Konstruktion - Verkörperung - Performativität: Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger_innen in Literatur und Musik 9783839433676

Gender is a performative category: how is it constructed and deconstructed in literature and music? Case studies from th

209 42 2MB

German Pages 240 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Gender und Grenzgänger_innen in der Gegenwartsliteratur
Frauen unterwegs. Dimensionen der Fremdheit in »Grenzgänger_innengeschichten« zeitgenössischer Autorinnen
Unbestimmtes Geschlecht zwischen Repräsentation und Performanz. Beobachtungen am Gegenwartsroman
»Einer von uns«? Über kulturelle Grenzgänger, Maskeraden und Kulturmodelle in Ilija Trojanows Der Weltensammler
Der letzte Mensch – ein Mann/eine Frau. Anthropologische und genderspezifische Fragestellungen in den Romanen Die Wand von Marlen Haushofer und Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic
II. Genderperformanzen und Körperlichkeit
Bild und Frau
Frau – Körper – Stimme. Genderperformanzen bei Elfriede Jelinek – Vergleichende Lektüren von Bild und Frau (1984) und SCHATTEN (Eurydike sagt) (2012)
Das Funktionelle und das Symbolhafte des Sexuellen in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30
III. Kulturelles Gedächtnis und Gender
Gender, Gedächtnis und Grenzräume in Reisetexten von Ida Hahn-Hahn und Ida von Düringsfeld
Gattung, Gender, Gedächtnis. Untersuchungen zu Margarete von Valois und ihre Zeit. Ein Memoiren-Roman (1847) von Ida von Düringsfeld
IV. Gender und Genderperformanzen in der M usik
Musik und Geschlecht (ver-)handeln. Baldassare Galuppis Il mondo alla roversa o sia le donne che comandano
Komponistinnen der Moderne. Bartók-Rezeption bei Elizabeth Maconchy und Jacqueline Fontyn
Überwindung von Genre- und Gender-Grenzen? Gedanken zur Zusammenarbeit von Fe-Mail und Enslaved im Band-Projekt Trinacria
Autor_inn_en
Recommend Papers

Konstruktion - Verkörperung - Performativität: Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger_innen in Literatur und Musik
 9783839433676

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Andrea Horváth, Karl Katschthaler (Hg.) Konstruktion – Verkörperung – Performativität

Lettre

Andrea Horváth, Karl Katschthaler (Hg.)

Konstruktion – Verkörperung – Performativität Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger_innen in Literatur und Musik

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3367-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3367-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Andrea Horváth, Karl Katschthaler | 9

I. G ENDER UND G RENZGÄNGER _INNEN IN DER GEGENWARTSLITERATUR Frauen unterwegs. Dimensionen der Fremdheit in »Grenzgänger_innengeschichten« zeitgenössischer Autorinnen

Eszter Pabis | 17 Unbestimmtes Geschlecht zwischen Repräsentation und Performanz. Beobachtungen am Gegenwartsroman

Sigrid Nieberle | 47 »Einer von uns«? Über kulturelle Grenzgänger, Maskeraden und Kulturmodelle in Ilija Trojanows Der Weltensammler

Andrea Geier | 65 Der letzte Mensch – ein Mann/eine Frau. Anthropologische und genderspezifische Fragestellungen in den Romanen Die Wand von Marlen Haushofer und Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic

Edit Kovács | 89

II. G ENDERPERFORMANZEN UND KÖRPERLICHKEIT Bild und Frau

Elfriede Jelinek | 103 Frau – Körper – Stimme. Genderperformanzen bei Elfriede Jelinek – Vergleichende Lektüren von Bild und Frau (1984) und SCHATTEN (Eurydike sagt) (2012)

Inge Stephan | 105 Das Funktionelle und das Symbolhafte des Sexuellen in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30.

Andrea Horváth | 123

III. KULTURELLES GEDÄCHTNIS UND GENDER Gender, Gedächtnis und Grenzräume in Reisetexten von Ida Hahn-Hahn und Ida von Düringsfeld

Elisa Müller-Adams | 139 Gattung, Gender, Gedächtnis. Untersuchungen zu Margarete von Valois und ihre Zeit. Ein Memoiren-Roman (1847) von Ida von Düringsfeld

Kerstin Wiedemann | 163

IV. G ENDER UND G ENDERPERFORMANZEN IN DER MUSIK Musik und Geschlecht (ver-)handeln. Baldassare Galuppis Il mondo alla roversa o sia le donne che comandano

Kordula Knaus | 183 Komponistinnen der Moderne. Bartók-Rezeption bei Elizabeth Maconchy und Jacqueline Fontyn

Christa Brüstle | 197 Überwindung von Genre- und Gender-Grenzen? Gedanken zur Zusammenarbeit von Fe-Mail und Enslaved im Band-Projekt Trinacria

Karl Katschthaler | 215

Autor_inn_en | 231

Vorwort A NDREA H ORVÁTH , K ARL K ATSCHTHALER

Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine vom Lehrstuhl für deutschsprachige Literaturen an der Universität Debrecen (Ungarn) vom 26. – 28. September 2013 veranstaltete internationale, interdisziplinäre Tagung zum Thema »Konstruktion – Verkörperung – Performativität: Gender und andere Identitätsdiskurse«. Ausgangspunkt für die Konzeption der Tagung war eine Analyse des Standortes in Bezug auf die Entwicklung der Gender-Forschung, insbesondere der deutschsprachigen im weiteren Umfeld des Tagungsortes: Betrachtet man die Distribution der Standorte der Gender-Forschung in Zentraleuropa, so erweist sich der Austragungsort der Tagung als ein Ort der Peripherie. Aus dieser Topologie folgt nicht nur, dass sich an verschiedenen Standorten unterschiedliche Ausrichtungen und Schwerpunkte der Gender-Forschung entwickelt haben, sondern auch ein unterschiedlicher Stand und nicht zuletzt auch Unterschiede der institutionellen Organisation und Stabilität. Unter diesen Bedingungen bot die Tagung an der Peripherie die Chance, einen Austausch zwischen Zentren und Peripherie zu beginnen, der bisher nur in begrenztem Maß stattgefunden hatte. Eine stärkere Vernetzung der ungarischen Gender-Forschung mit der deutschsprachigen einzuleiten, war daher ein vordringliches Ziel der Tagung und die Rezeption des vorliegenden Sammelbandes wird hoffentlich dieses Ziel noch weiter vorantreiben. Die geschilderte Zentrum-Peripherie-Topologie hatte konzeptionelle Konsequenzen für die Erarbeitung der Thematik der Konferenz. Sie eröffnete die Möglichkeit, zentrale Begriffe der Kulturwissenschaft wieder aufzusuchen, auf die Gender-Perspektive zu fokussieren und ihre Relevanz

10 | A NDREA H ORVÁTH, K ARL KATSCHTHALER

sowohl für die Konzeption der Gender Studies als auch für andere kulturwissenschaftliche Disziplinen, in denen das Thema Gender eine Rolle spielt, zu diskutieren und so auch die interdisziplinäre Verankerung von Gender-Themen zu verstärken. Im vorliegenden Band sind nun insbesondere die Literaturwissenschaft und die Musikwissenschaft vertreten, was nicht nur die Möglichkeit der Feststellung eventuell unterschiedlicher Stände der Gender-Forschung in den beiden Disziplinen ermöglicht, sondern auch die Diversität der Geschlechterforschung aufzeigen kann. Der erste Abschnitt des Bandes versammelt vier Studien zu Grenzgänger_innen in der Literatur. Eszter Pabis beschäftigt sich in ihrem Beitrag zunächst mit dem Phänomen der Liminalität und leuchtet somit aus kulturanthropologischer und xenologischer Perspektive ein Thema aus, das als eine Art roter Faden der Konferenz und des Bandes aufgefasst werden kann: die Grenzgänger_in. Grenzzonen werden zu hybriden Räumen der Kulturbegegnung, die Pabis insbesondere in postkolonialen weiblichen Migrationsgeschichten aufsucht und am Beispiel von Ilma Rakusas Mehr Meer und Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf auch narratologisch expliziert. Sigrid Nieberle liefert zunächst eine Analyse der jüngsten Novelle des deutschen Personenstandgesetzes, die statt einem dritten Personenstand jenseits des Geschlechterbinarismus von weiblich und männlich eine Leerstelle vorsieht. Dieser negativen Diversifizierung des Aufschubs der Vereindeutigung im juristischen Diskurs stellt sie dann Beispiele des literarischen Diskurses der Gegenwartsliteratur gegenüber und hebt dabei vor allem auf die Frage des Namens ab. Zurück in die Zeit des Kolonialismus führt die Beschäftigung Ilija Trojanows mit dem »Grenzgänger« zwischen den Kulturen Sir Robert Francis Burton, die Andrea Geier ausgehend von der Frage nach der Funktion der kulturellen Maskerade im Text kritisch analysiert. Bei der Untersuchung der interkulturellen Paarbildung im Roman Der Weltensammler macht sie exotistische Inszenierungen von Weiblichkeit ebenso aus wie kritische Blicke auf den als »Helden« inszenierten männlichen Protagonisten. Insgesamt hinterfragt sie die Klassifizierung von Trojanows Roman als ›postkolonial‹. Um Liminalität nicht im räumlichen und interkulturellen, sondern im zeitlichen und endkulturellen Sinn geht es in Edit Kovács’ Beitrag, der zwei Romane, die das apokalyptische Motiv des letzten Menschen elaborieren, einander gegenüberstellt und vergleicht. Im einen Roman, Marlen

V ORWORT

| 11

Haushofers Die Wand ist dieser letzte Mensch eine Frau, im anderen, Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht ein Mann. Die Darstellung von Geschlechterrollen unter Endzeitbedingungen in den beiden Romanen wird auf die Geschlechter- und Schreibverhältnisse der verschiedenen Entstehungszeiten bezogen. Das damit schon angeschnittene Thema Genderperformanz steht im Mittelpunkt des Interesses der beiden Beiträge im zweiten Abschnitt des Bandes. Zunächst rückt das Thema Genderperformanzen in Inge Stephans Beitrag in den Vordergrund, der zwei entstehungsgeschichtlich weit auseinanderliegende Texte Elfriede Jelineks behandelt: Bild und Frau von 1984 und SCHATTEN (Eurydike sagt) von 2012. Stephan zeigt, wie sich Jelinek immer wieder mit der Verbindung von Mythen und Medien im Prozess kultureller Einschreibungen insbesondere in weibliche Körper und den damit verbundenen Machtstrukturen auseinandersetzt. Da der ältere Text von Elfriede Jelinek zum einen schwer zugänglich ist und Inge Stephan ihn zum anderen auch einem close reading unterzieht, soll Bild und Frau vor dem Beitrag abgedruckt werden. Um den konventionellen Rahmen des Diskurses über Sexualität zwischen Erotik und Pornographie und die Möglichkeiten seiner Überschreitung geht es in Andrea Horváths Beitrag, der diese Fragen zunächst auf der Ebene der Theorie skizziert und ihnen dann in Marlene Streruwitz’ Jessica, 30. nachgeht. Dabei setzt sie sich kritisch mit der Frage auseinander, inwieweit der literarische Text als ein Gegendiskurs gelesen werden kann, der den konventionellen Diskurs des Sexuellen dekonstruiert. Der dritte Abschnitt des Bandes rückt das Thema Gender mit der Frage nach der geschlechtlichen Codierung des kulturellen Gedächtnisses in eine historisch-literarische Perspektive. Weibliche Beiträge zur kognitiven Landkarte Europas in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts untersucht Elisa Müller-Adams anhand von zwei Reisebüchern von Ida Hahn-Hahn und Ida von Düringsfeld. Beide Texte tragen zum Diskurs über das Europäische und das Orientalische und damit auch zur Konstruktion europäischer Geschichtsräume bei sind zugleich aber auch Texte der Selbstbefragung ihrer Autorinnen. Auch Kerstin Wiedemann beschäftigt sich mit Ida von Düringsfeld. In deren Memoiren-Roman Margarete von Valois und ihre Zeit geht Wiedemann der geschlechtlichen Organisation der kulturellen Erinnerung nach und liefert damit einen Beitrag zur Verknüpfung von Gender-Forschung

12 | A NDREA H ORVÁTH, K ARL KATSCHTHALER

und dem kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs. Dabei entdeckt sie bei von Düringsfeld einen Ansatz zu einer Kulturgeschichte der Liebe aus weiblicher Sicht. Der vierte und letzte Abschnitt des Bandes liefert Beispiele für die Verknüpfung von Gender Studies und Musikwissenschaft. Die drei Beiträge dieses Abschnitts spannen sowohl thematisch als auch historisch einen großen Bogen. Geschlechterperformanz und Verhandlung von Geschlechterordnungen in einer mit dem Topos der verkehrten Welt arbeitenden komischen Oper Baldassare Galuppis aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist das Thema von Kordula Knaus. Dabei beschäftigt sie sich auch mit dem möglichen Beitrag von Besetzungskonventionen zur Geschlechterperformanz auf der Bühne. Christa Brüstle ruft zwei bedeutende, aber in der Geschichtsschreibung der kanonisierten, immer noch männlichen Musikgeschichte noch nicht verankerte Komponistinnen der Moderne in Erinnerung: die Engländerin Elizabeth Maconchy (1907-1994) und die Belgierin Jacqueline Fontyn (geb. 1930). Indem Brüstle der kompositorischen Rezeption der Musik von Béla Bartók bei beiden Komponistinnen nachgeht, wendet sie einen Mechanismus der ästhetischen Aufwertung, der in der männlichen Musikgeschichtsschreibung gang und gäbe ist, nämlich die Einflussforschung, an und liefert somit einen Beitrag zur von Melanie Unseld eingeforderten gendersensiblen musikgeschichtlichen Biographieforschung. Mit Performanzen von Männlichkeit und Weiblichkeit in subkulturellen Bereichen der populären Musik beschäftigt sich schließlich im letzten Beitrag Karl Katschthaler. Insbesondere geht es dabei um die Genres der Noise-Musik und des Black Metal und die Frage, inwieweit es zwei NoiseMusikerinnen möglich ist, die Performanz übersteigerter Maskulinität einer Black-Metal-Band subversiv zu unterlaufen und es so zu vermeiden, in die Rolle der Performanz von Einschreibungen des männlichen Blicks gedrängt zu werden. Das hier skizzierte breite Spektrum gender-bezogener Themen, von kulturellen Grenzgänger_innen über die kulturelle und körperliche Performanz von Geschlecht und Sexualität bis zur Genderbezogenheit kultureller Gedächtniskonstruktionen in der Literaturwissenschaft und verschiedener Anknüpfungsmöglichkeiten der Musikwissenschaft an die Gender Studies macht den Band hoffentlich für Vertreter_innen beider Disziplinen als auch der interdisziplinären Genderforschung interessant.

V ORWORT

| 13

Für die großzügige Förderung der dem Band zugrundeliegenden Konferenz danken die Herausgeber_innen dem Österreichischen Kulturforum Budapest, dem Deutschen Kulturforum Debrecen, der Österreich-Bibliothek Debrecen, dem Institut für Germanistik an der Universität Debrecen und der Fritz Thyssen Stiftung, der auch für die Förderung der Drucklegung zu danken ist.

I. Gender und Grenzgänger_innen in der Gegenwartsliteratur

Frauen unterwegs Dimensionen der Fremdheit in »Grenzgänger_innengeschichten« zeitgenössischer Autorinnen1 E SZTER P ABIS

Ü BER G RENZEN

UND

G RENZÜBERSCHREITUNGEN

Der Begriff der Grenze – und davon untrennbar auch die Termini Grenzsituation und Grenzübertritt, die Bezeichnungen für Prozesse der Aus-, Ein-, Be- bzw. Abgrenzung, oder sogar die verwandten, etwas exakter definierbaren Kategorien Grenzraum, Grenzexistenz oder Schwelle – haben heute in der Literatur- und Kulturwissenschaft, in der politischen- und Geschichtsphilosophie eine erstaunliche Karriere gemacht. Diese Konjunktur des Phänomens Grenze – ein Wort, das zwar in unterschiedlichsten Bedeutungen und Kontexten, aber schon seit der Antike ein Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion ist – lässt sich vor dem Hintergrund der transnationalen Migrationsprozesse und der vieldiskutierten topologischen Wende oder des spatial turn der Kulturwissenschaften verstehen. Auf diese Letztere kann ich hier aus Zeitgründen nur hinweisen, so etwa auf Homi Bhabhas Ansatz eines third space, auf James Cliffords Konzept des borderland, auf Michel Foucaults Beobachtungen über die Epoche des Raumes oder auf Sigrid

1

Diese Arbeit wurde gefördert mit einem János-Bolyai-Forschungsstipendium der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.

18 | E SZTER PABIS

Weigels Studie über den topographical turn2. Den Zusammenhang von kulturellen Praktiken, menschlichem Denken, Bewusstsein oder Begrifflichkeit und dem Prozess der räumlichen (der konkreten politischen oder auch der unsichtbaren, symbolischen) Grenzziehung kann man am anschaulichsten mit einem Zitat von Georg Simmel aus dem Jahr 1908 erläutern, ohne auf die gerade erwähnten, häufig zitierten theoretischen Positionen näher eingehen zu müssen: »Der Begriff der Grenze […] bezeichnet oft genug nur, dass die Sphäre einer Persönlichkeit nach Macht oder Intelligenz, nach Fähigkeit des Ertragens oder des Genießens eine Grenze gefunden hat – aber ohne dass an diesem Ende sich nun die Sphäre eines andren ansetzte und mit ihrer eigenen Grenze die des ersten merkbarer festlegte. Dieses letztere, die soziologische Grenze, bedeutet eine ganz eigenartige Wechselwirkung. Jedes der beiden Elemente wirkt auf das andre, indem es ihm die Grenze setzt, aber der Inhalt dieses Wirkens ist eben die Bestimmung, über diese Grenze hin, also doch auf den andren, überhaupt nicht wirken zu wollen oder zu können. Wenn dieser Allgemeinbegriff des gegenseitigen Begrenzens von der räumlichen Grenze hergenommen ist, so ist doch, tiefer greifend, dieses letztere nur die Kristallisierung oder Verräumlichung der allein wirklichen seelischen Begrenzungsprozesse. Nicht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk und der Landbezirk begrenzen einander; sondern die Einwohner oder Eigentümer üben die gegenseitige Wirkung aus, die ich eben andeutete. […] Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt. [Hervorhebung von E. P.]«3

2

Vgl. u.a. Bhabha, Homi. 2000. Die Verortung der Kultur. Stauffenburg: Tübingen, Clifford, James. 1997 (1967). Routes: Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Harvard University Press: Cambridge, Foucault, Michel. 1993 (1967). Andere Räume. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Reclam: Leipzig, 34-46 und Weigel, Sigrid. 2002. Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2,2, 151-165.

3

Simmel, Georg. 1983 (1908). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker und Humblot: Berlin, 467.

F RAUEN

UNTERWEGS

| 19

Unternimmt man als Literaturwissenschaftler_in den Versuch, sich dem Thema Grenze als soziologische Tatsache und Grenzüberschreitung in der Literatur zu widmen, so ergibt sich die Herausforderung nicht nur aus der oben angedeuteten, nahezu unüberschaubaren Ansatzpluralität oder aus der offensichtlichen Komplexität des Begriffes der Grenze. Die Perspektive liegt vielmehr in der eigenartigen Dialektik, die dem Grenzbegriff innewohnt und welche vor einem postkolonialen, poststrukturalistischen Hintergrund gerade in der Auslegung von Grenzgänger_innengeschichten auch literaturwissenschaftlich fruchtbar gemacht werden kann. Der erste Aspekt der Ambivalenz der Grenze bezieht sich auf das Verhältnis von Grenze und Grenzüberschreitung. Grenzen entstehen und werden als solche wahrgenommen nur indem und solange sie überschritten werden (können). Michel Foucault stellt sogar die etwas pointiert formulierte Frage: »Hat denn die Grenze eine wahrhafte Existenz außerhalb der Geste, die sie souverän überschreitet und negiert?«4 Die Überschreitung hat in diesem Sinn eine konstitutive Bedeutung: sie ist in die Grenze »eingebohrt«, denn »[d]ie Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung«5. Die Überschreitung bejaht das begrenzte Sein, aber auch »jenes Unbegrenzte, in welches sie ausbricht und das sie damit erstmals der Existenz erschließt«6. Die konstitutive Funktion der Grenzziehung und der Grenzüberschreitung erschöpft sich aber nicht in der von Foucault beschriebenen »Affirmation der Teilung«7. Abgesehen davon, dass Grenzen durch Ausschließen etwas immer auch einschließen, durch Abgrenzung

4

Foucault, Michel. 1974. Vorrede zur Überschreitung. In: ders. Von der Subversion des Wissens. Carl Hanser: München, 32-53, hier: 37.

5

Ebd.

6

Ebd., 38. Vgl. hierzu auch Rakusa: »Zwiespältig, diese Grenzen. Sie waren befremdlich, unheimlich, angsteinflößend, aber auch faszinierend. Ich erlebte sie als Orte der Spannung, die meine Neugier weckten. Zum einen bildeten sie Barrieren zwischen Vertrautem und Unvertrautem […]. Zum anderen waren sie Übergänge, Reibungs- und Berührungspunkte. Ich ahnte ihr Geheimnis, spürte aber auch instinktiv ihre Relativität.« Rakusa, Ilma. 2009. Mehr Meer. Literaturverlag Drosch: Graz, Wien, 74

7

Foucault: 1974, 33.

20 | E SZTER PABIS

gewisse Sachverhalte bestimmbar machen, zustande bringen oder Ordnungen stiften8, sind Grenzräume immer auch jene Orte, die die Möglichkeit der Grenzverschiebung, die diskursive Konstruiertheit oder die Kontingenz der Grenzziehungen erkennbar machen. Die Grenzzonen werden infolge der Grenzbewegungen zu Orten des Dazwischen, zu Schauplätzen der Selbstüberschreitung, der Hinterfragung, der Überwindung der umgrenzten Ordnung. Der Grund hierfür ist freilich nicht nur der Grenzübertritt, sondern auch – und damit kommen wir zum zweiten Aspekt der Dialektik der Grenze – das Aufeinandertreffen von Kulturen, von Sprachen und Identitäten, ihr permanenter Austausch und ihre Vermischung, ihre beweglichen Wechselbeziehungen, die völlig neue Formationen hervorbringen. Grenzräume sind demzufolge, so Homi K. Bhabha, hybride Orte, »von woher etwas sein Wesen beginnt«9. Diese Interpretation der Grenzräume eher als Orte der Begegnung, der Vermischung und des Übergangs denn als klar gezogene Trennlinien entspricht übrigens dem ursprünglichen Raumbild, das an den Begriff der Grenze geknüpft wurde.10 Betrachtet man die Grenzzo-

8

Vgl. hierzu auch Foucaults Metaphorik der kulturellen Grenzziehung, seine Gedanken über Konstruktion kultureller Identität durch Abgrenzung, Zurückweisung des Anderen im Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft (1961). Vgl. Frank, Michael. 2006. Kulturelle Einflussangst: Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. transcript: Bielefeld, 31-32.

9

Bhabha: 2000, 7. Zur Interpretation der Literatur der Grenze im Kontext von Bhabhas Theorie s. auch Lamping, Dieter. 2001. Die Literatur der Grenze. Einleitung. In: ders. (Hg.): Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 2001, 7-18, hier: 17.

10 Monika Schmitz-Emans bespricht ausführlich, wie in der Frühgeschichte der Etablierung des Konzepts der Grenzziehung im Deutschen zunächst im Grenzkonzept ein »Beiderseits« impliziert wurde – nach der Politisierung des primär räumlichen, dann temporalisierten Begriffes der Grenze dieses Konzept von der Vorstellung einer Trennlinie (Front, frontier) abgelöst wurde, die auf der strikten Trennung und Gegenüberstellung von Fremden und Eigenem beruht. Vgl. Schmitz-Emans, Monika. 2006. Vom Archipel des reinen Verstandes zur Nordwestpassage. Strategien der Grenzziehung, der Reflexion über Grenzen und des ästhetischen Spiels mit Grenzen. In: Burtscher-Bechter, Beate et al. (Hg.) Grenzen und Entgrenzungen. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegungen

F RAUEN

UNTERWEGS

| 21

nen also als ambivalente, hybride Räume des Übergangs und der Kulturbegegnung, wo Fremdes und Eigenes sich wechselseitig durchdringen (wo ihre Dichotomie auch aufgehoben wird), so kommt man auch der anthropologischen Dimension der dem Grenzbegriff innewohnenden Gegensätzlichkeit nahe. Diese anthropologische Dimension kann wiederum mit Rückgriff auf Simmels raumsoziologisch relevante Untersuchungen beschrieben werden. So schreibt Simmel in seinem Essayband Brücke und Tür: »Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluss seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, dass er aus der ununterbrochenen Einheit des natürlichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Unendlichkeit des Seins erst an seiner Fähigkeit der Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten.«11

Diese Dialektik von Trennen und Verbinden als Grundzug des menschlichen Wesens entspricht der bereits erwähnten Ambivalenz von Grenzziehung und Grenzüberschreitung, von Abgrenzung und Verbindung bzw. Vermischung in den Grenzräumen. Die anthropologische Bedeutung der Grenze erschöpft sich allerdings nicht in dieser Analogie. Bernhard Waldenfels erläutert in Anlehnung an Walter Benjamins Begriff der Schwellenerfahrung die Relevanz der Grenzziehung in dem Zustandebringen der Lebenswelt, in der Konstruktion des Weltganzen. In wiederkehrenden Übergangserlebnissen, wie beim Abschied, Einschlafen, Erkranken oder

am Beispiel des Mittelmeerraums. Königshausen & Neumann: Würzburg, 1947, hier: 21-22. 11 Simmel, Georg. 1957. Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. [Hg. v. Landmann, Michael] Koehler: Stuttgart, 6-7. Vgl. hierzu auch Lamping: 2001, 15. Zu Simmels Überlegungen zum Zusammenhang zwischen »äußerer« Grenzziehung und »innerer« Einheit einer Gemeinschaft vgl. Frank: 2006, 38.

22 | E SZTER PABIS

Wiedersehen, Erwachen und Gesunden wird nach ihm unsere Freiheit durch Fremdartiges herausgefordert: das Fremdartige und Außerordentliche bricht auch bei »unwiderruflichen Lebenszäsuren wie Geschlechtsreife, Berufseintritt oder Altersversagen« in unsere Welt und unser Selbst ein, wie auch bei Kriegsausbrüchen, Revolutionen und »schließlich bei Grenzerfahrungen wie Geburtstraumata und Todeserwartung«12. Diese Schwellenerfahrungen weisen, so Waldenfels Fazit, darauf hin, »daß unsere Welt durch Eingrenzung von Vertrautem und Ausgrenzung von Unvertrautem zustande kommt. Das Ganze unserer Lebenswelt zerteilt sich […] in ›Heimwelt‹ und ›Fremdwelt‹«13. Grenzen, Grenzziehungen und Grenzübertritte gehören also zu den grundsätzlichen Konstruktionsmechanismen der Wirklichkeit und somit jeglicher Identität: so sind Schwellenerfahrungen, Transitsituationen etwa auch für den Entwicklungsgang der Protagonisten von Bildungsromanen konstitutiv und in der liminalen Phase der Pubertät ‒ wie auch bei jeglicher Überschreitung von politischen, moralischen Grenzen (wie etwa beim Reisen, beim Tabubruch), von Grenzen zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Traum und Erwachen ‒ wird das Dazwischen zum Teil einer jeden Lebensgeschichte. Grenzen besitzen nicht nur eine dialektische Natur und sie verfügen nicht nur über eine anthropologische Dimension, sondern sie gehören auch zu den Grundkategorien der Literatur und Ästhetik. Wolfgang Iser bestimmt das Fingieren als einen »Akt der Grenzüberschreitung«, wonach sich das literarische Fingieren als »Überschreiten gesetzter Begrenzungen«14 erweist. Der literarische Text kann aber auch im Licht aktueller xenologischer Ansätze als ein Medium und Produkt einer Grenzüberschreitung betrachtet werden: nicht nur, weil er den Lesern die Chance der Grenzüberschreitung, des Identitätswechsels bietet, sondern weil die zeitliche und räumliche Fremdheit des Textes als Voraussetzung der Auslegung zu deuten ist und weil Verfremdung ein konstitutives Moment von Kunst ist. Grenzgänger und Schriftsteller überschreiten beide die Grenzen des Ei-

12 Waldenfels, Bernhard. 1990. Der Stachel des Fremden. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 32. 13 Ebd., 32-33. 14 Iser, Wolfgang. 1991. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 52 und 55. Vgl hierzu auch Lamping: 2001, 13 und Schmitz-Emans: 2006, 41.

F RAUEN

UNTERWEGS

| 23

genen, des Gewohnten: kulturelle und ästhetische Fremdheitserfahrungen sind einander nicht unähnlich. Literarische Texte sind also im eigentlichen Sinn immer auch literarische Grenzüberschreitungen und Grenzgänger_innengeschichten: sie sind Orte eines Spiels mit oder an Grenzen15. Migrationsgeschichten, in denen räumliche Grenzüberschreitungen mit dem erwähnten »Fremdwerden der Welt und des eigenen Selbst«16 verbunden werden, kommt in diesem Kontext eine ganz besondere Relevanz zu. Da Migrationsbewegungen, transkulturelle Verflechtungen, Mehrfachidentitäten längst keine Randerscheinungen mehr sind, sondern den öffentlichen Diskurs oder auch den literarischen Kanon17 als zentrale, zeittypische Erfahrungen bestimmen, erfüllen sie eine wichtige Funktion in der Bewusstmachung der Kontingenz jeglicher Grenzziehung, in der Entdeckung der Überquerbarkeit, der Verschiebbarkeit der Grenzen. Die Grenzgänger_innengeschichten modellieren zudem, wie es am Beispiel von Ilma Rakusas Mehr Meer sehr prägnant zum Vorschein kommt, auch in ihrer narratologischen Struktur die bereits behandelten Merkmale der Grenzzonen und Schwellenerfahrungen, so u.a. die Unaufhaltsamkeit des Fremdwerdens des Selbst und der Welt oder die Prozesshaftigkeit der permanenten Verschiebung und Vermischung von Bedeutungen und Identitätskonstruktionen. Natürlich verfügen die neuerdings populären Immigrationsromane auch über eine gedächtnistheoretische Relevanz. Der Grenzübertritt als Migrationserfahrung bedeutet in erster Linie nicht nur einen Bruch mit einem Land oder eine Flucht vor gewissen historischen Ereignissen, vielmehr sind seine

15 Schmitz-Emans definiert das literarische Schreiben auch als ein Sprechen über Grenzen, als Spiel mit/in/an Grenzen: die Grenze zwischen Alltags- und Dichtersprache, Sprache und Schweigen, dem Sagbaren und dem Unsagbaren gehören, so Schmitz-Emans, zu den Kernthemen moderner Poetik (ebd.). 16 Waldenfels: 1990, 32. 17 Seit ungefähr den letzten beiden Jahrzehnten nimmt die Literatur von Autor_inn_en mit Migrationshintergrund einen prominenten Platz im deutschen Literaturbetrieb ein. (So zeigen beispielsweise renommierte Literaturpreise, wie sich Schriftsteller_innen der zweiten oder dritten Migrantengeneration auf dem Buchmarkt etabliert haben: der Ingeborg-Bachmann-Preis ging 1991 an Emine Sevgi Özdamar, 1999 an Terézia Mora, ganz zu schweigen von den zahlreichen Träger_innen des Adalbert von Chamisso-Preises oder von Melinda Nadj Abonji, der Preisträgerin des Deutschen Buchpreises 2010.)

24 | E SZTER PABIS

Konsequenzen für die Kultur, das kollektive Gedächtnis des Ziellandes von Belang. Zu fragen wäre, welche transformativen Auswirkungen die individuellen Migrationsgeschichten auf das kollektive Gedächtnis, den Identitätsdiskurs, die Öffentlichkeit der einheimischen Kultur haben, oder welchen Stellenwert die Erinnerungsorte, die historischen Geschichten und die Familienschicksale der Zuwanderer im deutschen Narrativ haben: wirken sie als subversive Gegengeschichten, werden sie exotisierend als Bereicherung der deutschen Kultur wahrgenommen oder entsteht ein bewusstes, neues Verhältnis z.B. zu den geschichtlichen Erfahrungen der ehemaligen sozialistischen Länder?18 Migrationsgeschichten greifen außerdem häufig die narrativen Muster des deutschen Familienromans (gewissermaßen auch jene des Bildungsund des pikaresken Romans) auf, indem sie in assoziativen, anekdotischen Erinnerungsströmen eine historisch bestimmte Familiengeschichte, bzw. eine in größere familiäre und geschichtliche Zusammenhänge eingebettete Lebensgeschichte erzählen, die häufig als autobiographisch gedeutet wird. Solche interkulturell perspektivierten Familienromane sind u.a. Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf (2010), Dimitré Dinevs Engelszungen (2003), Ilma Rakusas Mehr Meer (2009), oder auch Catalin Dorian Florescus Wunderzeit (2001). Die Besonderheit dieser neuen Familienromane von Autor_inn_en mit Migrationshintergrund erschöpft sich jedoch nicht einfach darin, dass sie einen Blick auf die familiären Konstellationen aus interkultureller Perspektive ermöglichen – im Gegenteil, sie zeichnen sich auch durch gewisse Abweichungen von der klassischen Definition der Gattung aus. Betrachtet man, wie bei Aleida Assmann aufgeführt wird, die Kontinuität, die Integration des Ich in Familien- und Geschichtszusammenhänge als thematische Zentren des Familienromans, so wird augenfällig, dass die Migrationsgeschichten eher von Brucherfahrungen angetrieben werden, welche die für die Gattung konstitutiven Kontinuitäten untergra-

18 Zieht man noch die disziplinübergreifend geführten Diskussionen um die Möglichkeit eines »interkulturellen Gedächtnisses« (C. Chiellino) oder vor allem um Europa als Erinnerungsgemeinschaft oder den dialogischen Erinnerungsdiskurs (A. Assmann) in Betracht, so wird die Komplexität und Aktualität des Forschungsfelds offensichtlich. Zum dialogischen Erinnern bzw. zum transnationalen Gedächtnis Europas s. Assmann, Aleida. 2012. Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur. Picus: Wien.

F RAUEN

UNTERWEGS

| 25

ben19. Die Trennlinien, die die Grenzgänger_innengeschichten strukturieren, verlaufen einerseits diachron zwischen den Generationen und andererseits synchron im Sinn von geographischen-kulturellen Grenzräumen. Diese zeitliche und räumliche Distanz wird in Form von Migrationsbewegungen und in der kulturellen Arbeit des Lesens und Schreibens von Grenzgänger_innengeschichten, von transkulturellen Familienromanen fortlaufend überschritten – gleichzeitig werden dabei auch neue Brüche in und zwischen den betroffenen Ländern, Sprachen und Kulturen entdeckt. Auch die Familiengeschichten der Migrationsliteratur reflektieren über die Einbettung des Individuums in das Familiengedächtnis und die geschichtliche Vergangenheit, sie eröffnen aber zusätzlich, wie erwähnt, einen Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem deutschen kulturellen Gedächtnis der Gegenwart und der kommunistischen Vergangenheit Osteuropas. Die Fokussierung auf den Grenzübertritt zwischen den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang und Westeuropa in literarischen Migrationsgeschichten erläutert den Stellenwert von solchen traumatischen historischen Erfahrungen Osteuropas im aktuellen Europadiskurs, wie die Verbrechen im Gulag, der Zusammenbruch des Ostblocks oder die Jugoslawienkriege. Am Beispiel der Grenzgänger_innengeschichten kommt andererseits auch deutlich zum Vorschein, warum Migrationsgeschichten keinesfalls auf die Biographie der Autor_inn_en zu reduzieren oder ethnisierend und exotisierend zu deuten sind. Das Lesen und Schreiben von Migrationsgeschichten hat zwar eine unschwer zu erkennende ethische Dimension: ihre Produktion und Rezeption ist vor allem angesichts von Phänomenen wie kulturelle Konflikte und Xenophobie schwer fernzuhalten von Schlagwörtern wie Förderung des interkulturellen Dialogs und der Toleranz. Der literarische Text kann aber selbst, wie bereits erklärt, auch als Medium und Produkt einer Grenzüberschreitung betrachtet werden: die narratologischen Zusammenhänge zwischen kultureller und ästhetischer Vielfalt stehen auch im Vorfeld der vorliegenden Untersuchung. Mein Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf grundsätzlich drei Aspekte der literarischen Grenzgänger_innenproble-

19 Vgl. Assmann: »[D]er Familienroman [steht] eher im Zeichen der Kontinuität. Hier geht es um die Integration des eigenen Ichs in einen größeren Familienund Geschichtszusammenhang. [Hervorhebung im Original]« Assmann, Aleida. 2007. Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. C.H. Beck: München, 73.

26 | E SZTER PABIS

matik: auf die Grenzüberschreitung als migrationsbedingte (räumliche, politische) Erfahrung und ihre Konsequenzen; auf Übergangserlebnisse, Grenzzonen und Schwellenerfahrungen (wie Sexualität bzw. Geschlechtsreife, Tod bzw. Krankheit) in den individuellen Lebensgeschichten und ihre literarische Inszenierung; und schließlich auf den Zusammenhang zwischen den narrativen Merkmalen der Texte, ihrer Sprache und Literarizität (ihrer Polyphonie, Metaphorik, usw.) und den Grenzüberschreitungen und Fremdheitserfahrung primär nicht-literarischer Natur.

D IE P OETIK DER G RENZÜBERSCHREITUNG IN I LMA R AKUSAS M EHR M EER . E RINNERUNGSPASSAGEN Dass Ilma Rakusas Mehr Meer (2009) in vielfacher Hinsicht zur umfassenden Untersuchung der literarischen Grenzgänger_innenproblematik anregt, verwundert niemanden, der das Leben und die Tätigkeit der Autorin kennt. Die in Zürich lebende Schriftstellerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin wurde in der Slowakei als Kind ungarischer und slowenischer Eltern geboren, sie verbrachte ihre Kindheit u.a. in Budapest, Ljubljana und Triest und entdeckte und erlernte die deutsche Sprache als Schülerin in der Schweiz.20 Die Inszenierung der sprachlich-kulturellen Pluralität, die Reflexion über Fremdheits- und Differenzerfahrungen, die Beschreibung von und das Schreiben in räumlichen, zeitlichen und sprachlichen Zwischenräumen gehören gar zu den Markenzeichen ihrer schriftstellerischer Arbeit. Rakusa definiert sich als »schreibend[e] Grenzgängerin und Übersetzerin«, die von der Dialektik der Grenze »als Schranke und Brücke« ausgehend sich an den »Topoi des Grenzgängertums« orientiert: »an Abgrenzung, Transgression und Demontage ebenso wie an der Herstellung von Zusammenhängen«21. Ihre 2009 mit dem prominenten Schweizer Buchpreis aus-

20 Deutsch wurde später zum ausschließlichen Medium ihrer literarischen Tätigkeit, obwohl Rakusa auch acht andere Sprachen spricht, aus dem Französischen, Ungarischen, Russischen und Serbokroatischen übersetzt und Ungarisch für ihre Muttersprache hält. 21 Rakusa, Ilma. 2006. Zur Sprache gehen (Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005). Thelem Universitätsverlag: Dresden, 10. Zu Rakusas »transkultureller literarischer Ästhetik« vgl. Gürtler, Christa und Hausbacher, Eva. 2012. Zur Mig-

F RAUEN

UNTERWEGS

| 27

gezeichneten, als poetisch-autobiographisch rezipierten Erinnerungspassagen thematisieren nicht überraschenderweise das Wandern zwischen Ländern, Sprachen, Gattungen und Künsten bzw. die Erinnerung an dieses. Wenn die Erzählerin sich selbst als »Unterwegskind« (7622) definiert und dabei auf den »Zigeunerzirkus« (13), das »Schimpfwort ›zigeunerisch‹« (125) hinweist oder immer wieder Synagogen besucht und über die Anziehungskraft der geheimnisvollen Schönheit und Fremdheit jüdischer Gottesdienste berichtet (177), kommen wichtige Dimensionen der Fremdheitserfahrung und des Grenzgänger_innenphänomens zum Vorschein. Mit der Geschichte der Ausgrenzung der Zigeuner und Juden (sei es durch verbale Aggression oder durch physische Gewalt, den Holocaust) lässt sich beispielsweise ein verbreiteter Mechanismus der »Selbstdefinition durch Feindmarkierung« (Hagen Schulze)23 illustrieren, die auch mit der behandelten Terminologie der Grenze und Grenzziehung zu umschreiben ist. In ihrem Zuge ruft die Fremdheit der Anderen, der Wanderer, welche die Labilität (die Willkürlichkeit, Kontingenz und dementsprechend die Veränderbarkeit, Verschiebbarkeit) der Grenzen der eigenen Ordnung bewusst macht, ihre Ausgrenzung, ihre Abwehr hervor. Die Identifikation mit dem am sichtbarsten ausgegrenzten Außenseiter ist zwar im Fall der »Zigeuner« lediglich eine »externe«, die sich im als pejorativ empfundenen »Schimpfwort« manifestiert, im Fall der Juden handelt es sich aber um eine tiefergehende Analogie. Das prototypische jüdische Schicksal, das Verhängnis der Wanderschaft der Juden (das etwa im Überschreitungsfest Pessach als Befreiung erinnert wird) wird in Mehr Meer in Analogie gestellt mit dem Provisoriumsgefühl des Migranten und wird zur Metapher des menschlichen Lebens per se: »Bei Rabbi Nachmann heißt es ›Wenn einer sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Haus‹. Rom bestärkte mich in der Wanderschaft« (219). So auch der polnische Religionslehrer der Erzählerin, der charismatische Priester Janusz: »Wir sind alle

rationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen. In: Hausbacher, Eva et al. (Hg.) Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse. Springer VS: Wiesbaden, 122-143. 22 Die Seitenzahlen nach den Zitaten aus Mehr Meer beziehen sich auf folgende Ausgabe: Rakusa: 2009 23 Schulze, Hagen. 1989. Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte? Siedler: Berlin, 28.

28 | E SZTER PABIS

Unterwegsler. […] Auf Wanderschaft. Dazu paßte Psalm 142, in der Übersetzung von Martin Buber: »…Wann in mir mein Geist verzagt / du bists doch, der meine Bahn weiß… Du bist meine Bergung, / mein Teil im Lande des Lebens…« (176). Die in dieser metaphorisch deutbaren räumlichen Bewegung implizierten Fremdheitserfahrungen erhalten durch ihre Verschränkung mit jenen des Judentums (und der Roma) auch eine gewisse zeitliche Dimension: der dunkle Schatten der historischen Vergangenheit, die Geschichten der Ausgrenzung und Verfolgung, der Flucht und Ausrottung überweben die Schauplätze der Wanderschaft. So erhalten in der Erzählung die Städte und Gebäude eine palimpsestähnliche Struktur (die dem Kind jedoch nicht bewusst wird): in der Reisfabrik von San Sabba wurde ein Depot für beschlagnahmte jüdische Güter, dann ein Konzentrationslager (ein Krematorium), später eine Gedenkstätte eingerichtet (81), in der Grenzstadt Triest stößt man auf faschistische Architektur, die Zugwagen und Bahnhöfe werden mit ihren Schattenseiten, mit Hinweis auf die unlöschbare Spur historischer Traumata (des Holocaust und des Gulags) beschrieben: »Brest ist die Grenzstadt, Brest ist der Ost, wo der Moloch Sowjetunion beginnt und das riesige sowjetische Schienennetz. Kaum sind wir angekommen, ertönen draußen Pfiffe, Schreie, Hundegekläff. Soldaten patrouillieren auf dem Bahnsteig, Soldaten stürmen in die Waggons, Kommandorufe, Paß- und Zollkontrolle, trainierte Furchteinflößung. […] Eingesperrt im Eisenroß, in einem streng bewachten, von Scheinwerfern angestrahlten Niemandsland, erlebe ich wieder die Angst, verfrachtet zu werden, Gott weiß, wohin. Der Atem stockt. Ich denke: Zäsur, und kann nicht weiterdenken.« (261)

So wird in der Grenzgänger_innengeschichte Mehr Meer die erwähnte Einbettung des individuellen und Familienschicksals in die Gewaltgeschichte größerer politischer Gebilde erzählt, worüber der Text auch explizit reflektiert: »Die innere Kompaßnadel zeigt nach Osten« (23), »Der Osten war unsere Baggage« (14) und »[d]en Osten Europas, über den sich das Netz der Familiengeschichte breitet, habe ich kreuz und quer bereist, vor allem auf Schienen« (21). Zur »Baggage« der Erzählerin gehört außer ihrer eigenen Geschichte tatsächlich die osteuropäische Vergangenheit: so erzählt sie auch über die Internierung ihres Vaters, die russische Besetzung (10), die Veränderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhanges (211-212), die Än-

F RAUEN

UNTERWEGS

| 29

derungen der Namen und der Staatszugehörigkeit ihrer Geburtsstadt Rimaszombat (25). Dadurch wird einerseits der Weg zu einem transnationalen Gedächtnis- und Erinnerungsraum eröffnet, in dem die osteuropäischen geschichtlichen Erfahrungen mit dem kulturellen Gedächtnis (West)Europas in ein dialogisches Verhältnis treten können. Andererseits weist der Text auch darauf hin, dass die Hybridität der Städte (der Schauplätze der Familiengeschichte), ihrer Namen und Geschichten zwar von den Gewittern der Geschichte verursacht wurde oder zu solchen führte, aber auch jenseits von ihnen existiert, da sie eigentlich zu ihrer Identität, zu ihrem Ursprung und ihrer Geschichte gehört, so beispielsweise die türkischen Spuren in Budapest (38-39) und die »litauisch-polnisch-russisch-jüdisch[e] Vielfalt« in Vilnius (16). Mehr Meer handelt allerdings von wesentlich mehr als nur Grenzgängen zwischen politischen Formationen, Sprachen und Kulturen. In ihrem Kontext wird auch über jenen »Einbruch des Fremdartigen und Außerordentlichen« (Waldenfels 1990: 32) erzählt, der laut Waldenfels die Übergangserlebnisse und Lebenszäsuren charakterisiert, so auch das Erwachsenwerden und die Geschlechtsreife. Die Erzählerin überschreitet auch die Schwelle der Pubertät und berichtet über die damit verbundenen Grenzgänge – die Entdeckung der eigenen sexuellen Begierde und des Interesses an männlicher Körperlichkeit – mit Hinweis auf jenes Fremdwerden des Selbst, auf jene Verschränkung von Fremdbegegnung und Selbsterfahrung, die nicht nur diese Schwellensituationen charakterisiert, sondern auch die räumlich-politische Grenzüberschreitung. So wirkt der erste Kuss, die unmittelbare Erfahrung des anderen Körpers in seiner Andersheit sowohl verlockend, als auch beängstigend auf das Mädchen, in Einklang mit der (ambivalenten) Fremdheit des Schauplatzes des Ereignisses: »Hier war ich noch nie. Mein Wald, der Indianerwald, liegt hinter Haus und Schule, rund um das Wehrenbachtobel. Dieser andere Wald ist mir fremd und unvertraut. Als ahnte er meine Beklommenheit, ergreift Werni meine Hand. […] Mir ist heiß und kalt, mir ist freudig und angstvoll zumute. Aber dann geht es ganz schnell. Wir küssen uns auf den Mund.« (117)

Die »Geburtsstunde der Sexualität« (95) fällt mit dem Wunsch nach Entdeckung der Welt, des Bereisens des Unbekannten zusammen, die beide als Abgrenzung, zur Identitätssicherung dienen. Über die Dialektik von Unter-

30 | E SZTER PABIS

wegssein und Ankommenwollen, Drinnen und Draußen, der bereits erwähnten Eingrenzung von Vertrautem und Ausgrenzung von Unvertrautem reflektiert die Erzählerin wiederum explizit: »Ging es denn um Stabilität? Um ein Gegengift gegen die Nomadenhaftigkeit meiner Kindheit, mit ihren Ortswechseln, Umzügen, Unsicherheiten? Setze ich mir selber Grenzen? Um andere, innere Räume zu erkunden?« (184). Der Text ist aber nicht nur wegen der Thematisierung des Reisens, der Transmigration, oder der Schwellensituation der Pubertät eine Grenzgänger_innengeschichte. Von Anfang an ist er determiniert durch eine Grenzüberschreitung anderer Natur: durch die existentielle Grenzsituation des Todes.24 Schon der allererste Satz berichtet über den Tod des Vaters: »Als er starb, hinterließ er nichts Persönliches« (7), später liest man noch über den Tod und das Sterben von Verwandten und den besten Freund_inn_en (Dedek, Janus und Lena) und das Thema Selbstmord durchzieht leitmotivartig den Text (im Zusammenhang mit Dostojewskis Die Brüder Karamasow und mit dem Onkel Misi, einem melancholischen Kriegsinvaliden). Die Überschreitung der Trennlinie zwischen Leben und Tod bzw. Gesundheit und Krankheit ist dem Reisen, den geographischen Grenzgängen nicht unähnlich ‒ unmittelbar mit zeitlichen (Grenz)Erfahrungen verbunden. Auf dieses sprachlich unfassbare Empfinden wird beim Tod der Urgroßmutter (sowie auch in einigen Reflexionen der Erzählerin über Gott) hingewiesen: »Hier versagt mein Denken. Hier versagt die Sprache. […] Nie mehr, schluchzt es in mir. Du wirst sie nie mehr wiedersehen. Das Unfaßbare und das Unabänderliche verschmelzen in der Negation. Nein, nie, nichts. Hier gibt es kein Weiter. […] Ich schreibe über meinen ›ersten Tod‹. […] Über dieses plötzliche ›Nie mehr‹, das wie ein Fallbeil niederging und die Welt in ein Vorher und Nachher spaltete.« (155-156)

Diese ephemere Qualität der Gegenwärtigkeit, die Aufhebung zeitlicher Grenzordnungen erfährt die Erzählerin nicht nur beim Erleben der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Lebens beim Verlust der Verstorbenen. Auch das Reisen ins Provisorium, das zum Modus vivendi geworden ist, geht einher mit einer ähnlichen Erfahrung: »In der Zugluft des Fahrens ent-

24 Auf Karl Jaspers Begriff der Grenzsituation und seine Interpretation des Todes als Grenzsituation gehe ich in dem obigen Kontext nicht ein, vgl. hierzu Jaspers, Karl. 1971. Einführung in die Philosophie. Piper: München.

F RAUEN

UNTERWEGS

| 31

deckte ich die Welt, und wie sie verweht. Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst. Ich fuhr weg um anzukommen, und kam an, um wegzufahren [Hervorhebung E. P.]« (76). Diese Entdeckung der Flüchtigkeit und Auflösung von Raum- und Zeitgrenzen wird zu einem Spiel mit der Geste ihrer bewussten Überschreitung: »Im Wald oder am Waldrand spielte ich das Jetzt-Spiel. Ich rief ›jetzt‹, lauschte dem Echo und wußte, ›jetzt‹ ist vorbei. Kaum ausgesprochen, stürzt die Gegenwart in die Vergangenheit, als fiele sie rücklings ins Meer. […] Das Echo teilte die Zeit, der ich lauernd auf die Schliche zu kommen versuchte, An die Zukunft dachte ich nicht. ›Jetzt‹. Und wieder ›jetzt‹. […] Das Spiel wurde zur Obsession. Wirklich entkam ich ihm nur, wenn der Schlaf mich ins Vergessen spülte. Im Schlaf verschwanden die Zeit- und Grenzsperren. […] Der Schlaf war Geborgenheit, außerhalb von Raum und Zeit.« (89)

Als Hort der Geborgenheit fungieren außer dem Traum25 auch die katholische Liturgie und die Orgelmusik, die oben beschriebene räumliche und zeitliche Grenzüberschreitung, das Spiel mit den Grenzen zwischen Vertrautem und Fremden, dem Wirklichen und dem Möglichen wird aber in dem Text grundsätzlich als konstitutives Merkmal der ästhetischen Tätigkeit, des Schreibens thematisiert. Einerseits sichert für die Erzählerin das schriftliche Festhalten, die Geste des Aufzeichnens (bzw. des Lesens) einen naheliegenden Schutz vor der Vergänglichkeit: so schreibt sie ihren ersten Aufsatz in der Schule über den Tod, so schreibt sie ihre Erinnerungspassagen auf, um nicht wie der Vater zu sterben, ohne eine Spur zu hinterlassen und so verfertigt sie Vermisstenlisten (304, sie sammelt, »um eine eigene Welt aufzubauen«: 312), »Grabinschriften« (131) und Totenlisten, das heißt Namenlisten im ehemaligen Warschauer Ghetto (129). Ihre Strategie des Aufschreibens wiederholt die älteste Kulturtechnik der Verewigung, der Sicherung von Dauer und Beständigkeit und darüber reflektiert der Text auch: »Ich schaue und halte fest. Ich lege Erinnerungsfährten, konstruiere Ge-

25 »Im Schlaf verschwanden die Zeit- und Grenzsperren. Keine Koffer standen herum, die an ein Weiter gemahnten. Ich fiel in ein weiches Etwas und ließ mich tragen. Der Schlaf war Geborgenheit, außerhalb von Raum und Zeit« (Rakusa: 2009, 89).

