufzeigt und dem weißen Gitternetz ähnelt. Bei genauerem Hinsehen wird sichtbar, dass die vermeintlich massive Backsteinsubstanz eine steinerne Vorhangfassade an einem Stahlskelett ist. Hier wird einerseits auf die Fragilität des historischen Bauwerks angesichts des Feuers verwiesen. Eisenman zielt andererseits auf die Abwesenheit des Waffenhauses, indem der Turm weniger Rekonstruktion als ein bewusster Rückgriff auf die Campusgeschichte in Form einer Reduktion auf einzelne Fragmente ist, die abstrahiert in den neuen Bau integriert werden. In einem Gespräch mit Peter Noever erläutert der Architekt, er habe das unsichtbare Fundament des Zeughauses als Spurenelement „ausgegraben“.57 Der Grund wird hier zur Bedingung der Architektur: Unsichtbare, zuvor anwesende und jetzt abwesende Elemente, die sich in die Geschichte des Ortes einschreiben, werden von Peter Eisenman zum Vorschein gebracht, allerdings nicht als Eins-zu-Eins-Rekonstruktionen, sondern als Abstraktionen, welche somit eine neue formale als auch inhaltliche Zuschreibung erhalten und zugleich Spuren 57 Eisenman, 2004a, S. 116.

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ihrer alten Gestaltung und Funktionen besitzen. Die Türme verweisen aber nicht nur auf etwas einmal Anwesendes und jetzt Abwesendes. Sie besitzen – wie das modern anmutende weiße Gerüst – durch ihre Fragmenthaftigkeit den Charakter des Noch-Nicht-Abgeschlossenen.58 Zugleich wirken die Türme auf den ersten Blick beinahe wie ein postmodernes Element, wohingegen im Inneren des aufgesprengten Hauptturms eine Vorhangfassade mit weißer Rasterung zu erkennen ist – ein Element der klassischen Moderne. Eisenman nimmt den Türmen mittels stilistischer Vereinfachung ihre ursprüngliche Funktion am historischen Zeughaus und versetzt sie nun in die zeitgenössische Ära des Wexner Centers. Die Türme sind nicht das, was man erwartet, worauf gerade der Schein der „Backstein“-Fassade und damit der Zusammenbruch der vermeintlichen Massivität hindeutet. Die architektonischen Elemente zeigen über den historischen Rückblick hinaus in eine Zukunft, da sie fiktional entfremdet sind, wodurch sie zu höchst artifiziellen Bauteilen werden, die dennoch Spuren des Vorangegangenen beinhalten. Vergangenheit und Zukunft, Postmoderne und Moderne – alle Aspekte liegen in einem Dazwischen. Das Wexner Center ist damit auch, ebenfalls wie der Campo Marzio, ein Konglomerat aus Fakt und Fiktionen, ein Gewebe, bei dem der Boden nicht mehr (Hinter-)Grund ist, sondern zu einer zweiten Figur wird, die das Bauwerk bedingt. Die Unschärfe entsteht genau in dem Mäandern zwischen diesen Positionen. Bezieht man diese Erkenntnis nun auf das Konzept der zwei Diagramme, so geht aus der Überlagerung von Stadt- und Campusraster eine Kollision der beiden in sich logischen Strukturen hervor. Diese Kollision lässt die Abwesenheiten, wie das historische Zeughaus, durch die Evokation von Diskontinuitäten wieder sichtbar werden. Eisenman spricht von einem „Einführen von Abwesenheit in das Ist der Architektur, eine Abwesenheit innerhalb ihrer Anwesenheit“59, bei dem es genau um das Sichtbarmachen ungesehener Aspekte geht, die von der Norm der Architekturtradition bislang unterdrückt wurden.60 Die gleichzeitige Abwesenheit innerhalb der Anwesenheit im Wexner Center ist eine Mehrdeutigkeit im Sinne einer Oszillation zwischen Etabliertem (Referenz auf Moderne und Postmoderne), dem Ausgeschlossenem (zerstörtes Zeughaus) und allen Nuancen dazwischen (dem Anschein des „Werdens“).

58 EISENMAN, 1995c, S. 146. 59 EISENMAN, 1995b, S. 102. 60 EISENMAN, 1995b, S. 106.

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Das Konzept der Architektur ist dahingehend unscharf, als dass Elemente wie das Gerüst und die Türme mehrere Interpretationsmöglichkeiten zulassen und keine Entscheidung zugunsten des einen oder anderen als einzig wahre Option zulassen.

Abb. 10: Treppe im Innenraum des Wexner Centers, Foto von puroticorico, CC BY 2.0, https://www.flickr.com/photos/10058483@N00/5086987345/, 20.09.2020 Die Unentschiedenheit, die sich visuell an der Achse und inhaltlich an der Turmgruppe des Bauwerks zeigt, kann sich zuletzt im Innenraum des Wexner Centers etablieren. Hier lassen sich die im urbanen und universitären Maßstab beschriebenen Gitter in Form der Organisation von strukturellen und funktionalen Elementen wiederfinden: Die Muster der Fußböden, Deckenfliesen sowie Wände sind Ableitungen dieser kollidierenden Raster. Im Interieur scheinen die konkurrierenden Kräfte am stärksten zu sein, indem das noch intakte Außengerüst hier gewaltsam bricht: Besonders eindrucksvoll ist die Position der Säulen im Treppenhaus (Abb. 10). Richtet man den Blick nach oben, so erkennt man ein fragmentarisches weißes Raster, aus dem sich eine von der Decke herabführende Stütze erstreckt, welche jedoch nicht auf dem ebenen Boden endet, sondern in

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die Haupttreppe des Wexner Centers verläuft und mit ihr verschmilzt. Es wirkt, als ob der Architekt die Positionierung des Elements fehlkalkuliert hat. Die Stütze ist ab dem zweiten Drittel mit zwei Querbalken verbunden, die eine Ecksituation bilden, an der sich die Stütze befindet. Das Dringen der Querbalken durch sie hindurch erzeugt eine kreuzförmige Form, welche die Wechselfunktion von Tragen und Lasten impliziert. Durch ihre schlanke Erscheinung, das breite Intervall bis zur nächsten Stütze sowie der gewaltigen Deckenkonstruktion, entsteht zugleich ein fragiler Anschein, als ob die Säule jederzeit umknicken könnte. Dieser instabilen Vorrichtung kommt eine weitere, wesentlich kräftigere Stütze rechts zu Hilfe, welche im Gegensatz zu der ersten leicht nach hinten versetzt ist und sich innerhalb der Gerüstvorrichtung befindet. Im oberen Abschnitt wirkt es, als wäre hier die stabilisierende Kraft angelegt – allerdings endet die Stütze über der Treppe abrupt. Das Stützensystem wird von einem sicheren Element der Stütze zu einem bedrohlichen, schwebenden Körper über den Köpfen der Studierenden. Diese Konstruktionskombination fordert ihre Wahrnehmung heraus, indem die klassische Aufgabe einer Stütze – das Stützen – augenscheinlich aufgehoben wird.61 Was Eisenman hier unternimmt, bezeichnet er als Blurring: Eisenman erkennt die Stütze als ein Element, welches sowohl eine reale Stütze als auch ein Zeichen für eine Stütze verkörpert, sie ist „zugleich ein Gegenstand und das Zeichen für diesen Gegenstand.“62 Als Zeichen der Stütze wird laut Eisenman nun nicht ihr strukturierender Charakter, sondern ihre Sinnbildlichkeit für eine von außen herangetragene Eigenschaft angesehen:63 So visualisiert die Säule als Stützelement nach Vitruv den Körper des Menschen, sie ist gleichermaßen Wandgliederung als auch ein Symbol für Stärke und Solidität.64 Eisenman kritisiert, dass die wirkliche und symbolische Form bei Bauelementen im Allgemeinen als untrennbar erscheinen, sie bilden nach ihm eine sogenannte „starke Form“, die „eine korrekte, wahrhaftige Beziehung zwischen dem Objekt der Architektur und seiner Bedeutung“65 impliziert. Diese vermeintlich wahre Verbindung wird im Blurring getrennt, indem ein Element nicht mehr allein den zugeschriebenen Bedeutungen entspricht. Dadurch entwickelt sich die Säule zu einer schwachen Form, wobei „schwach“ als durchlässig verstanden werden muss: 61 https://chrissparrow.files.wordpress.com/2010/11/csparrow_technique2.pdf, 20.09.2020. 62 EISENMAN, 2005a, S. 159. 63 EISENMAN, 2005a, S. 160. 64 VITRUV, 1991, S. 41. 65 EISENMAN, 1995d, S. 122.

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Zunächst wird die Stütze als Stütze hinterfragt, indem ihre Bedeutung für Stabilität, repräsentativ für die Anforderung an Schutz in der Architektur, ungültig wird. Es ist nicht mehr klar, welcher Sinn ihr zukommt, da sie nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck gerecht wird. Die eine Stütze im Wexner Center ist zu schmal, um Lasten tragen zu können, ihr gegenübergestellt ist die kräftige Stütze, welche jedoch unausgeführt bleibt, ja abgeschnitten wurde. Könnte man beide Elemente übereinanderlegen, so wäre eine tatsächliche, funktionale, sinnbildliche Säule vorhanden. In der Realität kann keine der beiden eine stützende Funktion haben. Oder doch? In diesem Moment der Perzeption wird eine Bandbreite an kognitiven Hypothesen ermöglicht, um die architektonische Störung nachvollziehbar zu machen.66 Mit der Trennung von Element und deren Bedeutung eröffnen sich neue Lesarten. So ist die Stütze zugleich Stütze und Nicht-Stütze; Stütze und Ornament, Raumteiler, unnötige Ausformung, Konstruktionsfehler usw. Das Vorgehen ist also in der Lage, die symbolische als auch physische Klarheit von architektonischen Elementen zu untergraben: Die allzeitgültige Form der Stütze als Stütze wird durch die alternative Erscheinung der fehlerhaft angebrachten Stützen im Wexner Center als eine Form unter vielen anderen reflektiert. Dadurch wird die Treppe gleichsam zu einem Medium, welches verschiedene Formen annehmen kann. Wenn Marc Wellmann Schärfe als „größtmögliche Identität eines Gegenstandes mit seiner optischen Repräsentation“ beschreibt, dann wird hier Unschärfe erzeugt, indem Eisenman die Identität der Stütze von ihrem optischen Sollzustand trennt. Das führt dazu, dass ein Bauwerk allgemein und speziell seine Elemente weiterhin funktionieren sollen, aber das Bild dieser Funktionen nicht mehr durch die Form repräsentiert wird: „Ein Haus muß immer noch als Unterkunft dienen, es braucht diese Funktion jedoch nicht mehr in symbolhafter oder romantisierender Weise darzustellen […].“67 Somit treten die durch das Blurring initiierten schwachen Formen mit der konzeptionellen Idee der zwei überlagerten Diagramme in Relation zueinander: Die sogenannten „unmotivierten“68, schwachen Formen besitzen keine vorhandene formale/funktionale/semantische Absicht, dadurch sind sie fähig, ein Oszillieren zwischen den Formen resp. Aspekten in 66 Vgl. ZSCHOCKE, 2006, S. 77: „Die Existenz eines Widerspruchs innerhalb der Hypothesen über die äußere Wirklichkeit führt zu einer visuellen Irritation, zu bewusst wahrgenommenen ‚Wahrnehmungsstörungen‘ und zu einer Verunsicherung auf emotionaler und gedanklicher Ebene.“ 67 EISENMAN, 1995d, S. 122. 68 EISENMAN, 2003a, S. 7.

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Gang zu setzen. Die Grenzen beider Seiten – Säule/Nicht-Säule – verwischen, wodurch sich eine Unschärfe ausbildet, welche zunächst nicht unbedingt visuell, sondern konzeptuell zu verstehen ist: In der Wechselseitigkeit werden Traditionen wie Schönheit, Repräsentation und Sinn nicht umgekehrt oder verleugnet, sondern in ihrer Autorität angezweifelt bzw. ihrer Alleinstellung beraubt.69 Dass die Säulen im Innenraum des Wexner Centers nun einerseits ‚falsch‘ verortet bzw. unfertig erscheinen, untermauert Eisenmans Prinzip des Blurrings auch visuell: Wir erkennen sie noch als Säule und verstehen ihren ursprünglichen Gehalt der Stabilität, werden jedoch zugleich mit der Unmöglichkeit der Säule konfrontiert, indem sie einerseits zum Hindernis und andererseits zu einer Art Dekorationselement wird. So wird die rezeptive Erwartung an Architektur unterminiert und eine Polysemie gefördert: Es entsteht Eisenmans sogenannte „Architektur des Dazwischen“70, die kritisiert, „daß Ursprung, Schönheit, Funktion, Wahrheit als natürlich […] gelten […]. [Sie] verleugnet weder Funktion noch Schönheit, [..] bestreitet aber ihre Autorität und verschiebt dadurch ihre Wahrnehmung.“71

VI: Architektur als Prozess Peter Eisenmans Wexner Center ist ein oszillierendes, vibrierendes Bauwerk durch und durch: Unschärfe ist bereits seiner Konzeption inhärent und speist sich sowohl aus theoretischen wie gestalterischen Gesichtspunkten. Während Eisenmans Theorie des Blurrings die Unschärfe als Überlagerung zweier „Texte“ versteht, durch welche die inhärente Logik beider Seiten miteinander kollidiert und bisher unterdrückte, nicht aktualisierte Möglichkeiten sichtbar werden, ist Unschärfe zugleich ein visuelles Medium, welches im Wexner Center und darüber hinaus in vielen Diagrammen und Entwürfen Eisenmans wiederzufinden ist. Speziell die Collage für das Wexner Center führt vor Augen, dass das optische Spiel mit dem Figur/Grund-Verhältnis für die Gestaltung des Bauwerks eine größere Rolle spielt, als bislang angenommen. Allerdings zeigen sich ähnliche Vexierfiguren auch im gebauten, dreidimensionalen Werk in Form 69 EISENMAN, 1995a., S. 158. 70 EISENMAN, 1995a, S. 157: „Eine dislozierende Architektur stellt sich gegen den Wert des Ursprungs oder des Autors; sie übersetzt keine ursprüngliche Vorstellung oder Gestaltidee, noch repräsentiert sie die Nutzung eines Objekts oder gar einen von außen kommenden Diskurs.“ 71 EISENMAN, 1995a, S. 158.

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von visuellen Störungen, die wiederum auf die sich kreuzenden Raster von Stadt und Campus verweisen. Die Unschärfe in Form von Überlagerungen ist folglich bereits in den Ort selbst eingeschrieben: Das Stadtraster nimmt im Entwurf das erste Diagramm an, das Campusraster ist das zweite Diagramm. Peter Eisenman erkennt diese unsichtbaren Strukturen, indem er den architektonischen Grund nicht mehr als planare, stereometrische Ebene annimmt, sondern als verstecktes Palimpsest, aus dessen Spuren das Bauwerk entsteht, das jene Erinnerungen und Zukunftsverweise visualisieren kann. Denn wenn zuletzt Figur und Grund in der Architektur als physische Relationen zwischen Bauwerk und bebautem Boden angesehen werden, so sieht Eisenman den Boden nicht mehr als formlose, statische Fläche an, sondern als eine „Art archäologisches Archiv“ voller Spuren, wodurch der Grund „immer mehr zu einer Figur“, avanciert, die relevant für seine Formfindung ist.72 Die aus den beiden Rastern hervorgehenden Zwischenräume der Diagramme bilden sich schließlich auch im Wexner Center aus: Eisenman intendiert hier einen Prozess der Reflexion, um das Verhältnis von Raum und Zeit, Vergangenem und Zukünftigen, Ordnung und Chaos, An- und Abwesenheit erfahrbar zu machen. Das Bauwerk greift bewusst auf Ortsgeschichte zurück und initiiert aus dieser einen Materialisierungsprozess, aus dem es selbst hervorgeht. Die Eindeutigkeit des Gebäudes wird damit aufgelöst in ein Dazwischen von Dagewesenem, Sein und Werden, Vergangenem und noch nicht Vollendet-Sein. Der Eindruck einer ständigen Weiterentwicklung wird unterstrichen, wenn Eisenman sagt: „It’s a building that is waiting to be a building.”73 Das Bauwerk wird zur Visualisierung eines architektonischen, nie vollendbaren Entstehungs- bzw. Fortschreibungsprozesses – im räumlichen, stilistischen sowie theoretischen Sinne. Indem er seine Bauwerke aus dem Unsichtbaren, Abwesenden herleitet, erzeugt Eisenman ein Unscharfwerden von Architektur als autonomes, mit Wünschen und Anforderungen aufgeladenes Objekt und überführt sie stattdessen in einen gebauten Zustand des Dazwischen. Führt man sich die gängige Definition von Unschärfe als Beiprodukt visueller Wahrnehmung vor Augen und zieht Eisenmans theoretische Ansätze hinzu, so wird letztlich ersichtlich, dass Unschärfe nicht mehr als negatives, für die Architektur ausgeschlossenes, sondern als ein produktives Element verstanden werden muss. Im Falle des Wexner Centers und ferner in Peter Eisenmans 72 HINTERWALDNER, 2013, S. 181. 73 https://wexarts.org/architecture, 12.01.2020.

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Ausführungen bedeutet Unschärfe, mehr wahrzunehmen, über den Rand hinauszuschauen und die Peripherien und Randgänge zuzulassen. Dadurch entwickelt sich die Möglichkeit des Fokussierens und Scharf-Sehens geradezu zur inferioren Option, da sie im Gegensatz zur Unschärfe Ausschluss bedeuten, während das Verwischen Einschluss produziert. Unschärfe wahrnehmen meint also, ein ‚Mehr‘ in verschiedenen Dimensionen perzipieren zu können: Erstens inhaltlich, als dass Unschärfe im Falle des Wexner Centers unübliche, ausgeschlossene Aspekte in den Diskurs der Architektur einführt, zweitens kognitiv, indem Bauelemente mit dem Verfahren des Blurrings von ihrem normativen Sinngehalt befreit werden und neue Deutungsmöglichkeiten zulassen, und drittens visuell, da die Betrachterin ein ‚Mehr‘ an optischen Reizen erfährt und mittels Bewegung neue, zuvor ungesehene Perspektiven aktiv erschließen kann.

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Zwischenräume/Übergänge. Gestalten der Uneindeutigkeit in der „Liquid Modernity“ CHRISTOPH ASENDORF I. Zwei Schaupl ätze Das Gegenüber zweier nahezu gleichzeitig eingerichteter literarischer Schauplätze lässt etwas von den Veränderungsenergien ahnen, die spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die gewohnten Lebenswelten umformen. Die ersten Kapitel von Adalbert Stifters Nachsommer-Roman verweisen auf einen langsam vergehenden Traditionsbezug, während das Gedicht A une passante/Einer Vorübergehenden aus Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal von 1857 (genauer aus der zweiten Fassung von 1861) den Modernitätspol markiert. Die Koinzidenz der Publikationsdaten markiert die Schwellensituation der Epoche; im selben Jahr 1857 erschien übrigens auch Gustave Flauberts Madame Bovary. Meine Ausgangshypothese ist, dass Stifters und Baudelaires Schauplätze gleichsam als Bühne eingerichtet wurden, um von einer Welt, in der „alles Ständische und Stehende verdampft“, ein Bild zu geben: von der „Liquid Modernity“1, der nun eingetretenen allseitigen Beweglichkeit der Weltverhältnisse überhaupt – und von dem, was mit ihr vergeht. Ein zentrales Merkmal der von Zygmunt Bauman beschriebenen Umwälzungen ist die veränderte Beziehung, bzw. genauer, die „Entflechtung von Raum und Zeit“.2 Das gewohnte 1 2

BAUMAN, 2000; dass das „Ständische und Stehende verdampft”, ist die bekannte und auch Baumans Titel mit inspirierender Formel aus Karl Marx, Manifest der kommunistischen Partei, Teil I, in: BORKENAU, Frankfurt/Hamburg 1956, S.101. BAUMAN, 2003, S. 15f.

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Kontinuum löst sich auf. So, wie räumliche Gefüge, deren Durchquerung in einem schrittweisen Nacheinander erfolgte, durch immer neue Beschleunigungsapparaturen gleichsam aufgesprengt werden, löst sich auch der Begriff der Zeit von natürlichen Rhythmen. Relationen und mit ihnen gegebene Ordnungen überhaupt werden disponibel. Der Vorgang kann von zwei Seiten her beschrieben werden – mit einer Vielzahl von Übergängen dazwischen: Das Neue ist ein Gewinn oder aber der Verlust des Alten. Baudelaire kommt aus Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“3, in der die Erscheinungsformen der Moderne ästhetisch von vielen Seiten her umkreist werden, parallel von Baudelaire und den Malern des Impressionismus, und Stifter aus dem postrevolutionären Kakanien, in dem auf eher restaurative Weise auf die Herausforderungen der Gegenwart reagiert wird. Aber auch das ist ein Modus der Verarbeitung, die Intensität der Beschwörung des Hergebrachten womöglich ein Indikator der Beunruhigung. Schon ein erster und ganz äußerlicher Abgleich der Szenarios führt auf die verschiedenen Interessensphären der Autoren: Stifters Welt wirkt auch 1857 noch biedermeierlich, sowohl Wien wie auch das ländliche Rosenhaus, wo Interieur, Garten und die umgebende Natur Gegenstand intensiver Erörterungen werden. Baudelaire hingegen thematisiert im Paris Haussmanns die Straße, den Ort der Zirkulation, was ein immer noch neuer Gegenstand literarischer Darstellung ist.4 Während in dieser Welt allumfassender metropolitaner Bewegung eine mögliche Liebe nur im Moment erfahrbar ist, der auch der ihres Vergehens ist, da entwickeln sich bei Stifter die Kommunikationen langsam, über lange Unterhaltungen hinweg; hier sind die natürlichen Zyklen und deren ruhiger Gang lebensweltbestimmend. Die Zeiterfahrung Baudelaires ist auf den Moment bezogen, auf Plötzlichkeiten, ‚Chocs‘, während bei Stifter überall das Dauerhafte durchscheint oder auch direkt angesprochen wird. Stifters epischem, erfahrungsbasiertem und in sich vollständigem Erzählen steht ein komprimiertes und abruptes Erleben gegenüber, wobei Baudelaire die strenge Form des Sonetts dazu benutzt, die Eindrücke und schnellen Perspektivwechsel zu sequenzieren, als wolle er das Flüchtige auf diese Weise halten. Baudelaires Helden aber leben in der Diskontinuität, sind in einer Welt der Übergänge auf der ständigen Suche nach Neuem, während Stifter das Alte beschwört, jedoch auf eine etwas irritierende, fast schon panisch um vollständiges 3 4

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So der Titel von Walter Benjamins Exposé zum Passagen-Werk, in: BENJAMIN, 1982, Bd. V.1, S. 45. Siehe BRÜGGEMANN, 1985.

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Verstehen bemühte Weise, so dass es seinerseits schon nicht mehr als wirklich verlässlich erscheint, sondern eher so, als ob man sich seiner immer wieder vergewissern muss. So gesehen verbände also beide Raumbilder in ihrer fundamentalen Verschiedenheit etwas, was sich mit einem Wort Hermann Lübbes vielleicht als die Erfahrung eines „änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes“ bezeichnen ließe.5

II. Kategoriale Diffusionen Bei Stifter wird eine Vielzahl eindeutiger Kategorisierungen präsentiert, eindeutiger Zuweisungen, die menschliche Verhältnisse genau wie die Dingwelt in vorgegebenen und unveränderlichen Ordnungen zeigen. Alles scheint nur in der Form unverrückbarer Eigenheit zu bestehen, Identitäten sind fixiert. Das impliziert, dass Zwischenzustände oder Uneindeutigkeiten in dieser Welt ausgeschlossen bzw. unerwünscht sind. Wenn das Übergängige und Veränderliche das Signum der Moderne ist, wenn diese eine Welt der Übergänge, Zwischenzustände und zwischenräumlichen Mehrdeutigkeiten ist, dann wird von Stifter höchst präzis und absichtsvoll eine exakt gegenteilige Weltordnung beschrieben. Die Eigenschaften dieser Welt ohne Ambiguitätstoleranz6 werden gleich auf den ersten Seiten des Nachsommers entfaltet; Gegenstand ist die Häuslichkeit, die Herkommenssphäre des Ich-Erzählers. Sein Vater ist ein Kaufmann, dessen Geschäft und Lager sich im selben Gebäude wie die Wohnung der Familie befinden. Alles Tun, ob es sich um Mahlzeiten oder Lektüren handelt, findet, unter Beachtung auch hierarchischer Unterschiede, in streng sequenzierter Form, also jeweils separiert und nacheinander statt. Nichts bleibt nach Gebrauch liegen, nach jeder Handlung wird die vorher gegebene Ordnung wiederhergestellt. Jedes Zimmer muss auch in seiner Funktion eindeutig erkennbar sein, denn die „gemischten Zimmer“, so heißt es über den Vater, „die mehreres zugleich sein können, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht leiden.“ Dem folgt ein Satz, der eine ganze substantialistische Ideologie formuliert: „Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein.“7 Heutige Wohnküchen oder auch Coworking Spaces erschienen solchem Identitätsdenken als 5 6 7

LÜBBE, 1982, S. 18. Zu heutigen Tendenzen siehe BAUER, 2018. STIFTER, 1982, S. 9-11, hier S. 11.

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unbegreifliche Auflösungserscheinungen. Bemerkenswert ist aber die Genauigkeit, mit der Stifter gleichsam aus der Gegenrichtung die anstehenden Entwicklungen markiert, die sich auch zu seiner Zeit schon in den offeneren Interieurs der Häuser der Arts and Crafts-Bewegung, etwa denen Charles Voyseys, anzukündigen begannen. In Hinsicht auf Entwicklungen der Folgezeit müsste man in Stifters Logik von Eindeutigkeitsverlusten nicht nur bei derartigen Interieurs, sondern schon bei der Erscheinungsform von Materien sprechen. Auch hier lösen sich Fixierungen auf, und anders als nach Stifters Maxime, dass Dinge nur eines und dieses ganz sein müssten, werden besonders im Art Nouveau Zwischenzustände und Uneindeutigkeiten auffällig betont. So erscheint auch bei Objekten, deren Formgrenze eindeutig bestimmt ist, die „Stofflichkeit mehrdeutig, changierend und stets zu Verschmelzungen und Verwandlungen bereit.“8 Beispielhaft zeigen dies etwa Glasschalen von Émile Gallé – die Materie wirkt wie von Adern durchzogen, die durch eine flüssige Substanz gleiten; das an sich feste Objekt hat also in seiner Stofflichkeit etwas Gallertartiges, wie noch nicht zur Form Geronnenes. Auch der pflanzliche Dekor von Jugendstilvasen erscheint häufig als nicht ortsfest, sondern wie auf einer Wasseroberfläche schwimmend. Das Bild der Materien ist hier also nicht determiniert, alles wirkt, wie von Kräften durchströmt, in einen Prozess kontinuierlicher Umwandlung einbezogen. Ähnliche Uneindeutigkeiten wie bei den Materien lassen sich auch, nicht durchgängig natürlich, aber doch in auffälliger Häufung in den Jahren um 1900 herum in anderen Zusammenhängen beobachten. So geschieht auch mit lebensweltlich vertrauten Dingen etwas, das sie aus der Sphäre der Eindeutigkeit bzw. Selbst-Identität heraushebt. Der Ich-Erzähler in Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1909) beschreibt eine Mühle, die alle Festigkeit verloren hat, zittert und in den Raum ausstrahlt9, während Oskar Kokoschka im Stilleben mit rotem Hammel und Hyazinthe, ebenfalls von 1909, einen im Wortsinn transzendenten Charakter der Dinge dadurch andeutet, dass vom Körper des toten Hammels ein Leuchten ausgeht, das so stark ist, dass es sogar den vor ihm stehenden Krug durchdringt. Und James Ensor10 visiert sich selbst in einem Zwischenreich von lebendiger Körperlichkeit und Skelettierung – ein Totenschädel mit Bart und Haartracht über einem korrekt bekleideten Leib. Der Blick dringt durch die Gesichtshaut und das Gesichtsfleisch auf deren knöchernen Träger. 8 SCHMUTZLER, 1977, S. 184, 186. 9 KUBIN, 1975. S. 118. 10 ENSOR, Mein Selbstporträt als Skelett, 1889.

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Hier wird die Konsistenz der Lebenswelt fragwürdig. Der Sensibilität der Künste des Fin de Siècle für Zwischenzustände von Dingen und Materien korrespondieren zeitlich technische Entwicklungen wie die Röntgenstrahlen, deren Bedeutung für die Kunst 1910 das Technische Manifest der futuristischen Maler als Erweiterung der Darstellungsmöglichkeiten preisen sollte, denn fortan würden „Bewegung und Licht die Stofflichkeit der Körper zerstören.“11 In diesen Kontext gehören auch Entwicklungen in der modernen Physik, von denen Kandinsky im Rückblick bekennen sollte: „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich [...] Alles wurde unsicher, wacklig und weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und unsichtbar geworden wäre.“12 Was sich hier andeutet, ist die offensichtlich sphärenübergreifende Erfahrung einer Welt, in der die gewohnten Vorstellungen einer eindeutigen und stabilen Ding- und Weltordnung fragwürdig werden. Dies zeigt sich neben den Materien und Dingen noch auf einer dritten kategorialen Ebene. Figur-Grund-Beziehungen sind ein grundlegendes Prinzip der Wahrnehmungsorganisation, deren psychologische Erforschung um die Jahrhundertwende beginnt. In der Regel hebt sich bei jedem Wahrnehmungsprozess ein Teil des Wahrnehmungsfeldes als Figur von einem Hintergrund ab. Ohne diesen Trennvorgang, der zu einem nicht geringen Teil auf Erfahrungen basiert, würden wir chaotische Häufungen unzusammenhängender Reizelemente wahrnehmen. So aber registrieren wir strukturierte, sich voneinander abhebende Formen, ob Objekte, Melodien oder ähnliches. Nur wenn die Reizbedingungen ausgewogen sind, kann ein Umschlagen, eine Inversion eintreten, der Grund plötzlich als Figur erscheinen. Und vor solchen Phänomenen, schreibt der Psychologe in Wolfgang Metzger in seinem Standardwerk über die Gesetze des Sehens, können „besonders empfindsame Menschen [...] aus der Fassung kommen“. Doch er fährt fort: „Zum Glück für unsere Seelenruhe kommen umschlagende Muster in der Natur nur selten vor.“13 Anders verhält es sich aber in der bildenden Kunst. Wer versucht, die Entwicklung zwischen 1900 und 1910 insgesamt zu überschauen, wird eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen heterogenen künstlerischen Richtungen

11 Wieder in: SCHMIDT-BERGMANN, 1993, S. 307-310, hier 309. 12 KANDINSKY, zit. n. d. Einl. von BILL zu: KANDINSKY ,1965, S. 12. 13 METZGER, 1953, S. 53f.

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Abb. 1: Édouard Vuillard, Mutter und Schwester im Atelier, um 1900. © akg-images dann feststellen können, wenn die Werke auf genau dieses Problem hin befragt werden, nämlich wie Figur-und-Grund-Beziehungen organisiert sind. So, wie ein ornamentales Vorsatzpapier14 des Jugendstilkünstlers Emil Rudolf Weiß die Unterscheidung von Positiv- und Negativform unmöglich macht, so assimiliert Édouard Vuillard im Gemälde Mutter und Schwester im Atelier ein Kleid der dahinterliegenden Wand (Abb. 1). Und während Pablo Picasso Figur und Grund in ein durchgängiges Relief auflöst (Trois Femmes, 1907/08), da scheinen Raum und Fläche in der Roten Harmonie von Henri Matisse aus dem Jahr 1908 über die gesamten roten Bildpartien hinweg nahezu ununterscheidbar ineinander überzugehen: Die Figur des Tisches verschwindet im Rot der Wand und im fortlaufenden Ornament; allein der Blick aus dem Fenster zeigt noch die gewohnte Ordnung der Dinge. Derartige Arbeiten zeigen eine insofern spezifische Sensibilität für das Verhältnis von Figur und Grund, als sie jetzt potenziell ihre Rolle tauschen können; 14 Abb. bei SCHMUTZLER, siehe Anm. 7, S. 16.

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verschiedene Modelle einer neuen, über die gewohnte Fraglosigkeit hinausgehenden Beziehung werden entwickelt. Zu vermuten ist, dass diese durchgängig zu beobachtende Aufmerksamkeit in einem Zusammenhang mit der zivilisatorischen Erfahrung gesteigerter Beweglichkeit steht – die Eindeutigkeit räumlicher Wahrnehmung löst sich auf und mit ihr die künstlerischer Formorganisation. An die Stelle von Fixierungen tritt die Simultaneität verschiedener Ansichten und Sehweisen. Die Einrichtung der Figur-Grund-Ambivalenzen ist eine der Reaktionsformen auf das Verschwinden eindeutiger und fixierter Ordnungen: ein visueller Umschaltmechanismus als Ausdruck des Bewusstseins für die Möglichkeit des Umschlages einer Sicht in eine andere. Wo sich aber eine Figur wie die des Vaters bei Stifter in solcher Lage fremd vorkommen müsste, exploriert die nächste Generation die sich hier ergebenden Möglichkeiten – in der Kunst wie auch in der Wissenschaft werden neue Modi des Weltbezuges entworfen, Modelle relationaler Wahrnehmung durchgespielt.

III. Die aufgebrochene Box Auch in der Architektur ändern sich die Dispositionen; Zwischenräume und Übergänge relativieren den Primat fixierter und funktional eindeutiger Strukturen. Auf verschiedenartige Weise werden Eigenschaften artikuliert, die, anders als es bei feststehenden Raumtypologien der Fall wäre, nicht eindeutig gefasst werden können. Ein Zwischenraum ist nicht nur keiner Standardkategorie zuzuschlagen, sondern dieser Raumtyp ist auch in sich polyvalent. Zwischenräume können definierte Räume verbinden oder selbst Räume des Dazwischen sein, beispielsweise innen und außen auf eine Weise ineinander überführen, mit der eindeutige Grenzmarkierungen überspielt werden. Zwischenräume können auch transitorische Räume sein wie etwa Passagen, oder aber durch Mehrfachkodierung im Sinne multipler Nutzungsmöglichkeiten charakterisiert sein; bei ihnen geht es grundsätzlich nicht um Eindeutigkeit, nicht um eine feste gestaltliche oder funktionale Identität. Natürlich gibt es Räume dieses Typs schon lange in der Architekturgeschichte; Muster eines mehrfach kodierten Raumes wäre schon ein Markplatz der Antike. Dennoch wird das Phänomen erst in der „Liquid Modernity“ wirklich virulent, werden hier doch angesichts der umfassenden Fluidisierung der Lebensverhältnisse Eindeutigkeitstraditionen gleichsam hinweggeschwemmt.

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Der kritische Ausgangspunkt lässt sich vielleicht markieren durch ein historisch spätes Beispiel starrer, hintereinander gestaffelter, funktional eindeutig und unverrückbar strukturierter Räume, denen auch eine Mentalität starrer Abschottung entspricht. Anders als Stifter, nämlich schon satirisch getönt, charakterisiert bzw. parodiert Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften ein solches Setting dort, wo er ein Empfangsritual des Professors Lindner beschreibt: Eine ihn aufsuchende Dame wird angemeldet und wartet im Vorraum, während der Hausherr sich von der gerade eingenommenen Mahlzeit entfernt, sich in einem weiteren Raum innerlich sammelt, um erst dann in einem wieder anderen Raum zu empfangen.15 Das bürgerliche Haus mit seiner strengen und hierarchischen Raumgliederung ist hier (die Szene spielt 1913) Abbild auch eines strikt kanalisierten sozialen Verkehrs. Bei dieser doppelten Fesselung setzen neue Konzepte an; der Wille zu Öffnung und Durchdringung, zu Entgliederung und Verschmelzung ist ein Kennzeichen schon des vitalistisch unterfütterten Jugendstils. Unter den tatsächlichen architektonischen Neuansätzen sollte sich der von Frank Lloyd Wright als für die Architektur der gesamten Klassischen Moderne besonders wirkungsmächtig erweisen. Eine große Gruppe seiner Privathäuser wird unter dem Namen „Prairie Houses“ geführt. Der Ausdruck bezieht sich auf einen zur weiten Landschaft des amerikanischen Westens passenden Haustyp, der wesentlich durch horizontale Erstreckung charakterisiert ist, mit entsprechenden Fensterreihen und überstehenden Dächern. Ziel ist, bei Vermeidung europäischer Vorbilder, eine genuin amerikanische Architektur, der es besonders um die Integration der Bauten in die Landschaft zu tun ist. Dieses Grundkonzept gilt für eine ganze Gruppe von Architekten, Frank Lloyd Wright aber differenziert es in sehr besonderer Weise aus, vor allem indem er mit einer neuartigen Grundrissdisposition operiert: sein „offener Grundriss“ nämlich lässt die Räume ineinander übergehen. Nicht mehr reihen sich separierte Räume aneinander, sondern durch Schiebetüren oder weite Durchgänge werden Verbindungen zwischen den Räumen geschaffen, was deren jeweilige Grenzen überspielt und ein Gefühl räumlicher Großzügigkeit erzeugt. Die Haupträume dieser Häuser von meist horizontal betonter Anlage liegen ebenerdig oder doch nur wenig erhoben, was neben dem freien Fluss der Innenräume auch den Kontakt zu Garten bzw. Landschaft verstärkt. Wright beschreibt sein Vorgehen als „Zerstörung der Kiste“16; Barrieren werden überspielt, die Räume im Inneren sowie der Innen- und Außenraum 15 MUSIL, 1978, S. 1069f., siehe auch S. 1049-1056. 16 POSENER, in: Arch+ 48, S. 34; vgl. insges. S. 32-43.

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gehen tendenziell ineinander über. So entsteht ein Bezug zur Natur, der auch auf die naturphilosophische Tradition von Henri David Thoreau und Ralph Waldo Emerson führt, auf die sich Wright gelegentlich bezieht. Was er will, ist eine „organische Architektur“, und das heißt in seinem Fall, dass es eine Beziehung zwischen Form und Funktion geben soll, dass Architektur also nicht abstraktformbestimmt sein soll, wie etwa bei den Proportionsprinzipien Palladios, sondern auf den Menschen und seinen Radius bezogen. Dazu kommt der Anspruch, mit lokalen Materialien zu arbeiten. Und diese werden spezifisch bearbeitet: Oberflächen sind nicht von neutraler Glätte, sondern so bearbeitet oder ornamentiert, dass ein Einklang von Objekt und Raum, von Formen und Farben entsteht.

Abb. 2: Frank Lloyd Wright, Sommerhaus in Fresno, Californien, Entwurf, aus: Wasmuth Portfolio Vol. 2, Tafel XLIIIa, 1910. © J. Willard Mariott Library, The University of Utah, Rare Books Collection, https://collections.lib.utah.edu/ark:/87278/s63x84mh, 28.05.2020

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Dies alles wäre interessant genug, eine bedeutende, aber doch amerikanische Entwicklung – wenn es nicht eine weiterführende Rezeption gegeben hätte. Hier spielt das Wasmuth-Portfolio eine besondere Rolle, die aufwändige Publikation Wright’scher Bauten im Berliner Wasmuth-Verlag (1910/11) (Abb. 2). Als das Buch erschien, arbeiteten drei der später wichtigsten Architekten der Klassischen Moderne bei Peter Behrens in Potsdam-Babelsberg, nämlich Mies van der Rohe, Walter Gropius und Le Corbusier – und alle studierten das Werk schnell nach Erscheinen. Eines der berühmtesten Gebäude der Klassischen Moderne, der Barcelona-Pavillon von Mies, errichtet 1929, mit den ineinanderfließenden Raumzonen wie auch delikat artikulierten Innen-Außen-Übergängen, läßt sich als konsequente Weiterentwicklung der Wrightschen Prinzipien verstehen. Mies und Wright lernten sich kennen, und es entwickelte sich eine so respekt- wie spannungsvolle Beziehung. Unter den Mitarbeitern Wrights befand sich eine Zeit lang auch Richard Neutra, der einen eigenen Typ von elaborierten Bungalows entwickelte, und bis in die 1960er Jahre in vielfachen Varianten auch umsetzte. Diese Häuser sind strukturell Übergangsräume, sollen explizit zwischen innen und außen vermitteln. Neutra formulierte eine eigene Theorie, in der verschiedene Einflüsse zusammenkamen. Wie schon für Wright, dessen Berliner Publikation er natürlich kannte, so war auch für ihn das japanische Haus eine Inspiration: hier gibt es ein flexibles Neben- oder Nacheinander von Nutzungen im gleichen Raum, und weiter transluzente Schiebewände mit Übergängen zwischen Räumen bei durchlaufender und schwellenloser Bodenfläche. Und diese Häuser „verschmolzen“, wie er einmal schrieb, mit den Gärten. Darüber hinaus spielte bei der Ausbildung seines Architekturkonzeptes auch Wilhelm Wundts Werk Grundzüge der physiologischen Psychologie eine Rolle, denn die hier beschriebenen „körperlichen Grundlagen des Seelenlebens“ gingen in Neutras sogenannten „Biorealismus“ ein, eine Architektur also, die die Sinne anspricht und das Wohlbefinden steigert. 17 Neutra wollte seine Häuser mit dem Baugrund „verweben“, und dabei kam der Verwischung jeder scharf markierten Grenze besondere Bedeutung zu. Mittel waren wandweite Fensterflächen, Bodenbeläge oder kleine Wasserbassins, die über die Hausgrenze hinweg liefen, und auch die berühmten „Spider legs“, Stützen und Balken, die sich ins Freie wie in einem langsamen Übergang vom Haus in den leeren Naturraum fortsetzen. Anders als beim Wright der PrairieHouses oder der offenen Struktur von Mies im Barcelona-Pavillon wird bei 17 Siehe LAMPRECHT, 2016, S. 9-16. Zu Wundt siehe bes. LAVIN, 2004, S. 36-38.

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Neutra die Architektur der fließenden Übergänge, der Zwischen- und Übergangsräume, zu einem membranhaft durchlässigen Ökosystem.18 Diese Architekturen sind allesamt kleine Labore der „Liquid Modernity“, Ausdruck einer Welterfahrung, die anstelle geschlossener Einheiten und fixierter Eigenschaften auf die Dynamik sich durchdringender Sphären setzt.

IV. Ungreifbare Grenzflächen Als Mies van der Rohe 1927 von den deutschen Spiegelglasfabriken den Auftrag erhielt, für die Stuttgarter Werkbundausstellung einen Demonstrationsraum zu schaffen, wählte er, in vollem Bewusstsein dieser Aufgabenstellung, eine so puristische wie irritierende Lösung. Um die raumgestalterischen Möglichkeiten von Glas zu zeigen, unterteilte er die einzelnen Raumzonen in dem offenen Grundriss ausschließlich mit von schlanken Metallrahmen eingefassten Glaswänden. Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer nahm diesen Raum ganz unter dem Gesichtspunkt eines Lichtspiels wahr: „Ein Glaskasten, durchscheinend, die Nachbarräume dringen herein. Jedes Gerät und jede Bewegung in ihnen zaubert Schattenspiele auf die Wand, körperlose Silhouetten, die durch die Luft schweben und sich mit den Spiegelbildern aus dem Glasraum selber vermischen.“ Diese Architektur erschien ihm als „ungreifbarer gläserner Spuk, der sich kaleidoskopartig wandelt.“19 Hier wurde ein so körperloses Lichtspiel geboten, wie auf andere Weise auch mit den vielfältigen Reflexionen im Barcelona-Pavillon, wo verschiedenartige Materialoberflächen und das Wasser in den Bassins ein reiches Licht- und Schattenspiel erzeugen (Abb. 3). Schon das Durchschreiten des Pavillons ist auf eine Weise sequenziert, die deutlich macht, dass Mies keinen linearen Durchlauf intendierte, sondern die Besucher fast filmisch mit einer Folge verschiedener Ansichten und Blickachsen konfrontieren wollte: der Pavillon wird über eine Treppe betreten, von der aus man eine 180-Grad-Kehre vollziehen muss, um nach innen zu gelangen, wo dann mehrere Bewegungsrichtungen offenstehen.

18 LAVIN, 1998, S. 69. 19 KRACAUER, 1927. Den Hinw. auf Kracauers Text verdanke ich BRÜGGEMANN, 1989, S. 264f.

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Abb. 3: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon – Innenraum mit Blick auf das kleine Bassin, 1929, Foto: Sasha Stone. © Berliner Bild Bericht – Fundació Mies van der Rohe, Barcelona Bei der Gesamtstruktur des Pavillons handelt es sich aber um ein Raumgefüge, wo Innen und Außen so ineinander übergehen, dass die Zonen kaum getrennt werden können. Besser als von einem klar definierten Innenraum ließe sich hier von einer inneren Raumzone sprechen, mit zumeist unverbundenen und nichttragenden Wandflächen, die sie umstellen und offen eingrenzen, sowie einem auf separaten Stützen ruhenden Dach, das über die Raumgrenzen hinausragt; diese innere Zone ist also nirgendwo kubisch geschlossen. Aus dem „Innen“ gelangt man über verschieden gefasste Übergänge wieder in ein Außen, das selbst in Teilen, wie etwa dem hortus conclusus mit der Kolbe-Skulptur, wie ein nach oben offener Innenraum angelegt ist. Die konsequent artikulierte ‚Übergängigkeit’ dieses Raumbildes wird noch verstärkt durch Wandflächen, die zwischen Opazität und Transparenz wechseln. Dabei kommen allein für die chromgerahmten Glasflächen drei verschiedene Sorten von Spiegelglas zum Einsatz. Die Reflexionen, die hier entstehen, mischen sich mit denen auf dem polierten Marmor, den ebenfalls verchromten

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Stützen und dem Spiel des Lichtes auf dem Wasser der beiden Bassins. Dass dieser sich im Durchschreiten erschließende und hochgradig wandelbare Raumcharakter von Mies von vornherein intendiert war, belegt nicht zuletzt eine seiner Entwurfszeichnungen von 1928/29, die eine Glaswand dezidiert als Träger eines entkörperlichenden Reflexionsspiels präsentiert.20 Ganz deutlich wird diese Qualität dann in einer der ikonischen zeitgenössischen Aufnahmen des Pavillons, die nach heutiger Zuschreibung von Sasha Stone stammt (der übrigens 1929 auch den Umschlag von Walter Benjamins Einbahnstraße gestaltete).21 Stone visiert die Innenzone mit Boden und Decke in vertrauter und stabiler Perspektivität – die Wandflächen aber scheinen im Spiel der Reflexionen von labiler, schwer greifbarer Materialität.

V. Durchdringung als „Pathosformel d er Moderne“ In der lange nahezu unbekannt gebliebenen Schrift Der Raum als Membran, die der Bauhausstudent, Tänzer und zeitweilige Mitarbeiter der Dessauer JunkersWerke Siegfried Ebeling 1926 veröffentlichte22, wird die Architektur aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet (Abb. 4). Ebeling geht aus von der Biologie, vom Aufbau einer Zelle. Die Zelle als grundlegendes Strukturelement des Lebens existiert nicht in einem stabilen Gleichgewichtszustand, sondern im „Fließgleichgewicht“. Ständig werden Stoffe aufgenommen, umgewandelt und wieder abgegeben. Über Membranen, also äußere Oberflächen, laufen die Stoffwechselvorgänge zwischen der Umwelt und der Innenwelt einer Zelle oder eines Organismus ab. Ebeling nun verspricht, architektonische Probleme mit Blick auf die Biologie zu lösen; ein Haus wird verstanden als „relativ starrer, mehrzelliger Hohlraumkörper“. Der Raum als Membran (von fern vergleichbar mit Neutras mehr

20 Abb. in RILEY/BERGDOLL, 2001, S. 240 (Nr. 152). 21 http://photography-now.com/exhibition/62987, 5.1.2020. 22 EBELING, Der Raum als Membran, Dessau 1926. Zu Ebeling selber: Walter SCHEIFFELE, 2011, S. I.

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pragmatischem und vor allem genuin architektonischem Konzept) hat die Aufgabe, die Kräfte der Erde und Atmosphäre mit denen der in ihm lebenden Menschen in einen „harmonischen Ausgleich“ zu bringen.23

Abb. 4: Siegfried Ebeling, Der Raum als Membran, Dessau 1926 (Originalumschlag, Reprint 2016, Edition Bauhaus 43). © Spector Books Der eigenhändig entworfene Umschlag der kleinen Schrift zeigt einen HausKubus in einem Kraftfeld, das auf ihn einwirkt. Ebeling (unter dessen wenigen Lesern sich auch Mies van der Rohe befand24) war zeitweilig Schüler Paul Klees, den die Fragestellung membranhafter Austauschprozesse selbst intensiv beschäftigte. Im späten Hauptwerk Vorhaben sind eine helle und eine dunkle Bildpartie durch die Umrißlinie einer menschlichen Figur geteilt, genauer gesagt, durch deren eine Hälfte, so dass die beiden Teile des Bildes als Innen- und 23 EBELING, siehe Anm. 22, S. 8, 11. Zur gegenwärtigen Ebeling-Rezeption siehe SCHEIFFELE, 2015. 24 Siehe NEUMEYER, 1986, S. 220.

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Außenraum lesbar werden. Der ‚Innenraum‘ zeigt weitgehend abstrakte Chiffren, die sich ‚außen‘, um ein weniges verändert, als Abbreviaturen von Menschen, Tieren oder Pflanzen darstellen. Vorhaben thematisiert also einen Prozeß der Umwandlung; die nach einer Seite hin offene menschliche Umrißlinie, an der entlang sich die Transformation vollzieht, erfüllt offensichtlich zwei Funktionen, nämlich die Sphären zu trennen und zugleich die Grenze durchlässig zu halten. 25 So bringt Klee einen Vorgang zur Darstellung, der sich weder sichtbar vollzieht noch überhaupt anschaulicher Natur ist. In der Sprache der Biologie wäre dies eine Membran, hier würde man von Permeabilität, Osmose und Aktionspotentialen reden (Abb. 5). Die Phänomene membranhafter Vorgänge ist nur ein Beispiel für eine der zentralen Fragestellungen am Bauhaus insgesamt – die Veränderungsdynamik nämlich scheinbar fixierter räumlicher Verhältnisse, der man auf vielfältige Weise nachging. Das berührt im weiteren Sinn die von Karl Marx bis Zygmunt Bauman konstatierte Beweglichkeit der Weltverhältnisse in der Moderne überhaupt. Der Zentralbegriff, unter den von den Modernisten Prozesse dieser Art gefaßt wurden, ist der der „Durchdringung“ – eine der „Pathosformeln der ästhetischen Moderne“26 und Chiffre auch raumzeitlicher Prozesse. Wie vielgestaltig das Phänomen der Durchdringung in Erscheinung treten kann, belegt schon eine größere Werkgruppe Paul Klees aus den frühen 1930er Jahren. Sich durchdringende Formgebilde weisen mit ihren nicht fixierten und fixierbaren Grenzen auf nicht eindeutig determinierte Zustände. Dabei sind sowohl die darstellerischen Verfahren wie auch die Sujets ganz verschiedenartig. So gibt es gleichsam gegenstandslose Durchdringungen weich-fließend ineinandergreifender Flächen, wie es die auch auf musikalische Verläufe anspielende Dynamisch-polyphone Gruppe von 1931 zeigt.27 Mit dynamischen Überlagerungs-, Überblendungs- oder Durchdringungseffekten operiert Klee aber auch bei statischen Objekten. In strikt orthogonaler Form begegnet dies etwa im Haus am Wasser, wo das Liniengerüst auf sich transparent überdeckenden Farbschichten an die offenen Grundrisse Mies van der Rohes erinnert.

25 Vgl. auch GEELHAAR, 1974, S. 92f. 26 BRÜGGEMANN, 1996, S. 450. 27 Abb. bei GEELHAAR, 1972, S. 135.

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Ausschwingende Kurvaturen hingegen repräsentieren im Gemälde Die Frucht ein biologisches Geschehen; ein Wachstumsprozess wird nicht eigentlich veranschaulicht, sondern übersetzt, von einem Kern aus in kreisend ausschwingenden Bahnen, die ihrerseits fein gestufte Farbfelder trennen.28 Dieses Bild mit seiner offenen Konfiguration befand sich übrigens im Besitz Mies van der Rohes.29

Abb. 5: Paul Klee, Haus am Wasser, 1930, 142, Aquarell und Feder auf Papier auf Karton, 30,5 x 45 cm, Privatbesitz, Schweiz. © Zentrum Paul Klee, Bern Auch Menschen, einzeln in ihrer Besonderheit oder auch in Interaktion, werden mit dezidiert unfesten Grenzen dargestellt, wie durchdringungsoffen bzw. ihre Umwelt durchdringend. So visualisiert (Kleiner) Narr in Trance diesen über in divergente Richtungen ausfahrende Lineaturen. Dazu äußerte Klee, dass hier ein Beispiel „für das Übereinanderlegen von momentgefaßten Bewegungen“

28 Abb. EBD., S. 142 (vgl. Text S. 140). 29 Siehe GIEDION-WELCKER, 1982, S. 115.

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gegeben sei.30 Im Aquarell Vermittlung31 werden beweglich gekurvte, durchlässige bzw. sich durchscheinend überlagernde Farbflächen zu einem Bild interpersonaler Kommunikation: hier sehen wir einerseits konturierte Figuren, und andererseits, ohne immer genau unterscheiden zu können, gleichsam Vermittlungsflächen, die sie ineinander zu überführen scheinen. Der Maler stellt nicht eigentlich Personen dar, sondern visualisiert ein Gespräch tatsächlich als Austausch, bei dem sich auch die Dimension bzw. Ausgedehntheit der Beteiligten ständig zu ändern scheint. Auf ihre spezifische Weise zeigt diese Werkgruppe Klees etwas von der Bandbreite möglicher Erscheinungsformen der „Durchdringung“, von nicht mehr statischen, sondern in Fluss geratenen Relationen aller Dinge und Verhältnisse als offensichtlicher Leitvorstellung der Klassischen Moderne. Nichts ist fest, das Dazwischensein, zwischen dem Einen gerade noch gegebenen und einem notwendig folgenden Anderen, wird zum Dauerzustand. Alle statische Abgeschlossenheit, so schreibt auch László Moholy-Nagy in seiner Programmschrift Von Material zu Architektur, soll überwunden werden. Berührt ist damit auch das Verhältnis von Figur und Grund: Körper, ob Menschen, Skulpturen oder Bauten, stehen nicht mehr als isolierte, stabile Einheiten in einer ebensolchen Umgebung, sondern interagieren mit ihr in immer neuen Konstellationen. „heutige raumerlebnisse beruhen auf dem ein- und ausströmen räumlicher beziehungen in gleichzeitiger durchdringung von innen und außen "[sic!]32 – und unter diesem Gesichtspunkt soll auch Architektur nicht mehr als starre Umhüllung von Innenräumen verstanden werden, sondern als bewegliches Gebilde, [...] als organischer Bestandteil des Lebens selbst.“ Das erfordert den Einbezug auch der Umgebung, die Erzeugung von Permeabilität durch Öffnung bzw. Perforation aller blockhaften Massen.33 Bauten sollen, statt zu isolieren, Beziehungen stiften, die Durchdringung nicht nur von innen und außen, sondern auch von „oben und unten“ herbeiführen helfen.34 Von „Durchdringung“ spricht genauso Sigfried Giedion, der Chefpropagandist des ‚Neuen Bauens‘. In seiner Schrift Bauen in Frankreich von 1928 legt er dar, dass heute auch Bauten sich öffnen, ihre Grenzen verwischen und 30 Siehe GEELHAAR 1972, siehe Anm. 26, S. 130, Abb. S. 132. Vgl. MARX, 2007, S. 146-149. 31 Abb. KUNSTSAMMLUNG NORDRHEIN-WESTFALEN u. a. (Hrsg.), Düsseldorf 1977, S. 80. 32 MOHOLY-NAGY, (1929) 1968, S. 203, vgl. das ganze Kapitel IV: Der Raum, S. 193236. 33 EBD., S.197f., 200. 34 EBD., S. 203, 222.

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„Beziehung und Durchdringung“ suchen. Als Paradigma dessen, was die aktuelle Architektur zu leisten vermag, führt er das Werk Le Corbusiers vor. Wo Frank Lloyd Wright das Haus nur in der Horizontalen in „einander durchdringende Räume“ aufgelöst habe, da überträgt Corbusier dieses Prinzip auch in die Vertikale.35 Seine Bauten sind keine fest umrissenen und abgeschlossenen Volumen mehr, Terrassen reichen ins Innere, Treppen verlaufen aussen. Wenn zwischen „Innen und Außen [...] die Schalen“ gefallen sind, können sich die Sphären durchdringen, und es werden Vermischungen und Simultaneitätserfahrungen möglich.36 Alles ist Übergang. Diese architekturästhetische Sicht leitet sich von übergreifenden kulturhistorischen Grundannahmen her: Für Giedion liegen die Voraussetzungen auch des ‚Neuen Bauens‘ und seiner Ästhetik im Entstehen des Industriezeitalters, das alle gesellschaftlichen Verhältnisse umgeschichtet habe. So, wie „der anonyme Produktionsprozeß, das Ineinandergreifen aller Vorgänge, das die Industrie darstellt [...], umformend unser Wesen ergreift“, und eine Welt umfassender Verknüpfung entsteht, so durchdrängen sich auch Wissenschaft, Kunst und Technik in der Moderne; das Leben sei nur als Gesamtkomplex zu erfassen, jede Trennung zu vermeiden.37 Das ist eine Idee allumfassender Kommunikation. Giedions Bezugspunkt dabei ist letztlich ein utopischer: der Saint-Simonismus, der über das Industriesystem das Anbrechen der klassenlosen Gesellschaft und das Ende der umgrenzten Staaten kommen gesehen habe.

VI. Durchdringung i n der Post- und Sp ätmodern e: Der Hyperraum und die „culture of c on gestion“ Auch wenn sich in der Epoche der Post- oder Spätmoderne andere Fragen als während der Klassischen Moderne stellen, und natürlich auch neue Begrifflichkeiten entwickelt werden, so haben sich die grundsätzlichen Herausforderungen nicht verändert, die sich angesichts einer permanent veränderungsoffenen Umwelt stellen; immer noch geht es um den Versuch der Analyse, womöglich auch um Kritik der Verhältnisse, und, im Bereich der Kunst und Architektur, um den Wunsch nach einer neuen und als den aktuellen Bedingungen angemessen empfundenen Ästhetik. 35 GIEDION, 1928, S. 96. 36 EBD., S. 7, 85. 37 EBD., S. 4f., 3.

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Abb. 6: John Portman, Bonaventure Hotel, Los Angeles, 1976. © Prayitno / Thank you for (12 millions +) view from Los Angeles, USA - Hotel Lobby, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=66004092, 28.05.2020 Dabei entwickelt sich die „Liquid Modernity“ ständig weiter, nur die Charakteristika der Übergängigkeit und oft auch Uneindeutigkeit bleiben bei allen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen bestehen. Der utopische Überschuss der 1920er Jahre fehlt später allerdings. Ein weiterer Unterschied der Epochen ist vielleicht, dass der, um den Titel eines Buches über das Bauhaus zu zitieren, unter den Bedingungen der Klassischen Moderne unternommene „Versuch, die Welt zu ordnen“ im Zeitalter der „Neuen Unübersichtlichkeit“ nicht

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mehr aussichtsreich erscheint.38 Zur Signatur der postklassischen Moderne gehören Räume sogar bewusst kalkulierter Unübersichtlichkeit. Frederic Jameson hat 1984 die weiteren kulturtheoretischen Implikationen derartiger Konzepte am Beispiel des von John Portman 1977 gebauten Bonaventure-Hotels in Los Angeles untersucht, und zwar in eindeutig kritischer Absicht (Abb. 6). Die primäre Eigenschaft des Bonaventure sieht er in der Abgeschlossenheit nach außen hin. Es sei ein „totaler Raum [...] eine in sich vollständige Welt“. Ohne Kontakt zur Außenwelt ist man in der mehrstöckigen und unüberschaubaren Lobby ganz von der Sphäre des Hotels und seiner Angebote umhüllt und geht so der Sicherheit verlustig, „sich selbst zu lokalisieren.“ Der Gast werde auf verwirrende Weise „untergetaucht“, stehe „bis zum Hals (und bis zu den Augen) in diesem Hyperraum“39, in dem sich die Ebenen und Raumzonen durchdringen. Dies ist ein kategorialer Zwischenraum auch insofern, als das Außen ins Innere invertiert ist bzw. in ihm substituiert wird; mit Sloterdijk ließe sich dies als „Weltinnenraum“40 bezeichnen. Das Bonaventure erscheint also als Ort, in dem die gewohnten Wahrnehmungskoordinaten und Raumbezüge bewusst aufgehoben sind, aber nicht – wie es in der Durchdringungsästhetik 1920er Jahren der Fall gewesen wäre – im Sinne einer in alle Richtungen öffnenden kommunikativen Anreicherung, sondern von deren Simulation in der Abgeschlossenheit. Jameson sieht, dass die hier eingesetzten Mittel durchaus verführerischer Natur sind. Er hoffte allerdings auf eine „Ästhetik nach dem Muster der Kartographie“, die es ermöglichen würde, auch für solche Umwelten, die ihm die Unübersichtlichkeit des aktuellen Weltzustandes repräsentieren, eine Technik von „cognitive mapping“ auszubilden. Bei ähnlichen Grundannahmen zieht Rem Koolhaas in seinem 1978 erschienenen Buch Delirious New York andere Konsequenzen – statt um Weltordnung oder mapping geht es ihm um Metropolitanität, und das heißt Anerkennung der gegebenen, unter Umständen sogar chaotischen Zustände, und deren Überführung in eine „culture of congestion“, eine Kultur der „Hyper-Dichte“.41 In den städtebaulichen Doktrinen der Klassischen Moderne, die, so wie es die Charta von Athen festlegte, das Gewebe der Stadt durchschneiden und nach Funktionen neu zusammenfügen wollte, sah er eine letztlich dysfunktionale Komplexitätsverdrängung, und propagiert umstandslos das Gegenteil. Probleme lösen zu 38 39 40 41

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WÜNSCHE, 1989; HABERMAS, 1985. JAMESON, in: HUYSSEN/SCHERPE, 1986, S. 45-102, hier S. 86-89. 95-97 SLOTERDIJK, 2005. KOOLHAAS, (1978) 1999, S. 11. Vgl. die Rez. v. FALKE, 1999.

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wollen, sei unsinnig, und er führt an drei Orten Manhattans beispielhaft vor, wie Räume der Durchdringung, höchster Verdichtung simultan gegebener Möglichkeiten aussehen können. Die Orte existieren, werden aber in einer übersteigerten Version vorgestellt. So wird das Waldorf Astoria zu einer allumfassenden kulinarischen Versorgungsmaschinerie, das Rockefeller Center zur Stadt unter einem Dach, während, wie in der Phantasie eines verspielten Sybariten, der Downtown Athletic Club für folgendes Angebot steht: „Austern essen mit Boxhandschuhen, nackt, im x-ten Stock – das ist die ‚Handlung’ auf der achten Etage oder, anders formuliert, das 20. Jahrhundert, wie es leibt und lebt“.42 Wo Jameson mit dem Instrument kritischer Distanzierung arbeitet, da geht es Koolhaas darum, die verwirrenden Gegebenheiten auszunutzen, auszureizen, durch sie hindurch die urbanen Lebenspotentiale anzureichern. Keine Eindeutigkeit mehr, keine Monofunktionalität – Koolhaas’ Idee ist Mischung, Überlagerung, Verdichtung. Wie für das Bonaventure gilt aber auch für den Downtown Athletic Club, dass Durchdringungsphänomene im abgeschlossenen Raum inszeniert werden; der Austernesser in seinem hyperverdichteten Habitat ist ein singularisiertes Subjekt.

VII. Flimmernde Transpar enze n Auffällig in der Architektur der Spätmoderne ist auch der Wunsch nach Mehrschichtigkeit – hier, etwa bei den (fast wie bei islamischen Mushrabijes) raffiniert durchbrochenen Fassaden des Berliner Debis-Gebäudes von Renzo Piano43 oder dem transluzenten Bregenzer Kunsthaus von Peter Zumthor, geht es um membranhafte Raum- bzw. Gebäudegrenzen, die sowohl abschließen wie den Blick in dahinterliegende Räume offenlassen. Nicht mehr die reine, kristallklare Transparenz der Klassischen Moderne ist intendiert, sondern die Artikulation eines Schwebezustandes, der zwischen dem Opaken und Transparenten in allen möglichen Zwischenstufen changiert. Dabei lässt sich vielleicht ein Zusammenhang mit dem Aufkommen der Informationsgesellschaft vermuten: So wie auf den Bildschirmen der Computer die digitalen Objekte immateriell, beliebig manipulierbar und auch übereinanderzuschichten sind, so bieten reflektierende, irisierend-schimmernde oder transluzente Grenzflächen dem Auge eine uneindeutig-veränderliche Erscheinung. Der stofflich-feste, opake Charakter der 42 KOOLHAAS, 1999, S. 150, 180, 159. 43 Siehe DAVEY, 1998, S. 40.

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Objektwelt, eine der für ihre Wahrnehmung scheinbar unverrückbaren Konstanten, scheint sich aufzulösen und es verschwinden auch eindeutige Figur-GrundBeziehungen; die Grenze zwischen Objekt und Umgebung wird fragwürdig. Das umspielt Fragestellungen der 1920er Jahre; der Durchdringungsraum der Industriegesellschaft wird in der Informationsgesellschaft auf neue Weise artikuliert. Die Verbindung wird sogar konkret greifbar, nämlich da, wo sich Architekten und Künstler der Gegenwart auf Bauten Mies van der Rohes beziehen, deren immaterielle bzw. ambivalente Eigenschaften nun reinterpretiert werden. So schien das japanische Büro Sanaa die Strategie der Entkörperlichung, die Mies im Barcelona Pavillon verfolgt hatte, Jahrzehnte später noch steigern zu wollen. Der noch 1929 abgerissene Pavillon war ja 1986 wiederaufgebaut worden, was eine neue Phase seiner Rezeption in Gang setzte. Die Pritzker-Preisträger, an fließender, nicht determinierter Architektur interessiert, richteten Ende 2008 eine Installation im Innern des Pavillons ein44, die dessen Gestalteigenschaften gleichsam über-artikulierte, indem sie nämlich in den rechtwinkligen Raum eine transparente Spirale aus Acrylglas hineinstellten. Die so entstehenden zusätzlichen Reflexionen ließen den sorgfältig ausbalancierten Raum sanft auseinandergleiten und machten auf diese Weise das Immaterielle seiner Architektur zum eigentlichen Thema. Ähnliche Interessen verfolgten offensichtlich auch Herzog & de Meuron mit dem nicht realisierten Projekt der Kramlich-Residence, das wie eine Wiederaufnahme des Mies’schen Glasraums wirkt: nun aber als Raumbild des Informationszeitalters, bei dem sich aus Ausblicke, Projektionen und Reflexionen mischen sollten.45 Zu erinnern ist auch an die Installation Jenny Holzers in der Berliner Neuen Nationalgalerie von 2002. Sie montierte unter die Decke des Mies’schen Glasraums Leuchtdiodenbänder, die, bei Dunkelheit und von innen betrachtet, durch die Reflexionen an den Glasscheiben weit in den Stadtraum hinausliefen und so das schwere Stahldach visuell schweben ließen. Unter den aktuellen Bauten mit neuartiger Transparenzartikulation ragt die Pariser Fondation Cartier heraus (Abb. 7): Jean Nouvel löste hier mittels raffiniert geschichteter Glaswände gleich ein ganzes Gebäude fast völlig in die Umgebung auf. Glasflächen, die über den selbst gläsernen Gebäudekern herausragen und andere, die zusätzlich frei im Raum stehen, erzeugen einen Eindruck flimmernder Unschärfe.46 Von der Straße aus erscheinen im Spiel der 44 Siehe COSTA u. a., 2010. 45 Siehe RILEY, 1999, S. 48. 46 Diesen Aspekt betont besonders: HANIMANN, 1994, S. 35.

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Reflexionen die Menschen in den Büros entkörperlicht, ihre Bewegungen vermischen sich mit denen der Bäume im umgebenden Park. Der Bau für Cartier vermeidetalles Definitive und Geprägte; Nouvel ist weniger an statischen Räumen interessiert, sondern an Zwischen- und Übergangszuständen, an unaufhörlichen Prozessen von Verdichtung und Auflösung.

Abb. 7: Jean Nouvel, Fondation Cartier, Paris, 1994. © „...paris” by JohannJuergen Mohr is licensed under CC BY-NC-SA 2.0, https://search.creativecommons.org/photos/f8ae0ee0-edf3-4ee1-996ecacf5828e0a7, 28.05.2020

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VIII. Fließende Koor dinaten Aus historischen Gründen, die womöglich mit der Erfahrung dichten Zusammenlebens in leicht und durchlässig gebauten Häusern zu tun haben, und unter der Bedingung einer spezifischen Aufgeschlossenheit für neue Technologien und ihre verknüpfenden und grenzüberschreitenden Potentiale, hat sich in Japan in den letzten Jahrzehnten eine weltweit wahrgenommene Architektur entwickelt, in der ganz systematisch Räume eines neuen Typs konzipiert wurden: weg von der geschlossenen Box und hin zu Gebilden, die anstelle von Grenzen in vielfältiger Weise Übergänge artikulieren, Zwischenzonen, Membranen oder Schichtungen. Aus der kulturellen Tradition des Fernen Ostens mag unterstützend hinzukommen, dass in ihr das „Zwischen“ von besonderer Bedeutung ist: die Wertschätzung eines Zustandes zwischen Offenheit und eindeutiger Fixierung, ein besonderes Interesse für das nicht Festgelegte, nicht Determinierte, das Im-Fluss-Sein. Der Sinologe François Jullien gibt das Beispiel eines chinesischen Schriftzeichens, das diese Denkweise räumlich, nämlich an einem zentralen Architekturelement veranschaulicht: Was „das Schriftzeichen jian zu sehen (zu denken)“ gebe, ist, dass „statt einer Türe, die undurchsichtig ist und blockiert, ein Zwischen-Beiden bestehen bleibt, dass unendlich passieren läßt – den Wind, das Leben, das Licht.“47 Aus der Fülle gegenwärtiger Architekturen, die das Thema des ‚Zwischen’ umkreisen, möchte ich Werke zweier Büros herausgreifen, nämlich von Sanaa und Toyo Ito, und an ihnen die Spielweite der architektonischen Verfahrensweisen zu skizzieren versuchen. Sanaa ist auch in Europa mit einigen wichtigen Arbeiten vertreten. Dazu gehört das Rolex Learning Center in Lausanne: Innerhalb eines klar umrissenen rechteckigen Grundstücks entfaltet sich eine wie schwebend auf und ab gleitende Landschaft von Räumen, Sälen und mäandernden Verbindungen, die zurecht von einem Kritiker als „ondulierendes Raumkontinuum“ apostrophiert wurde.48 Demgegenüber haben bei der 2012 eröffneten Dependance des Louvre im nordfranzösischen Lens die Räume eine eher konventionelle Struktur, aber durch Spiegelungen und matt schimmernde Oberflächen werden die langestreckten Kuben für das Auge gleichsam derealisiert; nur die in diesem leicht verschwimmenden Raum befindlichen Kunstwerke bieten Halt.

47 JULLIEN, 2018, S. 195, vgl. 197, Kap. XVII. Zwischen (vs. Jenseits). 48 HOLLENSTEIN, 18.2.2010.

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Abb. 8: Toyo Ito, Opernhaus in Taichung/Taiwan, 2016 (Schnittmodell auf der Architekturbiennale Venedig 2010). © „DSC_6513 - Version 2” by nicholasngkw is licensed under CC BY-NC-ND 2.0, https://search.creativecommons.org/photos/e8fa05de-730a-4a91-8da71580cca1ccfe, 28.05.2020

Bei Toyo Ito (der erklärtermaßen sowohl im Barcelona-Pavillon wie in der fluiden Ästhetik Paul Klees wesentlichen Anregungen sieht49) wird die Frage der Raum- und Grenzbildung auch theoretisch diskutiert. Dabei verfolgt er zwei ganz verschiedene Strategien. Auf der einen Seite geht es ihm – mit Blick auch auf die Potentiale des Informationszeitalters – um die Ausbildung von „weichen Grenzen“50, um Bauten bzw. Räume, die keine feste Form haben, sondern verändert werden können. Sein Ausgangspunkt ist das Konzept der „two bodies“: Wie ein Mensch habe auch ein Gebäude zwei Körper, einen realen, der aus seiner materiellen Präsenz besteht, und einen fiktiven, dessen Umriß „durch die 49 Siehe ITO, 2013, S. 115-124 u. ITO, 2012. 50 SCHNEIDER/FEUSTEL, 1999, S. 58.

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Information bestimmt wird, die an ihn gerichtet wird oder die er empfängt.“51 In einer Gesellschaft, die von Informationssystemen durchdrungen ist, sind somit auch Gebäude zunehmend „Körper im Fluß“. In der 2001 eröffneten Mediathek von Sendai gelang es Ito, die Leitidee der „two bodies“ so umzusetzen, dass dieses Gebäude tatsächlich als offen für Austauschprozesse erscheint. Künstliche Beleuchtung macht den Bau zu einer veränderlichen Erscheinung farbigen Lichtes. Die Mediathek präsentiert sich wie körperlos, so als würde Licht den Datenstrom substituieren.52 Solche Bauten sind nicht mehr über eine greifbare und festgelegte Form definiert, sie werden gleichsam polymorph; Ito spricht von „Blurring Architecture“. Anders als bei der geöffneten Box der Klassischen Moderne scheinen hier auch die Materialität und Körperlichkeit der Architektur selbst in Bewegung zu geraten. Aber auch wenn Sendai sich als fast immaterielle Lichterscheinung präsentiert, so ist doch der orthogonale Gesamtkörper weiterhin durch konventionelle horizontale Etagen gegliedert. Itos zweites Konzept zeigt das Opernhaus von Taichung/Taiwan (Abb. 8). Auch dies ist zunächst im Umriss eine große Box. Das Innere aber ist von einer alle Räume sich in jeder Richtung durchdringen lassenden opaken Körperlichkeit. Hier gibt es keine durchlaufenden Etagen mehr, und auch keine Grenze, zwischen einem und einem benachbarten Raum, sondern alles ist Übergang – oder wie Ito sagt: „[I]ts interior is made largely of three-dimensionally curved surfaces that blur the distinction between floor, wall, and ceiling. It may be called a building, but it can also be compared to a human body.“53 Ito entwickelt also einerseits eine gleichsam immaterielle Architektur (Sendai) und andererseits eine aus der opaken Körperlichkeit endloser und ineinander überführter Oberflächen (Taichung). Das scheinen zwei grundsätzlich mögliche, aber polar verschiedene Antworten auf die Frage nach den räumlichen Potentialen der „Liquid Modernity“. Damit markiert Ito den vorläufigen Schlußpunkt einer gestalterischen Diskussion, die sich besonders seit den 1920er Jahren in einem kategorialen Zwischenreich jenseits der gewohnten Vorstellungen von Räumlichkeit zu entfalten begann.

51 PAWLEY, 1996, S. 215; vgl. ITO, 1994, S. 16f. 52 Siehe auch PUGLISI, 1999, S. 23; vgl. ITO 1999, S. 36-41. 53 ITO:https://www.domusweb.it/en/news/2014/10/24/_toyo_ito.html, 05.1.2020.

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Die Aufhebung des Zeitregimes. Passagen und Zwischenräume in Denis Villeneuves Film Arrival DAGMAR VON HOFF

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann stellt für die Gegenwart die Diagnose: „The Time is out of joint!“1. Mit diesem Shakespeare-Zitat behauptet sie eine temporale Krise, die darin besteht, dass sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht mehr trennscharf voneinander unterscheiden lassen, sondern Verschränkungen und Vermischungen eingehen. Als Erklärung zur Unterstützung ihrer Beobachtung führt sie zu diesem Zweck den abstrakten Begriff des ‚Zeitregimes der Moderne‘ ein, der auf François Hartogs „régime d’historicité“2 zurückgeht. Hartog postuliert dabei eine Abfolge verschiedener Zeitebenen, die auf ein unterschiedliches gesellschaftliches Zeitverständnis verweisen. Während das „traditionelle Zeitregime“ die Vergangenheit mit ihren verankerten Wertesystemen „privilegiert“3, wie Assmann in Anlehnung an Hartog darlegt, verlagert das ‚Zeitregime der Moderne‘ seine Blickrichtung in die Zukunft. Doch auch diese moderne kulturelle Orientierung mit ihrem zeitweise utopischen, aber auch ideologischen Charakter unterliegt einem gesellschaftlichen Wandel. So konstatiert Assmann, dass gegenwärtig „die Zukunft an Strahlkraft verloren“4 hat, dafür aber die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts die aktuelle Erinnerungskultur bestimmend prägt. In der Einschätzung dieses Befundes 1 2 3 4

ASSMANN, 2013, S. 247. EBD., S. 19 und HARTOG, 2015, S. XV. ASSMANN, 2013, S. 270. EBD., S. 13.

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weicht Assmann nun aber von Hartogs Vorstellungen ab. Während Hartog von einem Verlust von Vergangenheit und Zukunft zugunsten eines Zeitregimes der Gegenwart ausgeht, wobei die alleinige Ausrichtung auf das Präsentische alle anderen Zeitverständnisse verdrängt und eine Memorialkultur ausschließlich im Blick auf die Gegenwart konstruiert wird,5 ist für Assmann demgegenüber eine im Zuge der Theorie des kulturellen Gedächtnisses „unhintergehbare Verschränkung der Zeitstufen“6 vorauszusetzen. Insofern trägt ihrer Ansicht nach die kulturelle Zeitdimension immer schon die Spuren des Konstruierten. Dies gilt sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft. Die Bestimmung aber der heutigen Gegenwart durch die „Figur des Erbes (patrimoine, heritage)“7, so resümiert Assmann Hartog weiterhin, führt zu einer Erinnerungsform, die sich in den Augen Hartogs von der Historie als Substanz verabschiedet, dafür aber im Vergangenen ausschließlich die Konstruktion für eine Gegenwart entdeckt. Dabei ist für diesen Blickwinkel entscheidend, dass jegliche Form einer „‚gebrauchten Vergangenheit‛ (usable past)“ im Gegensatz zur „‚reinen Vergangenheit‛ (pure past)“8 gedacht wird. Dieses dichotomische Verständnis eines ‚Zeitregimes der Gegenwart‛ führt dementsprechend dazu, dass die gegenwärtige Aneignung der Historie bei Hartog problematisiert und ausschließlich dystopisch wahrgenommen wird, während Assmann dieser letztlich kulturpessimistischen Sichtweise die Möglichkeit einer neuen kritischen Zeitorientierung in den Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenüberstellt. Sie versteht die gegenwärtige temporale Krise „als Chance der Selbstkritik“, als Gelegenheit zur „theoretischen Erneuerung und Kulturalisierung jenes Zeitregimes“9. Denn es ist ganz konkret die Form der Gegenwart, die dem Menschen einen topografischen Raum zur Verfügung stellt, in dem er selbstbestimmt Zukunft und Vergangenheit erfahren und gestalten kann. Es ist dieser ‚Zeitraum‘ – und vielleicht sollte man an dieser Stelle auch schon von ‚Zwischenraum‘ sprechen–, der eine „Kulturalisierung der Zeit“10 ermöglicht. Zur Unterstützung ihrer Hypothese greift Assmann auf Bruno Latour zurück, der vom Scheitern des Modernisierungsprojekts, das sich ausschließlich auf die Zukunft konzentriert, gesprochen hat. Mit seinen Worten: „Wir sind nie modern

5 6 7 8 9 10

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Vgl. EBD., S. 275. EBD., S. 274. EBD., S. 258. EBD., S. 259. EBD., S. 269. EBD., S. 273.

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gewesen“11 verabschiedet Latour ein utopisches Konstrukt einer Gesellschaft, das aus überhöhten und Ideologie anfälligen Ideen besteht. ‚Modern‘ bezeichnet dabei „ein neues Regime, eine Beschleunigung, einen Bruch, eine Revolution der Zeit“12, wobei eine archaische Vergangenheit im Gegensatz zu einer postulierten Modernität zu stehen scheint. Latour nun macht darauf aufmerksam, dass strikte Trennungen, auch die zwischen Natur und Gesellschaft, nur funktionieren, wenn sogenannte hybrid strukturierte „Quasi-Objekte“13 ausgebildet, zugleich aber vom Zeitregime der Moderne weggeblendet werden. Dabei fungieren die ‚Quasi-Objekte‛ – ein Begriff, der übrigens auf Michel Serres zurückgeht – als Mischwesen, als Überquerer von Grenzen, die zwischen Entitäten bestehen. Dieser auch als Übersetzung bezeichnete Zustand hat dabei die Funktion, ein vernetztes Drittes ausbilden. Latour formuliert dies für die Wissenschaft und den Wissenschaftler, den er als Hybriden denkt, folgendermaßen: „Unser Transportmittel ist der Begriff der Übersetzung oder des Netzes. Geschmeidiger als der Begriff des Systems, historischer als die Struktur und empirischer als die Komplexität, ist das Netz der Ariadnefaden in diesen vermischten Geschichten.“14 Es gilt, den Quasi-Objekten, die ein Gemenge bilden, bei dem verschiedene „Epochen, Ontologien und Gattungen“15 durcheinandergewirbelt werden, nachzugehen. Denn für Latour steht durch die Vermehrung dieser Quasi-Objekte eine „moderne Zeitlichkeit und Verfassung“ in Frage; ja, sie scheint „aus den Fugen geraten“16 zu sein. Mit dem Versuch, die Fortschrittsgläubigkeit zurückzunehmen, wendet sich Latour nun gegen die Vorstellung eines einheitlichen kontinuierlichen Zeitflusses und fordert, dass das vom Moderneprojekt Ausgeblendete zu rehabilitieren sei. Assmann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Latour „seine Kritik am Modernisierungsparadigma als eine konstruktive Reparaturmaßnahme“17 versteht. Die Phase der „De-Modernisierung“18, wie Assmann sie in Bezug auf Latour fasst, ist zugleich mit der Einsicht verbunden, dass die historische Phase der Dominanz des ‚Westens‘ beendet ist.19 Nach der Phase der imperialen Macht stellt sich nun die Aufgabe einer „globalen 11 12 13 14 15 16 17 18 19

So der Titel seines Buches. Vgl. LATOUR, 2017. EBD., S. 18. EBD., S. 98. EBD., S. 10. EBD., S. 98. EBD., S. 99. ASSMANN, 2013, S. 284. EBD., S. 287. Vgl. EBD.

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Verantwortung“.20 Diese Einschätzungen teilen sowohl Latour als auch Assmann, wenn sie eine Sichtweise einfordern, bei der das vom Zeitregime der Moderne Abgespaltene und Ausgeschlossene neu bewertet werden soll. Für Assmann verschieben sich dabei die Koordinaten der modernen Zeitordnung, die seit den 1980er Jahren in die Krise gekommen sind, hin zu einer Orientierungswende, bei der das Diktum der Zukunftsorientierung von einer Hinwendung zur Vergangenheit abgelöst worden ist. Mit der Aufwertung von Vergangenheit und Erinnerung als globalen Phänomenen geht ein Zeitregime der Gegenwart einher, das mit Assmann als ‚kulturell‘ gefasst werden kann. Dabei setzt sie sich für einen Kulturbegriff ein, der gesellschaftliche Subsysteme und hybride QuasiObjekte mit einbezieht: „An die Stelle des Brechens der Zeit und Freiräumens einer tabula rasa tritt die affektive Bindung an Bestehendes und Vergangenes, das man nicht ignorieren, vernachlässigen, verlieren oder gar zerstören und deshalb in besondere Obhut nehmen möchte.“21 Assmann spricht in diesem Zusammenhang von der Funktion des ‚kulturellen Gedächtnisses‘, bei dem die Vergangenheit nicht nur ein Gegenstand des Wissens ist, sondern als eine Dimension menschlicher Erfahrung begriffen werden muss.

Die Krise des Zeitregimes im Film Arrival „Nos sumus tempora: Quales sumus, talia sunt tempora.“22 Mit diesen Worten verweist Augustinus darauf, dass die Menschen ihre eigene Zeit gestalten. Sie vergegenwärtigen dabei das zeitlich Abwesende im Erinnern als auch im Erwarten. Was geschieht nun eigentlich, wenn die von Augustinus postulierten Zeiten: ‚Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‘ ineinanderfallen? Was, wenn der westliche Geschichtsmythos des Fortschritts mit seiner linearen Dynamik aus den Fugen gerät? Und was passiert, wenn eine Kulturalisierung23 der Zeit 20 21 22 23

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EBD. EBD., S. 322. AUGUSTINE, 2006, S. 253 [SERMO 80, 8]. Ich verwende den Begriff im Sinne von Assmann, die unter Kulturalisierung den Einfluss von kulturellen Werten auf die Zeitdimension versteht. Demgegenüber verwendet Andreas Reckwitz den Begriff eher kritisch, wenn er für die Gegenwart eine ‚Kulturalisierung der Lebensformen‘ diagnostiziert, worunter er einen gesellschaftlichen Prozess der Singularisierung der „spätmodernen Ökonomie“ versteht, deren Dynamik darin besteht, konkurrierende Lebensstile auszudifferenzieren. Vgl. RECKWITZ, 2017, S. 7.

Die Aufhebung des Zeitregimes

festgelegte Zeitstufen auflöst und für eine Pluralisierung zeitlicher Orientierung sorgt? Der Film Arrival (2016) des kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve hält Antworten auf diese Fragen bereit, thematisiert er doch die zeitliche Erfahrungsdimension vor dem Hintergrund eines gänzlich fremden, a-linearen Zeitregimes. Der Film zeigt, wie durch außerirdische Wesen die amerikanische Gesellschaft eine radikale Krise ihres Zeitsinns erfährt. Das Science-Fiction-Drama führt dabei eine neue Zeitordnung ein, bei der die chronologisch verlaufende Zeitfolge komplett auf den Kopf gestellt wird. Die Zeitstufen überlagern und vermischen sich in einer bislang noch nicht bekannten Weise. Die Protagonistin des Films, die Linguistin Dr. Louise Banks (Amy Adams), dringt in eine neue Zeitdimension vor, in der die Grenzziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesprengt erscheinen. Sie erlernt die Sprache der Außerirdischen und wird so zu einer Art Medium, das als Mittlerin zwischen zwei Sprachwelten fungiert. Wie nun gestaltet sich dieser Übersetzungsvorgang? Wie wird das andere Zeitverständnis erfahrbar gemacht? Die Aufgabe der Xenolinguistin besteht darin, die Sprache, bzw. das Symbolsystem einer außerirdischen Zivilisation, zu entschlüsseln. Die Handlung beginnt mit Fernsehbildern, die von zwölf Flugkörpern berichten, welche wenige Meter über der Erde oder dem Meer schwebend gesichtet worden sind. Dr. Banks, die die verschiedensten Sprachen beherrscht, davon unter anderem Sanskrit und Mandarin, wird vom Colonel Weber (Forest Whitaker) für die Mission, sprachlichen Kontakt mit den fremden Wesen aufzunehmen, rekrutiert. Dem Colonel kommt im Film die Rolle eines Vermittlers zwischen Wissenschaft und Weltpolitik zu. Denn für ihn sind die Außerirdischen nicht vorrangig Aliens, die es zu bekämpfen gilt, sondern er setzt auf die Kommunikation mit ihnen, um ein militärisches Eingreifen überflüssig zu machen. Die erste Kontaktaufnahme der Sprachwissenschaftlerin mit den fremden Wesen erfolgt zusammen mit ihrem kollegialen Gegenspieler Ian Donnelly (Jeremy Renner), einem theoretischen Physiker, der ihr zur Seite gestellt worden ist. Sie stehen gemeinsam vor einer Glasfront, einer transparenten Scheibe, die die menschlichen Wesen von den Außerirdischen trennt. Die Linguistin zeigt eine Tafel mit der Aufschrift „Human“ und die Fremden scheinen zu verstehen. Sie antworten mit kalligraphischen tintenähnlichen Schriftspuren, die sie in die Luft schreiben. Spiegelbildlich stehen dabei den beiden menschlichen Protagonisten Banks und Donnelly zwei wegen ihrer sieben flexiblen Gliedmaßen als Heptapoden bezeichneten Geschöpfe gegenüber. Diese fremden Wesen, die äußerlich an große Tintenfische mit ihren langen Fangarmen erinnern, werden schließlich von den beiden Wissenschaftlern mit den

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Namen „Abbot“ und „Costello“ belegt, was als eine Hommage an das US-amerikanische Komiker-Duo Bud Abbott und Lou Costello zu verstehen ist.24 Vor dieser transparenten Wand also kommt es zu einer ersten Annäherung und Fühlungnahme, die schließlich zu einem Austausch von Sprach- und Denksystemen führt. Denn im Verlauf der Handlung wird es der Protagonistin vor diesem ‚Schaufenster‘ gelingen, die fremde Schrift zu entziffern und in die nicht-lineare Sprachwelt dieser anderen Spezies, die nur eine raumzeitliche Gleichzeitigkeit kennt, einzudringen. Auffallend ist, dass diese räumlich kodierte Inszenierung des Übersetzungsgeschehens in einem ‚Grenz-Zwischen-Raum‘25 – ein Begriff, der auf Uwe Wirth zurückgeht – stattfindet. Damit verweist der Film auf eine ‚Schwellenphase‘, bzw. rites de passage, wie Arnold van Gennep sie generell für den Übergangsritus beschrieben hat. Schon 1909 machte van Gennep darauf aufmerksam, dass die Schwellenerfahrung bei einer Zeremonie als eine symbolische Transition zu verstehen ist, die einem Akt des Hindurchgehens gleicht.26 Dabei ist es die räumliche Sphäre, die den Übergang in einen neuen Zustand ermöglicht. Auch Wirth hat in seinen Überlegungen zu ‚zwischenräumlichen Bewegungspraktiken‘ auf diesen Kontext verwiesen und über van Gennep hinaus auf den Term des ‚interkulturellen Zwischenraums‘ von Homi Bhabha hingewiesen. Dieser entwirft den interkulturellen Zwischenraum als einen Ort, „der die Bedingung der Möglichkeit für Hybridität und Übersetzung darstellt.“27 Der Film nun konstruiert die Vorstellung von einem Zeitraum, bei dem das Andere in seiner sprachlichen und kulturellen Differenz nicht negiert, sondern anerkannt wird. Insofern ließe sich mit Homi K. Bhabha von „‚Zwischen‘-Räume[n]“, die das Terrain „abstecken“, „von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können“28 sprechen. Folglich wird diese Zwischenräumlichkeit im Film als eine Begegnung auf neutralem Gelände inszeniert, in dem sowohl die Protagonistin des Films als auch allgemein der Übersetzer agieren und einen Resonanzraum für fremde Sprachkulturen kreieren kann. Theoretisch verweist dieser Zusammenhang auch auf Walter Benjamins sprachphilosophische Überlegungen, nach der das Über-setzen (im räumlichen Sinne, also zum Beispiel an ein anderes Ufer) eine „Art von ‚Übertragungsgeschehen‘“29 hervorbringt, wie Sybille Krämer es treffend formuliert. 24 25 26 27 28 29

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Hierauf hat Lars Henrik Gass aufmerksam gemacht. Vgl. GASS, 2019, S. 112. WIRTH, 2012, S. 13. Vgl. van GENNEP, 1986, S. 28. WIRTH, 2012, S. 12. BHABHA, 2007, S. 2. KRÄMER, 2008, S. 177.

Die Aufhebung des Zeitregimes

Damit ist letztlich weniger die „Überführung der einen Sprache in die andere“ gemeint, sondern das Übersetzen als „ein Kontinuum von Verwandlungen“30, so Benjamin. Krämer spricht von der „stetigen Transformation“.31 So gesehen überträgt die Übersetzung „keinen Sinn, sondern verpflanzt das Original unwiederbringlich an einen anderen Ort.“32 Diese notwendige Verfremdung, die mit der Übersetzungstätigkeit einhergeht, erklärt den Übersetzer insofern zu einer ‚Botenfigur‘, die in einem ‚Dazwischen‘ angesiedelt ist.33

Die Sa pir-Whorf-Hypothese Wie nun gestaltet sich dieser Zwischenraum des Über-setzens? Was steht am Ende dieser Transformation? Die Protagonistin Louise Banks kann plötzlich in die Zukunft sehen. Sie hat eine Vision ihrer noch ungeborenen Tochter, sie begegnet ihrem zukünftigen Ehemann, der jetzt noch ihr Teamkollege ist, und sie ‚sieht‘ den späteren Tod ihrer Tochter Hannah. Für den Kinozuschauer jedoch erscheint zu diesem Zeitpunkt diese Vision eher als ein Zeugnis der Vergangenheit und nicht der Zukunft. Diese Aufhebung einer linearen Zeitwahrnehmung ist dadurch denkbar geworden, dass die Linguistin in das Sprachsystem der Heptapoden eingedrungen ist. Allein dies ist möglich geworden durch die Begegnung mit den fremden Wesen auf einer Art ‚Schwelle‘ vor der Glasscheibe. Wie nun ist die Begegnung mit dieser unbekannten Alterität ermöglicht? Um in das Innere der fremden Welt vorzudringen, öffnet sich das wegen seiner Form als „Muschel“ („clam“) bezeichnete 450 Meter hohe schwarze, monolithisch wirkende Raumschiff in regelmäßigen Abständen für die Wissenschaftler. Während Banks mit Schrifttafeln arbeitet, schreiben die als Heptapoden bezeichneten Außerirdischen mit ihren ‚Füßen‘ kreisrunde Schriftzeichen. Diese logographischen Zeichen beginnt Louise Banks im Verlauf der Zeit immer besser zu verstehen, und in dem Moment, wo sie in das fremde Sprachsystem eindringt, verändert sich ihr Denken. Der Transformationsprozess beginnt. Die Linguistin fängt an, sich an die Zukunft zu ‚erinnern‘. Damit greift der Film auf die SapirWhorf-Hypothese zurück, wonach die Sprache das Denken formt. Schon Wilhelm von Humboldt hatte in Über die Verschiedenheit des menschlichen 30 31 32 33

BENJAMIN, 1977, S. 151. KRÄMER, 2008, S. 178. EBD., S. 189. Vgl. KRÄMER, S. 277.