32 | E SZTER PABIS

dächtnisinventare. […] Die Liste beruhigt. Die Liste buchstabiert die Welt« (129). Die Registrierung, Inventarisierung durch Listen ist der ästhetischen Tätigkeit wesensähnlich: (»Die Liste, das Register als Poethik« – 132), kein Wunder, dass das eingewanderte Kind sich nicht in Schwyzerdütsch, in der Muttersprache seiner Schweizer Mitschüler_innen einrichtet (obwohl es auch den Dialekt erlernt), sondern in der Literatursprache, in Schriftdeutsch: »Selbstgespräche führte ich auf Hochdeutsch, in der Sprache der Bücher. Das bedeutete Abgrenzung. Von Zuhause, wo das Ungarische die Familiensprache blieb, von der Umgebung, die Dialekt sprach. […] Nach drei Sprachen, die ich zuvor erlernt hatte, war diese vierte Fluchtpunkt und Refugium.« (107)

Das Aufschreiben, das Schreiben und das Lesen gelten als Fluchtpunkte nicht nur, weil sie zur Verewigung dienen und dem Tod entgegenwirken, sondern vielmehr weil sie durch Abgrenzung von einem (durch diese Grenzziehung, durch Gegenüberstellung erst konstruierten) Anderen, dem Nicht-Identischen zur Konturierung des Eigenen verhelfen. In diesem Sinn spricht die Erzählerin von einer »Heimlichkeit der Sprache« (28) und kann sie feststellen: »Ich lese, also bin ich« (103), das heißt »Lesend entdecke ich mich selbst. Lesend entdecke ich das Andere: ferne Zeiten und ferne Kontinente, fremde Menschen und fremde Sitten, Tiere, Fabelwesen, Ungeheuer und Himmelsgeschöpfe […]« (105-106). Den Ausgangspunkt für die ästhetisch-literarische Tätigkeit bedeutet außerdem jenes bereits erwähnte Fremdwerden des Selbst, jene reflexive Beobachterposition, die einerseits zum Spiel mit dem Möglichen führt und andererseits untrennbar ist von der Migrationserfahrung26. Die von den Nachbarn streng beobachtete

26 Als eine weitere Analogie zwischen dem Fingieren und dem Reisen ließe sich außer der behandelten Welt- und Selbstdistanzierung die Aufhebung der zeitlich-räumlichen Grenzen einer Wirklichkeit erwähnen. Eine Metapher hierfür ist der Koffer (die Geschichte wird auch »mein[en] eigen[en] Kofferfim« genannt: – ebd., 34): »Das Seltsame war, wie schnell sich alles um den Koffer herum entwirklichte. […] [Er] schuf […] einen imaginären Raum zwischen den Zeiten, in dem ich ratlos und verunsichert herumstand« (ebd., 34)

F RAUEN

UNTERWEGS

| 33

und »skeptisch gemusterte« (109) Fremde wird später in den alltäglichsten Situationen von einem seltsamen Gefühl ergriffen: »Zur Verwunderung gehörte ein Gefühl des Fremdseins, als wäre ich selber nicht ganz Teil der Situation. […] Hatte ich Angst? Kaum. Aber ich sah sehr genau hin. Und beobachtete mich beim Hinsehen. Mißtrauen? Eher begriff ich das Leben als eine Art Spielanordnung. Wobei ich mich nicht nur als eine Spielfigur unter anderen sah, […] sondern als imaginären Regisseur. Tramfahrgästen dichtete ich schon früh Schicksale an, als handelte es sich um Romanfiguren. Ich versetzte sie in eine Möglichkeitsform, die mir Deutungsfreiheit erlaubte. So entriß ich sie dem Zufall oder dem, was ich dafür hielt.« (143-144)

In der Parallelwelt der Literatur kann sich die Erzählerin den vorgeschriebenen Rollen entziehen: »Ich war nicht die besorgte Schwester, nicht die gehorsame Tochter, nicht die angepaßte kleine Ausländerin, nicht die versöhnliche Freundin, nicht die ehrgeizige Schülerin, nicht das Kind mit dem Musterverhalten.« (108) Die migrationsbedingte Erfahrung, die diese Rollen bestimmt, der erwähnte Einbruch des Fremdartigen und Außerordentlichen korrespondiert jener literarischen Weltsicht, die auf Welt- und Selbstdistanzierung (oder Welt- und Selbstentfremdung) beruht und welche als Voraussetzung poetischer Tätigkeit zu deuten ist. Die Produktion und Rezeption literarischer Texte, die in Mehr Meer als »Fluchtpunkt und Refugium« eines »Unterwegskindes« thematisiert wird, ist also auch als metaphorische Ausdehnung der Reiseerfahrung, des Grenzübertrittes zu interpretieren. Diese anfangs erläuterte Verschränkung kultureller und ästhetischer Grenz- und Fremdheitserfahrungen, den Zusammenhang von politischen und biographischen Schwellensituationen und literarischen Grenzübertritten illustrieren auch die narratologischen Merkmale des Textes, so u.a. seine intertextuelle und lyrische Qualität, sowie seine metaphorische Dichte. Die häufig betonte Dialogizität oder Polyphonie und der lyrisch-musikalische Charakter der Erinnerungspassagen hängen nicht nur mit der Nicht-Linearität der Erzählweise oder der Verbalisierung von Gerüchen (316) und Klängen (170), mit den vermehrten intertextuellen Hinweisen auf Dostojewski (32, 157-164), T. S. Eliot (171) und auf Dezső Kosztolányi (316), oder mit den Anglizismen (32, 36, 38, 50, 171), den Zitaten aus Märchen (40) und aus fiktiven Interviews (215-220) zusammen, sondern sie veranschaulichen die anfangs behandelten literarischen Aspekte der Grenz-

34 | E SZTER PABIS

gänger_innenproblematik. Das Oszillieren zwischen Fremdheit und Vertrautheit, das Über-Setzen zwischen Sprachen, Kulturen und Räumen spielen in dem Text nicht nur als Merkmale kultureller Transitsituationen eine bedeutende Rolle, sondern sie bestimmen auch (und im Allgemeinen) seine literarische Qualität, seine Metaphorik und Gattung (deren Grenzen zwischen essayistischer Erzählung und Autobiographie schwer zu ziehen sind): Rakusas Grenzgänger_innengeschichte ist in mehrerlei Hinsicht ein Produkt von Grenzüberschreitungen. Ihre Vielschichtigkeit, die ich bereits oben darzustellen versuchte, lässt sich besonders gut an der titelgebenden Metapher des Meeres verdeutlichen. Auf die Analogie zwischen Grenzerfahrung, menschlichem Leben und dem Meer wird im Text mehrfach verwiesen, so bereits in dem als Motto vorangestellten Zitat von Jelena Schwarz: »Der Mensch grenzt ans Meer, / Er ist ein fremdes Land, / In ihm hausen Flüsse und Berge, / Begehren Völker auf […] Doch wenn er auf einen Punkt starrt – / Versinkt er gnadenlos.« (der letzte Vers interpretiert eindeutig den Titel: »Das dunkle Wasser steigt und steigt«: 5). An einer anderen Stelle wird das Meer zur Metapher der behandelten Befreiung durch Träume und Fingieren im Siestazimmer (»die Gedanken segelten davon. Freie Fahrt im Kopfmeer« – 62) oder zum Schauplatz eines Ringens um Leben und Tod (173-174). In der Geschichte des Unterganges der Andrea Gloria erscheint das »allesfressende« Meer als glatte Folie (134), die Schreckensnachrichten verdeckt und hierdurch wird ein zentrales Motiv ins Spiel gebracht, und zwar der Kontrast zwischen der grenzenlosen Wasseroberfläche, das heißt der Maske und der dahinter liegenden, verschlossenen, geschützten Tiefe (allgemeiner formuliert: zwischen dem sichtbaren Diesseits und dem unsichtbaren Jenseits), welche die Entdeckungslust der Erzählerin öfters herausfordert (184, 221, 307). Wesentlicher ist allerdings jene Interpretation des Meeres, die auf die grundsätzliche Ambivalenz der Grenze rekurriert: ihre Beweglichkeit, die die Unterscheidung zwischen Festland und Wasser in jeder Minute aufhebt. Diese Dynamik, die Macht des Provisorischen der Wellenbewegungen verleiht dem Meer den Eindruck der End-, Zeit- und Grenzlosigkeit, die einerseits anziehend ist (sie steht bildlich auch für die Geborgenheit durch die Liturgie: »Der Gottesdienst hat etwas Wogendes, wogend, wie die Bärte der Priester […] Wir sitzen nicht, wir wogen« – 246), andererseits aber auch Misstrauen und

F RAUEN

UNTERWEGS

| 35

anthropologische Angst vor dem Unvertrauten hervorrufen kann.27 Die Dialektik von Ordnung und Ordnungswidrigkeit, Abgrenzung und Transgression, die Spannung zwischen Innen und Außen, Nah und Fern, das Oszillieren zwischen Fremdem und Vertrautem charakterisiert sowohl (literarische oder politische) Grenzräume bzw. Grenzübergänge, als auch das Meer bzw. die Grenzverletzung der Seefahrt. Hinzu kommt das Erlebnis der Relativität zeitlicher Grenzen und ihrer Überschreitung, sowie die Dichte, die Intensität dieses Erlebnisses, die nicht nur bei räumlichen Grenzgängen, sondern auch beim (literarischen) Schreiben oder beim Träumen konstatiert wird: »Wir überwanden Hindernisse. Die Grenzen waren wie ein Wellenkamm, wo sich alles staute, intensivierte und überschlug. Auch die Zeit.« (75). Diese grundsätzliche Ambivalenz und die permanente Beweglichkeit, Prozessualität werden im Text zum Wesensmerkmal von allem Lebendigen: nach dem Jelena-Schwarz-Zitat im Motto versinkt der Mensch, wenn er starrt (5) und die Erzählerin bekennt sich bewusst zu ihrer Wanderschaft, definiert sich als Unterwegsler in Rom (vgl. die bereits zitierten Worte des Rabbi: »Wenn einer sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Haus«- 219). Das Provisorische, das im räumlichen Sinn als migrationsbedingte Erfahrung deutbare Unterwegssein erhält dadurch einen beinahe ontologischen Status, es wird zum Merkmal des schlechthin Menschlichen und zur Voraussetzung der kulturellen Praxis des Schreibens, der Weltdeutung. Die Nichtlinearität, die Fragmentarität der Erinnerungspassagen (das Wort Passage, das heißt Durchfahrt oder Durchgang bedeutet auch Schiffreise oder Seeweg), entsprechen der Unabschließbarkeit, dem In-Bewegung-Bleiben, der Prozesshaftigkeit der Wellen- und auch der Grenzbewegungen.

27 Zur Dämonisierung des Meeres als Ort der Gesetzlosigkeit vgl. u.a. Hans Blumenberg: »Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen«. Blumenberg, Hans. 1997 (1979). Schiffbruch mit Zuschauer. Suhrkamp: Frankfurt a.M.

36 | E SZTER PABIS

G RENZGÄNGE IN M ELINDA N ADJ ABONJIS T AUBEN FLIEGEN AUF Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf (2010) gewann Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Schweizer Literaturpreis, als auch die Literaturauszeichnung Deutschlands mit der größten Publikumsresonanz, den Deutschen Literaturpreis. Bereits diese beiden Ereignisse stellen in einem gewissen Sinn Grenzüberschreitungen dar: die Buchpreise haben die Schweizer und die deutsche Grenze übertreten. Die Autorin und Performerin Nadj Abonji entstammt außerdem der ungarisch sprechenden Minderheit in der serbischen Vojvodina, ihr Roman über Migration und Integration behandelt das Dasein zwischen den ungarischen, serbischen und schweizerischen Kulturen. Zudem ist der buchpreisgekrönte Text bei einem österreichischen Verlag erschienen (beim Salzburger Jung und Jung Verlag) und Nadj Abonji, die das Preisverleihungspublikum in Frankfurt am Main auch auf Ungarisch begrüßte, wird in Deutschland als Schweizer Autorin mit einem Migrationshintergrund, in der Schweiz als Serboschweizerin, als Schweizerin aus ExJugoslawien und in Ungarn als in der Schweiz lebende Vojvodiner Ungarin wahrgenommen. Die Begründung der sieben Jury-Mitglieder lautete wie folgt: »Was als scheinbar unbeschwerte Balkan-Komödie beginnt […], darauf fallen bald die Schatten der Geschichte und der sich anbahnenden jugoslawischen Kriege. So gibt das Buch ›Tauben fliegen auf‹ das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europa im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen hat.«28

Das Schlüsselwort Europa ist nicht nur mit der bereits erwähnten Diskussion um einen dialogischen (europäische und nationale Perspektiven zusammenführenden) transnationalen Gedächtnisraum oder mit der verbreiteten Vorstellung von multiethnischen Regionen wie der Vojvodina als »Europa

28 Jobst-Ulrich Brand (Focus), Thomas Geiger (Literarisches Colloquium Berlin), Ulrich Greiner (Die ZEIT), Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung), Ulrike Sander (Osiandersche Buchhandlung, Tübingen), Cornelia Zetzsche (Bayerischer Rundfunk) und Jury-Sprecherin Julia Encke (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), http://www.deutscher-buchpreis.de/de/414536/ (Zugriff am 25.04.2014)

F RAUEN

UNTERWEGS

| 37

im Kleinen« zu verbinden, sondern es veranschaulicht hervorragend die behandelte ethische (nicht-literarische) Dimension der Produktion und Rezeption von Migrant_inn_engeschichten. Die meisten Rezensenten deuten den Roman autobiographisch, betrachten die Ich-Erzählerin Ildikó als Nadj Abonjis Alter-Ego29 und betonen die Relevanz der Preisverleihung in dem Kontext der ausländerfeindlichen Initiativen in der Schweiz30 und auch in Deutschland ‒ so u.a. Ronald Pohl: »Man erwärmt sich nachhaltig für Abonjis Anliegen: In Tagen, in denen Thilo Sarrazins eugenische Ausflüge in die deutsche Migrationsdebatte für rauchende Köpfe und lose Zungen sorgen, eignet Melinda Nadj Abonjis Roman eine unbedenkliche Vernünftigkeit, die sich wiederholt in Sätze von einiger Schönheit zu kleiden versteht.«31

29 Martin Ebel nennt die Ich-Erzählerin Ildikó ein »Alter Ego der Autorin«: Ebel, Martin. Wenn die Fremde zur Heimat werden muss. Tages-Anzeiger. 06.09. 2010. http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Wenn-die-Fremde-zur-Heimatwerden-muss-/story/12817446 (Zugriff am 25.04.2014). Nach Roland Pohl erzählt Nadj Abonji von der Emigration »vor dem Erfahrungshorizont ihrer eigenen Biographie«: Pohl, Roland. Integration durch Erzählsprache. Der Standard. 9./10.10.2010 30 Vgl. hierzu Adrian Riklin: »Dass ein Roman ausgezeichnet wird, der von einer Migrantin aus Ex-Jugoslawien geschrieben wurde und auch davon handelt, ist nicht nur für die Schweizer Literatur ein Signal. In Zeiten, da ›Swissness‹ und (staatlich geförderte) Refolklorisierung bis weit in den Kulturbetrieb hineindringen und ›Integration‹ weitgehend als ›Unterordnung‹ definiert wird, tut es gut zu wissen, dass hierzulande in den nächsten Wochen aller Voraussicht nach ein Buch die Bestsellerliste anführen wird, welches das Leben in diesem Land aus einer anderen Welterfahrung zu erzählen vermag. Und dies in einer Zeit, in der ausländerfeindliche Kampagnen und Initiativen (samt Gegenvorschlägen) über das Land ziehen und bis weit über die politische Mitte hinaus wirken.« Riklin, Adrian. Die »Jugos« vom Café Mondial. Die Wochenzeitung. Nr. 40/2010 vom 07.10.2010. http://www.woz.ch/1040/ungarisch-serbisch-schweizerische-literatur/ die-jugos-vom-cafe-mondial (Zugriff am 25.04.2014) 31 Pohl: 2010.

38 | E SZTER PABIS

Das Romanthema Grenzüberschreitung ist auch in diesem Text nicht nur als migrationsbedingte Erfahrung zu deuten, sondern sie bezieht sich auch auf die Kluft zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Generationen, zwischen Schweigen und Erzählen. Erzählt wird aus der Perspektive der Tochter Ildikó die Geschichte der Familie Kocsis, die aus der Vojvodina Ende der 1960er Jahre in den Westen zieht (der Vater Miklós wurde als Konterrevolutionär verfolgt, der Großvater Papuci von den Faschisten und auch von den Kommunisten gedemütigt). Der Vater Miklós Kocsis und die Mutter Rózsa betreiben in der Schweiz eine Wäscherei, später ein Kaffeehaus und die beiden Töchter Ildikó und Nomi, die im vojvodinischen Dorf bei der Oma Mamuci aufwachsen, werden nachgeholt. Die Familie reist regelmäßig zurück in die Vojvodina (im Sommer, zu Hochzeiten oder zu Beerdigungen), die Töchter lernen und sprechen Schweizerdeutsch; die Familie besteht den Einbürgerungstest und erhält nach öffentlicher Abstimmung die Schweizer Staatsbürgerschaft – man könnte denken, es handelt sich um eine musterhafte Geschichte der erfolgreichen Integration und des sozialen Aufstiegs der Familie. Doch stehen vielmehr die Schatten der Vergangenheit und der Gegenwart im Vordergrund: das Familienschicksal ist mit dem traumatischen Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Kommunismus, sowie auch mit der Gewaltgeschichte der Jugoslawienkriege verschränkt (Papucis Hof wird enteignet, Ildikós Halbschwester flüchtet nach Ungarn in ein Lager, ihr Cousin Béla, der Taubenzüchter wird zwangsrekrutiert, die Hilfskraft im Familienbetrieb Dragana ist besorgt um ihren Sohn im belagerten Sarajevo). Ildikós Lebensgeschichte, ihre Erzählung über die Erzählungen der Familienmitglieder thematisiert dementsprechend die Wechselwirkungen zwischen der politischen Geschichte und dem Familiengedächtnis bzw. die interfamiliären Erinnerungsstrategien. Ihre Geschichte bringt aber auch die Brüchigkeit des Mythos Schweiz zum Vorschein: obwohl die Eltern unterwürfig ihren Wohlstand erarbeiten, das Schweizer Arbeitsethos verkörpernd sich überanpassen32, fällt die Familie beinahe der ausländer-

32 Ein gutes Beispiel für die Überanpassung der Eltern ist nach Joanna Flinik, dass Rózsa die Befürchtungen der Schweizer Mehrheitsgesellschaft im Zusammenhang mit den Balkan-Flüchtlingen teilt: »es kommen jetzt so viele Jugos, da sind die Schweizer abweisend, wir wären auch abweisend in ihrer Lage […] wenn eine Masse kommt, dann kannst du keine Anteilnahme erwarten an einem Einzelschicksal« (180), zitiert nach Flinik, Joanna. 2012. Zur literarischen Artikula-

F RAUEN

UNTERWEGS

| 39

feindlichen Schwarzenbach-Initiative zum Opfer und die Anständigkeit der kultivierten Schweizer Gäste im Familiencafé Mondial entpuppt sich eines Tages auch als eine Maske, als jemand die Wände der Männertoilette mit Fäkalien beschmiert ‒ als Wörtlichnehmen der Metapher im Ausdruck »Scheissausländer« : »[...] im Mondial hat uns noch nie jemand ›Schissusländer‹ genannt, unsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung passen; und ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht, was an dieser Anständigkeit, die mit aufrechter Haltung und gedämpfter Stimme einen Kaffee bestellt (samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist, aber jetzt, wo ich nichts fühle, aber putzend denke, verstehe ich mich, dass das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist, und zwar eine undurchdringliche: sie hat den nicht einzuholenden Vorteil, dass man jemandem die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann [...], kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheiße in die Hand genommen und sie an unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch (ich, die ›Scheiße‹ schreibt, kann mir nicht vorstellen, wie die hiesigen Bürgerinnen und Bürger das Wort in den Mund nehmen, aber vielleicht tun sie es, flüstern sich ›Scheiße‹ zu, Jugo und Scheiße, das passt zusammen.« ( 283)33

Die Maskenhaftigkeit, von der in dem Zitat die Rede ist, steht auch als zentrale Metapher für die Position der Seconda Ildi. Diese Position zeichnet sich nicht nur durch den Schein der geglückten Integration aus, sondern entspricht auch der ‒ in Mehr Meer auch vorhandenen ‒ (selbst)reflexiven Haltung der halb außenstehenden Beobachterin und wird sichtbar u.a. als Ildi sich als Serviertochter verkleidet fühlt: »[I]ch, die übrigens eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trägt und einen Jupe, der mich zum Trippeln zwingt. Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verklei-

tion der Machtverhältnisse im Migrantenleben. In: Vilas-Boas, Gonçalo/Martins De Oliveira, Teresa (Hg.). Macht in der deutschschweizer Literatur. Frank & Timme: Berlin, 407-426, hier: 414. 33 Die Seitenzahlen nach den Zitaten aus Mehr Meer beziehen sich auf folgende Ausgabe: Nadj Abonji, Melinda. 2010. Tauben Fliegen auf. Jung und Jung: Salzburg/Wien.

40 | E SZTER PABIS

dung bereitsteht, zeige, dass ich eine geeignete Buffettochter bin, ich, der Kuckuck hinter der Theke, glücklicherweise, denn im Service fühle ich mich vogelfrei, freie Sicht auf sie, die ich bin.« (88-89)

Ein Medium der Auseinandersetzung mit der politischen und der Familiengeschichte und mit den Brüchen in der Schweizer Gegenwart ist der Generationenkonflikt, die Kluft zwischen der ersten und zweiten Generation von Migrant_inn_en: Nadj Abonjis Familienroman ist nicht nur eine Migrationsgeschichte, sondern auch eine Töchtergeschichte und das bestimmt auch die narrativen Gestaltung, die sprachlich-ästhetische Qualität des Textes. Für die duldsame, demütige Haltung der Eltern steht der leitmotivisch wiederholte Satz »Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, wie müssen es uns zuerst noch erarbeiten« (85, 290), die Töchter dahingegen rebellieren gegen die Eltern und ihre Überanpassung: »Wir müssen uns anpassen, sagt Mutter mit diesem Blick, den ich nicht mehr sehen will, an die Scheisse?, schreie ich, und wo fängt der Widerstand an?« (300). Wohl bemerkt: Ildikó selber internalisiert der Mutter ähnlich die Befürchtungen der Schweizer Mehrheitsgesellschaft, als sie bei der Formulierung einer Stellenanzeige für den Familienbetrieb »Schweizerin bevorzugt« schreibt: »Obwohl ich im Inserat ›Schweizerinnen bevorzugt‹ geschrieben habe, haben sich ausschliesslich Ausländerinnen gemeldet (ich, die es geschrieben hat, denke an uns, an die Familie Kocsis, was es bedeutet, wenn wir Schweizerinnen bevorzugen. Nichts. Es bedeutet nichts, es ist einfach so, sage ich mir)« (88)

Das befremdende Spiel mit dem Pronomen »ich« (seine Verbindung mit dem in dritter Person konjugierten Verb im Relativsatz, mit dem Kollektivsubjekt »wir«, sein doppelter Gebrauch als Subjekt und Adressat des Sagens) entlarvt jene Spaltung des Ich, die nicht nur eine migrationsbedingte Erfahrung ist, sondern vielmehr auf die selbstreflexive Positionierung des/ der Schreibenden (der/die sich notwendigerweise von sich selbst auch distanzieren muss) oder die Schwellenphase der Adoleszenz zurückzuführen ist. Die Abgrenzung der Töchter von den Eltern und Ildikós Schweben oder Pendeln zwischen zwei Welten34 sind auch nicht nur typische Erfahrung der

34 Erika Hammer macht darauf aufmerksam, dass die meisten Schauplätze von Ildikós Leben in der Schweiz (das Café Mondial, die ehemalige Fabrik Wohl-

F RAUEN

UNTERWEGS

| 41

sogenannten Secondas, der zweiten Einwanderergeneration, sondern eher altersbedingte Teenager-Erfahrungen, so wie auch der endgültige Verlust der alten Heimat, der Kindheitswelt bei Mamika nicht nur mit der räumlichen Distanz und den Jugoslawienkriegen zusammenhängt, sondern auch mit Mamikas Tod und dem Erwachsenwerden der Töchter. Ildikó erzählt auch und vor allem über dieses Erwachsenwerden, die Identitätssuche, ihre Erfahrungen mit Drogen und Jungs (mit den Hausbesetzern Dave und Mark) und Liebe (zu Matteo und Dalibor) und in dem Roman wird die kindliche Perspektive durch jene einer jungen Frau abgelöst, die sich von den Eltern trennt und in die erste eigene Wohnung einzieht. Grenzüberschreitung ist ein konstitutives Strukturmoment der Migrations- und Töchtergeschichte bzw. des Familienromans auch in einem besonderen Sinn: die räumlich-geographischen Grenzgänge, die Zeitsprünge, die thematisierten Schwellenerfahrungen (Sexualität, Tod) sind in Nadj Abonjis Roman eingebettet in den Kontext des Sprechens, des Erzählens, das heißt der Überwindung des Schweigens. Ildikó schweigt nicht, wenn sie mit Xenophobie konfrontiert wird und ihre Erzählung der Familiengeschichte ist auch eine private Spurensuche, die zu Entdeckungen von Familiengeheimnissen führt. (Die Töchter erfahren im Nachhinein, dass sie eine 18jährige Halbschwester haben, dass ihr Vater bereits zum zweiten Mal verheiratet ist und dass er sich von der ersten Frau Ibolya scheiden ließ.) Die verschwiegenen Geschichten, die Risse durch die Familie, die in dem Roman parallel mit den durch historische Zäsuren bestimmten Geschichten zum Vorschein kommen, werden allerdings nie von Männern und auch nicht von der Mutter, sondern von Mamika und Ildikó erzählt. Ildikós Sprache ist eine Art weiblicher Sprechgesang: die fehlende Punktsetzung, der freie Assoziationsflug, der erwähnte Wechsel der Pronomina erwecken den Eindruck von Musikalität und Mündlichkeit. Die assoziativ aneinanderge-

groth, Bahnhöfe, Züge, Autos) temporäre Aufenthaltsorte oder Nicht-Orte im Sinn von Marc Augé sind: ihre Omnipräsenz ist auf die transitorische Lebensweise des Migranten zurückzuführen, der nicht einmal am Romanende, in ihrer ersten eigenen Wohnung ankommen kann oder will und jegliche Form verbindlicher Identitäten und Zugehörigkeiten ablehnt. Hammer, Erika. 2014. Individuumnak lenni, akinek története van. Identitásnarratívák Melinda Nadj Abonji Galambok röppennek fel című regényében. In: Filológiai Közlöny 2014/1. LX, 2947.

42 | E SZTER PABIS

reihten Episoden werden in Rückblenden erzählt, am Anfang wird in wirForm, später (wo Ildi erwachsen wird und der Krieg anbricht und die Besuchsfahrten enden) konsequent in Ich-Form. Der polyphone Text des Romans wird strukturiert durch Wiederholungen: regelmäßig wechseln zwei Erzählebenen (die Schweizer Kapitel: die Welt der Arbeit im Familienbetrieb und die Rückblenden: die Ferienstimmung bei den Fahrten in die alte Heimat). Gewisse Motive rekurrieren (Tauben35, Autos – als Symbole männlicher Stärke und sozialen Aufstiegs haben die Kocsis’ zunächst einen braunen Chevrolet, dann einen weißen, später einen silbergrauen Mercedes), der Satz: »Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten« wird wie erwähnt refrainhaft wiederholt. Diese Wiederholungen, die den Text (wir könnten ihn auch Erinnerungsstrom, pikaresken Roman, Tochtergeschichte nennen) strukturieren, erinnern auch an jene Zyklizität, die nach Julia Kristevas Erläuterungen für die weibliche Zeit typisch ist und der männlichen Zeit der Linearität und Progression gegenübersteht.36 Die Weiblichkeit ist aber nicht nur in diesem Sinn (als abstraktes Strukturprinzip oder Metapher der Rekursivität) bestimmend für die Erzählhaltung, sondern sie ist als Inbegriff der Dialogizität, als Gegenpol zur männlichen Schweigsamkeit konstitutiv für die Identität und erzählerische Stimme von Ildikó. Das Leben der Elterngeneration weist eine patriarchalische Familienstruktur auf: Ildikós männliche Verwandten, die ihren Mercedes bewundern, die schnapsseligen, politisierenden Männer in der Vojvodina ver-

35 Tauben kommt nicht nur im Alltag der Familie des Taubenzüchters Béla eine prominente Rolle zu (am Familientisch wird Taubensuppe gegessen), sondern sie erhalten auch eine übertragene Bedeutung: als Metapher für Aufbruch und Ankunft oder Neuanfang, für Freiheit und Flucht tauchen sie an mehreren Stellen des Romans auf: bereits im Titel, dann im Mamikas Gesang (»Von meiner Mutter habe ich das Herz einer Taube, von meinem Vater habe ich das frohe, musikverliebte Gemüt« – 152) und schließlich als Taubenschar auf dem Bahnsteig. als sich die Erzählerin in ihnen verkörpert sieht (»ich sah uns vom Kiosk aus, ich hinter Zeitungen, Zeitschriften, Kaugummis, Schokoriegeln stehend – ich sah uns, übergross, ich, eine aufgeregt flatternde Taube, von menschlichen Schritten aufgescheucht« – 145). 36 Vgl. Kristeva, Julia 1995 [1986]. Women’s Time. In: Moi, Toril (Hg.). The Kristeva Reader. Blackwell: Oxford. 189-213, hier: 191-192.

F RAUEN

UNTERWEGS

| 43

körpern eine autoritär-konservativ geprägte Machowelt ‒ quasi als Pendant zu der konkreten männlichen Gewalt, die sich in der fremdenfeindlichen Aktion der Schweizer oder auch in der Verfolgung der Familie durch die Faschisten und Kommunisten manifestiert. Ildikós Nichte Csilla, die trotz der elterlichen Verbote mit ihrem Geliebten in einem abgelegenen Slum in Armut lebt, ist für ihren Vater (den Schwager Piri) gestorben, sie wird nur von Frauen (Ildi, Nomi, ihrer Mutter, Tante Icu) besucht und insgeheim mit Lebensmitteln versorgt, Ildikós Mutter Rózsa wurde von ihrem Vater misshandelt (beleidigt, verprügelt, weil sie gegen seinen Willen Lehrerin werden wollte und ein Kind erwartete, das sie infolge der Prügel verlor). Selbstentfremdung und Selbstdistanz (oder sogar Selbstflucht) werden auch in den Erzählungen der Mutter nicht nur als Konsequenzen der Migration sondern vielmehr als Voraussetzung des Erzählens von verschwiegenen Familiengeheimnissen thematisiert: Rózsa berichtet ihrer Tochter über ihren erfolglosen Kampf gegen den Vater, über die gescheiterte Emanzipation konsequent in dritter Person – als Subjekt der eigenen Lebensgeschichte tritt an Stelle des Ichs »eine junge Frau« (125-127). Ihre Schlussfolgerung (die von der Generation Ildis allerdings abgelehnt wird) lautet wie folgt: »Wenn du etwas gegen den Willen deines Vaters tust, dann hast du die ganze Welt gegen dich, sagt Mutter, du musst dich mit ihm versöhnen, ihm wenigstens das Gefühl geben, dass du nichts über seinen Kopf hinweg entscheidest. Und: alles, was du tust, bleibt an dir hängen, verstehst du das? (aber Onkel Piri ist doch ganz anders, er ist nicht so, wie der Vater in deiner Geschichte; Mutter, die Nomis Einwand ignoriert), Csilla, die antwortet, sie respektiere Mutters Geschichte, sie danke ihr dafür, dass sie hierher gekommen sei, um ihr die Augen zu öffnen, aber ihr mache es nichts aus, hier zu leben […]« (128).

Ildikós Vater weiß auch nicht, dass sie Philosophie und Germanistik studiert, er ist gegen die Emanzipationsversuche der Töchter.37 Seine Vorstel-

37 Vgl, dazu folgende Textstelle: »Ohhhhh jaaa, als nächstes bringen sie ihre Männer unter mein Dach, und dann soll ich der Kollege sein von den Männern meiner Töchter, mit ihnen Duzis machen, per du, froit mi!, sagt Vater und schüttelt eine Hand in der Luft (und mir fällt ein, dass mir bei einem Klassenausflug, ich war noch nicht lange in der Schweiz, meine erste Wurst, die ich in meinem Leben grillierte, ins Feuer fiel, dein Stecken war zu dünn, sagte die Lehrerin, als

44 | E SZTER PABIS

lung von dem idealen Mann für seine Töchter wird in Ildikós Text als konservatives Klischeedenken spielerisch verstellt: »[D]er ideale Mann ist ein Ungar, am allerbesten ein vajdasági magyar, ein Vojvodiner Ungar, dem man Geschichte nicht erst erklären muss, der weiss, was es heisst, einer Minderheit anzugehören, und weil er das weiss, ist er auch ausgewandert, in die Schweiz, ein Vojvodiner Ungar, der erfolgreich ist in der Schweiz, einen richtigen Beruf hat, also nichts mit Reden oder Malen oder Musik; er hat ausserdem Haare oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, zückt immer als erster, unauffällig, das Portemonnaie, er lässt sich nie von einer Frau einladen und isst gern schweres, männliches Essen, das Gegenteil also von jenen bleichen Männern, die so viel Gemüse und Salat essen wie die Kühe Gras, seine Kleidung ist korrekt, vor allem seine Schuhe, er war im Militär und geht sicher nie demonstrieren in einem demokratischen Land, womöglich noch am 1. Mai!« (204)

Die dominierende Rolle der Autorität der Väter wird jedoch in der Familiengeschichte allmählich untergraben und in erster Linie nicht etwa wegen des Anachronismus ihres Denkens in der Schweiz oder wegen der pubertären Rebellion der Töchter (insbesondere durch Ildis Ausbruch aus der Familie am Romanende), sondern infolge der erzählerischen Bewältigung der Familienvergangenheit, infolge ihres Neuerzählens als Tochtergeschichte durch Ildikó. Der Generationenkonflikt offenbart sich in dem Text nämlich nicht nur in der Ablehnung etwaiger konservativer Geschlechterrollen der Eltern, sondern vor allem auf der Ebene der Erzählung über die (persönliche und historische) Vergangenheit als konstitutives Moment der Identität.

ich zu weinen anfing), und das Leben, wissen sie denn, was das Leben wert ist, wenn es aus einem einzigen Zwang besteht, wenn man nicht einmal seinen gottverdammten Beruf wählen kann? Irgendein dahergelaufener Kommunist, der dir vorschreibt, was du für eine Lehre machst, wie dein Name geschrieben wird, wie du furzen sollst, dass dein Furz gegen das System gerichtet ist (und ich, ich sehe mich draussen sitzen, auf meinem Stuhl im Gras, neben mir die aufgebundenen Rosenstöcke, die Stiefmütterchen im Beet, violette und gelbe, die ich nie gemocht habe), und deine Töchter mit ihren konfusen Köpfen, die eine interessiert sich nicht für die Schule, hat was im Kopf, aber braucht ihn für alles andere, und die zweite, was tut sie?, sie studiert Geschichte, antworte ich, Vater, der mich nicht hört, aufsteht, die Bar öffnet, die Flasche herausnimmt […]« (228).

F RAUEN

UNTERWEGS

| 45

Der Vater, in dessen Denkhierarchie der »perfekte Mann« nichts mit Reden, Malen oder Musik (mit der als »weiblich« eingestuften ästhetischen Tätigkeit) zu tun hat, schweigt viel, wie auch die Familiengeheimnisse von den Männern verschwiegen werden. Allein das Fluchen, diese auf die performative Funktion reduzierte, unübersetzbare, nicht-narrative Sprache gilt als »Vatersprache«, als eine Art (von der Erzählerin übrigens bewunderte) männliche Muttersprache in dem Text (auch mit ihrem Geliebten, dem Serben Dalibor unterhält sich Ildikó auf Englisch38): »[…] dann weiss ich, dass es etwas an ihm gibt, das ich verstehe, und ich wünschte mir, ich könnte Vaters Flüche hörbar machen, so in die andere Sprache übersetzen, dass sie wirklich glänzen […] aber sollte mir das nie gelingen, so bin ich mir immerhin sicher, dass Vater losballert, um zu verhindern, dass seine Muttersprache auskühlt, solange das Fluchen noch fliesst, können die geliebten Wörter doch unmöglich absterben, oder? (Und wenn es möglich wäre, Vaters Wendungen in die andere Sprache, ins Deutsche zu überführen, dann könnte ich ihm zeigen, dass ich seine Art, sich fluchend oder schweigend mitzuteilen, versteh.« (165)

Auch Ildikós Mutter vertritt in dem Sinn die »Sprachlosigkeit« des Vaters, dass sie vieles verschweigt (Der Satz »Von gewissen Dingen habt ihr keine Ahnung« – 122 wird zwar in unterschiedlicher Form aber immer wiederholt) und wenn sie überhaupt erzählt, dann spricht sie niemanden an: »Gut, ich werde auch etwas erzählen, aber ich rede zu den Pflanzen da draussen. Und weil Mutter zu den Pflanzen redete und nicht zu uns, schaute sie uns auch kein einziges Mal an, während sie erzählte. Und wie ihr wisst, stellen die Pflanzen keine Fragen, sagte Mutter noch, bevor sie zu reden anfing, uns die Geschichte erzählte, die für Nomi und ich seither Mutters Gelbe-Regen-Geschichte war, an die wir uns erinnerten, wenn wir begreifen wollten, dass jeder Mensch ein Geheimnis hat, sogar unsere Mutter.« (122)

Die verschwiegenen Geschichten, die Familiengeheimnisse werden den Töchtern allein von Mamika erzählt, der herzensguten Großmutter, an den

38 Das Schweigen und das Fluchen ließen sich auch als Pendants zur Unerzählbarkeit jener historischen und biographischen Traumata interpretieren, die in den Roman eingeflochten sind.

46 | E SZTER PABIS

Zauberorten der Kindheit in dem zeitlosen (in Ildis Augen unveränderten) Heimatsdorf in der Vojvodina. Die Szene, wo Mamika die Töchter in die Familiengeschichte einführt, ist kontrapunktisch zur Gelbe-Regen-Geschichte der Mutter zu deuten: »Mamika erzählt uns von Vater, von ihrem Miklós, und ich weiss gar nicht, ob es recht ist, weil er euch ja offenbar nichts erzählt hat über seine erste Frau, aber warum sollt ihr das nicht wissen?, und während Mamika gleichmässig und ruhig spricht, schaut sie immer wieder Nomi an, mich, als müsste sie prüfen, ob sie ihre Erzählung fortsetzen kann.« (75)

Die Geschichtenerzählerin Mamika wird dadurch zur Mutter der IchErzählerin Ildikó (»meine grausame Direktheit, Mutter zu zeigen, dass nicht sie meine Mutter war, sondern Sie, Mamika«- 275), und nach ihrem Tod spricht diese erzählerische Stimme nicht mehr (nur) in erster Person Singular oder Plural, sondern sie spricht die Großmutter an. Ildi versucht Mamika in diesem stummen Zwiegespräch im Leben zu halten oder wieder zu beleben: »Svájcba, hatten Sie manchmal gesagt, Vater und Mutter seien in der Schweiz, in einer besseren Welt. Und wissen Sie, wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? ›Besser‹ bedeutete für mich einfach ›mehr‹ [Hervorhebung im Original]« (172-173). An diesen Stellen wird das erzählerische Ich im Dialog mit dem fiktiven Du (Mamika) konstruiert und diese Dialogizität deutet auch auf ein dialogisches, durch Erzählen konstruiertes Verhältnis zu der Gegenwart und der (persönlichen und historischen) Vergangenheit hin. Das Erzählen erweist sich in dem Text damit als ein weiblich konnotiertes Konstitutionsmerkmal jener neuen Identität, die Ildikós Generation zu Teil wird. Gleichzeitig lässt sich diese Dialogizität – was sich auch durch die Rezeption der beiden Romane bestätigt ‒ im Assmann’schen Sinn auch auf das Verhältnis des Schweizer kollektiven Gedächtnisses und der osteuropäischen Erinnerungskulturen beziehen.

Unbestimmtes Geschlecht zwischen Repräsentation und Performanz Beobachtungen am Gegenwartsroman S IGRID N IEBERLE

Auf einer interdisziplinären Tagung zum Thema Sex and Gender referierte unlängst eine junge Ärztin zu ihrem Arbeitsalltag in der Trans- und Intersexualitätsmedizin an einer süddeutschen Universitätsklinik. Das zielorientierte Handeln des medizinischen Kollegiums, das den Patienten und Patientinnen in jeder Altersstufe zu ihrem ›richtigen‹ Geschlecht verhelfen soll, kam besonders deutlich im Sprachgebrauch der Ärztin zum Ausdruck. Auffallend häufig und ganz beseelt von ihrem teleologischen Ethos einer therapeutischen und für die Lebenszeit gültigen Umwandlung der Geschlechtsidentität ihrer Patientinnen und Patienten von einem ins jeweils andere biologische Geschlecht leitete sie ihre Sätze mit der Formulierung »Im Endeffekt ...« ein. »Im End-effekt ...?« Sie sprach den regionalen Dialekt, und treffender hätte dieser Dialekt ihre Ausdrucksweise mit den umgangssprachlich verschliffenen Silben nicht kommunizieren können: »Im Enddeffekt ...« Seit einigen Jahren eröffnen immer mehr Länder und Kulturen weltweit eine dritte Personenstandskategorie, die weder dem männlichen noch weiblichen Geschlecht zugeordnet ist. Damit wird der traditionelle, vor allen in den westlichen Ländern wirkmächtige Geschlechterbinarismus erweitert und entkräftet. Facebook beispielsweise zieht auf der Ebene der sozialen Medien mit und lässt seit Februar 2013 eine dritte Identitätskategorie zu,

48 | S IGRID NIEBERLE

die mit »intersexuell«, »transsexuell« oder »neutrois« näher bestimmt wird. Auch können Nutzer_innen entscheiden, mit welchem Personalpronomen sie im Netzwerk angesprochen werden wollen: er, sie oder es. Wie kann eine unlängst getroffene juristische Regulierung eines »unbestimmten Geschlechts« für intersexuell geborene Kinder, die seit 1. November 2013 auch im deutschen Personenstandsgesetz greift, mit den theoretischen Ansätzen der feministischen und postfeministischen Theorie zusammengedacht werden? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, dass es fortan eine dritte Kategorie im deutschen Personenstandsgesetz gibt, die weder männlich noch weiblich definiert ist? Literarhistorische Traditionen zählen seit alters her androgyn, hermaphroditisch oder zwittrig genannte Figuren zu ihren wichtigen Gestaltungsmöglichkeiten. Es lohnt jedoch genauso ein Blick auf den Gegenwartsroman, der verschiedene Verfahren zur Nichtbestimmung seiner Figuren entfaltet und interessante Alternativen zur ontogenetischen Erzählung des juristischen Diskurses entwickelt.

D AS

UNBESTIMMTE

G ESCHLECHT

Am 1. November 2013 traten Änderungen des deutschen Personenstandsgesetzes in Kraft. Weitgehend unbemerkt vom medialen Diskurs wurde es damit sowohl unnötig als auch unmöglich, für intersexuell geborene Kinder ein Geschlecht in die Geburtsurkunde einzutragen: Unnötig wurde es, weil es die medizinischen Praktiken der Geschlechtsregulierung nicht mehr vor der Identitätszuschreibung vorschnell auf den Plan ruft. Darüber hinaus ist es nun aber auch unmöglich, im Fall der Feststellung von Intersexualität das Geschlecht des Kindes anzugeben, weil es sich um keine KannBestimmung handelt: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.« (PStG § 22, Abs. 3)1

1

Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften (Personenstandsrechts-Änderungsgesetz – PStRÄndG) G. v. 07.05.2013 BGBl. I S. 1122 (Nr. 23), 2440; Geltung ab 01.11.2013, abweichend siehe Artikel 10.

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 49

Während die Süddeutsche Zeitung von einer unbemerkten »juristischen Revolution« sprach, weil es von nun an ein »drittes Geschlecht« gäbe2, wird die Änderung von Betroffenenverbänden als institutionalisierte Diskriminierung kritisiert, denn diese Verweigerung einer Eintragung in das Personenstandsregister stellt im Vergleich zur Eintragung eines unzutreffenden Geschlechts keine Verbesserung dar.3 Betrachtet man die Empfehlungen des deutschen Ethikrates vom Februar 2012, auf denen immerhin die Gesetzesänderung vom August 2013 basiert, so ist der Gesetzgeber weit hinter diesen Empfehlungen zurückgeblieben:4 Nicht umgesetzt wurde der Punkt, dass eine anerkannte Geschlechterkategorie »anderes« so lange gelten kann, bis die betroffene Person dies selbstverantwortlich ändern würde. Für das Fällen der Geschlechtsentscheidung sollte ein Höchstalter festgelegt werden. (Wer jedoch diese Entscheidungsfällung außer den Betroffenen selbst übernehmen könnte, wenn diese Frist überschritten wäre, behandeln die Empfehlungen des Ethikrats nicht.) Mit der Änderung des Personenstands geht oftmals die Änderung des Namens einher; deshalb wird derzeit die Verwaltungsvorschrift dahingehend angepasst, intersexuellen Personen eine schnelle und kostenfreie Änderung ihres Vornamens zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen.5 Gespalten war der Ethikrat in der Frage, ob Personen ›anderen‹ Geschlechts die Institution der Lebenspartnerschaft oder die der Ehe geöffnet werden soll. Denn selbst wenn die Ehe als staatlich zu schützende Institution gilt, das mit der lebenslangen Verbindung einer Frau mit einem Mann errichtet wird – wobei die Öffnung für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften immer wieder diskutiert, in vielen Ländern bereits realisiert ist –, so stellt sich doch die Frage, ob intersexuelle Personen nicht auch Frauen und Männer sind. Und warum sollten sie es auch nicht sein? Die Grenzen

2

Prantl, Heribert. 2013. Männlich, weiblich, unbestimmt. In: Süddeutsche Zeitung, 16.8.2013.

3 Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V., http://www.intersexuelle-menschen. net/ (Zugriff am 24.10.2014) 4

Deutscher Ethikrat. 2012. Intersexualität. Stellungnahme. Berlin, http://www.

5

Protokoll der 920. Sitzung des Bundesrates am 14. März 2014, Punkt 35,

ethikrat.org (Zugriff am 24.10.2014), 177f. http://www.bundesrat.de/DE/service/archiv/pl-protokoll-archiv/_functions/plpr2011-15/plpr2014-table.html?nn=4969068 (Zugriff am 20.5.2014).

50 | S IGRID NIEBERLE

zwischen biologischer, sozialer und juristischer Dimension des Geschlechts, sind weder leicht zu ziehen noch aufrechtzuerhalten. Sollen Menschen der dritten Personenstandskategorie, so fragten es sich die Mitglieder des Ethikrats, also eine Verbindung mit Personen gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts eingehen können? Das könnte heißen: Intersexuelle Personen oder andere Personen des ,anderen‹ Geschlechts gehen untereinander Lebenspartnerschaften mit dem gleichen ,anderen‹ Geschlecht ein; Personen des ,anderen‹ Geschlechts, die hingegen einen Mann oder eine Frau heiraten wollen, gehen eine Ehe mit einer Person eines kategorial anderen Geschlechts ein – und zwar gleich, ob das Gender der Partner oder Partnerin als homo- oder heterogen interpretiert werden kann. So begründet beispielsweise eine intersexuell kategorisierte Person (vorausgesetzt, der Personenstand bleibt auch über die Volljährigkeit hinaus unbestimmt) mit einer ebenfalls geschlechtlich unbestimmten Person die Lebenspartnerschaft, während dieselbe Person eine personenstandsrechtlich als männlich oder weiblich festgelegte Person heiraten kann, also die Ehe eingeht. Dabei spielt es scheinbar keine Rolle, dass ein intersexuelle, sozial männlich identifizierte Person einen ›Mann‹ heiratet, womit die sogenannte »Homo-Ehe« eben keine Lebenspartnerschaft mehr darstellt, sondern eine Ehe, die sie gerade nicht sein soll. Die Institution der Ehe als exklusive, grundgesetzlich geschützte Verbindung zwischen Mann und Frau wird unter diesen Aspekten weiter in Frage gestellt werden müssen, weil sie die diskriminierende Exklusion einer personenstandsrechtlichen Bevölkerungsgruppe festschreibt, die vom Gesetzgeber eingerichtet wurde, um Diskriminierung gerade zu verhindern.6 Diese und weitere mögliche Konsequenzen wurden bisher weder im BGB noch auf der Ebene von Ausführungsverordnungen geregelt. Es dürfte deutlich geworden sein, was mit der erwähnten »juristischen Revolution« gemeint sein könnte: Sie betrifft neben den juristischen Neuerungen, die dem Gleichheitsgrundsatz nachkommen wollen, vor allem auch die sprachlichen Konventionen, die Identität performativ herstellen, bekräf-

6

Vgl. Arn Sauer, Jana Mittag. 2012. Geschlechtsidentität und Menschenrechte im internationalen Kontext, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/apuz/135448/geschlechtsidentitaet-undmenschenrechte-im-internationalen-kontext (Zugriff am 18.5.2014).

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 51

tigen, kommunizieren. Der sprachliche Geschlechterbinarismus wird sich dabei der Diversifikation anpassen müssen.7 Allerdings handelt es sich bei weiterer Betrachtung nur um eine vermeintliche Diversifikation der Geschlechter im deutschen Personenstandsgesetz. Der Zeichenvorrat, der hierfür aufgerufen wird, bewirkt etwas anderes. Bei solchem genaueren Hinsehen erweist sich nämlich dieses neue unbestimmte Geschlecht im deutschen Personenstandsgesetz nicht als vergleichbar mit Regulierungen in Ländern wie Australien, Neuseeland, Indien, Pakistan und Nepal.8 In Australien gibt es für unentschiedene, unspezifizierte und intersexuelle Personen die Möglichkeit, dort ein »X« in den Pass eintragen zu lassen, wo sonst das F oder M steht (inter*, trans*). Anders als in Deutschland herrscht dort kein personenstandsrechtliches Geschlechtsidentitätskonzept vor, das allein auf anatomisch-physiologischer Diagnostik rekurriert, sondern es schließt transgender, transsexuelle, hetero-, homo- oder bisexuelle Menschen ein. Das Epistem für den deutschen juristischen Diskurs scheint also zum einen das Wissen der medizinischen Biologie zu bleiben.9 Zum anderen ist mit dem leeren Feld bei der Identitätsangabe eine semiotische Differenz eröffnet: Es ist ein großer Unterschied, ob Personen für eine unbestimmte Dauer ein X als ihren Personenstand zugeschrieben bekommen bzw. sich selbst zuschreiben lassen oder ob an dieser Stelle ein leeres Feld für ein ›noch nicht‹ oder ›nicht mehr‹ steht. Die strukturelle Leerstelle in den Personenstandsangaben fordert in anderer Weise zur Interpretation auf, als es das eingetragene »X« oder jeder andere Buchstabe tun würde. Es geht in der deutschen Variante nicht um Öffnung zu Diversität, sondern um die Gewährung eines Aufschubs der Vereindeutigung, der Platz für eine Vorher-Nachher-Erzählung schafft. Um es kurz zusammenzufassen: Im internationalen Kontext – und dort mit unterschiedlichsten kulturellen, ethnischen und ethischen Voraussetzungen – lässt sich ein juristischer und iden-

7

Sieberichs, Wolf. 2013. Das unbestimmte Geschlecht. In: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ), Nr. 15, 2013, 1180-1084.

8

Vgl. hierzu insbesondere Butler, Judith. 2011. Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Suhrkamp: Frankfurt a.M., bes. 71167.

9

Die Änderung des Personenstands, die mit diagnostiziertem Transsexualismus einhergeht, wird im deutschen Transsexualitätsgesetz geregelt.

52 | S IGRID NIEBERLE

titätspolitischer Diskurs beobachten, der den Geschlechterbinarismus tendenziell aufhebt: Tertium datur – ein Drittes ist mit X gegeben. Mit dem im europäischen Kontext erstmaligen deutschen Vorstoß des geänderten Personenstandsgesetz entsteht hingegen insofern die Negation dieser Option, als kein dritter Personenstand installiert wird, sondern eine Leerstelle an die Stelle des vermeintlich ›Eindeutigen‹ tritt (also: non-F, non-M). Gleichwohl handelt es sich um eine Diversifikation, wenn auch mit negativem Vorzeichen. An diese Negation lässt sich etwa das Konzept des Gaga Feminism anknüpfen, den Jack J. Halberstam an der Pop-Kultur beobachtet. Dabei werden Verfahren der Fragmentierung und Verwerfung angewendet, etwa in der Performanz von Künstlerinnen wie Yoko Ono, Grace Jones und Lady Gaga. Die performative Praxis der Durchkreuzung von Geschlechtsidentitäten, wie sie Judith Butler und J. Jack Halberstam beschrieben, führt auch dazu, dass Cross-, Inter- oder Trans-Identitäten zu Verwerfungen führen, die den naturalisierten Binarismus der Geschlechter erst affirmieren. Dieser Feminismus setzt nicht länger auf Emanzipation, Selbstverwirklichung und Selbstenthüllungstechnologie, sondern auf ihr ver-rücktes Gegenteil, ein negiertes Geschlecht, dem hohes Veränderungspotential zugeschrieben wird: »[…] they are unbecoming women in every sense – they undo the category rather than rounding it out, they dress it up and down, take it apart like a car engine and then rebuild it so that it is louder and faster. This feminism is about improvisation, customization, and innovation.«10

M ETHODISCHE K ONSEQUENZEN AUS DER D IVERSIFIZIERUNG Mit dieser inkonsequenten deutschen Gesetzesänderung werden nur wenige menschenrechtsrelevante Probleme verbessert, denn Menschen können auch weiterhin nicht so leben, wie sie sich pränatal entwickelt haben, sondern werden physisch und psychisch den binären Geschlechtskategorien unterworfen. Davon unbenommen sollte jede medizinische Hilfe sein, die

10 Halberstam, J. Jack. 2012. Gaga Feminism. Sex, Gender, and the End of Normal. Beacon Press: Boston, XIIIf.

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 53

eine bio-psychisch-sozial zufriedenstellende Entwicklung ermöglicht oder unterstützt. Was dabei ›zufriedenstellend‹ oder ›geglückt‹ heißen kann, ist Gegenstand der Debatte. Mit den gesetzlichen Neuerungen haben intersexuelle Kinder für die Entscheidung, entweder Frau oder Mann sein zu müssen, Zeit zugestanden bekommen. Dies erfordert die von Foucault beschriebene Praxis der Selbstenthüllung, gleichsam einer Hermeneutik der eigenen Identitätssymptome, die von Betroffenen (und wie weit dieser Kreis zu ziehen ist, ist eine weitere heikle Frage) im Laufe ihrer Entwicklung geleistet werden muss.11 Aus anerkennungspolitischer und wissenschaftlicher Perspektive kann diese Gesetzesänderung allerdings nicht überschätzt werden, denn sie bringt Bewegung in die Intersektionalitätsforschung und zeigt über kurz oder lang Konsequenzen für die entsprechende Diversifikation.12 Statistische Erhebungen und Auswertungen können nicht mehr bloß in männlich/weiblich unterscheiden, sondern könnten die Chance ergreifen, auch die Kategorie Geschlecht – wie Ethnie, Religion, sexuelle Orientierung u.a.m. – aufzufächern und die verschiedenen Möglichkeiten miteinander zu kombinieren. Ein aktuelles Beispiel aus diesem Jahr: Eine interessante Studie befragt den Bildungs- und Berufsstand im Spannungsfeld von Migration und Geschlecht und wertet dafür die Daten des Mikrozensus 2008 aus.13 Während der Migrationshintergrund in der Studie durchaus divers aufgefächert wird (nach Herkunftsland, mit und ohne deutscher Staatsangehörigkeit, mit und

11 Foucault, Michel. 1993. Technologien des Selbst. In: Foucault, Michel; Rux, Martin et al.: Technologien des Selbst. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 56. »Den Unterschied zwischen der stoischen und der christlichen Tradition macht, daß für den Stoiker Selbstprüfung, Selbstbeurteilung und Selbstdisziplin den Weg zur Selbsterkenntnis weisen; Wahrheit über das Selbst wird durch Erinnerung, das heißt durch Besinnung auf die Regeln, erlangt. In der exomologêsis indes gewinnt der Büßer Wahrheit über das Selbst durch einen gewaltsamen Bruch und durch Auflösung. Es ist wichtig, festzuhalten, daß exomologêsis nicht verbal ist, sondern symbolisch, rituell und theatralisch.« 12 Vgl. Gabriele Winker, Nina Degele. 2009. Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. transcript: Bielefeld. 13 Lenz, Ilse. 2013. Von den klassischen Dualismen zur Differenzierung der Differenzen? In: 
Ludger Pries (Hg.). Zusammenhalt durch Vielfalt? Wissenschaftliche Verlagsanstalt: Wiesbaden, 83-100.

54 | S IGRID NIEBERLE

ohne Migrationshintergrund, religiöse Bindung), erfolgt die intersektionelle Kombination nach dem Geschlechterdualismus Männer vs. Frauen und in zwei Altersgruppen (von 18-29 und 15-64). Ihre interdependenten Kategorien sind Alter, Geschlecht, Religion, Ethnie und Nationalität. Die Verfasserin merkt an, dass Studien älteren Zuschnitts meist rein binär organisiert sind und sie beklagt explizit: »So wird Geschlecht teils weiterhin als duale Kategorie verwandt – Menschen werden als Frauen oder Männer eingeordnet, und ein Drittes gibt es nicht.«14 Nun gelingt es aber auch dieser Studie nicht, Trans*- und Inter*-Identitäten mit den ausgewählten Migrationshintergründen zu kombinieren und abzubilden, gerade weil die entsprechenden Daten nicht vorliegen. Würde sich Geschlechtsidentität weiter auffächern, dann ließen sich Dynamiken und Interdependenzen sozialer Ungleichheiten genauer erforschen.

L ITERATUR

DES ZWITTRIGEN

G ESCHLECHTS

Unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten stellen sich diese Fragen noch einmal ganz anders dar. Denn der Zusammenhang zwischen der Diversifizierung von Geschlecht und dem literarischen Text ist seinerseits vielfältig und in dieser Vielfalt nicht erschöpfend zu diskutieren. Was jedoch ethische und sozialpolitische Bemühungen derzeit der juristischen Normierung abringen, war immer schon Stärke und Attraktion des Literarischen, nämlich seine Unbestimmtheit. Hermaphroditische Figuren sind seit alters her wichtige Aktanten in literarischen Texten; die utopisch aufgeladene Androgynisierung literarischer Figuren ist in der deutschsprachigen Literatur spätestens seit der Romantik etabliert. Der Verweis auf den blinden Seher Teiresias, der im Mythos zunächst als Mann, dann als Frau und wieder als Mann gelebt haben soll, fehlt in den wenigsten einschlägigen Texten. Aus der dichten und langen Tradition lässt sich schließen, dass das Konzept des Hermaphrodismus zur imaginären und medizinischen Normierung und Regulierung des Geschlechterbinarismus diente.15 Auch der sozio-

14 Ebd., 84. 15 Grundlegend hier vgl. Domurat Dreger, Alice. 1998. Hermaphrodites and the Medical Invention of Sex. Harvard University Press: Cambridge and London;

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 55

kulturelle Geschlechtswechsel (gender bending) kann als etablierter Topos gelten, der in vielerlei Varianten durchgespielt wurde und häufig als Indikator sozialer und politischer Differenzen dienen muss.16 Insbesondere wurden die Figuren des Dritten und des Uneindeutigen untersucht und für die europäische Literatur der Moderne als Figuren der Irritation dargestellt. Wollte man aktuelle Entwicklungen des Identitätsdiskurses auf die damit befasste Literaturwissenschaft übertragen, so fällt vor allem auf, dass die Figur wieder Konjunktur hat. Literarische Texte werden (wieder) hoch konzentriert auf die Repräsentationsfunktion und -ästhetik ihrer Figuren hin sowohl konzipiert als auch gelesen (so wie auch die literaturwissenschaftliche Frauenforschung in der Konzentration auf Männer- und Frauenfiguren begonnen hat). Als Kriterien für Figurencharakteristik und Textinterpretation dienen Gender und intersektional organisierte Identitätsaspekte wie Klasse, Ethnie, Alter, Nation etc. In den Hintergrund rückt dabei noch weitgehend der ganze große Rest eines literarischen Textes: seine poetischen und narrativen Verfahren, seine räumliche Disposition, sein Anknüpfen an textexterne Diskurse, seine Genresignale und vieles andere mehr. Die Fixierung, gleichsam das Stillstehen von Identitätsparametern wie Geschlecht, soziale, religiöse, ethnische Differenz, sexuelle Präferenz usw., ist eine epistemische Operation, die in vielfältigen Diskursen etabliert ist: juristischen, ökonomischen, soziologischen, psycho- und physiologischen. Bei literarischen Texten geht man davon aus, dass ästhetisch kommunizierte Bedeutung nicht in der Repräsentationsfunktion eines Zeichens stillgestellt werden kann (Stichwort: Frauenbild und Männerbild in einem Text). Strukturelle wie semantische Leerstellen stellen eine stetige Herausforderung zur Interpretation dar, wobei die Narration, die Rezitation, die Aufführung, der Rezeptionsvorgang selbst in der Zeit organisiert sind.

Fausto-Sterling, Anne. 2000. Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. Basic Books: New York. 16 Erinnert sei kurz an Christa Wolfs Erzählung Selbstversuch (1973, in: Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. Aufbau: Berlin und Weimar), wo die Verwandlung von Frau zu Mann zum einen soziale Ungleichheit überbrücken soll und darüber hinaus weibliche und männliche Ich-Erzählung als narrativen Wandel vor Augen führt.

56 | S IGRID NIEBERLE

Nomen und Pronomen erzeugen in gesprochener und geschriebener Sprache die Geschlechtsidentität einer Figur.17 So fällt auf, dass an den zwei berühmten, viel diskutierten Fallbeispielen aus der jüngeren Geschichte des Geschlechterwechsels Namen und Pronomen die verhandelbare, instabile Größe darstellen: Michel Foucault edierte und kommentierte die von ihm wiederentdeckten, in den 1860er Jahren entstandenen Memoiren von Herculine Barbin, genannt Alexina B., 1978.18 Darin fällt auf, dass der Autor konsequent über sich selbst als Frau vor der Diagnose des männlichen Pseudohermaphroditismus in weiblicher Form und mit weiblichem Vornamen schreibt; für die Zeit danach jedoch den Vornamen Abel und männliche Pronomina nutzt. 1868 begeht Abel Barbin Selbstmord. Eine zweite Fallgeschichte bewegte die Natur- wie Sozialwissenschaften in den 1960er Jahren: David Reimer kam als Junge namens Bruce zur Welt, wurde aufgrund einer missglückten Penisoperation von Eltern und Medizinern zum Mädchen Brenda deklariert und als solches erzogen; im jungen Erwachsenenalter besann sich Brenda auf seine frühere männlichen Rolle und nannte sich David. In die medizinische Forschung ging David Reimer als der Fall John/Joan ein, weil der Sexualforscher Money die Identität seiner Versuchsperson schützen wollte. David Reimer beging 2003 Selbstmord. Als Name für die Person wird posthum konsequent derjenige Name verwendet, den sich David im Alter von 13 Jahren selbst gegeben hat, als er nicht mehr als Mädchen weiterleben wollte.19 Von diesen Fallgeschichten inspiriert, entwickelt die Literatur ihre durchgeformten Erzählungen: In den aus dem Jahr 2002 stammenden Romanen Middlesex von Jeffrey Eugenides – darin wird der intersexuelle Erzähler Cal als Calliope Helen Stephanides geboren – und in Ulrike Draesners Mitgift – darin verwandelt sich Anita in Alex – ist der Name das reprä-

17 Wie unterschiedlich dies je nach Sprache ausfallen kann, zeigt das dreibändige Standardwerk von Marlis Hellinger und Hadumod Bußmann (Hg.).Vol. 1-3. 2001-2003. Gender Across Languages. The Linguistic Representation of Women and Men. Benjamins: Amsterdam, Philadelphia (Vol. 4 folgt 2015). 18 Foucault, Michel. 1978. Herculine Barbin dite Alexine B. Paris: Gallimard; dt. 1998. Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Suhrkamp: Berlin. 19 Butler, Judith. 2004. Undoing Gender. New York: Routledge; dt. 2011. Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Suhrkamp: Berlin, 99-122.

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 57

sentative Zeichen für die vollzogene Geschlechtsänderung, die in diesen beiden fiktiven Erzählungen die Korrektur korrigiert. Eingriffe der Sexualmediziner, die von den Eltern verantwortet wurden, erwiesen sich als vorläufig, ja unzutreffend, was das ›richtige‹ Geschlecht betrifft. Das Muster, das diesen Erzählungen unterliegt, ebenso auch den meist populären Infotainment-Formaten in TV und Presse, ist das der Entwicklung von einem ›falschen‹ zum ›richtigen‹ Geschlecht, von einem Vorher zum Nachher, von einem Noch-nicht oder Nicht-mehr zu einem ›endgültigen‹ Geschlecht: »Ich wurde zweimal geboren: zuerst, als kleines Mädchen, an einem bemerkenswert smogfreien Januartag 1960 in Detroit und dann, als halbwüchsiger Junge, in einer Notfallambulanz in der Nähe von Petoskey, Michigan, im August 1974. Fachleute unter den Lesern könnten mir in der Studie ›Geschlechtliche Identität bei 5-alphaReduktase-Pseudohermaphroditen‹ von Dr. Peter Luce, 1975 erschienen im Journal of Pediatric Endocrinology, schon einmal begegnet sein. Oder vielleicht haben Sie mein Foto im sechzehnten Kapitel des heute arg veralteten Standardwerks Genetik und Vererbung gesehen. Ich bin das Kind auf Seite 578, das nackt, mit einem schwarzen Balken vor den Augen, neben einer Messlatte steht. Auf meiner Geburtsurkunde lautet mein Name Calliope Helen Stephanides. Mein neuester Führerschein (ausgestellt von der Bundesrepublik Deutschland) nennt als meinen Vornamen schlicht Cal. [...] Wie Teiresias war ich das eine und dann das andere.«20

Auch in Draesners Erzählung geht es um die Entwicklung der Hauptfigur, die ihren Anlagen und Bedürfnissen immer mehr entspricht. In diesem Zusammenhang wird die Differenz zwischen Theorie und Alltagsleben bzw. zwischen Möglichkeiten und Realisierung als Nacheinander sogar problematisiert: »›Ich weiß‹, flüsterte Anita, ›ich weiß. Doch es geht mir gar nicht darum, zurückzukehren. Ich kenne das doch auch alles, die neuen Authentizitätsauffassungen und Körpertheorie, Butler, Foucault, Barthes, den ganzen postmodernen Auf- und Abwasch. Soll die Theorie sich nur in ihren Schleifen drehen, das macht ja Spaß, für sich genommen. Aber mir geht es, ganz einfach, Lollo, um mein alltägliches Leben. Mir geht es um eine Möglichkeit, die in mir angelegt war. Sie will ich endlich auch

20 Euginedes, Jeffrey. 2002. Middlesex. Straus und Giroux: New York; dt. 2003, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 11.

58 | S IGRID NIEBERLE

verwirklichen. Sonst lebe ich doch immer an einer Hälfte von mir vorbei, verstehst du?‹«21

Bereits Foucault eröffnete die Edition der Memoiren von Barbin aber mit der rhetorischen Frage: »Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht? Mit einer Beharrlichkeit, die an Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht.«22

I M N AMEN

DIE

U NBESTIMMTHEIT

Nur in seltenen Fällen trifft man auf Erzählungen, die ein paradoxes, weil stabiles Inbetween, ein ständiges Oszillieren zwischen den Geschlechtern als Identitätsentwurf formulieren – sei es in literarischen Texten, medizinischen Fallgeschichten oder Betroffeneninterviews. Das Gleichzeitige des sich gegenseitig Ausschließenden zu denken (das heißt die binäre Differenz aufzuheben) kommt einer Aporie gleich. In dieser Hinsicht lässt sich jedoch von denjenigen literarischen Verfahren lernen, die keine Entwicklungsgeschichte mit Name und Identität verknüpfen, sondern andere Muster an die Bedeutung von Name und Identität knüpfen. Hier ist die Unbestimmtheit des Geschlechts gleichsam Programm. Namen kommt für die Bestimmung von Identität eine entscheidende Funktion zu. Sie indizieren Geschlecht, kulturellen Kontext, Herkunft und führen genauso gut in die Irre. Als Sonderfall sprachlicher Performativität verweisen diese Signifikanten auf sich selbst und auf ihren Träger oder ihre Trägerin. Zwar be-deuten sie im Wortsinn ihr Trägermedium, jedoch bedeuten sie in der Moderne nichts weiter, als dass sie auf jene Person oder Figur verweisen.23

21 Draesner, Ulrike. 2002. Mitgift. Luchterhand: Darmstadt, 359. 22 Foucault: 1998, 7. 23 Vgl. Stiegler, Bernd. 1994. Die Aufgabe des Namens. Zur Funktion des Eigennamens in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Fink: München; Fliedl, Konstanze. 2001. Poor wounded name. Paradoxien literarischer Namengebung. In: Marianne Schuller, Elisabeth Strowick (Hg). Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Rombach: Freiburg i.Br., 267-278.

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 59

Ein erster Blick fällt auf Herta Müllers Roman Atemschaukel (2009). Er operiert mit der unbestimmten Geschlechtsidentität des Ich-Erzählers, die erst im Laufe des ersten Kapitels deutlichere Konturen als zu Beginn des Romans annimmt. Texte mit einer erzählenden Ich-Instanz haben die Chance, ihre Identität nicht preisgeben zu müssen und das Selbst auf verschiedene Arten inszenieren zu können: »In diesem Pavillon habe mich mir geschworen: Ich komme nie mehr in diesen Park.
Je mehr ich mich davon abhielt, desto schneller ging ich wieder hin – nach zwei Tagen. Zum Rendezvous, so hieß das im Park.
Ich ging zum zweiten Rendezvous mit demselben ersten Mann. Er hieß DIE SCHWALBE. Der zweite war ein neuer, er hieß DIE TANNE. Der dritte hieß DAS OHR. Danach kam DER FADEN. Dann DER PIROL und DIE MÜTZE. Später DER HASE, DIE KATZE, DIE MÖWE. Dann DIE PERLE. Nur wir wussten, welcher Name zu wem gehört. Es war Wildwechsel im Park, ich ließ mich weiterreichen.«24

Dass es sich um einen männlichen Ich-Erzähler, den nach Russland deportierten Siebenbürger Sachsen Leopold Auberg handelt, wird erst nach und nach deutlich. Das, was unter allen Umständen nicht laut gesagt, sondern im Grunde verschwiegen werden muss, ist die Homosexualität des damals 17jährigen Ich-Erzählers. Die heteronormative Lektüregewohnheit lässt möglicherweise zunächst die Promiskuität einer jungen Frauenfigur vermuten, die sich nicht mehr an den kleinbürgerlichen Moralkodex hält. Das mann-männliche Begehren und die Praxis der anonymisierten Treffen erregen Verdacht auch bei den Leserinnen und Lesern – jene Regung, die letztlich die verfolgten Opfer auffliegen lässt und drakonischen Strafen zuführt: »Heute weiß ich, vom Kanal kehrt man nicht zurück. Wer trotzdem wiederkam, war ein wandelnder Leichnam. Vergreist und ruiniert, für keine Liebe auf der Welt mehr zu gebrauchen. / Und in der Lagerzeit – im Lager erwischt, wär ich tot gewesen.«25

Die Anonymität wird an dieser Stelle nicht aufgedeckt – weder die des Erzählers noch die seiner Partner; das Wissen um die ›wahre‹ Identität bleibt bei den Figuren. Als Leserinnen erfahren wir aber auch, dass es sich zudem

24 Müller, Herta. 2009. Atemschaukel. Hanser: München, 8. 25 Müller: 2009, 9.

60 | S IGRID NIEBERLE

um ethnische Probleme handelt: »Mein Geheimnis war, rein körperlich betrachtet, schon höchste Abscheulichkeit. Mit einem Rumänen kam noch Rassenschande dazu.«26 Statt Klarnamen werden allegorische Namen verwendet, die vielleicht auf Eigenschaften der Liebhaber verweisen könnten. Eine solche Deutung wird vom Text jedoch nicht gestützt; die Namen erscheinen zufällig. Es bleibt bei den unbestimmten Identitäten der Liebespartner, die paradoxerweise wiederum die Unbestimmtheit des Ich-Erzählers bestimmen. Ein interessantes Spiel mit Figurennamen und Identitäten findet sich auch in Thomas Meineckes Roman Lookalikes (2011). Das aus der Romantik tradierte Doppelgängermotiv wird darin ins Popkulturelle gewendet. Die Figuren sind Doppelgänger bekannter Filmstars und Musikgrößen: »Marlon Brando (der frühe Marlon Brando) und Elvis Presley (der spätere Elvis Presley) lassen sich am Alexanderplatz Crêpes mit Haselnußcreme bestreichen (während an Marlon Brandos Handgelenk, in einer durchsichtigen Plastiktüte, ein noch ungeöffnetes Glas Nutella baumelt).«27

Die Figuren unterliegen denselben symbolökonomischen Prozessen wie Handelsware: Waren mit hohem Wiedererkennungswert und ›einzigartigem‹ Geschmack firmieren unter einem Label wie Nutella, während im ehemaligen Ostberlin namenlose »Haselnußcreme« für die Crêpes verwendet wird (und warum eigentlich nicht Nudossi, das ›DDR-Nutella‹?). Die Promi-Darsteller imitieren ihre Vorbilder, um ihrerseits für Model-Agenturen und Warenhäuser zu arbeiten und ihre ikonischen Imitate wieder auf das kommerzielle Möbiusband zwischen Original und Kopie einzuspielen. Anachronistische und stilistische Unangemessenheit erzeugen Komik, wenn es z.B. heißt: »Greta Garbo blättert in Hubert Fichtes Paralipomena, Lil’s Book (Die Geschichte der Empfindlichkeit).« oder »Rudolph Valentino is off to the Mercedes-Benz Fashion Week«28 Das Self-fashioning dieser Figuren zielt auf die indivualisierende, präsentische Kopie ab, während der ehemals ›eigene‹ Name vollständig aufgegeben ist. Die Erzählstrategie der engagiert zitierenden und montierenden

26 Müller: 2009, 11. 27 Meinecke, Thomas. 2011. Lookalikes. Suhrkamp: Berlin, e-book o.P. 28 Meinecke: 2011, o.P.

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 61

Erzählinstanz wirft Fragen auf: Ist es Desinteresse, nicht nach den unterschiedlichen Motivationen zu fragen, warum sich eine Figur diese oder jene andere Figur zum Vorbild erkoren hat? Oder soll es keinen Referenzpunkt geben, der die Imagination des Authentischen und Singulären einlösen würde? Wenn dann auch noch der Name des Autors Meinecke als Figurenname auftaucht, so handelt es sich um die ironische Autofiktion eines Schriftstellers, der auf den Spuren des anderen genannten Schriftstellers, Hubert Fichtes, nach Salvador de Bahia reist, um etwas über Religion und Gender in Brasilien zu erfahren. Gender und kulturelle Identität werden über Mode, Medien und Musik kommuniziert, und es entsteht nebenbei der Effekt, dass Namen und Labels zu einer Einheit verschmelzen und dabei poetische Kohärenz erzeugen. Es spielt keine Rolle, wer sich hinter Shakira, Garbo, Josephine Baker oder Meinecke verbirgt, denn die Frage, ob die Darsteller auch in der Gender-Perspektive mit sich selbst identisch sind, verblasst im Lauf der Erzählung. Identität wird damit als popkultureller Mythos demontiert und zugleich rekonstruiert, was tatsächlich Vervielfältigungen erzeugt. Semiotisch gesehen wird der Name zum Wort: a rose is a rose is a rose, and Garbo is Garbo is Garbo is Garbo etc. Noch ein letztes Beispiel aus der Gegenwartsliteratur, das ebenfalls auf die Unbestimmtheit im Zeichen des Namens setzt, kann die Verfahrensweisen der literarischen Namenspolitik ergänzen. Judith Zanders Roman Dinge, die wir heute sagten (2009) gehört zu jenen neueren Geschichts- und Gesellschaftsromanen, die die Entwicklung Ostdeutschlands nach 1989 in den Blick nehmen. Unter anderem partizipiert der Roman auch an den Codes des Heimatromans (mit Liebespaar und Dorffest), der Popliteratur (mit einer bedeutenden Sammlung von Beatles-LPs aus Ostzeiten) und des Entwicklungsromans (mit dem pädagogisch-ironischen Blick auf die Dorfjugend). Die konsequent figurenzentrierte Erzählweise fördert nach und nach die innerfamiliäre Gewalterfahrung zu tage, die jeweils die Frauen in jeder der drei erzählten Generationen machen mussten. Der Roman setzt mit einer interessanten Namensverflechtung ein: »So glotzen sie vom Regal: die bröckligen Leiber im spitzen Winkel, die Scheren die Schenkel, leichte Schlagseite beide. Zwielicht. John und Paul. Mehr gibts nicht zu sagen? Achso, Paul fehlt ein Auge. Nicht so schlimm, PAUL IS DEAD. Das ist kein Rätsel, das ist offensichtlich. Wie auch immer. However. Was für ein Wort. Es ist großzügig, niemand hier kennt es, aber es klingt wie die Wellen, wenn sie ge-

62 | S IGRID NIEBERLE

mächlich sich dem Strand überlassen, die ganze Ostsee singt beständig however, however. Es klingt beinah wie ein Name.«29

John und Paul sind die Namen der Beatles Lennon und McCartney, hier aber werden zwei nach ihnen benannte getrocknete Ostsee-Krebse beschrieben, die die Erzählerin Romy im Sommer 1999 in ihrem Bücherregal aufbewahrt. Das Duo John & Paul – wir wissen nicht genau, welches – liefert erbärmliche Übersetzungen von Songtexten der Beatles (und auch den Titel des Romans). Außerdem ruft die Bemerkung »PAUL IS DEAD« jene Verschwörungstheorie auf, nach der Paul McCartney ab 1966 in der Band von einem Doppelgänger verkörpert wurde (»Cranberry Sauce« / »I buried Paul«). John und Paul verweisen zudem auf intertextuelle und intratextuelle Figuren: »John« zitiert den Nachnamen Uwe Johnsons, ein Autorname, der für Zanders Roman eine große Rolle spielt. Allein die Beschreibung der Ostseewellen und die Semantisierung von »However«30 verweisen auf Johnsons Roman Jahrestage,31 der ebenfalls mit Wellenschilderungen beginnt. Hingegen ist Paul der Name einer Figur in Zanders Roman, des irischen Schülers Paul Ishley, den es für die Beerdigung seiner Großmutter in das Dorf Bresekow bei Anklam verschlägt (dort verbrachte Johnson seine Kindheit). Die Namen John und Paul und das Wörtchen »However«, das womöglich wegen seiner großzügigen Unbestimmtheit »beinah wie ein Name klingt«,32 eröffnen in Zanders Roman einen Raum des Surrealen und Mythopoetischen; die Namen schlagen Brücken zwischen den Lebenden und den Toten, den Tieren und den Menschen, dem Osten und Westen. Mit einer Vereindeutigungsstrategie, wonach der Name kulturelle, geschlechtsspezifische oder auch nur anthropomorphe Identität fixieren könnte, hat auch dieser Roman nichts im Sinn. Namen dienen hier der Hybridisierung von Identität.

29 Zander, Judith. 2010. Dinge, die wir heute sagten. Dtv: München, 7. 30 Ebd., 7. 31 Johnson, Uwe. 1970-1983. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. 4 Bde. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 32 Zander: 2010, 7.

U NBESTIMMTES G ESCHLECHT | 63

F AZIT An einer äußerst kleinen, exemplarischen Stichprobe der Gegenwartsprosa lässt sich die große Divergenz zwischen juristisch-regulierendem und literarischem Diskurs einmal mehr bestätigen. Den unterschiedlichen Stellenwert des Namens darin hat Jaques Derrida anhand der Autorsignatur Nietzsches diskutiert und als »Politik des Eigennamens« bezeichnet.33 Namen dienen in unterschiedlicher Weise der Beschreibung des Unbestimmten, auch des unbestimmten Geschlechts: In Müllers Atemschaukel wird mit Decknamen die Identität homosexueller Liebespartner geschützt. Verdachtsmomente und Geheimhaltung lenken das Lektüreerlebnis, was der erzählten Atmosphäre und der grausamen Internierung der Siebenbürger Sachen in russischen Arbeitslagern entspricht. Die Genderidentität des homosexuellen Mannes wird mit seiner ethnischen Verfolgung verschränkt. In Meineckes Lookalikes kommt Namen eine große Bedeutung innerhalb der Erzählung zu, aber sie meinen nicht die Figur, sondern sie verweisen auf die warenästhetische Kopierbarkeit von Identität: Namen werden zu Labels, die auf den Markt getragen werden. Die als authentisch erwünschte Gender-Identität verblasst, obwohl Name und grammatisches Genus auf ein Geschlecht der Figuren hindeuten. Als drittes Beispiel wurde zuletzt kurz Zanders Dinge die wir heute sagten angesprochen, worin die Polyvalenz der Namen zum Tragen kommt: Musikerfiguren, präparierte Krebse, Figuren und der Autor von Intertexten können dieselben Namen tragen, woraus ein narrativer Raum zwischen Vorpommern, Irland, USA, zwischen den 60er und 90er Jahren, zwischen den Lebenden und den Toten entsteht. Bereits anhand dieser wenigen Beispiele lassen sich etliche Verfahren, mit Namen und Identität umzugehen, unterscheiden und auf den abstrakten Begriff bringen: ontogenetische Erzählungen (von der Entwicklung des Individuums und seinem Vorher/Nachher, dem auch der juridische Diskurs folgt), der Verdacht (den der Staat und die Leser hegen), die Kopie (die vom Original nicht zu unterscheiden ist) oder die Hybridisierung von Identität mittels der Streuung von Signifikation. Während Entwicklung repräsentativ funktioniert, sind Verdacht und Kopie nur performativ zu denken, weil das ›Eigentliche‹ gleichzeitig mitgedacht werden muss (zutreffend/

33 Vgl. Derrida, Jacques/Kittler, Friedrich. 2000. Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Merve: Berlin.

64 | S IGRID NIEBERLE

unzutreffend, richtig/unrichtig, kopiert/original oszillieren als Kippfiguren in der Gleichzeitigkeit). Wenn Intersexualitäten und die damit verbundenen unbestimmt/bestimmten Genderidentitäten performativ gedacht werden wollen, dann kann es sich um keine Entwicklung im Sinne einer Eigentlichwerdung, einer Frau/Mann-Werdung, im Vorher/Nachher handeln. Der Name repräsentiert dann zwar eine Person und ihre Identität, gleichwohl er gerade für die Performanz der unbestimmten Geschlechtsidentität steht, wenn die Person damit angerufen wird. Um abschließend noch einmal auf die Änderung des Personenstandsgesetz zurückzukommen: Der deutsche Sonderweg im internationalen Vergleich besteht darin, eine temporäre strukturelle Leerstelle zu eröffnen, die auf ein unbestimmtes Geschlecht verweisen soll. Wie die Romanbeispiele gezeigt haben, handelt es sich dabei um ein literarisches Verfahren: Der Name allein legt keine Identität fest, sondern diese ergibt sich aus der Kontextualisierung. Die wichtige Option jedoch, im Unbestimmten verharren zu können und Individuen in keinen Geschlechterbinarismus zu zwingen, bleibt das deutsche Personenstandsgesetz noch schuldig.

»Einer von uns«? Über kulturelle Grenzgänger, Maskeraden und Kulturmodelle in Ilija Trojanows Der Weltensammler A NDREA G EIER

»Wer war er, wird oft gerätselt, als was gab er sich aus – und die Antwort kann nur fragen: Wann wird eine Maske zu einem neuen Gesicht? Denn selbst wenn Burton schimpft oder hadert, seine detailbesessene Wahrnehmung widerspricht oft seinen Aburteilungen. So sehr verschmolz er, als Vorläufer der ›teilnehmenden Beobachtung‹, mit dem Fremden; seine Erfahrungen wollten sich nicht einfügen in die hingebungsvoll gepflegten Dogmen. Ich kenne keinen anderen Autor, der so entspannt und unverkrampft die Widersprüche im eigenen Text duldet.«1

Bereits in Ilija Trojanows Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (1996) findet sich eine Erwähnung des britischen Offiziers, Forschungsreisenden und Übersetzers Sir Robert Francis Burton, die diesen als eine ebenso interessante wie rätselhaft bleibende Figur erscheinen lässt.2 Im Vorwort der Gebrauchsanweisung für Indien (2006) bezeichnet der Autor den »Grenzgänger« Burton als inspirierendes »Vorbild« für seine Indienrei-

1

Trojanow, Ilija. 2008. Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir

2

Trojanow, Ilija. 2011. Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. Roman.

Richard Francis Burton. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 17. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 252ff.

66 | A NDREA GEIER

se,3 und in Nomade auf vier Kontinenten (2007) beschreibt er seine Reiseerfahrungen auf den (intertextuellen) Spuren Burtons. Der Burton-Roman Der Weltensammler (2006) wiederum soll ausweislich des Vorwortes »eine persönliche Annäherung an ein Geheimnis, ohne es lüften zu wollen«, darstellen.4 Die beiden intensivsten Auseinandersetzungen mit Burton in Trojanows Werk lassen sich als komplementäre literarische Projekte verstehen: Die oben zitierte Frage des Reiseberichts, wann eine »Maske zu einem neuen Gesicht« wird, bestimmt ebenso die Perspektive des Romans Der Weltensammler auf den ›Grenzgänger‹ Burton. In beiden Texten bildet das Motiv der »Maske«, konkreter: der ethnischen Maskerade, den Dreh- und Angelpunkt der Frage, in welcher Weise die Teilhabe an anderen Kulturen möglich ist und wie Kulturkontakte Perspektiven auf das ›Eigene‹ und ›Andere/Fremde‹ verändern. Der Weltensammler gehört zu den Romanen der Gegenwart, die sich historischen Entdeckerpersönlichkeiten und Reisenden zuwenden – erinnert sei hier nur an Die Vermessung der Welt (2005) von Daniel Kehlmann. Der Weltensammler erzählt von Versuchen, fremde Kulturen zu beobachten und zu entziffern, von Wünschen, existierende Grenzen zu überschreiten, sich zu assimilieren oder zu integrieren. Der Roman ist, so Michaela Holdenried, eine »Fundgrube für ein exemplarisches Erzählen von den ›contact zones‹ (Mary Louise Pratt)«.5 Den Leser_innen wird dabei nicht in erster Linie (Burtons) Wissen über andere Kulturen, Indien, Arabien und Afrika,

3

Trojanow, Ilija. 2006. Gebrauchsanweisung für Indien. Piper: München, Vor-

4

Trojanow, Ilija. 2012. Der Weltensammler. Roman. 8. Aufl. Deutscher Ta-

wort. schenbuch Verlag: München, Vorwort (im Folgenden zitiert als DWS). 5

Diese Feststellung führt Holdenried zu ihrer These, dass Der Weltensammler keine Annäherung an Burton betreibe, sondern die Figur lediglich als »erzählerischer Fluchtpunkt« diene. Holdenried, Michaela. 2009. Entdeckungsreisen ohne Entdecker. Zur literarischen Konstruktion eines Fantasmas. In: Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.). Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Wallstein: Göttingen, 301-312, hier: 305. Im Unterschied dazu wird hier davon ausgegangen, dass die Konzeptualisierung Burtons als ›Grenzgänger‹-Figur von zentraler Bedeutung für die Verhandlung von ›Fremdheit‹ und Kulturmodellen im Roman ist.

»E INER

VON UNS «?

| 67

vermittelt. Sie werden vielmehr in die Lage versetzt, Burtons außergewöhnlich intensive Erforschungen dieser verschiedenen ›Fremden‹ und ›Fremdheiten‹ zu beobachten und sind aufgefordert, sich mit den in diesem Kontext entstandenen vielgestaltigen Bildern der Figur auseinanderzusetzen.6 Der Roman lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wissensordnungen, die der Wahrnehmung vom ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ zugrunde liegen und sie strukturieren. Der Zugang des Offiziers und Entdeckers Burton zu fremden Kulturen ist durchgängig positiv konnotiert, da er sich diesen mit großer Leidenschaft und buchstäblich mit Haut und Haaren zuwendet.7 Burton erscheint in Der Weltensammler als eine Grenzgänger-Figur, deren Lust an der Überschreitung kulturell vorgegebener Grenzen in eine positiv konnotierte transkulturelle Existenz mündet. Grundsätzlich loten GrenzgängerFiguren, so Dirk Hohnsträter, »die prekären, vertrackten Verhältnisse der Zwischenräume aus. […] Im Gegensatz zu jenen, die sich stets äquidistant zu beiden Seiten verhalten, die Brisanz und die Tragik der Momente nicht kennen, steht der Grenzgänger nicht detachiert auf liminalem Niemandsland, um dem Defilee der Extreme gelassen zuzuwinken. Er läßt sich ein, ist interessiert, was durchaus bedeuten kann, vorübergehend und unter Wahrung der Möglichkeiten des Grenzganges in die Welt einer Seite einzutauchen.«8

6

Swati Achaya bemerkt zu Recht: »Der Indien-Teil des Buches ist also kein Versuch, ein Indienbild zu vermitteln. Im Gegenteil: es geht um die Dialektik zwischen ›An-eign-ung‹ (des Fremden durch das Eigene) und die ›Ent-eign-ung‹/ ›Ent-selbst-ung‹ des Eigenen (Ich) durch das Fremde (Du).« Acharya, Swati. 2011. Ilija Trojanows »erzählte Alterität«. Die Aneignung des Fremden und die Entfremdung des Eigenen. In: Durzak, Manfred (Hg.). Bilder Indiens in der deutschen Literatur. Peter Lang: Frankfurt a.M. u.a., 23-39, hier: 25f.

7

Dies gilt für das Indien- und für das Arabien-Kapitel. In Ostafrika unternimmt der Entdecker Burton, konzentriert auf die Suche nach den Quellen des Nils, keinen Versuch, Teil der afrikanischen Kultur zu werden. Er lernt auch keine Sprachen, sondern verständigt sich mit dem Führer Sidi Mubarak Bombay auf Hindi.

8

Hohnsträter, Dirk. 1999. Im Zwischenraum. Lob des Grenzgängers. In: Benthien, Claudia/Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (Hg.). Über Grenzen. Limitation

68 | A NDREA GEIER

Grenzgänger bewegen sich nicht nur scheinbar zwischen Kulturen hin- und her und wechseln damit die Bezugsfelder, sie scheinen sich vielmehr selbst auf der Grenze oder auch in einem ›Dazwischen‹ zu situieren. Das zeitweilige Eintauchen erweitert und vertieft den Erfahrungshorizont. Der Akt der Überschreitung macht kulturelle Grenzziehungen sichtbar und erlaubt es, Vorstellungen von kultureller Herkunft und Zugehörigkeit zu befragen. Mit Grenzgänger-Figuren verbindet sich daher potentiell das Versprechen, homogenisierende und statisch-essentialistische Vorstellungen von Kultur zu vervielfältigen und zu dynamisieren. Dies gilt wie für die Literatur auch für theoretische Modellbildungen. So benutzt Homi Bhabha den Begriff der »[k]ulturelle[n] Grenzarbeit« als positiven Gegenentwurf zu einem starren Nationendiskurs, in dem Kulturen essentialistisch gedacht werden. Die Grenze ist diejenige Linie, von der aus beide Seiten, die in einen Raum der Nation Inkludierten und die aus ihm Ausgeschlossenen, die Exkludierten, ihre Identität konstruieren und sich definieren. Dabei kann im günstigen Fall ein Raum der Intervention entstehen, die »Grenz-Gemeinschaft« kann neu ausgehandelt werden.9 Auch postmoderne Überlegungen zu ›nomadischen Subjekten‹ verfolgen in diesem Sinne eine Idee ›transkultureller‹ Zugehörigkeiten.10 In Der Weltensammler fasst Burton den Entschluss, dass er »die Fremdheit ablegen« würde, »anstatt darauf zu warten, daß sie ihm abgenommen wurde. Er würde so tun, als wäre er einer von ihnen.« (DWS 80) Das zentrale Mittel hierzu werden ethnische Maskeraden. Sie führen einerseits zu einer positiven Positionierung der Figur als ›Grenzgänger‹ und Vorreiter transkultureller Existenzweisen. Andererseits aber irritieren sie,

und Transgression in Literatur und Ästhetik. Metzler: Stuttgart, 231-244, hier: 243. 9

Bhabha, Homi K. 2000. Die Verortung der Kultur. Stauffenburg-Verlag: Tübingen, 13.

10 Zur Diskussion um das subversive, feministische Potential bzw. umgekehrt einen neokolonialen Impetus dieses ursprünglich von Gilles Deleuze und Felix Guattari vorgestellten Konzepts siehe Braidotti, Rosi. 1994. Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. Columbia University Press: New York sowie Kaplan, Caren. 1996. Questions of Travel. Postmodern Discourses of Displacement. Duke University Press: Durham/ London.

»E INER

VON UNS «?

| 69

so die These der folgenden Ausführungen, eben diese Funktion der Figur, da die Maskerade zwischen einem Performanz- und einem Identitätsdiskurs – im Sinne von Trojanows ›neuem Gesicht‹ – changiert. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Beziehung Burtons zu einer Kurtisane in Britisch-Indien. Die Paarbildung führt nicht nur grundsätzlich vor Augen, dass Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen wesentlich die Wahrnehmung von kultureller Fremdheit und damit von gelingenden oder misslingenden Kulturkontakten modellieren. Wie sich zeigen wird, ist die interkulturelle Beziehung eine der wenigen Elemente im Roman, die einen Kontrapunkt in einer weitgehend ›heldischen‹ Charakterisierung des Protagonisten zu setzen vermögen. Die Leitfragen der Analyse lauten: Wie wird das Konzept des ›Grenzgängers‹ für die Verhandlung von kultureller Identität genutzt? Welche Funktion kommen dem Maskerade-Motiv und der Darstellung einer Paarbeziehung für die Annäherung an bzw. Erkundung von ›Fremdheit‹ zu? Abschließend wird die Bedeutung des Maskerade-Diskurses für die Etablierung und Bewertung von Kulturmodellen in Der Weltensammler kritisch befragt.

V ON KOLONIALEN M ACHTVERHÄLTNISSEN ›G EHEIMNISSEN ‹ DES E RZÄHLENS

UND

Der Weltensammler erzählt von Sir Robert Francis Burtons (1821-1890) Aufenthalten und Reisen in Britisch-Indien, wo er als Offizier der Britischen Ostindien-Kompanie arbeitet, in Arabien, wo er unter falscher Identität eine Pilgerreise nach Mekka unternimmt, und von seinen Expeditionen mit John Hanning Speke in Ostafrika auf der Suche nach den Quellen des Nils. Gerahmt werden diese drei nach den Orten der Handlung benannten Kapitel durch Beschreibungen von Burtons Tod und Begräbnis mit den Titeln »Letzte Verwandlung« und »Offenbarung«. Sie berichten von verschiedenen Wandlungen bzw. Anverwandlungsversuchen, entziehen sich jedoch der Festlegung auf eine eindeutige ›wahre Identität‹ Burtons. Besondere Bedeutung misst Trojanow Burtons Interesse an bzw. Hinwendung

70 | A NDREA GEIER

zum islamischen Glauben zu.11 Der Rahmen markiert dieses ›Geheimnis‹ der Religions- bzw. Glaubensfrage als zentralen Bestandteil des Identitätsdiskurses. Gerade die Anspielung auf eine christlich konnotierte ›Offenbarung‹,12 gegen die dann eine spirituelle Neugier Burtons, zunächst in Bezug auf den Hinduismus, dann auf den Islam, gesetzt wird, signalisiert überdeutlich, dass die Figur als Teil eines Identitätsdiskurses verstanden werden soll, in dem selbstgewählte Zugehörigkeiten oder umgekehrt die Aufhebung von Zwängen der Herkunft und Loslösung von bloß ererbten Traditionen (wie der Glaubensrichtung) positiv konnotiert sind. Auf thematischer Ebene findet die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit ihren deutlichsten Ausdruck in der leitmotivisch verwendeten Phrase ›einer von uns‹bzw. dem Pendant ›einer von ihnen‹-sein (77, 80, 123, 212, 300 u.ö.). Der Rahmen etabliert darüber hinaus ein erstes beziehungsreiches Bild: Dem Eroberer und Entdecker, der kulturelle Grenzen überschritt, wird seine Frau als Bewahrerin der ›eigenen‹ Kultur entgegengestellt. Dass Isabel Burton das Notizbuch ihres Mannes vernichten lässt und damit sein Andenken verfälschen möchte, zeigt sie als typische Vertreterin der Kolonialmacht, für die dichotomische Grenzziehungen konstitutiv sind und die daher Erinnerungen an (gelungene) Überschreitungen zu tilgen sucht.13 Darüber hin-

11 »Trojanow is by no means the first German writer to be interested in Burton or the Islamic world, but he is the first in either English or German to put Burton’s interaction with Islam centre stage.« Preece, Julian. 2010. Faking the Hadj? Richard Burton slips between the lines in Ilija Trojanow’s »Der Weltensammler«. In: Preece, Julian/Finlay, Frank/Crowe, Sinéad (Hg.). Religion and Identity in Germany Today. Doubters, Believers, Seekers in Literature and Film. Peter Lang: Oxford u.a., 211-225, hier: 212. 12 »Trojanow spielt hier, wie häufiger im Text, mit Anklängen an christliches Kulturwissen, das er aber auch zu brechen und zu irritieren versteht. […] Im Laufe des Romans lernt der Leser verschiedene Verwandlungen kennen, die Verkleidungen Burtons ebenso wie die Veränderungen seiner Persönlichkeit, die ethischen und moralischen Reflexionen in den verschiedenen Religionen und Philosophien des indischen Subkontinents oder des Islam.« Rath, Matthias 2011. Von der »(Un)Möglichkeit, sich in die Fremde hineinzuleben«. Kulturelle Assimilation als Desintegration am Beispiel von Ilija Trojanows Roman »Der Weltensammler«. In: Arcadia 45, 2, 446-464, hier: 454. 13 Ebd.: 455.

»E INER

VON UNS «?

| 71

aus besitzt diese Szene jedoch zugleich eine geschlechtsspezifische Komponente. Dies wird in verwandten Formulierungen deutlich: »Ihre [das heißt die englischen; A.G.] Ehefrauen kartographierten penibel die Landkarte der herrschenden Vorurteile. Jeder Satz war wie ein Warnschild, eingefaßt in: Hören Sie, junger Mann!« (DWS 25) Isabel Burtons Geste der Vernichtung verfehlt ihr Ziel: Aus dem Feuer, das gesammeltes Wissen und dokumentierte Erfahrungen auslöschen soll, entsteht im Roman ein erstes imaginatives Erinnerungsbild, wie Burton, in Bombay angekommen, eine Leichenverbrennung beobachtete. Die Szene ist poetologisch lesbar:14 Das Erzählen inszeniert sich als eine dem kolonialen Gestus gegenüber widerständige Rettung, da es die Erinnerung an eine Grenzüberschreitung, die vernichtet werden sollte, in das kulturelle Gedächtnis einspeist.15 Das Erzählverfahren scheint dagegen auf den ersten Blick einer Überhöhung der Burton’schen Figur entgegenzuarbeiten: Der heterodiegetische Erzähler – von Trojanow als »teilwissende[r] Erzähler« bezeichnet16 – un-

14 Gert Hofmann betont ebenfalls das poetologische Moment, legt den Akzent aber auf eine Verschiebung von Autorschaft zwischen Burton und Trojanow: »Das Schreiben wurde für Burton zum Refugium einer liminalen Existenz, der ansonsten weder in dieser (der Welt des britischen Empire) noch in der andern Welt (der der indischen Kulturen) dauerhaft Raum gewährt wurde. Und genau dieser Gedanke des Schreibens als Refugium für ein Leben in hybrider Gestalt inspiriert seinerseits Trojanows Buch.« Hofmann, Gert. 2001. Im »Dritten Raum« der Literatur. Der »Weltensammler« in Indien. In: Durzak, Manfred (Hg.). Bilder Indiens in der deutschen Literatur. Peter Lang: Frankfurt a.M. u.a., 13-22, hier: 18. 15 Verwandte Szenen zielen vor allem auf die poetische Lizenz des Autors, der – dann eher augenzwinkernd – darauf hinweist, dass er Lücken der Überlieferung zu füllen gezwungen ist – beispielsweise, weil Notizen Burtons durch Nässe teilweise unbrauchbar wurden (DWS 489). 16 »[D]er teilwissende Erzähler, der wie eine unsichtbare Eule auf der rechten Schulter von Burton sitzt, der alles beobachtet und wahrnimmt, der auch hört, wie Burton dieses und jenes ausplaudert, wie er laut vor sich her redet, wie er im Schlaf spricht, der aber keinen Zugang zu den geheimsten Gedanken der Hauptfigur hat.« Trojanow: Voran ins Godwanaland. Eine poetische Zeile in drei Doppelhälften und einem offenen Dach. In: Zaimoglu, Feridun/Trojanow, Ilija

72 | A NDREA GEIER

ternimmt die Rekonstruktion von Burtons Lebensgeschichte, indem er zwischen Burtons Sichtweisen und den Beobachtungen und Bewertungen nicht-europäischer Figuren – dem ehemaligen Diener Naukaram (Indien), einzelnen Behördenvertretern und Mitreisenden der Hadj (Arabien) sowie dem Expeditionsbegleiter Sidi Mubarak Bombay (Ostafrika) – wechselt.17 In einigen wenigen Passagen, beispielsweise der Wiedergabe von Briefen, werden Burton und andere Figuren zu homodiegetischen Erzählern. Durch vielfachen Einsatz direkter Rede entsteht zwischenzeitlich immer wieder der Eindruck, dass die Fokalisierungsinstanzen zu Erzählstimmen werden. Diese durch variable interne Fokalisierung inszenierte Form von Polyperspektivität und Dialogizität signalisiert, dass das Bild Burtons aus verschiedenen Quellen zu rekonstruieren ist.18 Den Leser_innen werden potentiell konfligierende Sichtweisen auf Kulturkontakte, Burtons Person und sein Verhalten präsentiert, die sich keineswegs zu einem durchgängig kohärenten Bild formen. Strukturell betrachtet scheint es, als wäre den nichteuropäischen Figuren vor allem die Funktion kritischer Gegenrede zugedacht.19

2008. Ferne Nähe. Tübinger Poetik-Dozentur 2007. Hg. von Dorothee Kimmich und Philipp Ostrowicz. Swiridoff Verlag: Künzelsau, 67-94, hier: 82f. 17 Im Kapitel Britisch-Indien schildert der ehemalige Diener Naukaram einem ebenfalls indischen Schreiber seine Jahre mit Burton, um ein ordentliches Empfehlungsschreiben zu erhalten, das dieser ihm verweigert hatte. Im ArabienKapitel veranlasst die Publikation von Burtons Hadj-Reise die Behörden, ehemalige Mitreisende zu finden und zu befragen. Der Verdacht ist, dass Burton, der bereits in Indien als Spion tätig war, auch während seiner Mekka-Reise im Auftrag der englischen Regierung spioniert haben könnte. Im Ostafrika-Kapitel kommentiert der Afrikaner Sidi Mubarak Bombay, ein ehemaliger Sklave, die Expedition und begehrt damit dagegen auf, dass seine Leistung während der Expedition nicht dieselbe Würdigung erhielt wie die Spekes und Burtons. 18 »Burton is known, perhaps curiously, more through accounts of his life written by others than by his own writings.« Preece: 2010, 211. 19 Trojanow nennt sie »Gegenerzähler« (Trojanow: Voran ins Godwanaland, 84), Honold spricht von einem »Spiegelkabinett polyglotter Vielstimmigkeit« (Honold: Ankunft, 103), Holdenried von »perspektivische[n] Tricksterfigurationen« (Holdenried: 2009, 304), Rath von »Spiegelperspektive« (Rath: 2011, 448).

»E INER

VON UNS «?

| 73

M ASKERADE - UND G RENZGÄNGER -D ISKURS Ausgestattet mit einer außergewöhnlichen Sprachbegabung, gepaart mit großer Neugier auf das Land, schlägt die Figur Burton den – wiederum vor allem weiblichen Stimmen zugeordneten – Ratschlag, sich von »allem Fremden« in Indien fernzuhalten (DWS 25), in den Wind. Statt den Aufforderungen nach kultureller Abgrenzung, welche die britische Kolonialmacht charakterisieren, zu folgen, lässt er sich von drei Einheimischen die indische Kultur nahebringen: Neben Naukaram sind dies der Brahmane Upanitsche, bei dem Burton Sprachen studiert, und Kundalini, die seine zeitweilige Geliebte wird. Der junge Engländer lernt bald, für seine Erkundungen auch einheimische Verkleidungen zu nutzen. Sie erweitern erheblich seinen Bewegungsspielraum und scheinen ihn zunächst in Indien, später auch im Rahmen der Hadj seinem Wunsch, in die indigene Kultur ›einzutauchen‹, nahezubringen. Dabei bleibt die Frage, ob er während der Pilgerfahrt nach Mekka nicht nur eine ethnische Maskerade benutzte, sondern seine Mitreisenden möglicherweise auch in Bezug auf den muslimischen Glauben täuschte, offen. Für jede ethnische oder geschlechtliche Maskerade ist die Klugheit und Geschicklichkeit einer Person nötig, welche die gesellschaftlichen Regeln und Konventionen kennt und für eine eigene Inszenierung zu nutzen vermag. Das Gelingen einer Maskerade hängt also von der Aneignung von Wissen durch den Darstellenden einerseits und der erfolgreichen Täuschung der sozialen Umwelt andererseits ab. Ausgangspunkt einer positiven Wertung der ethnischen Maskeraden im Roman ist die Tatsache, dass sie von Einheimischen, dem Diener und dem Lehrer, initiiert wurden. In Naukarams Unterhaltung mit dem Schreiber heißt es: »Wir haben ihn zum Spitzel gemacht. – Schämst du dich dessen nicht? – Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Wir haben ihn nicht zur Falschheit angestiftet. Wir haben angeregt, daß er unsere Kleidung anzieht, daß er sich wie einer von uns gibt. Guruji hat ihn einmal darum gebeten. Er hat sich eine Kurta von ihm ausgeliehen.« (DWS 99)

Der Weltensammler legitimiert die Verwendung von Maskeraden, indem er die Verwandlung als »Zeichen von Vertrautheit« (DWS 99) mit dieser an-

74 | A NDREA GEIER

deren Kultur darstellt. Sie ist gespeist vom Wissen der Einheimischen und basiert auf persönlichen Beziehungen. Tatsächlich freut sich Upanitsche königlich, dass seine eigenen Freunde durch Burtons Maskerade getäuscht werden. Die Art der Initiation betont das Spielerische, Reizvolle der Verkleidung. Umgekehrt ironisiert Burtons Maskerade die Angst der Briten, sich mit der einheimischen Kultur einzulassen: »Ein Kleidungsstück für jede Kaste, sagte er. Er machte sich einen Scherz daraus, vor der Regimentsmesse herumzulungern und die anderen Offiziere anzubetteln. Wenn sie ihn wegscheuchten, richtete er seine empörte Stimme zum Himmel und beschwerte sich im reinsten Englisch über die Herzlosigkeit seiner Landsleute.« (DWS 101)

Die Maskerade führt vor, wie kulturelles Wissen Handlungsmacht verleiht. Sie eröffnet einen Raum, von dem aus sowohl die indische als auch die britisch-europäische Kultur beleuchtet werden, also eine Selbstreflexion des ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ entsteht. Burton wird damit in positivem Sinne als eine Grenzgänger-Figur profiliert. Ansatzpunkt für einen anderen Blick auf die ethnische Maskerade entsteht durch den Hinweis auf die verschiedenen Funktionszusammenhänge, in die sie eingebunden ist. Neben dem spielerischen, kritisch-ironischen Blick auf die eigene Kultur und einer harmlosen Täuschung der indischen Bevölkerung findet sich eine Instrumentalisierung der Verkleidung als »Möglichkeit zum schnelleren Aufstieg« (DWS 102): Burton kann sich dank seiner ethnischen Maskerade unter den Einheimischen wie ihresgleichen bewegen und berichtet seinen Vorgesetzten, was er über die Stimmung gegenüber den Briten in Erfahrung bringt. Da Burton damit den Engländern vor allem einen Spiegel vorhält, entfalten diese Spitzeldienste im Erzähldiskurs jedoch kein kritisches Potential. Es wird sogar nahegelegt, dass der Diener darauf stolz ist, weil der Status seines Herren seine eigene Bedeutung erhöht: »Er hatte jederzeit Zugang zu dem General der Angrezi« (DWS 99). Ein zweiter potentieller Ansatzpunkt ist, dass die einheimischen Figuren Burtons Maskerade ausschließlich als Oberflächen-Phänomen wahrnehmen, während Burton selbst beginnt, seine Verwandlungen als identitätsstiftend zu begreifen. Naukaram wie auch der Lehrer anerkennen Burtons leidenschaftliche Versuche, als Angehöriger ihrer Kultur zu erschei-

»E INER

VON UNS «?

| 75

nen. Sie weisen jedoch die Annahme, dass er sich dabei als einer der Ihren erleben könne, zurück und werfen ihm eine Selbsttäuschung vor. Naukaram erklärt: »Er steigerte sich hinein. […] Er begann zu glauben, er verkleide sich nicht, sondern verwandle sich. […] Ich war keineswegs überzeugt, daß man seine Rolle im Leben wechseln kann.« (DWS 102) In Naukarams letztem Satz kommt eine kulturkonservative Haltung zum Ausdruck, die problematisch wirkt, so dass auf diese Weise auch sein kritischer Einspruch an Bedeutung für den Wertediskurs über die Maskerade verliert. Seine Position wird im Übrigen noch weiter dadurch marginalisiert, ja sogar diskreditiert, dass er sich offen islamfeindlich äußert: Als er davon berichtet, dass Burton im Sindh als Moslem auftrat, nennt er dies ›widerlich‹ (DWS 105). Die Maskeraden des Engländers erscheinen demgegenüber umso subversiver, da sie sich – vorurteilsfrei – gegen ein substantialistisches Denken in starren Dichotomien in jeder Kultur richten. Burton spürt zwar selbst durchaus Konflikte, doch münden auch diese Äußerungen letztlich nur in eine Bestätigung. Die Figur strebt nicht nur eine gelingende Verwandlung an, sondern bestärkt sie in Formulierungen der Zugehörigkeit. Im Arabien-Kapitel heißt es: »Warte, du bist nicht einer von ihnen. Wieso jubelst du? Natürlich bin ich einer von ihnen. Du mußt beobachten. Ich will Anteil nehmen.« (DWS 300).20 Immer wieder aufs Neue wird die Maskerade mit moralischer Glaubwürdigkeit ausgestattet und sogar als Ausweis wahrhafter ›Verwandlung‹ dargestellt: Burton spioniert, weigert sich aber, seine Quellen, einen Einheimischen, dem er Vertraulichkeit zugesichert hatte, zu verraten. Ein andermal wird er, unterwegs in der Rolle eines Inders, verhaftet, gibt aber seine Identität nicht preis und schlüpft nicht »in den sicheren Hafen des imperialen Schutzes« (DWS 212). Er nimmt in Kauf, gefoltert zu werden, und

20 Diese Stelle ist im Übrigen ein Indiz dafür, dass es Burton von Anfang an um Teilhabe geht, auch wenn dazu andere Instrumentalisierungen der Maskerade (wie die Spionage) treten. In Der Weltensammler lässt sich daher nicht davon sprechen, dass sich die Figur in dieser Hinsicht zwischen dem Indien- und dem Arabien-Kapitel entwickele. Rath sieht diese Differenz, wenn er schreibt, Burton genüge die Art der »Assimilation«, wie er sie in Indien praktiziert habe, nicht mehr, und er wolle in Arabien »nicht nur Beobachter sein«. Rath: 2011, 459.

76 | A NDREA GEIER

man entlässt ihn erst, nachdem sein Diener bewiesen hat, dass es sich um einen Briten handelt. Die einzige Kritik ethnischer Maskerade, die im Roman scheinbar Bestand hat und nicht umgehend widerlegt oder abgeschwächt wird, äußert der Lehrer: »Du kannst dich verkleiden, soviel du willst, du wirst nie erfahren, wie es ist, einer von uns zu sein. Du kannst jederzeit deine Verkleidung ablegen, dir steht immer dieser letzte Ausweg offen. Wir aber sind in unserer Haut gefangen. Fasten ist nicht dasselbe wie hungern.« (DWS 212)

Dass Burton als ein Mann englischer Herkunft indische Männer unterschiedlicher sozialer Stellung imitieren kann, liegt nicht allein an individuellen Fähigkeiten wie seiner Sprachbegabung. Der Lehrer weist Burton darauf hin, dass er zwar Assimilation anstreben mag, dass aber die Privilegien, die seine Herkunft und soziale Position mit sich bringen und die ihm die Maskerade erlauben, nicht bedeuten, dass er die indische Kultur mit anderen als britischen Augen sähe. Der Lehrer bezweifelt vehement, dass Burton von der Ebene des Wissens, das er für seine Performanz benötigt und das er in der Interaktion erwirbt, auf die Ebene sozialer Existenzweisen schließen könne. Burton mag sich selbst nicht als Teil der Kolonialmacht wahrnehmen und sich durch sein Auftreten und den Wunsch nach ›Verschmelzung‹ mit der indischen Kultur deutlich von dem erwünschten Habitus eines britischen Offiziers unterscheiden. Doch die Tatsache, dass noch sein Festhalten an der Verwandlung unter Lebensgefahr eine Entscheidung ist, die jederzeit widerrufen werden könnte, markiert eine existentielle Differenz der Subjektpositionen im Kolonialregime. Augenfällig ist hier die verschiedenartige Bedeutung nachahmender Inszenierungen und Verwandlungen für Kolonialisierer und Kolonialisierte. Grundsätzlich entstehen »Prozesse der Subjektifizierung«, so Homi Bhabha, in Abhängigkeit von den Machtbeziehungen im kolonialen Raum. Sie bewirken das »Repertoire an Positionen von Macht und Widerstand, Herrschaft und Abhängigkeit, das das Subjekt (den Kolonialherren und den Kolonisierten) kolonialer Identifikation konstruiert.«21 In diesem Sinne sind Burtons Verwandlungen Teil hegemo-

21 Bhabha: 2000, 98.

»E INER

VON UNS «?

| 77

nialer Machtpraktiken, die ihn allererst zur Maskerade befähigen, aber doch nie zu einer vollständigen ›Verwandlung‹ führen können. Seine Praxis der Maskerade ist insofern ein Pendant der kolonialen Mimikry, als sie ebenfalls ambivalenten Charakter besitzt und irritierende, subversive Effekte zeitigen kann – jedoch unter anderen Bedingungen: Im Fall der Mimikry ist die Praxis der Nachahmung selbst ambivalent und potentiell subversiv. Burtons ethnische Maskeraden dagegen entlarven vor allem im Akt der Aufdeckung die Instabilität von Grenzziehungen, auf die sich die Behauptung zivilisatorischer Überlegenheit und Herrschaft gründet, und führen damit die Mechanismen rassistischer Stereotypisierung zu Zwecken der Machtausübung vor. In Interpretationen von Der Weltensammler wird Burtons Maskerade vielfach als gelingendes Eintauchen in andere Kulturen und als Zeichen des ›Hybriden‹ gewertet: »Kennzeichnend für den ›Weltensammler‹ ist auf jeden Fall eine detailbesessene Wahrnehmungslust, eine aktive Rezeption des Fremden, auf Augenhöhe von Individuum zu Individuum und unter bisweilen mutigem Einsatz des Körpers. Die Methode seines als unendlich wandelbaren Proteus-Gestalt, als quasi chamäleonartige Persönlichkeit geschilderten Helden, über vielerlei Maskierungen in die Haut des je Anderen zu schlüpfen, macht Ilija Trojanow zum Modell seines schriftstellerischen Umgangs mit dem Fremden.«22

Die Machtverhältnisse, unter denen die Täuschung stattfindet, werden in solchen Deutungen ausgeblendet. Dies geschieht wahlweise, um das Moment selbstbestimmter Performanz der Burton’schen Figur betonen zu können, oder sogar, um die Maskerade-Technik losgelöst von der Frage, wer sie verwendet, zum Kennzeichen des Literarischen bzw. erfolgreicher Schreibverfahren der ›Transkulturalität‹ o.Ä.m. zu hypostasieren. Matthias Rath erklärt mit Blick auf die Vielfalt der Figurenpositionen und Handlungsstränge: »das Fremde wird immer wieder neu aufgebrochen und

22 Hübner, Klaus. 2008. Fließen Kulturen ineinander? Über Ilija Trojanow. In: Bürger-Koftis, Michaela (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte ... Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien: Praesens, 83-95, hier: 89.

78 | A NDREA GEIER

Fremdheit löst sich im kulturellen Austausch auf.«23 Gert Hofmann schreibt im Anschluss an die oben zitierte Kritik Upanitsches in Der Weltensammler: »Der Dritte Raum, der Raum eines hybriden Lebens jenseits aller Identitätsgrenzen, wäre dann also gleichsam der Raum, in dem man sich zu Tode fastet, um überleben zu können. Wir erkennen darin den Raum der Literatur.«24 Diese Interpretationen übergehen, dass der Roman gerade nicht die aus postkolonialer Sicht wichtige Kritik an ethnischen Maskeraden, die der Lehrer Upanitsche äußert, privilegiert. Die Maskerade mag aus Figurensicht existentiell anmuten, ist es jedoch nicht: Unter allen Festgenommenen hat nur Burton die Möglichkeit, sich zu entscheiden, ob er die selbst gewählte Identität beibehält oder aber seine ›andere‹ Herkunft preisgibt. Die beständig wiederholten positiven Perspektiven auf die Maskerade und die Beschwörung von Burtons Mut dienen im Erzähldiskurs einsinnig dazu, die geäußerte Kritik erheblich zu marginalisieren. Umgekehrt wird im Roman auch durch das Urteil der Kolonialmacht über Burton unterstrichen, dass er von der indigenen Kultur gewissermaßen ›ganz‹ affiziert ist. Im IndienKapitel erwähnt Naukaram, dass Burtons Kameraden ihn herabsetzend als einen »weißen Neger« bezeichnen (DWS 112). Im Afrika-Kapitel wird beschrieben, dass Burton nicht mehr als ein Engländer, der sein Herkunftsland und dessen Werte zu repräsentieren vermag, angesehen wird: »Natürlich haben die hohen Herren im Lande der Wazungu Bwana Speke den Vorzug gegeben, denn er sah aus wie einer von ihnen, während Bwana Burton sich in seinem Aussehen von ihnen entfernte, mit seinem Bart, der schwarz wucherte, mit seiner Hautfarbe, die sich eindunkelte, bis er von einem Araber nicht mehr zu unterscheiden war, mit den Gewändern, die er sich überzog, entfernte er sich von dem Aussehen, das sich die hohen Herren bestimmt wünschten, das saubere, schöne Aussehen von Bwana Speke, der schlanke Körper, die blauen Augen, die helle Mähne seiner Haare, nichts an ihm drohte, fremd zu werden.« (DWS 500)

Das äußerliche ›Fremdwerden‹ nährt den Verdacht der Kolonialmacht, dass Burton sich auch innerlich von den Werten seiner Herkunft entfernt haben könnte. Das Fremdbild bestätigt dabei nur, was die Figur noch in Indien

23 Rath: 2011, 464. 24 Hofmann: 2001, 22.

»E INER

VON UNS «?

| 79

und damit zu einem frühen Zeitpunkt im Roman von sich selbst denkt: »Als Burton zu Hause in den Spiegel blickte, erkannte er sich selbst nicht wieder. Nicht wegen irgendeiner äußeren Veränderung, sondern weil er sich verwandelt fühlte.« (DWS 186) Burtons Maskeraden behalten im Erzähldiskurs den Nimbus des Faszinierenden und ›Widerständischen‹, weil nicht Täuschung und Selbsttäuschung sowie die Mechanismen ihres Gelingens, sondern immer wieder aufs Neue das echte Begehren der Teilhabe und – gegen die Stimmen der nicht-europäischen Figuren – die Möglichkeit zur tatsächlichen Anverwandlung und Erfahrbarkeit einer anderen Kultur beglaubigt werden. Der Wertungsdiskurs über die Maskerade ist grundlegend für die Charakterisierung der Burton’schen Figur als erfolgreichen, seine Herkunft hinter sich lassenden Grenzgängers, der sich neue Zugehörigkeiten zu wählen vermag.