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Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts einen Zusammenhang zwischen dem Denkprozess eines Menschen und der semantischen Struktur der Muttersprache konstruiert.34 Benjamin Whorf schließlich sollte auf der Grundlage von Edward Sapirs Überlegungen die Hypothese entwickeln, dass bestimmte Gedanken einer Person in einer Sprache nicht unbedingt von jemandem, der eine andere Sprache spricht, verstanden werden muss. Selbst dann, wenn die semantischen Inhalte der beiden Sprachen gleich zu sein scheinen. Danach ermöglicht allein das Erlernen und Erfassen einer anderen ‚inneren Sprachform‘ das Verstehen eines fremden sprachlichen Weltbildes.35

Sound Design und Komposition Dieses innere andere Sprachgebilde wird in dem Film vor allem auch über die Tonspur transportiert. Es ist das Sound Design (Leitung: Sylvain Bellemare) und die von dem Isländer Jóhann Jóhannsson (1969-2018) extra für den Film komponierte Musik, die dieses fremde sprachliche Universum in Szene setzen. Das Sound Design stiftet eine akustische Welt, die die Aufhebung des Zeitregimes sowie den neuen tranceartigen Zustand eines ‚Zwischen-den-Zeiten-Seins‘ emotional erfahrbar macht. Dabei geht es beim Sound-Design nicht etwa um eine Isolierung von Geräusch- und Klangelementen, „sondern um die kreative imaginative Platzierung von Klangmaterial in einem audiovisuellen narrativen Kontext.“36 Die Kombination von Bild und Ton sowie die nahtlose Verschmelzung der Musik mit Sprache, atmosphärischem Ton und anderen Geräuschen vermittelt nicht nur eine klangliche Repräsentation der Außerirdischen, sondern lässt darüber hinaus sogar in den dichten, dissonanten Klangtexturen die Denkmatrix der Anderen, bei der jede Zeitchronologie verabschiedet worden ist, erahnen. Denn für die Heptapoden sind die Informationen am Ende einer sprachlichen Sequenz (eines Satzes) schon von Anfang an bekannt und die Unterteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existiert für diese fremden Wesen auf derselben Zeitebene. Entsprechend ist ihr Zeichensymbol auch eine Art Kreis, der in gewisser Hinsicht dem alt-ägyptischen Uroborus, dem mystisch-alchemistischen Symbol für die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, 34 Vgl. VON HUMBOLDT, 1960. 35 Vgl. WHORF, 2012. 36 MARTIN/BUTZMANN, 2018, S. 250.

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Die Aufhebung des Zeitregimes

nachempfunden ist. Passenderweise ist ebenfalls der Name Hannah ein Palindrom, das von vorwärts wie rückwärts zu lesen ist. So zumindest erklärt im Film Louise Banks der Tochter Hannah ihren Namen. Und so fügen sich auch Anfang und Ende des Films selbst zusammen, indem die zu Beginn gesehene Szene von Hannahs Tod am Ende des Films als Blick in die Zukunft aufgelöst wird. Der Film vollzieht damit selbst eine narrative Ellipse, in der die Sprache der Außerirdischen für den Kinozuschauer erfahrbar wird. Martin Zenck hat darauf aufmerksam gemacht, dass gerade die Verknüpfung von architektonischen und musikalischen Zwischenräumen es ermöglicht, ‚imaginäre Räume‘ zu eröffnen.37 Dabei analysiert er das Zusammenspiel vor allem auch an der durch das „Glas transparente[n] und mobile[n] Schwelle von Innen und Außen“, wie sie eine „Verbindung zwischen architekturalem Raum und musikalisch artikuliertem Klangraum“38 eingeht. Und die Protagonistin Banks formuliert im Film diesen neuen inneren Zustand wie folgt: „Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich noch an Anfang und Ende glaube.“ Dass die SapirWhorf-Hypothese auch ganz direkt von Jóhann Jóhannsson als klangliche ästhetische Strategie umgesetzt wird, zeigt sich auch in dem kurzen Musikstück mit dem Titel Sapir-Whorf. Hier werden chorähnliche Gesänge mit Klangteppichen in Verbindung gebracht. Es entstehen Cluster, deren Klanggebilde auseinanderstreben und neue Dimensionen entstehen lassen. Grundsätzlich gilt für diesen Film, dass mit jener Form einer Surround-Ästhetik die Erfahrung eines ‚Klangbades‘ einhergeht, die den Eindruck körperlicher Einhüllung evoziert. Simon Rotköhler hat auf die audiovisuelle Vision eines postklassischen Kinos verwiesen, die interessanterweise mit ihren virtuellen Klangräumen an das frühe Kino anschließt, bei dem die akustischen Erlebnisräume ebenfalls eine eigene Autonomie entfalteten.39 Es geht nicht mehr um eine Soundpräsentation, in der versucht wird, dargestelltes Geschehen musikalisch wiederzugeben, sondern letztlich kommt es zu einer akustischen Entgrenzung der Leinwand. Dass es „Klanglandschaften“40 sind, die letztlich ein neues Denken entstehen lassen, darauf hat auch Hans Zender verwiesen. Denn erst durch die Nicht-Linearität entfaltet sich die Zeit im Raum. Und der ebenfalls deutsche Komponist und Dirigent Ingo Metzmacher betont den entscheidenden Unterschied, der darin besteht, dass es die Musik ist, die die Zeit erfahrbar macht. Betrachtet man ein 37 38 39 40

Vgl. ZENCK, 2016, S. 212. EBD. Vgl. ROTKÖHLER, 2006, S. 147. ZENDER, 2016, S. 43.

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Gemälde, hat man nicht das Gefühl, dass es irgendwann verschwindet. Hört man aber Töne, so hat man den Eindruck, dass sie verklingen und andere an ihre Stelle treten. Für Metzmacher heißt das, dass man sich im direkten Kontakt mit dem Vergänglichen befindet. Zugleich aber zeigt diese Überlegung, dass in der Musik auch alles auf den engsten Raum zusammengepackt wird. Metzmacher spricht von „Time in a nutshell“.41 So gesehen passiert eigentlich alles gleichzeitig, wobei es lediglich unsere Wahrnehmung ist, die das Geschehen chronologisch nacheinander anordnet. Und genau dies passiert der Protagonistin des Films, wenn diese aus der gedehnten chronologisch verlaufenden Zeit herausgesprengt wird und die Erfahrung einer zusammengedrängten Zeit macht. Zukunft ist demnach immer schon Vergangenheit und nur durch Erinnerung zugänglich. Dies wird nachvollziehbar an der Todesszene von Hannah zu Beginn des Films. Damit eröffnet sich aber auch eine geschichtsphilosophische Dimension mit einer humanistischen Perspektivierung. Humanismus meint hier nicht mehr nur eine Geisteshaltung, sondern eine Praxis der Menschlichkeit, für die die Einsicht in die Verantwortlichkeit und Freiheit des Menschen das Handeln bestimmt.42 Vor dem Hintergrund eines aufgehobenen Zeitregimes werden alle linearen Fortschrittsvorstellungen ad absurdum geführt, die Quasi-Objekte Latours rehabilitiert und das kulturelle Gedächtnis Assmanns als ein Aufbruch für eine globale Verantwortung verstanden. Denn der Linguistin Dr. Louise Banks gelingt es, eine universelle Kommunikation mit den fremden Wesen herzustellen. Die Vermischung der Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht dabei mit einer Kulturalisierung einher, die eine Semantik mit ethischen Implikationen aufwirft. Brian Nicol spricht deshalb von der Aktualisierung eines humanistischen Weltbildes im Film: „Arrival is as much a work of ‚hu-fi‘ as it is ‚sci-fi‘, that is ‚Humanities fiction‘”.43 Und Lars Henrik Gass betont den global-politischen Aspekt des Films, wenn er auf die Invasion der Fremden im Film verweist, die „als eine Offenbarung, als Geschenk der Alterität“44 erscheint. Aber auch für die Kinotheorie hat der Film Arrival einen paradigmatischen Charakter. So betont Gass, dass der Regisseur Villeneuve mit seinem Film das Kino ebenfalls selbst als kulturelle Praxis im sozialen Raum reflektiert. Denn für ihn ist die auf der Handlungsebene stattfindende Begegnung mit den Außerirdischen der Situation des Zuschauers vor der Leinwand nachgebildet.45 41 42 43 44 45

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METZMACHER, 2005, S. 32. Vgl. NIDA-RÜMELIN, 2016, S. 353. NICOL, 2019, S. 107. GASS, 2019, S. 112. Vgl. EBD., S. 113.

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Ich möchte zum Schluss eine Überlegung anfügen, die eine weitere philosophische Dimension des Films berührt. Indem Villeneuve in seinem Film entscheidend von der literarischen Vorlage, dies ist Ted Chiangs Kurzgeschichte The Story of your Life (1998), abweicht, wirft er eine brisante Frage auf, bei der die zukünftigen biomedizinischen Möglichkeiten auf dem Prüfstand stehen. Anne Carruthers hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass im Zuge der Biomedizin und Ethik im Film mit Fragen des „‚not-yet pregnant‘“, „‚not-yet a parent‘“ und „‚not-yet‘ lost a child“46 grundsätzliche Probleme technologischer Reproduktion aufgeworfen werden. In dem Film stirbt Hannah an Krebs (im Buch an einem Unfall in den Bergen). Entscheidend ist, dass Louise Banks sich trotz des Wissens, dass ihre Tochter an Krebs sterben wird, dafür entscheidet, ihre Tochter zur Welt zu bringen. Insofern weist der Film darauf hin, dass das Humane selbst in dieser Science-Fiction-Welt bestehen bleibt. Der Regisseur Villeneuve zeigt, dass unsere Chance, menschlich zu bleiben, gerade in der Art und Weise besteht, wie wir auf Verletzbarkeit, Krankheit und Tod reagieren.

Literatur ASSMANN, ALEIDA, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013. AUGUSTINE, Confessions: Books IX-XII in two volumes. With an English Translation by William Watts. Cambridge (et al.) 2006. BENJAMIN, WALTER, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 140-157. BHABHA, HOMI K., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007 (amerik. Original 1994). CARRUTHERS, ANNE, Temporality, Reproduction and the Not-yet in Denis Villeneuve’s Arrival, in: Film-Philosophy, 22.3 (2018), S. 321-339. CHIANG, TED, Story of Your Life, New York 2000. CHIANG, TED, Geschichte deines Lebens, in: DERS., Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes, Zürich 2011, S. 37-94.

46 CARRUTHERS, 2018, S. 321.

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GASS, LARS HENRIK, Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos, Leipzig 2019. VAN GENNEP, ARNOLD, Übergangsriten, Frankfurt a. M. 1986. GUMBRECHT, HANS ULRICH, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. HARTOG, FRANÇOIS: Regimes of Historicity: Presentism and Experiences of Time. Columbia University Press 2015 (frz. Original 2002). VON HUMBOLDT, WILHELM, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Faks.-Druck nach Dümmlers Orig-Ausg. Berlin 1836, Bonn 1960. KRÄMER, SYBILLE, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008. LATOUR, BRUNO, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2017 (frz. Original 1991). LEE WHORF, BENJAMIN, Language, Thought and Reality: Selected Writing of Benjamin Lee Whorf, Cambridge (et al.) 2012. MARTIN, JEAN/BUTZMANN, FRIEDER, Sound Design, in: Filmmusik. Ein alternatives Kompendium, hg. v. FRANK HENTSCHEL, PETER MOORMANN, Wiesbaden 2018, S. 247-276. METZMACHER, INGO, Keine Angst vor neuen Tönen: Eine Reise in die Welt der Musik, Berlin 2005. NICOL, BRIAN, Humanities Fiction: Translation and ‚Transplanetary‘ in Ted Chiagn’s “The Story of Your Life” and Denis Villeneuves Arrival, in: American, British and Canadian Studies, Volume 32, June 2019, S. 107-126. NIDA-RÜMELIN, JULIAN, Humanistische Reflexionen. Berlin 2016. RECKWITZ, ANDREAS, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. ROTKÖHLER, SIMON, “It’s all recorded; it is all a tape: it is an illusion.” Zur Sound-Dimension filmischer Illusionsbildung, in: ... kraft der Illusion, hg. von GERTRUD KOCH/CHRISTIANE VOSS, München 2006. WIRTH, UWE, Zwischenräumliche Bewegungspraktiken, in: Bewegen im Zwischenraum, herausgegeben von UWE WIRTH, Berlin 2012, S. 7-34. ZENDER, HANS, Denken hören – Hören denken, München 2016. ZENCK, MARTIN, Zwischenräume. Räume des Imaginären im Ensemblestück Zwischenraum und im Musiktheater wunderzeichen von Mark Andre, in: Die Musik – eine Kunst des Imaginären? (Musik-Konzepte: Neue Folge Sonderband), hg. von ULRICH, TADDAY, München 2016, S. 190-220.

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Film und Musik ARRIVAL, Film. Directed by Denis Villeneuve. United States, Paramount Pictures, DVD, 2016. ARRIVAL, Original Motion Picture Soundtrack. Music by Jóhann Jóhannsson, United States, Paramount Pictures 2016.

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Zwischenräume (in) der Literatur. Überlegungen mit Blick auf Maurice Blanchot, Fjodor M. Dostojewskij und Franz Kafka ALICE STAŠKOVÁ

Auf der Suche nach Zwischenräumen der Literatur oder in der Literatur, genauer: nach den Möglichkeiten, diese zu denken und zu untersuchen, stößt man in der Literaturwissenschaft auf verschiedene etablierte Konzeptualisierungen des Raums. In den fünf Abschnitten meines Beitrags grenze ich mich zunächst von einigen dieser Konzepte ab und deute daraufhin meine eigenen Ausgangspunkte an, um dann drei verschiedene Lektüren – zu Maurice Blanchot, zu Fjodor M. Dostojewskij sowie zu Franz Kafka – als Vorschläge zum Denken der Zwischenräume (in) der Literatur zu entwerfen.

Abgrenzungen In der Literaturwissenschaft folgen die meisten heutigen Konzeptualisierungen des Raums dem repräsentationslogischen Paradigma. Hierzu zählen traditionelle Untersuchungen zu Raumdarstellungen, seien sie motivgeschichtlich, narratologisch oder aber dem spatial turn verpflichtet. Doch hierzu gehören auch diejenigen Auffassungen etwa zu hybriden Darstellungen von hybriden Räumen oder zu Heterotopien, die sich am kultursemiotischen Konzept von Jurij Lotman orientieren. Zu unterscheiden sind dabei einerseits jene Darstellungen, die sich im

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Anschluss an Lotman auf Konzepte der Grenze sowie deren kulturelle Kodierungen und Wandlungen richten, und anderseits jene, die bestimmten metaphorischen Prozessen des Konstituierens kultureller Räume und Zwischenräume nachgehen, mithin (mit Lotmans Begriff formuliert) die „Semiosphäre“ ergründen. Repräsentationslogisch verfahren auch diejenigen Konzepte aus dem Bereich der, verkürzt gesagt, angewandten Phänomenologie (die Existentialphänomenologie eingeschlossen), die den Modi einer „Einspurung“ (Roman Ingarden) in literarischen Texten nachgehen, um Typen der Darstellung von menschlichen Ursituationen darzulegen. In diesem Sinne identifiziert etwa Horst-Jürgen Gerigk in literarischen Darstellungen des Raums einen Dualismus von Weg und Haus als Existentiale des In-der-Welt-Seins.1 Zwischenräume und Übergängigkeiten in literarischen Texten lassen sich mit genannten Konzepten gut untersuchen, wenn es eben um die Repräsentationslogik von Zwischenräumen und Übergängen geht und dies in Analogie zu kultursemiotischen Reflexionen über das Konstituieren von Raumbegriffen und Räumen steht. Was diese Perspektiven – gewiss etwas pauschal formuliert – vermissen lassen, ist jedoch zweierlei. Erstens fehlt ihnen oft eine Konzentration auf die Problematik des Textes sowie der Schrift, die spätestens seit der Dekonstruktion zu einem eigenen Gegenstand auch der literaturwissenschaftlichen Betrachtung wurden. Zweitens vermisst man in ihnen zumeist eine Antwort auf die Frage, wie das Spezifische des jeweiligen, konkreten Textes (des œuvre, würde Maurice Blanchot emphatisch schreiben) gedacht und beschrieben werden kann – dies nicht zuletzt auch auf die Frage nach dem (Zwischen)Raum bezogen und dabei diesseits aller Typologien und Systematiken, jedoch im Wissen um die historische Bedingtheit des Eigentümlichen.

Ausgangspunkte Letzteres ist dem Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann gelungen, und zwar im Hinblick auf die Konstitution des Raums in romantischen Erzähltexten. Im theoretischen Teil seiner Studie zu Achim von Arnims Novelle Die Majoratsherren unterscheidet Neumann zwei Konzepte der Raumkonstitution in romantischen Texten – ein morphologisches und ein amorphes.2 Neumann geht 1 2

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Kippfiguren, Umschlagspunkte, Verkehrungen usw. eingeschlossen; vgl. GERIGK, 2002, S. 91-104. Vgl. NEUMANN, 2007.

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dabei von Kants Darlegung der Raumkonstitution in der Kritik der reinen Vernunft aus, um zu betonen, dass die Romantiker den Raum als Konstitutionsprinzip des Subjekts konzipierten und ihn als solchen, in der Kant-Nachfolge, von der zuvor geltenden Bindung ans Jenseits abzukoppeln suchten. Die Konstitution des Raums beteilige sich, so Neumann, in romantischen Texten an der Konstitution des Subjekts als Individuum. Während die morphologischen Modi das Individuum durch den Überblick – z. B. von oben oder durch einen Rundblick entlang des Horizonts – bzw. durch die Perspektive – etwa die eines Fensters – konstituieren3, verfügen die amorphen Modi nach Neumanns Auffassung über keine festen Standpunkte. Sie realisieren sich durch Bewegung (Tanz, Wirbel, Rausch) oder durch einen Sprung. In beiden letztgenannten Modi – ähnlich wie bei der zentralen Struktur der beiden morphologischen Verfahren – handelt es sich in der Romantik, so ist zu betonen, um den Versuch, ein individualisiertes Subjekt in der Textwelt und durch den Text zu konstituieren. Der Rausch bzw. Tanz wie der Sprung, also die „amorphen“ Modi, bewahren allerdings, wie Neumann konzedieren muss, einiges von der einstigen Zwei-Welten-Vorstellung. Es sedimentiert sich der Dualismus von Diesseits und Jenseits oder von Immanenz und Transzendenz. Wenn diese dynamischen Raumkonstitutionen und mithin Versuche, Individuelles zu etablieren, am Ende scheitern (wie bei E.T.A. Hoffmann oder bei Achim von Arnim), so scheitern sie eben auch als Versuche, das Individualsubjekt in reiner Immanenz zu konstituieren. Genau an diese Denkmotive Neumanns möchte ich nun anknüpfen und dabei den imponierenden Aspekten seiner Darlegung so weit wie möglich gerecht werden, als da sind: Entwicklung einer Typologie aus dem kulturhistorischen Wissen heraus, eine musische Begegnung mit den Texten und die Art und Weise, wie die Texte (wie Neumann zeigt und sogar selbst partiell durchführt) vorangehende Typologien und Annahmen jeweils wieder zusammenbrechen lassen.

Erste Lektüre: Maur ice Blanchot Neumanns Beobachtung, in romantischen Texten werde der Raum als Konstitutionsmodus des Subjekts figuriert, kann als Ausgangspunkt für Beobachtungen der Räume und Zwischenräume späterer moderner Texte dienen und zwar per

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Neumann beruft sich hier auf die Perspektive-Lehre Albertis.

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Kontrast.4 Man kann in manchen Texten der literarischen Moderne beobachten, wie die Konstruktion und Konstitution von Raum gerade einer Entindividualisierung zuarbeitet und dann auch das Subjekt in Frage stellt. Konkrete Textpassagen sowie Reflexionen über das Verhältnis von Text und Raum, die ich nun betrachten möchte, stellen, dies sei nun als eine These formuliert, den Textraum progressiv als einen a-subjektiven heraus. Die Mechanismen der literarischen Raumkonstitution wirken hier, wenn man auf Gerigks Fundierung der Existentialphänomenologie der Texte auf dem Begriff der menschlichen Situation zurückgreifen möchte, entsituierend und bewirken eine Entselbstung. Diese Prozesse lassen den literarischen Raum in seinem potenziellen Wesen aufscheinen. Mit Maurice Blanchot emphatisch formuliert: „Der Künstler und der Dichter haben sozusagen den Auftrag erhalten, uns […] diesem Raum zuzuwenden, wo alles, was wir uns bieten, alles, was wir erworben haben, all das, was wir sind, all das, was sich zur Erde hin und im Himmel öffnet, zum Bedeutungslosen zurückkehrt, wo das, was sich nähert, das Unernste ist und das Unwahre, als entspränge vielleicht dort die Quelle jeder Authentizität.“5 Maurice Blanchot denkt und erschreibt in seinen Texten das, was er „literarischen Raum“ (espace littéraire) nennt – wobei diese Texte alle Gattungsgrenzen hinter sich lassen und die Übergängigkeit mitsamt der ihr inhärenten Anstrengung, dem Ausgesetztsein, figurieren. Systematisch-historisch betrachtet, könnte man einfach, aber wohl zutreffend sagen, dass es sich bei Blanchot um eine einigermaßen eigentümliche (oder gar eigenwillige) Übertragung der Existentialphilosophie auf den Bereich der écriture handelt. Ist doch der literarische 4

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Vgl. die epochale Abgrenzung der „Moderne“ von Hans Robert Jauß, der den Beginn ans Ende des 18. Jahrhunderts setzt und drei Abschnitte unterscheidet, deren zweiten er um 1850 (mit Baudelaire) beginnen lässt. Ich beziehe mich mit der Bezeichnung „moderne Texte“ auf die Zeit nach 1850. Vgl. JAUß, 1986, S. 246-248. BLANCHOT, 2012, S. 257, Anmerkung. Im Original vgl. BLANCHOT, 1955, S. 332, Anm. 1: „L´artiste et le poète ont comme reçu mission […] de nous tourner vers cet espace où tout ce que nous nous proposons, tout ce que nous avons acquis, tout ce que nous sommes, tout ce qui s´ouvre sur la terre et dans le ciel, retourne à l´insignifiant, où ce qui s´approche, c´est le non-sérieux et le non-vrai, comme si peut-être jaillissait là la source de toute authenticité.“ Die Auffassung von Jurij Lotman ist dieser Art von Denken über einen ‚literarischen Raum’ geradezu entgegengesetzt; im Werk manifestieren sich, so Lotman, die Instanzen des Ich, des Anderen sowie des diese umgebenden semiotischen Umfelds; vgl. die Aufzeichnungen von Grigori Amelin: LOTMAN, 1994, S. 432-438. Zugrunde liegt hier ein Kommunikationsmodell in Kombination mit einer auf allgemeine und universelle Geltung aspirierenden Semiotik. Vgl. EBD. die Sprachtheorie Lotmans, die die langue-parole-Dichotomie in den Vordergrund stellt.

Zwischenräume (in) der Literatur

Raum im eben zitierten Sinne „das Unernste“ „und das Unwahre“ und dabei womöglich die „Quelle jeder Authentizität“. Will man über eine lehrbuchtaugliche Bestimmung hinausgreifen, erscheint es mir allerdings interessanter, der Bewegung von Blanchots Denken und Schreiben zu folgen, und zwar insoweit diese den espace littéraire vom Musikalischen abgrenzt und ihn auf die Materialität der Sprache als Schrift, ja auch auf den Schriftträger bezieht. Dies geschieht vornehmlich in Blanchots Reflexionen zu Stéphane Mallarmés Denken der Materialität. Die höchsten Anforderungen an die Produktionsästhetik nach Mallarmé und Blanchot stellen die espaces blancs: die weißen Räume zwischen Versen und sogar – man denke an Coup de dés6– zwischen Buchstaben und typographischen Zeichen. „L´armature intellectuelle d´un poème, […] se dissimule et tient – a lieu – dans l´espace qui isole les strophes et parmi le blanc du papier: significatif silence qu´il n´est pas moins beau de composer que le vers”7, schreibt Mallarmé über Edgar Allan Poe. An diesen produktionsästhetischen Reflexionen über den weißen Raum der Seiten hebt Blanchot unmissverständlich gerade die Materialität hervor, der das Geschriebene bedarf: „De même, si les blancs, la ponctuation, la disposition typographique, l'architecture de la page sont appelés à jouer un si grand rôle, c'est qu l'écrit a besoin, lui aussi, d'une présence matérielle. Il est un espace qualifié, une région vivante, une sorte de ciel qui, matériellement, figure tous les événements de l'acte même de comprendre.“8

Blanchot leitet hiervon unter anderem zwei Konsequenzen ab. Zunächst beobachtet er, dass uns die (Literatur-)Sprache aus den bisherigen Bedeutungen und Deutungen zu befreien hat, um sich und uns auf das spezifisch literarische Schweigen hin zu bewegen. Daraus folgt die – systematisch gesprochen – rezeptionsästhetische Konsequenz, dass uns dieses progressive Werden des literarischen Raums statt des Verstehens ein Nicht-Verstehen auferlegt. Es handelt sich also um ein Denken des literarischen Raums, das gerade nicht eine Konstitution des Subjekts intendiert, sondern eine Entselbstung. Diese läuft allerdings 6

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MALLARMÉ, 1914. Oder man denke auch – mit Blick auf die von Mallarmé betonte Produktivität des Nicht-(Be-)Deutens – an das Motto von Mallarmés Igitur: „Ce Conte s’adresse à l’Intelligence du lecteur qui met les choses en scène, elle-même.“ Eingefordert wird hier „intelligence“ und nicht, wie man vielleicht erwarten würde, die Imagination. Vgl. MALLARMÉ, 1925. Zit. nach BLANCHOT, 2001 („Le mythe de Mallarmé“), S. 44. BLANCHOT, 2001 („Le mythe de Mallarmé“), S. 44 und 45.

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nicht auf eine Allgemeinheit hinaus, sondern lässt die eigentümliche Materialität sowie eine unvordenkliche schweigende Sonorität des Geschriebenen übrig, ja sie ermöglicht diese überhaupt erst. Die Texte von Mallarmé, Kafka und Hölderlin, an denen Blanchot eine solche Entfaltung des literarischen Raums (espace littéraire) untersucht, konstituieren eben nicht einen Raum, sondern entfalten erst die Möglichkeit eines Raums, der zur Lektüre einlädt, indem er zugleich noli me legere sagt; beides im Modus eines eigenen, intensiven Schweigens. Ausgehend von dieser Einsicht, seien nachfolgend zwei Lektüren zu zwei Texten vorgeschlagen, in denen jeweils genuin literarisch – auch im traditionell darstellerischen Sinne – jene Entselbstung bzw. Entindividualisierung vollzogen wird. Bei Dostojewskij geschieht dieser Rückzug auf den reinen Textraum durch eine Inszenierung räumlicher Ambivalenz, die in eine Unentscheidbarkeit mündet. Bei Kafka wird durch Konstitution und Zusammenbruch eines Zwischenraums des Imaginären der literarische Raum selbst in seiner eigenen Materialität herausgestellt.

Zweite Lektür e: Fjodor M. Dostojewskij Dostojewskij zählt zu Meistern der literarischen Raumdarstellung, und zwar, indem er die beiden zur Verfügung stehenden Modi der Deskription und der Evokation gegeneinander ausspielt und somit Räume der schlechthinnigen Angst, des Un-Sinns, eines déraisonnement inszeniert. Die Räume als Orte der Ereignisse9 werden mit einer geradezu erschlagenden Wirkung evoziert, und zwar mit Hilfe scheinbar präziser, deskriptiver Hinweise. Eine Rekonstruktion im lesenden Nachvollzug aber erweist sich, wie nun an einer Szene gezeigt werden soll, als unmöglich. Dabei handelt es sich um Effekte, die aus dem Aufeinanderprallen von Realistik und Paradoxie entstehen und mit dem vergleichbar sind, was in der

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Im Sinne einer von Jurij Lotman inspirierten, an seiner Konzeption der „Semiosphäre“ orientierten Erzähltheorie; das Überschreiten der Grenze – als Raumwechsel – ist die Bedingung der Möglichkeit (und Beginn) der Erzählung, des Erzählens und könnte als die minimale Bedingung eines Narrativs betrachtet werden. Das Ereignis als Konstitutiv der Geschichte ist also immer an Raum sowie an Ortswechsel gebunden und mithin durch die Übertretung einer Grenze/Schwelle bestimmt. Vgl. auch Lotmans kultursemiotische Überlegungen in LOTMAN, 1992; dt. LOTMAN, 2010.

Zwischenräume (in) der Literatur

bildenden Kunst etwa in den Raum-Darstellungen von Giovanni Battista Piranesi oder von M. C. Escher geschieht. Bei der folgenden Dostojewskij-Szene handelt sich um ein so irrsinniges wie zweckmäßiges Ereignis, auf das im Roman Die bösen Geister10 sämtliche Handlungen zusteuern. Der Revolutionsführer Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij möchte den beabsichtigten Selbstmord des Schwärmers Alexei Kirillow für die Zwecke der Revolution ausnutzen. Kirillow will sich umbringen, um Gott nachzuweisen, dass es ihn (Gott) nicht gibt, da ein jeder – vornehmlich Kirillow selbst– Gott werden könne, oder, wie im Falle Kirillows, nach dem Freitod auch Gott wird bzw. ist. Kirillow hat bereits unterschrieben, dass er sich aus diesen Gründen selbst tötet und nebenbei auch für die – von Werchowenskij und seinen Leuten verübten – Verbrechen verantwortlich ist. Nun zieht sich Kirillow mit seinem Revolver in ein Zimmer zurück. Vor diesem wartet Werchowenskij, ebenfalls mit einem Revolver ausgestattet, auf den Schuss des Selbstmörders. Sollte sich Kirillow nicht selbst umbringen, würde ihn Werchowenskij töten; der Brief des Selbstmörders würde jeden Verdacht deckeln. Das Warten wird Werchowenskij zu lang, und so dringt er in das Zimmer ein. Dieses scheint leer zu sein. Er tritt ans Fenster gegenüber der Tür und dreht sich um. Nun folgt die Beschreibung eines Zwischenraums, einer Nische. Allerdings lässt sich die Disposition des beschriebenen Zwischenraums in einer nachvollziehenden Lektüre nicht befriedigend – etwa durch eine Zeichnung – (re)konstruieren: „Петр Степанович прошел через всю комнату прямо к окну: «Никак не мог». Вдруг он быстро обернулся, и что-то необычайное сотрясло его. У противоположной окнам стены, вправо от двери, стоял шкаф. С правой стороны этого шкафа, в углу, образованном стеною и шкафом, стоял Кириллов, и стоял ужасно странно,— неподвижно, вытянувшись, протянув руки по швам, приподняв голову и плотно прижавшись затылком к стене, в самом углу, казалось желая весь стушеваться и спрятаться. По всем признакам, он прятался, но как-то нельзя было поверить. Петр Степанович стоял несколько наискось от угла и мог наблюдать только выдающиеся части фигуры. Он всё еще не решался подвинуться влево,

10 So die Übersetzung des Titels von Swetlana Geier; die ältere deutsche Übersetzung lautete Die Dämonen.

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Alice Stašková чтобы разглядеть всего Кириллова и понять загадку. Сердце его стало сильно биться... И вдруг им овладело совершенное бешенство: он сорвался с места, закричал и, топая ногами, яростно бросился к страшному месту.“11 „Pjotr Stepanowitsch durchquerte das ganze Zimmer und trat vor das Fenster: ‚Ausgeschlossen‘. Plötzlich drehte er sich rasch um – und etwas Unheimliches erschütterte ihn. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand stand rechts von der Tür ein Schrank. Rechts von diesem Schrank, in der Ecke, zwischen der anderen Wand und dem Schrank, stand Kirillow, er stand da in einer ganz merkwürdigen Haltung – reglos, aufgereckt, die Hände an der Hosennaht, den Kopf hoch erhoben und den Hinterkopf fest an die Wand gepreßt, möglichst flach in die Ecke gedrückt, offenbar in dem Wunsch, sich zu verstecken und zu verschwinden. Allen Anzeichen nach hatte er die Absicht, sich zu verstecken, aber es fiel irgendwie schwer, das zu glauben. Pjotr Stepanowitsch stand etwa in der Diagonale zu dieser Ecke und konnte nur die vorspringenden Teile des [sic] Gestalt wahrnehmen. Er wagte immer noch nicht, einen Schritt nach links zu tun, um Kirillow von Kopf bis Fuß zu sehen und das Rätsel zu lösen. Sein Herz begann heftig zu klopfen … Und plötzlich bemächtigte sich seiner eine rasende Wut: Er schrie und stürzte stampfend wie außer sich auf die unheimliche Stelle zu.“12

Werchowenskij stürzt sich auf den erstarrten Kirillow und wird von ihm gebissen. Kirillow, der behauptet, Gott zu sein, agiert mithin wie ein Tier. Werchowenskij ist von Sinnen und flieht davon. Unten im Haus angelangt, hört er den Schuss, überprüft kaltblütig, dass der Selbstmord in der Tat stattfand, – und die Romanhandlung geht weiter. Wenn wir nun alles aus der Perspektive Werchowenskij sehen – und auf seine Perspektive spurt uns die gesamte narrative Technik bis dahin ein –, muss sich der Zwischenraum zwischen Schrank und Wand links und nicht rechts von der Tür befinden. Lediglich aus der Vogelperspektive (von oben) oder mit den Augen eines Erzählers, der von der Tür aus in Richtung Fenster schaut, würde die hier beschriebene Raumdisposition funktionieren und Kirillows Versteck tatsächlich rechts von der Tür sein. Die in der erzählten, höchst spannenden Situation so wichtige Lücke zwischen Schrank und Wand ist also ein Zwischenraum, der gar nicht da sein sollte. Denn diese Lücke bewirkt eine Störung im wahrnehmungsanalogen 11 D OSTOJEWSKIJ , 1990, S. 580 (https://rvb.ru/dostoevski/01text/vol7/29. htm?start=20&length=1, 23.3.2020). 12 DOSTOJEWSKIJ, 2003, S. 863f.

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Nachvollzug der erzählten und dargestellten Welt. Sollte es in der betreffenden Textpassage darum gehen, einen Raum mimetisch-realistisch darzustellen, wäre dieser Zwischenraum dysfunktional. Doch scheint dieser unmögliche Zwischenraum auf der Metaebene gerade die Entzweiung von Erzähler- und (Werchowenskijs) Figurenperspektive zum Ausdruck zu bringen. Er macht damit auf die literarische Arbeit selbst aufmerksam, und zwar dadurch, dass er einen imaginativen Nachvollzug des dargestellten Raums vereitelt.13 Denn der hier dargestellte Raum bringt, als Ort eines unheimlichen Ereignisses, konsequent sämtliche Koordinaten mimetisch und performativ durcheinander, die es den Subjekten – und dem Leser als Subjekt – ermöglichten, einen Halt zu finden.14 Es geht ja in dieser Szene gerade darum, dass jemand zu nichts wird (das wäre die Deutung Werchowenskijs) oder zu Gott (so Kirillow), wobei es beiden um Freiheit geht. Der paradoxe literarische Zwischenraum setzt hier beide Konzepte der Freiheit materialiter – nämlich im und durch das Medium der Literatur – außer Kraft. Am Werk ist also eine Technik des déraisonnement. Sie vereitelt Intentionen und sagt mehr über die Problematik der verstehenden Nachvollziehbarkeit aus als der vorangehende philosophische Dialog im Text – oder als jegliche (mit Friedrich Schleiermacher gesprochen) hermeneutische Rekonstruktion des Themas als Stil.

Dritte Lektür e: Franz Kafka Franz Kafka, einer der großen Dostojewskij-Leser seiner Zeit, zeigt in seiner Art, Räume zu erschreiben, dass diese Räume eben literarische und somit imaginäre sind. Dabei aber, und das ist meine These, stellt er diese Räume als

13 Die Überlegung, Dostojewskij hätte wieder einmal zu schnell geschrieben, wäre hier fehl am Platze – erstens ist eine solche lectio facilior methodisch schlichtweg unterkomplex, zweitens kommen bei Dostojewskij diese Art von Raumstörungen in besonders spannenden Handlungsmomenten öfters vor. 14 Repräsentationslogisch könnte man hier, von Horst-Jürgen Gerigk inspiriert, das ins Irrige geratene Hausinnere – auch mit Blick auf weitere Interieurs Dostojewskijs – ergiebig interpretieren: das Haus als „Gehäuse“ (der Seele) birgt selbst die Vernichtung; nicht Geborgenheit wird hier bedeutet, sondern die Destruktion, die im Menschen selbst haust. Mich interessiert in der vorgelegten Lektüre jedoch gerade die, technisch formuliert, Leistung der Textualität, die auf der buchstäblichen Ebene die Konstitution einer vernünftigen – verstandenen – Welt in räumlicher Hinsicht verunmöglicht.

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ephemere Schauplätze des genuin literarischen, zum Deuten einladenden und dieses zugleich verweigernden Raums heraus. Dies sei nun an seinem Text Der Ausflug ins Gebirge gezeigt. Der Ausflug ins Gebirge „‚Ich weiß nicht‘, rief ich ohne Klang, ‚ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur daß mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, daß alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.‘“15

Was passiert in diesem Text? In einer in der Kafka-Forschung inzwischen kanonischen Lektüre hat Hans-Thies Lehmann gezeigt, wie in diesem Text den Zeichen ihre Referenz entzogen wird. Ein Vehikel dieses Entzugs, das Kafka hier benutzt, ist der Rückgriff auf die Materialität der Schrift: die ‚Niemande‘ verweisen nach Lehmann auf Buchstaben, das Rufen ohne Klang ist ihr – der Buchstaben – Schweigen, der Text eine Allegorie der Schrift.16 Ich denke nicht, dass man an dieser allegorischen Lektüre mit viel Gewinn rütteln kann. Über sie hinaus könnte man jedoch versuchen, die Niemande, und mithin die Erzählung von Niemand nicht mehr denotativ zu lesen, wie es auch Lehmann tut, sondern dem Prozess des Textes zu folgen und mit Blanchot die Stille/silence, jenes ostentative Schweigen dieses Textes, zu denken. Denn was passiert, so ist erneut zu fragen, in diesem Text? Es wird aus dem Nichts ein Raum des Imaginären entfaltet und es entsteht eine Fiktion. Diese Beobachtung lässt allerdings – und darum geht es mir – den letzten Satz als problematisch erscheinen: „Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.“17

15 KAFKA, 2002, S. 20. 16 Vgl. LEHMANN, 1984, S. 214 („Entzug der Referenz“); zu Der Ausflug ins Gebirge vgl. EBD. S. 215f. 17 Dieser Satz wurde m. E. in der dichten Interpretationsgeschichte von Kafkas Text immer noch nicht befriedigend kommentiert. Allerdings beanspruche ich mit der vorliegenden Lektüre keine Interpretation des Textes von Kafka; es geht mir darum,

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Sollte hier ein fiktionaler Raum konstituiert werden, dann müsste im Text stehen: es ist kein Wunder, dass wir nicht singen. Würde dies etwa eine Pointe verraten? Würde es zu plakativ wirken? Dennoch: Sollte die Fiktion gelingen, müsste der Gesang, wenn auch imaginiert, im Raum des Imaginären in der Tat erfolgen. Denn im inneren Ohr ist es kein Problem, Geräusche, Klänge und Sprache, insbesondere Streitgeschrei, im inneren Ohr des Lesenden zum Erklingen zu bringen – Dostojewskijs virtuose Art, dies zu tun, ist dafür ein Beispiel. In Kafkas Text heißt es jedoch: es ist ein Wunder, dass wir nicht singen – und dies zu recht. Geht man vom Standpunkt einer gelungenen Fiktion im Raum des Imaginären aus, ist es in der Tat ein Wunder. Die Pointe liegt, denke ich, darin, dass sich gerade durch dieses Wunder des Nichtsingens die Materialität der Literatur in ihrer Eigenart – ihrem eigenen Raum – gegen den imaginären behauptet. Es behauptet sich hier das eigentümliche Schweigen der beredten Schrift, ein Schweigen, demgegenüber man beharrlich, wie etwa in Kafkas Schweigen der Sirenen zu beobachten ist, einen schönen Gesang zu imaginieren sucht. Der Ausflug ins Gebirge ist Teil eines Zyklus’ von insgesamt 18 Texten mit dem bedeutsamen Titel Betrachtung. Somit bildet er einen Zwischenraum zwischen zwei weißen Flächen, die ihn von zwei anderen Teilen dieses Zyklus‘ isolieren. Als Text, der zwischendurch einen imaginären Raum entstehen lässt, welcher aber nicht erklingt, wie es sich bei imaginären Räumen doch gehört, wird er zum Übergang von einem genuin literarischen Raum – demjenigen des weißen Papiers – zum nächsten. Die taubstumme Textkette zwischen einer und der nächsten weißen Papierparzelle lässt deren eigentümlich sonore Stille aufleuchten. Die beiden literarischen Texte von Dostojewskij und von Kafka stellen zwei geradezu extreme Ausprägungen eines literarischen Zwischenraums dar, jeweils buchstäblich. Bei Dostojewskij scheitert die mimetisch-realistische Rekonstitution eines gar pedantisch beschriebenen Zwischenraums und entmachtet somit die Idee des Subjekts. Inwieweit die alleinige Unersetzbarkeit des Individuums im eigenen Tod bei Dostojewskijs Kirillow evoziert wird, bleibe an dieser Stelle offen. Was zählt, ist die Unentscheidbarkeit darüber, welcher Raum hier konstituiert wird und auf welche Weise dies geschieht; die Einschaltung des Zwischenraums wird zu einer Technik der Entselbstung und Annihilation des Subjekts. Bei Kafka dagegen handelt es sich um eine im und am Text realisierte

eine spezifische Art der Materialität von Raum (in) der Literatur zu beschreiben, die hier – so die These – aufscheint.

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Analyse der Möglichkeit, Räume des Imaginären literarisch – und litteralis – zu konstituieren. Diese Analyse und der hierfür erschaffene Zwischenraum des Imaginären sind jedoch dazu da, sich selbst zu verabschieden, um dem literarischen Raum und dem stillen Weiß der Seiten zu weichen.

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P OSTPRAGMATISCHE A CHTSAMKEIT ? P OST P RAGMATIC J OY Z WISCHENZUSTAND P OSTIRONIE

IN

ALS EMOTIONALER

UND

Ä STHET IK

DER

L EIF R ANDTS P LANET M AGNO N

MARVIN BAUDISCH

Mit dem Neologismus PostPragmaticJoy (PPJ) hat Leif Randt erstmals im Jahr 2014 seine Ästhetik etikettiert, für die charakteristisch ist, Extreme jeglicher Art zugunsten eines Gleichgewichts, eines möglichst einheitlichen Mittelzustands auszutarieren.1 In Randts drittem Roman Planet Magnon (2015) nimmt PPJ eine zentrale Rolle ein. Das Science-Fiction-Szenario spielt in einer fernen, durch ein algorithmisches Computersystem regierten Planetengemeinschaft, in der sich die meisten Menschen Kollektiven angeschlossen haben, die in „friedlicher interplanetarischer Koexistenz“2 leben und allein durch verschiedene ästhetische Lebensformen um ‚Fellows‘ konkurrieren. Das wichtigste dieser Kollektive sind die „Dolfins“3, dem Marten Eliot angehört, Protagonist und Ich-Erzähler des Romans. Auf der Handlungsebene bezeichnet PPJ die Weltanschauung der Dolfins. Es handelt sich um verschiedene Techniken, darunter Meditationsformen und die titelgebende Substanz Magnon, deren Ziel in der Etablierung eines emotionalen Zwischenzustands besteht: der sogenannte „postpragmatische[] Schwebezustand“ (PM, S. 291). 1 2 3

Vgl. die Essays RANDT, 2014a, S. 28-29 sowie RANDT, 2014b, S. 7-12. PostPragmaticJoy wird im Text nachfolgend stets kursiv als PPJ abgekürzt. Vgl. RANDT, 2015, S. 291. DRÜGH, 2016. RANDT, 2015, S. 10. Zitate aus Planet Magnon im Folgenden mit der Sigle „PM“ mit Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen.

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Als eine „Mixtur aus Hippieträumen und dem in mancher Hinsicht zugespitzten Hier und Jetzt einer Selbstoptimierungskultur“4, bezeichnet Heinz Drügh die „Weltraumvision“5 von Planet Magnon treffend. Ich argumentiere, dass PPJ eine Emotionsfiktion ist, durch die sich der Roman in zutiefst ambivalenter Weise ästhetisch an der therapeutischen Kultur der Spätmoderne abarbeitet, die auf die Erschöpfungssymptome und negativen Emotionen antwortet, welche wiederum aus dem Selbstoptimierungs- und Selbstverwirklichungsimperativ resultieren können.6 PPJ bezieht sich auf die Semantik der spätmodernen Emotionskultur, verfremdet diese aber zugleich durch ihre literarische Eigenlogik, sodass sie diese verschiebt.7 Wie ich zeigen werde, resultiert die Ambivalenz dieser Emotionsfiktion daraus, wie sie die „Sozialität der Autonomie“8 – den Zusammenfall von Zwang und individueller Freiheit – verhandelt, in der einschlägige Gegenwartsdiagnosen den zentralen Generator von Erschöpfungssymptomen und Therapiebedürfnis sehen. Planet Magnon löst und verschärft diesen Zusammenhang zugleich. Durch diese Ambivalenz greift der Schwebezustand auf das Lektüreszenario selbst über. Planet Magnon provoziert zunächst gezielt einen Ironieverdacht, der den Roman unentscheidbar zwischen Dystopie und Utopie, zwischen ironischer Kritik und affirmativem Ernst oszillieren lässt. Dieses Wechselspiel wird zugleich durch eine Ästhetik der Postironie überschrieben. Inszeniert wird ein postpragmatisches Lektüreszenario, das den emotionalen Zwischenzustand und die ‚Befreiung des Blicks‘ von Urteilen, wie ihn die Dolfins durch Magnon erfahren, als therapeutische Wirkungsästhetik auf den virtuellen Leser überträgt, um eine Distanz zur ironischen Oszillation zu gewinnen und sich anschließend entscheiden zu können, den Text als Utopie oder Dystopie zu lesen.