D AS INTERKULTURELLE P AAR UND DIE B EDEUTUNG KULTURELLEN W ISSENS Die Kundalini-Geschichte scheint zunächst Burtons Begehren der anderen Kultur, das sich in der Maskerade verwirklicht, klischeeartig zu bestätigen, da kulturelles und sexuelles Begehren plakativ ineinanderfallen. Mit dem sexuellen Arrangement wird Burtons eigene ironische Bemerkung (unfreiwillig komisch) zur Realität: »Bestimmt denken sie [die englischen Damen; A.G.], eine Sprache zu teilen ist wie ein Bett zu teilen.« (DWS 26) Im Unterschied zu den Erkundungen in ethnischen Maskeraden, für welche das Wissen über einheimische Kulturen von fundamentaler Bedeutung ist, stellt sich die Beziehung zu Kundalini als ein Aushandlungsfeld zwischen Wissen und Nicht-Wissen dar. Dieses Changieren erweist sich als dynamisierendes Element der Geschlechterbeziehung, die nicht allein auf die Aufhebung von ›Fremdheiten‹, sondern auch auf deren Aufrechterhaltung zielt. Die Geschichte, deren Bild sich wesentlich aus Naukarams Erzählungen zusammensetzt, wird vor allem davon bestimmt, was Burton nicht in Erfahrung bringen kann oder will. Erst nach dem Tod der Geliebten erzählt Naukaram seinem Herren, dass diese in einem Tempel aufgewachsen ist und dort als »Dienerin Gottes« lebte, was sexuelle Dienste für den Priester einschloss. Seine eigene sexuelle Beziehung zur Kurtisane verschweigt er jedoch weiterhin.

80 | A NDREA GEIER

Burton wusste zu Lebzeiten Kundalinis weder, woher sie kam, noch kannte er ihre Gewohnheiten, etwa, dass sie an freien Tagen in den Tempel zurückkehrte, weil sie diesen – laut Naukaram – als ihre eigentliche Heimat ansah. Dieses Nicht-Wissen erklärt Burton nach Kundalinis Tod zur bewussten Entscheidung: »Alles zu wissen, ist kein Maß, ist kein Ziel. Wenn du so fragst, ich wußte genug über sie.« (DWS 174) Das Nicht-WissenWollen in der Paar-Beziehung kontrastiert auffällig mit dem existentiellen Drang nach kulturellem Wissen, der die Figur Burton charakterisiert und Gelingensbedingung seiner Maskeraden ist. Der Diener, der Kundalini vermittelt, erklärt Burton »Sie müssen nur genießen« (DWS 75). Damit sind den Partnern klare Rollen zugewiesen. Die ganz auf das Körperliche konzentrierte Beziehung ist für Burton ein Feld der ›Authentizität‹ und ›Unverstelltheit‹, während die Rolle für Kundalini mit einer bewussten Inszenierung einhergeht. Sie wahrt Distanz und stellt u.a. einige Bedingungen wie, nie die ganze Nacht mit Burton zu verbringen. Burton versucht mehrfach, Kundalinis Distanz zu durchbrechen. Die Frage, ob er sie sexuell befriedigen könne, löst allerdings bei Naukaram und der Geliebten notwendig Verständnislosigkeit aus. Für die beiden einheimischen Figuren sind ihre Beziehungen zu Burton Teil eines kolonialen Herr-Diener-Verhältnisses, und dies umfasst auch das sexuelle Arrangement. Burton dagegen tut so, als sei die arrangierte Beziehung von diesem Ordnungsmuster ausgenommen, und scheint das Arrangement als ›Liebesbeziehung‹ inszenieren zu wollen. Tatsächlich klärt Kundalini Burton darüber auf, dass es in der Sexualität Techniken zu lernen gebe. Als sie während des Sex Geschichten erzählt, interpretiert Burton dies entsprechend als Mittel, um seinen Orgasmus hinauszuzögern. Die Erzählungen Kundalinis handeln nie von ihr selbst. Auf Burtons Fragen, etwa nach ihrer dunklen Hautfarbe, antwortet sie ausweichend und präsentiert stattdessen tragische Sex-and-Crime-Stories von Kobrakurtisanen, die durch Sex töten. Solche exotistischen Inszenierung von Erotik und Gefahr25 werden im Erzähldiskurs aufgewertet, wenn Upa-

25 Michaela Holdenried ist in ihrer grundsätzlichen Kritik zuzustimmen, dass in der Kundalini-Episode die verwendete Sprache »in nichts etwas von jenem Begehren transportiert, das Grenzen sprengt, sondern in der Übermetaphorisierung und der Repetition eines Vokabulars gefangen verbleibt, das weniger an das

»E INER

VON UNS «?

| 81

nitsche die Kurtisane als kulturelle Vermittlerin preist: »Ein glücklicher Mann, der solche wertvollen Geschichten irgendwo aufgabelt. Und sei es auch nur im Bett.« (DWS 148) Doch der Lehrer, der sich als »größter Fachmann« (DWS 149) für das Kamasutra bezeichnet, erzählt Burton gleich im Anschluss ein Sutra über Kurtisanen, die stets ihre wahren Gefühle verbergen. Hiermit weist er Burton nicht nur noch einmal, wie alle einheimischen Figuren, auf den eigentlichen Charakter der Beziehung hin, sondern führt im Erzähldiskurs eine Parallele zu Burton ein: Dessen Maskerade korrespondiert Kundalinis Verstellung. Burton aber bezieht diese Anspielung gar nicht auf seine Beziehung, da er sich in der Fiktion einer Partnerschaft auf ›Augenhöhe‹ einrichtet, zu der es gehört, dass jedem überlassen ist, welche Geheimnisse man von sich preisgibt. Das Nicht-WissenWollen, das die Figur als Geste der Anerkennung gegenüber dem ›Anderen‹ inszeniert, erscheint damit als bequemliche Verleugnung der Verhältnisse. Im Unterschied zur Darstellung der ethnischen Maskerade liegt der Fokus des Erzählens hier auf dem Nachweis von Burtons Fehlinterpretation seiner Beziehung. Letzteres betont auch Julian Preece: »Trojanow once more writes through the Orientalist myth of eastern sex. Sex is here a performance which is put on for the repressed colonial officer who does not get to see behind the scenes.«26 Wie begrenzt Burtons Verständnis der Verhältnisse ist, in denen er sich bewegt, zeigen vor allem zwei Episoden: Burton zieht Naukaram zwar damit auf, dass er in Kundalini verliebt sei, vermag aber seinen männlichen Diener nicht als sexuellen Konkurrenten wahrzunehmen, der er zu Beginn tatsächlich war. Und als Kundalini, bereits sichtlich erkrankt, Burton eines Tages bittet, sie mit einer einheimischen Zeremonie zu heiraten, weigert er sich – obwohl sie erklärt, dass es sich um eine »Zeremonie des Selbstverständlichen« (DWS 159) handele, der nichts Offizielles anhafte, und er ihr vertrauen möge, dass dies für sie eine »Befreiung« sei. Burton, der beständig versucht hatte, die Distanz aufzuheben, die Kundalini bewahrt hatte, versteht den Sinn der Handlung nicht. Er verweigert ihr die ersehnte Veränderung ihrer sozialen Rolle, die allein in seiner Macht läge. Erst als sie tot ist, kümmert er sich um sie: Er sorgt für die Verbrennung des Leich-

Kamasutra erinnert, dessen Struktur es nachzuahmen sucht, als an überspannte erotische Fantasien.« Holdenried: 2009, 309. 26 Preece: 2010, 224f.

82 | A NDREA GEIER

nams, nachdem die Priester sich mit der Begründung, sie sei unrein, geweigert hatten (DWS 161). Welche Bedeutung dieser Zeremonie tatsächlich besessen hätte, und was Kundalinis Beweggründe waren, warum sie Distanz zu Burton hielt, später die Beziehung zu Naukaram abbrach – all dies bleibt Mutmaßung, da Kundalinis eigene Perspektive im Erzähldiskurs fehlt. Die Kundalini-Geschichte behält einen rätselhaften Anteil und ein durchaus klischeeartig zu nennendes ›Geheimnis Weiblichkeit‹. So wie in der Kundalini-Geschichte Täuschungen über Identitäten mit angeblich tatsächlicher Aufklärung eines Briten über Geheimnisse der indischen Kultur Hand in Hand gehen, mischen sich auf der Ebene des Erzähldiskurses exotistische Inszenierungen von Weiblichkeit mit kritischen Blicken auf einen überwiegend ›heldisch‹ inszenierten Protagonisten.

G RENZGÄNGER -Q UALITÄTEN UND DIE R EFLEXION VON K ULTURMODELLEN »Bei Trojanow präsentiert sich ein Weltbürgertum, das im Vergleich zu den schmerzhaften Erfahrungen des Verlusts, geschildert in der Migrantenliteratur, fast einen Idealzustand darstellt.«27 Doch wer kann dieses ›Weltbürgertum‹ eigentlich verkörpern? Welches Potential zur Reflexion von Kulturmodellen gewinnt der Roman aus der Darstellung seines ›Helden‹ und im Zusammenhang mit dem Maskerade-Motiv? Werden durch die Grenzgänger-Figur verschiedenartige Perspektiven auf die Erfahrung von ›Fremdheit‹ eröffnet oder aber einsinnige Imaginationen selbstbestimmter kultureller Identität und gelebter Transkulturalität entworfen? Und welche Leistung lässt sich dem Erzählverfahren für die Verhandlung von Fremdheiten zuerkennen? Durch die als gelingend vorgestellten ethnischen Maskeraden inszeniert der Roman einerseits eine Position des ›Dazwischen‹, welche eine beidseitige Betrachtung von Kolonialisierern und Kolonialisierten erlaubt. Andererseits durchkreuzt die Betonung einer existentiellen Erfahrungsqualität

27 Arnaudova, Svetlana 2010. Identität und Identitätsverlust in den Romanen von Ilija Trojanow und Yadé Kara. In: Arenhövel, Maja/Razbojnikova-Frateva, Mark/Winter, Hans-Gerd (Hg.). Kulturtransfer und Kulturkonflikt. Thelem: Dresden, 284-292, hier: 285.

»E INER

VON UNS «?

| 83

die Idee einer performativen, nur zeitweisen Inszenierung von kulturellem Handlungswissen für bestimmte Zwecke, wie sie für das Maskerade-Motiv eigentlich charakteristisch wäre. Die Empfindung Burtons, sich als Teil einer anderen Kultur erleben und der dargestellte Andere tatsächlich ›sein‹ zu können, wird im Erzähldiskurs nur punktuell, wie beschrieben, problematisiert. Die wenigen kritischen Bewertungen fallen gegenüber den überwiegend positiven nicht ins Gewicht. Die Umwidmung des Maskerade-Motivs in ein existentielles Erfahrungsmoment lässt dessen Funktion nicht unberührt: Die Maskerade hat die Qualität, ein essentialisierendes dichotomisches Denken zu irritieren, gerade weil sie die Grenzziehung bewusst hält. Im Kontext eines Identitätsdiskurses der ›Verwandlung‹ verliert die Maskerade jedoch weitgehend ihr Potential, homogenisierende Kulturmodelle kritisch zu reflektieren. Aus einer situativen Teilhabe wird die Vorstellung eines ›Übergangs‹. An die Stelle einer Vermittlung bewusst gehaltener Differenzen tritt die Behauptung einer dauerhaften Teilhabe an einer anderen Kultur. Das ›Fremdwerden‹ des ›Eigenen‹ und die Überschreitung von Grenzen werden als eine transkulturelle Leistung im Roman positiv charakterisiert. Dass diese Überschreitung Burton als ›heldischen Charakter‹ auszeichnet, ist jedoch nur plausibel, weil die Subjektposition als Teil der Gelingensbedingungen ausgeblendet wird. Wie wichtig es für eine positive Profilierung der Figur Burton als Grenzgänger-Figur ist, dass dieser Aspekt im Erzähldiskurs marginalisiert wird, zeigt ein genauerer Blick auf andere Figuren, die ebenfalls das Potential hätten, als Grenzgänger wahrgenommen zu werden. Hansjörg Bay erläutert: »Burtons indischen Diener Naukaram könnte man als anglisierten ›Zögling‹ (77) der Kolonialherren bezeichnen, als eine Art mimic man im Sinne Bhabhas also; Sidi Mubarak Bombay, Burtons afrikanischer Führer, Dolmetscher und Informant, ist eine ebenso weitgereiste und nonkonformistische Figur wie Burton selbst. Was hier wechselt, ist also nicht einfach die Perspektive der Kolonisatoren und diejenige der Kolonisierten, sondern diejenige von kulturellen Grenzgängern auf beiden Seiten.«28

28 Bay, Hansjörg. 2009. Going native? Mimikry und Maskerade in kolonialen Entdeckungsreisen der Gegenwartliteratur (Stangl; Trojanow). In: Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.). Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den

84 | A NDREA GEIER

Betrachtet man das Potential der Figuren, treffen diese Beobachtungen zweifelsohne zu. Doch umso erstaunlicher ist, dass diese GrenzgängerErfahrungen im Erzähldiskurs eben nicht in derselben Weise wie für Burton als besondere Qualitäten der Figuren herausgestellt werden. Entscheidend hierfür ist der Maskerade-Diskurs. Exemplarisch lässt sich dies an Naukaram zeigen: Nachdem dieser Burton nach Sindh begleitet hat, ist er in ganz anderer Weise ›fremd‹ als Burton. Weder sucht noch findet er engen Kontakt mit der neuen Umwelt, und darüber hinaus ›entfremdet‹ er sich von Burton. Dieser beginnt sich nämlich für den Islam zu interessieren und vervielfältigt und perfektioniert seine ethnischen Maskeraden, die es ihm erlauben, auch in die neue Umgebung ›einzutauchen‹. Die nichteuropäischen Figuren in Der Weltensammler machen zwar vielfältige und vielfach auch negative Erfahrungen ›zwischen‹ den Kulturen, doch verwehrt der Roman ihnen, dass sie aus ihrem Grenzgängertum dieselben transkulturellen Qualitäten gewinnen, die er Burton zugesteht. Für Einheimische wird dieser Diskurs unter eindeutig negativen Vorzeichen geführt, wenn Naukaram vom Schreiber belehrt wird: »Da ist ein Unterschied zwischen Sichfremdwerden und Maskerade« (DWS 77). Da sich Ersteres auf Naukaram bezieht, wird die Burton’sche Kunst der Maskerade als Zugewinn von ›Fremdheit‹ gegenüber einem Sichfremdwerden als Verlusterfahrung des Einheimischen aufgewertet. Als zentraler Unterschied zwischen den Grenzgänger-Figuren lässt sich damit bestimmen, dass im Falle von Burton die Kunst des Performers am Ausgangspunkt des ›Maskerade‹-Diskurses steht und erst von dort aus ein Identitätsdiskurs entwickelt wird. Diese Beobachtung bestätigt sich an einem zweiten Motiv, das wie die Maskerade die Grenzgänger-Figur potentiell in ein ambivalenteres Licht rücken könnte: Der ›Bastard‹. Der Roman markiert mitunter, wie bereits erwähnt, dass Burton durchaus auch typischen kolonialen Denkmustern anhängt. So äußert er sich auch abfällig über ›Mischlinge‹, in denen sich nur »das Schlimmste von beiden Seiten« vereine (DWS 179). Damit zeigt er sich einem dichotomischen Denken, das auf klare Geschiedenheit zwischen ›Eigenem‹ und ›Anderem‹ achtet, verhaftet. Diese Bemerkung über den ›Bastard‹ bleibt jedoch – ebenso wie Hinweise auf Burtons ambivalente

Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Wallstein: Göttingen, 117-142, hier: 135.

»E INER

VON UNS «?

| 85

Haltung zur Sklaverei im Afrika-Kapitel – ein Einsprengsel, das die Facette der Burton’schen Persönlichkeit nur ein wenig bunter und komplizierter zu machen scheint. Gleichwohl hat eben dieser ›Mischungs‹-Diskurs eine viel weitergehende Funktion: Im Kontext einer Erzählung von gelungenen ethnischen Maskeraden bildet die derart abgewertete ›gemischte Natur‹ des ›Bastards‹ das Gegenstück zur Kunstfertigkeit des Performers, dem es damit allein obliegt, über beide Kulturen zu verfügen. Obwohl der Text dies nicht direkt ausbuchstabiert, zeigt sich hier ein Muster: Für den sogenannten ›Bastard‹ wird die Frage, inwiefern dieser Anteile an zwei kulturellen Welten hat, die ihn im gleichen positiven Sinne auszeichnen könnten wie Burton, gar nicht gestellt. Dasselbe gilt im Übrigen für die Geschlechterbilder: So bleiben für Kundalini als der einzigen bedeutsamen weiblichen Figur des Textes Grenzgänger-Qualitäten insgesamt fraglich: Die Anekdote, dass sie immer wieder in den Tempel zurückgekehrt sei, obwohl der Priester sie so schlecht behandelt habe, deutet viel eher in eine gegenteilige Richtung: Es ist ein Bild für das Verhaftetsein in der eigenen Kultur, das den schon zitierten Aussagen über die europäisch-britischen Frauen ähnelt. Ein Blick auf das Erzählverfahren bestärkt den Eindruck, dass der Erzähldiskurs darauf ausgerichtet ist, die Figur Burton noch heller erstrahlen zu lassen und seinen eigenwilligen Positionierungsversuchen Souveränität zu verleihen. Zwar sind die nicht-europäischen Figuren strukturell so deutlich als ›Gegenstimmen‹ konzipiert, dass Honolds Bemerkung zuzutreffen scheint: »Die Domestiken, die Diener, Lotsen und Träger der Kolonialherren führen das Wort, und aus ihrer Sicht nehmen sich die Weißen ziemlich inkompetent und hilflos aus.«29 Allerdings sieht auch er, dass die kritische Perspektive auf die ›Weißen‹ keineswegs auf den Protagonisten Burton zielt. Denn das Bild des ›Grenzgängers‹ wird im Indien- und ArabienKapitel in erster Linie durch die betonten Unterschiede zu den eurozentristische und imperialistische Denkweisen pflegenden Engländern geformt. Die Kontrastierung von Figurenperspektiven, die ganz unterschiedliche Machtpositionen innehaben, eröffnet dem Erzähldiskurs Möglichkeiten, die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle und der kulturellen Zugehörigkeit

29 Honold, Alexander. 2007. Ankunft in der Weltliteratur. Abenteuerliche Geschichtsreisen mit Ilija Trojanow und Daniel Kehlmann. In: Neue Rundschau 118/1, 82-104, hier: 102.

86 | A NDREA GEIER

Burtons als einen Aushandlungsprozess von Wertungsperspektiven zu inszenieren. Da einheimische Figuren einander auch widersprechen, kommt es innerhalb der Vervielfältigung nicht zu einer dichotomischen Positionierung zwischen Burton einerseits und allen anderen kolonialen bzw. ›orientalischen‹ Subjekten andererseits. Auf diese Weise werden die Selbstbilder Burtons im Wesentlichen bestärkt, und kritische Aspekte sind weitgehend isoliert. Erst dadurch wird es möglich, dass die für die GrenzgängerQualitäten eigentlich unabdingbare Problematisierung der kolonialen Subjektposition Burtons eine Leerstelle im Roman bleibt. Honold bringt das Problem der ›Helden‹-Erzählung mit Blick auf die Figuren Humboldt (im Roman Daniel Kehlmanns) und Burton (bei Trojanow) auf den Punkt: »Aus dem Unternehmen, den Werdegang großer Männer nachzuzeichnen, lastet per definitionem die Hypothek, dieses Vorwissen um spätere Größe niemals loswerden zu können. Als würde das Ende der Geschichte über jedweden Punkt davor sich das letzte Wort anmaßen.«30

Entgegen seinem programmatischen Anspruch ist Der Weltensammler »kein Roman der Vielstimmigkeit«.31 Er entwickelt gerade aus dem Phänomen des Grenzgängertums einen »kolonialen Überlegenheitsgestus«, so Bay, »nur dass die Überlegenheit nicht unmittelbar diejenige der europäischen Zivilisation ist, sondern die Überlegenheit dessen, der es sich als Vertreter der Zivilisation leisten kann, über den eigenen Tellerrand zu blicken, und dabei dennoch der europäischen Vorherrschaft dient.«32 Ausgerechnet der Geschlechterdiskurs aber bildet, wie diese Interpretation gezeigt hat, trotz seiner exotisierenden Beschreibungen einen Kontrapunkt zur heldischen Inszenierung des Protagonisten: Zum einen ist Kundalinis Verstellung nicht als ›weibliche‹, sondern als rollenbedingte Eigenschaft markiert und perspektiviert auf diese Weise auch die rollenspezifischen Bedingtheiten von Burtons Bewegungsspielräumen. Zum anderen ironisieren die vielfachen Verkennungen und Missinterpretationen, die sich in Burtons Verhältnis zu Kundalini zeigen, das Bild des stets souverän agie-

30 Ebd.: 95. 31 Holdenried: 2009, 308. 32 Bay: 2009, 137.

»E INER

VON UNS «?

| 87

renden und in andere Kulturen scheinbar mühelos ›eintauchenden‹ Reisenden und Entdeckers. Die vorliegenden Überlegungen zeigten, auf welche Weise der Roman das »Geheimnis« der Burton’schen Figur umspielt. Dass aus dessen Erfahrungen transkulturelle Perspektiven gewonnen werden sollen, vermittelt auch die eingangs erwähnte spirituelle Suche, die im Roman als Ausweis einer freien Geisteshaltung gewürdigt wird. Die Fähigkeit zur Verwandlung, die man aus einer machtkritischen, postkolonialen Sicht wesentlich stärker problematisieren könnte, wird in Der Weltensammler in einen Diskurs eingespeist, der die Bedeutung von Herkunft insgesamt marginalisiert. Ein Derwisch lädt Burton mit den Worten ein: »Wir sind alle Gäste. Wir sind alle Wanderer. Seien Sie einer von uns.« (DWS 123) Da Der Weltensammler an verschiedenen Stellen nahelegt, dass Burton dem Sufismus zugeneigt gewesen sei, liegt in dieser Akzeptanz eine Aussage über Burtons eigene – vermutete – Weltsicht. Die Figur des ›Wanderers‹ lässt an eine nomadische Existenz denken, die sich von einengenden kulturellen Zuschreibungen befreit, ja sich über diese erhaben zeigt. Diese universalisierende Perspektive wird im Roman spirituell begründet und mag sich positiv von den kolonialen Zuständen und Denkmustern abheben. Sie birgt jedoch ebenso wie die Verhandlung des Maskerade-Motivs eine problematische Tendenz, da sie die konkreten Machtverhältnisse im Kolonialismus, wie sie etwa der Lehrer Upanitsche anspricht, ausblendet. Das ironische Potential zur Bloßstellung der Briten ist im Erzähldiskurs damit deutlich wichtiger als der Einspruch von Figuren, die der Vorstellung eines existentiellen Eintauchens und einer gelingenden Teilhabe an einer anderen Kultur kritisch(er) gegenüberstehen. Die mit Ausnahme des Geschlechterdiskurses überwiegend ›heldische‹ Zeichnung der Grenzgänger-Figur erwächst in Der Weltensammler vor allem aus deren Status als »Sonderling« (DWS 52) und aus der als provokativ profilierten Lust an der Überschreitung kulturell vorgegebener Grenzen. Paradoxerweise geschieht dies jedoch zu Lasten einer kritischen Reflexion sowohl eines homogenisierenden Kulturmodells und eines vagen Kosmopolitismus als auch ausgerechnet derjenigen Figuren, die dem Roman eine Charakterisierung als ›postkolonial‹ eingetragen haben.

Der letzte Mensch – ein Mann/eine Frau Anthropologische und genderspezifische Fragestellungen in den Romanen Die Wand von Marlen Haushofer und Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic E DIT K OVÁCS

Postapokalyptische Szenarien in der Literatur, in denen ein einziger Mensch als Überlebender zurückbleibt,1 stellen sicherlich in erster Linie Fragen nach dem Wesen des Menschen, sind aber deswegen noch keinesfalls als geschlechtsneutrale Spekulationen anzusehen. Da der letzte Mensch nun mal entweder ein Mann oder eine Frau sein muss, bieten diese Figuren ihren Autoren und Lesern nicht nur die Gelegenheit, in dieser radikalen, wiewohl auch radikal fiktionalen, Versuchsanordnung über die letzten Refugien des Menschlichen nachzudenken, sondern handeln, in den

1

In der deutschsprachigen Literatur sind es beispielsweise noch Arno Schmidts Schwarze Spiegel oder Herbert Rosendörfers Großes Solo für Anton. In der Sekundärliteratur wird immer wieder behauptet, dass postapokalyptische Thematiken im Allgemeinen in der österreichischen Literatur vermehrt vorkommen. Vgl. u.a. Thuswaldner, Gregor. 2004. Apokalypse now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur. In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 15. http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/05_16inhalt15.htm (Zugriff am 22.3.2014); Büscher, Nick. 2014. Apokalypse als Utopie: Anthropofugalität in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Königshausen & Neumann: Würzburg.

90 | E DIT K OVÁCS

meisten Fällen eher implizit als explizit, auch vom Weiblichen und Männlichen im Menschen.2 Der jüngste postapokalyptische Roman der österreichischen Literatur, Die Arbeit der Nacht3 von Thomas Glavinic, mutet geradezu an, als wäre er eine literarische Entgegnung aus dem 21. Jahrhundert auf Marlen Haushofers Anfang der 60er Jahre geschriebenen Roman Die Wand4, eine (selbst)kritische Auseinandersetzung mit der Ausgangssituation des ›Frauenromans‹ aus männlicher Perspektive. Und obwohl Glavinic uns in Interviews versichert, Die Wand weder vor noch nach der Niederschrift seines Romans gelesen zu haben,5 ist es vom Leser kaum zu erwarten, dass er Die Arbeit der Nacht nicht auf die Tradition bezieht, in der dieser Roman steht. Meiner Ansicht nach ist es gerade eine der ertragreichsten Fragestellungen in Bezug auf beide Romane, inwiefern und auf welche Weise sie zwischen anthropologischen und genderspezifischen Erkenntnisinteressen changieren und welche markanten Parallelitäten und Unterschiede sie dabei aufweisen. In Marlen Haushofers Roman Die Wand, erschienen im Jahre 1963, wacht eine namenlose Frau allein in einem Jagdhaus im Gebirge auf, nachdem sie am vorangehenden Abend vergebens auf die Rückkehr ihrer Schwester und deren Mannes aus dem im Tal liegenden Dorf gewartet hat. Auf der Suche nach den beiden stößt sie sich an einer unsichtbaren Wand, von der sich rasch herausstellt, dass sie die noch heile Welt im Gebirge hermetisch von einer toten rundherum trennt; jenseits dieser Wand sind alle Lebewesen gestorben. Die Frau, aller Wahrscheinlichkeit nach der letzte Mensch auf Erden, muss von nun an einen tagtäglichen Kampf ums Überleben in der Wildnis führen. Thomas Glavinic, als hätte er die extreme literarische Versuchssituation ebenfalls auf österreichischem Boden, aber etwa vierzig Jahre später, in einer hochtechnisierten, städtischen Welt und aus

2

Die explizite Thematisierung fehlt in den meisten Fällen sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil der letzte Mensch in Jahrhunderten der Literaturgeschichte selbstverständlicher Weise nur ein Mann sein konnte.

3

Glavinic, Thomas. 2006. Die Arbeit der Nacht. Hanser: München.

4

Haushofer, Marlen. 1968. Claassen: Hamburg.

5

Vgl. z.B. »Ich will mit meinem Roman eine Stadt bauen.« Thomas Glavinic im Interview mit Gerald Schmickl. Wiener Zeitung. Online im Internet: http:// www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/111938_Thomas-Glavinic.html (Zugriff am 22.3.2014).

D ER

LETZTE

M ENSCH –

EIN

M ANN / EINE FRAU | 91

männlicher Perspektive wiederholen wollen, lässt seinen Jonas im Roman Die Arbeit der Nacht (2006), einen 36 Jahre alten Einrichtungsberater, eines Morgens alleine in Wien aufwachen. Dieser kommt, als weder Internet noch Fernsehen und Rundfunk funktionieren, niemand außer ihm an der Bushaltestelle wartet und auch ansonsten kein Lebewesen sich zeigt, auch sehr bald darauf, dass er der einzige Überlebende einer unsichtbaren, spurlosen Katastrophe sein muss. Irritierend in beiden Fällen ist die konstitutive Leere in der Mitte der Erzählung, da das Ungeheuerliche aus keinem Zeichen der Umgebung gedeutet werden kann. Auf diese Grund- und Sinnlosigkeit der Apokalypse, auf diesen bodenlosen Mittelpunkt bleibt alles in den beiden Erzählwelten bezogen, das heißt aber gleichzeitig: nicht zu beziehen. Haushofer und Glavinic machen also beide den Versuch, durch Imagination und Sprache in eine Welt einzudringen, in der alle gesicherten Bezüge abhandengekommen sind, schreiben also in dieser reinsten Form aller Fiktionen auch eine radikale Allegorie der Literatur überhaupt. Da es hier nichts zu wissen und nichts zu kommentieren gibt, erscheint der Verzicht auf einen sogenannten allwissenden, auktorialen Erzähler in beiden Romanen nur allzu logisch. Dass aber in Die Wand eine weibliche Erzählerin in der Ich-Form, in Die Arbeit der Nacht jedoch ein personaler, aus der eingeschränkten Perspektive eines Mannes berichtender Erzähler zu Wort kommt, lässt unterschiedliche Folgerungen auf die jeweilige Autorintention zu. In Haushofers Roman schreibt die Heldin ihre Erinnerungen an die zweieinhalb Jahre im Wald nach der Katastrophe aufgrund von vorgängigen, spärlichen Kalendereintragungen. Ihr Bekenntnis am Anfang des Romans: »Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will«6 (7), ist ein glaubhaft klingender Satz aus dem Mund einer bürgerlichen Hausfrau ohne Schreiberfahrung, als welche die Heldin konzipiert ist. Aber gleichermaßen lässt er sich lesen als die karge und gänzlich unromantische Charakterisierung des Verhältnisses, das die bürgerliche Hausfrau und Schriftstellerin Marlen Haushofer zum Schreiben hatte. Da es sicher scheint, dass Haushofer ihrer Heldin ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit und ihrer eigenen Lebensumstände geliehen hat, bekommt die existenzielle Notwendigkeit des Schreibens eine allegorische Qualität. In der vollkommenen Abgeschiedenheit der Ich-Erzählerin kann man eine

6

Haushofer: 1968, 7.

92 | E DIT K OVÁCS

Wunschvorstellung der durch bürgerlich-konservativen Ehealltag und Kinder verhinderten Autorin lesen, die nie ein »Zimmer für sich allein« und nie den Freiraum für ihre Kreativität hatte. Aber auch ohne den Bezug auf autobiographische Unterfütterung kann man feststellen, dass im Roman Die Wand eine Frau schreibend ihr bisheriges Leben reflektiert, den Prozess ihrer Verwandlung protokolliert und sich in einer Welt ohne gesellschaftliche Erwartungen und Rollenzwänge neu erfindet. Ganz anders ist der männliche Held bei Glavinic konzipiert. Die Erzählung changiert zwischen der Innenperspektive von Jonas und einer nüchternen, neutralen Erzählstimme, die in schlichten und kurzen, beinahe klappernden Sätzen alles protokolliert. Jonas’ Strategie zum Überleben baut nicht auf den Drang nach Selbsterkenntnis als Mensch, und auch nicht auf die Selbstreflexionen eines Mannes als Mann, was aber nicht heißt, dass hier nicht genügend Stoff für eine genderspezifische Betrachtung vorhanden wäre. Im Gegenteil. Aber dazu später mehr. Hier hat man es auf jeden Fall mit einem Menschen zu tun, der nicht nur nicht schreibt, um über sich und die Welt Aufschluss zu bekommen, sondern der das Schreiben im Sinne einer Sinn elaborierenden oder einer hermeneutischen Tätigkeit gänzlich hinter sich gelassen hat; mit einem menschlichen Bewusstsein nach dem Verfall der Schriftkultur, das Selbstbeobachtung auf die mediale Selbstverdoppelung des Körpers reduziert. Die Erzählstimme hat vieles gemeinsam mit den Kameras, die Jonas in seinem eigenen Schlafzimmer aufstellt, um zu einem Wissen über sein nächtliches Ich zu gelangen. Während also bei Haushofer über die Ich-Erzählung eine starke Identifikation mit der Frau im Menschen und dem Menschen in der Frau zustande kommt, betrachtet Glavinic den Mann im Menschen und den Menschen im Mann auf eine sehr distanzierte, technisch kühle und stellenweise ironische Art und Weise. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven auf den letzten Menschen, ja aus den Einsichten einer historischen Anthropologie, die sich in der Literatur manifestieren, resultiert meiner Ansicht nach auch die unterschiedliche Schauplatzwahl der beiden Romane. Während Anfang der 60er Jahre noch eine Art Robinsonade geschrieben werden konnte, weil die unberührte Natur als imaginativer Fluchtpunkt von Einsamkeitsphantasien und Selbstfindungsprozessen sozusagen noch funktionstüchtig war, versetzt Glavinic seinen Helden am Anfang des 21. Jahrhunderts nur allzu konsequent in eine Großstadt, an den eigentlichen Schauplatz einer technoiden und hochgradig

D ER

LETZTE

M ENSCH –

EIN

M ANN / EINE FRAU | 93

virtualisierten Konsumgesellschaft, für die kein Berggipfel und keine winzige Insel im Ozean mehr unentdeckt und verborgen bleiben können. Und so ist es auch nur konsequent, dass die Frau in Haushofers Roman eine ausgesprochene Technikfeindlichkeit zeigt und nach und nach bewusst auf die noch verbliebenen Maschinen und Geräte verzichtet, während der Großstädter in Die Arbeit der Nacht diese exzessiv nutzt und von ihnen, natürlich vergeblich, die Erlösung erhofft. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist, welche Rolle dem Auto, diesem fast einzigen gemeinsamen Nenner der technisierten Welt in den beiden Romanen, zukommt. In der Wand gehen die Schwester der Frau und deren Mann zu Fuß auf ihren letzten Weg ins Dorf hinunter, so dass der protzige Mercedes des Schwagers im Wald zurückbleibt. Obwohl der Schlüssel steckt, macht die Frau keinerlei Gebrauch vom Wagen, weil sie in ihm die Manifestation einer verletzten, ausgebeuteten Welt voller Gasrohre, Ölleitungen und Kraftwerke sieht. »Auch ich habe mitten im Wald so ein Ding stehen, Hugos schwarzen Mercedes. Er war fast neu, als wir damit herkamen. Heute ist er ein grünüberwuchertes Nest für Mäuse und Vögel. Besonders im Juni, wenn die Waldrebe blüht, sieht er sehr hübsch aus, wie ein riesiger Hochzeitsstrauß. Auch im Winter ist er schön, wenn er im Raureif glitzert oder eine weiße Haube trägt. Im Frühling und Herbst sehe ich zwischen den braunen Stengeln das verblaßte Gelb der Polsterung, Buchenblätter, Schaumgummistückchen und Roßhaar, von winzigen Zähnen zerbissen und zerzupft.«7

In Die Arbeit der Nacht besteht jedoch eine der ersten Panikreaktionen von Jonas darin, sich einen größeren Wagen, dann auch noch einen sogenannten Spider und einen Lastwagen zu beschaffen. Mit dem Spider wird gegen Schaufenster gerast, zwischen den Regalen von menschenleeren Baumärkten gefahren und im Allgemeinen dient das Auto als der letzte Rückzugsort des Mannes, als der vor Ängsten und vor Verfolgungswahn sicherste aller abschließbaren Innenräume. Für seine letzte große Reise wird der Lastwagen in eine Art fahrendes Wohnzimmer umgestaltet, in dem alle wichtigen Gegenstände und Erinnerungsstücke versargt sind. Die Achtsamkeit und Sparsamkeit, mit der die Frau im Roman Die Wand mit den notwendigen Gerätschaften und den sonstigen sogenannten Segen der Zivilisation umgeht, der bewusste Verzicht auf das Auto und vor

7

Ebd., 222.

94 | E DIT K OVÁCS

allem ihre ausgesprochene Abscheu vor dem Jagdgewehr Hugos, das sie manchmal notgedrungen benutzen muss, lassen die Vermutung zu, dass Haushofer bei der Konzipierung ihrer Heldin auf eine ideologische Vorannahme baut, nach der Technik, Gewalt und die extensive Nutzung der Natur männliche Prinzipien seien. Die Frau als naturverbundenes, technikscheues und alles Lebendige achtendes Wesen kann nur als Gegenpart des Mannes überleben, überleben auch in dem Sinne, dass sie ihre Integrität trotz Verzweiflung und Krisen durch ihr Selbstverständnis als triumphierende Weiblichkeit in Person bewahrt. Auf der anderen Seite, in Glavinics Roman, werden Baumärkte geplündert, Waffen, Brecheisen, Kameras und Videogeräte zu Hauf beschafft, und obwohl bis zum Schluss kein zweiter Mensch im Roman auftaucht, ist sich der Leser dessen doch ganz gewiss, dass dieser eine Begegnung mit dem paranoiden Helden nicht überleben würde. Glavinic scheint also die ideologische Vorannahme Haushofers zu bekräftigen. Denn was aus einer anthropologischen Perspektive wie eine ernüchterte Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Zustands der Menschheit aussieht, ist aus Genderperspektive die Bankrotterklärung einer grundsätzlich männlich geprägten Welt, in der Technikbesessenheit und Zerstörungswut mit Hilflosigkeit Hand in Hand gehen. Bei Haushofer ist es aber nicht nur die Wahl des Schauplatzes, die bei der Konzipierung des letzten Menschen als Frau eine wichtige Rolle spielt. Der vielleicht wesentlichste Unterschied im Schicksal der beiden Romanfiguren besteht darin, dass die Ich-Erzählerin zwar alleine als Mensch, aber nicht als einziges Lebewesen hinter der Wand zurückbleibt. Ihre Tiere, der Jagdhund Luchs, die zugelaufene Kuh Bella und ihr Kalb namens Stier sowie eine Katze ebenfalls mit späterem Nachwuchs, bilden so etwas wie eine Ersatzfamilie. Gegen Ende des Romans heißt es sogar: »Die Schranken zwischen Tier und Mensch fallen sehr leicht. Wir sind von einer einzigen großen Familie, und wenn wir einsam und unglücklich sind, nehmen wir auch die Freundschaft unserer entfernten Vettern gern entgegen. Sie leiden wie ich, wenn ihnen ein Schmerz zugefügt wird, und wie ich brauchen sie Nahrung, Wärme und ein bißchen Zärtlichkeit.«8

8

Ebd., 235.

D ER

LETZTE

M ENSCH –

EIN

M ANN / EINE FRAU | 95

Das Zusammenleben mit den Tieren wird jedoch keinesfalls nur als eine Idylle dargestellt, und dafür gibt es zwei Gründe. Die Frau aus der Kleinstadt muss nach und nach das schwere Metier einer Bauersfrau lernen, muss sich über Rückschläge und Verluste hinwegsetzen und die Folgen körperlicher Schwerstarbeit ertragen, um zu einem Menschen zu werden, wie ihn die Tiere brauchen: eine Herrin, selbstsicher und verlässlich. Das gelingt ihr bis zum Schluss nicht ganz, vor allem weil die Tiere in dieser Symbiose all ihre Launen und depressiven Schübe zu spüren bekommen; weil das Denken und Deuten, die Quellen der Verzweiflung, aber auch das letzte Refugium des Menschen, nicht aufgegeben werden können. Und, wie Rilke in der Ersten Duineser Elegie schreibt, »die findigen Tiere merken es schon, / daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt«. Der grundlegenden anthropologischen Einsicht Nietzsches in die Eitelkeit menschlichen Intellekts folgend schreibt die Ich-Erzählerin der Wand: »Nur wir [Menschen] sind dazu verurteilt, einer Bedeutung nachzujagen, die es nicht geben kann. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals mit dieser Erkenntnis abfinden werde. Es ist schwer, einen uralten eingefleischten Größenwahn abzulegen.«9 Haushofer ist aber nicht die Autorin, die sich mit einer schematischen philosophischen Antwort zufrieden gibt. Ihre Heldin, die Frau im letzten Menschen, hat noch einen Grund, weshalb ihr Verhältnis zur Natur bis zum Schluss etwas verstört bleiben muss, und dieser Grund ist sehr komplex gestaltet. Sie ist Mutter von zwei Töchtern, oder vielmehr, sie war es, denn dass ihre Kinder nun tot sind, dessen ist sie sich gewiss. Die Kälte, mit der sie diese Tatsache behandelt, lässt darauf schließen, dass sie die Mutterschaft seit langem nur noch als ihr aufgebürdete Zumutung erlebt hatte, die ihr die Entscheidung zu einem anderen Leben unmöglich machte, »obendrein«, wie sie schreibt, »in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war«.10 Da sie nun »die fremden Kostgänger«, wie sie ihre halbwüchsigen Töchter nennt, und gleichzeitig alle gesellschaftlichen Zwänge hinsichtlich der Mutterschaft, »die beklemmende Fülle von Sorgen und Pflichten«11 los geworden ist, könnte für sie die Utopie von einer freien und frei gewählten Mutterschaft im Kreise

9

Ebd., 238.

10 Ebd., 83. 11 Ebd.

96 | E DIT K OVÁCS

ihrer Tierfamilie wahr werden. Tatsächlich gebiert sie im Traum wie eine Urmutter viele Kinder, Menschenkinder und Tierkinder, die sie unterschiedslos annimmt und gleichermaßen lieben kann. Aber anstatt eine Befreiung zu erleben, muss sie feststellen, dass sich die innere Struktur der Sorge auch im neuen Leben nicht verändert. Gegenüber Camus, dessen Sisyphos Haushofer verinnerlicht hat,12 und der die Sorge als wichtigstes Movens menschlicher Existenz angesehen hat, deutet die Autorin der Wand die Sorge als einen »Trieb«, der nur Frauen »eingepflanzt« ist.13 »Ich habe an derartigen Ängsten gelitten, solange ich mich zurückerinnere, und ich werde darunter leiden, solange irgendein Geschöpf lebt, das mir anvertraut ist. Manchmal, schon lange ehe es die Wand gab, habe ich gewünscht, tot zu sein, um meine Bürde endlich abwerfen zu können. Über diese schwere Last habe ich immer geschwiegen; ein Mann hätte mich nicht verstanden, und die Frauen, denen ging es doch genauso.«14

Das Leiden am Frausein setzt sich dann auch fernab aller gesellschaftlichen Zwänge fort und paradoxerweise ist es genau jener Trieb, der die Verschmelzung der Ich-Erzählerin mit der Natur verhindert. Wenn also Haushofer ihre Heldin in eine von anderen Lebewesen bevölkerte postapokalyptische Welt versetzt, so geschieht das auch aus dem Grund, weil sie sonst nicht die Möglichkeit hätte, die Frau im letzten Menschen zu erfassen. Bei Glavinic ist so ein eindeutiger Zusammenhang nicht festzustellen. Wenn man zugespitzt formulieren wollte, könnte man sagen, dass er mit dem Helden Jonas nicht deshalb in einer gänzlich leblosen Welt experimentiert, weil er von der Grundannahme ausgeht, dass sich ein Mann in seiner Männlichkeit erst in der vollkommenen Einsamkeit bewähren muss oder dass der Mann in erster Linie in seinem Bezug auf sich selbst zu verstehen wäre. Im Gegenteil wird dieser Jonas als großer Liebender, guter Freund und gutes Kind seiner Eltern dargestellt, ein Mensch, der selbst die großen philosophischen Fragen von Leben und Tod, Zeitlichkeit und Abwesenheit nur in Zusammenhängen menschlicher Liebe stellen kann. Der letzte große

12 Strigl, Daniela. 2000. Marlen Haushofer. Die Biographie, Claassen: München, 267. 13 Haushofer: 1968, 75. 14 Ebd., 71.

D ER

LETZTE

M ENSCH –

EIN

M ANN / EINE FRAU | 97

Kraftakt in seinem Leben ist die Reise nach England, auf der Suche nach seiner geliebten Frau, die am Tag der Katastrophe hier an der schottischen Grenze auf Verwandtschaftsbesuch war. Doch der Grund für seinen Selbstmord am Ende des Romans ist nicht nur der unerträgliche Verlust der Anderen. Die Arbeit der Nacht führt die persönliche Katastrophe des letzten Menschen auf die nicht explizit reflektierte Unfähigkeit zurück, seine Bedeutungslosigkeit in der Weltkatastrophe denken zu können. Da Jonas sich von der Vorstellung, dass er selbst gemeint sei, nicht lösen kann, sucht er überall, in jedem Gegenstand, in jeder Konstellation der Dinge und überhaupt in allem Sichtbaren, das von der Welt übrig geblieben ist, nach Zeichen für eine ihm zugedachte Botschaft. »Vielleicht hatte er eine Prüfung zu bestehen. Einen Test, in dem es eine korrekte Antwort gab. Eine richtige Reaktion, die ihn aus seiner Lage erlöste. Ein Paßwort, ein Sesamöffnedich, eine Mail an Gott.«15 So gibt er in die Adresszeile des Browsers neben »www.welt.com« und »www.gott.com« auch »www.jonas.at« ein.16 Er hat dauernd die Befürchtung, dass ein Hinweis gerade dann auftauchen könnte, wenn er nicht wach ist oder dort, wo er nicht ist. Mit der Aufstellung der Kamera an seinem Bett und dem stundenlangen Sich-Selbst-Zuschauen beim Schlaf beginnt der Prozess der Spaltung seiner Persönlichkeit. Er führt dazu, dass sich der »Schläfer«, wie er sein nächtliches Ich tauft, zu einer eigenständigen Größe auswächst, die auch physisch, und das immer drastischer, in die Tageswirklichkeit überzugreifen beginnt. Wie auch Glavinic in einem Interview sagt, ist es auch eine Geschichte von Dr. Jekyll an Mr. Hyde,17 mit dem Unterschied, könnte man hinzufügen, dass dieser Mr. Hyde nicht andere Menschen, sondern Dr. Jekyll selbst bedroht. Das zottelige Wolfsvieh, das Jonas da und dort, manchmal im Rückspiegel zu erblicken glaubt, und dessen Reinkarnation der Schläfer zu sein scheint, ist die nächtliche Seite des harmlosen, liebenswürdigen Alltagsmenschen, die gerade deshalb zu Tage gefördert wird, weil der Mann unfähig ist, seine Be-

15 Glavinic: 2006, 64. 16 Ebd., 65. 17 Interview von Klaus Nüchtern auf der Autorenhomepage von Thomas Glavinic. Online im Internet: http://www.thomas-glavinic.de/der-autor-thomas-glavinic/ interview/ (Zugriff am 22.3.2014).

98 | E DIT K OVÁCS

deutungslosigkeit und Sinnentleertheit in einer postapokalyptischen Welt zu akzeptieren. Aus Genderperspektive ergibt das nur Einsichten, wenn man Die Arbeit der Nacht vor der Folie von Haushofers Frauenroman betrachtet. Hier nämlich spielt sich ein entgegengesetzter Prozess ab. Der Verlust des fremden Blicks, der im Roman von Glavinic durch die künstliche Selbstverdoppelung ersetzt wird, führt in der Wand zu einem als Befreiung erlebten IchVerlust. Im Bewusstsein ihrer vollkommenen Bedeutungslosigkeit und der grundlegenden Kontingenz ihres Daseins und Schicksals beginnt die Frau, zunächst ihre Weiblichkeit und dann zunehmend auch ihre menschliche Identität abzulegen, im vollen Bewusstsein dieses Prozesses, aber ohne sich dagegen zu wehren. »Die Fraulichkeit der Vierzigerjahre war von mir abgefallen, mit den Locken, dem kleinen Doppelkinn und den gerundeten Hüften. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu sein. […] Ich bin […] mager, aber muskulös, und mein Gesicht ist von winzigen Fältchen durchzogen. Ich bin nicht häßlich, aber auch nicht reizvoll, einem Baum ähnlicher als einem Menschen […].«18

»[A]ls fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken«,19 heißt es an einer späteren Stelle, und weiter: »Es fällt mir schwer, beim Schreiben mein früheres und mein neues Ich auseinanderzuhalten, mein neues Ich, von dem ich nicht sicher bin, daß es nicht langsam von einem größeren Wir aufgesogen wird«.20 Gegen Ende des Romans hat sie »das große Sonne-, Mond- und SterneSpiel« betrachtend so etwas wie ein Erweckungserlebnis, bei dem sie sich so weit von sich selbst entfernt »wie es einem Menschen möglich ist«, und fähig dazu wird, »den großen Glanz des Lebens«21 zu sehen. Während also die Frau in Haushofers Roman den langsamen Ich-Verlust nicht aufhalten kann und will und in der Möglichkeit, dass die Einmaligkeit des Bewusstseins einem Wir weichen könnte, einen Ausweg sieht, bleibt der Mann in seinem Selbstbezug ohne Fluchtmöglichkeit gefangen. »Sein Ich«, heißt es

18 Haushofer: 1968, 82. 19 Ebd., 182. 20 Ebd., 195. 21 Ebd., 210f.

D ER

LETZTE

M ENSCH –

EIN

M ANN / EINE FRAU | 99

im Roman, »war ein blindes Etwas in einem Käfig«.22 Um zumindest gesehen zu werden, verdoppelt er dieses Ich und geht daran zugrunde. In beiden Romanen geschieht etwas noch zum Schluss, was einer kleinen, persönlichen Apokalypse gleichkommt: In der Wand taucht doch noch ein zweiter Überlebender auf, ein Mann natürlich, und wie gemäß der Logik des Romans zu erwarten ist, bringt er den Tod. Er erschlägt das Kalb und den Hund mit einem Beil und wird dabei von der Frau erschossen. In der Arbeit der Nacht passiert zwar nichts Unerwartetes, aber doch etwas, was das Schicksal von Jonas besiegelt: Es gelingt ihm doch noch, das Haus der Verwandten seiner Marie in England zu erreichen, wo er zwar persönliche Gegenstände der Frau, nicht aber sie selbst vorfindet. Die Gewissheit über ihren Tod führt zu der Einsicht, dass der Kampf gegen sein nächtliches Ich nicht mehr gewonnen werden kann. Die Begegnung mit dem Mann, die Nicht-Begegnung mit der Frau – beides hat fatale Folgen. Wer beide Romane kennt, wird schnell gemerkt haben, dass der Vergleich zumindest einem Part Unrecht antut, und das ist der Roman von Glavinic. Da zwei literarische Werke in der Regel weder eine schöne Symmetrie zeigen, noch aufgrund von Oppositionen hinreichend beschrieben werden können, muss ein Vergleich schmerzliche Reduktionen vornehmen. Die Arbeit der Nacht handelt von vielem, was hier nicht angesprochen werden konnte: unter anderem von der Natur der Angst, vom Umgang mit Erinnerungen, von der Konstruktion und Wahrnehmung von Zeit, von der Bedeutung des Jetzt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Glavinic in erster Linie nicht am Mann im Menschen interessiert ist, sondern am Menschen im Mann, wobei Letzteres doch impliziert, dass sein Roman gleichzeitig Einsichten in Männlichkeitsbilder und Männerphantasien am Anfang des 21. Jahrhunderts erlaubt. Und er tut es besonders vor der Folie von Haushofers Roman, auf den ihn nicht zu beziehen wiederum unmöglich ist. Von der Wand ließe sich wiederum schön symmetrisch und oppositionell sagen, sie frage vor allem nach der Frau im letzten Menschen und nicht nach dem Menschen in der Frau, was gewissermaßen auch stimmt. Denn die historische und persönliche Konstellation Anfang der 60er Jahre und im Leben einer schreibenden Frau führt notgedrungen dazu, die weibliche Existenz als ein sehr spezifisches Leiden an der Welt herauszukehren.

22 Glavinic: 2006, 307.

100 | E DIT K OVÁCS

Jedoch gibt dieser Roman so viel über die menschliche Natur zu denken auf, dass er keinesfalls nur als sogenannte Frauenliteratur zu lesen wäre.

II. Genderperformanzen und Körperlichkeit

Bild und Frau E LFRIEDE J ELINEK

Frau und Körper gehören untrennbar zusammen. Geht der Körper, geht auch die Frau. Die Frau gehört in vielen Ländern zum Alltag des Straßenbilds. Das Bild der Frau läßt sich in vielen Ländern im Alltag nachvollziehen. Der Alltag der Frau vollzieht sich im großen und ganzen vor den Bildern der Frau. Nach der Frau folgt nur mehr Alltag. Groß die einen Frauen, die anderen klein. Mehr. Vor dem Bild der Frau verblaßt sogar das All. Die Frauen haben Tage. Die Frau ist das Kleine neben ihrem Bild. Das Vermögen der Frau ist von ihrer Größe abhängig. Die Größe des Bildes besteht in dessen Abhängigkeit von der Natur. Die Frau ist Natur. Die natürliche Frau stellt vermöge ihres inneren Halts vor die Frau, welche nur als Bild auftritt. Keine Frau stellt etwas dar. Das Bild der Frau bringt Gehalt ein. Ihr Auftritt Frau. Die Natur ist das Bild. Das Bild von der Frau besteht lange. Das Innere der Natur verkörpert in der Frau. Der Körper der Frau geht ins Innere. Der Körper und die Frau gehen zusammen in die Natur. Keine Frau mehr. Die Natur drängt es zu Bildern. Ein Bild ist nicht jede Frau. Alltäglich ist die Natur nie. Geh halt Frau. Die Natur kennt den Abgang. Die Frau vermag. Insgesamt besteht Natur in Frau fort. Fort mit dem Bild. Ein wahrer Abhang ist der Körper der Frau. Abhängige Naturen gehen von der Frau fort. Mitgehen Frau. Von Natur wird der Körper der Frau zusammengehalten. Innen ist es kleiner. Von der Straße macht sich ein anderes Bild. Das All ist Straßenbild geworden. Die Frau vermag Körperliches. Vermögen bildet Abhängigkeiten. Die Frau stellt ihren Körper. Bitte Gehalt darbringen. Zusammennatur. Nicht jeder Alltag muß fort. Große Natur. Das Bild muß ins Innere. Körpergröße. Die Frau muß ab. Trennen sie den Körper

104 | E LFRIEDE J ELINEK

vom Land. Der Vollzug tagt. Alle Tage Frauen. Ganz groß. Natürlich ein Bild vom Gehalt. Fort die Frau. Ab Trennung natürlich körpern. Das Bild ist blaß. Frauen erhalten Tritte. Zusammenhalt im All. Natur von innen. Abhängig von Bildern. Kein Gehalt in Natur. Körper an Land. Kleine Frau. Naturvollzug. Alltägliche Länder. Der Tag macht das Bild. Es geht bei der Frau trennend nach innen. Ein Bild der Frau. Her Natur. Fort Frau.

Frau – Körper – Stimme Genderperformanzen bei Elfriede Jelinek – Vergleichende Lektüren von Bild und Frau (1984) und SCHATTEN (Eurydike sagt) (2012) I NGE S TEPHAN

Wie kaum eine andere Autorin der Gegenwart hat Elfriede Jelinek das Verhältnis von Identität, Körper und Geschlecht in ihren Texten immer wieder durchgespielt. Wie stark sie dabei von theoretischen Diskursen der Postmoderne beeinflusst war bzw. diese hellsichtig vorweggenommen hat, wird erst aus der Rückschau auf ein Werk deutlich, in welchem die Autorin mit anhaltender Schärfe und zunehmendem Sarkasmus gängige Auffassungen einer natürlichen Verfasstheit des Körpers und Vorstellungen einer essentialistischen Weiblichkeit in Frage gestellt hat.1 Die These von Judith Butler, dass der Körper »eine Konstruktion« sei und man den Körpern »keine Existenz zusprechen« könne, »die der Markierung ihres Geschlechts vorherginge«2, prägt das Werk von Elfriede Jelinek bis heute. Dabei reagiert die Autorin in den letzten Jahren verstärkt auf die rasanten Entwicklungen in den Gen- und Transplantationstechniken sowie auf die medialen Umbrüche durch Internet und Cyberspace, die alte 1

Aus der Fülle der Sekundärliteratur sei hier stellvertretend verwiesen auf: Lützeler, Paul Michael/Schindler, Stephan K. (Hg.). 2006. Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 5 (Schwerpunkt: Elfriede Jelinek).

2

Butler, Judith. 1991. Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 26.

106 | I NGE STEPHAN

Körperkonzepte mehr als alle philosophischen Diskurse der Vergangenheit und Gegenwart in ihrer selbstverständlichen Geltung erschüttert haben. Im Gegensatz etwa zu Vilém Flusser, der fasziniert ist von den neuen Möglichkeiten, den »Körper so zu gestalten, daß man sich seiner bedienen kann, statt ihm und durch ihn den Objekten unterworfen zu sein«3, steht Jelinek solchen Vorstellungen von »alternativen Körpern« skeptisch gegenüber und macht auf den Preis aufmerksam, den vor allem Frauen in einer Gesellschaft zahlen müssen, in der »Körperentwürfe« in Machtstrukturen eingebunden sind und seit Jahrtausenden von den Interessen der Herrschenden bestimmt werden. In ihrer kritischen Position zeigt sich Jelinek nach wie vor beeinflusst durch Überlegungen von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944), die in neueren Arbeiten reformuliert werden. So erlebt die Vorstellung vom Körper als Medium kultureller Erinnerung in dem Band Körper – Gedächtnis – Schrift (1997) eine interessante Wiederkehr. Durch die Verbindung der Butler’schen Konstruktionsthese mit neueren Ansätzen der Gedächtnisforschung wird die Materialität des Körpers und die Bedeutung von geschlechtlichen Markierungen des Körpers unversehens wieder ins Spiel gebracht, wenn die Autorinnen auf die Einschreibungsmechanismen aufmerksam machen, die sich vor allem an ›weiblichen Körpern‹ beobachten lassen. »In den unterschiedlichen Medien der (abendländischen) Kunst ist es vor allem der weibliche Körper, der einerseits als ›natürlich‹ imaginiert wird, andererseits jedoch die privilegierte Matrix für kulturelle Einschreibungen darstellt, über die er naturalisiert wird; darüber hinaus ist er der ›Schauplatz‹, an dem Erinnerungssymbole des kulturell Verdrängten in Erscheinung treten. Dies läßt auf unterschiedliche Strategien und Verfahren der kulturellen Archivierung und Tradierung geschlechtsspezifischer Körperbilder und Repräsentationsformen der Geschlechterverhältnisse schließen […].«4

3

Flusser, Vilém. 1994. Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Bollmann:

4

Öhlschläger, Claudia/Wiens, Birgit (Hg.). 1997. Körper – Gedächtnis – Schrift.

Bensheim/Düsseldorf, 102. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Erich Schmidt: Berlin, 17.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 107

Auch in den Bänden The Body of Gender (1995) und Body Options (1999) von Marie-Luise Angerer, in denen die neuen Medienentwicklungen und -theorien kritisch hinterfragt werden, ist der Körper ein Schauplatz der Einschreibung, die sich unter den Bedingungen der digitalen Revolution allerdings dramatisch verändert hat. Die Situierung des Körpers zwischen Realität und Virtualität kann nicht ohne Rückwirkung auf die Wahrnehmung des Körpers und die Produktion von Körperbildern sein. Die Inszenierung der Körper und Geschlechter ist – so die These der Autorin – auch im digitalen Netz nicht frei, sie bleibt geprägt von den alten Mythen über die Geschlechter. Genau diese Verbindung von Mythen und Medien ist das zentrale Thema von Elfriede Jelineks Auseinandersetzung mit ›Weiblichkeit‹ und ›Körperlichkeit‹, das sich wie ein Leitmotiv durch das Gesamtwerk zieht und die ich an einem frühen und an einem aktuellen Text exemplarisch nachvollziehen möchte.

B ILD

UND

F RAU

In dem Band Der sexuelle Körper – ausgeträumt? (1984) war Jelinek mit dem Beitrag Bild und Frau vertreten, in dem in atemberaubend dichter Weise die damaligen theoretischen Diskurse aufgegriffen und zugleich kritisch demontiert werden. Er enthält in nuce Positionen, die Jelinek in ihren weiteren Werken immer wieder variieren und ausdifferenzieren wird. Überdies vermittelt er einen guten Eindruck vom »Textherstellungsverfahren« Jelineks, das eine enorme Herausforderung für Rezipienten und Interpreten bedeutet.5 Bereits der Titel enthält eine These: Das Bild steht an erster Stelle, danach erst kommt die Frau. Damit wird das Verhältnis zwischen »Frau« und »Bild« von Anfang an anders gefasst als in den frauenbewegten und feministischen Diskursen der achtziger Jahre, wo die Frau im Mittelpunkt stand und die ›Frauenbildforschung‹ hinter den Bildern nach der ›verborgenen

5

In meiner Interpretation folge ich weitgehend meinem Aufsatz: Stephan, Inge. 1999. »Frau und Körper gehören untrennbar zusammen.« Zur Bedeutung des Körpers in aktuellen Gender-Debatten und bei Elfriede Jelinek. In: Figurationen 0, 36-49.

108 | I NGE STEPHAN

Frau‹ suchte. Auch wenn man sich hüten sollte, einen kurzen Titel interpretatorisch zu überfrachten, so wird doch aus der Rückschau von nunmehr dreißig Jahren deutlich, dass Jelinek bereits mit der Überschrift ein wichtiges Signal gegen essentialistische Weiblichkeitsauffassungen setzt und in gewisser Weise Auffassungen vorwegnimmt, wie sie erst in den neunziger Jahren durch die Debatte um Gender Trouble (1990) von Butler eine breite Anerkennung in den feministischen Diskursen finden sollten. Der Text besteht aus 71 extrem kurzen definitorischen Sätzen und einigen Ausrufen und Befehlen. Manche Sätze bestehen nur aus einem Wort, der längste Satz enthält 16 Wörter. Kurze Sätze mit 3–6 Wörtern überwiegen und geben dem Text etwas Stakkatohaftes und Reduktionistisches. Häufig fehlen die Verben, manchmal die Subjekte, manchmal die Objekte. Aber auch da, wo die Sätze grammatisch vollständig sind, wirken sie in der Verknappung kryptisch und vieldeutig. Bis auf 3 Kommata gibt es sonst nur den Punkt, dem damit als Trennungszeichen eine besondere Bedeutung im Text zukommt. Die Verbindung zwischen den Sätzen ist weitgehend assoziativ. Ein Sprecher ist ebenso wenig auszumachen wie eine stringente Argumentation. Unklar ist auch das Genre: Handelt es sich um die Schrumpfform eines Essays, um ein anagrammatisches Gedicht oder um ein Stück Prosa, in dem – wie reduziert auch immer – narrative Strukturen noch zu erkennen sind? Man fühlt sich in ein Sprachlabor bzw. in eine Simulationswerkstatt versetzt, wo die Sätze gerade gebildet werden. Die einzelnen Begriffe und Wörter werden als Sprachsplitter wie in einem Kaleidoskop durcheinandergeschüttelt und in eine verwirrende Ordnung gebracht, die offensichtlich nicht der herkömmlichen Logik folgt und auch eine traditionelle literarische Form nicht mehr bedient. Dennoch lassen sich Themen erkennen, Thesen ausmachen und es lässt sich sogar eine argumentative Entwicklung beobachten. Mit dem ersten Satz »Frau und Körper gehören untrennbar zusammen« spielt Jelinek auf eine theoretische Position an, die in der abendländischen Philosophie wie in der christlichen Religion gleichermaßen eine privilegierte Rolle spielt. Horkheimer und Adorno haben in ihren Aufzeichnungen und Entwürfen zur Dialektik der Aufklärung den Zusammenhang von »Körper«, »Frau«, »Natur« und »Bild« folgendermaßen skizziert: »Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden, ein lebendiges Denkmal längst entschwundener Zeiten der geschlossenen Hauswirt-

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 109

schaft. Ihr war die vom Mann erzwungene Arbeitsteilung wenig günstig. Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen […] war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt. […] Die Frau war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste, Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin, die von Natur gewagte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal.«6

In gewisser Weise führt Jelinek die philosophische Argumentation ad absurdum, wenn sie die Begriffe »Frau«, »Körper«, »Bild« und »Natur« als reine Versatzstücke nimmt, sie zunächst aneinanderkoppelt, dann auseinanderreißt und schließlich wieder neu zusammensetzt. Interessant für dieses Verfahren ist das Wort »Naturvollzug«, das ein Neologismus ist. Es erinnert an die Unterdrückung der Frau im Alltag und an die Gewalt, die von den Bildern ausgeht und sich am Körper der Frau vollzieht. (»Das Bild der Frau läßt sich in vielen Ländern im Alltag nachvollziehen.« »Der Alltag der Frau vollzieht sich im großen und ganzen vor den Bildern der Frau.«) Zugleich evoziert »Naturvollzug« Assoziationen an ›Strafvollzug‹ und an den ›Ehevollzug‹ und spielt damit auf die ›Gewalt‹ an, die der eigentliche ›Gehalt‹ der Geschlechterverhältnisse ist. Ein ähnliches Komprimierungsverfahren liegt auch dem Wort »Zusammennatur« zugrunde, das ebenfalls eine neue Wortschöpfung ist. Die gewaltsam hergestellte und aufrechterhaltene Geschlechterordnung erscheint hier ironisch als nicht hintergehbare ›Natur‹. Jelinek komprimiert aber nicht nur, sie demontiert die Wörter auch in Einzelteile und kombiniert sie neu. Der »Alltag der Frau« wird in das »All«, vor dem das Bild der Frau verblasst, und in die »Tage«, die die Frauen haben, zerlegt und schließlich neu arrangiert. (»Alltäglich ist die Natur nie.« und »Alle Tage Frauen.«) Dazu kommt das Spiel mit der Mehrdeutigkeit der Wörter und ihren lautlichen Konnotationen. Die »Abhängigkeit« von der Natur verwandelt sich in den »Abhang« (»Ein wahrer Abhang

6

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. 1947. Dialektik der Aufklärung. Querido: Amsterdam, 298.

110 | I NGE STEPHAN

ist der Körper der Frau.« »Nicht jeder Abhang muß fort.«) und verschiebt sich über die »abhängigen Naturen« (»Abhängige Naturen gehen von der Frau fort.«) zur ›Abhängigkeit‹ von dem Bild (»Abhängig von dem Bild«). Auf diese Weise entstehen im Text assoziative Ketten, die mit der Bedeutung der Wörter spielen (z.B. Halt/Gehalt/zusammenhalten oder Auftritt/Tritte), die definitorische Sicherheit der Sätze auflösen und den Text ins Gleiten und Rutschen bringen. In Bewegung gebracht wird der Text aber nicht nur durch ›Verdichtung‹ und ›Verschiebung‹, Techniken, die uns aus der ›Traumarbeit‹ bekannt sind. Jelinek greift auch auf ganz konventionelle rhetorische Praktiken zurück. Durch die Gegenüberstellung von ›innen‹ und ›außen‹, ›groß‹ und ›klein‹ werden gezielt Spannungsbögen aufgebaut und dichotomische Strukturen erzeugt. Während die Bilder von der Frau ›groß‹ sind, ist die Frau selbst ›klein‹ (»Die Frau ist das Kleine neben ihrem Bild.«). Die Größe des Bildes kann aber über die Bedeutungslosigkeit der Frau nicht hinwegtäuschen, noch für die alltägliche Unterdrückung eine Kompensation anbieten. Die ›Größe‹ des Bildes lässt die Marginalität der Frau vielmehr in grotesker Weise noch mehr hervortreten (»Kleine Frau.«). Gegen die Übermacht der Bilder gibt es keinen Schutz (»Keine Frau stellt etwas dar.«). Auch der Körper ist gegen die Bilder hilflos (»Die Frau stellt ihren Körper.«). Die Bilder dringen in den Körper der Frau ein (»Das Bild muß ins Innere.«) und zerstören ihn. »Frau« und »Körper«, die im Eingangssatz definitorisch zur Einheit erklärt worden waren, werden unter dem Diktat der Bilder zu einem grotesken Paar: »Der Körper und die Frau gehen zusammen in die Natur«, wobei die Natur ihrerseits zum Bild wird (»Die Natur ist das Bild.«). Es entsteht eine Fülle von unterschiedlichen Konstellationen, in denen die Begriffe beliebig austauschbar zu sein scheinen. Der Eindruck der Beliebigkeit täuscht jedoch. Alle Sätze, so absurd sie auch anmuten mögen, enthalten einen ›Sinn‹, der manchmal »seicht«, manchmal »abgründig« erscheint, aber keineswegs »egal« ist.7 Er verweist immer auf das Gleiche: auf die brüchig gewordene Identität des Subjekts, das weder in den Bildern eine Identifikationsmöglichkeit noch in der Natur einen Zufluchtsort finden kann. Nicht einmal der Körper, als letzte ›absolute Örtlichkeit‹, bleibt in-

7

Jelinek, Elfriede. 1997. Sinn egal. Körper zwecklos. In: Theaterschrift 11, 2233, hier: 26.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 111

takt. Er erhält Tritte und wird gespalten. Außerdem hat er keinen festen Ort: Mal ist er an Land (»Körper an Land.«), mal ist er vom Land getrennt (»Trennen sie den Körper vom Land.«). Sicherheit gibt es nirgendwo: weder in der Natur noch auf den Straßen, weder im All noch Alltag. Die verschiedenen Ableitungen von Körper im Text: »verkörpern«, »körperliches«, vor allem aber der Neologismus »körpern« weisen deutlich darauf hin, dass der Körper keine feste Größe (»Körpergröße«) ist, sondern zwischen essentialistischen und konstruktivistischen Auffassungen changiert. Mal ist er ›absolute Örtlichkeit‹, mal theatralisches Medium der Selbstdarstellung, immer aber Schauplatz der Gewalt zwischen den Geschlechtern. Diese Gewalt bleibt im Text bis auf die »Tritte« weitgehend ausgespart. Sie ist aber in dem ›Stellvertreter‹-Begriff »Gehalt« ebenso präsent wie in den Partikeln »Fort«, »Ab«, »Her« und in dem widersprüchlichen Wechselspiel zwischen Vereinigung (»Gehören untrennbar zusammen«) und Trennung (»Ab Trennung natürlich körpern.«). Die Gewalt ist, wie das Ende des Textes zeigt, der geheime Motor, der die wechselvollen Beziehungen zwischen »Frau«, »Natur«, »Bild« und »Körper« antreibt. Die paradoxe Schlussaufforderung am Ende »Her Natur. Fort Frau.«, die den Eingangssatz »Frau und Körper gehören untrennbar zusammen.« Lügen zu strafen scheint, ist ein Effekt der untergründigen Gewalt, die dem Text als Dynamik unterlegt ist. Wenn man bedenkt, dass »fort« nicht nur ein Adverb ist, sondern als »Fort« auch die Bezeichnung für eine militärische Festung sein kann, und »Her« lautliche Assoziationen an das »Heer« zulässt, gewinnt das Verhältnis zwischen Körper und Frau eine zusätzliche beängstigende Dimension: Die Frau ist in ihrem Körper ebenso gefangen wie in den Bildern und in den Vorstellungen, in denen Frau und Natur identisch gedacht werden. Die Frau hat die Bilder und Vorstellungen so weit ›verinnerlicht‹, dass ein Ausbruch undenkbar erscheint. Jelinek entwirft also ein absurdes Szenario von Unterdrückung und Unfreiheit, das in auffälligem Widerspruch zum politischen Befreiungsdiskurs der siebziger und achtziger Jahre steht, aber auch als kritischer Kommentar zu den gleichzeitigen Bemühungen der feministischen Literaturwissenschaft gelesen werden kann, die das Verhältnis von Frau und Bild im Vergleich zu Jelineks erbarmungslosem Prosastück geradezu naiv diskutierte. Als literarischer Text über die ausweglose Position der Frau zwischen erniedrigendem Alltag und erhöhenden Bildern hat Jelineks Prosastück den

112 | I NGE STEPHAN

theoretischen Diskursen einiges voraus. Die Demontage des Essays als diskursiver Form und die Absage an die klassische Erzähltradition lässt keinerlei Versöhnung und Verklärung mehr zu. Die Brutalität der Verhältnisse drückt sich in der brutalen Behandlung der Sprache aus: Das, was der Frau angetan wird, hat seine Entsprechung in der gewaltsamen Zerschlagung und Zurichtung der Sprache. Diese wird ihrer kommunikativen Funktion vollständig beraubt und auf eine Schrumpfform reduziert, in der die Wörter wie gespenstische Relikte wirken, zugleich aber eine beunruhigende Dynamik entwickeln. In gewisser Weise kann der Text Bild und Frau für das Gesamtwerk Jelineks stehen, in dem die theoretischen und literarischen Diskurse der Moderne und Postmoderne mit wachsender Radikalität, aber auch mit wachsender Erbitterung durchbuchstabiert werden. Gleich ob es sich um die Satire Begierde & Fahrerlaubnis (1987), den Roman Die Kinder der Toten (1995) oder das Theaterstück Über Tiere (2007) handelt – immer wird aus den »malträtierten Worthülsen« der »biologische Bodensatz«8 erbarmungslos hervorgetrieben und immer sind die Figuren bloßes Spielmaterial in einem hochgradig verminten, von Satztrümmern übersäten Schlachtfeld, auf dem sich Untote, Vampire und Doppelgänger als groteske Zitate ihrer selbst wie in einem Geisterreigen begegnen. Dabei bildet der weibliche Körper als geschundener, zerstückelter und zugerichteter, aber auch als begehrender, sexualisierter, nicht zu beseitigender Rest, als Fleisch, das geheime Zentrum des Schreibverfahrens.

SCHATTEN (E URYDIKE

SAGT )

Eine spannende Weiterführung dieser Themen bietet das Theaterstück SCHATTEN (Eurydike sagt), das 2012 in der Zeitschrift Theater heute abgedruckt wurde.9 Im Gegensatz zu dem kurzen Prosastück Bild und Frau, wo die Unbestimmtheit der Sprecherposition auf die Marginalisierung der Frau verweist, handelt es sich bei dem Theaterstück um einen umfangrei-

8

So Sigrid Löffler in ihrer Rezension über Die Kinder der Toten in: Süddeutsche

9

Beilage von Theater heute 53 (2012), Nr. 10. Im Folgenden werden die Zitate

Zeitung vom 11.08.1995. nach dieser Veröffentlichung im Text direkt nachgewiesen.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 113

chen Monolog, der einer bekannten mythischen Figur zugeordnet ist: Eurydike, die stumme Tote, deren Verlust Orpheus in bewegenden Liedern besingt, ergreift hier selbst das Wort und tritt als Autorin in Konkurrenz zu dem göttlichen Sänger. Vergegenwärtigen wir uns kurz die mythische Erzählung, die zu den Kernbeständen abendländischer Kultur gehört und bis in die Gegenwart immer neu variiert worden ist. Üblicherweise stehen dabei Orpheus und sein Gesang im Mittelpunkt. Eurydike führt nur ein Schattendasein in den meisten Bearbeitungen. In dem Sammelband Mythos Orpheus (1997) heißt es: »Orpheus, der in der Trauer über den Tod Eurydikes die Kraft findet, die Götter der Unterwelt herauszufordern, der den Tod überwindet, scheitert. Wie ist sein Gang in die Unterwelt erzählt worden? Wie ist sein Blick zurück, der verbotene, der tötende Blick, verstanden worden? Was bedeutet der Tod des Orpheus? Er war der erste Sänger, der Erfinder der Musik. In seinem Gesang waren die Gesetze der Natur aufgefangen, war ihre Harmonie freigesetzt. Der Sänger war ein Künder des Dionysos, er wurde zum Stifter eines Kults, einer Religion. Ein Weiser, der alles Seiende durchdringt, mit seiner Kunst durchwirkt. Der erste, der sich in ihm erkannt hat, ist Vergil. Ovid berichtet von ihm in den ›Metamorphosen‹. Den Kirchenvätern bleibt Orpheus ein Bild für Christus, ein Überwinder des Todes, Künder und Geopferter. Calderón erkennt in seiner Gestalt die Einheit von Gottvater und Sohn. – Bis ins 20. Jahrhundert ist der Mythos von Orpheus Spiegel des Künstlers. Die Schriftstellerinnen schließlich haben begonnen, von Eurydike zu erzählen.«10

Zu diesen Schriftstellerinnen gehört auch Elfriede Jelinek, die für ihre schonungslose Dekonstruktion der Mythen bekannt ist11 und auch vor feministischen Ikonen wie z.B. Medea nicht Halt gemacht hat.12 Daher erstaunt es nicht, dass der Text Eurydike nicht emphatisch auferstehen lässt,

10 Storch, Wolfgang (Hg.). 1997. Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Reclam: Leipzig, Klappentext. 11 Vgl. Szczepaniak, Monika. 1998. Dekonstruktion des Mythos in ausgewählten Prosawerken von Elfriede Jelinek. Peter Lang: Frankfurt a.M. u. a. 12 Vgl. Stephan, Inge. 2006. Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Böhlau: Köln u. a., 179-181.

114 | I NGE STEPHAN

sondern ihr ironisch als Toter eine Stimme verleiht. Orpheus ist kein durchgeistigter Künstler, sondern ein umschwärmter, schriller Popstar, der Eurydike als Schatten braucht, um sich als Sänger vor seinem Publikum aus hysterisch kreischenden, sexhungrigen jungen Mädchen auf der Bühne produzieren zu können. Mit einer solchen Lesart schließt die Autorin an eine Interpretation an, wie sie Klaus Theweleit in seinem Buch der Könige (1988) vorgelegt hat. Entgegen landläufigen Deutungen, die Orpheus und Eurydike zum vollkommenen Paar verklären, deutet Theweleit Eurydike als ›Opfer‹ der Kunst. Sie muss im Totenreich bleiben, damit der Geliebte besser singen kann. Konsequenterweise hat Theweleit das »und« zwischen Orpheus und Eurydike mit einem blutigen roten Balken durchgestrichen. Im Rückgriff auf den Orpheus-Mythos spielt Theweleit seine These vom ›Frauenopfer‹ in verschiedenen Paarkonstellationen durch, wobei Autoren wie Benn, Brecht, Kafka oder Rilke zu ›Tätern‹ in einem Beziehungsdrama erklärt werden, in welchem die Frauen als ›Musen‹ und Mitarbeiterinnen ausgebeutet, in ihrer eigenen Autorschaft behindert oder gar vernichtet werden.13 Bei Jelinek geht es nur vermittelt um ›Opfer‹ und ›Täter‹, sie diskutiert das Herrschaftsgefälle zwischen den Geschlechtern als Verhältnis zwischen ›Körper‹ und ›Schatten‹ und gibt damit der alten Konstellation zwischen »Bild« und »Frau« eine neue Wendung. Es geht um die Frage von Autorschaft, die zwischen Orpheus, dem Sänger, und Eurydike, seinem Schatten, verhandelt wird und untrennbar mit Körper, Sexualität und Begehren verbunden ist. Das Jelinek’sche Schreibverfahren mit seinen ironischen Brechungen, assoziativen Verbindungen und Wortspielen funktioniert dabei ganz ähnlich wie in dem frühen Prosatext, der Umfang des Theaterstücks erlaubt jedoch keine Interpretation im Ganzen, sondern zwingt zur Konzentration auf einige zentrale Momente. Der Titel SCHATTEN ist doppeldeutig, zum einen verweist er auf die Schatten, welche Körper in der Sonne werfen, zum anderen auf den Hades als Reich der Toten. Jelinek knüpft damit gezielt an romantische wie mythische Diskurse an. Adalbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) wird als Lektürehinweis am Ende des Dramas ausdrück-

13 Siehe dazu auch Stephan, Inge. 2013. Mythos/Mythen. In: von Braun, Christina/ dies.: (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. 3. Auflage. Böhlau: Köln u. a., 391-415.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 115

lich genannt, an den Mythos wird – abgesehen von der Grundkonstellation Orpheus & Eurydike – immer dann gezielt erinnert, wenn im Redefluss Namen wie Apoll, Phaeton, Sisyphus, Ixion, Tantalus und die Eumeniden auftauchen. Kompliziert wird die Interpretation dadurch, dass Eurydike als Schatten nicht nur Sprecherin des Monologes ist, sondern auch als eine Autorin präsentiert wird, die das eigene Schreiben gegen die sexuellen Übergriffe ihres Mannes zu verteidigen sucht. Das Theaterstück setzt ein mit den Worten: »Ich weiß nicht, was gleitet da an mir herunter, nein, es scheint eher von unten zu kommen und sich hinaufzuarbeiten, hat es jetzt die Ferse schon erreicht, das Knie? Etwas Weiches, Dünnes, rinnsalhaft Gleitendes, eigentlich Schmeichelndes. Ja, jetzt! Da dringt etwas ein, tut weh, irgendwas hat sich geöffnet in mir, was war das, ich bin ganz offen zu Ihnen: Ich weiß es nicht. Es ist in mich hineingeglitten, mir wird heiß, Moment, habe das Gefühl, ich muß etwas Ballast abwerfen, Kleidung? Da rinnt etwas, vielleicht werde ich nicht mehr am Herd und nicht mehr an meinem frisch angefangenen Manuskript arbeiten können, das vorhin noch so glatt aus mir hervorgekommen ist. Ja. Vielleicht ging alles zu glatt. Mein Schreiben, das rinnt wohl auch, so empfinde ich es, wissen Sie, mein Mann hingegen singt. Auf seinem eigenen Soundtrack eilt er dahin. Das hat ihn berühmt gemacht. Bevor er zu singen begonnen hat, war die Stille etwas Großes, etwas Heiliges, jetzt gibt es sie nicht mehr, mit seiner Stimme hat er die Stille durchdrungen und sie vernichtet. Ich bin stiller geblieben. Ich schreibe, wen interessierts.« (3)

Mit dem letzten Satz variiert Jelinek ironisch den vielzitierten Satz »Wen kümmert’s, wer spricht« von Michel Foucault, mit dem dieser seinen berühmten Vortrag Was ist ein Autor? (1969) beginnen lässt und der in den Debatten um weibliche Autorschaft bis heute eine ambivalente Rolle spielt, weil er Autorschaft programmatisch vom Geschlecht und anderen biographischen und sozialen Kontexten abkoppelt. Mit ihrem an ein anonymes Publikum gerichteten Monolog versucht sich Eurydike als Sprechende gegen Orpheus als erfolgreichen Sänger zu behaupten. Der in Klammern gesetzte Untertitel (Eurydike sagt) relativiert ihre Autorschaft, weckt zugleich aber die Neugier darauf, was Eurydike eigentlich zu sagen hat. Dabei ist sie als mythische Figur und als Schatten des Mannes in doppelter Weise überdeterminiert. Als bereits Tote befindet sie sich überdies in einer unmögli-

116 | I NGE STEPHAN

chen Sprecherposition, die Jelinek im Text mit ironischen Verweisen auf die Psychoanalyse als ›klassische‹ Doublebind-Situation vorführt. Der den Monolog abschließende Lektürehinweis auf Freud, von dem »absolut alles« (18) gelesen werden soll, macht deutlich, dass die Psychoanalyse von der Autorin augenzwinkernd als ein Subtext angeboten wird, von dem aus sich eine für Eurydike wenig schmeichelhafte Lesart des Textes ergibt: Sie weiß nicht, was ihr geschieht, und sie weiß nicht, was sie will: »Ich kann nicht, was ich mir wünsche, und ich wünsche mir, was ich nicht kann: Schreiben.« (3) Das schamlos zur Schau gestellte sexuelle Begehren der Mädchen, die ihre »kleinen Fotzen« (4) vor dem Sänger unter ohrenbetäubendem Gekreisch entblößen, ist ihr als »Dichterin« (5), die sie nach eigener Wahrnehmung in Wahrheit gar nicht ist, zuwider, zugleich aber ist sie davon fasziniert: »Wer will das schon sehen, wenn sie ihre Wünsche mit sich unterstreichen, wenn ihre Körper gierig nach allem klaffen, von dem sie gar nicht wissen, was es ist.« (4) Im Gegensatz zu der »Mädchen-Meute«, die ihre »Körperchen« (5) gezielt einsetzen, hat Eurydike ihren Körper »erfolgreich abgelegt« (16). Die Mädchen »verkörpern das Nichts« (5), Eurydike jedoch ist – in Anlehnung an Lacans berühmtes Diktum, dass die Frau nicht existiert – das Nichts. Das empfindet sie als Befreiung und zugleich als einen Verlust, den sie betrauert. »Ich bin mir selber verlorengegangen, doch nur sein Verlust zählt. Der Sänger hat mich verloren. Er ließ mich aus seinem Arm in den Tod sinken. Er kam zu spät. Fazit: Ich weiß, was ich verloren habe. Er weiß es nicht. Er denkt nicht nach. Er kann noch nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, ich sage absichtlich nicht: was er mit mir verloren hat, denn er kannte mich ja nicht, nicht wirklich, so können wir annehmen, daß der Sänger gar nicht weiß, was er verloren hat. Und doch ist er verliebt in den Verlust, verliebter als in mich, als es mich noch gab. Das ist des Sängers Fluch.« (10)

Der Fluch Eurydikes ist es, dass ihr die Körperlosigkeit nicht die Freiheit gibt, nach der sie sich im Leben gesehnt hat. Auch als »Schattenwesen« (13) bleibt sie in die Widersprüche menschlicher Existenz verstrickt, findet aber schließlich zu der Stille, die einen Kontrast zu dem röhrenden Gesang des Sängers und dem Gekreische seiner Fangemeinde bildet.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 117

»Endlich Stille. Wir Schatten – Wesen, die sich endlich selbst in Besitz genommen haben, die zur Deckung mit sich gekommen sind, nicht als Genötigte, Gezwungene, sondern als Wesen, die es nötig haben zu verschwinden, in sich selbst zu verschwinden, mit sich eins zu werden. Sie wären allerdings auch verschwunden, wenn sie es gar nicht nötig gehabt hätten.« (11)

Als Schattenwesen ist ihr aber die Stimme geblieben. Anders als ihre mythische ›Schwester‹, die stumme Philomela, der ihre Zunge herausgerissen worden ist und die deshalb nur indirekt von der Gewalt erzählen kann, die ihr angetan worden ist, verfügt Eurydike über eine hochelaborierte Sprache, mit der sie über die Beziehungen zwischen Körper und Schatten, Subjekt und Objekt, Sein und Nichts, Mann und Frau nachdenken kann. Das schlimmste Szenario, das sich Eurydike vorstellen kann, ist die Zurückeroberung ihres Schattens durch einen Körper, auch dann, wenn es sich um ihren eigenen handeln sollte. »Nur nicht den Körper ranlassen, nur mich nicht in den Körper reinlassen! […] ich weiß ja nicht einmal, ob das überhaupt meiner ist, bevor ich ich werden kann, muß vermieden werden, daß mein lieber Schatten von einem Körper besetzt wird, wahrscheinlich von meinem, sie werden schon den richtigen herausgesucht haben, ich weiß es ja nicht, sie können mir genauso gut irgendeinen andren gegeben haben, einen fremden, wer weiß, ich dreh mich nicht um, ich will ihn nicht sehen! Das alles, damit mein lieber Schatten nicht von einem Körper besetzt wird, in Besitz genommen wird, daß mein schöner, warmer, weicher Schatten nicht wieder, nie wieder, verkörpert wird! Und auch wenn er zwangsverkörpert würde, könnte dieser Körper doch nur das Nichts verkörpern, das ich bin und das ich schaffe […].« (17)

Obgleich die Sprecherin überzeugt ist, dass es »ohne Körper keine Macht« (ebd.) gibt, entfalten die einzelnen Wörter und Sätze eine Kraft und Sogwirkung, die den Monolog zu einem beeindruckenden Zeugnis dichterischer Beredsamkeit machen, in welchem sich Angriffslust, Wut, Trauer, Melancholie, Depression und Todessehnsucht zu einem schwer zu durchdringenden Geflecht von widersprüchlichen Gefühlen verschränken. Die Gedanken der Sprecherin kreisen geradezu monomanisch um das Nichts, in dessen dunklen Strudel auch das Werk gerät.

118 | I NGE STEPHAN

»[…] ich habe keine Werke, ich werde nie Werke haben, wie schön!, keine Werke mehr, versprochen!, ich hatte ja nie welche und werde keine mehr haben, niemand sieht meine Werke, niemand hat sie je gesehen, sie sind nichts, sie sind Dreck, mein Werk ist Dreck, und ich bin das Dunkel dazu, das über sie wacht, über die Werke im Dunkel wacht, das Nichts wacht über den Dreck, und ich bin das dazugehörige, dazu passende Dunkel […]. Undurchdringlich, aber wer will es durchdringen? Keiner.« (18)

Der Text endet mit einer Reihe von kurzen Verbalkonstruktionen, die durch Wiederholung und Variation des mehrdeutigen Verbs ›raffen‹, das mal aktivisch, mal passivisch, mal negativ, mal positiv gefasst ist, den Monolog – wie im ›Zeitraffer‹ – auf sein Ende zusteuern lassen. »[…] nur ein Schatten, nur ein kurzer Schatten auf dem Stein, ich werde gerafft, ich werde zusammengerafft, nein, ich raffe mich selbst zusammen, ich raffe mich nicht auf, und ich raffe mich nicht zusammen, ich raffe mich nicht mehr auf, ich raffe mich zusammen, nein, doch!, ich raffe mich mit letzter Kraft zusammen, mit schattenhaften Händen, ohne Hände, ohne nichts, mit Nichts, raffe mich in mir selbst zusammen, raffe mich, die nicht mehr da ist, Schatten zu Schatten, ich bin nicht mehr da, ich bin.« (Ebd.)

Die paradox wirkende Schlusspassage »ich bin nicht mehr da, ich bin« lässt verschiedene Lesarten zu. Die Möglichkeit, sie im Descartes’schen Sinne als eine Form der Identitätsgewinnung zu verstehen, scheint von der Anlage des Textes und seiner Fokussierung auf das Nichts wenig einleuchtend. Für plausibler halte ich die Deutung, dass die Sprecherin mit dem Eintritt in den Hades ihren Satz, wahrscheinlich eine Wiederholung des zuvor Gesagten, nicht mehr beenden kann. Dieses Verstummen erinnert an Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht (1961). Undine, die sprachgewaltige Wasserfrau, verschwindet nach ihrem furiosen Monolog, in welchem sie die Männer als »Ungeheuer« angeklagt hat, im Wasser. (»Ich bin unter Wasser. Bin unter Wasser.«14) Bei Bachmann ist der Sprachverlust ihrer Protagonistin jedoch nicht so total wie bei Jelinek. Undine geht endet mit einer lyrisch anmutenden Sequenz, die an ein Du gerichtet ist:

14 Bachmann, Ingeborg. 1982. Werke II. 2. Auflage. Piper: München, 262.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 119

»Beinahe verstummt, beinahe noch den Ruf hörend. Komm. Nur einmal. Komm.«15

Jelineks Eurydike hat sich mit ihrem Verschwinden im Hades von allem verabschiedet – von den Männern, von der Liebe, vom Körper, von der Kunst. Sie lässt jedoch mit ihrem Monolog, in dem ein Nachhall der Erbitterung von Bachmanns Undine noch spürbar ist, ein verstörendes Werk der Anklage als Hinterlassenschaft für die ›Nachgeborenen‹ zurück.

V ERLUSTGESCHICHTEN Wenn man den frühen und den späten Text vergleicht, fällt auf, dass das Thema ›Natur‹ seine ursprüngliche Bedeutsamkeit weitgehend eingebüßt hat. Von Natur ist in SCHATTEN (Eurydike sagt) – sie ist vermittelt nur noch über den Körper präsent – kaum noch die Rede. Ihre Zeit ist abgelaufen, auf sie beruft sich in leicht erkennbarer strategischer Absicht nur noch der Sänger, wenn er den Verlust seines »geliebten Objekts« (6) in sentimentalen Liedern betrauert. »Er wird mich nicht lassen. Er wird mich nicht gehen lassen. Überall wird er mich sehen, am Waldrand, in den Wipfeln der Bäume, oder was die Natursprache sonst sagt, ich spreche sie nicht, sie langweilt mich, lesen Sie sie woanders, schauen Sie sie woanders an, im Kino, im Fernsehn, wo auch immer, schauen sie die Natur meinetwegen auch in natura an, aber mich langweilt sie, obwohl ja auch ich der Natur unterworfen bin, was ich grade schmerzlich zur Kenntnis nehmen muß.« (Ebd.)

Die mythische Eurydike und auch ihr Sänger sind längst in der virtuellen Welt von »Google Earth« (ebd.) und in einer lärmigen Popwelt angekommen, die Adornos schlimmste Befürchtungen in seiner Ästhetischen Theorie (1970) in den Schatten stellen.

15 Ebd., 263.

120 | I NGE STEPHAN

Auch die Bildproblematik hat sich im Vergleich zu dem frühen Text verschoben. Die modernen Speichermedien haben die Anzahl der Bilder nicht nur ins Unendliche vervielfacht, sondern sie zugleich so kommerzialisiert, dass sie nur noch als Werbefotos den »Kaufrausch« (8) ankurbeln. »Es gibt unendliche Möglichkeiten zu kaufen, jetzt auch im Netz, schon lange im Netz, Bilder Bilder Bilder Bilder, und alle mitsamt ihren Beschreibungen. Ich kaufe mir etwas, damit ich endlich verschwinden kann. Das ist meine Wahrheit, das Verschwinden ist meine Wahrheit, und unter dem Verschwinden kann ich meine Geschichte zum Vorschein bringen, die eine Geschichte der Getriebenheit ist, es treibt mich etwas zum Kaufen, das gebe ich zu, im Kaufen tanzt der frohe Mensch vor dem Spiegel, vor der Schaufensterscheibe, vor den Autoscheiben, die ihn zum Gespenst verzerren, doch er tanzt nicht lange, er verwelkt vor seinem Bild, denn er weiß: Kaum war etwas neu, schon ist es wieder alt. Kaum nimmt man etwas in all seiner Wichtigkeit in Gebrauch, schon schafft die Natur mit ihrer Wichtigtuerei – ich weiß schon, warum ich sie so hasse! – schafft die Natur, daß es welkt, verblüht, altert, stirbt.« (Ebd.)

Die »Mode« (ebd.) ist an die Stelle des Bildes getreten. Eurydike selbst bezeichnet sich als »Modeverrückte« (ebd.), die all die »schönen Kleider« (ebd.) kauft, um sich eine »Hülle« (ebd.) zu verschaffen. Die Kleider werden zur zweiten Haut, sie geben dem Körper Halt und Form, werden eins mit der Trägerin und ersetzen diese schließlich. Mit dieser strikten Ablehnung der Mode als kapitalistischem Konsumprodukt und ›schönem Schein‹ vertritt der Text eine sehr rigide Modeauffassung, die wenig Berührungen mit kulturkritischen Modediskursen der Gegenwart16 aufweist. »Ich bin das Kleid. Ich bin ein Kleid! Ist das die Strafe? Wofür? Daß mich immer nur Kleider interessiert haben? Manisch einkaufen gegangen, getrieben von einer Boutique in die nächste, wo es vielleicht noch Schöneres gab: das auch noch!, keine Fragen an Rettung vergeudet, die Hüllen wären meine Rettung gewesen, vor wem? Ich weiß es nicht.« (6)

16 Vinken, Barbara. 2014. Angezogen. Das Geheimnis der Mode. 7. Auflage. Klett-Cotta: Stuttgart.

F RAU – K ÖRPER – S TIMME | 121

Auch wenn die Sprecherin vorgibt, es nicht zu wissen, der Text – Roland Barthes lässt grüßen – ist schlauer. Er führt seine Figur in all ihren Widersprüchen, Ängsten, Verdrängungen und uneingestandenen Sehnsüchten gnadenlos vor. Dem widerspricht nicht, dass die Autorin ihrer Figur immer wieder eine Reihe von hellsichtigen Sätzen in den Mund legt. Dabei ist oftmals nicht zu entscheiden, an welchen Stellen Eurydike die herrschenden Diskurse – z.B. die psychoanalytischen und postmodernen – nur gedankenlos nachplappert bzw. an welchen Stellen sie als kritische Sprachfigur der Autorin fungiert. Offensichtlich erschöpft sich der Text aber nicht in seiner ironischen Ausrichtung, er besitzt eine Ernsthaftigkeit, welche die Autorin als eine kompromisslose Kritikerin der gegenwärtigen Konsum- und Mediengesellschaft ausweist, in der ›Natur‹ verabschiedet wird – als ›Vergänglichkeit‹ aber weiterhin präsent bleibt –, ›Körper‹ und ›Stimme‹ ihre ursprüngliche Bedeutung als Widerstandspotential gegen kapitalistische Vereinnahmungspraktiken weitgehend eingebüßt haben und die Geschlechterproblematik im Sinne einer brutalen Sexualisierung und Unterdrückung von ›Weiblichkeit‹ in eine neue Phase eingetreten ist: Als groupies bieten sich die jungen Mädchen dem ›Sänger‹ schamlos als ›Lustobjekte‹ an, als ›Schatten‹ dient Eurydike dem Mann nur noch als – freilich blindgewordene – Spiegelungsfläche seiner längst obsolet gewordenen Existenz als Künstler. Was aber bedeutet das für die Kunst? Ist sie wirklich tot, wie die Präsentation von Orpheus als Popsänger nahelegt? Oder lebt sie nicht doch fort in dem furiosen Monolog von Eurydike, die selbst noch aus dem Schattenreich spricht und als Anklägerin gegen »Gott und Goethe«17 auftritt? Ingeborg Bachmann hat darauf mit dem vielsagenden Seufzer »die Kunst, ach die Kunst« in ihrer wunderbaren undatierten Hommage à Maria Callas18 geantwortet – und mehr ist darüber auch von Eurydike/Jelinek nicht zu erfahren.

17 Jelinek: 1997, 26. 18 Bachmann, Ingeborg. 1982. Werke IV. 2. Auflage. Piper: München, 343.

Das Funktionelle und das Symbolhafte des Sexuellen in Marlene Streeruwitz’ Roman Jessica, 30. A NDREA H ORVÁTH

Der Wandel der Sexualität in der westlichen Kultur ist seit Jahren ein unerschöpfliches Thema der sozialhistorischen Sexualwissenschaft. Dabei werden nicht nur die bereits bekannten Gegenstände des Sexualitätsbereiches diskutiert, sondern kritische sexualwissenschaftliche Artikel beobachten und beschreiben eine grundlegende Transformation der Sexualität, die im Sinne einer »Umkodierung und Umwertung«1 verstanden wird. Verlust, Verschwinden und Auflösung sind dabei die am häufigsten verwendeten Stichwörter und zugleich die Schlüsselwörter des sexuellen Wandels. Die Gegenwart kann nach Volkmar Sigusch als Umbruchszeit aufgefasst werden, die die Sexualität zerlegt und sie neu zusammensetzt.2 Sowohl die Vertreter der Repressionshypothese des Sexuellen, etwa Theoretiker wie Max Weber, Norbert Elias, Herbert Marcuse und Wilhelm Reich, als auch die Anhänger der Thesen von Michel Foucault, die auf den diskursiven Konstruktcharakter des Sexuellen hingewiesen haben, sind darin einig, dass das Geschlechtsleben der abendländischen Gesellschaft im1

Sigusch, Volkmar. 1998. Kritische Sexualwissenschaft und die Große Erzählung vom Wandel. in: Schmidt, Gunter/Strauß, Bernhard (Hg.): Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Psychosozial Verlag: Stuttgart, 4.

2

Ebd.

124 | A NDREA H ORVÁTH

mer tief in einem Regelsystem verankert war. Sexualität ist demnach in unterschiedlichem Maße mit theologischen, medizinischen und rechtlichen Vorschriften und Verboten verbunden.3 Foucault betont in seinem Band Der Gebrauch der Lüste, dass bereits seit dem 4. Jahrhundert schriftliche Belege zu finden sind, die »sexuelle Aktivität [als] an sich gefährlich und kostspielig […] und […] eng an der Verlust der Lebenssubstanz gebunden«4 beschreiben. In den frühmittelalterlichen Reglementierungen des Sexuellen trat ein Hass auf den Körper hinzu, der sich gegen die sinnliche Lust niederschlug.5 Die religiöse Sexualmoral wurde von der Angst der Menschen bestärkt, wurde als Gewissen verinnerlicht und galt als Regel- und Verbotssammlung für den ehelichen Umgang mit Sexualität seitens der Kirche.6 Das Schamgefühl, das schlechte Gewissen und die sexuelle Angst bestimmten das Geschlechtsleben der Menschen für mehrere hundert Jahre. Immer mehr gehörte das Sexuelle zu einem Bereich des Problematischen und der Prüderie. »Der Akzent der Sexualität verschiebt sich in der Epoche vom 16. bis zum 19. Jahrhundert immer stärker auf das Widerwärtigste, Abstoßende und zugleich Mysteriöse.«7 Die bürgerliche Sexualmoral im 18. Jahrhundert war geprägt durch die allgemeine Unwissenheit über Sexualität, die dann, wie Thomas Laqueur es beschreibt, eine bedeutende Wende erlebte: »[Z]ugleich [be-

3

Köppert, Anush. 2012. Sex und Text. Zur Produktion/Konstruktion weiblicher Sexualität in der Gegenwartsliteratur von Frauen um 2000. Stauffenburg: Tübingen, 87.

4

Foucault, Michel. 1989. Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. übersetzt v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. [Histoire de le sexualité. Vol. 2. L’usage des plaisirs. Paris 1984] Suhrkamp: Frankfurt a.M., 161.

5

Deschner, Karlheinz. 1980. Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte

6

Über das Geschlechtsleben der Menschen haben die bedeutendsten spätantiken

des Christentums. 4. Aufl. Heyne: München, 67. Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen, wie Hieronymus (347-420 n. Chr.), Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.), Bonaventura (1221-1274 n. Chr.) und Thomas von Aquin (1225-1274 n. Chr.) überraschend detailliert und negativ geschrieben. Mit der hohen Bewertung der Jungfräulichkeit haben sie das Geschlechtliche in den Bereich der Sünde verwiesen. Vgl. Köppert: 2012, 88. 7

Van Ussel, Jos. 1970. Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualwissenschaft. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 51.

D AS F UNKTIONELLE UND

DAS

S YMBOLHAFTE | 125

gann] die Bedeutung von individueller Vernunft, Beherrschung, Transparenz, Sensibilität, Transparenz und Bildung größer [zu] werden«8. Gesellschaftlich erhält der wissenschaftliche Sexualitätsdiskurs Vorrang, das Unheimliche, das Krankhafte und das Pathologische des Sexuellen lösen das Sündenhafte im Geschlechtlichen ab. Als weitere bedeutende Etappe in der Konstitution der Sexualität des 19. und 20. Jahrhunderts gilt die Verschiebung der Sexualität in die Sphäre des Bewussten. Die Spaltung in einen »normalen, gesunden« und einen »krankhaften« Sexualtrieb (Richard von Krafft-Ebing, Sigmund Freud) schrieb die Sexualität dem medizinischen Bereich zu. Eine unkontrollierte leidenschaftliche Hingabe zum sexuellen Vergnügen verband sich nicht nur mit einer sündhaften Ungezügeltheit der Lust und damit auch der Angst vor psychologischen Erkrankungen, wie Hysterie, Neurosen, moralischem Schwachsinn und Depression bzw. Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich durch die 68er-Bewegung ein entspannterer Umgang mit der Sexualität durchgesetzt bzw. wurde die Sexualitätsdebatte durch die feministische Bewegung öffentlich auf politischer Ebene ausgetragen. Das Sexuelle begann, in alle politische Bereiche zu wirken: »[D]as Politische spiegelt und konzentriert sich (…) im Sexuellen.«9 Der Sexualitätsdiskurs ermöglicht es, die Position der Frauen innerhalb des sexuellen Bereichs politisch zu verbessern. Die letzten Jahrzehnte ist der Wandel der Sexualität durch die Vervielfältigung des sexuellen Verhaltens und der sexuellen Normen ein Leitthema der Sozio- und Sexualwissenschaften geworden. Alte und neue Themen werden in einem Spannungsverhältnis diskutiert wie z.B. Sexualität und Moral, Sexualität und Reproduktion, Sexualität und Gewalt oder ganz neue Gegenstände sind Cybersex oder Sexualität und Immigration. Die aktuellen Forschungen beschreiben diese Entwicklungen als grundlegende Transformation der Sexualität, mit Siguschs Worten als »Umkodierung und Umwertung«, indem die Gegenwart »[Sexualität] zerlegt und sie neu zusammen [setzt].«10

8

Laqueur, Thomas Walter. 2008. Die Einsame Lust. Eine Kulturgeschichte der

9

Bührmann, Andrea. 1995. Das authentische Geschlecht. Die Sexualitätsdebatte

Selbstbefriedigung. Osburg: Berlin, 244. der Neuen Frauenbewegung und die Foucaultsche Machtanalyse. Westfälisches Dampfboot: Münster, 115-116. 10 Sigusch: 1998, 4.

126 | A NDREA H ORVÁTH

Für meine Arbeit ist es daher wichtig zu betonen, dass in der europäischen Kultur und Gesellschaft eine in der Öffentlichkeit realisierte Inszenierung der Sexualität existiert. Diese belegt einerseits die Funktionalisierungsmöglichkeit der Sexualität und andererseits ihre Instrumentalisierbarkeit. Beabsichtigt ist in diesem Zusammenhang, der Funktion der Sexualität explizit in der Literatur von Frauen nachzugehen, der Frage, ob es sich im jeweiligen Text um eine diskursive Konstruktion oder eine Dekonstruktion des Sexuellen handelt. Sigusch spricht in diesem Kontext von der »kopernikanische[n] Wende«11 des Geschlechterdiskurses, kraft derer »nicht mehr der Mann im Mittelpunkt [steht], sondern die Frau, nicht mehr das Sexuelle, sondern das Geschlechtliche.«12 So muss man von einer methodischen Unmöglichkeit ausgehen, eine nicht geschlechterdifferenzierende Auseinandersetzung mit dem Sexuellen anzustreben. Da der literarische Text durch die Darstellung der Sexualität auch die Geschlechterverhältnisse und die gesellschaftspolitische Positionierung der Geschlechter mit transportiert, hat gerade die feministische Literaturwissenschaft schon lange dafür gekämpft, die literarische Auseinandersetzung mit der Sexualität an den Prozess des Gender Mainstreaming anzuschließen. Laut Anusch Köppert kann der kulturelle Wandel der Sexualität auch Veränderungen im literarischen Umgang mit ihr dort vermuten lassen, wo die Überwindung des Geschlechtlichen bzw. der Geschlechterdifferenz zu verzeichnen ist. Diese Überwindung ist aber nicht mit einer feministischen Gleichheit der Geschlechter gleichzusetzen.13 Zwar ist Elfriede Jelinek überzeugt, es gäbe keine weibliche Sprache des Obszönen,14 es sind aber gerade die zeitgenössischen Autorinnen, die sich die Sprache des Sexuellen zu Eigen machen, sobald sie sie für die Darstellung einsetzen. So stellen die Autorinnen eine Distanz vom politischen Schreiben und der These her, Literatur sei ein dis-

11 Ebd., 5. 12 Ebd. 13 Köppert: 2012, 17. 14 »Ich wollte eine weibliche Sprache für das Obszöne finden. Aber im Schreiben hat der Text mich zerstört – als Subjekt und in einem Anspruch, Pornographie zu schreiben. Ich habe erkannt, daß eine Frau diesen Anspruch nicht einlösen kann, zumindest nicht beim derzeitigen Zustand der Gesellschaft.« (Löffer, Sigrid. »Ich mag Männer nicht, aber ich bin sexuell auf sie angewiesen. Gespräch mit Jelinek.« in: Profil 13, 1989, 83-85.)

D AS F UNKTIONELLE UND

DAS

S YMBOLHAFTE | 127

kursiver Ort für die Verhandlung der Gesellschaftsverhältnisse: »Man kann nicht fordern, dass ein Roman oder eine Literatur politisch zu sein habe«15, so Juli Zeh. Stattdessen versuchen die Autorinnen die Darstellung der Sexualität zu funktionalisieren, zu instrumentalisieren und zu inszenieren, ohne die Binarität der Geschlechter dabei zu reproduzieren oder von ihr auszugehen. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, dem Sexualitätsdiskurs in der Gegenwartsliteratur von Autorinnen, konkret am Beispiel von Jessica, 30.16 der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz nachzugehen. Es wird gefragt, ob der literarische Text, wenn er Sexualität produziert, sich als »Gegendiskurs«17 begreift, indem er eine literarische, ihre subversive Kraft entfaltende Dekonstruktion des Sexuellen hervorbringt. Laut Marlene Streeruwitz wird die Frau sowohl in den literarischen Werken als auch auf der Bühne zum Objekt gemacht, und man trifft im alltäglichen Leben überall auf Unterdrückung, deshalb muss es »in einer nicht patriarchalen Poetik zuerst einmal ums Leben gehen […]«18: »Es geht um die Bildung einer Solidargemeinschaft aller, die diesen Blick auf sich kennen.«19 Sie versucht schonungslos zu zeigen, wie die Welt ist, und nicht im Sinne der alten Frauenbewegungen, wie die Welt sein sollte. Im Roman Jessica, 30. steht dieser Blick im Mittelpunkt. Jessica arbeitet als Journalistin und hat eine Affäre mit dem verheirateten Politiker Gerhard. Mittels eines langen Gedankenstroms ist sie im ganzen Roman auf der Suche nach richtigen Verhaltensweisen, sogar nach der richtigen Sexualität. Sie kann nicht ertragen, allein zu leben, deshalb gesteht sie lieber ihrem Geliebten alles zu: »[…] der Gerhard, der ist ja ein Pausenfüller, weil es besser ist zu grinsen, wenn jemand fragt, ob es einen gibt, und das ist ja auch praktisch, es wäre praktischer, wenn

15 Zeh, Juli. 2004. Wir trauen uns nicht. In: Die Zeit 11, 1. 16 Streeruwitz, Marlene. 2010. Jessica, 30. Roman. Fischer: Frankfurt a.M. Im Folgenden werden Zitate aus dem Roman mit Seitenzahl im Text zitiert. 17 Jäger, Siegfried. 1993. Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Unrast: Duisburg, 151. 18 Streeruwitz, Marlene. 1998. Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetik Vorlesungen. Fischer: Frankfurt a.M., 22. Zitiert nach Kocher: 2008, 77. 19 Ebd.

128 | A NDREA H ORVÁTH

ich bestimmen könnte, wann er Zeit hat, es ist einfacher so als ganz allein, da würden sich alle interessieren und ich hätte ja auch das Gefühl frigid zu sein, und das habe ich ja ohnehin und dann wäre es bestätigt und vielleicht sollte ich doch noch eine Analyse anfangen, oder vielleicht ist etwas mit meinen Hormonen nicht in Ordnung, wenn es mir nicht so wichtig ist, weil ich immer lieber verliebt bin und dann erst Sex und ohne Gefühle nicht so interessiert, […].« (39)

Brüche im Gedankenstrom, fehlende Punkte und Assoziationen charakterisieren ihre Denkweise. Sie schwankt zwischen den Anforderungen der patriarchalen Ordnung und ihren eigenen Träumen. Für Jessica spielt die Sexualität – aber nicht Lust – eine enorm große Rolle, weil sie glaubt, dass sie der Gesellschaft den Eindruck einer nicht frigiden jungen Frau vermittelt. Lust gehört laut Konstanze Fliedl zu den »bedrohten Species unter den Gefühlen«20 in den Texten von Marlene Streeruwitz. Im Gegensatz zu den Werken von Elfriede Jelinek wird Lust nicht als die zwangsläufigen Grenzüberschreitungen innerhalb der Gesellschaft präsentiert, sondern funktioniert als individuelles und gesellschaftliches Phänomen, dessen Grenzen in der Gesellschaft nicht fest verankert sind. Sexualität erscheint im Roman auf mehreren narrativen Ebenen, sie ist sowohl ein bedeutender Teil des Gedankenstroms der literarischen Figur Jessica im ersten Kapitel als auch eine sexuelle Handlung im zweiten Kapitel, das Thema des Zeitungsartikels, den Jessica im dritten Kapitel schreiben soll. Laut Köppert fungiert der literarische Text hier als ein polemischer Ort, der einen Raum für das Wissen über das Sexuelle bietet, der narrative Text lässt sich als eine kritische Abhandlung über die populären Themenbereiche der Gegenwartskultur wie Orgasmus, Selbstbefriedigung und Perversion lesen.21 Jessicas Gedanken über Sexualität werden im ersten Teil von Autoerotik und Orgasmusfixierung bestimmt. Masturbation – »[E]s lebe die Onanie« (6), wie es auf der 2. Seite des Romans heißt – wird mit weiteren Selbstkontrolle-Handlungen in Verbindungen gebracht wie Essen, Laufen und Abnehmen.

20 Fliedl, Konstanze. 2003. Ohne Lust und Liebe. Zu Texten von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Béhar, Pierre (Hg.). Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Peter Lang: Wien/Bern, 222-237, 223. 21 Köppert: 2012, 130.