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DRÜGH, 2016. EBD. Für die Begriffsanregung ‚Emotionsfiktion‘ danke ich Christian Metz. Ich gehe insbesondere darauf ein, wie in der Wirkung von Magnon, die Emotionsund Urteilsdistanz mit einem neutralen Betrachten verknüpft, das Meditationskonzept der ‚Achtsamkeit‘ verarbeitet wird. EHRENBERG, 2010, S. 59.

Postpragmatische Achtsamkeit?

PostPr agmaticJoy als emotional er Zwischenzustand Im romaninternen Begriffsglossar wird unter dem Lemma „POSTPRAGMATICJOY“ (PM, S. 291) von einem „Sammelbegriff für alle Techniken“ gesprochen, deren Anwendung den „Fellows“ der Dolfins „die höchstmögliche Lebensqualität […] gewährleisten“ (EBD.) soll. Zu den Techniken, die ebenfalls durch Neologismen bezeichnet und durch eigene Glossareinträge9 erläutert werden, heißt es weiter: „Die Bandbreite der PostPragmaticJoy-Techniken, -Praktiken und -Strategien reicht von gezielten Substanzexperimenten, wie etwa mit der FLÜSSIGKEIT MAGNON*, über CELIUS*-Übungen bis hin zu verspielten Kommunikationsformen wie dem MITCH*.“ (EBD.) Der Sinn der diversen Techniken wiederum liegt darin, sich dem „postpragmatischen Schwebeideal“ (PM, S. 280) anzunähern, in dem die „höchstmögliche Lebensqualität“ auf Dauer gestellt wird. Dieses Ideal wird weiter als ein „Zwischenzustand“ (EBD.) definiert, in dem Gegensätze wie „Rauscherfahrung und Nüchternheit, Selbstund Fremdbeobachtung, Pflichterfüllung und Zerstreuung ihre scheinbare Widersprüchlichkeit überwinden“ (PM, S. 291-292) sollen. Das Ziel der Techniken ist die Realisierung eines emotionalen Gleichgewichts, der „postpragmatische[] Schwebezustand“ ist ein emotionaler Zwischenzustand: die autogenen, meditativen Celiusübungen, durch die sich die Dolfins in Stressphasen „postpragmatisch […] erden“ (PM, S. 93), machen „ebenso entspannt wie diszipliniert“ (PM, S. 280), die titelgebende Flüssigkeit Magnon evoziert eine „erhabene Besänftigung“ und „würdevolle Schamlosigkeit“ (PM, S. 283). Als „respektabler Dolfin“ wiederum möchte man idealerweise „emphatisch und unterkühlt zugleich“ (PM, S. 9) sein. Was die Figuren wie die Ästhetik gleichermaßen interessiert, das artikuliert der Text, als Marten die Wirkungsweise von Magnon beschreibt: „Das ist interessant. Eine Mischung aus enormer Objektivität und großer Emotion“ (PM, S. 66). Permanent geht es in Planet Magnon um Emotionen, zuweilen auch um große wie „erhabene[] Momente[e] der Ergriffenheit“ (PM, S. 280), die jedoch stets nur Momente sein dürfen, das heißt im selben Atemzug durch Mechanismen und Substanzen der Emotionsdistanzierung und Affektkontrolle wieder in eine Objektivität 9

Großschreibung und Sternchen zeigen jeweils an, dass zum entsprechenden Begriff ein eigener Glossareintrag existiert. Mit dem Glossar generiert der Roman eine Art internes Wiki und kann zugleich als impliziter Verweis auf das Glossar zum sogenannten ‚Neusprech‘ in George Orwells Dystopie 1984 verstanden werden.

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überführt werden müssen, die es in der postpragmatischen „Vogelperspektivierung“ (PM, S. 283) zu betrachten gilt. Die Dolfins „definieren sich […] über die Ausschaltung jeglicher Extreme“10, so Immanuel Nover treffend, dadurch soll die emotionale Mittellage erreicht werden. Zentral für den postpragmatischen Zwischenzustand ist zudem der Versuch, stets zwischen negativen aber auch positiven Emotionen zu schweben, exzessive Ausschläge in beide Seiten zu vermeiden. Zwischen euphorischem „Spaß“ (PM, S. 124) und „unangenehm[er] […] Trauer“ (PM, S. 124-125) gilt es vielmehr, eine „produktive Distanz“ (PM, S. 124) zu kultivieren.11 „[D]as feine Glück“ (PM, S. 166), die ‚Joy‘ der PPJ, besteht also in einem stabilen emotionalen Zwischenzustand durch eine neutrale, beobachtende Distanz gegenüber den eigenen Urteilen und Emotionen. Mit Pink Floyd gesprochen, besteht das Glückskonzept der Dolfins darin, Comfortably Numb zu sein. Diese Dämpfung und Abschleifung der emotionalen Extrempole zugunsten eines möglichst stabilen Zustands steht auf den ersten Blick eigentümlich quer zur Ökonomie menschlichen Lustempfindens, wie Sigmund Freud sie in Das Unbehagen in der Kultur (1930) beschreibt. Zwar verstünden wir unter „Glück“12 in der Regel nur einseitig die positive Vorstellung „starker Lustgefühle“13, doch diese sind als Glück überhaupt nur aufgrund des Wechsels mit Unlustgefühlen erfahrbar. „Was man im strengsten Sinne Glück heißt“14, so Freud, entspringe eigentlich der „plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.“15 10 NOVER, 2016, S. 457. 11 Zwar hat Randt den Begriff PPJ erst 2014 etabliert, das Ideal der emotionalen Balance jedoch durchzieht bereits den Vorgängerroman Schimmernder Dunst über Coby County (2011). Treffend konstatiert GREINER, 2014, S. 327: „Zwar haben auch die Menschen in CobyCounty Gefühle, doch achten sie darauf, dass diese Gefühle nicht existentiell bedrohlich werden. Sie haben gelernt, ihre Gefühlskurve auf kleine Schwankungen herabzudämpfen, und es wäre ein Zeichen mangelnder ‚Stabilität‘, würde man sich emotionalen Exzessen hingeben. In einer ‚stabilen‘ Gemütslage zu leben, ist Wims größtes Bedürfnis.“ 12 FREUD, 2009, S. 42. 13 EBD. 14 EBD., S. 43. 15 EBD.

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Postpragmatische Achtsamkeit?

Das „Gefühl von lauem Behagen“, das Freud hier für die dem Lustprinzip widersprechende Vorstellung eines auf Dauer gestellten Lustempfindens wählt, ist aber nicht nur eine recht treffende Bezeichnung für das inverse Glückskonzept des postpragmatischen Zwischenzustands. Vielmehr findet sich ein vergleichbares Versprechen konstanten Glücks auch in jenen Achtsamkeits-Meditationsratgebern, die in die Sprache und Konzepte der Dolfins einfließen. So stellen bspw. Mark Williams und Danny Penman in Das Achtsamkeitstraining durch die regelmäßige Ausübung der Meditation ein „echtes Glücksgefühl“16 in Aussicht, das „eine[r] beständige[n] Art ‚Aroma‘ [gleicht], das uns bis in die letzten Fasern unseres Wesens hinein durchdringt“ und nicht mit jener herkömmlichen „Art des ‚Glücks‘, das sich mit dem Einsetzen des Gewöhnungseffekts verflüchtigt“17, zu verwechseln ist. Und ähnlich wie bei den Dolfins resultiert dieses Glück daraus, dass Achtsamkeit „eine mentale Technik der emotionalen Distanzierung“18 ist, deren Prominenz mit der vielzitierten „Überforderung der Seele“19 zusammenhängt, die dem spätmodernen Subjekt droht. Um die Ambivalenz begreifen zu können, die Planet Magnon in seiner Verhandlung dieses „therapeutischen Ethos“20 der Gegenwart auszeichnet, muss nun zunächst dieser Diskurszusammenhang skizziert werden.

Autonomie, Erschöpfung, Therapi e Wie einschlägige soziologische und philosophische Gegenwartsdiagnosen der letzten Jahre gezeigt haben, hängt das Bedürfnis nach psychologischer Selbsthilfe sowie Techniken der Emotionskontrolle damit zusammen, dass Autonomie und Freiheit mit dem Übergang von der Disziplinar- zur spätmodernen Kontrollgesellschaft nicht mehr allein subjektiver Wunsch sind, sondern sukzessive die Struktur einer Regierungsform angenommen haben. Der Soziologe Alain Ehrenberg spricht von einem „autonomen Gehorsam“21 und einer „Sozialität der Autonomie“, d.h. man gehorcht heute, indem man frei und autonom handelt und 16 17 18 19 20 21

WILLIAMS/PENMAN, 2015, S. 71. Alle Zitate EBD. HORX, 2017, S. 15. EBD., S. 9. ILLOUZ, 2011, S. 35. EHRENBERG, 2010, S. 59. Vgl. auch die anderen Beiträge in MENKE/REBENTISCH, 2010 sowie EHRENBERG, 2008.

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zum „Unternehmer seines eigenen Lebens“ wird.22 Byung-Chul Han nennt das das Paradox der „zwingenden Freiheit“23. Ehrenberg verknüpft die Depression mit dieser ubiquitären „Aufwertung von Autonomie“24. Der Prozess ist ambivalent, insofern er im Unterschied zur Disziplinargesellschaft, die sich durch äußere Zwänge und Vorschriften auszeichnet, zwar mit mehr Handlungsoptionen, Verantwortung und Freiheit für das Individuum einhergeht, zugleich aber die feste Struktur der Disziplinargesellschaft missen lässt und somit auch vermehrt Unsicherheiten und Handlungsunfähigkeit produzieren kann.25 Dem spätmodernen Subjekt droht so ein Leiden an Unbestimmtheit angesichts eines „Übermaß[es] an Positivität oder Möglichkeit“26, das in Überforderung und Erschöpfung kippen kann. Diesem Dilemma sieht sich auch die „neue[] Norm“27 der kreativen „Selbstverwirklichung“28 gegenüber. Das „spätmoderne Subjekt“29 muss hier sein „besonderes Selbst vor den Anderen“ performen, die zugleich zu Konkurrenz und „Publikum werden“.30 Dabei herrscht Andreas Reckwitz zufolge zugleich ein Imperativ zur Demonstration und „Hervorbringung positiver Emotionen als zentralen Lebenssinn“31. Der Widerspruch der „spätmodernen Emotionskultur“32 liegt nun darin, dass sie dabei „so unbeabsichtigt wie systematisch und in gesteigertem Maße negative Emotionen hervorbringt: Enttäuschung und Frustration, Überforderung und Neid, Wut, Angst, Verzweiflung und Sinnlosigkeit.“33 Gleich einem Kugelstoßpendel schlagen die Affekte in ihre positiven und negativen Extremwerte aus, was jedoch gänzlich fehlt, das ist gerade ein emotionaler Zwischenbereich: Nicht nur mangele es der westlichen, säkularen Kultur an Copingstrategien für negative Erfahrungen und Emotionen34, sondern

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Alle Zitate EHRENBERG, 2010, S. 59. HAN, 2010, S. 24. EHRENBERG, 2010, S. 53. Vgl. EBD., S. 52-55. HAN, 2010, S. 50. Han spricht entsprechend von einer „Schaffens- und Könnensmüdigkeit.“ (EBD., S. 23) RECKWITZ, 2019, S. 204. EBD. RECKWITZ, 2017, S. 9. Alle Zitate EBD. RECKWITZ, 2019, S. 205. EBD., S. 237. EBD., S. 205-206. Vgl. auch MIXA u. a., 2016. Vgl. EBD., S. 232.

Postpragmatische Achtsamkeit?

zugleich an „Ambiguitätstoleranz“35, d.h. einem Verständnis für ambivalente Emotionen. Reckwitz fordert deshalb die Kultivierung einer „neue[n] Form von Affektkontrolle qua Distanzierung“36 und verweist dabei auf die Aktualität buddhistischer sowie stoizistisch geprägter Techniken. Dazu gehört auch das referierte Konzept der Achtsamkeit. Es müsse darum gehen, so Reckwitz, „die Präsenz von Emotionen zwar anzuerkennen, sich aber im Rahmen der Lebensform nicht von ihnen abhängig zu machen – und zwar weder von den negativen noch (was schwerer fällt) von den positiven Gefühlen.“37 Nur lässt sich mit der Soziologin Eva Illouz zugleich kritisch einwenden, dass Techniken der emotionalen Distanzierung bereits längst ein kooptierter Teil der „Psychoindustrien und psychomedizinischen Industrien“38 aus „psychologische[r] Beratung jeder denkbaren Schule, Workshops, Selbsthilfebücher, Coaching“ sowie „der Pharmabranche“ sind, die ihr „Tätigkeitsfeld sukzessive von den ‚Geisteskranken‘ auf die Gesamtbevölkerung“ ausgeweitet haben.39 Mag der Tanz vielleicht nicht mehr ausschließlich ums goldene Kalb positiver Emotionen führen, so hilft letztlich noch die von Reckwitz geforderte Distanzierung von Emotionen dabei, die problematische Sozialität der Autonomie am Laufen zu halten: Das Individuum muss autonom dafür sorgen, sich einen gesunden, emotionalen Zwischenzustand zu erarbeiten, um durch Distanz zu seinen eigenen Gefühlen und Urteilen mitunter wieder in ein positives Verhältnis zu seinen kreativen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten treten zu können. Damit folgt letztlich noch die Distanzierung von positiven und negativen Emotionen einer Logik der Steigerung des Wohlbefindens. Sie wird zu einem Glücksversprechen und droht genau jene „Ideologie des Neoliberalismus“40 zu reproduzieren, die nach Ehrenberg und Illouz psychische Erschöpfungsphänomene überhaupt erst hervorbringt.

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EBD., S. 236. EBD., S. 237. EBD., S. 236. ILLOUZ, 2018, S. 45. Alle Zitate EBD. Die ‚neoliberale‘ Kooption von Achtsamkeit hat unter Begriffen wie ‚Achtsamkeits-AG‘ und ‚McMindfulness‘ bereits entsprechende Kritiken erfahren. Vgl. dazu etwa STEPHAN, 2015. 40 CABANAS/ILLOUZ, 2019, S. 20. Vgl. dazu ausführlich EBD., S. 65-97.

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PostPr agmaticJoy: Eine ambiv alente Emotionsfiktion Nachfolgend soll die Ambivalenz konturiert werden, mit der PPJ sich an der therapeutischen und psychologischen Semantik und Motivik abarbeitet und die zugleich die Grundlage für die unten behandelte Ästhetik der Postironie von Planet Magnon bildet. PPJ ist das, was ich als Emotionsfiktion bezeichne. Als Emotionsfiktion steht PPJ in einem Wechselverhältnis aus gleichzeitiger Identität und Differenz zur (diskursiven) Wirklichkeit, operiert zwischen der spätmodernen Emotionskultur und literarischer Eigenlogik. Sie bezieht sich auf die Semantiken und Diskurse der gegenwärtigen Emotionskultur, verfremdet und transformiert diese aber zugleich im Medium der Literatur.41 Diese Ambivalenz soll an zwei Aspekten konturiert werden: Zunächst wird anhand der postpragmatischen Flüssigkeit Magnon die bereits angedeutete Ähnlichkeit von Elementen der PPJ mit dem Konzept der Achtsamkeit vertieft. Daraufhin wird gezeigt, wie PPJ sich zugleich davon unterscheidet, indem Magnon das Subjekt von der zwanghaften Sozialität der Autonomie befreit und damit paradoxerweise jene Struktur aufhebt, die, wie nachgezeichnet, Depressionen sowie das Bedürfnis nach therapeutischen Selbsttechniken allererst hervorbringt. In Kapitel 14 reisen Marten und Emma Glendale als „Spitzenfellows“ (PM, S. 50), die „die Dolfins der Gegenwart […] repräsentieren“ (EBD.), auf den Planeten „Sega“ (PM, S. 68), um dessen Bevölkerung42 von den Vorzügen ihres Kollektivs und der PPJ zu überzeugen. Marten referiert spontan über die Wirkungsweise von Magnon. Es gehe bei der Substanz „weder um einen energetischen noch um einen amourösen Ausnahmezustand“ (PM, S. 82), was auf das Ideal des emotionalen Zwischenzustands verweist, „sondern um eine Befreiung des Blicks und schließlich um die Betrachtung als solche.“ (EBD.) Was man sich darunter vorzustellen hat, lässt sich dem neunten Kapitel entnehmen, in dem Marten rückblickend von seinem „ersten Magnonexperiment“ (PM, S. 58) erzählt, bei dem er „einundzwanzig“ (EBD.) Jahre alt war: „Die Tage der Gartenzeremonie markierten den Übergang, einen Schwebezustand. Wir waren jetzt keine Junioren mehr, aber auch noch keine Dolfins der Age-Kategorie. Das 41 Zu einer solchen Emotionsfiktion gehört immer auch ein ‚virtueller Leser‘, der als funktionaler Adressat ihrer virtuellen Wirkungsästhetik fungiert. Vgl. dazu GENETTE, 2010, S. 259-270. 42 Diese gehört vor allem dem konkurrierenden Kollektiv „WESTPHAL“ (PM, S. 303) an.

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würden wir erst nach der Medaillenvergabe sein“ (PM, S. 59). Dass die titelgebende Substanz Magnon die mit Abstand wichtigste Technik der Dolfins ist, um zur Realisierung des emotionalen Zwischenzustands beizutragen, wird dadurch unterstrichen, dass die Schilderung des Erstkonsums durch eine regelrechte Motivik des Dazwischens gerahmt wird. So wird explizit von einem „Übergang“, einem „Schwebezustand“ gesprochen, handelt es sich hier doch erstens um einen Initiationsritus – ein Coming-of-Age-Szenario –, insofern sich die Mitglieder des Kollektivs in einem Übergangsstadium zwischen „Junioren“ und „Dolfins der Age-Kategorie“ befinden. Dieser Übergang erfolgt zweitens durch eine „[Z]eremonie“, also ein Fest, das einen Ausnahmezustand innerhalb des gewohnten Alltags markiert.43 Dieses Fest findet drittens in einem „Garten“ statt, jenem Ort,, den Michel Foucault als „das älteste Beispiel einer Heterotopie“44 bezeichnet, jenes prominente Zwischenraumkonzept, das „lokalisierte[] Utopien“45 behandelt. Wie muss man sich die utopische Wirkung und den postpragmatischen Zwischenzustand nun aber vorstellen? Emma setzt sich während der Zeremonie neben Marten und trägt einen Overall, den Marten sofort mit einem Geschmacksurteil bewertet: „Sie sah in ihrem Overall etwas verloren aus, er hing undefiniert von ihren Schultern hinab.“ (PM, S. 62). Plötzlich aber, als Emma „auf der Wiese davongeh[t]“ (PM, S. 63), beginnt das Magnon zu wirken und ‚befreit‘ Martens Blick zugunsten einer ‚Betrachtung als solcher‘: „Ich betrachte ihren Overall, den ich kurz zuvor noch als zu weit wahrgenommen hatte, den ich aber jetzt schon nicht mehr beurteilen wollte. Ich sah nur noch, dass Emma einen grauen Overall trug, der mutmaßlich zu 75% aus Baumwolle bestand und den man, je nach Situation, als schön oder angemessen, aber auch als problematisch einstufen konnte. All das war legitim und nachvollziehbar, und in jeder dieser Betrachtungsweisen lag eine gewisse Chance.“ [Hervorhebungen M.B.] (PM, S. 63-64)

Wo Marten vorher unmittelbar zur Bewertung neigt, ein negatives Geschmacksurteil fällt und Emma ‚als verloren‘ wirkend beurteilt, weil er ihren Overall ‚als undefiniert herabhängend‘ empfindet, da evoziert Magnon eine Distanz zu den eigenen, automatisierten ästhetischen Urteilen, die mit einer neutralen ‚Betrachtung als solcher‘ einhergeht: Zunächst ist da ein ‚Sehen dass‘, ein Sehen, das 43 Vgl. BUBNER, 1989, S. 651-662. 44 FOUCAULT, 2013, S. 14-15. 45 EBD., S. 10.

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reine Faktizität wahrnimmt, nämlich die Tatsachen, „dass Emma einen grauen Overall“ trägt und dass dieser „zu 75% aus Baumwolle“ besteht. Diese ‚Befreiung des Blicks‘ durch eine Distanz zu den eigenen Urteilen ermöglicht in einem zweiten Schritt ein ‚Sehen als‘ – ein ästhetisches Aspektsehen, wie man unter Rekurs auf Wittgenstein sagen könnte46 – und der Overall kann nun „als schön oder angemessen, aber auch als problematisch“ beurteilt werden. Offenbar nach Belieben und in genussvoller Souveränität schwebt Marten zwischen verschiedenen „Betrachtungsweisen“ die „je nach Situation“ anwendbar sind, es aber nicht sein müssen, sondern bloß „konnte[n]“. Mithin überwiegt sogar die Neigung, gar „nicht mehr beurteilen [zu] woll[en]“. Diese ästhetische Distanz ist nun zugleich auch eine emotionale Distanz, denn es handelt sich um eine ästhetische Verhandlung therapeutischer Motive. Nicht nur die Wirkungsweise von Magnon, sondern überhaupt das Konzept und die Sprache der PPJ sind nämlich, wie oben bereits erwähnt, eng an Konzepte und das Vokabular psychologischer Selbsthilfetechniken und Ratgeberbücher angelehnt. Das gilt besonders für das gegenwärtig populäre Konzept der ‚Achtsamkeit‘, wo Distanz gegenüber den eigenen Urteilen und Emotionen als ein erstrebenswertes Ziel gilt, das mit dem Versprechen psychischen Wohlbefindens einhergeht. Diese ästhetisch-therapeutische Verschränkung wird besonders in Randts Essays über PPJ deutlich, wo sich jene Sätze, die sowohl performative Beispiele wie konstative Definitionsversuche der postpragmatischen Ästhetik sind, zugleich wie Mantras oder Motivationssprüche lesen: „Sachen so sagen, wie sie sind, ohne darunter leiden zu müssen. Wach sein, aber nicht überspannt. Mittendrin, aber nicht verloren. Vielleicht ist das der Weg in die Post Pragmatic Joy.“47 Oder: „[D]ie Dinge im Gleichgewicht halten. Sich nichts vormachen. Aus den Gegebenheiten den bestmöglichen Zustand herausdestillieren. Und immer so weiter.“48 Legt man die entsprechende Selbsthilfeliteratur daneben, dann ist die Analogie erstaunlich, insbesondere auch der Rückgriff auf eine optische Metaphorik.49 So geht es auch hier vor allem um eine beobachtende Distanz zum Selbst 46 47 48 49

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Vgl. MAJETSCHAK, 2016, S. 172-179. RANDT, 2014b, S. 8. EBD., S. 10. Und die Analogie ist kalkuliert. So äußert der Erzähler Leif Randt in der früheren Fassung des autofiktionalen Essays über PPJ, der an vielen Stellen poetologisch expliziter ist: „Die PPJ hilft den Prosahelden bei der Steigerung ihrer Lebensqualität. Das klingt vielleicht so, als wollte ich wieder eine Parabel schreiben. Aber das ist nicht wahr. Diesmal soll es ein Ratgeber werden.“ (RANDT, 2014a, S. 29)

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und den eigenen Emotionen zugunsten eines befreiten Blicks auf die Welt: „Wir erfahren die Welt unmittelbar, sodass wir mögliche Verstimmungen aus einem völlig neuen Blickwinkel heraus betrachten und den Schwierigkeiten des Lebens ganz anders entgegentreten können.“50 Genau wie in der postpragmatischen ‚Befreiung des Blicks‘, die eine ‚Betrachtung als solche‘ evoziert, die von unmittelbarer Bewertung distanziert und es stattdessen ermöglicht, die „Sachen so sagen“ bzw. sehen zu können, „wie sie sind“ und eine Auswahl aus verschiedenen Urteilen zu treffen, heißt es, dass „das Einnehmen eines anderen Standpunkts einen gefühlsmäßigen Wandel bewirken“51 kann. Dieser korreliert mit „Gewahrsein oder Achtsamkeit“52, die sich einstellen, „wenn wir lernen, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind – aufmerksam, präsent und ohne jedes Urteil. Im Zustand der Achtsamkeit fangen wir an, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und nicht, wie wir es von ihr erwarten, wie wir sie haben wollen oder wie wir befürchten, dass sie sich entwickeln könnte.“53

Ziel ist es folglich, eine Distanz zu den eigenen (negativen) Gefühlen und Gedanken einzunehmen. Diese werden als emotionale und mentale Ereignisse betrachtet, die weder „‚ich‘ noch die ‚Realität‘“54 sind, um wieder „mehr Kontrolle über unser Leben“55 zu erlangen. Wie die Celiusübung verspricht „die Meditation […] die Möglichkeit, sich tagsüber oder wann immer der Alltag Sie zu überrollen droht, problemlos neu zu erden.“56 Neu – oder eben „postpragmatisch zu erden.“ (PM, S. 93) Signifikant ist dabei nun vor allem, dass das Versprechen, das durch das aktive Erlernen von Achtsamkeit in Aussicht gestellt wird, jener oben behandelten Wirkung ähnelt, die die Protagonisten passiv durch den Magnonkonsum

50 51 52 53

WILLIAMS/PENMAN, 2015, S. 56. EBD., S. 54. EBD., S. 57. EBD. Zudem wirke die „Achtsamkeit […] wie ein sanftes Warnglöckchen, welches uns […] darauf hinweist, wenn wir wieder einmal zu viel denken […], dass es eine Alternative gibt: Wir können immer zwischen mehreren Möglichkeiten wählen, ganz gleich, wie unglücklich, gestresst oder hektisch wir uns im Augenblick auch fühlen mögen.“ (EBD., S. 69). Versprochen wird also nichts anderes als eine Auswahl an „Betrachtungsweisen“ gegenüber dem eigenen emotionalen Befinden. 54 EBD., S. 65. 55 EBD., S. 64. 56 EBD., S. 87.

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erfahren. So wie Marten plötzlich „nicht mehr beurteilen wollte“, geht es darum zu lernen, „vorübergehend das Werten einzustellen“57 um „zu[zu]schauen, wie sich die Welt entfaltet, sodass sie einen Moment lang einfach so sein darf, wie sie ist. So können wir ohne vorgefasste Meinung auf ein Problem oder eine Situation zugehen und sind nicht mehr gezwungen, ausschließlich vorgefertigte Schlüsse zu ziehen. Es ist dafür gesorgt, dass wir unsere kreativen Möglichkeiten nicht verschließen.“58 [Hervorhebungen M.B.]

Statt unmittelbarer Urteile (‚Emmas Overall ist zu weit‘) – sollen sich „unsere[] kreativen Möglichkeiten“ wieder eröffnen („in jeder dieser Betrachtungsweisen lag eine gewisse Chance“). Die emotionale Distanznahme geht also letztlich mit dem Versprechen einer Form von ästhetischer Autonomie einher, die im Realisierungspotential der eigenen „kreativen Möglichkeiten“ liegt. Das ist durchaus pikant, denn wie oben festgestellt wurde, ist es gerade der konstitutive Bezug auf Kreativität, der spätmoderne Imperativ zur „kreativen Selbsttransformation“59, der systematisch negative Emotionen und psychische Krankheiten hervorbringen kann und damit das Bedürfnis nach Strategien therapeutischer und psychologischer (Selbst-)Kontrolle wie Achtsamkeit erst schafft. Die zentrale Verschiebung, die Planet Magnon nun zugleich vornimmt, liegt darin, durch die Wirkung von Magnon den konzedierten Zwang zur Autonomie aus dem Zentrum zu rücken, der einen signifikanten Anteil am Dilemma der spätmodernen Gefühlskultur hat. Die Aufgabe von Autonomie korreliert hier nämlich mit der Möglichkeit, Möglichkeiten wieder goutieren zu können. Der Genuss an Auswahl, an Optionen, an „Betrachtungsweisen“, den Marten verspürt, resultiert daraus, dass er sich vollkommen der Substanz Magnon überlässt. So heißt es explizit, nachdem Marten deren Wirkung als „Mischung aus enormer Objektivität und großer Emotion“ (PM, S. 64) definiert: „Ich wunderte mich. Eine so genaue Formulierung hatte ich nicht kommen sehen. Es war, als übernähme die Flüssigkeit das Reden für mich.“ [Hervorhebung, M.B.] (EBD.) Und als Marten wiederum am Ende des Romans gemeinsam mit der Anführerin der Hanks Magnon konsumiert, – was zur Kooption der Systemkritiker in die PPJ führt60 – erläutert Marten, dass die „drei Magnonreaktionstypen […] eint, 57 58 59 60

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EBD., S. 63. EBD. RECKWITZ, 2012, S. 9. Dazu mehr im nächsten Abschnitt dieses Aufsatzes. Vgl. außerdem NOVER, 2016, S. 453-459.

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dass sie unter Magnoneinfluss aufhören, sich selbst ins Zentrum zu stellen“ (PM, S. 266). Kurz: Marten schwebt zwischen Mensch und Magnon. Das autonome Subjekt wird hier freiwillig zum heteronomen Medium einer Substanz, die das Subjekt aus dem Zentrum verdrängt. Planet Magnon formuliert die Utopie eines chemisch induzierten Transhumanismus, eines Glücksversprechens durch Emotionskontrolle und Gefühlsdämpfung, dessen Realisierung mit der sukzessiven Verschiebung von Aktivität (Meditationstechniken) zu Passivität (Substanz) einhergeht. Die ‚Befreiung des Blicks‘, die paradoxerweise durch eine selbstgewählte Unterwerfung unter eine Substanz erfolgt, ist eine Befreiung von jener paradoxen „zwingenden Freiheit“61 der spätmodernen Kontrollgesellschaft durch den autonomen Gehorsam, in dem „Freiheit und Zwang“ im Individuum – das gerade dadurch gehorcht, dass es autonom und frei ist – „zusammenfallen“.62 Dort, wo noch ein autonomes – wenn auch bereits im Kollektiv eingespanntes – Ich war, soll Magnon werden, das aus der spätmodernen ‚Optionsparalyse‘ ein regelrechtes ‚Optionsparadies‘ werden lässt. Das „Übermaß an […] Möglichkeit“63 wird durch Magnon wieder genießbar: „‚Kannst du dich nicht entscheiden, was du trinken willst?‘“ (PM, S. 65), fragt Marten während der Magnonzeremonie seinen Dolfinkameraden Duncan, der – ebenfalls unter Magnoneinfluss stehend – antwortet „‚Ich genieße nur für einen Augenblick die Auswahl. Eine falsche Entscheidung zu treffen, ist vollkommen unmöglich‘“ (EBD.). [Hervorhebung, M.B.]

Isn’t it ironic? Planet Magnon zwischen Dystopie und Ut opie Stellvertretend für den gesamten Roman lässt sich anhand der behandelten Beschreibung der Magnonwirkung der Einsatzpunkt der Ästhetik der Postironie verorten. Diese lässt sich in zwei Schritten beschreiben. Erstens evoziert Planet Magnon gezielt einen ‚Ironieverdacht‘, der dazu führt, dass der Roman ambivalent zwischen Dystopie und Utopie schwebt. Diese Ambivalenz wird zweitens in einem postironischen Lektüremodell aufgehoben, das in der Inszenierung

61 HAN, 2010, S. 24. 62 Alle Zitate EBD. 63 EBD., S. 50.

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einer Wirkungsästhetik besteht, die den postpragmatischen Zwischenzustand und die Magnonwirkung auf den virtuellen Leser überträgt. Bei der Provokation des Ironieverdachts handelt es sich um die reflexive Vorwegnahme jener Lektürehaltung, die angesichts des Science-Fiction-Genreswohl die naheliegendste ist, handelt es sich doch um ein tradiertes wie aktuelles Medium von Gesellschaftskritik. Diese Rezeptionshaltung wird reflektiert, wenn Marten wiederum über Emmas Stimme sinniert: „Ihre Stimme wurde von Dritten häufig als emotionslos beschrieben. Wenn sie spricht, glaubt man oft, dass sie es gar nicht so meinen kann, da sie selbst zarte Aussagen unterschiedslos sachlich betont […]“ (PM, S. 49). Mit anderen Worten: Der „Dritte[]“, d.h. der virtuelle Leser, „glaubt“ oder soll zunächst „glaub[en]“, dass der Roman das, was er durch die „Stimme“ des Ich-Erzählers Marten scheinbar postpragmatisch „emotionslos“, nämlich „unterschiedslos sachlich“, kritiklos und affirmativ als utopisches Glücksversprechen schildert, eigentlich „gar nicht so meinen kann […]“. Das Gegenteil des Geschriebenen wäre folglich gemeint und der virtuelle Leser müsste den Roman gegen den Strich als Kritik an einer Form von dystopischem Glückstotalitarismus deuten. Einer solchen Lesart zufolge sind die Dolfins nichts weiter als eine komplett durch die postpragmatische Ideologie verblendete Sekte, was letztlich in der als Glück verklärten Aufgabe der eigenen Autonomie zugunsten der Wirkung einer Droge kulminiert. Die Rede von der ‚Befreiung des Blicks‘ durch Magnon ist folglich nur ein Euphemismus für eine krude Kombination aus drogeninduziertem Eskapismus und jenes gegenwärtig virulenten „Neuro-Enhancement[s]“64 – d.h. eines „Hirndoping[s]“ durch Substanzen –, das „Leistung ohne Leistung möglich“ macht.65 Das Projekt der Dolfins besteht in nichts anderem als der angestrebten Totalisierung von PPJ, ihre – bzw. Magnons – ‚Leistung‘ liegt in der angestrebten Vereinigung aller Kollektive in „einem Planeten Magnon. […] Ein Ort des Rückzugs und der Einsicht und der Auflösung, für jeden“ (PM, S. 269), wo der Mensch vollends im Magnon verschwindet. Ziel ist eine restlose Universalisierung des postpragmatischen Glücksideals abgedämpfter Emotionen. Planet Magnon wäre somit eine Dystopie, die kritisch vom Sieg einer allgegenwärtigen Allianz zwischen neoliberaler Leistungsideologie und therapeutischer Psychoindustrie erzählt. Das ‚Problem‘ dieser ironisch-kritischen Lesart liegt nicht darin, dass sie unzutreffend wäre. Im Gegenteil, vielmehr ist sie so plausibel und naheliegend, 64 HAN, 2010, S. 56. 65 Alle Zitate EBD.

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dass Planet Magnon sie bereits selbst impliziert und somit unter Vorbehalt setzt. Mit dem „Kollektiv Hank“ (PM, S. 30) – auch „Kollektiv der gebrochenen Herzen“ (EBD.) genannt –, etabliert der Roman nämlich „ein scheinbares ‚Außen‘, ein Ort des Widerstands“66, wie er „in vielen dystopischen Texten von Belang ist“67, so Nover. Die Betonung liegt indes auf ‚scheinbar‘, denn der Roman führt die Hanks zunächst als systemkritische Opposition und Alternative zu den Dolfins ins Feld, nur um sie am Ende eine „Allianz“ (PM, S. 272) mit den Dolfins eingehen zu lassen, die sich bei genauerem Hinsehen als Kooption der Hanks in die postpragmatische Weltanschauung entpuppt. Zunächst lesen, ja interpretieren die Hanks Planet Magnon regelrecht als Dystopie, wenn sie im romaninternen Interviewmanifest (vgl. PM, S. 154-160) mit kulturkritischen Gemeinplätzen hantieren. So kritisiert das Kollektiv bspw. eine emotionale Aushöhlung der Menschen: „Heute arbeitet jeder daran, sich möglichst schmerzfrei abzukapseln. […] Wir höhlen uns aus.“ (PM, S. 156) ‚Schmerzfreie Abkapselung‘ lässt sich nur unschwer als kritische Etikettierung jenes gedämpften emotionalen Zwischenzustands lesen, der das postpragmatische Ideal bildet. Die Hanks bieten dagegen „Anerkennung. Diskurs. Erkenntnis“ (PM, S. 160) als Alternative an. Zunächst müsse man sich aus der Verblendung befreien, „die Augen für die Gewalt […] öffnen, mit der wir täglich leben“ (PM, S. 155) und „ein Bewusstsein für das eigene Unglück“ (PM, S. 160) entwickeln, das wie der Mensch selbst „ein Symptom der Verhältnisse“ (EBD.) sei. Durch Aufklärung und Kritik sollen so zumindest „Restchancen auf halbes Glück“ (EBD.) erhalten bleiben. Doch „[ü]ber allem schwebt unser gemeinsames Ziel, die Erneuerung der Verhältnisse.“ (PM, S. 160) Nichts weniger als einen Umsturz, einen Systemwechsel haben die Hanks letztlich also im Sinn. Fluchtpunkt dieser Kritik ist ActualSanity, jene Computervernunft, die die Planetengemeinschaft politisch und wirtschaftlich organisiert und verwaltet: „Wir leben in einer fast perfekten Illusion. Man redet uns ein, dass es uns gut geht. […] ActualSanity sieht uns, umsorgt uns und gibt uns Optionen …“ (PM, S. 156). Im letzten Teil des Romans reist Marten schließlich auf den Müllplaneten „Toadstool“ (PM, S. 239), wo die Hanks ihre „Festung“ (PM, S. 247) haben, und konsumiert zusammen mit der Anführerin der Hanks Magnon. Überzeugt von der Wirkung – „Eure Flüssigkeit ist anders als alles, was ich kenne. Nichts und niemand könnte uns jetzt das Herz brechen … Sag mir, Marten, ist es möglich diesen Zustand zu konservieren?“ (PM, S. 268) – geben die Hanks ihre 66 NOVER, 2016, S. 456. 67 EBD., S. 453.

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Umsturzpläne auf, gehen eine Allianz mit den Dolfins ein und träumen nun ebenfalls vom utopischen Planeten Magnon: „‚Das klingt absolut vereinbar mit uns‘“ (PM, S. 269), so die Anführerin zu Marten, „‚ein solcher Schutzraum wäre vereinbar mit fast allen Kollektiven unserer Planetengemeinschaft.‘“ (EBD.) Das halbe Glück der Hanks verschwindet in der postpragmatischen ‚Joy‘. Nun lässt sich freilich auch noch diese vom Roman inszenierte Kooption der Systemkritik im Sinne einer uneigentlich-kritischen Lektüre verstehen.68 Die Dystopie von Planet Magnon durch die vorbehaltliche Ausstreichung einer vermeintlichen Systemalternative ließe sich etwa als Darstellung jenes „kapitalistische[n] Realismus“69 deuten, worunter der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher „das weitverbreitete Gefühl“ bezeichnet, „dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.“70 Die ‚eigentliche‘ Kritik des Romans würde dann folglich nur noch negativ erfolgen und im Sinne einer Leerstelle abwesend-anwesend sein: da die Kooption „des Anderen“71, die Systemalternative der Hanks, von Anfang an eine Berechnung zur „Stärkung des eigenen politischen Systems“72 ist, zeigt der Roman gerade durch die letztliche Absenz einer ‚wirklich radikalen‘ Kritik, dass es kein radikal Anderes und keine kritische Alternative mehr geben kann.

68 So liest Nover Planet Magnon überzeugend als Darstellung vom „‚Verschwinden‘ des demokratischen Moments im Postpolitischen“ (EBD., S. 454), wo jede vermeintliche Kritik und jeder Widerstand immer schon als systemerhaltender Teil in „einer elastischen politischen Ordnung“ EBD., S. 456) integriert ist und so wie die Hanks – die von Beginn an von der KI ActualSanity unterstützt werden – „nur noch als vom System installierte Simulation“ (EBD., S. 453) existiert. Die Kooption der Hanks in die Dolfins bildet folglich die „Integration des politischen ‚Außens‘ […] [zur] Stärkung des eigenen politischen Systems“ (EBD., S. 458) ab. Der Roman erzähle von der „vollständigen Automatisierung und Entindividualisierung“ (EBD., S. 452), da „die Menschen […] nur noch als Objekte für Berechnungen“ von ActualSanity von Belang seien, jedoch „keinen Einfluss mehr auf die Entscheidungsfindung“ (alle Zitate EBD.) haben und zeige „dass das abstrakte Verwalten von Politik durch Algorithmen die Möglichkeit einer breiten Teilhabe an dem Politischen unmöglich macht […]“ (EBD., S. 455). 69 FISHER, 2013, S. 8. 70 Alle Zitate EBD. 71 NOVER, 2016, S. 458. 72 EBD.

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Diese Lektüre ist plausibel – nur bleibt sie eben genau das: eine Lektüre, eine „Betrachtungsweise[]“ (PM, S. 64), die einem durch das Science-Fiction-Genre habitualisierten kritischen Reflex folgt und ‚von außen‘ etwas hinzufügt, nämlich, dass noch die Abwesenheit von Kritik als Kritik verstanden werden will. Was die ausschließliche dystopische Auslegung dabei aber konsequent ignorieren muss, das sind die feinen Abweichungen, die das Erzähluniversum von Planet Magnon kennzeichnet. Neben der bereits beschriebenen Umcodierung des Autonomieprinzips kann bspw. von einem neoliberalen Kapitalismus gar nicht mehr wirklich gesprochen werden, denn erstens gehört Privateigentum im Roman der „Alte[n] Zeit“ (PM, S. 93) vor ActualSanity an73, zweitens ist die Ökonomie, die durch den Algorithmus organisiert wird, eine zentral gelenkte Planwirtschaft.74 Deshalb gilt auch für Planet Magnon erstens das, was Moritz Baßler in Bezug auf jene Lesarten und wohlwollenden Rezensionen des Vorgängerromans Coby County – dessen Heterotopie immerhin noch auf der Erde spielt – anmerkt, die darin ausschließlich Kritiken, Parodien oder „Satire[n] auf die ‚westliche Wohlstandsgesellschaft‘ (FAZ)“ vermuten: „Solche Lesarten bleiben unterkomplex, weil sie den paralogischen Status des Textes und seiner Diegese verfehlen.“75 Mit den Hanks führt Planet Magnon solche Lesarten vor und die letztliche Kooption in die postpragmatische Alternative attestiert ihnen wohl auch, dass sie in ihrem etwas wohlfeilen Automatismus mittlerweile selbst eher etwas von warenförmigen Produkten haben, die auf einem üppig bestückten, kulturkritischen Markt der westlichen Wohlstandsgesellschaft erwachsen. Vielleicht liegt das Problem also vielmehr darin, dass „man oft“ (PM, S. 49) unmittelbar glaubt, dass der Roman „es gar nicht so meinen kann“ (EBD.). Stattdessen gilt es zweitens den Modus der Paralogie zu beachten und das bedeutet 73 Vgl. PM, S. 93: „In dieser Phase, lange vor unserer Geburt, waren auf allen Planeten der Alphavereinigung Sicherheitskräfte dauerhaft präsent, selbst in den Fußgängerzonen von Blossom City. Überfälle auf Warengeschäfte gehörten zum Alltag, auch weil Besitztümer noch ausschließlich Individuen zugeordnet wurden, anstatt in erster Linie an Orte gebunden zu sein. Der Besitz einer Einzelperson ging weit über eine Sammlung an Schuhen und Accessoires hinaus. Selbst banale Gebrauchsgegenstände wurden nicht geliehen und genutzt, sie wurden erworben und aufbewahrt […].“ 74 Vgl. PM, S. 276: „Die AS […] verfügt über 79% der im Sonnensystem vorhandenen Finanzmittel, die sie nach den Maßgaben einer planetengemeinschaftlich akzeptierten Fairness verteilt. ActualSanity finanziert den Städtebau sowie das Transport- und Gesundheitswesen, zudem unterstützt sie Kollektive und gemeinnützige Einrichtungen.“ Freilich denkt der Roman in beiden Aspekten auch gegenwärtige Entwicklungen des digitalen Kapitalismus und seiner Sharing Economy weiter. 75 BAßLER, 2018, S. 154.

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zugleich: „Randts Roman parodiert nicht unsere Gesellschaft, sondern simuliert einen anderen Zustand.“76 Die andere Auslegungsmöglichkeit, die Planet Magnon so eröffnet, besteht darin, den Roman als Utopie zu lesen, die die postpragmatische Emotionsfiktion als attraktivere Alternative gegenüber „den Restchancen auf halbes Glück“ offeriert, die die Hanks anbieten. Der „andere Zustand“, den das alternative diegetische Universum „simuliert“, besteht in einer anderen Vorstellung von Glück. Planet Magnon schwebt folglich unentscheidbar zwischen Dystopie und Utopie. Es wäre naheliegend, bereits dieses Schweben zwischen Dystopie und Utopie als poetische Einlösung des postpragmatischen Schwebezustands verstehen zu wollen. Doch soll dieser sich ja dadurch auszeichnen, dass Gegensätze wie ‚dystopisch versus utopisch‘ „ihre scheinbare Widersprüchlichkeit überwinden.“ (PM, S. 292) Davon kann an dieser Stelle aber keine Rede sein. Vielmehr beschwört der vom Text injizierte Ironieverdacht gerade den Widerspruch von Utopie und Dystopie herauf und lässt den virtuellen Leser permanent zwischen den ambivalenten Extrempolen einer dystopischen und utopischen Auslegung, einer unernsten und ernsten Lektüre oszillieren. Dieses durch die Ironie provozierte Wechselspiel lässt sich durch Interpretation allein nicht lösen, denn jede Aussage, jeder Satz ist zwischen literaler (eigentlich) und figuraler (uneigentlich) Bedeutung aufgespannt: „Ironie setzt sich parasitär in der Kommunikation fest – sie gleicht einem Virus, dem nur schwerlich Herr zu werden ist, nachdem es sich einmal eingenistet hat.“77

PostPr agmaticJoy – Eine Ästhetik d er Postironi e An dieser Stelle kommt das postironische Lektüremodell ins Spiel, das Planet Magnon entwirft. Es handelt sich dabei um die Inszenierung von PPJ als Wirkungsästhetik. Das Modell wird explizit in Kapitel sieben und acht thematisiert und damit an genau jener Stelle, an der anhand von Martens Gedanken über Emmas Stimme auch die ironische Rezeption getriggert wird. Geschildert wird ein Fotoshooting auf dem Planeten „Blink“ (PM, S. 51). Das Sujet bilden Marten und Emma, da diese kurz davor sind, auf ihre interplanetarische Werbereise für die Dolfins aufzubrechen. Die beiden werden auf den Rücken von 76 EBD., S. 154. Baßler bezieht sich hier ebenfalls auf Schimmernder Dunst über Coby County. 77 PLÖNGES, 2011, S. 444.

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„Caiosauriern“ (PM, S. 52) positioniert, die „zu der Gruppe der Raptoren zählen“ (EBD.). Als schnellen, intelligenten und für den Menschen überaus gefährlichen Jäger hat Steven Spielbergs Film Jurassic Park (1993) den Velociraptor im (pop-)kulturellen Gedächtnis verankert. Ganz im Sinne der postpragmatischen Dämpfung durch Substanzen werden die gefährlichen Assoziationen des Zitats jedoch zugleich abgedämpft und der ironische „Modus der Vorbehaltlichkeit“78 noch verstärkt: der „aggressive[n] Spezies“ (EBD.) wurden nämlich „entsetzlich starke Beruhigungsmittel injiziert. Im schlimmsten Fall könnten sie unter uns zu Boden sinken, weil sie eingeschlafen seien […]“. (EBD.)79 Zu diesem Vorbehalt trägt nicht minder Martens generelle Skepsis gegenüber Fotokampagnen bei, die er gegenüber Emma äußert: „‚Ich halte das noch immer für keine gute Idee. Ich glaube nicht mehr an die Macht von Fotokampagnen‘“ (PM, S. 49). Und letztlich wird eine unernste, uneigentliche Auslegung des Texts noch in der Schilderung des Fotoshootings anhand der Unterscheidung von ‚lächeln/nicht lächeln‘ forciert: „Über zwanzig Minuten sollen wir auf den Rücken der halbschlafenden Raptoren ausharren und sachlich in Richtung Kamera blicken. […] Immer wieder ruft uns der Fotograf zu, dass wir nicht lächeln sollen. Und weil er das mit einer fast drohenden Stimme ruft, die so gar nicht zu seinem zarten Äußeren passt, muss ich mein Lächeln mehrfach unterdrücken, wodurch wohl wiederum meine Augen zu strahlen anfangen.“ [Hervorhebungen, M.B.] (PM, S. 53)

Nur kurz darauf erfolgt die Beschreibung einer Rezeptionssituation. Marten, der zunächst skeptisch war, betrachtet nun die fertigen Bilder: „Die Aufnahmen sind auf verschiedene Weise gut. Die Caiosaurier scheinen unter den gebleckten Schneidezähnen immer leicht zu grinsen, während unsere Anspannung nur vom Glanz unserer Augen aufgelockert wird. Zuerst glaubt man, dass es sich bei diesem Foto um etwas völlig Unernstes handelt Man ist verleitet zu lachen, möchte aber noch etwas länger hinschauen. Daraus ergibt sich ein zweiter Moment der Betrachtung, ein Nachdenken über die Attraktivität relativ junger Menschen und relativ gefährlicher Raubtiere unter kernblauem Himmel, das wiederum von einem dritten

78 DRÜGH, 2017, S. 342. 79 Noch dazu hört der Fotograf auf den Namen „Mr. Lanax“ (PM, S. 50), was an den Markennamen Xanax erinnert, unter dem das Medikament Alprazolam vertrieben wird, das gegen Angst- und Panikstörungen eingesetzt wird.

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Marvin Baudisch Moment abgelöst wird, von etwas fast Humorlosem, einer Art Ergriffenheit, mit der ich keinesfalls gerechnet hätte. Das Foto spiegelt unsere Verletzlichkeit. Wir gehen Risiken ein, wir sind nahbar und bleiben dennoch um Haltung bemüht.“ (PM, S. 55)

Zunächst ist der intermediale Rahmen hervorzuheben, denn es ist kein Zufall, dass diese zentrale poetologische Stelle als Beschreibung eines Fotoshootings erfolgt. Die Literatur reflektiert sich im Medium der Fotografie, im Visuellen, geht es doch darum, die durch Magnon evozierte postpragmatische ‚Befreiung des Blicks‘ und die ‚Betrachtung als solche‘ als literarische Wirkungsästhetik zu etablieren. Es geht um ein Primat des Sehens, des Visuellen vor den Gedanken und Urteilen. Entsprechend erhalten Marten, Emma und der virtuelle Leser noch vor Beginn der Aufnahmen eine Aufforderung: „‚Macht euch nicht so viele Gedanken‘, sagt der Maskenbildner, ‚die Bilder werden für sich sprechen. Mister Lanax ist ein großes Talent.‘“ (PM, S. 49-50). Was Marten dann in der Rezeption unterscheidet, das sind drei verschiedene „Moment[e]“, wobei der erste („etwas völlig Unernstes“) und der dritte („etwas fast Humorloses, eine Art Ergriffenheit“) jeweils unterschiedliche Auslegungen – also ‚Betrachtungsweisen‘ – des „zweite[n] Moment[s]“ darstellen, der eine sachliche, neutrale Darstellung des Gesehenen ist: man sieht (bzw. liest) attraktive, relativ (28 Jahre alt) junge Menschen auf relativ gefährlichen Raubtieren (Raptoren, aber sediert). Bezieht man dieses Interpretationsschema nun zurück auf das im vorherigen Abschnitt erarbeitete, bedeutet das: anstatt Planet Magnon mit einem befreien Blick zu lesen und einfach zu betrachten, was dort ist, macht sich der virtuelle Leser stets zu „viele Gedanken“ und oszilliert permanent zwischen den Auslegungsweisen Dystopie (Unernst) und Utopie (Ernst). Postpragmatisch geboten wäre es dagegen, zunächst einmal den neutralen, sachlichen Zwischenzustand zu etablieren: Es ist deshalb nur konsequent, dass der „zweite[] Moment der Betrachtung“ – das neutrale Bild der jungen Leute auf Sauriern –, auf der Buchseite, wie in einem Bilderrahmen, genau im Zwischenraum zwischen den beiden Interpretationen (ernst versus unernst) verortet ist. Kurz: Der postpragmatische Zwischenzustand wird hier regelrecht schwarz auf weiß abgebildet, die anzustrebende, neutrale Betrachtungsweise liegt genau zwischen den Extrempolen. Hier wird also die Wirkung von Magnon, wie Marten sie in Kapitel neun erfährt, als Inszenierung einer Wirkungsästhetik wiederholt. Genau wie Marten, der Emmas Overall zunächst unmittelbar „als zu weit“ beurteilt, dann unter Magnoneinfluss sieht, „dass Emma einen grauen Overall trug, der mutmaßlich zu 75% aus Baumwolle“ besteht, wird der virtuelle Leser dazu angehalten,

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zunächst einfach zu sehen bzw. zu lesen, was dort steht, nämlich dass junge Menschen auf Saurierrücken sitzen. Mehr nicht. Und so wie Marten anschließend genussvoll zwischen verschiedenen „Betrachtungsweisen“ wählen kann und den Overall „je nach Situation als schön oder angemessen, aber auch als problematisch einstufen konnte“, kann sich der virtuelle Leser anschließend dafür entscheiden, ob er Planet Magnon als „etwas völlig Unernstes“ oder als „etwas fast Humorlose[s]“, als Dystopie oder Utopie auffassen will. Dem Genuss an der Wahl des Urteils geht aber das distanzierte Betrachten voraus und die Wahl selbst ist wiederum immer schon gerahmt: So wie Marten nämlich seine Autonomie aufgibt, um – heteronom zwischen Mensch und Magnon aufgespannt –, die Möglichkeit an Möglichkeiten genießen zu können, übergibt der virtuelle Leser seine Autonomie im Moment des Lektürebeginns an den Roman Planet Magnon, der ihm Optionen offeriert. Der Roman reproduziert so die Magnonwirkung als Inszenierung einer ästhetischen Erfahrung zwischen Autonomie und Heteronomie, wird zu einem Modell von Lektüre. Die Freiheit der Wahl, ob man den Roman als Dystopie oder Utopie liest (Autonomie), korrespondiert mit einer Einnahme von Magnon im Sinne der verschiedenen Lektüreweisen, die Planet Magnon offeriert (Heteronomie). Zu dieser Wahlfreiheit zählt aber auch, keine der Betrachtungsweisen wählen zu müssen, sondern, wie bei der Gartenzeremonie, „die Auswahl“ (PM, S. 65) zu „genieße[n]“ (EBD.), einfach ‚befreit‘ weiter zu lesen und sich im Magnon’schen „Grundgefühl“ (PM, S. 66) zu üben, dem „Zustand konzentrierter Besänftigung“ (EBD.). Was der Trainer der Raptoren zu einem der Tiere sagt, als Martens „Gewicht von seinem Körper weicht“ (PM, S. 54), soll folglich auch für den virtuellen Leser gelten: „‚Relax, relax‘, sagt der Trainer […]. Es wird sofort ruhiger.“ (EBD.) Die hier inszenierte Wirkungsästhetik lässt sich nun deshalb als Spielart einer postironischen Ästhetik begreifen, da die Frage nach unernster oder ernster Auslegung explizit zu einer Wahl des virtuellen Lesers erhoben wird. Mit ‚Ästhetik der Postironie‘ ist deshalb ausdrücklich keine weitere Renaissance der Rede vom Ende der Ironie gemeint.80 Sie nimmt vielmehr zur Kenntnis, dass der ironische Taumel zwischen literaler und figuraler Bedeutung wie die Differenz zwischen Sagen und Meinen auf rein semiotischer Ebene niemals zu tilgen ist, sondern vielmehr infinit reproduziert wird. Postironie reagiert auf die Unlösbarkeit der ‚Ironieproblematik‘ deshalb mit einem Blickwechsel, der verstärkt darauf schaut, wie textimmanent perlokutionäre Effekte arrangiert werden, die den virtuellen Leser dazu anhalten, sich in Wahl- und Entscheidungsszenarien zur 80 Vgl. dazu KONSTANTINOU, 2016, S. 6-8 sowie SCHUMACHER, 2003, S. 18-30.

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Frage nach Uneigentlichkeit/Eigentlichkeit, Ironie/Aufrichtigkeit, etc. zu verhalten.81 Ob die ‚jungen Menschen und relativ gefährlichen Raubtiere unter kernblauem Himmel‘ unernst oder ernst ‚gemeint‘ sind, lässt sich durch bloße Auslegung der Zeichen nicht bestimmen, sie schweben unauflöslich zwischen beidem, zwischen Nein und Ja. Sebastian Plönges zufolge entscheidet sich der Postironiker nun aus dieser Einsicht heraus für das Ja, er springt in den Ernst: „Im Entweder und Oder von Ja, Nein und Ja und Nein entscheidet sich der Postironiker für das Ja (beziehungsweise die Authentizität, das Ungebrochene, die Schönheit und den Zauber). Er setzt alles auf eine Seite (ohne zu leugnen eine Wahl gehabt zu haben), er markiert seinen Präferenzwert, und das alles ist ihm nicht peinlich: Er trifft eine Unterscheidung und übernimmt die Verantwortung dafür – er deklariert sie geradezu.“82

Wie die US-amerikanische Bewegung der New Sincerity ist Postironie ein Teil des „Versuch[s], der Postmoderne den Rücken zu kehren, ohne dabei die postmoderne Kritik an der Vorstellung einer authentischen Subjektivität gänzlich zu übergehen.“83 Dazu gehört auch der Versuch von aufrichtiger Kommunikation in Anbetracht der untilgbaren ironischen Dekonstruktion. Sie ist zugleich eine Reaktion darauf, dass Ironie – nicht bloß als rhetorische Operation, sondern als eine Art Lebensform – im Verlaufe der Moderne ihren Status gewandelt hat: Von der romantischen Ironie als einer kritischen Haltung, die vermeintlich absolute, letztbegründete und essentialistische Konzepte „als transitorisch und standortgebunden“84 zersetzt, hin zum unreflektierten Modus einer postpolitischen Haltungslosigkeit, einer „Mittelklasse-Normalität, für die sich keiner mehr schämt“85 und die als „massenhafter Relativismus und Individualismus“86 soziale Solidarität und interpersonelle Verbindlichkeit wie Aufrichtigkeit zu zersetzen droht. Allerdings, so Lee Konstantinou, „[i]n contrast to New Sincerity the term postirony doesn‘t decide in advance what follows the age of irony“87. Eine ‚Neue Aufrichtigkeit‘ ist nur eine der Möglichkeiten, mit der Ironie umzugehen.

81 82 83 84 85 86 87

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Vgl. dazu, in Bezug auf David Foster Wallace, KONSTANTINOU, 2016, S. 163-216 PLÖNGES, 2011, S. 444. VÖLZ, 2016, S. 150. RAUEN, 2010, S. 10. Diedrich Diederichsen, zit. nach RAUEN, 2010, S. 3. EBD., S. 12. KONSTANTINOU, 2017, S. 89.

Postpragmatische Achtsamkeit?

PPJ ist eine weitere Option, eine bestimmte Spielart von Postironie. Sie befreit zunächst die Betrachtung von unmittelbaren Auslegungsweisen und ermöglicht dann die Wahl. Es geht folglich nicht um das unmögliche Vorhaben, die Ironie auszuschalten, sondern darum, sie gelassen auszuhalten und von einem habitualisierten Reflex zu einer Option unter anderen zu transformieren. Postpragmatisch gilt es, den neutralen Zwischenzustand einzuüben, der liest, was dort schwarz-auf-weiß steht. Nach wie vor kann man sich dann für das völlig Unernste entscheiden. Ironie ist schließlich weiterhin ein „ethos that consumes the whole person, a whole life“88, ein dominanter „way of being in and interpreting the world.“89 Das vor diesem Hintergrund jedoch unwahrscheinlichere Ja des Postironikers für den Ernst wird in Planet Magnon dadurch markiert, dass die ernste Auslegung des Bildes – und damit die Wahl, den Roman als Utopie zu lesen – auch explizit als die unwahrscheinlichere Option bezeichnet wird: Schließlich wird der „dritte[] Moment“, d.h. das „fast Humorlose[]“, die „Ergriffenheit“, von Marten als jene Betrachtungsweise bezeichnet, „mit der ich keinesfalls gerechnet hätte.“ Doch – wieso eigentlich nur „fast“ humorlos? Nun, wenn PPJ den virtuellen Leser von der Ironie therapiert, indem sie diesen durch Magnon zugleich zu einer Art ‚achtsamen Selbst‘ subjektiviert, dann liegt darin vielleicht die untilgbare ironische Pointe auch dieser Postironie: als eine doppelte Distanz; nicht nur von der Ironie, sondern zugleich von der gegenwärtig nicht minder ubiquitären therapeutischen Kultur.

Literatur Primärliteratur RANDT, LEIF, Post Pragmatic Joy. Gleichgewichtsübungen, in: De:Bug 181, 2014a, S. 28-29. RANDT, LEIF, „Post Pragmatic Joy (Theorie), in: BELLA triste. Zeitschrift für junge Literatur, Sommer 2014b, S. 7-12. RANDT, LEIF, Planet Magnon, Köln 2015.

88 KONSTANTINOU, 2016, S. 17. 89 EBD., S. xi.

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Sekundärliteratur BAßLER, MORITZ, Neu-Bern, CobyCounty, Herbertshöhe. Paralogische Orte der Gegenwartsliteratur, in: Christian Krachts Gegenwartsliteratur. Eine Topographie, hg. von STEFAN BRONNER/BJÖRN WEYAND, Berlin/Boston 2018, S. 143-156. BUBNER, RÜDIGER, Ästhetisierung der Lebenswelt, in: Das Fest, hg. von WALTER HAUG/RAINER WARNING, München 1989, S. 651-662. CABANAS, EDGAR/ILLOUZ, EVA, Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht, Berlin 2019. DRÜGH, HEINZ, Postpragmaticjoy. Zu Leif Randts „Planet Magnon“. https://pop-zeitschrift.de/2016/01/15/postpragmaticjoyzu-leif-randts-planetmagnonvon-heinz-druegh15-1-2016/ [23.04.2020] DRÜGH, HEINZ, Germanistik, in: Handbuch Popkultur, hg. von THOMAS HECKEN/MARCUS S. KLEINER, Stuttgart 2017, S. 340-344. EHRENBERG, ALAIN, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008. EHRENBERG, ALAIN, Depression: Unbehagen oder neue Formen der Sozialität, in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hg. von CHRISTOPH MENKE/JULIANE REBENTISCH, Berlin 2010, S. 52-62. FISHER, MARK, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, Hamburg 2013. FOUCAULT, MICHEL, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013. FREUD, SIGMUND, (1930), in: DERS.: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt a.M. 2009. GENETTE, GÉRARD, Die Erzählung, 3. Durchgesehene und korrigierte Auflage, Paderborn 2010. GREINER, ULRICH, Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur, Hamburg 2014. HAN, BYUNG-CHUL, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010. HORX, MATTHIAS, MINDSHIFT. Warum der mentale Wandel der eigentliche Zukunftswandel ist, in: Die neue Achtsamkeit. Der Mindshift kommt, hg. von ZUKUNFTSINSTITUT GmbH, Frankfurt a. M. 2017, S. 7-19. ILLOUZ, EVA, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt a.M. 2011.

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Einige Bemerkungen zu den ‚Zwischenräumen‘ in Anton Weberns Drei kleinen Stücken für Cello und Klavier op. 11 MARK ANDRE in memoriam Anne Berhardt (Violoncellistin, 1964-1981)

1958 hat Theodor W. Adorno in einer Sendung des Hessischen Rundfunks Anton Weberns Drei kleine Stücke für Violoncello und Klavier, op. 112 „nach Kürze und Aufgelöstheit“ zugleich „wohl das Äußerste in Weberns Produktion“3 dargestellt. Diese besondere Beobachtung spiegelt mit Akribie den Stand der Dinge. Im Folgenden soll ein schlichtes und nüchternes Nachdenken über das besondere, intensive Komponieren Anton Weberns im Allgemeinen und um das Jahr 1914 im Besonderen ausgeführt werden. Von diesem doppelten Blickpunkt aus seien einige Überlegungen zu Weberns op. 11 dargelegt, wobei an dieser Stelle und aus der Perspektive eines Komponisten de facto weder Theorie noch Wissenschaft im Fokus stehen, 1

2 3

Vgl. zum vorliegenden Beitrag von Mark Andre eine Kommentierung dieses Beitrags von Martin Zenck im vorliegenden Buch mit den „10 Mainzer Thesen zum Verhältnis von Musik und Architektur und zum Zwischenraum“, dort vor allem die These VIII. Vgl. weiter zum thematischen Zusammenhang zwischen den Werken von Mark Andre, dem Contrapunctus für Klavier und seinem Text über Anton Weberns op. 11: ZENCK, 2020. Anton Webern, 1914, Wien, Universal Edition 3 Kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, UE 7577. Vgl. ADORNO, 2003, S. 677.

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sondern vielmehr eine bestimmte, auch eigene kompositorische Praxis, welche selbstverständlich eine erstzunehmende Herausforderung auch für die Interpretation des op. 11 nach sich zieht. Aus den folgenden zwei Grundperspektiven wird das Werk Weberns, vor allem das op. 11, seiner Ausrichtung nach analysiert: erstens aus der Sicht des Denkens in Parametern von David Bard-Schwarz4 Heinrich Deppert 5, Allen Forte 6; zweitens aus der Perspektive der Klang-Typologie von Helmut Lachenmann7 und Dominik Schweiger8. Beide Positionen stellen meines Erachtens bemerkenswerte Ansätze dar, die an dieser Stelle zur Kenntnis genommen werden, und von denen aus die folgenden Überlegungen entwickelt werden. Mit Blick und Ohr auf die „Zwischenräume“ bei Webern könnte von einer „Aus- und Einfaltung“ im Sinne von Stéphane Mallarmé hingewiesen werden und seiner Auffassung der „blancs“ und der „silence“ gemäß, entsprechende Einsichten auf die Diskussion der Fermaten und Pausen in den Drei kleinen Stücken für Cello und Klavier im op. 11 übertragen werden. Die unterschiedlichen Ein- und Ausfaltungen im Sinne der „pli’s“9 von Mallarmé spielen für seine Poetik eine entscheidende Rolle. Demnach stellen die Gedichte und Livre von Mallarmé keine linear durchlaufenden und geschlossenen Texte dar, sondern aufgebrochene, von Leerstellen, „weissen Stellen“ („blancs“) und Zwischenräumen auseinander und ineinander gefaltete Verlaufsformen und eine durch eine bestimmte Typographie der Schrift und des Schriftganzen offene Darstellung des jeweiligen Corpus, vor allem des Gedichts Un coup de dés. Dessen relativ freie Anordnung und gleichsam räumliche Auffächerung der Verszeilen auf einer einzelnen Seite sollen gemäß der Vorrede, der „Préface“ zu Un coup de dés, den Leser dazu bringen, sich bei der Lektüre eine eigene Inszenierung und damit seinen eigenen Text zu machen und dies ist auch der später bei Webern zu diskutierende Aspekt, wo es bei den Fermaten und Pausen gilt, vom Denken, Hören und Spielen der Partitur diesen jeweils den musikalischen Verlauf unterbrechenden und auch die mit Schweigen ausfüllenden Übergänge in der Musik ihr jeweils eigenes Gewicht zu geben. 4 5 6 7 8 9

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BARD-SCHWARZ, 2013. DEPPERT, 1972. FORTE, 1998. LACHENMANN, 1996; vgl. dort Lachenmanns Überlegungen zu Webern. SCHWEIGER, o. J.; vgl. dort die Kapitel zu Weberns op. 7, S. 125-152 und zum op. 11 S. 202-214. ZENCK (a), 2017, Kapitel I, 10 „Le théâtre invisible bei Mallarmé und in Pli selon pli, S. 389-401, auch mit Blick auf die Faltungen eines Fächers. ZENCK (b), 2017; vgl. insbesondere zu den „pli’s“, den ‚Einfaltungen und Ausfaltungen‘, S. 166-176.

Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Der „Würfelwurf“ (der „niemals den Zufall tilgt“ S. Mallarmé10) – weil eben mit dem „Würfelwurf“ doch eine Festlegung erfolgt und der Zufall ausgeschaltet ist – wird von Mallarmé zum Anlass genommen, aus dieser Situation einer relativen Offenheit des Textes eine Hypothese zu artikulieren. Es handelt sich dabei um eine ernstzunehmende, analytische, hochriskante Herausforderung, welche das gesamte zeitgenössische Nachdenken tangiert und auch für den Komponisten eine signifikante Rolle einnimmt. Für Webern scheint das Nachdenken über das Beobachten von Musik in einer Art kompositorischer, hochkreativer Proto-„Krise“ im Zentrum zu stehen, wie dies die Briefe11 1914 von Anton (noch von) Webern an Arnold Schönberg bezeugen. Am 26. Mai 1914 schrieb er an Schönberg: „Ich werde jetzt eine größere Sache für Cello und Klavier schreiben. Das hat zunächst einen äußeren Anlass. Mein Vater bat mich darum. Er hört gern Cello. Mir wird sein Wunsch jetzt zum Anlass, endlich wieder einen Weg zu längeren Sätzen zu finden.“ Aber am 16. Juli sendet er an Schönberg die Reinschrift der Cellostücke op.11 mit folgenden Begleitschreiben: „Ich bitte Dich, nicht unwillig zu sein darüber, dass es etwas so Kurzes geworden ist. ...ich hatte schon deutlich die Vorstellung einer größerer zweisätzigen Komposition für Cello und Klavier und begann sofort mit der Arbeit. Als ich aber schon ein gutes Stück im ersten Satz hielt, wurde es mir immer zwingender klar, dass ich was anders schreiben musste. Ich hatte deutlich das Gefühl, wenn ich das unterdrücke, etwas ungeschrieben [herv. v. M. A.] zu lassen. So brach ich ab, obwohl mir jene größere Arbeit gut von der Hand gegangen war, und schrieb rasch diese kleinen Stücke“.

Das 1914 in Wien komponierte und 1925 in Mainz uraufgeführte Stück op. 11 gehört zu den kompaktesten, intensivsten Werken seines Korpus und wäre summa summarum das kürzeste Werk des Wieners. Betrachten wir jedoch den musikalischen Kontext und die mit ihm verbundenen ‚inneren‘ Abläufe des Komponierens, so stellt sich die Frage, ob wir es tatsächlich mit einem ‚kurzen‘ Werk zu tun haben. In Anbetracht dieser Fragestellungen können vier Hypothesen aufgestellt werden, welche Weberns im op. 11 erreichte tiefgreifende Komplexität von kompositorischen Zwischenräumen näher untersuchen und auf den Prüfstand stellen: 10 Stephane Mallarmé, 1998, Paris, nrf, „Bibliothèque de la Pléiade, n° 65“. 11 Anton Webern, 1914, Wien, Universal Edition, Werke für Violoncello und Klavier: 3 Kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, UE 7577.

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 Über die Entfaltung kompositorischer Zwischenräume  Über die Faltung kompositorischer Zwischenräume bei Weberns op.11  Über die Entfaltung eines chromatischen Ganzen und über die TrichordalMarkierung als situative und formale Gestaltung  Über die Entfaltung und Faltung kompositorischer Typologien zur situativen und formalen Gestaltung

Über die Entfaltung kompositorischer Zwischenr äume Robert Schumann: „Der Dichter spricht“ aus den „Kinderszenen op.15“12 Im „B-Teil“ (T.9-12), entfaltet Robert Schumann eine Typologie von fünf Fermaten, wobei es sich in diesem Stück nicht nur um eine Art „Rezitativ“ handelt, sondern um die fundamentale Destabilisierung der metrischen Zeit einerseits und der tonalen Markierung anderseits. Die fünf Fermaten und der Einsatz des „ritenuto“ (T. 10) destabilisieren die metrische Zeit. Die Paralleltonart (e moll) ist sehr instabil trotz und jenseits des Einsatzes der 1. Stufe (als flüchtiger Sechst-Akkord) am Ende des Takts 11. n T. 12. In der freien Kadenz der Fermate eröffnet Schumann einen Zwischenraum, aus dem heraus im Titel besagter „Dichter spricht“: im Klavier nur in der rechten Hand und dann mit der Antwort in der linken. Wichtig ist das metrisch-freie Sprechen, gleichsam in Prosa innerhalb der Poetik Schumanns. Würde man die erste Fermate lange mit einem vollen Pedal gestalten, würde man nolens volens die Klanggestalt der Artikulation tendenziell dis/in-harmonisieren. Die Destabilisierung würde dann nicht nur die Metrik, die ohnehin offene tonale Markierung zwischen G-Dur und der Paralleltonart e-moll, sondern auch die Klang-Harmonizität betreffen. Diese Hypothese scheint eine plausible, vernünftige, interpretatorische Lösung zu sein. Es ginge dabei de facto um die Entfaltung von instabilen strukturellen kompositorischen Zwischenräumen zwischen den Klang-Zeit-Ebenen. Dies rückt bereits wieder die Andeutungen bei Mallarmé in den Mittelpunkt: aus der auch offenen Diktion und Sprechweise die Unterbrechungen und Pausen, die „blancs“ zur Wirkung zu bringen, die Zeit zu dehnen. 12 Robert Schumann, 1838, Leipzig, Edition Peters 12771, Kinderszenen op.15. N°.13: „Der Dichter spricht“.

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Abb. 1: Robert Schumann, 1838, Leipzig, Edition Peters 12771, Kinderszenen op.15. N°.13: „Der Dichter spricht“

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Webern op.713, III: die Entfaltung der metrischen, morphologischen Zeit-Ebenen Anton Webern entfaltet besonderes im III. und IV. Stück der 4 Stücke für Geige und Klavier verschiedene Zeit-Ebenen. Im III. Stück sind diese zeitlichen Schichten bereits speziell am Anfang und am Ende des Stücks besonders auffallend. Während der Takte eins bis drei erlebt man eine Art auskomponierte metrische Fermate. Ihre Dauer (elf-achtel) lässt aufgrund der langsamen Zeitmaße eine Paralysierung der Klanggestalt/der Klangbewegung beobachten; dies gilt besonders für die Geige mit dem tiefen Ton „A“ auf der 4 Saite. Mit höchster Wahrscheinlichkeit hört man durch den Einsatz des Dämpfers und der Dynamik („ppp ohne cresc.“) die durchsichtig granulierte Klanggestalt des Streichers einerseits und die idiomatische Periodizität des Bogenwechselns andererseits, wodurch sich morphologische (Granulation) und idiomatische (Bogenwechseln) Zeit-Ebenen entfalten. Unterstrichen wird die zunehmende Bewegungslosigkeit dieser Takte auch durch das Verebben der Pulsationen in der linken Hand des Klaviers Während der Takte 12 bis 14 erleben wir eine strukturelle Korrespondenz zwischen den „kaum hörbaren“(Partitur, T. 10+12) Schwingungen bzw. den morphologischen Rhythmen der rechten Hand, mit den rhythmischen Trillern der linken Hand, die jeweils zu der morphologisch-gestalthaften Zeit-Ebene und der metrisch-gemessenen Zeit-Ebene zugerechnet werden können. Zwischen diesen beiden Ebenen wird ein struktureller Zwischenraum entfaltet: Die Klanggestaltung wird tendenziell disharmonisch.14 Die daraus entstehende und auseinandertretende Klang-Ebene (die gestalthafte und zeitlich bemessene) lässt einen strukturellen Riss hörbar machen und erleben: 13 Anton Webern, 1910, rev.1914, Wien, Universal Edition 4 Stücke für Geige und Klavier op. 7, UE 6642. 14 Mark Andre unterscheidet hier und dann grundsätzlich in seinem Text drei verschiedene Arten von Klängen: harmonische, wie im ersten Stück von op. 7 mit der Zentrierung auf dem Ton Es (auch dem Es-Dur-Akkord am Schluß), wobei dieser Ton als spektrale Komponente dieses Klangs verstanden wird; allgemein gesprochen treten also bei diesen Klängen bestimmte Formanten, die in einfachem Oberton-Verhältnis zu einem Grundton stehen, in Erscheinung. Davon unterschieden werden disharmonische/bzw. inharmonische Klänge, die in ihrer Formantenbildung, d. h. ihrer Einbeziehung von Obertönen sehr weit entfernt von einem angenommenen Grundton sind. Das entsprechende, computergestützte Verfahren dieser Analyse ist aus den Prinzipien der Spektralmusik und der FFT, der „Fast Fourier-Transform“-Analyse hervorgegangen, wie sie in Form von Diagrammen in den Schlussteilen des Beitrags von Mark Andre wirksam und sichtbar wird.

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

In Weberns op. 7, IV, speziell im fünften Takt, wird eine gelähmte und granulierte situative Gestaltung während der Fermate beobachtbar, mit der eine gewaltsame Stauung der zuvor frei gelassenen Energien erreicht wird. Je nach interpretativer Dauer der Artikulation werden potenzielle Schwingungen bzw. morphologische Rhythmen präsentiert. In diesem Sinne stellt diese Artikulation eine Art Dialog oder Dialektik je nach Entscheidungen zwischen den interpretatorischen und idiomatischen Zeit-Ebenen vor und entfaltet diese interne Energie des Komponierens.

Abb. 2 Anton Webern, 1910, rev.1914, Wien, Universal Edition 4 Stücke für Geige und Klavier op. 7, UE 6642

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Abb. 3: Anton Webern, 1910, rev.1914, Wien, Universal Edition 4 Stücke für Geige und Klavier op. 7, UE 6642 Bei den Takten eins bis drei und zwölf bis 14 geht es meines Erachtens um kommutative [vertauschbare] schwebende Echos zwischen den metrischen und morphologischen Zeit-Ebenen. So stellt die äußerst flüchtige Figur der Geige in den beiden Schlusstakten ein tongetreues, aber metrisch verschobenes Echo der in T. 13 gespielten Figur dar, die Webern dort bereits für den Spieler mit „wie ein Hauch“ bezeichnet hatte. Wie erst muss dann die Schlusswendung klingen, die dann noch im dreifachen piano zu spielen ist? Der Bezug zu den Anfangstakten

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

eins bis drei ergibt sich aus der Tatsache, dass der dort aufgesuchte Ausbruch im gewaltsamen Aufschwung nach oben mit der in Takt 4-5 erfolgten Antwort, welche die Töne h-fis umkreisen, dann mit der Zentrierung auf den Tönen h-fis wieder in den Ecktönen am Schluss aufgenommen wird. Dem heftigen Ausbruch des Beginns korrespondiert also die wie im Windhauch herabfallende Figur, die im metrisch verschobenen Echo kaum mit der Hand an der Geige berührt und vom Hörer nur aus der fernsten Ferne wahrgenommen wird.

Über die Faltung kompositorischer Zwi schenräume bei Webern op.11 Anton Webern entscheidet sich in seinem Stück op. 11 für eine andere Strategie im Vergleich zu op.7 (wo tendenziell, wie erwähnt, die kompositorischen Zwischenräume entfaltet werden). Im op. 11 werden systematisch (außer beim letzten Takt des dritten Stücks) die situativen Gestaltungen als potentielle Zwischenräume auffällig gefaltet. Die Takte acht bis neun am Ende des ersten Stückes stellen eine exemplarische Artikulation vor. Der Hinweis „am Steg“ (Partitur, T. 8-9) lässt wie immer hohe spektrale Formanten (also extrem obertonreiche Bildungen) hören. Die Artikulation des „D“ (Klavier, T.8, rechte Hand) und die Artikulation T.9 „flüchtig“ komprimieren die Klang-Prozesse/Strukturen. Mit Absicht werden potentielle Mikro-Klanggestaltungen de facto gefaltet. Das gilt auch für die metrische Zeit-Ebene durch die Präsentation von Mikro-Fluktuationen „accel/rit...tempo“ (I. Stück, T.2-3; T.4-5; T. 6-7). Man erlebt hier eine intensive Dialektik zwischen den komprimierten, kurzen, lokalen Zeit-Prozessen und den Zeitmaßen, die schnell als „tempo“ zurückkehren. In diesem Sinn werden die potentiellen Zwischenräume während den erwähnten Zeit/Klang-Prozessen gefaltet. Dieser Vorgang löst eine besondere interne, kompositorische Energie aus. Das zweite Stück lässt die (extrem komprimierte) Entfaltung der chromatischen Totale (alle 12 Töne in den ersten drei Takten, vgl. Abb. 4) als formale Gestaltung beobachten und faltet summa summarum alle zeitlichen, klanglichen, potentiellen Zwischenräume. Diese dialektische Situation löst wieder eine besondere, interne Energie des Komponierens aus. Es betrifft aber diesmal den formalen Atem des Werkes.

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Abb. 4: Anton Webern, 1914, Wien, Universal Edition 3 Kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, I UE 7577 Im dritten Stück wird die metrische Zeit extrem markiert und zugleich fast gelähmt. Eine klangliche Dialektik zwischen den dis/inharmonischen Klang-Gestaltungen (Klavier, linke Hand: T.2-3; T.5-6; T.7-9) und den harmonischen Klängen des Cellos „am Steg mit Dämpfer“ findet statt. Es geht um eine doppelte Filtrierung des Klang-Spektrums, die nolens volens eine Art unvollständiger Harmonizität der Klanggestaltungen beobachten lässt. Diese Art Dialektik zwischen den dis/inharmonischen und harmonischen Klang-Ebenen15 lässt einen strukturellen Zwischenraum beobachten und hören.

15 Vgl. zur näheren Erläuterung dieser drei Klangebenen: Fußnote 14.

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Abb. 5: Anton Webern, 1914, Wien, Universal Edition 3 Kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, II-III UE 7577

Die Entfaltung der Pausen in den 3 Stücken lässt eine Typologie von a-symmetrisierten Symmetrien und umgekehrt beobachten. Es scheint um abweichende, verzerrte Permutationen der Achtel-Pausen zu gehen. 1=1 Achtel:

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I.: die 3 „Blöcke“: ***2-3-1-1-2-1 als 2-3-1-+1-2-1: abweichende und verzerrte Symmetrie **5-1-1: Permutation von 1-5-1 ***5-2-3,5: abweichende und verzerrte Symmetrie II.: ***1,5-2-1: abweichende und verzerrte Symmetrie *3-1-1-1-1: permutierte 1-1-3-1-1***5-3: abweichende und verzerrte Symmetrie III.: *2: als Symmetrie (1+1) ***3-2-1: abweichende und verzerrte Symmetrie (3-2-1(+2)) ***3-1-2: abweichende und verzerrte Symmetrie (3-2-2) Die Entfaltung der Fermate (III. T.10) lässt einen zeitlichen Zwischenraum beobachten. Es geht einerseits um die Präsentation eines strukturellen Risses zwischen der metrischen-rhythmischen und der morphologischen Zeit. Anderseits erleben wir 3 Typen von rhythmischen Symmetrien, welche folgende Konsequenzen für die Entfaltung der Achtel-Pausen haben: 1. *die „reine“ Symmetrie (x1) 2. **permutierte Symmetrie (x2) 3. ***abweichende und verzerrte Symmetrie (x6) Auffallend ist die Kategorie der abweichenden und verzerrten Symmetrie, welche sehr deutlich hervortritt. Zwischen I. und III. findet man dazu eine Art Makro-formaler Symmetrie: I.: ***/**/***: symmetrisch II.: ***/*/***: symmetrisch III.: */***/***: permutiert-symmetrisch (***/*/***) Zwischen I: und III. findet man eine auffällig abweichende, permutierte Markierung: I.: ***/**/*** & III.: */***/***

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Die beobachtete Typologie von Symmetrien entfaltet kompositorische Zwischenräume zwischen den drei Stufen einerseits, zwischen der erwähnten metrisch-rhythmischen und morphologischen Zeitebenen andererseits.

Über die Entfaltung eines chr omatischen Ganze n und über die Trichordal-Markierun g als situative und besonderes formale Gestaltung Umgekehrt proportional werden die strukturellen kompositorischen Zwischenräume als formale Gestaltung(en) im op.11 massiv und quasi systematisch entfaltet. Dies gilt de facto für alle inneren, kompositorischen Zwischenräume des Werkes. Was die „Entfaltung des kompositorischen Totals“ (vgl. die beiden folgenden Abbildungen) anbelangt, beobachten wir die Entfaltung von vier Kategorien der Zwischenräume:

1. als verzögerte „unisono“ (I, Klavier T.2...) auf dem „C“. 2. als Oktave-Markierung(en) mit 1 Zwischenraum/Riss: „H“, z. B. I, T.2, Cello... 3. als 4fache Oktav-Markierung mit 1 Zwischenraum/Riss: „Es“, z. B. I, T.2, Cello... 4. als vollständige Oktave-Markierung(en) mit klanglichen Zwischenraumen/Rissen: „D-B“. Je tiefer desto dis/inharmonischer erklingen die markierten Tonhöhen.

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Abb. 6: Webern op. 11: Entfaltung des chromatischen Totals, Teil I, Visualisierung von Mark Andre

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Abb. 7: Webern op. 11: Entfaltung des chromatischen Totals, Teil II, Visualisierung von Mark Andre

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Über die Entfaltung eines chromatischen Ganzen und die Trichordal-Markierung als situative und formale Gestaltung: Die Präsentation einer quasi-permanenten Trichordal-Markierung im ersten Stück scheint auffällig zu sein. Es lässt zwei Kategorien beobachten: 1. 2.

die lokalen Markierungen (auf schwarz im folgenden Bild). die Haupt-Markierungen (auf weiß im letzten System folgenden Bildes).

Es geht um eine strukturelle Hierarchie zwischen 2 Typen von Strukturierungen bezüglich einer „chordalen“ Markierung.

Abb. 8: Webern op. 11: Entfaltung des chromatischen Totals, Teil III, Visualisierung von Mark Andre

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Lassen Sie uns über diese „Befunde“ als „Fazit“ nachdenken. Anton Webern faltet tendenziell die kompositorischen Räume durch:   

die Präsentationen von asymmetrischen Symmetrien (der Oktave-Markierungen des chromatischen Totals). die Vorstellungen von unvollständigen und vollständigen Räumen und Zwischenräumen (der Oktave-Markierungen des chromatischen Totals). die auffällige Tendenz zur allmählichen Lähmung der Register zwischen I bis III.

4. Über die Entfaltung und Faltung der kompositorischen Typologien als situative und formale Gestaltung Es werden verschiedene Klangtypologien durch interpolierte harmonische, dis/inharmonische, geräuschhafte Gestaltungen entfaltet und gefaltet. Die folgenden Sonogramme16 der „3 Stücke op. 11“ spiegeln diesen Zustand aus einer anderen Perspektive. Sonogramm des I. Stückes mit „Audiosculpt“: Das Bild stellt harmonische Klanggestaltungen mit deutlichen Formanten vor. In diesem Sinne scheint die reflektierte Strategie der Entfaltung des chromatischen Totals diese Situation zu spiegeln. Es ist stark zu vermuten sie sei kommutativ (d.h. vom Prinzip der mathematischen Vertauschbarkeit beruhend, ohne dass sich dabei die Proportionen grundsätzlich verändern). Der Manuskript der „Drei kleine Stücke für Violoncello und Klavier“ op.11 lässt die akribische und feine Kunst des Komponierens Anton Weberns erleben. 17

18

16 Ein Sonogramm oder Spektrogramm ist die bildliche Darstellung des Frequenzspektrums eines Signals. Spektrogramme finden vielfältige Anwendung, zum Beispiel zum Zweck der Analyse von Schallsignalen, der Signalverarbeitung und der Bildverarbeitung oder zur Darstellung von Spurenelementen in der Neutronenaktivierungsanalyse durch die „FFT“. 17 NY, The Morgan Library: „Accession Number“/ Record ID: 115894. 18 Anton Webern, Sämtliche Werke, Deutsche Grammophon, Violoncello: Heather Harper, Klavier Charles Rosen.

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Abb. 9: Anton Webern, op. 11 New York „The Morgan Library“ (Record ID: 115883): Kopie des „facsimile“ des 1. Stückes

Abb. 10: Webern op. 11, I, Sonogramm (Audiosculpt) von Mark Andre

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Abb. 11: Anton Webern, op. 11 New York „The Morgan Library“ (Record ID: 115883): Kopie des „facsimile“ des 2. Stückes

Abb. 12: Anton Webern, op. 11 New York „ The Morgan Library“ (Record ID: 115883): Kopie des “facsimile” des Endes vom 2. Stück

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Sonogramm des II. Stückes mit Audiosculpt: Das Bild zeigt eine auffällige Intensivierung der Präsenz der harmonischen Klanggestaltungen durch die Analyse der noch deutlicheren Formanten. Es scheint die erwähnte Hypothese der strukturellen ‚Kommutativität‘ (Vertauschung) zwischen der Entfaltung des chromatischen Totals und der spektralen Markierung der Klanggestaltungen.

Abb. 13: Webern op. 11, II, Sonogramm (Audiosculpt) von Mark Andre

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

Abb. 14: Anton Webern, op. 11 New York „The Morgan Library“ (Record ID: 115883): Kopie des „facsimile“ des 3. Stückes

Sonogramm des III. Stückes mit Audiosculpt: Im Gegensatz zu den Verfahren in den ersten beiden Stücken lässt das Spektrogramm des dritten Stücks eher dis/inharmonsche Klänge beobachten. Die quasimetrische Lähmung (wegen der langsamen Zeitmaße) ist das Zeichen der Präsenz, der Entfaltung von internen Schwingungen der Klanggestaltungen. Es geht um morphologische Rhythmen einerseits. Anderseits ist die Klang-Dialektik zwischen der tendenziellen Dis/inharmonizität des Klaviers und der Harmonizität der Klänge „am Steg mit Dämpfer“ des Violoncellos. Der strukturelle Riss zwischen den 2 Klang-Ebenen ist das zentrale Ereignis des III. Stücks. Es geht um einen kompositorischen Zwischenraum. Die Musik Weberns im Allgemeinen und besonders der zwischen 1910 und 1914 komponierte Korpus lassen die einmalige, kristalline, schutzlose Kunst eines extrem delikaten, sensiblen, authentischen Beobachtens und Hörens erlebund erfahrbar werden. Es könnte meines Erachtens explizit eine kommutative Kunst sein, insofern das Hören zu einem Prozess des sich Aneignens und Verinnerlichens wird, wohingegen das Verinnerlichen sich zu einem Teil des beobachtenden Hörens entwickelt.

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Abb 15: Webern op. 11, III, Sonogramm (Audiosculpt) von Mark Andre Es bezieht sich letztlich auf alle kompositorischen Ebenen der Musik als das Ungeschriebene (vgl. oben den zitierten Brief vom 16. Juli 1914 von Webern an Schönberg) – wie Webern es nennt –, das sich beispielhaft in den gefalteten kompositorischen Zwischenräumen des op.11 erhören und heraushören lässt. Als Fazit bedeutet dies, dass das Ungeschriebene, das was zwischen den Zeilen steht, sich auch aus den „Zwischenräumen“ in den Pausen ergibt. Diese sind für gewöhnlich, auch bei Webern, sprechende Pausen, bei denen das vor den Pausen Stehende impulshaft über die Pause hinweg fortwirkt, während in op. 11 etwas ganz anderes gilt, nämlich dass die Pausen den Kontrast zwischen dem zuvor Erklungenen und dem nachher Erklingenden verstärken. Die Kunst Weberns entfaltet und schafft durch eine äußerst differenzierte Ausgestaltung unauslöschliche Erinnerungen in unserem Innersten. Es wird in dieser Kunst weder konzeptuell collagiert (offen und beliebig zusammengestellt) noch hybridisiert (noch innerhalb bestimmter Grenzen gemischt), sondern definitiv strukturiert und typologisiert. Es geht um die Entfaltung der kompositorischen Risse-Zwischenräume, um die Suche nach der Schutzlosigkeit und Zuständigkeit der „Reine“. Weberns Werke schaffen nolens volens bzw. unerlässlich und permanent eine extrem fragile und höchst intensive Situation kompositorischer Ausdifferenzierung, welche die sehr hohe Kunst des Komponierens, des Beobachtenlassens, die nüchterne und feinste Kunst des Zu-Hörens und des Verinnerlichens umspannen. Es lässt stark an die Passage aus dem Markusevangelium erinnern:

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Einige Bemerkungen zu den ,Zwischenräumen‘

„Wenn einer Ohren hat zum Hören, so höre er!“ (Markus 4, 23). Darüber gibt es heute meines Erachtens für uns noch viel nachzudenken. Zu denken wäre dabei auch an Arnold Schönbergs besonderes Vorwort zur Partitur des op. 9 für das Hören von Anton Weberns Sechs Bagatellen op. 9: „So eindringlich für diese Stücke die Fürsprache ihrer Kürze, so nötig ist andererseits solche Fürsprache eben für diese Kürze. […] Diese Stücke wird nur verstehen, wer dem Glauben angehört, daß sich durch Töne etwas nur durch Töne sagbares ausdrücken läßt[…]. Weiß der Spieler nun, wie er diese Stücke spielen, der Zuhörer, wie er sie annehmen soll? […] Möge ihnen diese Stille klingen!“ (Arnold Schoenberg, Mödling, Juni 1924).