D AS F UNKTIONELLE UND

DAS

S YMBOLHAFTE | 129

»[W]enn ich laufen war, und ein gutes Gewissen habe ich auch und wenn ich mir noch abgewöhnen könnte, gleich nachher wieder zu essen, dann wäre das Ergebnis auch noch besser, aber ich esse dann wiederum aus gutem Gewissen, weil ich mir das leisten kann, und warum habe ich dann in der Nacht diese Schoko-MapleWalnut-Orgie gemacht, ein gutes Gewissen hatte ich da nicht, ganz sicher nicht, ich bin zufrieden, wenn ich, es ist mein Recht, mich zu befriedigen, mein sehr gutes Recht, aber ein gutes Gewissen, das haben sie nur in Cosmopolitan, aber da triumphieren sie auch über die Männer, mit ihren Dildos.« (20)

Wegen ihrem schlechten Gewissen scheitert das Bild der unabhängigen Postfeministin und Jessica distanziert sich von den Frauen aus der Zeitschrift Cosmopolitan, obwohl sie sich bemüht, sich selbst als moderne postfeministische Frau zu deuten. Durch Diät, Onanie und körperliche Aktivität richtet sie sich selbst zu. Sexualität bekommt in dem Roman neben Fortpflanzung einen Platz im Konstitutionsprozess des Selbst, der sexuelle Akt dient auch als Präventionsmaßnahme. Der Sex erhält die Funktion eines gesunden Zustands. Das Ziel – in Form von Autoerotik – wendet sich hier in die vom Text suggerierte perfekte Form des Körpers. Der narrative Gedankenlauf verläuft im ersten Kapitel parallel zu dem tatsächlichen Lauf der Protagonistin. Der Leser erhält selektive Einblicke in ihre Welt und ihre Persönlichkeit. Zwischen zwei Kommata liest man Überlegungen über ihre Zukunftspläne, ihr Äußeres und ihre Sexualität. Schon der Titel präsentiert »die unverwechselbare Diktion von Marlene Streeruwitz«22, die Vorliebe für Kürze. Schon im Titel erscheint das erste Komma, nach dem auch das Alter von Jessica angegeben wird. 30 kann als ein wichtiges Indiz für den Generationenbegriff gelesen werden. Nach der These von Köppert stellt man in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft die Frage nach der Übereinstimmung des Alters von Autorinnen und Autoren und ihren Protagonistinnen und Protagonisten und definiert so die Selbst- und Fremdbestimmung eines Generationsbildes. In den letzten Jahrzehnte wurden in der Gegenwartsliteratur im-

22 Scalla, Mario. 2007. Formvollendete Fragen. Über das Verhältnis von literarischer Form und gesellschaftlicher Aktualität in den Texten von Marlene Streeruwitz. In: Bong, Jörg/Spaht, Roland/Vogel, Oliver (Hg.). »Aber die Erinnerungen davon.« Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz. Fischer: Frankfurt a.M., 152.

130 | A NDREA H ORVÁTH

mer neue Generationsprojekte entworfen wie Generation Ally, Generation Golf, Generation Berlin, Generation Kinderlos.23 Julia Roth stellt fest, dass bei diesen jungen Autorinnen und Autoren eine starke Selbstbezogenheit erscheint und beobachtet dabei, dass »[p]olitische Handlungsfähigkeit von vornherein ausgeschlossen [wird], man bleibt lieber bequem.«24 In den Generationsbüchern werden eher die kollektiven Erfahrungen dokumentiert, der Wunsch nach Veränderungen wird nicht formuliert. Marlene Streeruwitz war doch älter als ihre Protagonistin, als sie den Roman schrieb, trotzdem kann der Text als Generationsentwurf von Frauen um die Dreißig gelesen werden. Jessica reflektiert immer wieder den Zwang, einem gleichartigen Kollektiven anzugehören: »[E]s ist sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie, sie möchte eine richtige Tussenriege und alle sollen so sein, wie die ideale Leserin, 30, attraktiv, unabhängig und gut verdienend, aber dann müsste sie auch etwas zahlen, aber sie Mäuschen.« (14) Mit der Generationsfrage wird kritisch umgegangen, Jessica fragt sich selbst, ob sie nur ein »Ally-McBeal-Klon« (70) sei und sieht ein, dass sie dem Drang eines Ideals des Generationsbildes moderner deutscher Frauen nicht entkommen kann. Ally McBeal25 entspricht den Wünschen und Vorstellungen von Jessica, sie gilt als Vorbild für die Generation Ally26. Die Frauen dieser Generation – ebenso wie Jessica – distanzieren sich von den Feministinnen der siebziger und achtziger Jahre, aber auch das neue Bild der postfeministischen Frau bekommt Risse: Jessica dachte, dass sie wie ihre Mutter das haben wird, was »sie schon mit 30 gehabt hat, den Job, das Kind, nur der Mann hat gewechselt.« (48) Dagegen hat sie: »keinen Job, kein Kind und die Männer sind Wechselbälger« (48). Das unabhängige, attraktive, sexy Bild einer postfeministischen Frau zerfällt im Text, indem sie für ihre finanzielle Unabhängigkeit und für den sportlichen, attraktiven Körper kämpfen muss. Die Anziehungskraft des schlanken Körpers ver-

23 Köppert: 2012, 122. 24 Roth, Julia. 2006. Sie wollen uns erzählen. Über Texte, die gerne »wir« sagen. In: Polar 1, 163-166. Hier: 164. 25 Ally McBeal ist eine TV-Serie aus den USA. Die FOX-Serie Ally McBeal lief in deutscher Erstausstrahlung ab 1998 auf dem Sender VOX. Ally McBeal dreht sich um die gleichnamige Titelfigur: Ally ist eine erfolgreiche und egozentrische Anwältin, die in einer Kanzlei in Boston arbeitet. 26 Kuhlmann, Katja. 2005. Generation Ally. Eichborn: Frankfurt a.M.

D AS F UNKTIONELLE UND

DAS

S YMBOLHAFTE | 131

stärkt den intensiven Anpassungsdrang der Protagonistin. Durch diese Anpassungsbereitschaft wird aber das traditionelle Geschlechtsmuster in das Weibliche eingeschrieben, die Herrschaft des Männlichen bleibt gesichert. Claudia, an die Jessica morgens beim Joggen immer denkt, wird als Vertreterin des »antifeministischen Postfeminismus«27 dargestellt: sie ist finanziell abgesichert, sie hat das perfekte Äußere und repräsentiert Erfolg: [S]ie kann sich das nur nicht vorstellen, nichts machen, das ist eine unerklärte Zeit für sie« (37), »es ist ihr sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie«. (14) Für Jessica beherrscht Claudia eine Lebenskunst, die aus Organisationsebenen besteht, die mit Sex, Laufen und kontrolliertem Essensverhalten besetzt sind. Die Erwartung, sich der Chefredakteurin Claudia anzupassen wird nicht als Kritik an der Gesellschaft und den Medien definiert, sondern als Wunsch, sich dem neuesten Bild einer souveränen und attraktiven Frau anzunähern.28 Neben Laufen und Diät spielt Sexualität zwangsläufig in der minutiösen Beschreibung des weiblichen Alltags eine große Rolle. Alexandra Pontzen stellt bezüglich der Orgasmen von Streeruwitz’ Protagonistinnen fest, dass sie lediglich »psychologisches Indiz einer gelungenen Manipulation«29 sind. Begründet stellt sie die Frage, ob eine zweigeschlechtliche Lust in Streeruwitz’ Texten überhaupt möglich ist, wenn sogar die aufgeklärteren Männerfiguren brutal und rücksichtslos sind. In dem politisch-feministischen Aufklärungsprogramm von Streeruwitz scheint in jedem Fall Platz für Männer vorgesehen zu sein, denn wie sie in dem Dossier-Interview selbst sagt: »Ich halte Feminismus ja für eine logische Entwicklung einer aufmerksamen Analyse, ich glaube, dass auch jeder aufmerksame Mann das ergreifen muss.«30

27 Köppert: 2012, 127. 28 Ebd., 128. 29 Pontzen, Alexandra. 2005. Beredete Scham – Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Gruber, Bettina/Preußer, Heinz Peter (Hg.). Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Königshausen & Neumann: Würzburg, 21-40. Hier: 37. 30 Höfler, Günther A. 2008. Marlene Streeruwitz – Werkbiographische Aspekte als Versuch einer Näherungslüge. In: Höfler, Günther A./Melzer Gerhard (Hg.). Marlene Streeruwitz (= Dossier 27). Droschl: Wien/Graz, 13.

132 | A NDREA H ORVÁTH

Die zentrale männliche Figur des Jessica, 30. ist Gerhard Hollitzer, ein verheirateter Politiker der ÖVP und Regierungsmitglied, mit dem die Titelheldin eine langzeitige Affäre hat. Anscheinend sind Gerhard aber sexuelle Aktivitäten mit der freiberuflich als Journalistin tätigen Jessica nicht genug. Seine Sexgelüste befriedigt er zusätzlich einerseits durch sadomasochistische Praktiken mit Jessicas Freundin Mia, andererseits zusammen mit anderen Parteikollegen während mit Parteigeldern finanzierter Sexpartys mit slowakischen Prostituierten. Aus dem Buchmanuskript von Mia erfährt Jessica, dass ihr Geliebter Gerhard Mia drei Tage lang an ein Bett gefesselt und nicht freigelassen hat. Im zweiten Teil des Romans tritt Jessica als eine weibliche Figur auf, die ihre durch Laufen, kontrollierte Diät und Onanie gesteuerte Selbstsicherheit verloren hat, und sie fragt sich selber, ob sie das Recht hat, Gerhard auf Mia anzusprechen: »[M]ir ist peinlich, wenn er da stünde und feststellen müsste, dass man ihm nicht vertraut, dass man ihm nicht mehr vertraut, da wäre ich fertig, das würde mich fertig machen, das wäre mir peinlich, weil ich als enge Person da stünde, uncool, und ich bin erschreckt, ich bin einfach verschreckt, dass er sich verletzt fühlen könnte, dass diese Verdächtigungen ihn treffen könnten.« (93)

Als Gerhard endlich bei ihr eintrifft, kommt es sehr schnell zum Oralsex, während Gerhard mit seiner Frau telefoniert. Zuerst versucht Jessica den Akt wegen des Anrufs abzubrechen: »[H]ör einmal, wenn du telefonieren musst, dann kann man dir halt keinen blasen, hej, nicht so, nicht den Kopf so drücken, ich beiß ja noch hinein.« (148) Jessica bleibt im Gegensatz zu dem der Situation ausgelieferten Gerhard angekleidet, was zeigt, dass sie sich im Sexualakt als dem Mann überlegen erlebt. Sie versucht die Kontrolle zu übernehmen und will die Szene Mia und Gerhard nachspielen, doch packt er sie an den Haaren und nach dem Akt gibt er ihr sogar die Schuld daran: »Issi. Mäuschen. Das war eine Notsituation und du hast mich so aufgeregt. Das war alles deine Schuld.« (151) Im zweiten Kapitel ist eine nivellierende Perspektivierung des Sexuellen zu beobachten, der Geschlechtsakt kann durch die männliche Dominanz und die Unterordnung von Jessica auch als Vergewaltigung verstanden werden. Dieses Ausgeliefertsein ruft aber in ihr sexuelle Lust hervor und die detaillierte Vorstellung der Szene zwischen Mia und Gerhard wirkt auf sie anziehend. Die Überwindung der

D AS F UNKTIONELLE UND

DAS

S YMBOLHAFTE | 133

Grenze eines handelnden Selbst führt hier zu einem grundlegenden Wandel in Jessicas Wahrnehmung des Sexuellen. Jessicas voyeuristische Partizipation an der Beziehung zwischen Mia und Gerhard verweist eindeutig auf die untergeordnete Bedeutung des Anderen und markiert den Selbstbezug, denn Sex als Fetisch wird zu einer Selbstpraktik. Sie beansprucht für sich eine männlich konnotierte Schaulust, ihre sexuelle Begierde begleitet und kommentiert wie Denkblasen folgendes Monologisieren: »ein bisschen lutschen, und er muss ihn gewaschen haben, der riecht frisch gewaschen, der schmeckt nach Seife, ein bisschen schmeckt der nach Seife, aber alles ist besser als Käsekrainer, [...] ich lasse schon nicht los, das Pimpi kann ja nichts dafür, an wem es dranhängt, und solange ich dran herumlutsche, da gehört er schon mir, [...] hör einmal, wenn du telefonieren musst, dann kann man dir keinen blasen, [...] der kommt ganz einfach, der spritzt jetzt gleich und ich möchte nicht, aber wenn ich, eine Szene, der schlägt einen, das ist einer, der schlägt zu, [...] er soll mich auslassen, ich werde ihn noch verletzen, [...] der macht das jetzt wirklich, Hilfe, und er schmeckt staubig, bah und dann scharf, [...] lass mich los, ich will weg und ich kann doch nicht in den Schwanz beißen, [...] der versteht das nicht, [...] der kennt das nicht, dieses Gefühl, angespannt, leer, widerlich, und eine Wut, und der Geschmack, [...] und er hat gewonnen, er hat es sich dann am Ende doch wieder genommen, aber wenigstens hat er mich nicht einmal richtig angefasst, das bisschen am Busen Herumfummeln, das gilt nicht und zwischen den Beinen her-umrühren, [...] das gilt schon überhaupt nicht [...] ich werde weinen, [...] ich fühle mich elend, [...] ich will ihn schlagen, und warum habe ich ihn nicht in den Schwanz gebissen, aber die Vorstellung davon, das ist ja wirklich ekelhaft, pfui, das ist ja scheußlich, [...] und wie kommt dieser Kerl zu dieser Potenz, das ist, [...] und eigentlich wollte ich, eigentlich, wie kommt das, ich will doch gar nicht, ich kann das nicht wollen und doch, es gibt so einen Strom, vom Nabel weg in irgendeine Tiefe und dem folgend könnte ich es jetzt machen und was bedeutet das, wie ist dieser Masochismus in mich hineingekommen, wieso würde mir das absolut gefallen und mich in so einer Art beschmutzen.« (147-150)

Die Entdeckung der Ausschweifungen führt die Protagonistin offensichtlich aus Rache zu dem Entschluss, die Exzesse ihres Liebhabers an die Öffentlichkeit zu bringen. So begibt sie sich im letzten Romanteil mit dem Flugzeug nach Hamburg, um der »Stern«-Redaktion entsprechende Materialien

134 | A NDREA H ORVÁTH

anzuvertrauen und ihn gesellschaftlich bloßzustellen. Die Unschuld des Opfers ist abgelegt, Jessica begehrt den Untergang Gerhards und laut Kocher sündigt sie auf diese Weise.31 Jessica ist keine widerständige Persönlichkeit, sie will sich in der Welt, in der sie lebt, völlig assimilieren. Sie bemüht sich derart um eine perfekte Mimikry, dass sie kaum noch Subjekt ist. Sie ist eine Stimme, die ihren Körper immer wieder verneinen muss. Ihr Gedankengefüge – Jessica denkt permanent – verhindert ihr einen klaren Blick, muss irgendwann zusammenbrechen. Jessicas introspektive Selbstbeobachtung, die auf einige Stunden reduziert ist, erscheint als Selbsttherapie, die ihr in ihrer prekären Lage zu einem anderen Lebenswandel verhelfen soll. Noch bevor sie sich mit der Denunzierung Gerhards »ein neues Leben« (237) verspricht, zieht sie folgende Lebensbilanz: »mein liebes Issilein, deine Zukunft ist gerade, wenn du dir nicht bald etwas überlegst, die Mama hat heute nur, was sie schon mit 30 gehabt hat, den Job, das Kind, nur der Mann hat gewechselt, und ich habe keinen Job, kein Kind und die Männer sind Wechselbälger, seit dem Alfred nur noch irgendwelche und die Beziehungsproblematik und keine Aussicht auf eine Festigkeit, Job kriegt man keinen mehr.« (48)

Die erzählten Sexualakte im Roman bilden eine groteske Ansammlung körperlicher Segmente und sexueller Fragmente. Sexualität wird entweder in der Vergrößerung bzw. der Heranziehung der Körperteile oder in den Gewalt- und Vergewaltigungssituationen durchgeführt. Ein solcher Umgang mit dem Sexuellen macht Sexualität in ihrer Symbolhaftigkeit begreifbar. »[A]ber es geht ums Geld, …, das ist dann vielleicht das Symbol für die Gefühle, oder nein, das ist das Symbol für Sexualität« (214). In diesem Kontext spricht Sigusch über eine »generelle Banalisierung des Sexuellen«32. Laut seiner These sind das Geschlechtliche und das Sexuelle nicht

31 Kocher, Ursula. 2008. Diskursdomina auf Trümmerfeld. Marlene Streeruwitz und der weibliche Blick auf die Welt. In: Bannasch, Bettina/Waldow, Stephanie (Hg.). Lust? Darstellung von Sexualität in der Gegenwartskunst von Frauen. Wilhelm Fink: München, 77-92, hier: 81. 32 Sigusch, Volkmar. Vom König Sex zum Selfsex. Über gegenwärtige Transformationen der kulturellen Geschlechts- und Sexualformen. In: Schmerl, Christiane/Soine, Stefanie/Stein-Hilbers, Marlene/Wrede, Brigitta (Hg.). Sexuelle Sze-

D AS F UNKTIONELLE UND

DAS

S YMBOLHAFTE | 135

nur dissoziiert, sie liegen auch ineinander33, und so nimmt das Sexualverhalten eine zentrale Rolle innerhalb der Identitätsbildung von Jessica ein. Die Subjektivierung wird aus dem Inneren der Protagonistin gesteuert. Nach Diät und Laufen entscheidet Jessica, dass sie die Affäre des Politikers mit der Prostituierten aufdeckt und damit startet sie ihre JournalistinnenKarriere. In diesem Kontext kann das Urteil von Dagmar Lorenz, dass »Jessica [...] keineswegs Opfer, sondern Pionierin[...] [ist], die sich aus der Verstrickung mit dem Anerzogenen und Vorprogrammierten lös[t] und in ihre empirisch verifizierbare Wirklichkeit vorst[ößt]«34, nur wundern. Tatsächlich bleibt die Titelheldin bis zum letzten Romansatz verstrickt, und zwar in die eigene Gespaltenheit. Auch wenn sie im Flugzeug auf dem Weg nach Hamburg megalomane Phantasien über einen Regierungssturz produziert, bleibt ihr Bewusstsein gespalten und eine endgültige Erkenntnis aus:35 »ich selber auch missbrauchen kann, wenn es mir passt, dann kann ich das auch, ich habe auch nicht eher aufgehört, bevor ich nicht gekommen bin, und auch wenn eigentlich ich gedemütigt worden bin, weil ich so schwanzgeil war und ihn nicht in Ruhe gelassen habe, aber gehabt habe ich es ja doch, und er hat mir nachgeben müssen, und er war schließlich auch geil genug für das Ganze, und ich habe ihn gehabt, fast gegen seinen Willen, [...] im Nachhinein hätte ich es lieber nicht so gehabt, oder doch, eigentlich weiß ich das gar nicht.« (229)

nen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften. Leske + Budrich: Opladen, 2000, 229-251, hier: 246. 33 Sigusch, Volkmar. Neusexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Campus: Frankfurt a.M., 2005, 40, zitiert nach Köppert: 2012, 138. 34 Lorenz, Dagmar C.G. 2007. Feminismus als Grundprinzip und Autorenposition bei Marlene Streeruwitz. In: Bong, Jörg/Spahr, Roland/Vogel, Oliver (Hg.). »Aber die Erinnerung davon.« Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz. Fischer: Frankfurt a.M., 51-73, hier: 57. 35 Pelka, Artur: Zur Trivialität des Eros: Das ›Dingsbums‹ in Marlene Streeruwitz’ Partygirl. und Jessica. 30. In: Moser, Doris/Kupcszynska, Kalina (Hg.). Die Lust im Text: Eros in Sprache und Literatur. Praesens: Wien, 2009, 335-350, hier: 339.

136 | A NDREA H ORVÁTH

Mit dem geplanten Artikel über Sexualität macht sie auf das Potential des Funktionierens der Sexualität aufmerksam und konfrontiert sich mit dem Bild der steigenden Sexualisierung der europäischen Öffentlichkeit. »[J]etzt muss ich schauen, dass ich ein paar Projekte in Gang bringe und dass wieder ein Geld aufs Konto kommt, das mit dem Sex, das ist das Sicherste, ich muss mir nur gut überlegen, wie ich es der Claudia verkaufe.« (33) Mit dem Aufstieg als Journalistin schafft der Text eine weitere Ebene des Sexuellen: der Text konstruiert neben Spaß, Vergnügen und Liebe einen neosexuellen Übergang zum Funktionellen und Symbolhaften des Sexuellen: »Sex wird da wirklich mit Geld gleichgesetzt, Sex darf nur haben, wer sich erhalten kann, da waren wir weiter, da gab es die Pille und eine Portion Gummis und da wurde nicht darüber geredet, das war schon netter, es ist wenigstens ein bisschen um Vergnügen gegangen.« (190) »Sex war immer das Ornament zu den Nullen auf den Konten.« (19) Darüber hinaus, so Köppert, entsteht die Möglichkeit, Sexualität in ihrer Funktion als selbsttechnologisches Instrumentarium auftreten zu lassen.36 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Sexualität in dem Roman über die Grenze ihres konventionellen diskursiven Rahmens des Erotischen und Pornographischen hinausgeht, sie wird im Hinblick auf ihre Funktion zum Gegensand des Literarischen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in Jessica, 30. ästhetische Strategien und Effekte entwickelt werden, die nicht nur das selbstkonstruierende Potential des Sexuellen repräsentieren, sondern auch durch die Dekonstruktion der Homogenität des weiblichen Subjekts die Vielseitigkeit der Weiblichkeit unterstreichen.

36 Köppert: 2012, 140.

III. Kulturelles Gedächtnis und Gender

Gender, Gedächtnis und Grenzräume in Reisetexten von Ida Hahn-Hahn und Ida von Düringsfeld E LISA M ÜLLER -A DAMS

»Sie reisen nach Kannibalien«1, zitiert Ida von Düringsfeld einen ihrer Zeitgenossen, als dieser von ihren Reiseplänen nach Dalmatien erfährt. Warum sie »ungemeinen Muth« (AD, I, 1) für die Reise benötige, ist sowohl der Autorin wie auch ihrem Lesepublikum der Reise-Skizzen (1857) klar: Eine Reise durch Dalmatien führt an die Grenzen Europas, in eine Region, in der Westen und Osten, Europa und Orient aufeinander treffen. Auch der zweite Reisebericht, der hier betrachtet werden soll, beschreibt Grenzen Europas: Ida Hahn-Hahns Orientalische Briefe (1844). Beide Texte entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts und markieren einen entscheidenden Punkt in der Entwicklung des Reiseberichts, nämlich ein verstärktes Interesse an den ›orientalischen‹ Regionen der Welt, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts steigert, so dass Peter J. Brenner für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Verschiebung des Interesses von England und den USA weg hin zum Orient beobachtet.2 Diese Verschiebung geht einher mit der »Erfindung Osteuropas«, wie Larry Wolff es 1

Düringsfeld, Ida von. 1857. Reise-Skizzen. Fünfter Band. Aus Dalmatien. Carl

2

Vgl. Brenner, Peter J. 1990. Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein

Bellmann’s Verlag: Prag, I,1. Im Folgenden zitiert: AD, Band, Seite. Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. De Gruyter: Tübingen, 540.

140 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

nennt, einer Ablösung der Nord-Süd Aufteilung von der West-OstAufteilung, die auch heute noch die mental map Europas bestimmt.3 Es soll in dieser Analyse der Reiseberichte um Grenzziehungen gehen. »Grenzen sind seit langem ein bevorzugtes Thema von Analysen«, meint Maria Todorova, »vor allem in Untersuchungen über Identitäten und deren ›Verortung‹. Grenzen sind eine naheliegende Wahl, weil hier, an den Rändern, die Unterscheidung und Entwirrung der Entitäten stattfindet.«4 Solche Grenzen betreffen natürlich zum einen das Verhältnis Europa und Nicht-Europa. Die Identität Europas wird, so argumentiert Michael Frank in seinem Buch Kulturelle Einflussangst im Rückgriff auf Jürgen Osterhammel, aus der Kontrasterfahrung des kolonialen Kontaktes konstruiert: Die Berufung auf eine gemeinsame Geschichte einerseits und die Abgrenzung vom nicht-europäischen Anderen andererseits produzieren so die Vorstellung von Europa als eines relativ einheitlichen kulturellen Raumes.5 Kulturelle Grenzziehungen finden auch innerhalb Europas statt. Das betrifft neben der Nation v.a. die Unterteilung Europas in Regionen, wie z.B. Norden und Süden, Osten und Westen, Mitteleuropa oder der Balkan. Diese und vergleichbare Regionalbezeichnungen, in denen geographische Regio-

3

Vgl. Wolff, Larry. 1994. Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford University Press: Stanford. Wolff bezeichnet die Erfindung Osteuropas als fortdauernden Prozess, dessen Beginn er in der (französischen) Aufklärung sieht: »Die Vorstellung von Osteuropa wurde im 18. Jahrhundert formuliert; die Bezeichnung Osteuropa fand im 19. Jahrhundert weite Verbreitung, und mit Anfang des 20. Jahrhunderts war dieser Terminus so geläufig, dass er als gegeben angenommen wurde.« Wolff, Larry. 2003. Die Erfindung Osteuropas. Von Voltaire bis Voldemort. In: Kaser, Karl/ Gramshammer-Hohl, Dagmar/Pichler, Dagmar und Robert (Hg.) 2003: Europa und die Grenzen im Kopf. (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11). Wieser: Klagenfurt, 21-34, hier: 22. (auch online unter: http://wwwg. uni-klu.ac.at/eeo/Wolff_Erfindung.pdf [Abgerufen am 15.03. 2014]).

4

Todorova, Maria. 2002: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 28, 470-492, hier: 474. Vgl. auch: Todorova, Maria. 1999. Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil. Primus-Verlag: Darmstadt.

5

Vgl. Frank, Michael C. 2006. Kulturelle Einflussangst: Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. transcript: Bielefeld, 26.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 141

nen als Geschichtsräume imaginiert werden, sind Teil der kognitiven Landkarte oder der mental map Europas. Mental maps bzw. mapping ist ein Begriff aus der Kognitionspsychologie, der in die kulturwissenschaftliche Raumforschung übernommen wurde; gemeint sind die »textlich und bildlich festgehaltene[n] Raumvorstellungen einer Gemeinschaft«6. Sie sind daher nicht als Raum-Realität, sondern »Produkt eines Diskurses über das Eigene und das Fremde«7 zu betrachten. Es geht also um den Beitrag der Literatur zur Vorstellung eines europäischen Erinnerungsraums und zur imaginativen Geographie Europas. In diesem Beitrag sollen die Texte daraufhin befragt werden, wie die europäischen Grenzräume in Südosteuropa narrativ inszeniert werden. Dabei soll es auch um die Funktion von Erinnerungsprozessen und um den Zusammenhang zwischen Raum- und Geschichtskonstruktionen in den Texten gehen. »Texte aller literarischen Gattungen und Genres [...] dienten und dienen als Medien des kollektiven Gedächtnis«8, schreibt Astrid Erll und erwähnt an anderer Stelle auch den Reisebericht als ein mögliches Genre, das erinnerungskulturelle Funktionen erfüllen kann und an der »Herausbildung kollektiver Identitäten und Geschichtsvorstellungen beteiligt«9 ist. Bei der Untersuchung von Reiseliteratur kann die Frage nach Inszenierungen des Zusammenhangs von Erinnerung und Identität«10 einen Anknüpfungspunkt zu gedächtnistheoretischen Überlegungen bieten. Die »Untersuchung fiktionaler Repräsentationen von Erinnerung und Identität [kann

6

Schenk, Frithjof Benjamin. 2002. Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 28, 493-514, hier: 495.

7

Ebd., 513.

8

Erll, Astrid. 2011. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Metzler: Stuttgart, Weimar, 173.

9

Erll, Astrid. 2004. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: dies. (Hg.). Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. De Gruyter: Berlin (= Media and Cultural Memory 2), 249-276, hier: 266.

10 Vgl. Neumann, Birgit. 2004. Literatur, Erinnerung, Identität, In: Erll: 2004, 149178, hier: 149.

142 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

dabei] Einblicke in kulturell vorherrschende Gedächtnis- und Identitätskonzepte, in stereotype Vorstellungen von Eigenem und Fremden, in Erinnerungswürdiges und Nicht-Sanktioniertes«11 ermöglichen. Mit der Frage nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremden in Identitätskonstruktionen, das Neumann hier anspricht, ist ein Kernthema der Reiseliteratur angesprochen, deren Merkmal ja gerade die »diskursive[...] und narrative[...] Verarbeitung und Inszenierung von Alterität«12 ist. Geht es in Reiseliteratur dabei v.a. um die Konstruktion von kultureller Identität, so geht dieser Prozess, wie Thorsten Päplow mit Blick auf die vielfach notierte Verwandtschaft zwischen autobiographischem Schreiben und Reiseliteratur beobachtet, nicht mit Erinnerungsprozessen einher, denn »auch vermeintlich vorgegebene kulturelle Bilder sind zumindest teilweise dem Prinzip und Prozess des Sich-Erinnerns unterworfen. Dies bedeutet, dass auch kulturelle Identität hergestellt werden muss, dass auch kulturelle Identität erfragt, gesucht und dialogisch verhandelt wird.«13

Eine Möglichkeit, die dieser Beitrag verfolgen möchte, Fragen nach Erinnerungsprozessen in der Reiseliteratur (und damit verbunden auch dem Beitrag von Reiseliteratur an der narrativen Inszenierung von Gedächtnis) nachzugehen, liegt dabei im räumlichen Aspekt von Gedächtnis, schließlich ist der Reisebericht, wie Ottmar Ette anmerkt, »jene Art des literarischen und wissenschaftlichen Schreibens, in dem sich das Schreiben seiner Raumbezogenheit, seiner Dynamik und seiner Bewegungsnotwendigkeit am deutlichsten bewusst ist.«14 Von der Reiseliteratur als ›Raumgattung‹ lässt sich eine Brücke schlagen zu Ansätzen, die die räumliche/topo-

11 Neumann: 2004, 165. 12 Bode, Christoph. 1994. Beyond/around/into one’s own. Reiseliteratur als Paradigma von Welt-Erfahrung. In: Poetica 26, 70-88, hier: 86. 13 Päplow, Thorsten. 2006. Identität und Heimat – Heinrich Bölls Irisches Tagebuch. In: Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice (Hg.). Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Iudicium: München, 49-59, hier: 52. 14 Ette, Ottmar. 2001. Literatur in Bewegung: Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist, 22.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 143

graphische Verfasstheit des Gedächtnisses betonen. Solche Überlegungen wären einzuordnen in die seit einigen Jahren mit dem Begriff des spatial turn15 bezeichnete kulturwissenschaftliche Wende zum Raum. Danach werden Räume als nicht mehr nur geographische Orte, sondern auch und viel mehr als kulturelle Größen verstanden.16 Aus diesen Ansätzen ergeben sich Perspektiven für die Untersuchung von Literatur, die auf die raumrepräsentierende und raumherstellende Funktion von literarischen Texten abzielt: Welche Räume werden auf welche Art und Weise in Literatur herund dargestellt? Welchen Anteil hat Literatur (und andere Medien) an Raumvorstellungen?17 Es geht also um den Beitrag der Literatur an dem, was Edward Said in Orientalism »imaginative Geographie«18 nennt, womit er die Erfindung und Konstruktion eines geographischen Raums – des ›Orients‹ – bezeichnet. Der Begriff der Erfindung oder Konstruktion ist dabei, wie Rupp feststellt, bei Said das verbindende Element zwischen Raum und Gedächtnis.19 Imaginative Geographie erscheint bei Said als »Akt der ›Erfindung‹, in dem Raum und Gedächtnispraktiken zusammenlaufen«20. Das Konzept der imaginative geography argumentiert somit für eine Denaturalisierung des Raums, in der die Vorstellung eines Raums eben nicht an dessen materiellen Gegebenheiten gebunden ist.21

15 Vgl. Bachmann-Medick, Doris. 20104. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg (= rowohlts enzyklopädie 55675). 16 Bachmann-Medick: 2010, 298. 17 Siehe hierzu auch: Sasse, Sylvia. 2009. Literaturwissenschaft. In: Günzel, Stephan (Hg.). Raumwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 225-241. 18 Said, Edward. 2009. Orientalismus. [Aus dem Englischen von Hans Günther Holl]. S. Fischer: Frankfurt a.M. 19 Vgl. Rupp, Jan. 2009: Erinnerungsräume in der Erzählliteratur. In: Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.). Raum und Bewegung in der Literatur: die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. transcript: Bielefeld, 181-194, hier: 187. 20 Neumann, Birgit. 2009. Imaginative Geographie in kolonialer und postkolonialer Literatur. In: Hallet/Neumann: 2009, 115-138, hier: 118. 21 Auch, oder vielleicht gerade, für kulturelle Erinnerungsräume, gelte bei Said, so Jan Rupp, das »Primat solcher ›Erfindungen‹ gegenüber der tatsächlichen Geschichtsträchtigkeit von Orten und ihrer durch physische Materialität verbürgten

144 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

Said geht es um die Grenzziehungen zwischen Westen und Osten, um die Konstruktion von »Orient« als dem Abendland gegenübergestelltes Anderes, über das sich der Westen seiner Identität versichert. Die imaginative geography leistet in diesem Prozess der kulturellen Grenzziehung einen entscheidenden Dienst, wie Michael Frank bemerkt: »[D]as Andere [wird] geographisch konzipiert – und distanziert. Man kann von einer weit über einfache Grenzvorstellungen hinaus verräumlichten Differenzkonzeption sprechen.«22 Vergleichbar zu Saids Verbindung von invention, memory, place23 argumentiert Todorova, die für ihr Konzept des Balkanismus den Begriff des »historischen Erbes«, als einen Räumlichkeit und Zeitlichkeit und damit die historischen Traditionen, die Raumvorstellungen prägen, einschließenden Begriff, vorschlägt.24 Aus einer gender-orientierten Perspektive sind diese Fragen durch die Kategorie Geschlecht zu ergänzen oder zu erweitern. Grundlage ist die Einsicht, dass, wie Inge Stephan anmerkt, »Erinnern und Vergessen geschlechtsspezifisch gesteuert werden«25, und »nicht nur, was vergessen oder was erinnert wird, geschlechtsspezifisch bestimmt [ist]. Differenzen bestehen auch zwischen den Erinnerungsformen von Frauen und Männern.«26 Ebenso gilt, dass Räume nicht geschlechtsneutral, sondern eben

Gedächtnisrelevanz. [...] erst die Produktion ›ideellen‹ Raumes ermöglicht ihren Status als lieux de memoire und stellt ihn sicher.« Rupp: 2009, 187. 22 Frank: 2006, 39. 23 So der Titel eines »für jedweden spatial turn wegweisenden Essays« (Rupp: 2009, 187) von Edward Said. Said, Edward. 2000: Invention, Memory, and Place. In: Critical Inquiry 26.2, 175-192. 24 Vgl. Todorova: 2002, 475. 25 Stephan, Inge. 2006: Gender, Geschlecht und Theorie. In: von Braun, Christina/dies. (Hg.). Gender Studies. Eine Einführung. Metzler: Stuttgart, Weimar, 52-90, hier: 79. 26 Stephan: 2006, 79. Kulturelles Erinnern ist in mehrfacher Weise durch die Geschlechterdifferenz geprägt: Dies betrifft die Selektionsprozesse und Formen kultureller Erinnerung, außerdem kann »[k]ulturelles Erinnern [...] bestehende Geschlechterverhältnissen legitimieren und delegitimieren.« Erll, Astrid/Seibel, Klaudia. 2004. Gattungen, Formtraditionen und kulturelles Gedächtnis. In: Nünning, Vera und Ansgar. Erzähltextanalyse und Gender Studies. Metzler: Stuttgart, 180-208, hier: 185.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 145

gendered spaces sind. Natascha Würzbach beschreibt in ihren Überlegungen zu einer feministisch-narratologischen Analyse des erzählten Raumes als »Ausdruck der Geschlechterordnung«27den Zusammenhang zwischen dem Konstruktionscharakter des Raumes und der Geschlechterordnung auch mit Blick auf Reiseberichte, denn hier werden »die Geschlechter gewissermaßen zu Lokalterminen zitiert, um über den Stand der Geschlechterproblematik Auskunft zu geben, kulturelle Entwicklungen zu bestätigen oder zu kritisieren.«28 Raumpraktiken und Praxen kulturellen Erinnerns sind also in einem engen wechselseitigen Verhältnis und in ihrer gegenseitigen Beeinflussung zu sehen.29 Damit wäre die Kategorie Gender eben auch in das Konzept der imaginativen geography aufzunehmen und danach zu fragen, welche Rolle Geschlecht für die Grenzziehungen, die die Texte unternehmen, spielt oder umgekehrt welche Rolle die Grenzziehungen für die Geschlechterkonstruktionen der Texte spielen. Auch in dieser Hinsicht sollen die Texte auf ihre jeweiligen Strategien hin befragt werden.

G RENZEN I: W O BEGINNT DER O RIENT ? – G RÄFIN H AHN -H AHN BLICKT DIE D ONAU ENTLANG 30 Neben den um weibliche Hauptfiguren und deren Konflikte zwischen Konvention und Ideal kreisenden Romanen sind Reiseberichte in Ida HahnHahns literarischem Werk (zumindest vor ihrer Konversion zum Katholizismus 1851) die zweite wichtige Werkgruppe. Hahn-Hahn verfasste zwischen 1840 und 1848 Berichte über ihre Reisen in Italien, Spanien, Frank-

27 Würzbach, Natascha. 2001. Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung. In: Helbig, Jörg (Hg.). Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Winter, 105-129. 28 Würzbach, Natascha. 2004. Raumdarstellung. In: Nünning, Vera und Ansgar: 2004, 49-71, hier: 49. 29 Vgl. Erll/Seibel: 2004, 185. 30 In Anlehnung an den Titel eines Roman von Péter Esterházy: Hahn‐Hahn grófnő pillantása, das heißt »der Blick der Gräfin Hahn-Hahn« (Titel der deutschen Übersetzung: Donau abwärts).

146 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

reich, Großbritannien und Skandinavien und damit durch, an und über die Grenzen Europas. Ihr populärster, auch über die Grenzen Deutschlands hinaus erfolgreicher Reisebericht sind jedoch die Orientalischen Briefe, in denen sie in drei Bänden in Briefen an Familienmitglieder und eine Freundin von ihrer 1843 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Adolf von Bystram, unternommen Reise, die sie von Wien nach Konstantinopel, Beirut, Damaskus, Jerusalem, Kairo und Assuan und zurück nach Griechenland führt, berichtet. Seit der ›Wiederentdeckung‹ Ida Hahn-Hahns als Emanzipationsautorin des Vormärz in den 1970er und 80er Jahren31 hat sich die Forschung auch recht intensiv mit den Orientalischen Briefen beschäftigt.32 Wie auch für Hahn-Hahns Romanwerk wurde dabei der zunächst in der Forschung betonte emanzipatorische Aspekt relativiert. Seit den 1990er Jahren wurde dabei v.a. auch auf den kolonialistischen Blickwinkel Hahn-Hahns fokussiert und »Xenophobie, Antisemitismus, Rassismus und Kolonialfanta-

31 Vgl. Möhrmann, Renate. 1977. Die andere Frau. Emanzipationsansätze deutscher Schriftstellerinnen im Vorfeld der Achtundvierziger-Revolution. Metzler: Stuttgart; Sagarra, Eda. 1988. Gegen den Zeit- und Revolutionsgeist. In: Brinker-Gabler, Gisela (Hg.). Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2. C.H. Beck : München, 107-119. 32 Z.B.: Ohnesorg. Stefanie. 1996. Mit Kompaß, Kutsche und Kamel: (Rück-)Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Literatur. Röhrig Universitätsverlag: St. Ingbert; Wiedemann, Kerstin. 2007. L’orient aux yeux des femmes: la poétique du regard dans les »Lettres orientales« (1844) de la Comtesse Ida Hahn-Hahn. In: Alexandre, Philippe (Hg.): L’Orient dans la culture allemande aux XVIIIe et XIXe siècles. Actes du colloque organisé par le Centre d’Etudes Germaniques et Scandinaves (LIRA) de l’Univ. Nancy 2 (9 et 10 décembre 2004), Presses Univ. de Nancy: Nancy, 73-83; O’Brien, Traci. 2008. A »Daughter of the Occident« Travels to the »Orient«: Ida von Hahn-Hahns The Countess Faustina and Letters from the Orient. In: Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture, 24, 26-48; Brisson, Ulrike. 2009. Ida Hahn-Hahns Orientbild zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. In: Ujma, Christina (Hg.). Wege in die Moderne. Reiseliteratur von Schriftstellerinnen und Schriftstellern des Vormärz. Aisthesis: Bielefeld 243-254; Stamm, Ulrike. 2010. Der Orient der Frauen Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert. Böhlau: Köln, Weimar, Wien.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 147

sien«33 der Orientalischen Briefe aufgezeigt. Daran anschließend zielt z.B. der Beitrag Kathrin Maurers im Zuge einer Weiterentwicklung des Said’schen Orientalismus-Konzepts bzw. dessen Anwendung auf den deutschen Kontext auf die Widersprüchlichkeiten in Hahn-Hahns Text, in dem »eurozentristische Machtphantasien einerseits und [der] Verlust derselben andererseits«34 formuliert seien. »Wo liegt der Orient?«, fragt Andrea Polaschegg in einem Kapitel ihrer Studie Der andere Orientalismus.35 Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn der »Meta-Kulturraum« Orient ist eine Sinneinheit, deren geographische Verortung gleichzeitig umfassend und veränderlich ist.36 Im 18. und 19. Jahrhundert wird »die Demarkationslinie für die beiden Bereiche [...][Orient/Okzident] in den Reisebeschreibungen sukzessiv von Westen nach Osten verlagert«37, wie Horst Fassel beobachtet hat. »Wo beginnt der Orient?« lässt sich deshalb mit Blick auf Hahn-Hahns Donaureise fragen. »Da bin ich! Herzensmama, da bin ich! heute morgen um eilf Uhr fiel unser Anker im goldenen Horn.«38 Mit diesem Ausruf beginnt Hahn-Hahn die Schilderung ihrer Ankunft in Konstantinopel und damit im Orient. »Der Ort der Ankunft ist […] herausgehoben als ein Ort der Selbstvergewisse-

33 Maurer, Kathrin. 2010. Der panoramatische Blick auf das Andere in Ida HahnHahns Reisebericht Orientalische Briefe (1844). In: The German Quarterly, 83, 153-171, hier: 155. Vgl. auch Ohnesorg: 1996 und O’Brien: 2008. 34 Maurer: 2010, 167. Maurer erläutert dies an der Darstellungstechnik des Panoramas und dessen »komplexen Bildlogiken«. Hahn-Hahns panoramatischer Blick auf den Orient inszeniere europäische Machphantasien ebenso wie »das Moment des Schwindels« (Maurer: 2010, 160) und der Orientierungslosigkeit. 35 Polaschegg, Andrea. 2005. Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. De Gruyter: Berlin/New York. 36 Vgl. Polaschegg: 2005, 63ff. 37 Fassel, Horst. 1979. Südosteuropa und der Orient-Topos der deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. In: Revue des études sud-est européennes 7, 345358, hier: 349. »Diese topographische Verschiebung« reflektiere zwar die »hypothetische Okzidentalisierung« Südosteuropas, werde aber dadurch relativiert, dass »auch weiterhin die südosteuropäischen Länder als ›Zwischenwelten‹ betrachtet werden«. Fassel: 1979, 349. 38 Hahn-Hahn, Ida. 1844. Orientalische Briefe. Verlag von Alexander Duncker: Berlin, I, 116. Im Folgenden zitiert: OB, Band, Seite.

148 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

rung«39, schreibt Ette zu den Orten des Reiseberichts. Zentral für die Ankunft in den Orientalischen Briefen ist die Inszenierung der Grenzüberschreitung von Westen nach Osten. Diese vollzieht sich in der Gegenwart – das Dampfschiff »Ferdinand«, auf dem Hahn-Hahn reist, ist nun, so scheint es, fest in der Hand der türkischen und jüdischen Passagiere, deren Alltagsgebräuche (Rauchen und Kaffeetrinken) wie auch religiöse Praktiken HahnHahn auf dem Deck beobachtet. Nun ist alles »neu« (die Physiognomien, die Kleidung), also fremd, nicht mehr europäisch. Die Grenzüberschreitung vollzieht sich aber auch im Geschichtlichen, ist doch der Bosporus »eine von den Lieblingsstätten der Weltgeschichte; wo sie in vergängliches Material unvergängliche Erinnerungen gräbt« (OB, I, 124). Diese Erinnerungen sind in die Landschaft eingeschrieben, die Landschaft wird so zum Geschichtsraum und der Reisenden treten »bestimmte Gestalten und Zeiten [...] von diesen Bergen, aus diesen Wassern entgegen.« (OB, I, 125) Vom antiken Medea-Mythos über die Kreuzzüge bis zu Mohammed reicht das Geschichtspanorama, das Hahn-Hahn angesichts der Landschaft entwirft, »[W]elch ein Gewühl!«, stellt sie angesichts der »Heere, Flotten, Völker! Griechen und Perser, Genueser und Osmanen, Alle im Kampf mit einander, Alle ringend um die Güter des Lebens, um die Herrschaft der Welt.« (OB, I, 125) fest. Der Bosporus wird damit zu einem lieux de memoire, in dem sich Geschichte – und zwar Menschheitsgeschichte – manifestiert, denn hier »walten und weben geheimnisvolle Mächte um alle ungewöhnlichen Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit« (OB, I, 124). Mit dem räumlichen Übergang vom Okzident zum Orient durchläuft die Reisende also quasi wesentliche Stationen der Weltgeschichte, eine Geschichte, die zwar einerseits als dem Westen und Osten gemeinsam und von Orient und Okzident geteilt, andererseits aber auch als Geschichte des Konflikts und des Kampfs imaginiert wird. So endet dieser Brief auch mit einem Streitgespräch zwischen Okzident und Orient, in dem jede Seite die Vorherrschhaft über die jeweils andere beansprucht: »Orient und Okzident stehen sich beim ersten Schritt nicht friedlich und freundlich gegenüber. Sie scheinen sich zu messen, wer der Herr und Herrscher sein solle. Der Orient spricht. ›Du wärest tot ohne mich! das Prinzip alles Lebens: das Licht – der

39 Ette: 2001, 58.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 149

Keim jeder Gesittung: die Religionen gehen von mir aus, wie der Sonnenstrahl.‹ Und der Occident spricht: ›Ich aber habe das Prinzip verarbeitet, den Keim zur Blüte gebracht. Du bist todt wie die Blume, welche dahinwelkt nachdem sie ihren Samen gestreut hat. Ich lebe, denn in mir ist Bewegung.‹« (OB, I, 126)

Zitiert werden hier stereotype Vorstellungen, die den Orientalismus kennzeichnen: Der Orient als Ursprung, aber auch als statischer, geschichtsloser Raum, in dem keine Entwicklung stattfindet, während der Okzident mit Fortschritt assoziiert wird. Maurer, die die Wahrnehmungsweisen in HahnHahns Reisebericht untersucht, sieht in der hier vorgenommenen »panoramatische[n] Konstruktion von Identität« den Versuch »die Kulturräume des Orients und Okzidents in einem allumfassenden Geschichtspanorama zu vereinen.«40 Tatsächlich endet das Streitgespräch zwischen Westen und Osten versöhnlich: »Allmälig gleicht die begütigende Natur die Feindseligkeit aus« (OB, I, 126), jedoch bleibt der Bosporus ein Marker für kulturelle Differenz, Orient und Okzident werden als dichotome Räume beschrieben. Mit der Berufung auf den sich in der Natur manifestierenden allmächtigen Gott wird Geschichte hier zwar als Universalgeschichte formuliert, jedoch ist dies, wie Ulrike Stamm aufzeigt, ein konfrontatives Modell, in dem das geographische Aufeinandertreffen zweier Räume als Konflikt der Kulturen imaginiert wird.41 Die Ankunftsszene im Bosporus imaginiert die Grenze zwischen Orient und Okzident als – wenn auch auf den Ruinen einer gemeinsamen Vergangenheit aufliegende – Linie mit klarer Trennung von Westen und Osten, Eigenem und Fremden. Jedoch beginnt Hahn-Hahns Reise in den Orient schon früher, beginnt auch das ›Orientalische‹ schon früher, nämlich im ›europäischen‹ Teil der Reise: Die ersten vier Briefe sind dem »Unterwegs zum Orient«42 gewidmet, das in Hahn-Hahn Fall durch Schlesien nach Wien und von Pest aus dann die Donau entlang führt. Diese ersten Briefe

40 Maurer: 2010, 154. 41 Vgl. Stamm: 2010, 200. 42 Vgl. Hahn-Hahn, Ida. 2007. Unterwegs zum Orient: Ida Gräfin Hahn-Hahns Schlesienfahrt 1843; ein Reisebericht. Herausgegeben von Beate BorowkaClausberg. Bergstadtverl. Korn: Freiburg i.Br.

150 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

wurden bisher in der Forschung weniger beachtet.43 Für die Frage nach den Grenzziehungen scheint aber gerade dieser Prolog zur Orientreise von besonderem Interesse, lässt sich doch hier nachvollziehen, was Michael Frank für die Dynamik von Grenzen beobachtet: »Die imaginative Geographie lässt Zwischenstufen der Nähe und der Ferne zu, Grade der Alterität. Die Bewegung im Raum, die die Reisenden vollziehen, ist keine einmalige Überschreitung einer geographischen/kulturellen Grenze, sondern eine graduelle Entfernung von dem, was als der eigene ›Kulturraum‹ vorgestellt wird [...].«44

Hahn-Hahn bezeichnet diese Briefe als »vor-orientalische[...]« und als »Vorspiel vor dem eigentlichen Drama« (OB, I, 5) und hofft: »Sie werden hoffentlich fremdländisch genug« (OB, I, 5) sein. Wien ist bei Hahn-Hahn ganz im Sinne der zeitgenössischen mentalen Landkarte Europas als Tor zum Orient geschildert: Hahn-Hahn unternimmt hier, an der letzten Station im »civilisirten Europa« (OB, I, 54), ihre letzten praktischen Vorbereitungen. Hier sieht sie aber auch bei einem geselligen Abend im Haus eines Sammlers und Reisenden »wie durch einen Zauberspiegel ein Stückchen Orient« und zwar, wie sie betont, »in der Wirklichkeit« (OB, I, 59). Die Sammlung des Baron Hügel erschafft mitten in Wien ein Bild des Orients »wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht […]; und doppelt feenhaft erschien es neben all dem Comfort europäischer Civilisation und Bildung.« (OB, I, 60f.) Es handelt sich also sehr wohl, trotz der Betonung auf Wirklichkeit, um einen inszenierten Orient. Aber an dieser »wunder- und sagenreichen Welt« (OB, I, 61), an diesem »anmuthigen Eindruck« (OB, I, 61), so wird deutlich, wird sich der Orient, den HahnHahn zu bereisen unternimmt, messen müssen. Wenn Wien das Tor zum Orient ist, dann ist die Donau der Grenzraum, der Osten und Westen verbindet: Das Gefühl der Fremdheit steigert sich

43 Auch in der derzeit aktuellsten, gekürzten Ausgabe der Orientalischen Briefe (Promedia: Wien 1986) fehlen, bis auf den Brief über Wien, diese Teile. Der Schlesien-Teil wurde jedoch von Beate Borowka-Clausberg separat herausgegeben (Hahn-Hahn: 2007). Ein kurzen Hinweis auf die Donaureise findet sich bei Fassel: 1979, 352. 44 Frank: 2006, 39.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 151

dabei: Schon in Ungarn fühlt Hahn-Hahn sich von der Zivilisation entfernt, Stadtbild, Kleidung, Gebräuche: »[U]eberhaupt kommt mir Alles hier schon sehr südlich vor.« (OB, I, 71). Assoziiert sie hier die wahrgenommene Fremdheit mit dem europäischen Süden, kündigt sich in ihrer Beschreibung der Landbevölkerung schon der kolonialistische Blick auf NichtEuropa an: »mit graden Nasen und scharfen Augenknochen«, ihrem »schwarze[n], zuweilen krause[n] Haar, sehen [die Menschen] abscheulich aus« (OB, I, 72), die Kinder kommen ihr gar »wie kleine wilde Thiere« (OB, I, 72) vor. Später, von der Donau aus, wird sie noch einmal Ungarn mit dem Süden, genauer gesagt mit Sizilien, vergleichen, die »Physiognomie« beider Länder zeichnet sich durch »Vernachlässigung durch Menschenhand« (OB, I, 82) aus. Unkultiviertheit und Ödnis, kurz: »Wildniß« (OB, I, 83), kennzeichnen den Uferabschnitt. Auch hier mischen sich stereotype Vorstellungen des Südlichen mit orientalischen Motiven: die herrschaftlichen Anwesen des Adels, von denen Hahn-Hahn weiß, die sie aber vom Schiff aus nicht sehen kann, stellt sie sich als »Oasen in der Wüste« (OB, I, 82) vor. Auf ihrer weiteren Reise auf der Donau ›orientalisiert‹ Hahn-Hahn dann mehr und mehr Landschaft, Menschen, auch das Klima. Differenziert werden die bereisten Länder an der Donau dann v.a. nach ihrem Grad an ›Orientalischem‹. Die Perspektive vom Schiff auf der Donau ist dabei von Bedeutung. Die Donau wird in diesen Briefen als transitorischer Raum geschildert. Vergleichbar mit der zeitgenössischen Personalisierung des Vater Rhein und seiner Funktionalisierung im patriotischen Diskurs, unternimmt Hahn-Hahn eine Personalisierung der Donau als Herrscherin Europas. Zu dieser wird sie durch »eine recht merkwürdige Carriere, welche sie macht, als ein kleines Schwabenmädchen anzufangen und als eine majestätische Königin aufzuhören, um deren Nachbarschaft die mächtigsten Herrscher sich streiten« (OB, I, 80). Der Grenzraum der Donaureise ist also ein dynamischer Raum (die Donau selbst durchlebt ja eine Entwicklung, hat einen ›Lebenslauf‹), der durch Bewegung (Bewegung des Flusses, Fortbewegung des Dampfschiffes, dieses neuen und modernen Verkehrsmittels) gekennzeichnet ist. Die Reisebewegung auf dem Fluss von Westen nach Osten ist dabei auch eine Reise in der Zeit. Am Flussufer entfaltet sich wiederum ein Panorama der Geschichte Ungarns und der Europas, monumentaler und breiter noch als das, was Hahn-Hahn später im Bosporus abruft:

152 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

»Ja, von blutigen wilden Schlachten könnte die Donau viel erzählen, aus allen Zeiten, von allen Völkern. Hier zogen die römischen Cohorten, ja die Kaiser selbst gegen die alten unbezwinglichen germanischen Stämme. Hier wälzten die Hunnen ihre wilden Horden wie Raubthiere gegen das Abendland [...]« (OB, I, 85)

Mehrere Seiten umfasst dieses Geschichtspanorama an der Donau, das als ständige Bewegung von »Menschenströme[n]« (OB, I, 86) und Armeen, »Volksbewegungen« (OB, I, 86), Kreuzzügen und Invasionen erscheint. So ist also nicht erst der Bosporus, sondern sind auch die Länder Südosteuropas an der Donau Raum der (konflikthaften) Begegnung mit orientalischer Geschichte und Kultur. Damit folgt Hahn-Hahn dem zeitgenössischen Topos von Südosteuropa als orientalischer Region – erlebt allerdings wird dieser ›europäische Orient‹ nur im Vorbeifahren, es sind recht flüchtige Blicke und Eindrücke, die Hahn-Hahn schildert. Tiefe gewinnt die Imagination der Donaulandschaft durch den Blick in die Vergangenheit. Es ist eine Geschichte des Konflikts, aber – was den Orient angeht – auch des Niedergangs. Hatte die Vergangenheit noch heroische Größe, empfindet die Reisende in der Gegenwart nur noch »Mitleid mit dem armen Muselman, der durchaus Europäer werden soll, und doch nicht den europäische Nerv dazu hat«. (OB,I, 88) Raum- und Geschichtskonstruktion, imaginative Geographie und imaginative Geschichte tragen zu einer Essentialisierung des Anderen bei. Hahn-Hahns Donaureise ließe sich danach vielleicht auch mit dem Begriff der Kontaktzone beschreiben, ein Begriff, den Mary Louise Pratt für koloniale Kulturbegegnung geprägt hat.45 Bei aller Vorsicht, koloniale Verhältnisse auf Europa zu übertragen, lässt sich doch in Hahn-Hahns Konstruktion des europäischen Grenzraums Ähnliches beobachten. Die Kulturbegegnung mit Südosteuropa wird so als eine dem kolonialen Kontakt vergleichbare erkennbar.

45 Vgl: Pratt, Mary Louise. 2008. Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. Second Edition. Routledge: New York.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 153

G RENZEN II: I DA VON D ÜRINGSFELD UND DAS RAGUSÄISCHE D URCHEINANDER Mit Dalmatien kommt in Ida von Düringsfelds Reisebericht (1857) eine weitere europäische Grenzregion in den Blick. Dalmatien galt spätestens seit Alberto Fortis Viaggio in Dalmazia (1774) als Schnittpunkt »sich überkreuzende[r] und überlappende[r] Bilder und Vorstellungen vom mediterranen Süden und […] slawischen Osteuropa«46. Von Düringsfelds Reisebericht unterscheidet sich von Hahn-Hahns in Ton, Struktur, auch was die Motivation der Reise angeht. Während HahnHahn ihre Autonomie als Reisende betont und ihren Begleiter Bystram fast verschweigt, ist von Düringsfelds Reisebericht ein gemeinschaftliches Projekt mit ihrem Ehemann, dem Sprachforscher Otto von ReinsbergDüringsfeld.47 Das gemeinsame Projekt spiegelt sich auch in der Struktur des Textes wieder: Jeder der drei Bände ist mit einem umfangreichen Anmerkungsteil versehen, dessen Autor Otto von Reinsberg ist. So ist die Reise nicht nur ein Familienunternehmen, auch die Reisemotivation erklärt sich aus dem gemeinsamen Projekt: Nicht zum Vergnügen, für die Wissenschaft reist von Düringsfeld. Sie will »Volkspoesie! noch ungedruckte Volkspoesie! das war meine unaufhörliche Bitte in Dalmatien!« (AD, I, 64). Dieses Ziel betreibt sie mit großem Engagement, die gefundenen Lieder und ihre Übersetzungen fügt sie in ihre Reiseskizzen ein. Bereits die Zeitgenossen lobten ihre Leistung als Übersetzerin und auch in der For-

46 Wolff, Larry. 2007. Dalmatinische und italienische Reisen: Das Paradies der mediterranen Rückständigkeit. In: Schenk, Frithjof Benjamin/Winkler, Martina (Hg.). Der Süden: Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion, Campus Verlag: Frankfurt a.M., 207-228, hier: 208. 47 Zu Leben und Werk Ida von Düringsfelds vgl. Arndt, Margarete. 1983: Ida von Düringsfeld. Eine schlesische Dichterin des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 24, 279-298. Zum Reisebericht Aus Dalmatien vgl. z.B.: Gajdis, Anna. 2011. »Auf den Inseln italienisch-lebhafter Charakter, auf dem Gebirge orientalische Ruhe«. Ida von Düringsfelds Aus Dalmatien (1857). In: Czarnecka, Mirosława/Ebert, Christa/ Szewczyk, Grażyna Barbara (Hg.). Der weibliche Blick auf den Orient: Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich. Lang: Bern, New York, 83-90.