Quellen MALLARMÉ, STEPHANE, 1998, Paris, nrf, „Bibliothèque de la Pléiade, n° 65“. SCHUMANN, ROBERT, 1838, Leipzig, Edition Peters 12771, Kinderszenen op.15. N°.13: „Der Dichter spricht“. THE MORGAN LIBRARY NY, „Accession Number“/Record ID: 115894. WEBERN, ANTON, Sämtliche Werke, Deutsche Grammophon, Violoncello: Heather Harper, Klavier Charles Rosen. WEBERN, ANTON, 1910, rev.1914, Wien, Universal Edition 4 Stücke für Geige und Klavier op. 7, UE 6642. WEBERN, ANTON, 1914, Wien, Universal Edition 3 Kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, UE 7577. WEBERN, ANTON, 1914, Wien, Universal Edition, Werke für Violoncello und Klavier: 3 Kleine Stücke für Violoncello und Klavier op. 11, UE 7577.

Literatur ADORNO, THEODOR W., Über einige Arbeiten von Anton Webern, in: Musikalische Schriften V, hg. von DERS., Frankfurt am Main 2003, S. 673-679. BARD-SCHWARZ, DAVID, Analysis of Webern’s Pieces for Cello and Piano Op. 11, No. 1, 2013, www.davidbardschwarz.com, 03.08.2020. DEPPERT, HEINRICH, Studien zur Kompositionstechnik im instrumentalen Spätwerk Anton Weberns, Baden-Baden (Edition Tonos) 1972. FORTE, ALLEN, The Atonal Music of Anton Webern, Yale 1998.

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LACHENMANN, HELMUT, Musik als existentielle Erfahrung: Schriften 19661995, Wiesbaden 1996. SCHWEIGER, DOMINIK, Weberns Ton. Studien zu Klang(farbe) und Geräusch in der frühen Atonalität, Diss. Phil, Wien, unveröffentlicht. ZENCK, MARTIN, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde. Paderborn 2017a. ZENCK, MARTIN, Die Livre-Konzeption von Pierre Boulez‘ Mallarmé-Kompositionen, in: Mallarmé, Begegnungen zwischen Literatur, Philosophie, Musik und den Künsten, hg. von GIULIA AGOSTINI, Wien 2017b, S. 139-189. ZENCK, MARTIN, Gewalt – Stille – Impulsivität – Entzug von Kraft. Paradigmen der Neuen Musik (Vortrag vom 16, Januar 2020 beim Kieler Muthesius-Forum unter der Leitung von Petra Maria Meyer.) Druck in Vorbereitung. Paper online verfügbar unter: https://koenig-ludwig-haus.academia.edu/martinZenck, 03.08.2020.

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Auf der Schwelle: Zwischenraum in Morton Feldmans Rothko Chapel und Crippled Symmetry OLIVER WIENER 1. Inbetween-ness Der Ort der Musik Morton Feldmans ist das Dazwischen. Titel wie Between Categories (1969) und Neither, die Oper nach Worten von Samuel Beckett von 1977,1 umreißen die Position eines Verharrens auf der Schwelle, das seine Kompositionen charakterisiert: harmonisch schwebend, ohne rhythmische Gravitation, verliebt in Asymmetrie, zeitvergessen und zugleich mit großem Interesse an der Oberflächentextur. Inter-esse, im Sinne von dazwischen-seiender Anteilnahme, umreißt Feldmans Poetologie, die ihre Motivationen ab den 1950er Jahren eher von Entwicklungen der New Yorker Malerei bezog als von kompositorischen Systemen, die ihm als monistische ‚Lösungsansätze‘ suspekt schienen. Feldman betonte, dass er mit seinem Kompositionslehrer Stefan Wolpe großes Glück gehabt hatte, da dieser ihn nie zu bestimmten Kompositionstechniken gezwungen und selbst meist lieber über anderes, etwa Malerei, als über Musik diskutiert habe.2 Es waren dabei die poietischen Ansätze der Werke, die Feldman provozierten, weniger ihr Erscheinungsbild. So hat ein 1950 erworbenes Schwarz-Monochrom von Robert Rauschenberg Feldman nicht dazu angeregt, vom Material-Aspekt her Analoges komponieren zu wollen (z. B. monotone 1 2

Vgl. zu Feldmans Poetologie des Dazwischen die wesentlichen Arbeiten von SAXER, 1998 und CLAREN, 2000. FELDMAN, 1985, S. 134 (Crippled Symmetry [1981]). Feldman hat immer betont er habe mehr von Malern gelernt als von Komponisten, vgl. FELDMAN, 1986, S. 26.

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Musik), sondern vom Prinzip her „etwas zu schaffen, von dem man nicht genau sagen kann, was es ist“.3 Das Werk des mit John Cage befreundeten Feldman steht für eine Position ästhetischer Ambivalenz ein, für die Cage in den 1960er Jahren, in seiner Auseinandersetzung mit Jasper Johns, manifestartig formuliert hatte: „The situation must be Yes-and-No not Either-Or. Avoid a polar situation.“4 Dies evoziert die Frage, ob Zwischenraum als absolut gesetzte Kategorie bzw. absolute Ambivalenz ästhetisch erfahrbar, denkbar und auch analytisch beschreibbar ist, denn abstrakt gedacht setzt die Zwischenraum- oder Schwellensituation wenigstens zwei Räume in polarer Gegenposition voraus, zwischen denen die Querung liegt.5 Ob eine Polarität nicht doch als kompositorisches Konzept offen oder zumindest latent vorhanden sein muss, um Inbetween-ness erfahrbar werden zu lassen, soll semantisch an Rothko Chapel und formal an Crippled Symmetry (1983) gezeigt werden, einem Werk, dem Feldman neben dem poetologischen Titel einen ebensolchen Essay beigegeben hat. Um die differierenden Zwischenraumkonzepte einzugrenzen, soll zunächst knapp auf musikalische Raumkonzepte eingegangen werden. Dabei ist hier nicht primär der akustische Raum adressiert – der, wenngleich er in den 1950er Jahren als eigener Parameter ‚entdeckt‘ wurde, für Feldmans Arbeiten eher sekundären Charakter besitzt –, sondern in intervallischer, zeitlicher und imaginärer Hinsicht. Musikalischer Zwischenraum scheint über Jahrhunderte kaum anderes als eine innermusikalische Angelegenheit gewesen zu sein: das kalkulierbare Intervall zwischen zwei Tönen, das semeiographische Spatium der Notation, die metrische bzw. rhetorische Zäsur zwischen einer Kadenz und einem Phrasenneubeginn, das Interludium und die Digression, z. B. die unvermittelte Generalpause. Parallel zur nonlinearen Erzählweise Lawrence Sternes entwickelt sich in der Instrumentalmusik des späteren 18. Jahrhunderts eine Kunst der 3

4 5

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EBD., S. 72 (Give My Regards to the Eighth Street [1968], dort die Kaufsituation) und 136 (Crippled Symmetry, dort das Zitat). Die poetologische Position, etwas hervorzubringen, von dem nicht gesagt werden kann, was es ist, hat Wurzeln im Surrealismus und geht in der Formulierung dann auf Samuel Beckett (L’innommable [1953]) zurück: „dire cela, sans savoir quoi“. Theodor W. Adorno hatte das Zitat als Motto seinem Pamphlet Vers une musique informelle vorausgeschickt, vgl. ADORNO, 1978, S. 493, ferner der Schluss: „Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“ EBD., S. 540. In diesem Sinn einer Befreiung von Schemata und poietischen Systemen können Feldmans Kompositionen als Utopie einer informellen Musik gehört werden. CAGE, 1969, S. 79. Zu einer Phänomenologie des „Zwischen“ (als Weder-Noch) innerhalb einer breit skizzierten ‚Schwellenkunde‘ vgl. WALDENFELS, 2012, S. 21f.

Auf der Schwelle

Digression, in der die Idee der musikalischen Passage, die zuvor etwa im Instrumentalkonzert wenig mehr war als der Weg von einem Ritornell zum andern, hin zum Um- oder Abweg, zum Bruch oder zu Situationen wandeln kann, die wie durch ein offenes Fenster den Blick auf Fernes oder Anderes freigeben. Die symphonische ‚Episode‘ um 1900, prominent bei Gustav Mahler, pflegt als Einschub in komplexen Formarchitekturen eine komplexe Kunst des Zwischenräumlichen und Distanten (‚lontano‘). Noch viele Werke György Ligetis beziehen ihre Wirkung aus solcher Inszenierung von Ferne,6 der vierte Satz seines zweiten Streichquartetts (1968) ist in seinen Extremkontrasten ein Muster für eine Dramaturgie des digressiven Zwischenraums. Neben dieser nachhaltigen rhetorischen Tradition des musikalischen Zwischenraums hat die Musik der Moderne den Zwischenraum als Kategorie bzw. Interkategorie in anderer Weise entdeckt. In der Nachkriegsavantgarde wurde eine Art musikalischer Raum imaginierbar, in dem die Verhältnisse von Intervall und Zeit interrelativ sein konnten. „Klang als ‚Nacheinander‘ der Töne im Zeitabstand Null, Tonfolge als ‚Gleichzeitiges‘, in der Zeit verschoben“,7 hatte Bernd Alois Zimmermann 1957 die Neuordnung des musikalischen Raums als eine Art musikalischer Relativitätstheorie formuliert. Unschwer ist hierin eine Topologie der ‚Lagen‘ erkennbar, die Michel Foucault als signifikante Raumvorstellung des 20. Jahrhunderts (im Kontrast zu Raumkonzepten der thermodynamischen Prozesse im 19. Jahrhundert) akzentuiert hat.8 Zimmermann verband Zeitkonzepte des Simultanen, als Verschmelzung der Zeiten im Übergangsmoment des Präsens, mit parametrischen Zeitvorstellungen Karlheinz Stockhausens, der aus seinen Erfahrungen mit elektronischer Klangerzeugung heraus auf eine Kontinuität zwischen Zeitordnung und Klang abhob. Diese Poetik ließ musikalische Zwischenräume in der Formbildung der Stücke entstehen, die aufgrund einer vorgeordneten Zeitstrukturierung keine rhetorischen Zäsuren mehr waren, sondern eher resultierende Distanzen, wie die seriell organisierten Partien von Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1957) zeigen. Dass Stockhausen diesem Zeitgitter, das partiell Aufmerksamkeitsspatien des Gehörs 6 7

8

Vgl. Ligetis Mahler-Bezug in Lontano (1967): SCHÄFER, 1999, S. 228-244 (Lontano: Der doppelte imaginäre Raum). ZIMMERMANN, 1974, S. 11 (Intervall und Zeit [1957]. Die Idee einer Einheit des musikalischen Raums ist vorgedacht durch Arnold Schönbergs Spekulationen während der Konzeptionsphase zum Oratorium Die Jakobsleiter, vgl. HOUBEN, 1992, S. 267. Hierzu, im Kontext anderer musikalischer Raumimaginationen, auch WIENER/ZENCK, 2015, S. 11. FOUCAULT, 2006, S. 317.

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überschreitet, nicht traute, belegen die freier komponierten Einschübe, die spektakuläre Steigerungsmomente bieten und eine quasi symphonische9 Gliederung des Werks, also formale Rundung insinuieren.10 Gruppen ist einer der Ausgangspunkte für ein kompositorisches Konzept, das die Verteilung des Klangs im Raum organisiert. Die hufeisenförmige Orchesteraufstellung um das Publikum lässt weniger an einen Zwischenraum denken, eher an eine Konzentration des Klangs (auch spätere ringförmige Lautsprecheranordnungen mit ‚sweet spot‘, der besten mittigen Hörposition, blieben ungebrochen zentriert). Im Rahmen einer Raum-Zeit-Konzeption der Lage und der Simultaneität wurde eine Umbesetzung der Metapher von musikalischem ‚Gewebe‘ denkbar, das im Barock als harmonisches Gewebe begriffen wurde,11 in der Moderne dann aber eine Erweiterung hin zu einer musikalischen Intertextualität gewann, deren Verknüpfungen historische und semantische Distanzen ausstellen können. Bernd Alois Zimmermann ist mit einer Technik musikalischen Zitierens auch hier Vordenker gewesen. Der Rekurs auf die Weberei und ihren Grundmythos von Arachne ist deshalb triftig, weil die Webemetapher auf zweierlei verweist, auf die Herstellung von Textur und auf das Hineinweben (intertexere) von Figur und Semantik. Arachne hatte ihren Teppichen desavouierende Klatschgeschichten aus dem Olymp eingewoben und wurde wohl vor allem deshalb von ihrer ungleichen Wettkampfgegnerin Athene zur bloßen Texturweberin, zur Spinne depraviert.12 Auf den ersten Blick mögen die musikalischen Gewebe Zimmermanns für einen semantischen, diejenigen Morton Feldmans für einen primär texturalen oder abstrakten Ansatz stehen.13 Die folgenden Zeilen wollen diese allzu glatte Kontrastierung relativieren: Zwischen beiden Positionen gibt es ein Schnittfeld. Vom europäischen Ansatz, Zeit und Klang in einen kontinuierlich gedachten, doch zentrierten Raum zu synthetisieren, wich der amerikanische Weg grundlegend ab, den John Cage und die ‚New York School of Music‘ 9 10 11 12

13

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BLUMRÖDER, 2002, S. 304, spricht angesichts der symphonischen Gesten in Stockhausens Gruppen von „impliziten Gattungsallusionen“. Zu den ‚Einschüben‘ in Gruppen vgl. MISCH, 1998, S. 49-60; WIENER, 2016, S. 7075. TEVO, 1706, S. 1f. Zum Gewebe als Metaphernfeld des Musikalisch-Imaginären vgl. WIENER/ZENCK, 2016, S. 12f. Vgl. das „Einweben“ als Wurzel des Intertextualitätsbegriffs in Ovids Metamorphosen (VI, 1, 26): „Ultima pars telae, tenui circumdata limbo, | nexilibus flores hederis habet intertextos.“ Zur musikalischen Gewebemetapher vgl. WIENER/ZENCK, 2016, S. 12 f. Zum Metaphernfeld des Teppichs bei Feldman vgl. RENNICKE, 2009.

Auf der Schwelle

einschlugen. Cage arbeitete ab den späten 1930er Jahren zunehmend mit Zeitgittern, die mit den klanglichen Materialien, die sie bevölkerten, kein integrativorganisches, sondern ein arbiträres oder kontingentes Verhältnis eingingen. Ein Muster hierfür ist Cages Music of Changes (1951). Dass das Kompositionsprinzip unterschiedslos in konzeptuellen wie argumentativen Produkten Anwendung findet, verwischt seine funktionalen Grenzen: In Cages Vorträgen von 1958/1959 bildet das Nebeneinander von Zeitgitter und Inhalt als Kompositionsprinzip das Konzept der Vorträge selbst. An den Leerstellen in den Spalten der Lecture Composition as Process (1958) ist unmittelbar sichtbar, dass Struktur und Inhalt eine reziproke Stützfunktion verloren haben. Solches Auseinandertreten hat Wolfgang Rathert als „Sonderweg“ der amerikanischen Musik in die Moderne beschrieben, als eine Tilgung des ‚Klebstoffs‘ zwischen den Materialien, d. h. ihrer als historisch determiniert behaupteten und geschichtsphilosophisch begründeten Beziehungen.14 Morton Feldmans Chance pieces der 1950er Jahre hatten daran wesentlichen Anteil, wie Cage in seiner Lecture on Something (1959) hervorhob: Die grafischen Gitter, in denen nur der approximative Zeitpunkt angegeben ist, wann etwas in einer bestimmten Lage erklingen soll, nicht aber, was genau, indizieren einen Paradigmenwechsel, einen „Wandel der Verantwortung des Komponisten vom Machen hin zum Zulassen“.15 Dabei unterstrichen die Reihentitel Intersection und Intermission (Kreuzung, Unterbrechung) programmatisch den Charakter dieser Stücke als Zwischenraumstrukturen für Klangereignisse. Feldman hat dieses flottierende Intermittieren von Klängen oft mit der kompositorischen Haltung einer konzentrierten und kontrollierten Organisation kontrastiert, für die die Person Stockhausens einstand.16 Die Differenz zwischen einer Organisation und einem Organismus der Klänge allerdings hat Feldman auch zunehmend zu Cages Verfahren auf Distanz

14 RATHERT, 2016, S. 30-33. Zur ‚Klebstoff‘-Metapher auch METZGER, 1997. JOHNSON, 2002, S. 21. 15 CAGE, 1961, 129. Vgl. hierbei Cages Rückbezug auf James Joyces Finnegans Wake im Kürzel H.C.E. (here comes everybody, in diesem Kontext wohl zu lesen als: here comes everything): „H.C.E. Which is what Morton Feldman had im mind when he called the music he’s now writing Intersection. Feldman speaks of no sounds, and takes within broad limits the first ones that come along. He has changed the responsibility of the composer from making to accepting.“) 16 FELDMAN, 1985, S. 43 (Ein Leben ohne Bach und Beethoven); 45 (Die Avantgarde: Fortschritt oder Stillstand?); 53 (Boola-Boola); 83 (Zwischen den Kategorien/Between Categories); 144 (Anekdoten und Zeichnungen).

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gebracht.17 Während Cage Organisationsstrukturen entwarf, in denen Klang sich unabhängig von diesen ereignet, ging Feldman zunehmend von der Vorstellung aus, dass Klang aus sich heraus Struktur entwerfe. Klänge werden als Organismen aufgefasst, denen das komponierende Ohr ihr eigenes Leben abhören kann. Dementsprechend behandelte Feldman Klänge in den frühen Werken wie Monaden. Wenn er später massiv repetitive Strukturen (Patterns) komponierte, die eine rhythmische Gestaltungsschicht an das Klangereignis herantragen, so ging es dort um Präsenzerhaltung18 und ein beharrliches Memorieren des Klangs. Anders als bei Stravinsky oder Steve Reich, mit deren Repetitionstechniken sich Feldman auseinandergesetzt hat,19 dient die Dauernordnung bei ihm eher einer Klangwahrnehmung um ihrer selbst willen als einer dem Klang oktroyierten korporealen Macht oder einer aufmerksamkeitsökonomischen Dynamisierung. Pattern und Klang geraten bei Feldman zum Schwellenphänomen: Dem Prinzip, den Klang als Organismus präsent zu halten, dienen asymmetrische Patterns. Die Repetitionen evozieren eine Expektanz, die aber durch stete Dauerndifferenzen außer Wirkung gesetzt wird. Möglicherweise erst später bemerkte Feldman, dass die Produktion seiner grafischen Stücke der 1950er Jahre Jackson Pollocks Umgang mit der Leinwand ähnelte. Der Vergleich zielt nicht auf die scheinbar ‚zufällige‘ Verteilung von Farbspritzern resp. klanglichen Aktionen ab, sondern darauf, dass, wie Feldman mit einer Beobachtung Brian O’Dohertys sagt, im Hintergrund von Pollocks Gemälden „ein imaginäres Gitter ständig wirksam zu sein schien“.20 Die Parallele von Partiturseite und Leinwand impliziert zweierlei: die Vorstellung einer Musik, deren primäres Interesse in der Oberflächengestaltung liegt und deren Strukturgrenzen meist mit Format-Grenzen des Papiers und einer Vor-Rhythmisierung der Partiturseite koinzidieren. Die bisweilen zu lesende Bemerkung, 17 Zu den Differenzen bezüglich ‚Zusammenhanglosigkeit‘ zwischen Cage und Feldman vgl. ERDMANN, 1986, S. 79. 18 Zu Feldmans Kompositionen in dieser musikalischen Ästhetik der Präsenz vgl. UTZ, 2015. Hier sind die letzten Werke gemeint, die im Grunde nur noch eine (oder wenige) Ideen zeitlich strecken wie Coptic Light (1986) oder For Samuel Beckett (1987). Diese berühren sich in der Idee der Streckung frappant mit Werken aus B. A. Zimmermanns letzter Phase, insbesondere Tratto (1966/1969) oder Intercomunicatione (1967). 19 FELDMAN, 1985, S. 125 f. Die Beispiele für asymmetrische Repetitivität sind: Igor Stravinsky, Requiem Canticles (1966); Steve Reich, Four Organs (1970); Edgard Varèse, Intégrales (1925). 20 EBD., S. 134 („that an imaginary grid seemed always in operation“); auch S. 136 („What resembled Pollock was my ‚all over‘ approach to the time canvas“).

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Feldman sei zu Beginn der 1970er Jahre zu einer ‚exakten‘ Notation zurückgekehrt, ist angesichts der standardisierten Partituren, die die Universal Edition ab dieser Zeit aus den Vorlagen generierte, zwar verständlich, doch beim Blick auf die handschriftlichen Partiturbilder irrig. Neben Stücken mit freien Dauern oder deliberativen Tonhöhen schrieb Feldman in den 1950er und 60er Jahren auch solche in herkömmlicher Notation – aber mit äquidistanten Taktstrichen (z. B. Structures for String Quartet von 1951). Die Zufallsverfahren verloren an Bedeutung, weil sich Präferenzen für bestimmte Klangstrukturen gebildet hatten. Anstelle der reinen Nummernnotation traten differenziertere Klangproduktionsanweisungen – z. B. King of Denmark (1964) oder In Search of an Orchestration (1967). Als konzeptuelle Setzung hielt sich das Raster: Wie bei den grafischen Stücken blieben auch die Partiturseiten nach 1970 innerhalb des Werks vertikal gleichmäßig rastriert.

2. Distanz und Nähe im Raum zwische n Bild und Musik: Rothko Chapel Was sich um 1970 in Feldmans Komponieren jedoch drastisch änderte, war das Hereinlassen zweier Momente in den Kreis kompositorischer Optionen, die zuvor kaum von Belang waren, eine Vordergrund-Hintergrund-Staffelung via Solo und Ensemble und damit einhergehend die Evokation eines motivisch-narrativen Moments. Nicht zufällig überschneidet sich diese Umakzentuierung mit den stilistischen Brüchen im Werk zweier Maler, zum einen des mit Feldman befreundeten Robert Rauschenberg, der Pressefotografie und andere Bildmotive assemblageartig integrierte,21 zum anderen im Werk Philipp Gustons, der der Abstraktion eine geradezu comic-inspirierte gegenständliche und doch hoch enigmatische Narrativität entgegensetzte, was als skandalös regressiver Bruch mit der abstrakten Malerei empfunden wurde.22 Es ist bemerkenswert, dass Feldman zur gleichen Zeit melodische Gestalten exponierte und in den Werktiteln narrative oder auch autobiographische Lesarten anbot: Routine Investigations, I

21 Zur Vergleichbarkeit von Rauschenbergs combine paintings und Feldmans Kompositionen der 1970er Jahre (anhand der Werkgruppe The Viola in My Life) vgl. WIENER, 1996, S. 16-20. 22 Noch METZGER, 1997 spricht von Gustons „fatale[m] Rückfall ins Gegenständliche“.

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met Heine on the Rue Fuerstenberg, The Viola in my Life, Madame Press Died Last Week at Ninety. Ein Schlüsselwerk dieser Phase ist Rothko Chapel (1971) für den gleichnamigen, nicht-konfessionellen Kapellbau in Houston, der vom Mäzenatenpaar Dominique und John de Menil in Auftrag gegeben, von Philip Johnson, Howard Barnstone und Eugene Aubry architektonisch geplant und 1971 fertiggestellt worden war. Dominiert werden die weißen Wände des oktogonalen Innenraums von 14 großformatigen Leinwänden Mark Rothkos, drei Tryptichen im Wechsel mit fünf Einzelbildern, alles Schwarz-Monochrome mit Textureffekten und marginalen unscharfen Rotschattierungen.23 Da sich der mit Feldman befreundete Künstler 1970 in Folge einer Depression das Leben genommen hatte, geriet die Komposition für die Kapelle zu einer Hommage und Trauermusik zugleich. Die vokalen Besetzungsanteile (gemischter Chor, Sopran- und Alt-Solo), die im Vordergrund agierende gedeckte Klangfarbe der deklamatorischen Soloviola,24 die Elaboriertheit ihrer Linienführung25 mit häufig fallenden Halbtonschritten, die Klänge von Röhrenglocken, Vibraphon und Celesta in tiefer Lage, nicht zuletzt die konduktartigen Ostinati der Pauke (T. 135–168, 185–190)26 sind im Rahmen musikalischer Trauertopik semantisch leicht dechiffrierbar.27 Kontextinformation zu den Selbst-Zitaten, die Feldman einwebt – eine SopranMelodie, die er am Tag von Igor Stravinskys Begräbnis komponiert hatte (T. 244–298), im Schlussabschnitt (T. 314–427) das hypernaive Viola-Solo („very, very simply“) mit einer „quasi-Hebraic melody“28, die Feldman mit 15 Jahren geschrieben hatte –, verdeutlichen, dass es sich um eine Trauer handelt, die zwar persönliche Züge trägt, zugleich aber von der Person Rothkos abstrahiert und auf eine überindividuelle Ebene transponiert wird. Die Textlosigkeit der Vokalpartien und die wie ein Netz über die etwa 25minütige Komposition gespannten zarten Percussion-Signale sind Hinweise darauf, dass sie in dieser semantischen Funktion allein nicht aufgeht. Feldman nimmt in seiner Hommage an den Maler von einer medialen Analogie Abstand, 23 Als Beispiele ästhetischer und an-ästhetischer Raumeindrücke der Chapel vgl. BRESLIN, 1993 und CAIN, 2009. Zur Raumgliederung JOHNSON, 1994, S. 12 f. 24 FELDMAN, 1985, S. 141 (Rothko Chapel [1976]). 25 Zum Organizismus der melodischen Konstruktion JOHNSON, 1994, S. 16-19. 26 Die Pauken-Kleinterzen wirken wie späte Echos aus dem ersten Satz von Gustav Mahlers 9. Symphonie. 27 Hierzu, im diachronen Vergleich mit anderen amerikanischen Trauermusiken (Ives, Adams) vgl. HERZFELD, 2015, S. 176-181 („Mit Morton Feldman in der Kapelle“). 28 FELDMAN, 1985, S. 141.

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die die opake Dominanz der Schwarz-Monochrome von Rothko nahegelegt haben könnte. Eine Klangflächenmusik, wie sie in der sogenannten Klangkomposition des Postserialismus beliebt war, findet sich lediglich im letzten Drittel des Stücks (T. 211–242), wo ein enger sechsstimmiger Akkord der Frauenstimmen („barely audible“) mit Farbschattierungen der Röhrenglocken im fünffachen piano angereichert wird. Doch bildet die „abstrakte“29 Klangfläche nicht das Zentrum, sondern einen zeitlich stillgestellten Zwischenraum im Ensemble der heterogenen Abschnitte, die immer wieder in einen narrativen Duktus der Soli fallen oder fortschreitende Zeit durch ostinate Strukturen artikulieren. Erst die zwischenräumliche Position innerhalb dieses Rahmens bietet die Möglichkeit, die Klangfläche als ästhetisch extraordinäre Situation zu erfahren. So öffnet Feldmans Musik einen Zwischenraum für den spirituellen Raum der Rothko Chapel in dreierlei Weise: Erstens in einer gründlichen ästhetischen Distanz der verschiedenen Teile der Komposition zueinander, die eine Distanz zur Homogenität von Rothkos Komposition aufbaut; zweitens in der jeweils unterschiedlichen Distanz der Musik zur Sprache der Bilder, die ihre Abstraktheit möglicherweise auch hinterfragt: sie nähert sich ihnen im Sinne verschiedener imaginärer ‚Lesarten‘ auch an. Drittens erfordern die ästhetischen und medialen Distanzen offenbar eine Rücknahme akustischer Distanz, um die Erfahrung eines Darinnen-Seins in diesen Juxtapositionen zu ermöglichen. In Analogie zu Rothkos Bildern, die „bis an den äußersten Rand der Leinwand“ gehen, soll die Musik „nicht aus einer gewissen Distanz gehört werden“, sondern „näher, körperlicher“ beim Hörer sein „als in einem Konzertsaal“. Das mag an das Konzept einer klanglichen Unmittelbarkeit erinnern,30 die folgende Metapher relativiert dies aber: Das Klangideal sei „very much what you have in a recording“.31 Aufnahmetechnik, insbesondere die akustischen Illusionen der Studiotechnik, seit den späten 1940er Jahren ein wichtiger Rahmen für das Konzept einer „medialen Unmittelbarkeit“32, wird (völlig ohne Ironie) zum Erfahrungsideal eines Stücks erhoben, das am besten doch genau in diesem Raum nicht durch 29 Dass Feldman diesen Abschnitt als „abstrakt“ bezeichnet (ebenda), lässt den Umkehrschluss auf eine Art semantischer Konkretheit der anderen Teile zu. 30 Zum Aspekt einer dekonstruktivistisch gebrochenen Unmittelbarkeit und Illiminalität bei Feldman vgl. SABBE, 1996, S. 11-13. 31 FELDMAN, 1985, S. 141. 32 Zu „medialer Unmittelbarkeit“ (als Klang-Konzept der akusmatischen Musik) vgl. UNGEHEUER, 2008, S. 65 f. Das Konzept von Klang an sich, dem Feldman in seiner Weise kompositorisch gehuldigt hat, wurde historisch aus unterschiedlichen Richtungen ‚fixiert‘ und aus konzeptueller Warte kritisiert von KIM-COHEN, 2009, S. 129.

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Lautsprecher, sondern durch Sänger und Instrumentalisten erklingen sollte. Keine andere Klangvision könnte diese paradoxe Zwischenräumlichkeit von Feldmans Komposition besser charakterisieren.

3. Zeitliche Drift al s permanente Zwischenr äumlichkeit: Crippled Symmetry Es wäre abwegig anzunehmen, dass seine Annäherungen an eine narrativ-semantische Konkretion motivischen und klanglichen Materials Feldmans späte Stücke gar nicht mehr tangieren würden, auch wenn ihr Partiturbild mehr Textur als Narration anzubieten scheint. Eine klagende Gestik in chromatisch tendenziell eher fallenden Melodiebildungen oder Stimmführungskontexten bleibt erhalten, wird aber ausbalanciert durch eine Form texturaler ‚Objektivierung‘, einer Arbeit mit Patterns und dem Gedächtnis einschließlich seiner Defizite angesichts von Längen, die übliche Aufmerksamkeitsgrenzen in der Unübersichtlichkeit steter Präsenz33 absorbieren. Vier Werke teilen in ihren poetologisch sprechenden Titeln mit, was den Komponisten ab den späten 1970er Jahren vor allem konstruktiv beschäftigt hat: Why Patterns? (1978), Triadic memories (1981), Patterns in a Chromatic Field (1981), Crippled Symmetry (1983). Die Konzentration auf Muster- und Feldstrukturen34 mögen es richtig erscheinen lassen, von Feldman als dem „Ikonoklasten“ zu sprechen,35 und die Länge der Werke legen die Rede vom Beckettschen „Nicht-Enden-Können“ nahe.36 Die erste Lesart blendet die Werke der frühen 1970er Jahre aus; und wenn der Fokus sich auf die späten Werke einschränkt, die in Parallele zu Nonos Werkgruppe No hay caminos weder Ziele noch Wege zu kennen scheinen,37 verliert auch die Charakteristik dieser viel. Diese Lesart macht vergessen, dass es in Feldmans 33 Zu Spielarten der musikalischen Präsenzästhetik im 20. Jahrhundert und analytischen Näherungsmöglichkeiten vgl. UTZ, 2015 (zu Feldman, Coptic Light, S. 4749). 34 Grundlegend dazu SAXER, 2004. 35 ZIMMERMANN, 1984. 36 Zu „Unendlichkeitskonzepten“ im Kontext SAXER, 2008. Zum Komplex des ‚NichtEnden-Könnens‘ vgl. SAXER, 2016. Enden und Vollenden bzw. Schließen bedürfte der Differenzierung. Eine zeitliche Strecke kann als beendet erklärt werden (dies inkludiert das offene Ende), das Schließen erfordert ein syntaktisches Signal bzw. eine als Schließen dekodierbare Geste. 37 HERZFELD, 2014.

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Spätwerk Strecken von frappierend mechanischer Machart gibt, die wie Gleise in eine Landschaft ungewisser Kontur eingelassen sind.38 Beides aber bedingt sich in der Logik einer reziproken Löschung. Die Behauptung eines Beckettschen Weiter-Machen-Müssens ohne Telos blendet die ästhetische Erfahrung aus, dass die Stücke durchaus enden und nicht abbrechen,39 sei es, wie Hans Zender es plastisch ausgedrückt hat, dass sich ihr Material in einer Art entropischem Prozess ‚verbraucht‘,40 sei es, dass lange Abklingprozesse komponiert werden, nach denen ein Weitermachen dem Ohr sinnlos scheint. Feldmans Aufmerksamkeit für das richtige „Format“41 spricht ebenfalls gegen solche Unbegrenztheit, eher für Adäquatheit. Crippled Symmetry bildet ein Muster für beides, den Abnutzungsprozess wie die Formatadäquatheit. Die mediale Sequenz vom musikalischen Gedanken über das Notat bis zur Aufführung und Rezeption von Musik weist der Partitur den Status einer Zwischenwelt zu. Wird sie nicht nur als präskriptive Zeichenformation begriffen, sondern auch in ihren deskriptiven Momenten und Offenheiten, in ihrer Bildund Raumhaftigkeit wahrgenommen – Momente die zentral für die Geschichte der Notation Neuer Musik in der Moderne waren –, so verändert sich der Charakter dieser Zwischenwelt von der unidirektionalen Passage hin zu einem Feld mit allerlei Richtungen. Dieser Bruch im Verhältnis von Schrift und Performance soll am Beginn der folgenden analytischen Skizze stehen, weil er für die Wahrnehmung des Notats formend ist. Feldmans Takt-Vorrastrierung setzt primär eine Rahmenbedingung für den Schreibakt, sekundär für die klangliche Imagination. Entfernt mag diese Vorrastrierung an diejenige von Particellskizzen des späten 19. Jahrhunderts erinnern, die Komponisten pragmatischerweise wählten, weil eine Taktquadratur, der sich satztechnischer Inhalt fügte, ohnehin vorausgesetzt wurde. Solches Gleichmaß negierend arbeitet Feldman meist, nicht zwangsweise, mit einer ungeraden Taktanzahl pro Akkolade, bei Crippled Symmetry sind es stets neun.42

38 Die Stabilität der patternartigen Machart hat Feldmans späte Kompositionen für die informatisch gestützte Analyse früh prädestiniert, vgl. STAUB, 1992 und HUMMEL, 1994. 39 Routine Investigations (1976) belegt, dass der Abbruch als Typ offenen Endens für Feldman auch eine (allerdings rare) Option darstellte. 40 ZENDER, 1998, S. 148. 41 FELDMAN, 1985, S. 137. 42 Schon früh und in dieser Phase singulär bei Structures for String Quartet (1951), etabliert sich die in puncto Untergliederbarkeit sehr ergiebige Neunergruppierung unter den späten Stücken als Standard. Signifikante Ausnahmen sind die

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Abb. 1: Crippled Symmetry, S. 1. © Copyright 1983 by Universal Edition (London) Ltd., London

Orchesterwerke The Turfan Fragments (1980) mit elf und Coptic Light (1986) mit acht Takten pro Akkolade.

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Die Akkolade bildet in Crippled Symmetry überwiegend eine strukturelle Einheit im Sinne eines Containers isomorphen Materials pro Stimme. Eine stabile metrische Einheit bildet sie nicht ab, weil den Takten, wenngleich sie grafisch gleiche Strecken einnehmen, hoch unterschiedliche Dauern vorgeschrieben sind (von drei Sechszehntel- bis zu sieben Halbewerten). Dies dreht Cages Verfahren einer Space Notation bzw. Feldmans eigener Kästchennotation aus den 1950er Jahre um, bei dem die Dauern von Ereignissen und Zwischenräumen aus den grafischen Distanzen zu ermessen sind. Die grafisch homogenen, doch durational variablen Takte setzen überdies ein kompositorisches Limit: Da in den Raum zwischen den Taktstrichen nicht mehr notiert werden kann, als sie Platz bieten, bedingen breite Taktangaben Reduktionen der Textur. Zwischen Takte mit instrumentalen Aktionen schieben sich ‚leere‘ Takte. Aus leseökonomischen Gründen auf konventionelle Pausenzeichen verzichtend, setzen sie Zwischenräume in die Parts. Die Takte mit und ohne Aktion bilden eine graphische Kombination, die an Cages Ästhetik einer losen Zweiwertigkeit von ‚Etwas‘ und ‚Nichts‘ erinnern mag.43 Solch grundierendes ‚Nichts‘ bzw. Stille repräsentieren die leeren Takte in Crippled Symmetry aber nicht, da in der Besetzung von Perkussion, Klavier und Celesta stets etwas real nach- und imaginativ vorausklingt. Die ‚leeren‘ Takte dienen der Konstitution einer Schwellenzeit: dem Nachhorchen, der Rückbesinnung auf das Grundtempo (63–66 pro Viertelschlag), dem Hören ins Ensemble gleichwohl wie der Aufmerksamkeit auf die kommende Aktion. So fordern sie kein gestisches Innehalten im Sinne der ‚Generalpause‘,44 sondern geben Raum für Feinjustierung eines auf die Gruppe abgestimmten Rhythmus. Dieser gehorcht keiner Zeit der Uhren, sondern einer des ‚Atmens‘.45 Gleichwohl ist solcher ‚Atem‘ im Ensemble nur zu schöpfen, wenn es sich nicht kleinlich, aber doch beharrlich des Gitters kleiner, zeitweise auch größerer Zähleinheiten rückversichert. Den ursprünglichen Sinn von Partiturnotation, die Synchronisation, gibt Crippled Symmetry preis. Untereinander notiert sind in den Parts der drei Spieler unterschiedliche Taktwertangaben, die das Gewebe, das über weite Strecken 43 Vgl. Heinz Klaus Metzger Charakterisierung des Werks von Feldman als „Exploration jenes Zwischenbereichs zwischen Etwas und Nichts“, zit. nach STRAEBEL, 1996. 44 So mißverständlich etwa in der gesetzten Partitur von Routine Investigations (1976), Universal Edition UE 21049, die über die leeren Takte im Ensemble das Generalpausenkürzel setzt. 45 Vgl. Feldmans Bemerkung zur Aufführung von Trio (1986) in Middelburg: „[…] ich wollte, daß die Musiker natürlicher miteinander atmen. Mehr atmen als zählen.“ FELDMAN/XENAKIS, 2001, S. 61.

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von der Kombination sich diversifizierender Strukturen lebt, zu einem Spiel performativer Drift machen.46 Feldman hatte in der Ensemblekomposition Why Patterns? (1978) eine vergleichbare Notation verwendet, dort aber für die jeweiligen Parts autonome Taktraster verwendet.47 Während Why Patterns? mit einem größeren Bestand kleinerer Muster arbeitet, bleibt Crippled Symmetry in stärkerem Maße abschnitts-rekursiv. Dieser Ordnung entspricht die grafische Pseudo-Synchronizität der Partitur mit durchgehenden Taktstrichen. Es ist unschwer erkennbar, dass hinter dieser Dekonstruktion der Synchronie eine skulpturale Grundidee der offenen Form, die Idee von Alexander Calders Mobiles steht, die die Komponisten der New York School, allen voran Earle Brown, stark inspiriert hatte.48 Anders als in den 1950er Jahren steht das Mobile hier nicht mehr Pate für eine Distribution, etwa eine verstreute Mise-en-Page der Partiturelemente.49 Das akustische Mobile dreht sich bei Crippled Symmetry performativ aus dem Raster der Notation heraus. Die Taktproportionen folgen keiner Logik der Synchronie, sondern der einer Musterbildung innerhalb der jeweiligen Stimme. Es empfiehlt sich eine Längenerrechnung, um das Idealbild einer Proportionalität auf globaler Ebene zu erhalten (vgl. Grafik 1), die so freilich von keiner Aufführung oder Aufnahme real erreicht wird und auch nicht werden soll.50 Die globale Drift bedingt, dass das Stück – nach einer Konsolidierung in der ersten Hälfte – im letzten Drittel, was

46 METZGER, 1997 hat diese Art der Enthebelung von Synchronie (eines nicht zusammen in der Zeit-Seins) als explizit utopisches Moment in Feldmans Komposition hervorgehoben. 47 Zu erwähnen ist in diesem Kontext auch For Philip Guston (1984), das mit begrenzten Feldern übereinandergeschichteter Taktarten arbeitet, so dass insgesamt jedoch keine zeitliche Drift entsteht, die das Stück so gründlich desynchronisieren würde wie dies bei Crippled Symmetry der Fall ist. 48 Vgl. Earle Browns Calder Piece (1966) für Percussionisten-Quartett, das auf einem Mobile Calders (Chef d’orchestre) und um dieses herum spielt. Beschreibung auf der Seite der Earle Brown Foundation: http://www.earle-brown.org/works/view/33, 28. 12. 2019. In der Programmnotiz Browns ist zu lesen, was seine Konzeption der offenen Form Calder verdankt. 49 Feldmans Intermission 6 für Klavier (1953), verteilt 15 Klänge lose verteilt auf der Partiturseite; ihre Folge in der Aufführung bleibt ebenfalls lose. Ob diese mise en page von Stéphane Mallarmés Dichtung Un coup de dés inspiriert ist, muss offen bleiben. 50 Die Frage Reinhard Oehlschlägels, ob er angesichts der unüberschaubaren Taktproportionen mit Hilfe eines Taschenrechners gearbeitet habe, konnte Feldman verneinen, vgl. FELDMAN/GRONEMEYER/OEHLSCHLÄGEL, 1996, S. 33.

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Gr. 1: Idealtypisch dargestellte zeitliche ‚Drift‘ der Seiten von Crippled Symmetry bei der Aufführung (bei einem kontinuierlichen Mittelwert von 64 bpm pro Viertelschlag).

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Seiten- und damit Strukturgrenzen angeht, verschwimmt und lose endet: der Flötenpart zuerst, dann der Klavierpart, übrig bleiben die monotonen Sechzehntel-Repetitionen des Vibraphons auf es2. Diese stehen in extremem Kontrast zur Einstiegssituation des Stücks, die geradezu die funktionale Ausdifferenzierung eines klassischen Tonsatzes imitiert. Für die Darstellung des Zwischenräumlichen von Crippled Symmetry ist es nicht nötig, dem Veränderungsprozess von Beginn bis Ende auf den 38 Seiten der Partitur (bzw. eineinhalb Stunden aufgeführter Musik) kasuistisch zu folgen. Ein übergreifender Prozess des Stücks kann mit dem informationstheoretischen Minimal-Konzept der Innovation leicht erfasst werden (vgl. Tabelle). Seite

Morphologischer Typ

1

F: gespreiztes Drehmotiv (chromatisch, Dauern variabel) V: enge Drehfigur (Sechzehntel) P: weite Lagenpermutation G: enge Drehfigur (Zweiunddreißigstel) P: zwei Akkorde im Wechsel

2

Sets bzw. Tonhöhen 1 (c–es) 1 2 (ges, b–c) 1 2

3

F: rasche Sechzehntelfigur, dann ungleichmäßig B: zwei Töne (legato, dann getrennt) V: enge Drehfigur P: Lagenpermutation

1 Subset aus 1 u 2 (h, des) Subset aus 1 (cis– es) 1 erweitert (h–e)

4

P: Akkord aus zwei Bestandteilen B: weitere Einzeltöne G: enge Drehfigur, geteilt als Motiv

5

P: gerichtete rasche Zweiunddreißigstelfigur (aufwärts) P: gerichtete langsame Figur (aufwärts)

2 a, as, f, g, (f,) as, ges (B) 1 2

6 7 8

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V/G: Akkorde im Wechsel, zweiteilige Figur V/G: zweistimmiges Pattern F: ‚Kantilene‘ (enharmonische Notation) V: Akkorde gleicher Dauer und hoher Varianz

1 1+2 1 + 2 (mit as) 2 Chroma

Auf der Schwelle 9

B: Dreitonset (Welle aus drei getrennten Tönen) V/G: Dreitonakkorde, Gegentöne auf fallender Skala P: Dreitonmotiv (lang-kurz-lang)

3 (e–ges) Chroma 4 (dis–f)

11

F: Einzeltonrepetitionen (zwei Achtel) F: Einzeltöne (kurz), mit Abstand repetiert

b b

12

B: gespreiztes Drehmotiv (diatonisch, Dauern variabel)

5 (gis, a, h, cis)

14

P/G/F: Einzeltöne (kurz, mit Abstand; im Ensemble) B: kurze Dreitonfiguren

Subset aus 2 (b–c)

15 16

Subset aus 1 (cis– es) Ableitungen aus 5 Chroma

18

F: Skalen (diatonische Tetrachorde) P: zweiteilige Figur (4 langsam/4 schnell, oder umgekehrt) C: repetierter Einzelakkord

19 20

F: Repetition langer Töne P: Mehrfach gleichmäßig repetierte Akkorde

h (des, es) 7 (h–des, e)

25

B: Repetition von je fünf Achteln V: gleichmäßige Achtelrepetitionen (taktweise) P: Einzeltonrepetition mit längeren Abständen Ab hier homogen vorgeschriebener 3/4-Takt (25–29, 31–32, 34–38)

8 (f, g, a) Ganztonset

27

F: „bend tone slightly“ G: Sechzehntelrepetitionen

30

‚Zwischenraum 1‘: B/G/P: homogene Figuration (4 punktierte Zweiunddreißigstel)

33

‚Zwischenraum 2‘: V/G/P: zwei Akkorde im Wechsel

6 (fis–as)

as (B) 1 + e und andere

Tab. 1: Synopse zu Crippled Symmetry nach dem je ersten Vorkommen von Materialien. Instrumentenangaben: F = Flöte, B = Bassflöte, V = Vibraphon, G = Glockenspiel, P = Piano, C = Celesta.

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Dem Gesamtrepertoire von Mustern ist eine allmähliche Infiltration mit Einzelton- oder Akkordrepetitionen abzulesen, die bis zu Seite 11 (also in den ersten 21 Minuten) völlig absent waren. Ab Seite 25 jedoch (um Minute 60) dominiert die Einzeltonrepetition in Achtel-, später Sechzehntelwerten das texturale Geschehen absolut. Trotz des Delays von etwa je einer halben Minute, mit der die Parts von S. 25 eintreten, stellt dies eine Art ‚Bruch‘ dar, denn die kleinen rhythmischen Zähleinheiten, die über eine weite Strecke für die Wahrnehmung suspendiert waren, legen sich nun im Sinne einer Rasterschicht über den Flow der restlichen Texturen. Überdies wird die zuvor reichhaltige Varianz an Taktarten auf einen generellen Dreivierteltakt eingeschränkt. Das Raster, das hinter Pollocks Bildern oder Cages Music of Changes als ein latent wirksames erahnt worden war, wird in Crippled Symmetry zunehmend zur Wahrnehmung entborgen. Dieser auffällige Prozess der zunehmenden Rasterung durch repetitive Töne stellt ein werkindividuelles Merkmal von Crippled Symmetry dar.51 Dieser globale Prozess des Stückes zur Erstarrung zunehmender Repetitivität wird zwar über die lange Zeit hinweg als Flow wahrgenommen, er verläuft jedoch nicht völlig linear, sondern infiltrativ und mit Unterbrechungen. Mit- und gegeneinander arbeiten auf lokaler wie globaler Ebene Gegentendenzen, die einen Schwellencharakter aufrechterhalten. Zu Prozess und Repetition, deren Zusammenwirken auf einer großformalen Ebene eben gefolgt wurde, treten Ritornell und Permutation. Dem gerichteten Prozess stehen sie in der Weise gegenüber, dass nicht je eines alleine gilt, sondern mindestens zwei sich gegenseitig in der Schwebe halten. Der Titel der Komposition benennt die ungleichen Zweierbezüge: Bei der Asymmetrie geht die Wahrnehmung vom Ideal der Symmetrie aus, um erst im Vollzug der zeitlichen Darstellung die Nichtidentität der Teile zu erfahren. Wenngleich sich die Paar-Kombination aller Prinzipien zeigen lässt, muss eine Auswahl an Kombinationen hinreichen, um das Weder-Noch, das die Komposition prägt, aufzuzeigen. Auf lokaler Ebene verhalten sich Repetition und Prozess reziprok: Um diesen erfahrbar werden zu lassen, müssen Teile wiederholt, andere verändert werden. Die kontinuierliche Dehnung oder Stauchung der Distanzen zwischen repetierten Mustern gehört dabei zu den einfachsten Verfahren (vgl. Vibraphon S. 1). Komplexer ist das, was sich im Flötenpart von S. 1 bis 3 vollzieht: Eine 51 In Cello and Orchestra (1972) findet, wenngleich in kleinerem Maßstab, zum Schluss hin eine ähnliche Strategie mit Repetitionen Anwendung (Ostinati T. 158165, Repetitionen T. 268-324). Bei den anderen Solo-Werken dieser Reihe übernehmen Repetitionen jedoch nicht diese Rolle der Herbeiführung eines Endes.

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repetierte melodische Gestalt verändert sich durch Verkürzung und Angleichung der ursprünglich variablen rhythmischen Werte allmählich zu einer rhythmischen Figur, dann zu einer dissoziierten Geste. Während dieses Prozesses beschreitet der Percussionspart zur gleichen Zeit den umgekehrten Weg von einer Drehfigur in ornamentaler Begleitfunktion zum chromatischen Melodiefragment (S. 3, 3. Akkolade). Im Gegensatz zur Repetition bildet das Ritornell einen Rekurs, dem Anderes vorausgegangen ist, es ist das Resultat zweier Milieus.52 Die einfachste Form des Ritornells in Crippled Symmetry ist der geringfügig veränderte Rekurs: Im Klavierpart wird etwa Akkolade 1 von S. 1 durch Akkolade 1 von S. 4 intern revers wiederaufgegriffen. Der Zwischenraum ist bei solchen Ritornellen hochvariabel. Das zweistimmige Modul des Vibraphon/Glockenspiel-Parts von S. 7, Akkolade 3, etwa begegnet uns sehr viel später wieder auf S. 20, Akkolade 2 (nach über 35 Minuten). Neben solch einfachen Rekursen sind auch intrikatere Bezüge möglich: Nach einer Unterbrechung durch eine Zweitonkonstellation in der Bassflöte (des/h) und einer recht raschen Komplementierung des Chromas (S. 4, Akk. 2) wird der Flötenpart von S. 1 bis 3 auf S. 5 und 6 nicht nur wiederaufgegriffen, sondern zugleich rückgängig gemacht und mittels interner Wiederholungen verlängert (und so asymmetrisch im Verhältnis zur ersten Partie gestaltet). In Hinblick auf die Mobile-Idee ist es wichtig festzuhalten, dass diese Rekurse lediglich innerhalb der jeweiligen Stimmen stattfinden, der Kontext im Ensemble sich aber stetig verändert. Das Verhältnis von Ritornell und Permutation betrifft global diese voneinander unabhängige Ritornellbildung in den Parts: Sie macht die Form der Komposition insgesamt labyrinthisch, aber aufgrund des immer wieder memorierten viertönigen chromatischen Grundsets (1: c–es) nicht beliebig. Auf lokaler Ebene gibt es Ritornelle, die dieses Grundset in der Oktavlage der Töne permutieren, während rhythmische Ähnlichkeiten es hin und wieder gestisch kenntlich halten. Gebrochene Symmetrie strukturiert die Tonordnung von Beginn an. Dem Grundset c–es ist asymmetrisch das Komplementärset (2: c-h-b-ges) im Klavierpart beigesellt. Grafik 2 zeigt reduktiv, wie bis S. 10 (ca. Minute 19) beide Sets vermischt und erweitert werden. Aus der Ausbreitung resultiert das chromatische Dreitonset 3 f-e-dis (ab S. 9, Minute 16), das lange stabil bleibt, bevor die Einzeltonrepetition (ebenfalls auf der Basis eines chromatischen Dreitonsets c– b) infiltriert wird. Aus dem rein chromatischen Set 1 und dem asymmetrischen Pendant c-h-b-ges zweigen sich einerseits das Einzelton-Repetitions-Set c-h-b 52 Vgl. DELEUZE/GUATTARI, 1997, S. 426.

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als auch eine Gruppe diatonischer Sets ab, die auf S. 16, im Wechsel zwischen Flöte und Bassflöte, nackt, skalar in den Vordergrund geschoben werden. Im Vergleich zum melodischen Stil des Beginns und der zaghaften Exposition des Tonvorrats stellt dies abermals einen eigenartig unscharfen Bruch dar. In Rothko Chapel standen sich chromatisch und diatonisch geprägte Sphären partienartig gegenüber wie unterschiedlich gestaltete Reliefplatten. Crippled Symmetry knüpft die Tonvorräte ineinander bzw. mischt dem chromatischen Mono-Flächenwert die weichere Diatonik bei. Permutation und Prozess bilden eine Differenz, die v. a. im letzten Drittel des Stücks wirksam wird: Während das Repetitionsraster an Kontinuität gewinnt, werden Seiten mit dem Grundset und solche mit komplexeren Sets eingefügt. Beispielhaft dafür steht S. 33. Hier lässt sich lokale und globale Ebene kaum sinnvoll trennen, denn wegen der zeitlichen Drift repräsentiert die Seite keine partienartige Koinzidenz, sondern bildet Schichten unterschiedlicher Dichte, auseinandergezogen in der Zeit. S. 33 ist die zweite Seite nach der Stabilisierung des Repetitions-Rasters, die als Zwischenraum in den Prozess der Repetitions-Rastrierung eingelassen ist. Die andere Zwischenraum-Seite (S. 30, Abb. 2) bildet ein weiteres Fenster, einen Rückblick auf die figurative Reichhaltigkeit des ersten Drittels der Komposition, hier allerdings verdichtet auf eine Schwundstufe. Die als vermeintlich synchrone Arpeggio-Figur notierte Struktur verfließt in der Aufführung. Hierdurch wird der Rahmen des Fensters, durch den die zeitlich zurückliegende figurative Flexibilität memoriert wird, selbst unscharf.53

53 Dieses Zerfließen setzt eine gewissenhafte Rückbesinnung aufs Grundtempo während der Aufführung voraus. Die musikalisch hochgelungenen Aufnahmen mit Eberhard Blum, Jan Williams und Nils Vigeland (1991: hat ART CD 2-6080) bzw. Dietmar Wiesner, Robyn Schulkowsky und Markus Hinterhäuser (1994: col legno WWE 2CD 31874) setzen dies adäquat um. Skurril ist die Aufnahme mit Musikern von The California EAR Unit (Dorothy Stone, Arthur Jarvinen und Vicki Ray; 1999: Bridge Records 9092 A/B), die die Partitur offenbar seitenweise interpretieren – möglicherweise das Resultat einer Studioaufnahme in mehreren Takes. Wenngleich gründlich an der Intention der Partitur vorbeigehend und auch falsch (die Pausen zwischen den Seiten werden beliebig ausgelegt), ist dies eine interessante Einspielung, weil sie genau in einem Zwischenraum zwischen Graphie und intendiertem Ergebnis angesiedelt ist

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Gr. 2: Ausbreitung der Sets von S. 1 bis 16 (Instrumentenangaben wie bei der Tabelle oben, 1.1 = Seite 1, Akkolade 1)

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Abb. 2: Crippled Symmetry, S. 30. © Copyright 1983 by Universal Edition (London) Ltd., London.

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Crippled Symmetry nimmt eine Position im medialen Bruch zwischen Notation und Performance ein und produziert aus diesem Zwischenraum heraus zeitliche und klangliche Unschärfe: Die Schärfe grafischer Gliederung der Partitur wird in den Flow einer performativen Zwischenräumlichkeit dekonstruiert. Überdies erhält die Linearität von Prozessen stets ein Gegengewicht durch Diskontinuitäten und rückläufige Prozesse. So gewinnt das Stück global an metrischer Stabilität, verliert zugleich aber an rhythmischer und figurativer Beweglichkeit. Der Eintritt neuen Materials wie auch Rekurse generieren Vordergrund- und Hintergrundsituationen in der Wahrnehmung der Parts. Die zeitliche Drift setzt die Wahrnehmung solcher Aufmerksamkeitsattraktoren hingegen wiederum einer solchen Unschärfe aus, dass sie eher auf das Ganze, mit zunehmender Aufführungszeit auf das Format lenkt. Crippled Symmetry mag ‚lang‘ erscheinen, doch für die Erfahrung und das Erinnern der großen Varianz der sich auslöschenden Gegensätze bietet sein Zeitrahmen ein adäquates Format. Wahrscheinlich war für diese Kunst der Formatwahl die Arbeit mit klar abgegrenzten Partien und semantischen Distanzen, wie sie in Rothko Chapel ausgeprägt sind, richtungsweisend. Die Aufführung von Crippled Symmetry lässt klare strukturelle Grenzen zwar verschwimmen, distant wahrnehmbar bleiben sie aber dennoch, als Schwellenphänomene.

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Zwischen strengem Strukturalismus und vagen Wegweisern. Die Verknüpfung kultur- und gattungsgeschichtlicher Horizonte im Schaffen Bernd Alois Zimmermanns JÖRN PETER HIEKEL

Die Musikwissenschaft hat lange Zeit den Fehler gemacht, Bernd Alois Zimmermanns ‚pluralistischen‘ Ansatz als einen primär gegen die serielle Musik gerichteten zu bezeichnen, um Zimmermann zuweilen sogar zu einer Leitfigur einer „gegen Darmstadt“ opponierenden Bewegung oder zum Außenseiter zu stilisieren. Mit guten Gründen sprach der Komponist selbst angesichts seines eigenen Schaffens gern von einer „postseriellen“ Phase der neuen Musik. Aber er verstand dieses „post“ nicht in erster Linie als Bruch, sondern als logische Fortsetzung und Kontinuität. Und er empfand die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg gerade aufgrund der durch die serielle Musik erfolgten Neuerschließung kompositorischer Möglichkeiten und die damit untrennbar verbundene Überwindung althergebrachter Hierarchien und Dispositive sogar als günstig dafür, einen neuen „Personalstil zu entwickeln“.1 Im Vorliegenden geht es darum, diese Einsichten mit Blick auf einige Werke Zimmermanns und auf einige wichtige Kennzeichen seines „Personalstils“ zu vertiefen und zumindest anzudeuten, welche Strategien und produktive Energien in ihnen speziell im Rekurs auf gattungs- und kulturgeschichtliche 1

ZIMMERMANN, 1956, o. S.

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Traditionen entfaltet werden. Dabei wird sich zeigen, dass Zimmermann zu jenen Komponistenpersönlichkeiten gehörte, für die das Agieren in einem kulturgeschichtlichen „Zwischenraum“, getragen von dem Ansinnen, unterschiedlichste Horizonte miteinander verschmelzen zu lassen, ohne eindimensional in einem einzigen Erfahrungsraum navigieren zu müssen, die maßgebliche Grundeinstellung war. Diese Grundeinstellung entfaltete sich bereits im Laufe der 1950er-Jahre und kommt in sehr unterschiedlichen Ansätzen, kompositorischen Formaten und Werkstrategien zum Zuge, die vor allem an einem entscheidenden Punkt konvergieren: in ihrer Differenz gegenüber jener Linearität und Eindimensionalität, die durch eine Einlösung von Gattungsnormen oder Beschränkungen auf andere Gewohnheiten der europäischen Musiktradition gegeben sein kann. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich in der Zimmermann-Forschung ab, welche Eigenwilligkeit und Originalität und welche Anknüpfungspunkte für die nachfolgenden Generationen daraus resultieren. Ausgehend dieser Einsicht, die wiederum eines der Probleme des musikwissenschaftlichen Diskurses tangiert, werden im Vorliegenden zunächst einige exemplarische Überlegungen zur neueren Musikgeschichte und mit ihr verbundene Rezeptionsdefizite formuliert, um auf dieser Folie einzelne gerade auch für Zimmermann charakteristische neue Gestaltungs- und Denkweisen zu skizzieren. Dies geschieht mit Seitenblicken auf verschiedene andere prägende Komponisten – insbesondere auf Beschreibungsansätze Helmut Lachenmanns, die auch für die Auseinandersetzung mit Zimmermann hilfreich sein können. Dabei soll Zimmermanns spezifische Art des Komponierens im Horizont von Impulsen nicht nur musikalischer, sondern auch nichtmusikalischer Traditionen reflektiert werden. Besonders geht es um den für ihn so essentiellen Modus der Öffnung gegenüber anderen Künsten, aber auch um seine Auseinandersetzung mit Igor Strawinsky. Beides dürfte Zimmermanns ebenso ungewöhnliche wie zukunftsweisende Strategien der Verschränkung von gattungs- und kulturgeschichtlichen Erfahrungshorizonten, gleicherweise beflügelt haben. Aus diesen Strategien, die auf transdisziplinäre Zwischenräume hinauslaufen, folgt die für das Erfahren von Zimmermanns Kompositionen grundlegende Einsicht, dass man diese nur dann wirklich adäquat erlebt, wenn die körperlichen, performativen und (halb-)szenischen Dimensionen nicht ausgeklammert bleiben. Diese für das epochale Musiktheaterwerk Die Soldaten längst geläufige Einsicht, die eine konzertante Aufführung nahezu unmöglich machen und bei einer szenischen Realisierung den für das Konzept essentiellen Ausgriff auf räumliche, filmische und tänzerische Gestaltungsmittel dringend einfordern, kann namentlich auch

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auf die von der Idee des Balletts geprägten Werke des Komponisten übertragen werden. Bei Letzteren, aber gleichermaßen auch in Kompositionen, die auf bestimmte Traditionen von Instrumental- oder Vokalmusik hinauslaufen, ist die Idee des „Zwischenraums“ produktions- wie rezeptionsästhetisch besonders signifikant. Sie besagt, dass der Umgang mit anderen Kunstformen (einschließlich medienbestimmten wie Hörspiel oder Film) ebenso wie auf Erfahrungsmöglichkeiten aus differenten kulturellen Kontexten sich zwar auf bestimmte Phasen der körperlichen, bildlichen oder szenischen Aktivität beschränkt, die mitunter nur punktuell oder andeutungsweise erscheinen, aber doch zugleich zu entscheidenden Faktoren der Gestaltung wie der Interpretation werden.

Zimmermann im Kontext des (post-)ser iellen Komponierens Erst in jüngerer Zeit wuchs im Musikdiskurs das Bewusstsein dafür, dass nicht bloß der um 1910 von einigen Komponisten vollzogene Schritt zur Atonalität ein substanzieller Versuch der Öffnung und Neuerschließung kompositorischer Möglichkeiten war, sondern in entsprechender Weise auch die nach 1950 entfaltete Idee der seriellen Musik verstanden werden muss. Im Gegensatz zu dem, was die früher häufig verwendete Formel von der ‚Stunde Null‘ suggerierte, ging es dabei keineswegs bloß um Suspendierungen bestimmter prägender Elemente und Strategien der abendländischen Musiktraditionen, sondern auch um vielerlei Anknüpfungen an sie, obschon die Momente der Kontinuität, die mit den manchmal grundlegenden Neuprägungen verschränkt waren, gewiss oft eher implizit, subtil und schattenhaft als auftrumpfend oder (über-)deutlich waren. Ein zentrales Motiv des umfassenden Neuanfangs war im schon angedeuteten Sinne der Abbau jener Hierarchien, die mit dem tonalen System untrennbar verbunden waren. Aber in diesem Rahmen gab es durchaus Raum für die Überzeugung, dass sich verschiedenste gestische, syntaktische, semantische, symbolische oder vor allem klangliche Momente zumindest dann, wenn sie fein genug dosiert waren, auf produktive Weise zu Konstellationen fügen ließen (und als solche hörend oder ahnend erlebt werden konnten), die von bestimmten Resonanzen früherer Musik sowie von anderen Elementen der abendländischen Kulturgeschichte durchzogen waren. Insofern ist die serielle Musik trotz ihrer zum Teil strengen Ausprägungen in den 1950er-Jahren keineswegs bloß als radikaler Strukturalismus oder Tabula rasa zu charakterisieren, und schon gar nicht – wie

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dies in weiten Teilen des damaligen Musikschrifttums behauptet wurde – als Akt totaler Vereinheitlichung (Zimmermanns eben zitierten Überlegungen zum „Personalstil“ sind ein völlig plausibler Widerspruch gegenüber dieser Behauptung). Sie war vom Habitus der Neuentdeckung beflügelt, aber zugleich eine Situation des Übergangs sowie eine Entdeckung und Entfaltung neuer Möglichkeitsräume. Oft sind diese als Zwischenräume zwischen Abstraktion und Konkretion zu fassen und in einem durchaus neuartigen Sinne als Ausformung einer kompositorischen oder einer rezipierenden Aktivität, die auf beiden Ebenen ein Erleben von Nichteindeutigem, von Zeichen, Spuren, Resonanzen, aber auch von räumlichen und performativen Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb eines von Abstraktion stärker als je zuvor beherrschten Feldes meint. Ganz in diesem Sinne sprach der ungarische Komponist György Kurtág nach seiner Erfahrung mit Stockhausens seriellem Raum-Stück Gruppen: „Wenn Dostojewski gesagt hat, die ganze russische Literatur komme aus dem Mantel von Gogol, dann kommt die ganze Musik des 20. Jahrhunderts nach 1950 aus Stockhausens Gruppen.“2 Es geht einem Werk wie diesem, bei dem Kurtág sogar Spuren der Musik von Alban Berg entdeckte, um das Vermögen, das zugleich zu vergegenwärtigen, zu verschleiern und zu befragen, was György Ligeti „Fetzen, Floskeln, Splitter und Spuren aller Art“3 nannte und als Indizien einer „nicht-puristischen Musik“ charakterisierte. Stockhausen und Ligeti4 waren nicht nur für Kurtág wichtige Impulsgeber, ohne die sein Schaffen wohl kaum angemessen verstanden werden kann,5 sondern in gewissem Maße sicher auch für Zimmermann. Gerade hier setzt sein Schaffen an, um das in Rede stehende Spannungsfeld auf vielfältige, immer wieder andere – und sich dabei von allen anderen genannten Komponisten durchaus unterscheidende – Weise auszugestalten. Zimmermanns Werke navigieren mit Beharrlichkeit im Zwischenraum von Abstraktion und Konkretion. Akzentuiert man die Tatsache, dass die zum Teil radikal neuen Gestaltungsweisen der 50er- und 60er-Jahre mit gezielten Rückgriffen auf Strategien und (vor allem) auf ästhetische Leitvorstellungen früherer Musik verbunden waren, sollte man einen anderen Aspekt keinesfalls unterschlagen: die Tatsache, dass einige Konzepte und Vorstellungen auf die künstlerischen Nachbarbereiche 2 3 4 5

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Zit. nach STENZL, 1998, o.S. G. Ligeti, zit. nach NORDVALL, 1971, S. 41. Das Folgende EBD. Mit Ligeti war Zimmermann gut befreundet, aber auch mit Stockhausen gab es einen engen Austausch. Gruppen blieb für Kurtág (ähnlich wie für Helmut Lachenmann, vgl. hierzu Anm.13) auch später ein zentrales Werk.

Zwischen strengem Strukturalismus und vagen Wegweisern

verweisen. Gemeint sind dabei erstens die anderen performativen Künste, zweitens die bildenden Künste und drittens die Literatur. Mit Blick auf Letztere äußerte Pierre Boulez in signifikanter Weise: „Im Grunde genommen ist mein gegenwärtiges Denken mehr aus Reflexionen über die Literatur als über die Musik hervorgegangen. [...] Ich will auf die beiden Autoren hinweisen, die mich in besonderem Maß zum Nachdenken geführt haben und deren Einfluß mich zutiefst geprägt hat: Joyce, Mallarmé. [...] Wenn man die Struktur der beiden großen Romane von Joyce näher untersucht, wird man nicht ohne Bestürzung gewahr, wie weit hier die Konzeption des Romans fortentwickelt wurde. [...] von daher rühren Logik und Zusammenhang dieser erstaunlichen, ständig wachen Technik, die expandierende Welten hervorbringt.“6

Die für weite Teile der Musik der 50er-Jahre charakteristische Situation des Übergangs zeigte sich darin, dass Reduktionen und sogar Restriktionen mit jenen „expandierende[n] Welten“ verband, von denen hier die Rede ist. Das Zurückdrängen vieler Gewohnheiten des Musikmachens zielte auf eine ganz neue, von spezifischer Wachheit getragene Musikerfahrung. Dies hat nicht allein mit dem Erproben und Entfalten von Strukturen, Techniken und syntaktischen Elementen zu tun, sondern in immer wieder spezifischer Weise auch mit dem, was Paul Valéry so schön als „Zögern zwischen Klang und Sinn“ 7 bezeichnete. Denn selbst wenn ein zentrales Werk der 50er-Jahre den Begriff „Struktur“ im Titel trägt, gehört zur Entwicklung der seriellen Musik bereits zu dieser Zeit – und sogar in dem hier gemeinten, als radikaler Akt der Befreiung geltenden Schlüsselwerk Structures Ia von Boulez – auch die bewusste Reflexion von Möglichkeiten der Sinnzuschreibung. Indem man dies beharrlich verkannte und den Aspekt der Negation überbetonte, wurde im Schrifttum über serielle Musik lange Zeit etwas übersehen, das gerade für einen Komponisten wie Zimmermann wichtig war und sogar eine entscheidende Voraussetzung weiter Teile seines Schaffens markiert. Trug doch das eben Angedeutete wesentlich zu Zimmermanns Grundeinsicht bei, dass sich auf den in den frühen 50er-Jahren entwickelten Ideen der seriellen Musik, einschließlich der im wörtlichen Sinne raumöffnenden Strategien, künstlerisch aufbauen ließ. Trotz der allenthalben bemerkbaren Differenzen zwischen seinem eigenen, von ihm selbst „pluralistisch“ genannten Ansatz und einer wirklich 6 7

BOULEZ, 1960, S. 164f. VALÉRY, 1959, S. 58.

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strengen Handhabung jener seriellen Konzepte, die man in den allerersten Jahren des Neuanfangs in Einzelfällen erlebte (und die Boulez rückblickend als „Tunnel von zwei Jahren“8 bezeichnete), sollte man diese substanziellen Bezüge nicht übersehen. Dementsprechend äußerte Zimmermann im Jahre 1961 während der Arbeit an seiner Oper Die Soldaten: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die sogenannte ‚serielle Phase‘ der neuen Musik ein Erfahrungsmaterial von höchstem Wert gezeitigt hat und dass damit Grundlagen geschaffen wurden, die den Blick auf das weitverzweigte und umfassende Phänomen der Gesetzmässigkeit der neuen Musik, und nicht dieser allein, freigegeben haben.“9 Eine solche Reflexion – und dabei insbesondere ein Begriff wie der des „Erfahrungsmaterials“ – ist typisch für Zimmermann. Gehört er doch, ähnlich wie der 17 Jahre jüngere Helmut Lachenmann, zu jenen namhaften Persönlichkeiten der neueren Musikgeschichte, die nicht nur produktiv an die Ideen des Neuanfangs der 50er-Jahre anzuknüpfen vermochten, sondern die zudem mit großer Hingabe in Texten und Stellungnahmen darüber reflektierten, wie diese zu beschreiben sind. Das deutet in beiden Fällen auf ein stark entwickeltes Geschichtsbewusstsein. Es kommt auch in ihren Werkkonzeptionen jeweils zum Tragen, ist darin sogar zum Teil von integraler Bedeutung. Zu dieser Gemeinsamkeit passt es, dass mit Ludwig van Beethoven, Anton Webern und Igor Strawinsky (von dem mit Blick auf Zimmermann noch die Rede sein wird) gleich drei Komponisten früherer Zeiten zu prägenden Impulsgebern beider Komponisten gehören – und ihr gesamtes Schaffen jeweils vielfältige Reflexe auf diese Impulse enthält. Im Vorliegenden wird es nicht darum gehen, diesen Gemeinsamkeiten zwischen Zimmermann und Lachenmann ausführlich nachzugehen (obwohl dies erhellend sein kann, wenn man auch die tiefgreifenden Unterschiede adäquat beschreibt). Aber die Berücksichtigung einzelner Versuche Lachenmanns, das Wesen der seriellen Musik und zugleich ihre Möglichkeitsräume begreifbar zu machen, kann im eingangs schon angedeuteten Sinne für die Auseinandersetzung mit den für Zimmermanns Schaffen charakteristischen Konzeptionen der Verklammerung von Gattungstraditionen und von differenten Erfahrungshorizonten produktiv gemacht werden. 8 9

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Vgl. „Die serielle Musik war ein Tunnel von zwei Jahren“. Über Außenseiter, Professionalität und subtile Wagner-Einflüsse. Schlussdiskussion mit Pierre Boulez, in: JUNGHEINRICH, 2010, S. 117-123. Bernd Alois Zimmermann, Werkkommentar vom 24. August 1961 [zur Oper Die Soldaten], zit. nach: HENRICH, 2013, S. 82.

Zwischen strengem Strukturalismus und vagen Wegweisern

Ersichtlich ist dies etwa anhand des Begriffs der „Aura“, wie ihn gerade Lachenmann immer wieder bei Beschreibungen des seriellen Komponierens verwendet (dies sogar bis heute). Lachenmann sucht mit ihm zunächst Bezüge zum eigenen kompositorischen Schaffen kenntlich zu machen. Doch gerade damit liefert er zugleich ein Beschreibungsmodell, das für den Umgang auch mit vielen anderen Werken dieser Zeit hilfreich sein kann. Er akzentuiert den Begriff der Aura nicht unbedingt im Horizont der Überlegungen von Walter Benjamin (obwohl diese ihm geläufig sind), sondern primär als Gegenimpuls zu allen von Nüchternheit und Strenge getragenen Momenten des Komponierens. In seinem Text Vier Grundbestimmungen des Musikhörens aus dem Jahre 1979, der viel Grundlegendes zu weiten Teilen der Neuen Musik nach 1950 formuliert, heißt es hierzu: „Der Aspekt der Aura scheint mir die entscheidende Ergänzung und das wichtigste Korrektiv zum Autonomie-Anspruch des Strukturdenkens zu sein.“10 Und sieben Jahre später ist im Text Über das Komponieren die Forderung zu lesen, „daß jene expressiven Vorausbestimmungen (‚Zusammenhänge‘), die ein Klangmaterial in sich trägt, nicht blind überrollt, isoliert, vergewaltigt werden.“11 Das mit dem Begriff der Aura gemeinte Grundprinzip seriellen Komponierens, das auf ein dialektisches Denken deutet, gilt für weite Teile der Musik der 50er-Jahre, im Falle Zimmermanns (wie auch Lachenmanns) aber sogar weit über dieses Jahrzehnt hinaus. Es besitzt zumindest immer dann Relevanz, wenn die seriellen Verfahrensweisen – durchaus unabhängig vom jeweiligen Grad der Strenge – den Habitus des Komponierten in mehr als vordergründiger Weise prägen und für das Gesamtgefüge konstitutiv sind. Das ist, um zwei auf den ersten Blick extrem unterschiedliche Beispiele zu nennen, sowohl in Structures Ia von Boulez wie in Zimmermanns Die Soldaten der Fall – wo das, was Boulez in seinen Gedanken zu Literatur-Bezügen der Musik als „expandierende Welten“ bezeichnete, geradezu explosive Energien erhält.12 Das hier in Rede Stehende meint in vielen Fällen gerade im Werk von Zimmermann das Aufscheinen von Erinnerungsspuren und Erfahrungshorizonten. Aber zugleich umfasst es das, was Lachenmann etwa in seinen Betrachtungen zur Musik von Luigi Nono oder auch zu Karlheinz Stockhausens Orchesterwerk 10 LACHENNMANN, 1996, S. 61. 11 EBD., S. 79. 12 Zum früher oft unterschätzten Bezug Zimmermanns zum Musikdenken von Boulez passt es, dass er während seiner Zeit in Rom selbst Konzerte zu organisieren suchte, bei denen seine eigene Musik gerade mit Structures Ia von Boulez kombiniert wurde, und dass ein Werk wie Le Marteau sans maître in seinen Reflexionen über Musik immer wieder vorkam.

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Gruppen besonders akzentuierte: das Vorhandensein von untilgbaren Ausdrucksmomenten. Sucht man im Sinne Lachenmanns die Tendenz zur Zerstörung der Aura sogar als zentralen Modus strukturalistischen Komponierens zu bezeichnen, sollte man mit Blick auf die Situation des Hörens gerade diese Untilgbarkeit hinreichend berücksichtigen. Nun steht außer Frage, dass das Verhältnis zwischen abstrakten und konkreten Momenten in der Musik nicht nur dieser Zeit sehr stark variiert. Der Aspekt der Aura kann sich dementsprechend in manchen Fällen schlicht auf jene Erfahrungshorizonte beziehen, die ein Instrument oder auch die Stimme ins Spiel bringen. Der Kontrast zur strukturalistischen Seite und zur Abstraktion ist dann bereits als bewusster Widerspruch zu deren Dominanz oder zu deren Vereinnahmungs-Tendenz zu charakterisieren. Schon in Structures Ia, dem wohl strengsten Werk der 50er-Jahre, lässt sich dies geltend machen, berücksichtigt man die undomestizierbare klangliche Intensität und Energie der beiden Klaviere (in manchen Aufführungen ist dies die unverkennbar emphatische Seite des Stückes). Man ist angesichts dieser Einsicht sogar versucht, Structures Ia und die mit ihm bezeichnete musikhistorische Situation als eine Art Nadelöhr der damaligen Entwicklung zu verstehen, durch das die unterschiedlichsten kompositorischen Entwicklungen gewissermaßen hindurchgingen: als besonders radikalen Moment, von dem aus sich kompositorische Entwicklungen in höchst unterschiedliche Richtungen beschreiben und nachvollziehen lassen. Auch Lachenmanns Ansatz einer „musique concrète instrumentale“ wurde im Bewusstsein dieses strengen Referenzwerks komponiert und zeigt, welche Energien die undomestizierbare klangliche – in Lachenmanns eigenen Worten gesagt: die nicht „herausserialisierte“– Seite von Instrumental- oder Vokalmusik zu entfalten vermag, wenn sie auf einen strengen Strukturalismus trifft. Dies geschieht in manchen seiner Werke so, dass das nicht Domestizierbare den Strukturalismus selbst gewissermaßen zu Fall bringt.13 Dass es im Schaffen Zimmermann ebenfalls einige vergleichsweise strenge Werke gibt, sollte man ebenso wenig übersehen wie die Tatsache, dass selbst in 13 Gerade dies, resultierend aus der Verknüpfung der klanglichen mit der zeitstrukturellen und syntaktischen Dimension, ist für Lachenmanns Komponieren, das an diesem Punkt maßgeblich von der Auseinandersetzung mit Webern, aber auch mit Stockhausens Gruppen geprägt ist, so wesentlich. Und diese Seite wird in späteren Zeiten, in denen sich sein Konzept einer „Musik mit Bildern“ entwickelt, sogar noch entschiedener ausgebaut. Spätestens dann lässt sich sogar auch bei Lachenmann, im Sinne des eben wiedergegebenen Satzes von Boulez über Joyce, von „expandierenden Welten“ sprechen.

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vielen üppigeren, von Emphase bestimmten Kompositionen, bis hin zur schon genannten Oper, serielle Gestaltungen eine erhebliche Rolle spielen. Das nicht „Herausserialisierbare“ tritt dabei umso stärker hervor. Freilich ist die Grundsituation immer noch so, dass das Entfalten von Energien wie ein Aufbegehren gegen die seriellen Strukturen und als deren Dekonstruktion erscheint. Auch der Begriff der Aura kann, das sei nochmals betont, zur Erläuterung mancher Werke mit Blick auf ihre vokalen und instrumentalen Konstellationen gewiss hilfreich sein. Bewegen diese sich doch in höchst variabler Weise im Spannungsfeld zwischen der Bewahrung und der Zerstörung der Aura. Man ist sich beim hörenden Erleben dieser Werke stets dieser Doppelheit bewusst – was eine jener Idee einer „neuen Wahrnehmung“ entspricht, die für nicht wenige namhafte Komponistenpersönlichkeiten der letzten Jahrzehnte grundlegend wurde. Solche WerkKonzepte, für deren Spannungsfeld man unschwer ebenfalls den Begriff des „Zwischenraums“ ins Spiel bringen kann, lassen sich dabei auch auf das beziehen, was etwa Lachenmann in seinen Analysen von Werken von Stockhausen oder Nono vor allem fokussierte, nämlich die auf bestimmte emphatische, magische, klangsinnliche oder spirituelle Ausdruckstraditionen verweisenden Momente. Noch eine weitere Erklärung, die Lachenmann zur Beschreibung des Nutzens und der Potenziale der seriellen Musik formulierte (in diesem Falle sogar erst mehr als 20 Jahre nach Zimmermanns Tod) ist in diesem Zusammenhang zur Charakterisierung auch von Zimmermanns Grundhaltung hilfreich: „[…] erst wenn einmal der Boden weggenommen ist, lassen sich immer wieder neue, vielleicht provisorische Räume imaginieren, in denen so etwas wie musikalischer Sinn gestiftet wird. […] Ich merke plötzlich, […] daß da in unvertrauten Räumen jetzt etwas passiert, was Logik oder Sinn und dadurch expressive Kraft enthält.“14

Einsichten wie diese sind dazu angetan, das eingangs summarisch mit dem Wort „Möglichkeitsraum“ bezeichnete zu präzisieren, und dies gerade mit Blick auf das von Lachenmann herausgestellte Zusammenspiel von Logik, Sinn und Expressivität (und natürlich auch auf den Faktor der Imagination). Gleiches gilt für die Rede von „provisorischen“ und „unvertrauten“ Räumen.15 14 LACHENMANN, 1994, S. 213f. 15 Und dies gilt, obschon Lachenmann bei seiner Äußerung Zimmermanns Schaffen nicht speziell im Blick hatte (dass er es zumindest teilweise bereits kannte, steht indes außer Frage).

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Eine erhebliche Differenz einiger Werke Zimmermanns zu den meisten Kompositionen Lachenmanns oder zu einem Werk wie Stockhausens Gruppen – das Zimmermann hinsichtlich der Ideen der Raumauffächerung gewiss auf mehreren Ebenen beeinflusst hat – sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Sie besteht darin, dass Zimmermann der Entfaltung und Konsolidierung von Momenten der musikalischen Tradition sowie von Aussage-Elementen jeweils mehr Raum und Gewicht gibt. Dies meint, dass er das Spektrum der Traditionsbezüge sowie der Anschaulichkeits-Grade und damit auch die Relevanz der auf beiden Ebenen sich entfaltenden Gegensätze erheblich vergrößert. Das Spektrum reicht von kurz aufblitzenden, außerordentlich fein dosierten Akzentuierungen bis zu großen, emphatischen Exklamationen, bei denen eher ein Einfluss der Tradition Arnold Schönbergs (die ja bekanntlich auch für einige Werke Luigi Nonos wichtig war) als jene Anton Weberns zum Tragen kommt. Wichtig ist jedoch die Einsicht, dass solche Traditionsmomente so gut wie nie – von der beschwörenden Schluss-Geste des Requiem für einen jungen Dichter vielleicht abgesehen – das letzte Wort erhalten oder zum Monumentalen hinstreben. Das Instabile, Brüchige, Fragen Aufwerfende oder Vage – und damit auch der von Lachenmann reklamierte „provisorische“ Charakter der imaginierten „Räume“ – dominiert in Zimmermanns Musik. Dies gilt selbst dann, wenn es höchst markante Pointierungen gibt, für die unter den Komponisten serieller Musik am ehesten Nono als Vergleichsbeispiel genannt werden kann. Mit guten Gründen hat Lachenmann im eben zitierten Zusammenhang gerade eine Besonderheit von Nono innerhalb des seriellen Komponierens herausgestellt, die darin bestand, dass Nono „keine Angst davor hatte, wieder ‚feierlich‘, ‚innig‘ und ‚pathetisch‘ zu werden“.16 Lachenmann vergaß dabei freilich zu erwähnen, dass zwei der genannten Ausdrucksschattierungen, nämlich das Innige und (noch mehr) das Pathetische, auch in manchen seriellen Werken von Zimmermanns als markante Gegenkräfte zum Strukturellen vorkommen.

Impulslinien und Parallelen Die Relevanz des mit dem Begriff der Aura umschriebenen geht im Falle von Zimmermanns Musik über die auf klanglicher Ebene mitschwingenden Sinnund Erfahrungsmomente sehr deutlich hinaus. Um diese Einsicht zu vertiefen, 16 LACHENMANN, 1996, S. 213.

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erscheint es unumgänglich, noch weitere Traditionslinien zu benennen, die für die der seriellen Musik der 50er-Jahre, aber vor allem für die Werke Zimmermanns Relevanz besitzen. Kernaspekte dieser Traditionslinien sind die durch das Überwinden von Hierarchien erst ermöglichte Neigung zum Spiel mit Andeutungen und Ahnungen sowie das Navigieren an der von Valéry benannten Schwelle von Klang und Sinn. Man sollte zunächst in Erinnerung rufen, dass Anton Webern und Claude Debussy in dieser Phase der Musikgeschichte gleichzeitig zu wichtigen Ahnherren wurden. Explizit sprach Boulez schon in den 50er-Jahren davon, man müsse die von beiden Komponisten ausgehenden Impulslinien gewissermaßen miteinander engführen.17 Doch gibt es – und dies gilt nicht zuletzt für Zimmermann – neben den Ideen von Webern und Debussy sowie dem schon genannten Einfluss von Schönberg gewiss noch weitere Impulse, die zum besseren Verständnis der Musik dieser Zeit zu bedenken sind und dabei im Sinne des eben schon Angedeuteten auch die Grenzen des Disziplinären deutlich überschreiten. Zumindest zwei dieser interdisziplinären Perspektiven seien hier erwähnt: zum einen die Tradition des modernen Tanztheaters, namentlich jenes von Igor Strawinsky, das gerade Zimmermanns Musiksprache ganz wesentlich – und gewiss über die Ballettstücke erheblich hinaus – geprägt hat und für ihn zum Inbegriff eines räumlich-zeitlichen Agierens jenseits von auftrumpfender Überdeutlichkeit wurde; zum anderen die Impulse und Ideen der bildenden Kunst sowie der Literatur. Im Falle Zimmermanns ist hier zunächst der Einfluss von Literaten wie Ezra Pound und James Joyce, auf die Zimmermann selbst so oft hinwies, aber überdies auch die Anregung durch den Maler und Theoretiker Paul Klee zu nennen (dies ebenfalls in auffälliger Parallele zu Boulez, der über Klee sogar ein kleines Buch verfasste).18 Zimmermanns Hinweis darauf, dass ihm in der „sogenannte[n] ‚serielle[n] Phase‘ der neuen Musik ein Erfahrungsmaterial von höchstem Wert“ zuteilwurde, ist kaum trennbar von seiner Überzeugung, serielle Gestaltungen in vortrefflicher Weise mit Erfahrungen und Anregungen unterschiedlichster kulturgeschichtlicher Provenienz kontrapunktieren zu können. Die strukturelle Seite war für ihn ein unüberhörbares Kontrastmittel, ein – wie es in seinen Kommentaren zuweilen explizit hieß – „Sprungbrett“19. Es dient, um diese Metaphorik aufzugreifen, der Beförderung jener enorm vielgestaltigen gegenläufigen 17 Vgl. BOULEZ, 1999. 18 Vgl. BOULEZ,1989/2010. 19 ZIMMERMANN, 1970, S. 100.

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Gestaltungen, in denen in unterschiedlicher Deutlichkeit Traditionelles aufscheint und in neue Konstellationen gebracht wird. Gemeint sind hier Elemente aus den weit gefächerten und einander jeweils überschneidenden Bereichen des Imaginären, Schattenhaften, Halbszenischen, Ephemeren, bewusst Chiffrierten oder Surrealen in seiner Musik. Auch diese Elemente verweisen über Zimmermanns Musik hinaus auf einige jener maßgeblichen Kontinuitäten, durch die die oft als radikal ahistorisch missverstandene Musik der 50er- und 60er-Jahre substanziell mit einer wesentlichen Tendenz der Musik des 19. Jahrhunderts sowie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Berücksichtigt man solche Kontinuitäten, kann auch das Neuartige deutlicher hervortreten. Und dies gilt für Zimmermann in besonderem Maße. Einer der wesentlichen Kristallisationspunkte ist dabei die Kraft des Imaginären, die erst in jüngerer Zeit unter Berücksichtigung auch der neueren und neuesten Musik reflektiert wurde.20 Doch auch eine entschiedene Anbindung an die Realität, und sogar an die politische, ist, wenn man nach den in Musikwerken etablierten „Gegenkräften“ zum neu entwickelten Strukturalismus Ausschau hält, einer der wesentlichen Faktoren. Dies zeigt beispielhaft Nonos Il Canto sospeso, eine Komposition, die in ungewöhnlicher Weise von der Idee des Übergangs geprägt ist und die man wohl auch, über Lachenmanns Beschreibungsmodelle bewusst hinausgreifend, als etwas Dialektisches zu fassen vermag: Sie ist von der Idee erfüllt, Innerliches und zutiefst Existentielles mit einer dezidiert öffentlichen Tradition zu verschränken – und damit eine Art des Zwischenraums etabliert, die zwar auf eine schon zu Beethovens Zeiten reflektierte Form des Übergangs bezogen werden kann, aber in ihrer Zuspitzung der beiden genannten Pole etwas durchaus Neuartiges darstellt.21 Dieses Referenzwerk politischen Komponierens sei hier 20 Vgl. hierzu vor allem: TADDAY, 2016 – wobei sogar anzumerken ist, dass der Buchtitel „Die Musik – eine Kunst des Imaginären?“ mit Blick auf nicht wenige gewichtige Werke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt mit einem Frage- eher mit einem Ausrufungszeichen ausgestattet werden müsste. Darin vgl. insbesondere den grundlegenden Text von Oliver Wiener und Martin Zenck (WIENER/ZENCK, 2016). 21 Sind doch einerseits der Duktus und der Aufbau des Werkes durchaus auf die europäische Oratorientradition bezogen (was manchen Kritikern ebenso suspekt war wie später die Bezüge zur Gattung Oper in den großen Musiktheaterwerken); aber ist doch andererseits das Ganze auf der Basis von eindringlich privaten Briefen komponiert, die vom persönlichen Schicksaal verschiedener zum Tode Verurteilter künden. Dieses Spannungsverhältnis wird dadurch entscheidend zugespitzt, dass sich das Werk gerade durch den Rückgriff auf serielle Gestaltungselemente einer dezidiert nicht öffentlichkeitswirksamen Musiksprache bedient, die an die „musica privata“ früherer Zeiten erinnert. Dies geschieht auf der Basis strenger serieller Setzungen, die auch im Sinne des Titelwortes „sospeso“ die Kontinuität des Singens – und

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deswegen erwähnt, weil es gewiss auch Zimmermann beeinflusste. Es steht dafür, dass es bereits Mitte der 50er-Jahre im Kontext der seriellen Musik die – sogar von manchen Protagonisten dieser Musik missverstandene – Option gab, die neue Art des Komponierens mit dezidierten Weltbezügen zu verknüpfen. Gerade diese Option wurde auch für Zimmermann in einzelnen wichtigen Werken, wie namentlich der Oper Die Soldaten und dem Requiem für einen jungen Dichter, enorm wichtig. Trotz der unverkennbaren Bezüge zu Nonos Werk – die sich auch auf Details wie eine identische Zwölftonreihe erstreckt – sollte man eine Differenz zwischen Zimmermann und Nono (auch in dessen Werken mit Montagecharakter) nicht verkennen. Sie besteht, in manchen seiner Werke, im Ausfalten und Zuspitzen höchst verschiedener Situationen von Widersprüchlichkeit oder sogar Inkohärenz. Oft sind darin die Gegensätze zwischen strukturalistischen Elementen einerseits sowie expressiven und weltbezogenen andererseits von besonderer Tragweite und Nachdrücklichkeit. Doch auch die Grundidee, mit sehr unterschiedlichen Verständlichkeitsgraden sowie verschiedensten Wechseln zwischen ihnen zu operieren, ist typisch für Zimmermann. Nur sehr wenige seiner wichtigen Stücke – eine der Ausnahmen ist das 1970 entstandene Orchesterwerk Stille und Umkehr – warten mit einem weithin einheitlichen Duktus und einer weithin homogenen Art der Integration von klanglichen und/oder semantischen Bezugspunkten auf.22 Für die kompositorischen Situationen bzw. Versuchsanordnungen gleichermaßen charakteristisch ist, dass sie sich jenseits traditioneller Konzepte musikalischer Dramaturgie entfalten, dass sie auf wechselnde Strategien der Verknüpfung von Hören und Sehen, erinnern bzw. imaginieren hinauslaufen und dass dabei Elemente des Körperlichen und (Halb-)Szenischen zum Zuge kommen. Alles dies kann keineswegs hinreichend mit dem Begriff der absoluten Musik beschrieben werden, der die Diskussionen zur seriellen Musik eine Zeitlang viel zu sehr dominiert hat – ohne den Aspekt der Verknüpfung mit Gegenläufigem, das Entbinden zentrifugaler, gewissermaßen aus dem Konzertsaal mithin die Kontinuität eines seit Jahrhunderten etablierten, stark auratischen Faktors – tangieren. Mit allen diesen Mitteln wird die Idee der Verschränkung von Emphase und dezidierter Nüchternheit, die es zumindest punktuell auch schon in einigen Werken von Webern und vor allem Schönberg gab, erheblich zugespitzt. Zu diesem Aspekt des „Zwischenraums“, der auch für verschiedenste Werke von Lachenmann und Mark Andre bedeutsam erscheint, vgl. HIEKEL, 2020. 22 Der Begriff des „Kontinuums“, der gerade für Lachenmanns Musikdenken (aber auch für das Schaffen von etlichen anderen Komponisten) wichtig ist, ist für Zimmermanns Musik meist insofern relevant, dass stark Diskontinuierliches sich als Gegenpol bemerkbar macht.