154 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

schung wird von Düringsfeld neben der Schriftstellerin Talvj (Therese von Jakob) als wichtigste Kulturvermittlerin slawischer Poesie des 19. Jahrhunderts gesehen.48 Auch in der Suche nach Volkspoesie folgt von Düringsfeld der Bestimmung Dalmatiens als Ort ursprünglicher Poesie, wie es schon bei Fortis erscheint, der nach Dalmatien reist, um dort in der Folklore ein Äquivalent zu Macphersons Poems of Ossian zu finden.49 Das »jetzige Dalmatien«, glaubt von Düringsfeld auch noch 1857, sei eine »ebenso reiche Fundgrube [für die Literatur] wie das frühere Schottland« (AD, I, 64), biete es doch alles, was die literarische Imagination (und sie denkt hier bezeichnenderweise an die historischen Romane Scotts und damit an das erfolgreiche Modell inszenierter Geschichte) brauche: »Hochland und Niederland, zweierlei Nationalitäten, zweierlei Religionen, Patriarchen-Häuslichkeit, Blutfeindschaft, Rache, Räuberei, Volkspoesie.« (AD, I, 64) Aus diesem ethnographischen und literarischen Interesse ergibt sich dann auch die Darstellungsweise des Reiseberichts, der als Skizzensammlung konzipiert ist: Verweise auf historische Ereignisse und Daten, die im Reisebericht häufig Authentizität und Sachkenntnis verbürgen sollen, sind fast ganz in den Anmerkungsteil verbannt, für den Ehemann Otto verantwortlich zeichnet. Das Skizzenhafte ist aber auch eine Reaktion auf die oder eine Konsequenz der Unmöglichkeit, ein Land wie Dalmatien zu erfassen, wie von Düringsfeld im Vorwort erklärt: geographisch ist das Land zwar überschaubar, denn »Dalmatien ist klein.« (AD, I, I), doch von einem Ende zum anderen zu fahren, reiche nicht, es kennenzulernen. »[G]enau achtzehn Monate« (AD, I, II) sei sie in Dalmatien gewesen und damit deutlich länger als die meisten Autoren anderer Reiseberichte, »beinahe vier volle Jahre« und eine komplette Überarbeitung braucht von Düringsfeld, um den Reisebericht zu schreiben: »Der Stoff war zu massenhaft da« (AD,

48 Vgl. Himstedt-Vaid, Petra. (2006). Vermittlerin slawischer Volkspoesie in Deutschland: Ida von Düringsfeld. In: Zeitschrift für Balkanologie 42, 79-92 und Mojašević, Miljan. 1957. Ida von Düringsfelds literarische Beziehungen zu den Südslawen. In: Die Welt der Slawen, II, 302-313. 49 Vgl. Zeman, Mirna. 2006. Reisen auf den Spuren illyrischer Barden: Gemeinplätze des literarischen Morlakismus. In: Ecker, Gisela/Röhl, Susanne (Hg.). In Spuren reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur. LIT: Berlin, 125-144, hier: 127.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 155

I, VI). Am Ende ist die oben beschriebene Auf- und Arbeitsteilung in Skizzen und Anmerkungen die Lösung, das Ergebnis ist »kein erschöpfendes Werk über Dalmatien, doch […] in Bezug auf Geschichte, Literatur und Leben das ausführlichste, welches bisher geschrieben wurde.« (AD, I, VIII) Dalmatien ist schwer oder gar unmöglich zu erfassen, weil es sich nicht eindeutig zuordnen lässt: »Kein Land ist so leicht und so schwer kennen zu lernen, wie Dalmatien« (AD, I, II). Was ein oberflächlicher Blick auf die Landschaft und auch die Geschichte Dalmatiens verdeckt, zeigt sich bei näherem Hinsehen: »welche unendliche Verschiedenheit, welche Gegensätze« (AD, I, IV). Dalmatien bezeichnet nicht nur die Grenze zwischen Orient und Okzident, es ist selbst von Kontrasten geprägt50: »Auf den Inseln italienisch-lebendiger Charakter, auf dem Gebirge orientalische Ruhe. An der Küste ist Alles gemischt, auf dem Gebirge Alles rein. An der Küste unaufhörliche Metamorphosen, im Innern eiserne Stabilität. [...]« (AD, I, IV) Dalmatien erscheint bei von Düringsfeld als anderer Ort, als Heterotopie, wie Grubišić-Pulišelić feststellt,51 und als von Europa, das gleichgesetzt wird mit Zivilisation, Fortschritt und Moderne, geschieden: »Alles, selbst das Alltäglichste, durch die Oertlichkeiten, in welche und die Art, auf welche es betrieben wird, seltsam und ungewöhnlich, wenigstens für uns, die wir an das Schul- und Maschinenwesen der Civilisation gewöhnt sind.« (AD, I, 43) Das Unizivilisierte kann dabei – damit steht von Düringsfelds Reisebericht in der Tradition der »ambivalenten Verortung Dalmatiens«52 – als »paradiesische Primitivität des mediterranen Südens«53 oder als relative »Rückständigkeit Osteuropas«54 wahrgenommen werden. Das Bild des Primitiven vertreten dabei insbesondere die Morlaken – so die zeitgenössische (Fremd-)Bezeichnung für die »Bewohner der Hinterlandsgebiete des

50 Vgl: Gajdis: 2011. 51 Grubišić-Pulišelić, Eldi. 2009. Dalmatien als Heterotopie in Ida von Düringsfelds Reiseskizzen. In: Kabić, Slavija/Lovrić, Goran (Hg.). Mobilität und Kontakt. Deutsche Sprache, Literatur und Kultur in ihrer Beziehung zum südosteuropäischen Raum. Sveućilište u Zadur = Universität Zadar: Zadar, 265-266. 52 Wolff: 2007, 211. 53 Ebd., 223. 54 Ebd.

156 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

Venezianischen Dalmatien«55 –, denen von Düringsfeld auch ein Kapitel widmet. Dieses schildert die Morlaken als wild, ursprünglich, unzivilisiert, als ein Volk, das »der Natur noch näher geblieben« (AD, I, 192) ist und steht so ganz im Zeichen des Morlakismus, der, ausgelöst durch Fortis’ Dalmatienreise und, in dessen Folge, Giustiniana Wynnes anthropologischen Roman56 Les Morlaques (1788), eine Modeerscheinung im Europa des 18. Jahrhunderts war, vergleichbar mit der Chinoiserie oder der Turkomanie. Der Morlakismus inszeniert die Morlaken als Vertreter primitiver und natürlicher Tugenden, vergleichbar den Bewohnern der Südseeinseln; da sie aber zu Europa gehören, übernehmen sie jedoch eher die Rolle des Fremden im Eigenen.57 Bei von Düringsfeld ist diese Tradition noch spürbar: Während sie die Morlaken einerseits bewundert, macht sie sie auch für den mangelnden Fortschritt, die fehlende Entwicklung Dalmatiens verantwortlich: »mit den Morlakken bleibt Dalmatien unbeweglich« (AD, I, 176), denn diese kennen »kein Morgen und kein Haushalten, nur das Heute und den Genuß« (AD, I, 184). Auch der Orient ist präsent im Text, es gibt zahlreiche Anmerkungen zur Rolle der Türken in der Vergangenheit, dalmatische Sitten werden mit denen des Orients verglichen oder als »orientalisch« bezeichnet.58 Jedoch wird der Topos des orientalischen Südostens durchaus auch ironisiert. Das Kapitel »Orient« weckt durch seinen Titel entsprechende Erwartungen, nur um diese sofort zu enttäuschen: »Der Orient. Palmen und Pyramiden, Zelte und Kamele, Sand und Sonnenglut! Nein, ein Verdeck und ein Rauchfang, Matrosen und Passagiere, starker Wind und hohes Meer – wir waren nicht in Alexandrien, in Cairo oder am Sinai, wir waren auf dem ›Orient‹, einem Dampfer.« (AD, II,164)

55 Zeman: 2006, 125. 56 Vgl. zu Wynne: Isenberg, Nancy: Introduzione. In: dies. (Hg): Giustiniana Wynne, Caro Memmo, mon cher frére. Elzeviro editore: Treviso, 2010, 13-33; sowie den Eintrag zu Wynne in der Datenbank WomenWriters: http://neww. huygens.knaw.nl (Zugriff am 25.3.2014). 57 Vgl: Zeman: 2006. 58 Vgl. Gajdis, 2011, 87.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 157

Der Titel erwiest sich damit als »Spiel«59 mit den Leseerwartungen und der mental map Europas. Der ›Orient‹ ist in diesem Kapitel nämlich kein geographisch zu verortendes Anderes, vielmehr erlebt die Autorin den Orient in der Lektüre, sie liest während der Schiffspassage nämlich ein Manuskript über die Türken in Curzola im 16. Jahrhundert. Die »Begegnung mit der orientalischen Kultur«, so stellt Anne Gajdis fest, steht »im Zeichen von [...] zeitlich entfernten Geschichten«60 und deren literarischen Vermittlung. Todorova erläutert, »daß der Balkanismus im Gegensatz zum Orientalismus, der eine vermeintliche Opposition beschreibt, eine Ambiguität beinhaltet«.61 Kennzeichnend für den Balkanismus, sei »stets das Bild einer Brücke«62, das Moment des »Dazwischensein«63. Ähnliches gilt auch für von Düringsfelds Dalmatien. Das ›Dazwischensein‹ zeigt sich in unterschiedlich starker Weise: Es gibt Städte, die »dem civilisierte Europa Complimente machen« (das betrifft v.a. die Verbesserung der Situation der Frauen, denn diese »lebten [bis dato] abgeschieden wie die Orientalinnen« (AD, III; 165)); anderswo ist das dalmatische Leben »gar zu verschieden von dem deutschen [..], [da] alle fremden Einflüsse noch mit ruhiger Kälte abgewehrt werden«. (AD, I, 208). Noch, könnte man hinzufügen, denn bei von Düringsfeld erscheint die ›Verwestlichung‹ Dalmatiens als eine Bewegung von der Vergangenheit in die Gegenwart. Die kulturelle Grenzziehungen der imaginativen Geographie sind nicht nur durch räumliche, sondern auch durch zeitliche Differenz charakterisiert: das Andere wird auf einer früheren Entwicklungsstufe angesetzt. Diese »Verweigerung der Gleichzeitigkeit«64, die auch schon bei Hahn-Hahn zu beobachten war, kennzeichnet auch den Grenzraum Dalmatien bei von Düringsfeld, die der Meinung ist, dass »Dalmatien zu germanisiren und dadurch zu modernisiren« (AD, III, 27) sei, wofür sie die Heirat zwischen Dalmatinerinnen und Österreichern für das geeignete Mittel hält. Neben dieser Vorstellung von Entwicklung von Osten nach Westen, gibt es im Text aber auch die Idee eines Raums der Mischung, den von Dü-

59 Ebd. 60 Ebd., 88. 61 Todorova: 2002, 471. 62 Ebd. 63 Ebd., 472. 64 Vgl: Frank: 2006, 40ff.

158 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

ringsfeld in Ragusa (Dubrovnik) beschreibt, eine Stadt, die aufgrund ihrer Geschichte »zugleich griechisch, römisch und slavisch, die Freundin des Halbmondes und des Kreuzes […] das illyrische Athen, das dalmatische Venedig« (AD, III, 1) ist. Hier zeigt sich eine Gleichzeitigkeit der Kulturen, die sich auch in der Sprache niederschlägt. In Ragusa spricht die Reisende »ragusäisch, das heißt italienisch, französisch, englisch, deutsch und slavisch durcheinander« (AD, III, 210). Hier findet die heimwehkranke Reisende Europa wieder und kehrt nach ihren Ausflügen in die antike, orientalische und christliche Vergangenheit in die Gegenwart zurück: »[Ragusa] ist modern. Obgleich eingewickelt in die Türkei, doch um Vieles europäischer als Dalmatien. So interessant mir auch eben das Uneuropäische an Dalmatien gewesen war, so gern fand ich darum doch in Ragusa Europa wieder.« (AD, III, 27)

Unter dieser modernen, europäischen Oberfläche brodelt aber auch in Ragusa immer das Andere, ›Orientalische‹, das plötzlich zum Ausbruch kommen kann. Daraus ergeben sich durchaus Freiheiten, und zwar interessanterweise für Frauen, wie von Düringsfeld angesichts einer Dame aus Ragusa anmerkt: »Nun, warum sollte sie nicht eigensinnig und seltsam sein oder scheinen? Eine Ragusäerin hat das Recht dazu, das vollkommene Recht. In diesem unbeschreiblichen Chaos von Kultur und Wildheit, Turbanen und Hüten, Modernität und Roccoco, welches ›ragusäisches Leben‹ heißt, wer soll da ohne Capricen, Einfälle und Sonderbarkeiten bleiben?« (AD, III, 85f.)

Dalmatien mag Züge einer Heterotopie, eines anderen Raums tragen,65 ist aber bei von Düringsfeld kein ›dritter Raum‹. Die Reisende jedenfalls bleibt im ragusäischen Durcheinander Beobachtende, Fremde. »Mir [...] wurde immer wunderlicher zu Muthe, je länger ich in Ragusa lebte. Ich fühlte mich wie in einem beklemmenden Traum. [...][daher] horchte ich manchmal auf meine eigene Stimme, um zu wissen, ob ich wache, ob ich, die Gesellschaft, ob Alles wirklich da sei. Ein Komet war erschienen [...] ich lachte, aber [...] der Komet machte mir selbst bange, denn – ich war in Ragusa.« (AD, III, 86f.)

65 Vgl. Grubišić-Pulišelić: 2009.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 159

So wird die Grenzüberschreitung nicht wie bei Hahn-Hahn zur Geste der Selbstbehauptung funktionalisiert, sondern im Gegenteil führt zu einer Verunsicherung von Identität. Heimisch wird die Reisende im Grenzraum nicht. Dies bleibt ihrer kleinen Tochter überlassen, die, in Ragusa geboren, dort auch mit nur sieben Monaten stirbt. In ihrer Trauer imaginiert die Mutter sich die Tochter als beheimatet im Grenzraum: »Sie war Ragusäerin gewesen« (AD, III, 224), »sie wollte lieber bleiben, wo sie war« (AD, III, 223).

U ND G ENDER ? – S TATT

EINES

F AZITS

Bleibt die Frage nach einer weibliche Perspektive in beiden Texten. In ihrer Studie über reisende Frauen im Balkan zitieren Allcock und Young, die übrigens auch von Düringsfelds Text als ersten touristischen Reisebericht erwähnen und sie so zur Begründerin einer Tradition weiblicher Balkanreisen erklären, einen britisches Zeitschriftenartikel von 1912, der auf die Frage »Why the Balkans attract Women?« antwortet, indem Westen und Osten als Räume der Geschlechterordnung erscheinen: »The Balkans are a gateway to the East, through which one catches one’s first glimpse of the languorous land [...] the East attracts women because it is feminine to the core, just as the West is essentially masculine.«66

Auch die beiden Reisenden um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich mit den Grenzräumen zwischen Osten und Westen als gendered spaces auseinander. In den hier besprochenen Ausschnitten der Orientalischen Briefe ist dies vielleicht weniger offensichtlich als in anderen Teilen des Texts, in denen sich Hahn-Hahn besonders weiblichen Lebenszusammenhängen und weiblichen Räumen widmet. In Hahn-Hahns Konstruktion des Orients

66 The Graphic, 26. Oktober 1912, zitiert nach: Allcock, John B./Young, Antonia. 2000. Editorial Introduction: Black Lambs and Grey Falcons: Outward and Inward Frontiers. In: dies. (Hg.). Black Lambs & Grey Falcons: Women Travellers in the Balkans. Berghahn Books: New York/Oxford, xxi-xxxiii. Vgl. dazu auch Himsted-Vaid: 2006, 88f.

160 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

spielt Geschlecht, darin sind sich die Forschungsbeiträge einig, eine zentrale Rolle,67 wobei es die Auseinandersetzung mit Weiblichkeit ist, die den Fokus bestimmt: Hahn-Hahns vielzitiertes »Bald nun werde ich wissen, wie der Orient sich im Auge der Tochter des Occidents abspiegelt« (OB, I, 56) bezeichnet nicht nur eine europäische, westliche, sondern eben auch eine weibliche Perspektive. Und diese Perspektive wird durchaus auch relevant, wenn es um die Funktion der Inszenierung von Grenzräumen geht. Denn die vorgeführten Grenzüberschreitungen sind Teil der Selbstpositionierung des reisenden weiblichen Ichs. Im Text werden die Grenzüberschreitungen in vielfacher Weise vorgeführt und sie gehören zu den »Gesten der Selbstbehauptung, die [...] ihren Reisebericht durchziehen«68, wie Ulrike Stamm anmerkt. Selbstbehauptung geschieht mehrfach auch durch Erinnerung: Dem »diffamierende[n] Blick«69 auf die orientalische Frau der Gegenwart steht die Berufung auf große Frauen der Geschichte gegenüber.70 Dies geschieht in ähnlich monumentaler Weise wie der Entwurf des Geschichtspanoramas, wenn z.B. Hahn-Hahn in Ägypten Cleopatra (»so schön, so geistvoll, so mächtig und so allmächtig« (OB, III, 127) bewundert und zugibt: »Sie hat

67 Vgl. z.B. Stamm: 2010, O’Brien: 2008. 68 Stamm: 2010, 167. 69 Ebd., 267. 70 Vgl. ebd., 167. Diese Spannung von Gegenwart und Vergangenheit wie auch die Begründung eines weiblichen europäischen Kulturraums hat Kerstin Wiedemann auch für die Frankreich-Reise Hahn-Hahns nachgewiesen: In Erinnerungen aus und an Frankreich unternimmt Hahn-Hahn eine chronologisch-historische Reise durch Frankreich. Hahn-Hahns Reiseroute, die v.a. durch die Provinz als dem ›alten‹ Frankreich und fast nur am Rand nach Paris (Symbol des modernen Frankreichs) führt, verbindet, wie Wiedemann zeigt, die Bewegung im Raum mit Prozessen des Erinnerns und des Vergessens. In Frankreich reflektiert Hahn-Hahn über erinnerungswürdige (Margaret von Valois), aber auch vergessenswürdige Frauen (Mme Cottin) und imaginiert so einen weiblichen Kulturraum. Vgl: Wiedemann, Kerstin. 2014. Redessiner un espace connu: Apories du passeur culturel dans Souvenirs de (la) France (Erinnerungen aus und an Frankreich, 1842) de la comtesse allemande Ida Hahn-Hahn (1805-1880). In: Passeurs de culture et transferts culturels (Colloque Université de Lorraine, Nancy, 5./6.10.2012). PUN: Nancy.

G ENDER , G EDÄCHTNIS UND G RENZRÄUME | 161

die Macht und die Herrschaft geübt, das will man doch immer gern« (OB, III, 127). Mit diesem durch Erinnerung begründeten »Phantasma vollständiger Souveränität«71 geht auch der Anspruch auf Aneignung und Beherrschung des Raumes einher, wählt sie doch mit Cleopatra eine historische Figur zum Vorbild, »who is in control of this space«.72 Immer wieder positioniert die Reisende sich im Text als die von Wissendurst getriebene, sich über Konventionen hinwegsetzende emanzipierte (westliche) Frau. Sie beansprucht für sich eine Ausnahmestellung und Vorreiterrolle, reist sie doch, wie sie betont, eben nicht in Spuren, sondern als erste deutsche Frau durch den Orient. Die Reisende als Pionierin – damit wird die Donau zur frontier, die sie erfolgreich überwindet. Bei von Düringsfeld ist eine etwas andere Strategie zu beobachten: Auch bei ihr spielt Geschlecht beständig eine Rolle, die Geschlechterordnung wird thematisiert und die Stellung der Frau zum Gradmesser des zivilisatorischen Fortschritts und damit zum Marker auf dem Feld zwischen Osten und Westen erklärt. Dies wird z.B. in ihrer Beschreibung der Morlaken deutlich, wo sie bemerkt: »[D]ie Frau ist bei den Morlacchen gänzlich nur das Wesen zweiten Ranges« (AD, I, 181). Auch von Düringsfelds Interesse am Privaten und an romantischen Liebesgeschichten sowie ihr »spezifischer Schreibstil«73 ist in der Forschung als Hinweis auf eine weibliche Perspektive74 gelesen worden. Beide, Hahn-Hahn und von Düringsfeld konstruieren Grenzräume zwischen Ost und West, in denen sich die weiblichen Reisenden positionieren. Von Hahn-Hahn unterscheidet sich von Düringsfeld durch die Form kultureller Erinnerung, die in der Trias von Erfindung, Raum und Gedächtnis die imaginative Geographie ausmacht. Statt großer Geschichtspanoramen, Erinnerung im monumentalen Modus75, bevorzugt von Düringsfeld Anekdoten, Geschichten aus Alltagsleben, Gespräche und Persönliches, Lieder und Gedichte. Die wechselhafte

71 Stamm: 2010, 168. 72 O Brien: 2008, 40. 73 Grubišić-Pulišelić: 2009, 268. 74 Zur Frage der weiblichen Perspektive bei von Düringsfeld vgl. auch den Beitrag von Kerstin Wiedemann in diesem Band. 75 Zu den Begriffen »erfahrungshaftiger« und »monumentaler« Modus als literarische Vergangenheitsregister Vgl. Erll: 2011, 204ff.

162 | E LISA M ÜLLER-A DAMS

Geschichte Dalmatien wird nicht ausgeblendet, sie wird aber in Geschichten aus der Geschichte gepackt. Das Ende des Reiseberichts steht ganz im Zeichen der privaten Erinnerung, der Trauer um die kleine Tochter und die Mutter, von deren Tod von Düringsfeld erfährt: »In der Heimat schläft die Mutter, In Ragusa schläft mein Kind« (AD, III, 225) dichtet sie am Ende. Trauern im Haus eines Anderen ist unmöglich, lautet das Fazit im Kapitel »Abschied von Ragusa«. Das schwierige Verfassen des Reiseberichts, über das von Düringsfeld im Vorwort nachdenkt, erscheint vom Ende her betrachtet auch als schwierige, persönliche Erinnerung. Beide Texte sind als Beiträge zur kognitiven Landkarte Europas zu lesen. Sie stehen im Kontext einer sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Konstruktion von europäischen Geschichtsräumen und dem Diskurs über das europäische Eigene und das orientalische Andere, mit dem die Grenzen Europas bestimmt werden. Die literarischen Strategien des mental mapping, mit denen Erfindung, Raum und Gedächtnis verknüpft werden, weisen dabei einige Parallelen auf, werden jedoch auch als individuelle Schreibstrategien erkennbar, durch die Grenzräume zu Orten der Selbstpositionierung und Selbstbefragung werden.

Gattung, Gender, Gedächtnis Untersuchungen zu Margarete von Valois und ihre Zeit. Ein Memoiren-Roman (1847) von Ida von Düringsfeld K ERSTIN W IEDEMANN

E INLEITUNG Die Erkenntnis, dass kulturelle Erinnerung kein gender-freier Raum, sondern geschlechtlich organisiert ist, hat sich in den letzten Jahren immer stärker durchgesetzt. Die Gender-Forschung selbst knüpft verstärkt an die verschiedenen Ansätze der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung an.1 Die Fragen »wer, wie, was, wozu, warum und für wen erinnert« zählen laut Inge Stephan zu den wichtigsten Schwerpunkten der Gender Studies überhaupt.2 Die Literaturwissenschaft hat im Hinblick auf die Frage des kulturellen Erinnerns bisher vor allem Untersuchungen über die Verbindung entweder von Geschlecht und Gedächtnis oder von Gattung und Gedächtnis geliefert. Selten betrachtet wurde laut Astrid Erll und Klaudia Seibel bisher die Trias

1

Schößler, Franziska. 2008. Einführung in die Gender Studies. Akademie Verlag:

2

Stephan, Inge. 2000. Geschlecht und Theorie. In: Christina von Braun/dies.

Berlin, 174. (Hg.). Gender Studien. Eine Einführung. Metzler: Stuttgart, 69 und 84.

164 | K ERSTIN W IEDEMANN

»Gender, Genre und kulturelle Erinnerung«3 im Zusammenhang. In ihrem aus narratologischer Sicht konzipierten Untersuchungsansatz, der für eine Zusammenschau aller drei Kategorien plädiert, gehen die beiden Wissenschaftlerinnen davon aus, dass literarische Gattungen und Formentraditionen keine neutralen »mnemotechnischen Verfahren« sind.4 Als sogenannte semantisierte literarische Formen – also als Ausdruck von Verfahren, die nicht nur zur Stabilisierung und Vermittlung kultureller Bedeutung beitragen, sondern selbst als Träger einer solchen fungieren – sind Gattungen »geschlechtsspezifisch aufgeladen« und laut Erll/Seibel an der »Etablierung, Tradierung und Dekonstruktion von Geschlechterdifferenz maßgeblich beteiligt.«5 Mit Blick auf den Beitrag, den Gattungen zur kulturellen Erinnerung leisten, unterstreichen sie, dass »über die Wahl semantisierter Formen geschlechtsspezifische Erinnerungskonkurrenzen ausgetragen, der Anspruch auf männliche oder weibliche Deutungshoheit geltend gemacht, der Zugriff auf kulturelle Tradition eingeklagt [werden].«6 Die vorliegende Darstellung möchte die Tragfähigkeit des von Astrid Erll und Klaudia Seibel angeregten polyperspektivischen Untersuchungsansatzes, der Überlegungen zu Gattung und Gedächtnis an eine genderorientierte Erzähltextanalyse knüpft, an einem Beispiel des historischen Romans untersuchen. Ausgewählt wurde die, als »Memoiren-Roman« ausgewiesene Erzählung Margarete von Valois und ihre Zeit von Ida von Düringsfeld. Die Autorin findet heute vor allem in der Forschung zur Reiseliteratur Beachtung, veröffentlichte ab 1839 jedoch auch ein umfangreiches Romanwerk. Margarete von Valois war ihr erster historischer Roman und erschien 1847.

3

Erll, Astrid/Seibel, Klaudia. 2004. Gattungen, Formentraditionen und kulturelles Gedächtnis. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Metzler: Stuttgart, 180.

4

Ebd., 180.

5

Ebd., 190-191.

6

Ebd., 192. Als Beispiel für solche gender-geprägte literarische »Wiedergebrauchsformen«, die das kulturelle Gedächtnis prägen, verweisen die Autorinnen auf den Roman und seine Ausdifferenzierungen: Während sich etwa der Bildungsroman wegen des von ihm angestrebten Universalismus als männliches Paradigma etablierte, wurde der im Privaten verhaftete Briefroman eher als Ausdruck einer weiblich konnotierten Formensprache gewertet.

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 165

Seine Veröffentlichung fällt in die Zeit, in der das Feld der Belletristik stark weiblich geprägt ist. Das gesamte literarische System, so hat die neuere Medienwissenschaft gezeigt, differenziert sich mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert über die zentrale Kategorie Gender aus und zerfällt in »Hochund Populärkultur, in Kunst und Unterhaltung, in Elite und Masse«.7 Dieser Nivellierungs- und Vermassungsprozess wird dabei in der Regel mit Metaphern des Weiblichen belegt. In diesem Kontext ist der Roman an der Schnittstelle der Systeme angesiedelt und partizipiert sowohl an der männlich dominierten Hochkultur (etwa in Gestalt des Bildungsromans) als auch an der feminin kodierten Literaturerzeugung für die große Masse. Der historische Roman, der eine stark ausgeprägte Affinität zu der sich als Wissenschaft konstituierenden Historiographie aufweist, tendiert zur Hochliteratur und wird im kritischen Diskurs in der Regel als männliche literarische Domäne verteidigt. Gerade im Hinblick auf die Produktionsbedingungen des Romans gilt hier: »Geschlecht wird zur Poetik«.8 Gleichwohl tun sich auch in diesem Segment die Frauen besonders hervor und bringen es auf eine beachtliche Beteiligung: 21% der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts publizierten, historischen Belletristik stammt aus weiblicher Feder.9 Die Aufnahme in den literarischen Kanon schafften diese Autorinnen jedoch kaum. Zwar wurde ihnen zugestanden, die Leseinteressen kurzfristig zu bedienen, wo es hingegen um die »Definition des kulturellen Erbes einer Gesellschaft geht«, wurden »ausschließlich Männer als kompetent empfunden«.10 Die Tatsache, nicht im literarischen Kanon vertreten zu sein, bedeutet jedoch nicht, dass der historische Roman von den Schriftstellerinnen nicht genutzt wurde, um in das »Ringen um Erinnerungshegemonie« einzugrei-

7

Schößler: 2008, 161. Grundlegend dazu die Studie von Günter, Manuela. 2008. Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichte der Literatur im 19. Jahrhundert. transcript: Bielefeld, 43-50.

8

Schößler: 2008, 161.

9

Habitzel, Kurt/Mühlberger, Günter. 1996. Gewinner und Verlierer. Der historische Roman und sein Beitrag zum Literatursystem der Restaurationszeit (18151848/49). In: IASL, 21, I, 105.

10 Ebd., 106.

166 | K ERSTIN W IEDEMANN

fen.11 Der Geschichtsroman als Medium der kulturellen Erinnerung und historischen Sinnstiftung hat unbestreitbar auch Teil »an historisch wirksamen Modellierungen des Geschlechterverhältnisses«.12 In der folgenden Untersuchung zu von Düringsfelds Geschichtsroman sollen im Rekurs auf die von Erll/Seibel beschriebene Trias von Gattung, Gender und Gedächtnis literarische Verfahren sichtbar gemacht werden, die der Verhandlung der »Deutungshoheit« und dem Austragen von »Erinnerungskonkurrenzen« zwischen den Geschlechtern dienen. Aufgespürt werden narrative Phänomene eines genderings der historischen und kulturellen Erinnerung, die in ganz besonderer Weise das literarische Potential der Gattung nutzen. Folgende Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: •





Was leistet die von Ida von Düringsfeld entwickelte hybride Form des »Memoiren-Romans« im Hinblick auf die Legitimation weiblicher Erinnerungskonstruktion? Wie wird der historische Stoff auf der narrativen Ebene vermittelt? Lässt sich eine Perspektivierung beobachten, eventuell im Sinne einer weiblichen communal voice? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Gedächtnis und Gender? Was soll – im Hinblick auf den gewählten Stoff – der kulturellen Erinnerung eingeschrieben werden und tritt der Roman hier in Konkurrenz zu anderen, männlichen Erinnerungstraditionen?

Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen wird hier zunächst ein kurzer Überblick über das von Ida von Düringsfeld ausgewählte historische Material und den geschichtlichen Zusammenhang gegeben.

11 Erll, Astrid. 2011. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Metzler: Stuttgart, 212. 12 Öhlschläger, Claudia. 2005. In: Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.). Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Böhlau: Köln, 257.

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 167

Ü BERBLICK ÜBER S TOFF DES R OMANS

UND

H ANDLUNG

Die Handlung des Romans fällt in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts und somit in den Kontext der französischen Spätrenaissance und der Glaubensspaltung. Sie greift einen großen Teil der Lebensgeschichte der Margarete von Valois auf, Tochter des französischen Königs Heinrichs II. und Katharina von Medicis. 1553 geboren, wurde sie 1572 mit Heinrich von Navarra verheiratet, dem späteren französischen König Heinrich IV.13 Die Eheschließung fand auf Geheiß Katharina von Medicis statt, die durch die Verbindung einer Repräsentantin des katholischen Königshauses mit dem damaligen Oberhaupt der hugenottischen Partei einen Ausgleich der konfessionellen Gegensätze innerhalb des religiös gespaltenen Landes anstrebte. Margarete von Valois wurde zunächst Königin von Navarra. Nach dem Tod ihres Bruders Heinrichs III. 1588 folgte sie ihrem Gemahl und legitimen Thronfolger Heinrich IV. jedoch nicht auf den französischen Thron, da – abgesehen von den Differenzen, die als Folge der fortdauernden religiösen Spaltung zwischen den Ehepartnern existierten – die Verbindung kinderlos geblieben war. Außerdem hatte sich Margarete ab 1585 politisch offen gegen ihren Mann positioniert und selbst in den Streit der religiösen Parteien eingegriffen, indem sie sich auf eigene Faust wenig rühmlich als Kriegsherrin versucht hatte. Heinrich III. setzte diesem Intermezzo ein Jahr später ein Ende und ließ seine Schwester in der Auvergne auf der Festung Usson festsetzen. Hier verbrachte sie mehr als 20 Jahre ihres Lebens und verfasste auch ihre Memoiren, auf die der Titel des von Düringsfeld’schen Romans anspielt. 1605 kehrte sie an den Hof zurück, wo sie ein glänzendes, Künstlern und Gelehrten offen stehendes Haus führte. In der Zwischenzeit hatte sie als die letzte legitime Repräsentantin des Hauses Valois der Aufhebung ihrer Ehe mit Heinrich IV. zugestimmt, um diesem den Weg zu einer Neuheirat und zu legitimer Nachkommenschaft zu eröffnen, die die Herrschaft des mit Navarra auf den Thron gelangten Hauses der Bourbonen festigen sollte. Der von Ida von Düringsfeld gewählte Ausschnitt aus der Lebensgeschichte der Margarete von Valois umfasst die Zeit von der Anbahnung ih-

13 Margarete von Navarra, Schwester des französischen Königs Franz I. und Dichterin des Heptameron, war ihre Großtante.

168 | K ERSTIN W IEDEMANN

rer Ehe mit Heinrich von Navarra bis zu ihrer Verbannung auf die Festung Usson. In ihn fallen zentrale Ereignisse der Religionskriege, die dem damaligen Lesepublikum in Deutschland zumindest in Teilen seit langem vertraut waren. So verfügen insbesondere die Vorgänge der Bartholomäusnacht, der sogenannten »Pariser Bluthochzeit«, über eine lange literarische Tradition, vor allem im protestantischen Umfeld, die bis ins 18. Jahrhundert und weiter zurückreicht.14 Der Begriff der »Pariser Bluthochzeit« oder »Bartholomäusnacht« bezeichnet das an den französischen Hugenotten verübte Massaker, zu dem es im August 1572 anlässlich der Hochzeit zwischen Margarete und Heinrich kam und dessen Planung und ganzes Ausmaß bis heute nicht ganz aufgeklärt sind.15 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfuhr dieser literarische Stoffkomplex erneute Aktualisierungen, beispielsweise in den historischen Romanen Heinrich August Müllers oder Caroline de la Motte Fouqués.16 Die Figur der Margarete von Valois taucht hier allerdings nur am Rande auf. Populär wird sie im breiten Lesepublikum erst durch den 1845 erschienenen und sofort auch ins Deutsche über-

14 Für den deutschsprachigen Kontext ist hier vor allem Johann Christoph Gottscheds Tragödie Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra (1746) zu nennen. Davor taucht das Motiv bereits in Gedichten aus Martin Opitz’ Trostgedichten in Widerwärtigkeit des Kriegs (1633) auf. Schiller liefert mit seinem Aufsatz Bürgerliche Unruhen in Frankreich in den Jahren 15691572 (1793) die Vorlage für zahlreiche Dramatisierungen im 19. Jahrhundert. 15 Die in Paris und andernorts an den Hugenotten und deren Anführer verübten Massaker stehen emblematisch für einen Zeitraum großer Instabilität in der französischen Geschichte, in die das Land ab 1559, nach dem plötzlichen Tod Heinrichs II., geraten war. In den folgenden Jahrzehnten lösten sich drei der Söhne Heinrichs II. und Brüder Margaretes – Franz II., Karl IX. und Heinrich III. – auf dem Thron ab. Gelenkt und beraten durch ihre Mutter, Katharina von Medici, verteidigten sie den Machtanspruch des Hauses Valois gegenüber der rivalisierenden lothringischen Familie der Guise auf der einen Seite und gegenüber der Partei der Hugenotten auf der anderen. Zu einem Ausgleich der Spannungen kommt es erst nach dem Untergang der Valois 1588 durch den neuen französischen König Heinrich IV. und mithilfe des 1598 verabschiedeten Toleranzedikts. 16 Heinrich August Müller, Johanna, die Heldin der Bluthochzeit (1824); Caroline de la Motte Fouqué, Die Herzogin von Montmorenci (1822).

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 169

setzten Bestseller-Roman La Reine Margot von Alexandre Dumas.17 Auch Dumas fokussiert auf die Jahre 1572 bis 1574 und konzentriert sich im Wesentlichen auf die Ereignisse im Zusammenhang mit der Bartholomäusnacht. Von Düringsfeld weitet den historischen Blickwinkel gegenüber ihren Vorgängern deutlich aus und nimmt das Schicksal einer Frau in den Blick, die sich als fille de France fraglos den angedeuteten Machtinteressen der französischen Krone unterzuordnen hatte und dennoch versuchte, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, mit dem Anspruch eine eigene Stimme zu erheben. Ihr erzwungener Rückzug in die Auvergne, mit dem die Darstellung endet, stellt sich aus dieser Perspektive nicht als Tiefpunkt in der Existenz dieser historischen Frauenfigur dar, sondern als ein vorläufiger Endpunkt, der Gelegenheit zu rückschauender Bilanz und Bewertung gewährt.18 Von Düringsfelds Roman widmet sich keiner unbekannten historischen Figur: Margarete von Valois zählt zu den bedeutendsten Frauengestalten der französischen Renaissance. Sie hinterlässt gleichwohl ein schillerndes Bild, das bis heute zu nicht unproblematischen kreativen Bearbeitungen herausfordert (zuletzt Patrice Chéreau in seinem Film La Reine Margot, dt. Die Bartholomäusnacht, 1994, mit Isabelle Adjani in der Hauptrolle). Spätestens seit Dumas wird das französische kollektive Gedächtnis beherrscht von dem sehr eingeschränkten Bild der volksnahen, romantischen Margot, die gleichzeitig hoch gebildet und kultiviert ist und die Züge einer sinnlich raffinierten, sexuellen Freibeuterin trägt.

17 Unter dem Titel Königin Margot erschien der Roman 1846 in einer Übersetzung von August Zoller in Stuttgart, im Verlagshaus Franckh (Band 517-526 der Reihe Das belletristische Ausland). Parallel dazu wurde er auch bei Kollmann in Leipzig in einer Übersetzung von Wilhelm Ludwig Wesché herausgegeben. Vgl. Fromm, Hans. 1950. Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen. 1700-1948. Verlag für Kunst und Wissenschaft: Baden-Baden (Bd. 2), 320 und 358. Zu den deutschen Dumas-Übersetzungen allgemein siehe Berger/ Günter. 2007. »Die Entdeckung des Publikums«: Dumas-Übersetzungen und ihre Folgen. In: Jahrbuch Forum Vormärz Forschung. Übersetzen im Vormärz, 169-185. 18 Vgl. Düringsfeld, Ida von. 1847. Margarete von Valois und ihre Zeit. Brockhaus: Leipzig, Bd. 3, 563-596.

170 | K ERSTIN W IEDEMANN

Auch von Düringsfeld legt keinen Schleier über das Intimleben der Margarete von Valois, im Gegenteil. In die offizielle Geschichte sind die privaten und affektiven Erfahrungen der Prinzessin vielschichtig und leitmotivisch eingeflochten. Allerdings ist die Autorin bemüht, den Mythos der freizügigen Amazone zu umgehen und ihrem Lesepublikum einen vorgeblich unvoreingenommenen Blick auf die historische Gestalt zu ermöglichen.19

H YBRIDISIERUNG UND I NTERTEXTUALITÄT : DIE I NSZENIERUNG WEIBLICHER G ESCHICHTSMÄCHTIGKEIT Der von Ida von Düringsfeld im Titel der Erzählung verankerte, recht ungewöhnliche Begriff »Memoiren-Roman« eröffnet gleich zu Beginn eine hybride Dimension, in der zwei Gattungsformen in ein spannungsreiches, kreatives Verhältnis gesetzt werden. Die Polarität von Fakten und Fiktion, die sich in dieser Bezeichnung ausdrückt, unterstreicht die Rückbindung der Geschichtsimagination an authentische Quellen, das heißt in diesem Fall an die Memoiren der Margarete von Valois. Dieser historisch und literarisch bedeutende Text, dessen Abfassung 1594 begann und der die Gattung der Adelsmemoiren mitbegründete20, wird nicht nur durch den Titel 19 So heißt es im dem Roman nachgestellten Epilog: »Wäre es mir gelungen, diesen Charakter so geschildert zu haben, dass seine Eigenschaften Antheil einflößen, und seine Abirrungen selbst noch Bedauern gestatten, so würde es mir eine große Befriedigung gewähren.« Düringsfeld: 1847, Bd. 3, 597f. 20 Probst, Claudia. 1999. Margarethe von Valois (1553-1615). In: Zimmermann, Margarethe/Böhm, Roswitha (Hg.). Französische Frauen der frühen Neuzeit. Dichterinnen. Malerinnen. Mäzeninnen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 112. Siehe auch Marguerite de Valois. 1999. Mémoires et autres écrits 1574-1614. Edition critique par Eliane Viennot. Champion: Paris, 60f. Erstmals publiziert im Jahre 1628, nach Margaretes Tod, wurden diese Aufzeichnungen rasch populär. Übersetzungen ins Englische und Italienische finden sich bereits ab 1630 (ebd.). Ins Deutsche werden sie 1807 durch Dorothea Schlegel übertragen. Siehe dazu Becker-Cantarino, Barbara. 2000. Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche-Werk-Wirkung. C.H. Beck: München, 114. Ab

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 171

aufgerufen, sondern ist auch durch ein dem Roman vorangestelltes Zitat als zentraler weiblicher Prätext deutlich markiert. Die hybride Gattungsform des »Memoiren-Romans« erlaubt es der Autorin, Margarete von Valois selbst als Bürgin der erzählten Lebensgeschichte einzusetzen und die weibliche Romanfigur als mündiges Subjekt der Geschichte erscheinen zu lassen. Ferner festigt dieser deutlich angezeigte intertextuelle Rückgriff auf einen historischen autobiographischen Text auch die Autorität der Autorin über den von ihr gewählten geschichtlichen Stoff. Der Roman lässt sich jedoch nicht nur durch die Memoiren der Margarete von Valois leiten. Mit ihnen verbunden wird auf der Ebene des Paratextes, ebenfalls durch eine Zitat, eine zweite historische Quelle angezeigt, nämlich der Discours sur la Reyne de France et de Navarre des französischen Dichters Brantôme, eine Lobrede auf Margarete von Valois, die zusammen mit Preisdichtungen auf andere französische Herrscherinnen im sogenannten Recueil des Dames erschien und weit verbreitet war. Beide Texte sind produktionsgeschichtlich eng miteinander verbunden: Brantômes Discours, dessen Manuskript der Dichter Margarete zu Beginn der 1590er Jahre zukommen ließ, wurde zum Auslöser für die Abfassung ihrer Memoiren.21 Dieses Korrespondenzverhältnis beider Prätexte wird von Ida von Düringsfeld auf verschiedenen Ebenen literarisch in Szene setzt. Zunächst dadurch, dass der Dichter und Höfling Brantôme, der Margarete von Valois bereits als Kind kannte, sie immer wieder frequentierte und Zeit seines Lebens zu einem großen Bewunderer und Fürsprecher der Prinzessin zählte, selbst zu einer Romanfigur wird und als solche Träger eines panegyrischen Diskurses, der den Roman durchzieht und an vielen Stellen auf den Ausnahmecharakter der historischen Figur Margarete von Valois verweist. Vor allem aber liefert der literarische Austausch, in den Margarete von Valois und Brantôme um 1590 eintreten, den Stoff für die Schlussszene des Romans. Sie schildert einen Besuch Brantômes auf der Festung der Verbannten. Im gemeinsamen Gespräch erörtern sie zentrale

Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt der Text in Frankreich erneut Verbreitung in einer Publikation der Gesellschaft der französischen Historiker. 21 Ursprünglich beabsichtigte Margarete lediglich, Brantôme einige Ergänzungen und Richtigstellungen in Bezug auf ihr Leben zukommen zu lassen. Ihre Schilderungen entwickelten dann jedoch eine gewisse Eigendynamik und gerieten zu einer eigenständigen Erzählung. Vgl. Margarete von Valois: 1999, Einführung.

172 | K ERSTIN W IEDEMANN

Punkte in Margaretes Leben. Auf diese Weise wird der weiblichen Hauptfigur selbst in möglichst authentischer Inszenierung die Bilanz über ihr eigenes Leben überlassen und der Eindruck weiblicher Geschichtsmächtigkeit erzeugt. Von Düringsfeld kommt gleichwohl nicht ohne den Rückgriff auf weitere historische Quellen aus, um die Lebensgeschichte der Margarete von Valois zu gestalten. In für den historischen Roman typischer Weise werden zur Verbriefung des Geschehens auch Originalquellen in den Text montiert, wie z.B. zeitgenössische Poesie u.ä.22 Auch für die Schilderung des neben der allgemeinen Geschichte handlungsleitenden Intimlebens Margaretes, das diese standesgemäß nicht in ihren Memoiren erörtert, ist die Autorin auf zahlreiche weitere historische Studien und Informationen angewiesen. Im Unterschied zu den Memoiren der Margarete von Valois werden diese im Text jedoch nicht deutlich markiert. Zu erörtern, welche Quellen herangezogen wurden, würde hier zu weit führen und wenig zur Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Fragen beitragen. Hingegen ist zu erkunden, wie das historische Material verwaltet und narrativ vermittelt wird. Als erster Befund sei hier bereits festgehalten, dass den Leser_innen des »Memoiren-Romans« Margaretes Leben nicht in der Ich-Form aus dem Munde der zentralen historischen Figur präsentiert wird, wie es durchaus zu erwarten gewesen wäre. Vielmehr wird die IchErzählerin des Prätextes ersetzt durch eine auktoriale Instanz. Auf der narrativen Ebene entsteht so eine spannungsreiche Distanz zwischen der für ihre Geschichte bürgenden historischen Figur und der Stimme, die dies Geschehen wertend vermittelt. Ihr gilt es im Folgenden nachzugehen. Am Rande sei hier noch vermerkt, dass die zeitgenössische literarische Öffentlichkeit das von Düringsfeld’sche Experiment des »Memoiren-Romans« mit Interesse verfolgte. Die Blätter für die literarische Unterhaltung

22 Auch Zitate aus bekannten Schmähschriften gegen Heinrich III. oder Katharina von Medici finden hier Verwendung. Die Erwähnung der Verteidigungsrede, die Margarete für Heinrich von Navarra verfasste, als dieser sich nach seinem Fluchtversuch aus dem Louvre, in dem er seit der Bartholomäusnacht faktisch gefangen gehalten wurde, vor dem Parlament verantworten musste, erlaubt es der Erzählinstanz etwa, Margaretes Klugheit zu unterstreichen und auf die »Klarheit und logisch[e] Sicherheit« der Argumentation hinzuweisen, die »genialen Rechtsgelehrten zur Ehre reichen«. Düringsfeld: 1847, Bd. 1, 561.

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 173

etwa begrüßen die Abkehr vom vorherrschenden Modell Walter Scotts und erkennen gar einen Umschwung in der Gattungsentwicklung. Allerdings wird der Autorin eine gewisse Zersplitterung des Stoffes vorgeworfen. Der Verfasserin sei »auf Kosten des Romans« die »Verschmelzung der Einzelheiten zu einem Ganzen« nicht geglückt.23 Entstanden sei eher eine anerkennenswerte »romantisch[e] Biographie [der] Heldin«24, die alle Vorzüge weiblichen Romanschaffens aufweise, insbesondere eine große Empathiefähigkeit ihrer Autorin: »[Ida von Düringsfeld] hat ihr Buch wirklich erlebt, und […] dies Erleben darf im Allgemeinen wohl als der Vorzug der Frauenromane [gelten]«. Den Ansprüchen des »Roman[s] des Mannes« werde sie hingegen nicht gerecht, der »mehr Produkt der Abstraction« sei.25 Aus Sicht des zeitgenössischen Rezensenten scheitert von Düringsfelds Projekt des »Memoiren-Romans« an den Voraussetzungen ihres Geschlechts: Geschichte und Einzelschicksal fallen vermeintlich auseinander. Die Fähigkeit zur Stiftung übergeordneten historischen Sinns wird der Autorin abgesprochen. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung mag dieses Urteil als Indiz dafür gelten, dass der von Ida von Düringsfeld gewählte hybride Modus kultureller Erinnerung die Geschlechterkonvention herausfordert, die das etablierte Gedächtnisgeschehen (im historischen Roman) trägt. Um diese Vermutung zu überprüfen, soll im Folgenden die Perspektivenstruktur des Romans genauerer Betrachtung unterzogen werden.

23 Rezension zu Margarete von Valois und ihre Zeit in Blätter für literarische Unterhaltung (1848), Nr. 60, 237. 24 Ebd., 238. 25 Ebd., wo es heißt, »das sonst so klar durchschauende Auge der Verfasserin [trägt] hier nicht weit genug […]« um das geschilderte Einzelschicksal »im Zusammenhange der Nothwendigkeit« aufzufassen, also mit anderen Worten, um es mit den übergeordneten historischen Bedingungen in Verbindung zu setzen.

174 | K ERSTIN W IEDEMANN

G ENDERING DER E RZÄHLINSTANZ : DIE DISKURSIVE K ONSTITUIERUNG WEIBLICHER U NIVERSALITÄT Die Autorin verzichtet wie erwähnt auf die Möglichkeit, das Leben der Margarete von Valois aus der Ich-Perspektive zu schildern, und überträgt die Vermittlung ihrer Geschichte auf eine heterodiegetische, auktoriale Instanz. Es wurde bereits erwähnt, dass diese zur Festigung der historischen Glaubwürdigkeit vielerorts auf typische, historisierende Verfahren des Geschichtsromans zurückgreift, etwa bei der Einflechtung historischer Quellen. An anderen Stellen äußert sie sich erläuternd und bisweilen auch deutlich wertend.26 Auch nutzt sie den kritischen Abstand zum historischen Stoff, um eigene, durchaus auch politisch gefärbte Ansichten einfließen zu lassen.27 All dies, gepaart mit dem Einflechten positiven Geschichtswissens verweist – legt man Beobachtungen der gender-orientierten Narratologie zu Grunde – auf eine männliche Identität der Erzählinstanz. 28 Dennoch gibt sich die vermittelnde Stimme an vielen Stellen als weiblich zu erkennen und identifiziert sich eindeutig als in einer femininen Per-

26 So etwa, wenn das Lesepublikum über die politischen und religiösen Parteiungen im Umfeld des französischen Hofes belehrt wird (vgl. Düringsfeld: 1847, Bd. 1, 110ff.) Oder wenn Spekulationen über den angeblich von Katharina von Medici an Jeanne d’Albret, der Mutter Heinrich von Navarras und höchsten Repräsentantin der französischen Hugenotten, verübten Giftmord zurückgewiesen werden. 27 Wie folgende Reflexion über die Verpflichtungen eines Königs gegenüber seinem Volke, die durch das bigotte Gebaren Heinrichs III. veranlasst werden: […] ich selbst glaube, dass der beste Gottesdienst eines Königs Volksdienst sei. […] Mit einem Wort, der rechte König darf, meiner Idee nach, weder Gut, noch Gedanken für sich allein haben – darum ist es so unendlich schwer, ein gerechter König zu sein, denn die Selbstverläugnung ist das Schwerste[…].« Düringsfeld: 1847, Bd. 2, 454. 28 Siehe etwa Allrath, Gaby/Gymnich, Marion. 2002. Feministische Narratologie. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.). Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Wissenschaftlicher Verlag: Trier, 35-72, insbesondere 42 und Schabert, Ina. 1992. The Authorial Mind and the Question of Gender. In: Lehmann, Elmar/ Lenz, Bernd (Hg.). Telling Stories. Studies in Honor of Ulrich Broich on the Occasion of his 60th Birthday. Grüner: Amsterdam/Philadelphia, PA, 312-328.

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 175

spektive verhaftet. Gleich zu Beginn heißt es im Zusammenhang einer Charakterschilderung Katharina von Medicis, in der deren übersteigerte Geltungssucht als eine dem weiblichen Geschlecht innewohnende zentrale Antriebskraft beschrieben wird: » Diese Art des Egoismus ist bei unserem Geschlecht sehr oft zu beobachten, nur äußert sie sich je nach den Anlagen auf diese oder jene Weise.«29 Ähnlich wird später Katharinas irrationale Bevorzugung ihres Lieblingssohnes Heinrich von Anjou, der spätere Heinrich III., mit den Worten kommentiert: »Unser Geschlecht ist nur klug so lange es nicht liebt.«30 In solchen Passagen wird die Erzählinstanz nicht nur eindeutig als weiblich markiert, sondern sie spricht, wenn auch in Allgemeinplätzen, als Vertreterin ihres Geschlechts auf einer gleichsam überzeitlichen, universalen Ebene. Das so eingeführte kollektive weibliche »Wir« umfasst nicht nur die Erzählerin und das weibliche Figurenpersonal des Romans, sondern impliziert, dass auch die Position des immanenten Lesers weiblich besetzt ist. Im Sinne einer communal voice artikuliert es eine kollektive weibliche Identität.31 Durch die im Paratext ausgesprochene Widmung des Romans an eine Frau, an die Schwiegermutter der Autorin32, rundet sich die Konstruktion eines weiblichen Kommunikationsbündnisses weiter ab. Als geschlechtlich definierte Erlebnis- und Wertegemeinschaft bildet es sich auch auf der Handlungsebene ab, wenn die Erzählerin z.B. in einen Dialog mit ihren fingierten Leserinnen tritt und mit ihnen Handlungsoptionen bestimmter Figuren durchspielt33, und lässt so den Eindruck einer diskursiv konstruierten weiblichen Universalität entstehen.

29 Düringsfeld: 1847, Bd. 1, 83. 30 Ebd., 254 31 Zum Begriff der communal voice siehe Allrath, Gaby/Surkamp, Carola. 2004. Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Metzler: Stuttgart, 146. 32 Düringsfeld: 1847, Bd. 1. 33 Zur Stärkung seines Zusammenhalts inszeniert die Erzählerin ihren Stoff zuweilen im Stil eines weiblichen Salongesprächs und spielt z.B. mit den Erwartungen ihrer Leserinnen, wenn sie diese darüber spekulieren lässt, warum Heinrich von Anjou, zwischenzeitlich auf den polnischen Thron gewählt und nach dem Tod Karls IX. als dessen Nachfolger nach Frankreich zurückberufen, nicht auf direk-

176 | K ERSTIN W IEDEMANN

Interessant ist, dass der Anspruch der auktorialen Instanz, das Geschehen aus einer femininen, universalen Perspektive zu betrachten, an die Wahl der Gattungsform gebunden und im Text reflektiert wird. So heißt es in dem bereits zitierten Charakterporträt Katharina von Medicis: »Katharina von Medici wird in allen Romanen, die ich bisher über jene Zeit gelesen, auf eine wunderliche Art behandelt. Man macht regelmäßig eine große und finstere Italienerin aus ihr, eine grandiose dämonische Erscheinung […] Es mag äußerst bequem sein, inmitten eines Romans eine solche Erscheinung auftreten zu lassen […] Da ich aber nun keinen Roman schreibe, sondern nur eine einfache Geschichte jener Zeit am französischen Hofe, geschöpft aus alten, wunderlich gedruckten Memoiren, so muß ich ehrlich sein und dem Leser sagen, dass Katharina von Medici, KöniginMutter von Frankreich und Witwe Heinrichs II., nichts mehr und nichts weniger war als eine Frau.«34

Die Priorität der weiblichen Perspektive – Katharina ist nichts mehr und nichts weniger als eine Frau – gründet in der Verpflichtung zu historischer Authentizität, als Folge des gewählten literarischen Verfahrens – weil kein Roman entsteht, sondern die Geschichte aus alten Memoiren geschöpft wird, »muß« die Erzählerin »ehrlich sein« und die feminine Perspektive favorisieren. Roman und Memoiren stehen hier als Gedächtnisgattungen in Opposition zueinander. In den Augen der Erzählerin erlaubt es die zu starker literarischer Überformung neigende Romanform nicht, die Interessen weiblicher kultureller Erinnerungsprozesse angemessen zur Darstellung zu bringen. Diese können sich nur entfalten, wenn Authentizität garantiert ist

tem Weg zurückkehrt, um als erstes seine damalige Geliebten, Marie von Condé, in die Arme zu schließen: »Und nun flog Heinrich doch auf Sturmesflügeln durch Deutschland und Frankreich? O, Gott behüte – was denkt ihr von Heinrich III.? Er wollte […] sich auch ein wenig als König von Frankreich huldigen lassen. Als König von Frankreich reisen […] Das lohnte sich schon der Mühe. Aber er liebte Marie von Condé doch noch? – Gewiß; er schrieb ihr ja fortwährend die zärtlichsten Briefe. – Und er sehnte sich, sie wiederzusehen? – O, er schrieb ihr, dass er vor Sehnsucht fast sterbe. – Nun, was hielt er sich denn da so lange unterwegs auf? – Nun, ich sage es euch ja, um sich als König von Frankreich bewundern zu lassen.« Düringsfeld: 1847, Bd. 2, 4. 34 Düringsfeld: 1847, Bd. 1, 79ff.