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hinausführender Kräfte, hinreichend zu bedenken. Gerade dieses Rezeptionsdefizit ist in größerem Kontext zu verstehen, handelt es sich hierbei doch um einen der zentralen Verdrängungseffekte des gesamten musikwissenschaftlichen Diskurses. Dieser führte speziell bei Komponisten wie Boulez, Nono oder Stockhausen gleichermaßen dazu, dass man in ihren Werken der 50er-Jahre die Bezüge zur Tradition schlicht ignorierte und umso überraschter (und zum Teil auch kritischer) auf explizite Traditionsbezüge in späteren Werken reagierte – HeinzKlaus Metzgers mit Blick auf Nonos Musiktheater verwendete polemische Formel vom „seriellen Pfitzner“ ist dafür ein bekanntes Beispiel. Doch dieser Verdrängungseffekt erzeugte, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, im Umgang mit der Musik von Iannis Xenakis eine Einseitigkeit, die zwar alle Bezüge zum Architektonischen und zur Stochastik sorgsam darlegte, aber bei allem Neuartigen die Relationen zu kulturgeschichtlichen Traditionen sowie die Weltbezüge schlicht ignorierte oder zumindest herunterspielte. Alles dies begünstigte die Tatsache, dass man in musikwissenschaftlichen wie vor allem musikjournalistischen Publikationen jahrzehntelang von einfachen Dichotomien ausging und dazu neigte, bestimmte Persönlichkeiten entweder ganz zu ignorieren oder ihre Musik (implizit oder explizit) einem traditionalistischen „Lager“ zuzuordnen. Unter den Komponisten, für die dies gilt, ist Zimmermann vielleicht der prominenteste Fall – aber in gewisser Weise kann man Ähnliches auch für Persönlichkeiten wie Luigi Dallapiccola, Karl Amadeus Hartmann, Bruno Maderna oder Henri Pousseur sagen. Sucht man das Besondere von Zimmermanns Schaffen und dessen historischen Ort zu fassen, sollte man eines allerdings nicht unterschlagen: die Tatsache, dass gerade Zimmermann sich mit einem außerordentlichen Maß an Bewusstheit, zu dem auch eine tiefe Neigung zur Selbstkritik gehörte, in den 50erJahren neue kompositorische Gestaltungsmöglichkeiten erschloss. Seine schon zitierten Gedanken zur Relevanz der seriellen Musik stehen dafür beispielhaft. Mit dieser enorm intensiven Neuerschließung hängt der um 1957 vollzogene Stilwandel seines Komponierens zusammen – von dem man behaupten kann, dass er im Felde der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu seinesgleichen sucht – vielleicht einzig der schon erwähnte György Kurtág kann hier, gerade mit Blick auf die zum Teil fast identischen Impulsgeber, als triftiges Vergleichsbeispiel genannt werden.

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Grundlegende Strawinsky-Impulse Im schon angedeuteten Sinne ist im Falle Zimmermanns auch das Interesse für Strawinsky ein wichtiger Faktor dieses Stilwandels. Neben der frühen seriellen Musik sowie verschiedensten Werken und Ideen von Webern, Debussy oder Schönberg dürfte Strawinskys Komponieren zum Kernbestand jener musikalischen Impulse gehören, die Zimmermanns kompositorische Ästhetik maßgeblich prägten. Es sei an dieser Stelle besonders herausgegriffen, weil es für die thematische Ausrichtung des vorliegenden Beitrags besondere Relevanz besitzt. Strawinskys Impulse dürften besonders für den für Zimmermann insgesamt gewiss zentralen Aspekt der reflektierten Transformation älterer Strategien in gegenwartsbezogenes Denken wichtig sein, aber auch für Fragen der Zeitgestaltung sowie für die Idee der Montage höchst unterschiedlichen Materials. Zimmermanns früh nachweisbares Strawinsky-Interesse – bereits im Jahre 1940, als er während des Kriegs in Paris weilte, kaufte er sich Partituren von Strawinsky wie auch von Milhaud23 – deutet unter allen diesen Aspekten auf eine generelle Orientierung, die sich auf unterschiedliche Phasen seines Schaffens erstreckt. Vor allem seine Auseinandersetzung mit Strawinskys Neoklassizismus wurde in der frühen Forschung häufig missverstanden. Denn anders als oft suggeriert, entfaltete sie sich fernab von jedem konservativen Gebaren. Dementsprechend hat er bereits in einer Rezension von 1948, also noch lange vor den entscheidenden Konsolidierung seines eigenen Komponierens, ausdrücklich die experimentelle Seite des Ansatzes von Strawinsky hervorgehoben und seine Diagnose mit kritischen Bemerkungen verknüpft: „Man […] übersieht dabei meist, daß es eben doch ein Neoklassizismus ist, womit auch letztlich der Charakter des Experiments, nämlich eben eine neue Form für die veränderte geistige musikalische Haltung zu finden, betont ist. Das ist bei Hindemith zweifellos nicht in diesem Umfange der Fall, und wenngleich auch die Mittel andere sind, bleibt doch der Gehalt im wesentlichen derselbe.“24

Die sich offenkundig also bereits Ende der 40er-Jahre anbahnende Wandlung im Musikdenken Zimmermanns ist darin besonders signifikant, dass die Würdigung Strawinskys nun gerade von den Strategien Paul Hindemiths abgesetzt 23 Vgl. KONOLD, 1986, S. 28. 24 B.A. Zimmermann, „Hindemith und Brahms im 5. Sinfoniekonzert“ [1948/49], in: ZIMMERMANN, 1998, S. 116. (Hervorhebung: JPH)

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wird. Die neu gewonnene Distanz bezieht sich auf einen Komponisten, der damals vor allem in Deutschland ja ebenfalls stark rezipiert wurde – nicht ohne Ironie verwendet Zimmermann wenig später dafür das Sprachspiel „Hindemithläuferei“25 – und der zunächst auch sein eigenes Komponieren beeinflusst hatte. Doch nun sah er selbst diesen Hindemith-Bezug sehr kritisch und tat offenbar viel dafür, ihn beim Komponieren zu vermeiden. Zimmermanns vielfältige Bezugnahmen auf Strawinsky wurden früher zuweilen auf einen traditionellen Ansatz oder gar einen konservativen Habitus zurückgeführt, ohne die Differenzen speziell zu Hindemith hinreichend zu berücksichtigen.26 Auf welche Weise Strawinskys Ansätze produktiv gemacht werden konnten, zeigt nun freilich besonders deutlich Zimmermanns Komponieren. Und sein Interesse richtete sich gewiss nicht allein auf Strawinskys Werke, die als Inbegriff der Verschränkung von Gattungstraditionen gelten können (eine Tendenz, die sich auf verschiedenste Schaffensphasen erstreckt). Vielmehr bezog sie auch die zugänglichen Schriften ein, namentlich die Musikalische Poetik.27 In einem Beitrag von 1968 zitierte Zimmermann folgende berühmte Sätze daraus, die als eine der Grundauffassungen auch des eigenen kompositorischen Tuns gelten können: „Das Phänomen der Musik ist uns zu dem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen, und hierbei vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen dem Menschen und der Zeit.“28

Zimmermanns emphatische Auffassung von Musik als Zeitkunst dürfte nicht zuletzt darin von Strawinsky nachhaltig geprägt worden sein, wo es um die Idee einer „chrono-ametrischen“ Musik geht (und Pierre Souvtchinskys 25 B.A. Zimmermann, Entscheidung im Material [erstmals erschienen in: Darmstädter Echo, 26. August 1950] in: JUNGHEINRICH, 1998, S. 127. 26 Dieses Defizit überschneidet sich gewiss mit der problematischen musikwissenschaftlichen Strawinsky-Rezeption, die lange Zeit gängig war, oft im Rekurs auf Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik und deren Schönberg-Strawinsky-Dichotomie (freilich zumeist getragen von einer nur verkürzten Rezeption dieser Schrift). Die Realität im Komponieren der 50er-Jahre widersprach allerdings zumindest implizit den Auffassungen Adornos. Wurde doch Strawinskys Musik von Komponisten wie Boulez oder Stockhausen, die bei Olivier Messiaen in Paris studiert hatten, zumindest in ihren ungewöhnlichen Momenten der Zeitgestaltung wahrgenommen. Vgl. vor allem BOULEZ, 1979. Und vgl. RATHERT, 2000, S. 297. 27 Vgl. hierzu die Hinweise bei EBBEKE, 1986, S. 123-125. 28 Zimmermann, Über die Zukunft des Balletts. Ein Extemporale, in: ZIMMERMANN, 1970, S. 47-50, hier S. 47.

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Unterscheidung von psychologischer und ontologischer Zeit29 maßgeblich ist). Zimmermann bestärkten diese Gedanken, die nachweislich ja auch in philosophischen Kreisen rezipiert wurden,30 offenkundig in seiner eigenen mehr und mehr wachsenden Neigung zu Argumentationen grundsätzlicher Art, die ihrerseits ins Philosophische reichen. Und gewiss hat ihn dabei das fasziniert, wofür die Musikalische Poetik besonders stand: für den musikhistorisch seltenen Fall einer Konvergenz zwischen aktuellem Komponieren und elementaren ästhetischen Auffassungen – also um eine spezifische musikhistorische Situation des Übergangs. Überdies aber ging es bei Zimmermanns Strawinsky-Rezeption um ein ganz konkretes, für die Entwicklung der Musik nach 1945 überaus wichtiges Feld, nämlich das Tanztheater,31 das er als ideale Verknüpfungsmöglichkeit von klar definierten und strengen Zeitgestaltungen einerseits und gestischen und expressiven, gleichsam zentrifugalen, aber auch widerspruchsvoll ausgerichteten Kräften andererseits verstand. Strawinskys Ästhetik – und zwar keineswegs bloß das Denken über Zeit, sondern auch die Idee der Verklammerung höchst unterschiedlicher Elemente – war und blieb bis zu Zimmermanns letzter Lebensphase ein wesentlicher Impuls für seinen „pluralistischen“ Ansatz. Sie war grundlegend für dessen fast obsessiv zu nennende Begründung und Legitimation durch theoretische Erwägungen zu Zeit-Aspekten. Doch zugleich suchte Zimmermann die in Strawinskys neoklassizistischen Werken vorhandenen experimentellen Akzentuierungen, die einen Rekurs auf Vorhandenes mit der Tendenz zu Verfremdung, Ausschnitthaftigkeit und Neudeutung, aber auch zu Abstraktion, Stilisierung und Reduktion verbinden, zu potenzieren und auszudifferenzieren. Noch deutlich stärker als Strawinsky zielte er auf Verklammerungen unterschiedlicher künstlerischer Medien jenseits von Verschmelzung, Hommage oder Homogenisierung. Dazu gehören Brüche, die jedes Kontinuum gefährden oder gar suspendieren. Wichtig ist im Falle Zimmermanns gewiss auch jene Frage der Überwindung einer dienenden Funktion, die er selbst im Zusammenhang mit musikalischen Arbeiten für Rundfunk, Film und Theater erlebte. Doch zugleich agierte er im Bewusstsein, dass von diesen Bereichen eminent zu profitieren war (wofür seit den 60er-Jahren beispielhaft die Auseinandersetzung mit Jean-Luc Godard 29 Vgl. BORIO, 2000. 30 Vgl. WEISCHEDEL, 1960, S. 205. Auch in Zimmermanns Nachlass findet sich diese Schrift, versehen mit Annotationen. 31 Nicht zufällig findet sich das eben wiedergegebene Strawinsky-Zitat zur Ordnung von Zeit im Beitrag Über die Zukunft des Balletts. Ein Extemporale.

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stand). Für ihn wurden dabei Strawinskys Ballettkompositionen, bei denen dieser mit Choreografen kooperierte, zum Inbegriff einer Wahrung der jeweiligen Unabhängigkeit und künstlerischen Eigenständigkeit der Ebenen. Dem lag die Überzeugung zugrunde, dass die für die Ballets Russes entstandenen Werke Strawinskys jene experimentelle Haltung bereits begründet hatten, die später kontinuierlich fortgesetzt wurde. Ebenso wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang die Einsicht, dass die besonders bei Strawinsky erkennbare Integration „ballettästhetischer Maximen“32 in die Instrumentalmusik zu einer Hybridität zwischen Instrumental- und Ballettmusik führte. Gerade das dürfte ein Faktor dafür sein, dass es bei etlichen Komponisten nach 1945 ein ausgeprägtes Interesse an dieser Kunstform gab. Doch diese Einsicht verweist, über alle allgemeinen Fragestellungen dieser Zeit hinaus, im Falle Zimmermanns zudem auf zwei weitere Aspekte, die näherer Betrachtung bedürfen: zum einen auf die Frage des Körperlichen in der Musik, zum anderen auf den gerade im Kontext seiner eigenen Ballett-Kompositionen erstmals ausgeprägten Aspekt des Imaginären. In unterschiedlichen kompositorischen Versuchsanordnungen ging es Zimmermann, außer um neue Schattierungen des Klanglichen und ungewöhnliche Entfaltungen von Polyphonie, besonders auch um eine jeweils spezifische Zeichenhaftigkeit und Semantik der Musik sowie um deren Vermögen, bildliche Vorstellungen unterschiedlichster Deutlichkeit aufzurufen bzw. freizusetzen. Alles dies repräsentiert die in seinen Werken – insbesondere in den nach dem Stilwandel entstandenen – sich mehr und mehr entfaltende Tendenz der Verschränkung von Material verschiedener Zeiten und Erfahrungsräume zu einem jeweils höchst dynamischen Gefüge. Oft werden dabei Techniken der Reflexion von (Kultur-)Geschichte verwendet, die zumindest zu seinen Lebzeiten noch weit eher in anderen Kunstformen – wo sie zunehmend den Diskurs prägten – als in der Musik geläufig waren. Und die „gegenläufigen“ Gestaltungsmittel entwickelte er zu einem erheblichen Teil bereits in den 50er Jahren, als er sich nicht nur am Boulez‘schen Extremwerk Structures Ia abarbeitete (wie dies Boulez ja auch selbst tat), sondern sich ebenso intensiv mit den hier genannten Komponisten beschäftigte – wodurch sein Interesse für andere Kunstformen immer stärker wurde.

32 SCHMIDT, 2012, S. 26.

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Hybride Werk-Situa tionen Nachfolgend seien nun in der gebotenen Kürze33 drei Aspekte innerhalb von Zimmermanns Schaffen skizziert, die das Gesagte vertiefen und in jeweils unterschiedlicher Weise als hybride Werk-Situationen erscheinen: Erstens geraten Strategien in den Blick, in denen sich die zu den Grundideen der Moderne gehörende Tradition der Verschränkung von Gattungen fortsetzt, aber auch radikalisiert wird; zweitens geht es um die Verschränkung von Darstellungsgewohnheiten der europäischen klassischen Tradition einerseits und bestimmten Jazzmomenten andererseits; drittens sollen jene für Zimmermann ebenfalls charakteristischen Konzeptionen einer Erschließung von neuen Erfahrungs- und Assoziationsräumen angedeutet werden, bei der verschiedenste literarische und musikalische Kristallisationspunkte ins Spiel geraten und zu einer komplexen Gesamtkonstellation verknüpft werden. Gattungen miteinander zu verschränken, ist bereits im Schaffen von Mozart, Beethoven, Schubert oder Schumann ein wichtiger Aspekt, der in der Rezeption früher zuweilen übersehen wurde. Ein Musiktheaterwerk wie Fierrabras von Franz Schubert kann man dann erst angemessen verstehen und in seinem Wert erkennen, wenn man akzeptiert, dass darin keineswegs eine klare Fortschreibung, sondern eine fast provozierend widersprüchliche Engführung unterschiedlicher ästhetisch-konzeptioneller Strömungen und Darstellungsformen vollzogen wird. Nicht zufällig ist dieses Stück erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts adäquat realisiert worden. Zimmermann hat Gattungstraditionen, die mit unterschiedlichsten Feldern sowie ästhetisch-konzeptionellen Strömungen einhergehen, in besonders beharrlicher und vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Und er hat wie wohl kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts diese Verknüpfungen immer wieder so angelegt, dass Momente der Befragung, sogar auch Momente der Auflösung, Destabilisierung oder der Sprengung, sichtbar und sinnstiftend werden. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist das schon erwähnte Requiem für einen jungen Dichter, das zwar auch kantatenhafte Phasen aufweist, aber zu etwa zwei Dritteln ein riesiges, in den Konzertsaal projiziertes und dabei räumlich aufgefächertes Hörspiel ist. Charakteristisch für dieses Werk ist zudem, dass es mit halbszenischen Momenten im Stil eines Dokumentartheaters verknüpft und mit musikalischen Einwürfen einer Jazzband und von drei Chören durchsetzt ist. 33 Vgl. ausführlicher zu alledem: HIEKEL, 2019.

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Die durch Vokalstimmen gebildete oratorische Tradition, die als Einlösung des im Titel verwendeten Begriffs „Requiem“ erscheint (und im schon angedeuteten Sinne ganz am Schluss bestimmend bleibt), etabliert sich erst im letzten Drittel – um dann aber mit der Hörspieltendenz enggeführt und dadurch ausgehöhlt zu werden. Dies beschert dem Werk einerseits einen außerordentlichen Nachdruck, aber andererseits eine radikale Öffnung und Infragestellung des Oratorischen. Gerade diese eigentümliche Gleichzeitigkeit von Übersteigerung und Suspendierung der Tradition ist kaum mit anderen Musikwerken des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Sie lässt an die für Zimmermanns Musik grundlegend wichtige, das Nebeneinander des höchst Heterogenen verkörpernde Idee des „Stream of Consciousness“ von James Joyce denken (und gewiss auch an das, was Lachenmann mit seine Skizzierung von „provisorischen“ und „unvertrauten“ Räumen meinte). Aber sie verbindet diese Idee mit einer bei Joyce nicht vorhandenen skeptisch getönten Gesamtaussage. Kündet das Werk doch in einer von der Oratorientradition denkbar weit wegführenden Weise von der Vergeblichkeit von Hoffnungen. Das Verschränken von Oratorium und Hörspiel ist bei alledem ein Mittel der Erzeugung jener antiklassizistischen Instabilität, auf die es Zimmermann, wenn er sich an klassischen Modellen künstlerisch abarbeitete, in besonderem Maße ankam – und die als aussagerelevanter Faktor der Dekonstruktion oder gar Auflösung dieser Modelle erscheint. Den mit dem Requiem eingeschlagenen Weg hat er in seinem letzten Werk Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne fortgesetzt und noch zugespitzt. Nun werden zwei Texte, einer von Dostojewskij, der andere vom Prediger Salomo stammend, so miteinander kombiniert, dass eine dezidiert nüchterne Hörspiel-Situation, die getragen ist von strengen seriellen Setzungen, mit einem hochgradig emphatischen kantatenhaften oder oratorischen Habitus kollidiert. Noch radikaler als im Requiem führt dies zu einem Bruch. Im ersten Schritt dieses Bruchs hauen alle Musiker wild auf Schlaginstrumenten herum und stammelt der Vokalsolist Textfragmente, im zweiten wird ein zitierter Bach-Choral mit einem scharfen atonalen Akkord gestoppt. Die oft diskutierte Schlusspassage dieser Komposition gibt Anlass, deren Untertitel „Ekklesiastische Aktion“ als denkbar radikalen Eingriff in die Substanz eines Werkganzen zu interpretieren. In dieser Hinsicht ist sie auf eine andere, sehr markante Bruch-Situation innerhalb von Zimmermanns, die ebenfalls den Aspekt der Verschränkung von Gattungs-Traditionen akzentuiert, beziehbar. Gemeint ist das Musiktheaterwerk Die Soldaten, zu dem es gehört, dass Zimmermann drei Akte lang viel dafür tut,

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die Konturen einer klassischen Oper zu entwickeln und zu konsolidieren (dies geht parallel zur Konsolidierung eines aus zwölf Zwölftonreihen bestehenden strukturellen Gerüsts) – um dann im Rückgriff auf akustische wie bildliche Medien das Gesamtgefüge, das nun alles logisch Fassbare und alle strukturelle Konsolidierung hinter sich lässt und wie ein drastischer Alptraum wirkt, zu zerbrechen. Die Zertrümmerung der Opernform – wie zugleich auch jene der Zwölftonstruktur – ist dabei unschwer auf jene Zertrümmerung eines glücklichen Lebens beziehbar, die den Kern der Handlung bildet. Diese Grundidee eines produktiven, auf Reibungen zielenden Zwischenraums zwischen traditioneller Oper und Medienkomposition entfaltet in einer für Zimmermann typischen Weise enorme zentrifugale Kräfte.34 Der zweite Aspekt der als „hybrid“35 zu bezeichnenden Gleichzeitigkeit von musikalischen Traditionen, die jeweils auch mit Erfahrungshorizonten, Sinnzuschreibungen sowie mit einem Wechselspiel von Stabilität und Instabilität zu tun haben, betrifft Zimmermanns Umgang mit dem Jazz. Elemente aus diesem Bereich kommen in fast allen wichtigen Werken des Komponisten vor; auch für die drei zuletzt genannten Stücke gilt dies. Was man in der Zimmermann-Forschung oft übersah, sind freilich die erheblichen Differenzen zwischen den Werken und ihrem jeweiligen Agieren mit Jazz-Elementen. Die Tendenz zum Imaginären, weniger klar Greifbaren kommt dabei in immer wieder unterschiedlicher Weise zum Zuge. Zimmermann ging seit den 50er Jahren stark von Paul Klees Gedanken aus, etwas Gesetzmäßiges, Regelhaftes zu konfigurieren, aber das Gestaltete, wie es Klee wörtlich formulierte, „um das Gesetz herum in Bewegung zu bringen“.36 Dafür war der Jazz ein idealer Partner. Um zwei der sehr unterschiedlichen kompositorischen Aufgabenstellungen wenigstens anzudeuten, sei auf der einen Seite das in den frühen 50er Jahren komponierte Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see und auf der anderen Seite das Orchesterstück Stille und Umkehr von 1970 genannt. Das Trompetenkonzert thematisiert die Frage, 34 Doch die Kippsituation kommt nur dann angemessen zum Ausdruck, wenn bei Aufführungen auch das Traditionelle, bis hin zu einer von Unbekümmertheit zeugenden Leichtigkeit und Innigkeit im Vortrag der weiblichen Hauptfigur Marie, akzentuiert wird – was leider in vielen bisherigen Produktionen schlicht nicht beachtet wurde. 35 In Yvonne Spielmanns durchaus lesenswerter Schrift Hybridkultur (SPIELMANN, 2010) fehlt leider dieser Aspekt der auf Vieldeutigkeit, aber noch mehr auf Bruchstellen zielenden Verschränkung von musikalischen Gattungen – obwohl er in signifikanter Weise das in diesem Buch als „Zwischenraum“ Skizzierte unterstreichen könnte. 36 Vgl. ZIMMERMANN, 1970, S. 100.

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inwieweit sich ein bestimmtes Jazz-Idiom – bei dem Zimmermann konkret an Musiker wie Louis Armstrong und Dizzy Gillespie dachte – und eine atonale Musikpraxis so verknüpfen lassen, dass daraus ein Wechselspiel zwischen Konsolidierung einerseits und einer Tendenz zum Antiklassischen, Undomestizierbaren andererseits resultiert. Auf dem Grat dazwischen bewegt sich Zimmermanns Stück weit mehr als fast alle anderen jazzbezogenen Werke dieser Zeit. Bezeichnenderweise distanzierte der Komponist sich in Briefen ausdrücklich von den etwa zeitgleichen, oft einseitig mitreißenden Stücken eines Rolf Liebermann – und erst recht von dem, was Zimmermann gern „Commercial Jazz“ nannte. In seinen öffentlichen Kommentaren zu diesem Stück sprach er davon, dass das Konzert „unter dem Eindruck des (leider auch heute immer noch bestehenden) Rassenwahns geschrieben“ worden sei und „in der Verschmelzung von drei stilistisch scheinbar so heterogenen Gestaltungsprinzipien gleichsam einen Weg der brüderlichen Verbindung zeigen“ wolle.37 In Briefen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, bezweifelte er diese Möglichkeit. Und genau diese Zweifel sind auch dem Stück eingeschrieben. Abweichend von den meisten bisherigen Deutungen dieses Stückes sowie von den geläufigen öffentlichen Kommentaren des Komponisten sei hier die These formuliert, dass das Werk den Zwischenraum zwischen zwei Kulturtraditionen so exponiert, dass die Option einer „Verbrüderung“ verschwimmt oder sich sogar auflöst. Der in vielen damaligen Klassik-Jazz-Begegnungen üblichen Harmonisierung der Gegensätze weicht es aus. Weit eher als an eine Homogenisierung der kulturellen Stränge mag man bei diesem Stück und dessen Jazz-Integration an die von dem postkolonialistischen Theoretiker Homi K. Bhabha geprägte Denkfigur des „Dritten Raums“38 erinnert sein. Das Denken des indischen Theoretikers, im Interkulturalitäts-Diskurs längst Inbegriff eines auf ein Nebeneinander gleichwertiger kultureller Elemente zielenden, aber auch von hybriden Konstellationen ausgehenden Ansatzes, kann insofern für Zimmermanns Komponieren herangezogen werden, als dieses sich (anders als etwa manche Werke Stockhausens39) beim Umgang mit Kulturelementen unterschiedlichster Provenienz denkbar weit entfernt hält von der Attitüde des Einverleibens oder jener des bloß Dekorativen. Kulturelle Differenzen bleiben in Zimmermanns Musik erfahrbar, die Situation des „Zwischenraums“ zwischen weit auseinanderliegenden Kulturtraditionen zeichnet sich ab. Dieser entscheidenden Grundkonstellation des 37 Vgl. die Einführung zum Werk in: ZIMMERMANN, 1970, S. 90f, hier S. 91. 38 Vgl. BHABHA, 2000. 39 Vgl. hierzu kritisch UTZ, 2002.

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Trompetenkonzerts entsprechend führt die Denkfigur des „Dritten Raums“ vom bloßen Fusionieren entschieden weg und meint das Füreinander-Öffnen von Elementen unterschiedlicher Kontexte und Kulturen, mithin gerade das Erschließen eines nicht von Stabilität, sondern von Offenheit und Differenzen geprägten Gesamtgefüges. Das aber heißt auch, dass man die in Zimmermanns Trompetenkonzert vorhandenen, vom Komponisten selbst hervorgehobenen Bezüge zum klassischen Choralvorspiel nicht überbewerten sollte. Diese dienen, im Sinne Bhabhas gesagt, eher der Multiplikation der Differenzen sowie der Ausfaltung kultureller Hybridität (die für Zimmermann offenkundig etwas faszinierend Neuartiges war). Alles dies ist mit Zimmermanns Willen, „sein Werk zu legitimieren [...] durch den Rückgriff auf Gefestigtes“40, wohl kaum angemessen beschrieben – was in ähnlicher Weise auch für die nachträglich eingefügten Dies irae-Zitate im Violinkonzert gilt41 und jeweils eine labile, in Aufführungen durchaus unterschiedlich zu realisierende Situation im Spannungsfeld unterschiedlicher Traditionsstränge und Horizonte meint. Darin, dass im Trompetenkonzert überhaupt mitreißende Momente vorkommen, die entfernt an manche Big-Band-Stücke derselben Zeit erinnern, unterscheidet sich dieses Werk dennoch von fast allen späteren Jazz-bezogenen Stücken Zimmermanns. Extrem anders ist es zum Beispiel in Stille und Umkehr. Ist dieses letzte orchestrale Werk Zimmermanns doch so gestaltet, dass ein durchlaufender, obsessiv beharrlich wirkender, aber doch zugleich fast unscheinbarer Blues-Rhythmus eine eigentümliche Unschärfe ins Spiel bringt. Wichtig ist nun, dass die aus der Verschränkung resultierende Ambivalenz (bei der der Jazz wiederum als Faktor einer kulturellen Differenz kenntlich wird) in keinem Moment begradigt wird. Das Stück verzichtet auf Entwicklung, führt zu keinem Ziel und beschreibt einen instabilen Zustand. Am ehesten ist das mit jenen UnschärfeSituationen vergleichbar, wie man sie aus bestimmten Werken von Morton Feldman kennt. Doch wirkt das Ganze bei Zimmermann noch existenzieller und abgründiger getönt. Und gerade das hat mit dem Jazz, seiner Aura und seiner Möglichkeit, im Sinne Bhabas einen „dritten Raum“ zu öffnen, zu tun. Der Jazz kann in der Konstellation dieses Stückes dabei als imaginäre Kraft bezeichnet werden, denkbar weit weg von allen Momenten mitreißender Prägnanz im fast zwei Jahrzehnte früheren Trompetenkonzert.

40 EBBEKE, 1986, S. 50, wo sich allerdings hilfreiche analytische Hinweise zur Struktur des Trompetenkonzerts finden. 41 Vgl. EBD.

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Mein letztes Beispiel für eine von einer fruchtbaren Widersprüchlichkeit kündende Verschränkung von Erfahrungen und Traditionslinien ist die Komposition Présence, in der viele Fäden, die Zimmermanns Komponieren durchziehen, gebündelt werden. Dabei handelt es sich um ein Stück für Klaviertrio, das die kammermusikalische Grundsituation reflektiert und zugleich aushöhlt, indem es sie mit gleich mehreren Ideen und Traditionen verschränkt: Erstens ist Présence eine Ballettkomposition, rechnet also fest mit den parallel zur Musik sich entfaltenden tänzerischen Konfigurationen, die ausdrücklich nicht-illustrativ sein sollten. Und dabei scheint dieses Stück fortwährend in jener Verknüpfung – oder in jenem Zwischenraum – von Körperlichem und Geistigen zu navigieren, den Zimmermann meinte, als er im schon zitierten Beitrag Über die Zukunft des Balletts konstatierte: „Die Schaffung des Balletts ist vor allem eine Rebellion des Geistes gegen die Schwerkraft des Körpers.“42 Zweitens sind in das Stück auf mehrfache, meist flüchtige (oder im Sinne Lachenmanns: „provisorische“) Weise Sinnzuschreibungen und nichtmusikalische Resonanzen hineingelegt und miteinander enggeführt: Dabei handelt es sich um Verknüpfungen der drei Musikerinnen oder Musiker mit literarischen Figuren aus Werken von Joyce, Jarry und Cervantes (nämlich Molly Bloom, König Ubu und Don Quijote), aber zudem um Zitat-Schichten mit Ausschnitten aus Werken von Prokofjew, Strauss und Stockhausen. Deren Präsentation ist nun von seltsamer, paradoxer Aufdringlichkeit, was die Frage nach dem Wechselverhältnis von Vertrautheit und Nichtvertrautheit aufwirft. Ist das höchst dynamische Gefüge doch getragen von vielerlei Rupturen und plötzlichen Wechseln, sowie von einem Gestus des gewaltsamen Vereinnahmens, der aller zuvor herrschenden Ambivalenz, Instabilität oder Offenheit radikal entgegenläuft – und sozusagen ex negativo auf die so enorm facettenreich ausgespielte Grundsituation des Stückes verweist. Drittens schließlich gibt es eine halbszenische Komponente. Sie wird darin sichtbar, dass an bestimmten Stellen des Werkes Texttafeln hochgehalten werden, auf denen enigmatische Sätze des Dichters Paul Pörtner kenntlich werden. Eine davon lautet „M-E-R-D-R-E“ – mit jenem französischen Wort, das Pörtner mit nur leichter Entstellung eines geläufigen deutschen Wortes als „Schreiße“ übersetzte. Ich versage mir hier eine umfassende Beschreibung und Deutung dieses Stückes,43 wollte aber wenigstens andeuten, wie in Présence das für Zimmermann 42 Zimmermann, Über die Zukunft des Balletts. Ein Extemporale, in: ZIMMERMANN, 1970, S. 47. 43 Vgl. den Abschnitt „Présence als imaginäres Theate“, in: HIEKEL, 2019.

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so typische Ausspielen von Andeutungen, Imaginationen und Konkretisierungen und ihre Verknüpfung zu einem umfassenden, ebenso dynamischen wie uneindeutigen Gesamtgefüge entwickelt wird. Der Titel des Werkes kann als Pointierung einer Erfahrbarkeit des Spannungsfeldes gelesen werden, das zwischen aufdringlicher Deutlichkeit und völligem Verschwinden besteht. Dabei sind die zentrifugalen, von jeder klaren Ordnung wegführenden Momente enorm, ist aber wohl das Erschließen und Entfalten dieses Spannungsfeldes (man könnte wohl auch sagen: Zwischenraums) das eigentliche Thema. Es geht um die Entfaltung einer Kette von gleichermaßen klanglich-syntaktischen wie semantischen Ereignissen, die zwar Bezüge zu Vertrautem aufweisen, aber sich allen standardisierten Assoziationen entwinden. Die Fragilität der Klang- und Sinnerfahrung hat Zimmermann in einem Kommentar sehr schön als „dünne Eisschicht“ bezeichnet: „Présence: das ist die dünne Eisschicht, auf der der Fuß eben nur so lange verweilen kann, bis sie einbricht.“44 Eine Metaphorik wie diese verrät die für Zimmermann typische, zu einem emphatischen Grundgestus führende Lust am Spiel mit Elementen unterschiedlicher Provenienz. Dieses Spiel hat, wie auch das Gesamtgefüge einer Komposition wie dieser, etwas ständig Gefährdetes. Ist es doch bedroht von allzu viel Deutlichkeit, von jener illustrativen Eindimensionalität und Eingängigkeit, gegen die Zimmermann immer wieder – und auf höchst suggestive Weise – anzukomponieren schien. Bernd Alois Zimmermann, so zeigen die skizzierten Beispiele zumindest umrisshaft, hat die Idee der Verschränkung von Erfahrungs- und Gattungs-Traditionen wie kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts in immer wieder neuen kompositorischen Versuchsanordnungen ausgestaltet, die von einem öffnenden, zum Denken stimulierenden Habitus getragen sind. Er erblickte darin mit guten Gründen seine eigene musikhistorische Aufgabe, die, das sei nochmals unterstrichen, keineswegs eine Abkehr von der Idee der seriellen Musik bedeutete, sondern eine Weiterführung und Öffnung – und in gewisser Weise zugleich Radikalisierung. Die von ihm „pluralistisch“ genannte Art des Komponierens bezeichnet außer der Schichtung bestimmter Abläufe und der Integration musikalischer oder außermusikalischer Elemente oft auch eine eigenwillige Kombinatorik semantischen Materials. Diese schließt Verknüpfungen von erheblicher, teilweise überraschender Prägnanz ebenso ein wie fast beiläufig wirkende Allusionen oder Suggestionen als auch erklärungsbedürftige Pointierungen. Und das alles gilt nicht allein für Textbezogenes, sondern ebenso für die von vielfältigen Sinnzuschreibungsmöglichkeiten durchzogenen rein 44 Vgl. die Einführung zu Présence, in: ZIMMERMANN, 1970, S. 105.

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instrumentalen Arbeiten, die gerade mit Hilfe des Gestaltungsfaktors Jazz in fast obsessiver (und ebenfalls immer wieder unterschiedlicher Weise) kulturelle Differenzen ausspielen. Die in Zimmermanns Musik auf unterschiedlichen Ebenen entfalteten Prozesse der Generierung von Sinn und Bedeutung verraten das Wissen darum, wie eng benachbart Verstehen und Nichtverstehen sein können und das eine in das andere gleichsam hineinragt. Mit enormer Beharrlichkeit scheinen die Verbindungen von Klang und Sinn, in Anspielung auf Valérys schon zitierte Formulierung gesagt, die Schwelle zwischen beidem zu visieren und den entstehenden Zwischenraum auszuspielen. Mittels wechselnder Präsenzgrade, die von klaren Distinktionen bis zu eher unscheinbaren „vagen Wegweisern“45 reichen, tragen sie die Einladung zur Reflexion gerade über diese Schwelle in sich. Zimmermann formulierte solche Einladungen im tiefen Bewusstsein dafür, von verschiedensten Impulsen der neueren Musik, zu denen in besonderem Maße auch die Idee der seriellen Musik gehörte, entscheidend zu profitieren. Aber er war sich auch dessen bewusst, durch das widerspruchsvolle Aufrufen, Fokussieren, Ausfalten, Relativieren, Verschränken und sogar Stören von unterschiedlichsten Horizonten doch auch einen ganz eigenen kompositorischen Weg zu gehen. Charakteristisch für diesen Weg ist, dass jene Risse, die sich zwischen klar greifbaren, mitunter heftigen Akzentuierungen einerseits und völlig vagen Sinn- und Klang-Momenten andererseits auftun, auf farbige und enorm abwechslungsreiche Weise geradezu ausgekostet werden – was dafür spricht, die von Bhabha entfaltete, das Sichtbarmachen von Differenzen meinende Denkfigur des „Dritten Raumes“ als eines von Zimmermanns Kernmotiven zu bezeichnen. Aber charakteristisch ist für diesen Weg ebenso das Denken, für das er steht. Zu ihm gehört ein künstlerisches Agieren in Zwischenräumen bzw. in hybriden Konstellationen, welches sich auf den Umgang mit kulturellen und gattungsgeschichtlichen Elementen unterschiedlichster Art erstreckt. Alles dies verweist auf den Kern des von Zimmermann selbst mit dem Begriff des „Pluralismus“ Umschriebenen.

45 Von „vagen Wegweisern“ hat Zimmermann ebd. selbst gesprochen.

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HIEKEL, JÖRN PETER, Bernd Alois Zimmermann und seine Zeit, Lilienthal 2019. HIEKEL, JÖRN PETER, Hören und Komponieren im Spannungsfeld von Innerlichkeit und Öffentlichkeit, in: ÖFFENTLICHprivat. (Zwischen-)Räume in der Gegenwartsmusik (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 60), hg von DEMS., Mainz 2020, S. 10-33. JUNGHEINRICH, HANS-KLAUS (Hgs.), Das Gedächtnis der Struktur. Der Komponist Pierre Boulez, Mainz 2010. KONOLD, WULF, Bernd Alois Zimmermann. Der Komponist und sein Werk, Köln 1986. NORDVALL, OVE, György Ligeti. Eine Monographie, Mainz 1971. RATHERT, WOLFGANG, Zeit als Motiv in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit einem Ausblick auf Feldman und Nono, in: Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, hg. von RICHARD KLEIN u. a., Weilerswist 2000, S. 287-312. SCHMIDT, STEFFEN A., Musik der Schwerkraft. Die Beziehung von Musik und Ballett in Deutschland nach 1945, dargestellt am Werk Bernd Alois Zimmermanns, Berlin 2012. SPIELMANN, YVONNE, Hybridkultur, Berlin 2010. STENZL, JÜRG, György Kurtágs Mikrokosmos, in: Booklet zur CD „György Kurtág. Musik für Streichinstrumente“, ECM 1598 (München 1998). TADDAY, ULRICH (Hgs.), Die Musik – eine Kunst des Imaginären? (Musik-Konzepte Sonderband), München 2016. UTZ, CHRISTIAN, Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation, in: Lexikon Neue Musik, hg. von JÖRN PETER HIEKEL/CHRISTIAN UTZ, Stuttgart/Kassel 2016, S. 35-53. UTZ, CHRISTIAN, Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis zu Tan Dun (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 51), Stuttgart 2002. VALÉRY, PAUL, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Frankfurt 1959. WEISCHEDEL, WILHELM, Fragment über Musik, in: Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Aufsätze und Vorträge, hg. von DEMS., Berlin 1960, S. 202-207. WIENER, OLIVER/ZENCK, MARTIN, Szenen und Räume des musikalisch Imaginären im Diskursfeld der Einbildungskraft und Phantastik. Versuch einer Grundlegung mit fünf musikalischen wie bildnerischen Modellen, in: Die Musik – eine Kunst des Imaginären? (Musik-Konzepte Sonderband), hg. von ULRICH TADDAY, München 2016, S. 5-52.

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A UTORINNEN

UND

A UTORE N

Andre, Mark, geb. 1964, ist ein deutsch-französischer Komponist. Er studierte in Paris am CNSMP und an der ENS bei C. Ballif und G.Grisey und an der Stuttgarter HfM bei H. Lachenmann. Er lebt in Berlin. Asendorf, Christoph, geb. 1955, seit 1996 Professor für Kunst und Kunsttheorie an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Im WS 2004/05 Visiting Fellow am IFK in Wien, 2008 Verleihung der Martin Warnke-Medaille zusammen mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung, 2009 bis 2010 Senior-Fellow am IKKM in Weimar. Zahlreiche Publikationen, zuletzt erschien: Planetarische Perspektiven – Raumbilder im Zeitalter der frühen Globalisierung (Fink, 2017). Baudisch, Marvin, geb. 1989, Studium der Germanistik und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2017 Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Von 2018 bis 11/2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Heinz Drügh im Verbundforschungsprojekt Gegenwartsästhetik. Kategorien für eine Kunst und Natur in der Entfremdung (gefördert von der VolkswagenStiftung) am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a.M. Promotionsprojekt zu postironischer und post-postmoderner Ästhetik in aktueller Popliteratur (Leif Randt, Christian Kracht, Jakob Nolte). Konrad, Jennifer, geb. 1988, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2017 bis 2020 Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Förderung des Dissertationsprojekts „Architektur als visuelle Störung: zum Verhältnis von Bauform und Wahrnehmung im Dekonstruktivismus“. Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe „Die Betonisten“ im Rheinischen Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz (RVDL), die 2019 mit dem Deubner-Preis des Verbands Deutscher

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Zwischenräume in Architektur, Musik und Literatur

Kunsthistoriker ausgezeichnet wurde. Gemeinsam mit Matthias Müller Co.-Kuratorin der Ausstellung „Wissen schafft Raum. Aspekte internationaler Architektur auf dem Mainzer Gutenberg-Campus“ im Rahmen des 75. Jubiläums der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Müller, Matthias, ist Professor für Kunstgeschichte am Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) Mainz. Zusammen mit Klaus Pietschmann leitet er als Sprecher der JGU-Forschungsplattform „Frühe Neuzeit“ die SFB-Initiative „Figurationen des Nationalen in der Frühen Neuzeit“. Er ist Mitglied in der Leitungskommission „Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)“ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und Beiratsmitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Als Mitglied von Wissenschaftsverbänden ist er u.a. Vizepräsident des Mediävistenverbandes und Vorsitzender des Rudolstädter Arbeitskreises zur Residenzkultur. Seine Forschungsprojekte und Publikationen befassen sich mit Formen der Repräsentation, Historizität und Erinnerungskultur in der Architektur vom Mittelalter bis zur Gegenwart; Stilkonzepten, Intermedialität und Kulturtransfer in der Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Kunst an europäischen Fürstenhöfen und in Residenzstädten; der Geschichte des Portraits sowie mit politischer Ikonographie. Stašková, Alice, Prof. Dr., Promotion 2005, Habilitation 2015, seit 2016 Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Monographien: Nächte der Aufklärung. Studien zu Voyage au bout de la nuit von L.-F. Céline und Die Schlafwandler von H. Broch (Tübingen 2008), Friedrich Schillers philosophischer Stil. Logik – Rhetorik – Ästhetik (Paderborn 2021). Hg. (in Auswahl): zus. mit P. M. Lützeler: Hermann Broch und die Künste (Berlin u.a. 2009), zus. mit S. Höhne: Franz Kafka und die Musik (Köln u.a. 2018), zus. mit S. Lüder: Klang – Ton – Wort. Akustische Dimensionen im Schaffen von Marcel Beyer (Stuttgart 2021). Aufsätze zur deutschen und französischen Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. von Hoff, Dagmar, ist Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte mit dem Schwerpunkt Germanistische Medienwissenschaft und Ästhetik der textorientierten Medien an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Autorinnen und Autoren

Wiener, Oliver, geb. 1971, Studium der Musikwissenschaft, der Deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft an der Universität Würzburg. 2004 Dissertation "Apolls musikalische Reisen. System, Text und Narration in Johann Nikolaus Forkels Allgemeiner Geschichte der Musik (1788-1802)". Wissenschaftlicher Assistent, 2009 Akademischer Rat, 2018 Akademischer Oberrat an der Universität Würzburg. Seit 2010 Kustos der Studiensammlung Musikinstrumente & Medien. Raum-Klanginstallationen mit Gerriet K. Sharma, Klanginstallation und Stefan Hetzel. 2011–2013 Co-Leiter beim Aufbau des "Ateliers Klangforschung" am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg. Zenck, Martin, geb. 1945 in St. Peter. Nach Professuren in Bamberg und Würzburg erhielt er 2013 in München den mit 10.000.-€ dotierten Hans-Zender-Musikpreis und war im SS 2013 Guest Professor an der University of Chicago. 2017 war er Guest Fellow am Getty-Research Institute L.A. mit einem Forschungsschwerpunkt auf David Tudor und Bill Viola. 2017 erschien vor dem Hintergrund eines langjährigen Frankreich-Schwerpunkts sein 840 Seiten umfassendes Buch „Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde“ Im Fink-Verlag. Seit 2019 leiter er zusammen mit Volker Rülke (Berlin) ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt über den exilierten Komponisten und Pianisten Eduard Steuermann. Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über den Komponisten Mark Andre und an einer Studie über „Der Sinn der Sinne. Eine Anthropologie der Musik und der Künste“.

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Geschichtswissenschaft Sebastian Haumann, Martin Knoll, Detlev Mares (eds.)

Concepts of Urban-Environmental History 2020, 294 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4375-6 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4375-0

Gertrude Cepl-Kaufmann

1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, 39 SW-Abbildungen, 35 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

Günter Leypoldt, Manfred Berg (eds.)

Authority and Trust in US Culture and Society Interdisciplinary Approaches and Perspectives February 2021, 282 p., pb., col. ill. 37,00 € (DE), 978-3-8376-5189-8 E-Book: PDF: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5189-2

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Geschichtswissenschaft Manuel Franz

»Fight for Americanism« – Preparedness-Bewegung und zivile Mobilisierung in den USA 1914-1920 Februar 2021, 322 S., kart., 1 SW-Abbildung 59,00 € (DE), 978-3-8376-5521-6 E-Book: PDF: 58,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5521-0

Sebastian Haumann

Kalkstein als »kritischer« Rohstoff Eine Stoffgeschichte der Industrialisierung, 1840–1930 Januar 2021, 362 S., kart., 4 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5240-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5240-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2020/2, Heft 82: Differenzen einschreiben 2020, 178 S., kart., 26 SW-Abbildungen 21,99 € (DE), 978-3-8376-5299-4

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