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 177

und sich ihnen ein feminisierter narrativer Resonanzraum eröffnet. Zu dessen Konstruktion wird, wie gezeigt, neben einem weiblichen gendering der Erzählinstanz auch die geschlechtsadäquate Transformation der gewählten Gattungsform des historischen Romans eingesetzt. Zu fragen ist nun, welche spezifischen Gedächtnisinhalte durch die neu geschaffene Form des Memoiren-Romans und die umfassende Feminisierung seiner Perspektivenverhältnisse zur Anschauung gebracht werden sollen. Inwieweit funktioniert sie nach einem »antagonistischen Modus«, der konkurrierende Gedächtnisse herausfordert und in das »Ringen um Erinnerungshegemonie« eingreift?35

E RINNERUNGSKONKURRENZEN : DAS ANTAGONISTISCHE W IRKUNGSPOTENTIAL DES M EMOIREN -R OMANS Die Aufbereitung des historischen Valois-Stoffes durch Ida von Düringsfeld weicht, wie zu Beginn bereits erwähnt, in ihrer plot-Struktur von anderen ebenfalls eingangs benannten zeitgenössischen Bearbeitungen ab, insbesondere auch von dem Roman La Reine Margot von Alexandre Dumas, der, nur zwei Jahre zuvor publiziert, in Deutschland weit verbreitet war. Ohne hier der Frage nachgehen zu können, ob von Düringsfeld den Dumas’schen Roman kannte und ihr eigenes Projekt etwa ganz bewusst in Abgrenzung zu ihrem Vorgänger konzipierte, liefert Dumas allein aufgrund der Rezeptionsverhältnisse eine Hintergrundfolie, auf der sich das antagonistische Potential des von Düringsfeld’schen Romans abbilden lässt. Dumas Text folgt den Gesetzen des Feuilletonromans. Die auktoriale Erzählführung ist vor allem durch Verfahren der Spannungserzeugung gekennzeichnet. Das Medium bedient Ängste und Wünsche des entstehenden Massenpublikums, was sich in dem Bild, das von Margarete von Valois gezeichnet wird, niederschlägt. Die Prinzessin wird auf die Gestalt einer libertären Amazone reduziert. Als populäre Version der femme libre, wie sie sich z.B. die Saint-Simonisten zu Beginn des Jahrhunderts erträumten, ergibt sie sich primär genussgesteuert der freien Liebe. Sensualität und der Hang zu sexueller Ausschweifung bilden (übrigens bis heute) sozusagen 35 Erll: 2011, 212.

178 | K ERSTIN W IEDEMANN

den Markenkern dieser Figur und bleiben ohne tiefere psychologische, historische und kulturelle Kontextualisierung.36 Von Düringsfeld verfolgt hingegen ein anderes Projekt. Sicher möchte auch sie ihre Leserinnen unterhalten. Gleichwohl legt sie Wert darauf, diese im Zuge der Lektüre zu einem differenzierenden und historisch relativierenden Blick auf die Protagonistin zu befähigen. So betont die Autorin in dem ihrem Roman angehängten Epilog: »Wäre es mir gelungen, diesen Charakter [MvV] so geschildert zu haben, dass seine Eigenschaften Antheil einflößten, und seine Abirrungen selbst noch Bedauern gestatteten, so würde es mir eine große Befriedigung gewähren.«37

Zwar legt auch von Düringsfeld wie Dumas einen Fokus auf das Intimleben der Prinzessin, ja man könnte fast sagen, sie übertrifft Dumas, nicht nur in der Zahl der geschilderten Liebesverhältnisse, sondern möglicherweise auch in der Offenheit, in der sie darüber berichtet. Ihre unverstellte und keinesfalls prüde Sicht auf erotisches Geschehen bringt ihr jedenfalls Lob bei den Kritikern ein.38 Die Leserinnen folgen Margarete durch nicht weniger als acht außereheliche Beziehungen unterschiedlicher Intensität und Dauer. Daneben sind Liebesverhältnisse anderer Protagonisten angesiedelt. Jene der Hofdame Charlotte von Sauve beispielsweise, die im Auftrag von Katharina gleichzeitig Heinrich von Navarra und dessen zeitweiligen Verbündeten, den Herzog von Alençon, mit ihrem Charme bestrickt, um beide an den Hof zu fesseln und von politischen Ränkespielen abzuhalten.

36 Eine kritische Analyse des Romans findet sich bei Viennot, Eliane. 1994. De la Reine Marguerite à la Reine Margot: les lectures de l’histoire d’Alexandre Dumas. In: L’école des Lettres, 13/14, 81-105. 37 Düringsfeld: 1847, Bd. 3, 597f. 38 Zu den Errungenschaften des Romans zählt der im Vorausgehenden bereits erwähnte Rezensent der Blätter für literarische Unterhaltung folgenden Aspekt: »Von demjenigen, was Frauen uns nicht eben selten gouvernantenhaft als Schicklichkeit und reine Sitte aufdringen, was jedoch ebenso wenig selten wenn nicht auf Pruderie, doch auf Mißverstand hinausläuft, ist die Verfasserin so frei, dass sie jedes Ding bei rechten Namen nennt.« Blätter für literarische Unterhaltung (1848), Nr. 60, 238.

G ATTUNG , G ENDER , G EDÄCHTNIS | 179

Diese Episoden werden jedoch nicht lediglich als munteres erotisches Wechselspiel geschildert. In der Gestaltung dieser wechselnden Liebesverhältnisse treffen historische Vergangenheit und soziale Gegenwart der Autorin aufeinander. Es hebt sich dort die Zeit auf, die beide voneinander trennt, und ein Erzählraum öffnet sich, in dem nicht nur die Geschlechterhierarchie kritisch zur Verhandlung kommt, sondern auch das Liebeshandeln der Margarete von Valois eine starke ethische Aufwertung erfährt. So wird nämlich die einvernehmliche Hingabe der Liebenden, die Margarete in ihren Beziehungen anstrebt, als weiblich gewendeter Versuch vermittelt, das hohe Liebesideal eines Ovid zu verwirklichen, und somit von der Erzählerin in die Tradition der abendländischen Antike gestellt. In Bezug auf Margaretes leidenschaftliche Liebe zu dem Höfling Chanvallon heißt es beispielsweise: »Diese Liebe glich einem Gedichte von Ovid; es war eine Apotheose der Sinnlichkeit, die in der farblos unmoralischen Gegenwart selten geahnt, noch weniger begriffen und kaum je gefeiert werden dürfte.«39

Durch den Anschluss an Ovid, wird Margaretes affektives Handeln gleichsam monumentalisiert und dem europäischen kulturellen Gedächtnisses einverleibt. Allerdings merkt die Erzählerin kritisch an, dass sich dem zeitgenössischen Publikum des 19. Jahrhunderts der Mythos der hohen Liebe in seiner ethischen Bedeutung nicht mehr voll erschließt, da es nicht in der Lage ist, die passenden Wertmaßstäbe anzulegen, sondern in den engen Kategorien bürgerlicher Moral verharrt. Das verengte Moralverständnis ihrer Zeitgenoss_inn_en führt die Autorin auf der Handlungsebene des Romans immer wieder anhand von Gesprächen vor, die sich zumeist an die kontrastiv zu Margarete angelegten Liebesintrigen anderer Hofmitglieder knüpfen. So nutzt die Erzählerin das Geschehen um Charlotte von Sauve, um eine Debatte über eheliche Treue zu entfesseln, wie sie die zeitgenössische Diskussion des 19. Jahrhunderts prägt, und darin das ungleiche Geschlechterverhältnis in der Ehe zu stigmatisieren.40 Sie meldet sich auf diese Weise in einer Debatte zu Wort, die bis

39 Düringsfeld: 1847, Bd. 3, 96. Ähnlich auch ebd., Bd. 2, 211ff. 40 Siehe dazu etwa Düringsfeld: 1847, Bd. 2, 121ff. oder ebd., Bd. 3, 224-229.

180 | K ERSTIN W IEDEMANN

dahin vor allem im emanzipierten Frauenroman des Vormärz geführt wird, und verleiht dem Gleichheitsstreben ihrer Zeitgenossinnen über die Verknüpfung mit der Lebensgeschichte der Margarete von Valois größere historische Tiefe und eine kulturelle Legitimation. Zu den Verdiensten des Memoiren-Romans von Düringsfelds zählt, dass er die moralisch verengte zeitgenössische Debatte über das Recht auf Selbstbestimmung in der Liebe und auf Gleichberechtigung in der ehelichen Partnerschaft aufbricht und Platz schafft für den Ansatz einer Kulturgeschichte der Liebe aus weiblicher Sicht. Der Text besetzt das Bild der femme libre neu, indem er es literarisch in eine Tradition integriert, die das Erbe der Antike mit der Gegenwart verbindet und es fiktional mit Leben füllt, um es der männlichen Fantasie – beispielsweise eines Alexandre Dumas – als Projektionsfläche zu entziehen bzw. zumindest streitig zu machen. Zu einem Weltbestseller hat von Düringsfeld es mit diesem Projekt freilich nicht gebracht. Dieser Ruhm bleibt bis heute Alexandre Dumas vorbehalten. Aber gerade weil von Düringsfeld sich aus einer Position der Differenz kritisch mit der Frage der geschlechtlichen Organisation kultureller Mythenbildung auseinandersetzt, lohnt sich die Lektüre ihres Romans auch heute noch.

IV. Gender und Genderperformanzen in der Musik

Musik und Geschlecht (ver-)handeln Baldassare Galuppis Il mondo alla roversa o sia le donne che comandano K ORDULA K NAUS

Die opera buffa etablierte sich in den 1740er Jahren in Italien als neue Gattung musiktheatralischer Unterhaltung und fand schnell in ganz Europa Verbreitung. Eine der frühesten Opern dieses neuen Typus thematisiert die Geschlechterverhältnisse: Il mondo alla roversa o sia le donne che comandano (Die verkehrte Welt oder die Frauen, die herrschen). Nach der venezianischen Erstaufführung 1750 wurde diese Oper mit dem Libretto von Carlo Goldoni und der Musik von Baldassare Galuppi bis Ende der 1760er Jahre hinein nicht nur in zahlreichen italienischen Städten, sondern auch in Barcelona, Braunschweig, Leipzig, Amsterdam, Hamburg, Prag, München, Moskau und Dresden aufgeführt.1 Die Art, wie in dieser Oper Geschlechterverhältnisse verhandelt werden, fand demnach in ganz Europa Anklang. Bei den zahlreichen Aufführungen in deutschen Städten erschien das Lib1

Vgl. dazu die entsprechenden Einträge in Sartori, Claudio. 1990-1994. I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici. 7 Bände. Bertola & Locatelli: Cueno und Meyer, Reinhart (Hg.). 2002. Bibliographia dramatica et dramaticorum: kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. 2. Abteilung Einzeltitel, Bd. 17. 1754-1755. Max Niemeyer Verlag: Tübingen.

184 | K ORDULA KNAUS

retto jeweils in deutscher und italienischer Sprache, wobei sich gelegentlich in der Übersetzung des Untertitels als »Das herrschsüchtige Frauenzimmer«2 bereits zeigt, dass eine verkehrte Welt, in der Frauen das Sagen haben, in dieser Oper keinen feministisch-utopischen Befreiungsschlag darstellt, wie er etwa in Gerd Brantenbergs Buch Egalias døtre (Die Töchter Egalias, 1977) zu finden ist. Der folgende Beitrag hat jedoch weniger zum Ziel zu zeigen, dass dieses Textbuch misogyn ist (was durchaus offensichtlich ist), als vielmehr den Anspruch, die Frage zu diskutieren, wie Geschlecht in dieser Oper im Spannungsfeld von Natur, Verhalten, Körper und theatralischer Darstellung verhandelt wird. Dabei werden sowohl textliche und musikalische Aspekte als auch theatralische Darstellungen und breitere Kontexte zur Sprache kommen.3 Die Handlung von Il mondo alla roversa spielt auf der Insel der Antipoden (also an einem fiktiven, diametral entgegengesetzten Ort auf der Erdoberfläche) mit drei Paaren als wesentliche Handlungspersonen: Tullia und Rinaldino, Cintia und Giacinto, sowie Aurora und Graziosino. Später kommt noch Ferramonte als siebente Handlungsperson dazu. Interessant erscheinen bereits die Angabe des Schauplatzes sowie die Handlungsanweisung für die erste Szene: »Ein grosser Platz mit Manns-Kleidern und verschiedenen Sachen ausgezieret, welche die verschmitzten Frauens-Personen auf mancherley Art erobert haben. Tullia, Cinthia, und Aurora, vor welche ein Chor von Frauenzimmer gehet, die da Ketten

2

Vgl. das Titelblatt des Librettos Hamburg 1754: Il mondo alla roverscia, o sia: Le donne che comandano. Dramma giocoso per musica, da rappresentarsi in Hamburgo l’anno MDCCLIV. Die verkehrte Welt, oder Das herrschsüchtige Frauenzimmer. Ein musicalisches Lust-Spiel, in Hamburg aufzuführen im Jahr 1754.

3

Im Folgenden beziehe ich mich auf die deutsche Übersetzung des Librettos aus Hamburg 1754, was im Vergleich zu einer Neuübersetzung des italienischen Textes den Vorteil hat, eine historische Übersetzungsleistung (die, wie sich bereits in der Frage des Untertitels gezeigt hat, durchaus neue Bedeutungsebenen mit sich bringt) in die Interpretation miteinzubeziehen.

M USIK UND G ESCHLECHT ( VER -) HANDELN | 185

und Sieges-Zeichen mit sich bringen. Währender Zeit, als das Chor singet, werden die Manns-Personen gefesselt.«4

Tullia, Cinthia, Aurora und der Chor beginnen mit den Versen: »Hurtig, hurtig zu den Ketten, Zur gewohnten Dienstbarkeit. Es bringt weder Schimpf noch Last Die freywillige Sclaverey.« (DvW, 8)

Die verkehrte Welt wird zunächst als eine vorgeführt, in der Frauen Herrschaft und Macht erlangt haben und Männer dabei unterdrücken, ausbeuten und versklaven. Wie die Frauen zu dieser Macht gekommen sind bleibt unklar. Angedeutet wird lediglich, dass es einer gewissen List oder Schlauheit zu verdanken ist. Die drastisch dargelegte verkehrte Geschlechterordnung wird aber nicht durch weitere Insignien oder Symbole der Umkehrung ergänzt. So bleiben etwa Männer-Kleider Männer-Kleider und es ist auch nicht die Rede davon, dass diese Frauen als bewaffnete Amazonen auftreten. Verhalten und Rollenzuweisungen spielen auch im darauffolgenden Rezitativ eine Rolle, denn die Tätigkeiten, die den Männern als Sklavenarbeit zugeteilt werden, sind: Spinnen und Nähen, Garten- und Küchenarbeit. Dass sie diese Tätigkeiten schlecht verrichten, kommt in der vierten Szene zur Sprache, in der Graziosino äußert: »Ich arbeite geschwind, geschwind, und in drey Monathen habe ich einen halben Strumpf geknüttet.« (DvW, 19) Implizit heißt dies, dass Männer für solch häusliche Tätigkeiten nicht geeignet sind – eine Biologisierung gewisser Eigenschaften des jeweiligen Geschlechts wird aber von den Frauen bereits in der zweiten und dritten Szene etabliert, in der auffällig oft der Natur-Begriff verwendet wird. So sind Männer laut Cintia »von Natur hochmütig und stoltz« (DvW, 11) und

4

[Goldoni, Carlo]. 1754. Il mondo alla roverscia, o sia: Le donne che comandano. Dramma giocoso per musica. Die verkehrte Welt, oder Das herrschsüchtige Frauenzimmer. Ein musikalisches Lust-Spiel. Hamburg, 8. Die Orthographie des Originals wird in den folgenden Zitaten beibehalten. Im Folgenden zitiert mit der Sigle DvW.

186 | K ORDULA KNAUS

Tullia sieht das erworbene Reich durch die von der Natur ungleich verteilten Eigenschaften der Geschlechter bedroht: »Wir sind ja Frauens-Personen, und die Natur hat uns keine andere Stärcke, als in den Liebkosungen, in Worten und Blicken gegeben. Mit Degen, Spiessen, Harnischen und Schilden umzugehen, ist für uns kein Werck. Wenn eine Manns-Person den Arm ausstrecket, hat es weit mehr Kraft, als zehen liebreitzende und zärtliche Frauen vermögen, deren völlige Macht in der Schönheit bestehet.« (DvW, 13)

Dabei naturalisiert sie aber zunächst mehr das Verhalten als den Körper. Die Stärke der Frauen manifestiere sich in schmeichelnden, liebevollen Gesten, während die Männer kämpfen. Erst dann führt sie dieses Verhalten auf den Gegensatz körperlicher Eigenschaften (nach dem Prinzip Männer sind stark und Frauen sind schön) zurück. Dieser Gegensatz allein würde noch nichts über die Legitimität eines Herrschaftsanspruchs aussagen. Vielmehr scheint der Herrschaftsanspruch der Frauen von Beginn an illegitim, da sie ihn zum einen selbst als bedroht ansehen und es zum anderen zu einer einseitigen Umkehr geschlechtsspezifischer Tätigkeiten kommt. Während die Männer nähen und stricken, üben sich die Frauen gerade nicht in Kampf und Heldenmut, sondern grübeln darüber nach, wie sie ihre Macht erhalten können und sind sich letztlich auch nicht einig über ihre Strategien. Aurora meint, man müsse die Männer mit Liebe und Zuneigung gehörig machen, Cintia plädiert für Strenge und Tullia möchte einen klugen Mittelweg finden. Eine interessante Position nehmen dabei Verstand und Vernunft ein. Aurora nämlich antwortet Tullia auf ihre Besorgnis über männliche Stärke: »Tulia! die Wahrheit zu sagen, ihr redet sehr klug, und das Schicksal hat euch zwar ein weibliches Geschlecht zuertheilet, aber dabey Verstand und Wissenschaft, so mehr als männlich ist. Also begabte die Natur euren obschon kleinen, doch artigen Cörper mit so grosser Vernunft, und eure Mutter legte euch nachmals mit Recht den Namen Tulia bey, weil ihr an Gelehrsamkeit dem Tulius Cicero gleichet.« (DvW, 15)

Auch sie argumentiert hier unter Verwendung des Natur-Begriffes, jedoch im Sinne einer angeborenen Eigenschaft, die zwar prinzipiell männlich ist, die aber auch Frauen sogar in größerer Menge als Männer haben können.

M USIK UND G ESCHLECHT ( VER -) HANDELN | 187

Die Natur hat in der sechsten Szene ihren nächsten großen Auftritt. Giacinto befindet sich in einem Zimmer »mit einem Spiegel in der Hand, worin er sich auf wunderliche Art beschauet« (DvW, 25). Er beginnt die Szene mit dem lamentoartigen Arioso: »O Natur, du grosse Mutter! Du hast mir Unrecht angethan; Allein, ich habe dich hintergangen, Indem ich mich, um schön zu seyn, Geschminckt habe, Wie sonst das Frauenzimmer Zu thun pflegt.« (DvW, 25-27)

Das Schönsein wird hier auch klar als etwas Weibliches definiert und naturalisiert, dem Giacinto nur mit künstlichen Mitteln (Schminke, Perücke etc.) beikommen kann. Doch möchte Giacinto dies nicht einfach nutzen, um den Frauen zu gefallen, sondern um »Macht über ihre Herzen« (DvW, 27) zu haben. Das Textbuch Goldonis macht jedoch klar, dass das Bemühen nicht von sonderlich viel Erfolg gekrönt ist, wie sich in folgendem Dialogausschnitt zwischen Giacinto und Cintia zeigt: »Giacinto: Als eine Mücke komme ich, o Schöne! meine Flügel bey eurem Lichte zu verbrennen. Cintia: Ihr könnet euch mit bessern Recht einer grossen Wespe vergleichen.« (DvW, 27-29)5

Im Laufe der Oper geschehen sukzessive Ereignisse, die letztlich zum Scheitern der Frauenherrschaft führen. Zunächst wird Giacinto der strengen Cintia abtrünnig und wendet sich Aurora zu, womit es zu ersten Zwistigkeiten unter den Frauen kommt. Tullia, die das als Vernünftige durchschaut, beruft den Frauenrat ein. In dieser Versammlung verhandelt Goldoni verschiedene Fragen einer Gesellschaftsordnung. Cintia und Aurora berufen sich nämlich bei ihren Taten auf die Freiheit. Tullia sieht aber, dass dies zu Konflikten führt und schlägt eine Monarchie als neue Gesellschaftsordnung

5

Im Italienischen erscheint die Passage noch sinniger, da das Wortspiel farfalletta (hier: Mücke) und farfallone (hier: Wespe) verwendet wird.

188 | K ORDULA KNAUS

für die Insel vor, in der eine Frau herrschen soll und für alle die gleichen Gesetze gelten. Diese Frau soll dann gewählt werden. Die Wahl scheitert aber, weil keine der Frauen bereit ist, die andere zu wählen und als Oberhaupt zu akzeptieren. Dieses Scheitern aber bringt nun Tullia wiederum mit dem Frausein in Verbindung, wenn sie sagt: »Diese Herrschsucht ist bey uns etwas angebohrenes, und ein jedes Frauenzimmer hat ihre besondere Einfälle.« (DvW, 65) Negative Eigenschaften der Frauen werden im Textbuch vor allem nach der Ankunft Ferramontes auf der Insel vermehrt angesprochen. Diese genau in der Mitte des zweiten Aktes platzierte Szene ist nicht nur inhaltlicher, sondern auch musikalischer Wende- und Höhepunkt. Die verkehrte Welt wird hier nochmals auf die Spitze getrieben. Im Libretto heißt es zunächst: »Man höret auf dem Schiff ein Concert von Hautbois und Waldhörnern, währender Zeit das Schiff heran nahet, und die Brücke nieder gelassen wird, um ans Land zu treten.« (DvW, 71) Die Frauen erscheinen hier mit Pfeilen und Stangen am Ufer (sind also erstmals bewaffnet), um die auf Schiffen ankommenden Männer gefangen zu nehmen. Auch hier findet sich ein musikalischer Verweis im Libretto: »Indem die Frauen den Ausfall thun, höret man im Orchestre den Schall der Trompeten und Paucken, worüber das Concert vom Schiffe aufhören muß.« (DvW, 71) Von Galuppi wurde diese Szene auch musikalisch entsprechend dieser Anweisungen umgesetzt (vgl. Notenbeispiel 1 auf der nächsten Seite). Die mit Oboen und Hörnern instrumentierte, zurückhaltende und grazile Musik vom Schiff der Männer wird abgelöst von einem mit Streichern und Pauken6 furios und herrschaftlich wirkenden, schnelleren Allegro, das der Insel der Frauen zugeordnet ist. Die Musik spiegelt hier die verkehrten Geschlechterverhältnisse wider, wobei für das 18. Jahrhundert bei derlei Zuschreibungen Vorsicht geboten ist.7 In diesem Fall ist aber klar, dass Goldoni und Galuppi hier eine solche Verkehrung sowohl durch die Anweisungen im Textbuch als auch in der musikalischen Gestaltung beabsich-

6

Trompeten sind (entgehen der Anweisung im Libretto) in der Partitur Mss.

7

Eindeutige musikalische Geschlechterdichotomien für Handlungsfiguren finden

2973-F-502 nicht verzeichnet. sich in der Oper des 18. Jahrhunderts kaum, da die musikalischen Mittel eher der Darstellung bestimmter Affekte dienten, die für Männer- und Frauenfiguren im Wesentlichen die gleichen sein konnten.

M USIK UND G ESCHLECHT ( VER -) HANDELN | 189

tigten. Nach diesem Höhepunkt der szenischen und musikalischen Machtdemonstration der Frauen geht es fortan mit ihrem Einfluss bergab. Notenbeispiel 1: Baldassare Galuppi, Il mondo alla roversa

Quelle der Transkription: handschriftliche Partitur in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, Mss. 2973-F-502

Dafür ist vor allem Ferramonte verantwortlich, der mit misogynen Äußerungen nicht spart, um den Männern den »richtigen« Weg zu verdeutlichen. Dabei agiert Ferramonte auch als moralische Instanz, denn zuallererst stellt er eine Verbindung zwischen Liebe und (unmännlichem) Müßiggang her, wie sich im Dialog mit Rinaldino zeigt:

190 | K ORDULA KNAUS

»Ferramonte: O elende Jugend! O unglücks-volle Leute! die zu nichts anders, als sich zu ergötzen, gebohren sind. Rinaldino: Wir beschäftigen uns mit der Liebe, und bedienen unsere Göttinnen. Ferramonte: Schöne Beschäftigung für Helden, die eurer würdig ist!« (DvW, 75)

Für Ferramonte sind die Frauen »grausame, hochmüthige Feindinnen« (DvW, 75), die sich schön machen, damit sie durch ihre vorgegebenen Schmeicheleien und Zärtlichkeiten die Männer verzaubern und sich hörig machen. Rinaldino braucht nicht lange, um Ferramonte eifrig zuzustimmen: »Ach! es ist mehr als zu wahr: Die Worte und Blicke, welche die Liebhaber zu Sclaven machen, sind lauter Zaubereyen.« (DvW, 79) Im Prinzip wird hier also zunächst das Verhalten der Frauen kritisiert: ihr Machtanspruch ist nicht legitim, weil er durch Heuchelei und Zauberei entstanden ist. Auch die Schönheit wohnt – so Ferramonte – den Frauen nicht inne, sondern ist eine durch künstliche Hilfsmittel (Schminke etc.) hergestellte. Im dritten Akt bleiben die frauenfeindlichen Äußerungen Ferramontes in diesem Rahmen: Frauen sind Zauberinnen, sie sind sehr listig, sie sollten eigentlich den Männern dienen und nicht so hochmütig und herrschsüchtig sein und den Männern befehlen wollen. Die biologistische Argumentation der Inferiorität von Frauen legt Goldoni interessanterweise wieder den Frauenfiguren in den Mund. Aurora glaubt ihr Reich zum Scheitern verurteilt, denn »wir [Frauen] besitzen zu wenig Verstand, selbiges aufrecht zu erhalten. [...] Die Rache ist unserm Geschlechte gemein.« (DvW, 93) Die Frauen wiederum, insbesondere Cintia und Aurora, die nun versuchen alleinig zur Macht zu gelangen, möchten die Männer instrumentalisieren, um für sie zu kämpfen. Cintia fragt Giacinto nach Mut und Tapferkeit, dieser aber argumentiert nun wieder mit der Natur: »Die Natur, unsere grosse Mutter, hat mir die besondere Ehre angethan, und mich mit einer schönen Gestalt und großmüthigen Herzen versehen.« (DvW, 83) Dies stellt sich aber sukzessive als pervertiertes Verhalten dar, das die Männer schließlich überwinden können. Als erstes wird Rinaldino von Ferramonte umgepolt. Er erscheint am Beginn des dritten Aktes in »Kriegs-Kleidung« und dankt Ferramonte, dass er das »Licht der Vernunft« über ihn gebracht habe und er sich »nunmehr an heldenmüthigen Gedancken und behutsamen Rathschlägen vergnünge.« (DvW, 107) Dabei wird in der nächsten Szene, in der Tullia hinzukommt, das neue vernünftige Heldentum gegen Rinaldinos unvernünftige

M USIK UND G ESCHLECHT ( VER -) HANDELN | 191

Liebe zu Tullia auf die Probe gestellt; wobei sich Rinaldino letztlich gar nicht entscheiden muss, denn Tullia unterwirft sich ihm ganz freiwillig: »Rinaldino: Tulia! was ist euer Begehren? Tullia: Euch unterwürfig zu seyn, und die Herrschaft gäntzlich einzuhändigen.« (DvW, 109)

Tullia, die in der ganzen Oper als die Vernünftige dargestellt wurde, ist auch so »vernünftig«, die Herrschaft der Frauen als erste aufzugeben. Liebe und Vernunft sind demnach vereinbar, wenn die »richtige« Geschlechterordnung wieder hergestellt ist. Im Laufe des dritten Aktes kommen auch Graziosino und Giacinto zur Einsicht. Giacinto ruft in der siebenten Szene des dritten Aktes aus: »Es lebe das männliche Geschlecht« (DvW, 123) und erkennt gegenüber Cintia »daß unsre Beschaffenheit weit höher zu schätzen ist, als die eurige.« (DvW, 123) Cintia braucht zwar noch ein ganzes Duett lang, um sich unterzuordnen. Schließlich singen die Frauen der Insel aber in der letzten Szene im Chor: »Habt Mitleid doch mit uns; Ihr seyd ja grosse Helden! Habt Mitleid doch mit uns.« (DvW, 127)

Ferramonte erklärt schließlich: »Dem Himmel sei Danck, daß man endlich gesehen, daß die verkehrte Welt nicht hat dauren können, weil das hochmüthige und herrschsüchtige Frauen-Volck sich selbst zuletzt ins Verderben bringt.« (DvW, 127) Im Schlusschor stimmen alle mit ein: »Wo das Frauenzimmer herrscht, Dort ist die verkehrte Welt, Die doch niemals dauren kann.« (DvW, 128)

Handlung und textliche Realisierung von Il mondo alla roversa, wie sie sich hier darbieten, lassen keinen Zweifel an einer stark biologisierend gedachten Geschlechterordnung, was sich unter anderem im auffallend oft verwendeten Natur-Begriff niederschlägt. Zugleich fungieren die Frauen in dieser Oper aber quasi als Stellplatz für »das Andere« und damit für unterschiedliche Diskurse, die Goldoni ausbreitet. Das wäre zum einen die sehr

192 | K ORDULA KNAUS

präsente Frage nach Herrschaftsformen und Macht, die etwa in den Szenen am Beginn des zweiten Aktes in Zusammenhang mit monarchischen und demokratischen Prinzipien diskutiert wird. Zum anderen ist ein zentrales Thema der Oper nicht das Verhältnis der Geschlechter zueinander, sondern eine Kritik am unsittlichen und verweichlichten Verhalten des Mannes, das – wie Ted Emery oder Bruno Capaci in ihren Publikationen feststellten8 – sicherlich im cicisbeo-Diskurs des 18. Jahrhunderts und in Goldonis in seinen dramatischen Werken unermüdliche geübter Kritik am cicisbeo eingebettet werden muss. Es ist deshalb das Ziel der Oper, dass der Mann am Ende zu einem moralisch und vernünftig handelnden Helden wird. Dieser Entwicklungsprozess wird vor allem an der Figur des Rinaldino durchgespielt. Die szenische Darbietung dieser Entwicklung steht aber einer biologisierend gedachten Geschlechterordnung entgegen, denn Rinaldino wurde in der ersten Aufführung in Venedig von der Sängerin Angela Conti interpretiert und ist für einen Sopran geschrieben. Dies war in der frühen opera buffa durchaus nicht ungewöhnlich. In diesen Opern finden sich immer sogenannte parti serie (ernste Rollen), die in gewisser Weise den Konventionen der opera seria (der ernsten Oper) verpflichtet sind. Im Falle von Il mondo alla roversa wären das Rinaldino und Tullia, die von Beginn an vernünftiger und weniger überzeichnet sind, als die anderen Figuren. Die männliche Figur dieses seria-Paares wurde um die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhunderts beinahe immer für eine hohe Stimme geschrieben und überwiegend von Sängerinnen (in geringerem Ausmaß auch von Kastraten) interpretiert. Dies lässt sich etwa aus den Besetzungen der komischen Opern Baldassare Galuppis in den 1750er Jahren ersehen:9

8

Vgl. Emery, Ted. 1991. Goldoni as Librettist. Theatrical Reform and the drammi giocosi per musica, Peter Lang: New York u.a. (Studies in Italian Culture Literatur in History 3), 110 und Capaci, Bruno. 2008. Il mondo alla roversa. Parodia e satira nei drammi giocosi di Carlo Goldoni. In: Giovanelli, Paola Daniela (Hg.). Goldoni a Bologna. Atti del Convegno di studi, Zola Predosa, 28 ottobre 2007. Bulzoni: Roma, 114.

9

Die Daten sind entnommen Sartori: 1990-1994.

M USIK UND G ESCHLECHT ( VER -) HANDELN | 193

Tabelle 1: Besetzung der Opern Baldassare Galuppis 1749-1755 Jahr 1749 1750 1750 1750 1751 1752 1753 1753 1754 1755 1755

Oper L’Arcadia in Brenta Arcifanfano re die matti Il mondo della luna Il mondo alla roversa Il conte Caramella Le virtuose ridicole La calamita de cuori I bagni d’Abano Il filosofo di campagna La diavolessa Le nozze

parte seria Giacinto Malgoverno Ernesto Rinaldino Marchese Ripoli Erideno Armidoro Monsieur la Fleur Rinaldo Conte Nastri Conte

Sänger/in Berenice Penni Berenice Penni Berenice Penni Angela Conti Salvador Conforti Salvador Conforti Francesco Rolfi Teresa Alberis Angela Conti Giuseppe Celesti Catterina Regis

Im Längsschnitt haben in der Oper Il mondo alla roversa in etwas mehr als der Hälfte der Aufführungen zwischen 1750 und 1760 Sängerinnen die Rolle des Rinaldino interpretiert:10 • • • • • • • • • • • • •

Venedig, 1750: Angela Conti Barcelona, 1752: Antonio Catena 1752, Torino: Giuseppe Quaglia Brescia, 1753: Angela Conti Venedig, 1753: Francesco Rolfi Hamburg, 1754: Nicola Peretti Leipzig, 1754: Teresa Venturelli Prag, 1754: Teresa Venturelli Venedig, 1755: Carlo Bombari Prag, 1755: Faustina Tedeschi Bologna, 1756: Violante Masi Modena, 1756: Giuseppa Dondi Moskau, 1759: Giuseppe Manfredini

10 Die Daten sind entnommen Sartori: 1990-1994. Vgl. auch die Daten des Forschungsprojekts Varianti all’opera: http://www.variantiallopera.it (Zugriff am 24.3.2014).

194 | K ORDULA KNAUS

Diese Besetzungskonvention nahm zwar nach 1760 deutlich ab, die Figur des Rinaldino ist jedoch explizit für die Darstellung durch eine Sängerin gedacht. Kann eine solche Besetzung einen ironischen Kommentar auf die Erlangung männlichen Heldenmuts durch Rinaldino darstellen? War es im 18. Jahrhundert komisch oder lustig, dass ausgerechnet die von einer Sängerin interpretierte männliche Figur im dritten Akt als Krieger auftritt und zu einem »echten Mann« wird? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Während Aurora, Graziosino, Cintia und Giacinto sich in ihrer charakterlichen Überzeichnung einerseits sowie ihrer simplen musikalischen Gestaltung andererseits als zeittypisches Buffo-Personal zu erkennen geben, sind Tullia und Rinaldino deutlich differenzierter, ernsthafter und nachdenklicher geschildert und agieren wesentlich vernünftiger als die anderen. Auch sprachlich und musikalisch unterscheiden sie sich von den anderen. Die Arientexte verwenden gehobene Sprache und sind bestimmt durch Gleichnisse, die man typischerweise der opera seria zuordnen würde. Tullia etwa verwendet für die Situation der Männer auf der Insel das Bild eines wilden Löwen, der zwar gezähmt werden kann, aber in Freiheit seine Bedrohlichkeit wieder zurückerlangt. Rinaldino beschreibt im zweiten Akt poetisierend den im Meer der Liebe verlorenen Steuermann: »Nochier, che s’abbandona In seno al mare infido, Quando lo brama, al lido Sempre tornar non può. Nel pelago amoroso Resta l’amante assorto, Né più ritrova il porto, Da dove si staccò.«11

11 Carlo Goldoni. 1750. Il mondo alla roversa o sia Le donne che comandano. Dramma bernesco per musica. Modesto Fenzo: Venedig, 36. Übersetzung: Der Steuermann, der sich dem heimtückischen Meer aussetzt, kann nicht immer an den Strand zurückkehren, wenn er es heiß ersehnt. Im Meer der Liebe bleibt der Liebende versunken; auch findet er den Hafen nicht mehr, von dem er abfuhr.

M USIK UND G ESCHLECHT ( VER -) HANDELN | 195

Auch musikalisch bedienen Tullia und Rinaldino eher die aus der opera seria bekannten Konventionen. Die Arien beginnen mit ausgedehnten Orchesterritornellen und sind aufwändig instrumentiert; die Singstimmen sind geprägt von Koloraturen auf Schlüsselwörtern, haben einen weiteren Ambitus und verwenden mehr Intervallsprünge als die Arien der anderen Handlungsfiguren. Rinaldino ist somit auch vor dem Hintergrund musikalischer Konventionen des 18. Jahrhunderts eine ernste und ernstzunehmende Figur. Zu bedenken ist außerdem, dass die Darstellung männlicher Figuren durch Sängerinnen in der ernsten Oper bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts eine gängige Konvention war. Die Helden der opera seria wurden nicht nur von Kastraten sondern zu einem recht erheblichen Teil auch von Frauen gesungen.12 Vor diesem Hintergrund ist die Rolle des Rinaldino nicht per se komisch, weil sie von einer Frau gesungen wird, sondern entspricht den aus der opera seria abgeleiteten Anforderungen an solche Rollen, die insbesondere die hohe Stimmlage fokussierten. Il mondo alla roversa steht in der Jahrhundertmitte gleichsam an einem Wendepunkt. Noch werden die Besetzungskonventionen der Barockoper angewendet, die aus heutiger Sicht erfrischend wirken, weil sie Geschlecht nicht naturalisieren, sondern ein breites Symbolrepertoire für die ideale Darstellung einer heroischen männlichen Opernfigur bedienen (hohe Stimmlage, Größe, Schönheit, Jugend etc.), in dem Geschlecht kaum eine Rolle spielt. Gleichzeitig liegt mit Il mondo alla roversa ein Libretto vor, das eine »natürliche Geschlechterordnung« vorführt, in der die Männer ihren eben »natürlichen« Herrschaftsanspruch zurückerobern. Dass die Stärke der Männer in dieser Oper beschworen wird, dann aber am Ende gerade eine einen solchen singende Frau in die männliche »Kriegs-Kleidung« gesteckt wird, zeugt von einer für das 18. Jahrhundert typischen Gleichzeitigkeit von als »natürlich« und als (in heutiger Terminologie) »sozialkonstruiert« gedachten Ordnungen und insbesondere Geschlechterordnungen. Die Oper erweist sich dabei als ein Ort, an dem diese Geschlechterordnungen in vielfältiger Weise (durch Text, Musik, Darstellung etc.) ausagiert, ge- und verhandelt werden können.

12 Vgl. Knaus, Kordula. 2011. Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Crossgender Casting in der Oper 1600-1800. Franz Steiner Verlag: Stuttgart (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 69), 96-121.

Komponistinnen der Moderne Bartók-Rezeption bei Elizabeth Maconchy und Jacqueline Fontyn C HRISTA B RÜSTLE

Die Beschäftigung mit Komponistinnen in der Musikwissenschaft blieb lange Zeit auf biographische Forschungen und allgemeine Werkeinführungen fokussiert, zu bedeutend war es zunächst in den 1980er und 1990er Jahren, Komponistinnen überhaupt namhaft zu machen und ihr Schaffen grundsätzlich zu würdigen. »Die Nichtexistenz von Komponistinnenbiographien führte im Umkehrschluss immer wieder dazu, die Nichtexistenz von Komponistinnen anzunehmen.«1 Diesen Zirkel galt es demnach zunächst aufzubrechen. Die musikalische Analyse von Werken, die Komponistinnen geschrieben haben, wurde demgegenüber oft zurückgestellt, nicht zuletzt deshalb, weil bei der Betrachtung von Kompositionen bzw. von Kunstwerken der einfache Zirkelschluss zwischen Leben und Werk in der Regel zu kurz greift (dies gilt selbstverständlich nicht nur für Komponistinnen, sondern generell für Künstler und Künstlerinnen und spezifisch für neu zu entdeckende Künstler und Künstlerinnen). Um etwa einen Personalstil oder eine persönliche, künstlerische Entwicklung darstellen zu können, ist es notwendig, z.B. den Einfluss von Lehrern oder Lehrerinnen einzubeziehen und überhaupt auch sonstige künstlerische Bezugnahmen oder Be1

Unseld, Melanie. 2010. Art. »Biografie«. In: Kreutziger-Herr, Annette/Unseld, Melanie (Hg.). Lexikon Musik und Gender. Bärenreiter/Metzler: Kassel/Stuttgart/Weimar, 148.

198 | C HRISTA B RÜSTLE

ziehungen und weitere Kontexte zu berücksichtigen. Zudem gilt es bei einer Werkbeschreibung oder bei der Betrachtung eines künstlerischen Œuvres, eine künstlerische Richtung oder stilistische Orientierung zu bestimmen, das heißt, es sind unter anderem Vergleiche anzustellen, die auf historische und gegenwärtige künstlerische Tendenzen und Leitlinien bezogen sind. Dieses Vorgehen birgt für die Betrachtung von Komponistinnen bzw. von Künstlerinnen eine eigene Schwierigkeit, das heißt eine genderspezifische Problematik, weil die Bestimmung von Einflüssen oder die Anstellung von Vergleichen dazu führen kann, gerade den Frauen Unselbstständigkeit, Abhängigkeit oder Epigonentum zu unterstellen. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellte beispielsweise Melanie Unseld die Tendenz zu einer »gendersensiblen Biografieforschung« fest, die solchen unterschwelligen negativen Bewertungen der Musik von Komponistinnen bzw. der Kunst von Frauen entgegenwirken kann.2 Die Beschäftigung mit der englischen Komponistin Elizabeth Maconchy (1907-1994) im Kontext eines Forschungsprojekts über englische Komponistinnen im 20. Jahrhundert sowie mit der belgischen Komponistin Jacqueline Fontyn (geb. 1930) aufgrund einer Publikation gab den Anlass, ihre kompositorische Rezeption der Musik von Béla Bartók zu thematisieren und zu vergleichen.3 Dabei geht es nicht (oder nur indirekt) um persön-

2

Ebd. Vgl. dazu auch Unseld, Melanie. 2010. (Auto-)Biographie und musikwissenschaftliche Genderforschung. In: Grotjahn, Rebecca/Vogt, Sabine (Hg.). Musik und Gender. Grundlagen – Methoden – Perspektiven. Laaber-Verlag: Laaber (= Kompendien Musik Bd. 5), 81-93. Vgl. dazu Brombach, Sabine/Wahrig, Bettina (Hg.). 2005. LebensBilder. Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies. transcript: Bielefeld; vgl. auch Kraul, Margret. 2006. Biographieforschung und Frauenforschung. In: Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hg.). Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. 2. überarb. und aktualisierte Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 483-497. Vgl. auch die Beiträge zu Genderforschung und Biographie, in: Kreutziger-Herr, Annette/Noeske, Nina/Rode-Breymann, Susanne/Unseld, Melanie (Hg.). 2010. Gender Studies in der Musikwissenschaft Quo Vadis? Festschrift für Eva Rieger, Georg Olms Verlag: Hildesheim/Zürich/New York (= Jahrbuch Musik und Gender Bd. 3), 107-142.

3

Vgl. Brüstle, Christa. 2000. »Music as an impassioned argument«. Das künstlerische Konzept in den Streichquartetten von Elizabeth Maconchy (1907-1994).

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 199

liche Beziehungen zwischen Maconchy und Bartók oder Fontyn und Bartók, sondern um die in den Werken der beiden komponierenden Frauen festzustellenden kompositionstechnischen Elemente und stilistischen Eigenheiten, die in ihrer Musik eine Orientierung an Bartók zeigen. Dabei ist ihre kompositorische Rezeption der Musik von Béla Bartók weder auf die Ausrichtung an einer irgendwie ausgeprägten »Bartók-Schule« noch auf den Bezug auf ein festgelegtes, ausgeschriebenes kompositionstechnisches »Bartók-Regelwerk« zurückzuführen. Einer Beschäftigung mit der kompositorischen Bartók-Rezeption insgesamt erwachsen daraus generell andere Prämissen und Schwierigkeiten als etwa einer Beschäftigung mit der kompositorischen Rezeption von Arnold Schönberg. Als die fünfzehnjährige Elizabeth Maconchy im Jahr 1923 ihr Musikstudium am Royal College of Music in London aufnahm, zuerst studierte sie Klavier und später Komposition, war Béla Bartók bereits ein bekannter Pianist, der nach dem Ausgang des Ersten Weltkriegs seine Solistenkarriere mit Konzerten in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika fortsetzen konnte. Ergänzend dazu hatte er mit der Universal Edition in Wien 1918 einen Verlagsvertrag abgeschlossen, der für den Komponisten Bartók den endgültigen Durchbruch und eine außerordentlich wichtige Etappe seiner internationalen Anerkennung bedeutete. Gleichzeitig war Bartók seit 1905/06 intensiv mit der ethnomusikologischen Erforschung von Volksmusik hauptsächlich in Ungarn und Rumänien beschäftigt. Seine Kompositionen zeigten allmählich stärkere Einflüsse der Volkslieder, die er gesammelt hatte, und das Jahr 1926 markierte zusätzlich eine deutliche Abkehr vom Stil und von der Diktion der Musik des 19. Jahrhunderts, die Bartók selbst in zwei Punkten zusammenfasste: seine Musik sei einfacher und kontrapunktischer geworden.4 Der Musikwissenschaftler Hartmut Fladt hat dies im Stil der 1970er Jahre wie folgt erläutert: Neue Sachlichkeit und

In: Eberl, Kathrin/Ruf, Wolfgang (Hg.). Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft. Bericht über den Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Halle (Saale) 1998, Bärenreiter: Kassel (2. Band: Freie Referate), 634-639. Vgl. auch Brüstle, Christa (Hg.). 2013. Jacqueline Fontyn – Nulla dies sine nota. Autobiographie, Gespräche, Werke. Universal Edition: Wien. 4

Vgl. Szabolcsi, Bence. 1972. Das Leben Béla Bartóks. In: Szabolcsi, Bence (Hg.). Béla Bartók. Weg und Werk, Schriften und Briefe. Bärenreiter-Verlag:

200 | C HRISTA B RÜSTLE

»Neoklassizismen [...] verbinden sich mit neuem Konstruktivismus, einer Verfügbarkeit des einzelnen musikalischen ›Bausteins‹ und der Formverfahren, mit Technisierungen [...] Weitgehend objektiviert, scheinbar entideologisiert sind nun auch Elemente der Bauernmusik, die als versachlichte Mittel wie andere eingesetzt werden. Die neue Betonung des Machens und des Machbaren dokumentiert die demonstrative Anwendung aller verfügbaren kontrapunktischen Verfahren – auch auf engstem Raum – mit meist kurzen Motiven und Partikeln, in denen das Moment des Dinghaft-Stofflichen überwiegt.«5

Neben anderen Werken stehen für diese Wandlung, die nun allerdings von konservativ gesonnenen Musikliebhabern stark kritisiert wurde, vor allem die Streichquartette Nr. 4 und 5 bzw. mit Einschränkung Nr. 3 bis Nr. 6, die auch in der Bartók-Rezeption eine besondere Rolle spielen. (Nr. 3 entstand 1927 und wurde im Februar 1929 in London uraufgeführt; Nr. 4 entstand 1928 und wurde im März 1929 in Budapest uraufgeführt; Nr. 5 entstand 1934 und wurde im April 1935 in New York uraufgeführt, Nr. 6 entstand 1939 und wurde 1941 ebenfalls in New York uraufgeführt, in ihm sind jedoch bestimmte Neuerungen zurückgenommen). Für Elizabeth Maconchy waren die Streichquartette von Bartók ganz entscheidende Anregungen und Orientierungen, denn sie hat selbst zwischen 1933 und 1984 insgesamt 13 Streichquartette komponiert. Nach ihrem Kompositionsstudium bei Ralph Vaughan-Williams, dem Doyen der britischen Musik im 20. Jahrhundert, hat Elizabeth Maconchy 1930 zunächst mit einem Klavierkonzert und einer Orchesterouvertüre ein breites Publikum erreicht, aber ihr besonderes Interesse galt der Kammermusik, wie sie selbst betonte: »Writing chamber music has been my own main preoccupation. I have found the string quartet above all best suited to the ex-

Kassel und Deutscher Taschenbuch-Verlag: München, 60 (Szabolcsi zitiert Bartók nach einem Interview von 1941, erschienen in The Etude). 5

Fladt, Hartmut. 1974. Zur Problematik traditioneller Formtypen in der Musik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Dargestellt an Sonatensätzen in den Streichquartetten Béla Bartóks, Musikverlag Emil Katzbichler: München (= Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten Bd. 6), 132f.

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 201

pression of the kind of music I want to write – music as an impassioned argument«.6 Bereits in den Besprechungen der Aufführung ihres ersten Streichquartetts 1933 in London hat ein Kritiker angemerkt, »Miss Maconchy« könne man als »a kind of English Bartók« bezeichnen.7 Allgemeine Merkmale, die auf Bartóks Musik hindeuten, sind im ersten Streichquartett von Maconchy bereits zu erkennen: die Stimmen werden zumeist selbstständig linear geführt, eine Kombination der Stimmen ergibt sich in der Regel aus der Imitation von Motiven. Dissonanzen und Synkopen bzw. unregelmäßige Rhythmen sowie Ostinati bestimmen den Satz, obwohl es zwischendurch tonal anmutende Akkorde und Passagen gibt. Im letzten Satz sind volkstanzähnliche Rhythmen integriert. Wie oder wodurch die junge Komponistin auf Béla Bartóks Musik gestoßen ist, kann allerdings nicht genau nachvollzogen werden. Freunde und Kenner ihrer Musik, selbst ihre Tochter Nicola Le Fanu, die ebenfalls Komponistin ist, geben alle an, Maconchy habe Bartók für sich selbst entdeckt. Die Freundin, Violinistin Anne Macnaghten, schrieb in einem Portrait über Elizabeth Maconchy 1955: »Bartók’s music she discovered for herself, by chance. It set fire to her imagination, opening up new worlds. It also convinced her that she must set about her problems in her own way.«8 Der Musikschriftsteller und Kenner Hugo Cole schrieb in seinem Nachruf (1994): »There was little interest in contemporary European music at the College [Royal College of Music], and she was left to discover Bartók for herself. His music came as a revelation to her, as was for long to have a profound influence on her work.«9 In einem Dokumentarfilm über Elizabeth Maconchy von 1985 hat die Komponistin erwähnt, dass sie Bartóks Musik ein Jahr nach dem Beginn ihres Kompositionsstudiums bei Ralph

6

Maconchy, Elizabeth. 1971/72. A Composer Speaks – I. In: The Composer 42, 25.

7

Vgl. Music Lover, 11. November 1933, u.d.T. A Really Outstanding Work. The

8

Macnaghten, Anne. Juni 1955. Elizabeth Maconchy. In: The Musical Times 96,

Macnaghten-Lemare Concert. 299. 9

Cole, Hugo. 14. Nov. 1994. The Guardian, Nachruf auf Elizabeth Maconchy.

202 | C HRISTA B RÜSTLE

Vaughan Williams, also 1926, kennen gelernt habe.10 Die Musikwissenschaftlerin Jenny Doctor wies darauf hin, dass Maconchy 1927 Bartóks Klaviersuite op. 14 (1916) in einem »informellen Konzert« gespielt habe.11 Jenny Doctor kommentierte auch Maconchys Begeisterung für Bartók zu der damaligen Zeit, die ungewöhnlich erscheint: »An affinity for Bartók was highly unusual in Britain at that time. Maconchy must have been aware of the intense public outcry against Bartók that arose in Britain during the late 1920s, provoked by BBC broadcasts that the composer gave of his own works […] the protestors pointing to Bartók and Stravinsky as the quintessential examples of composers gone mad. Thus, Maconchy’s fascination with Bartók’s music at this time was extremely significant: it indicated that her musical awareness extended beyond the realm of the English status quo to encompass styles that had the reputation in Britain of being the most avant-garde of the day.«12

Mit ihrer Orchestermusik hatte sich Maconchy demnach in die akzeptierte Linie neuer Musik in Großbritannien gestellt, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts forciert wurde (die sogenannte English Musical Renaissance).13 Mit ihren Streichquartetten jedoch gehörte sie zur »Ultramoderne« und wurde infolgedessen auch bei Festivals der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik präsentiert, z.B. beim IGNM-Festival in Paris im Juni 1937, als dort ihr zweites Streichquartett uraufgeführt wurde. Im September 1935, beim IGNM-Festival in Prag standen bereits Maconchys Prelude, Interlude und Fugue für zwei Violinen auf dem Programm.14 Konzertkritiken zeigen, dass sie in diesem internationalen Kontext als herausragende junge

10 In einem Dokumentarfilm über Elizabeth Maconchy von Margaret Williams (London: Arts Council, 1985). 11 Vgl. Doctor, Jenny. 1998. Intersecting Circles: The Early Careers of Elizabeth Maconchy, Elisabeth Lutyens, and Grace Williams. In: Women & Music 2, 1998, 90-109, hier: 97. 12 Ebd., 97. Herv.i.O. 13 Vgl. Stradling, Robert/Hughes, Meirion. 1993. The English Musical Renaissance 1860-1940. Construction and Deconstruction. Routledge: London. 14 Vgl. Haefeli, Anton. 1982. Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart. Atlantis Verlag: Zürich, 492, 495.

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 203

Künstlerin beurteilt wurde, negative Stimmen sind in diesem Zusammenhang nicht zu finden. Eine umfassende Analyse der Orientierung Maconchys an Bartók kann im vorliegenden Rahmen nicht gegeben werden, doch es lassen sich einige zentrale Aspekte der Kompositionstechniken Bartóks zur Erläuterung von Bezugnahmen herausstellen. Dies betrifft erstens z.B. die Arbeit mit einem Thema aus Intervall- bzw. Motivkombinationen, das als »Kern« benutzt wird und sich in vielen verschiedenen Variationen durch ein ganzes Stück hindurchzieht (man spricht bei Bartók von Monothematik und Variation). Daraus entstehen innerhalb eines einzelnen Satzes melodische Themenverwandtschaften (auch wenn etwa die Rhythmen der Themen unterschiedlich sind), und innerhalb eines ganzen Streichquartetts ergibt sich daraus die Möglichkeit, die einzelnen Sätze untereinander zu verbinden. Mit diesen Gestaltungsmitteln hat Bartók bereits in seinen ersten beiden Streichquartetten gearbeitet (das erste Streichquartett op. 7 entstand 1908, es wurde 1910 uraufgeführt und es lag mindestens seit 1911 in gedruckter Form vor, wurde aber in Budapest gedruckt; das zweite Streichquartett op. 17 entstand 1915–17, wurde 1918 in Budapest uraufgeführt, aber 1920 bei Universal Edition in Wien gedruckt). Während die »Kernmotive« in den ersten beiden Streichquartetten kurze Melodien sind, lässt sich der zugrundeliegende zentrale »Baustein« im dritten Streichquartett im Prinzip auf zwei Intervalle reduzieren (Quarte, Terz), die in vielfachen Spiegelungen, Umkehrungen und Variationen vorkommen und damit dichte thematisch-motivische Zusammenhänge ausbilden, wie beispielweise János Kárpáti in seiner Studie über die Streichquartette Bartóks gezeigt hat.15 Sofern Maconchy die ersten drei oder sogar vier Streichquartette von Bartók kennen lernen konnte (das zweite Streichquartett war also als Partitur bei Universal Edition zu erwerben, das dritte und das vierte Streichquartett wurden ebenfalls 1929 bei Universal Edition gedruckt, das fünfte Streichquartett erschien erst 1936 bei Universal Edition), dann hat sie gerade die Wandlung, die Abkehr Bartóks vom 19. Jahrhundert nachvollziehen können, die nun unter anderem auch implizierte, dass die konstruktivistische Arbeit mit kleinen musikalischen Bausteinen in den Vordergrund trat.

15 Vgl. Kárpáti, János. 1975. Bartók’s String Quartets. Corvina Press: Budapest; vgl. auch Kárpáti, János. 1994. Bartók’s Chamber Music. Pendragon Press: Stuyvesant, NY.

204 | C HRISTA B RÜSTLE

Genau dies hat Maconchy in ihren Streichquartetten zum Prinzip erhoben. Bei ihr steht die monothematische Technik als Konstruktionsmittel im Vordergrund, wie bei einer ganz genau durchgeplanten »Unterhaltung« aus Argumenten, die immer wieder in einem anderen Licht präsentiert werden. Davon heben sich vor allem tänzerische oder liedhafte Teile ab, die wie Inseln in das Stimmengeflecht eingebracht werden. Als Beispiel werde ich kurz auf das zweite Streichquartett von Elizabeth Maconchy eingehen (entstanden 1936), das ganz expressive Abschnitte mit der Durchführung eines Themas verbindet, das alle vier Sätze bestimmt. Maconchy kommentierte ihr zweites Streichquartett folgendermaßen: »The first movement is one great arc, growing inexorably from its quiet opening to a sustained, forte tutti, and through that to the fff climax of the movement. All the music grows out of the initial idea: and not only is this movement monothematic, but when the Scherzo begins, very soft and quick, we hear that it too is derived from those first steps of the viola. It becomes clear that the opening of the work was the seed from which everything in the quartet would grow. From the irregular metre and capricious rhythms of the Scherzo the music moves without a break into a slow movement of extended melodic lines, against which more agitated fragments can be heard; all coalesce in a climax from which the music subsides into the pizzicato that begins the fourth movement. This is quick and forthright, a cross-play of rhythmic and melodic counterpoints, whose coda brings a resolution of the questing motive which opened the whole work.«16

Das zentrale thematisch-motivische Material, die Saat, von der Maconchy gesprochen hat, ist eine aufwärts gehende Linie in der Viola, die sich wie in einer Spiralbewegung zunächst in Halbtonschritten langsam vom Ausgangston entfernt, bis die fünfte Stufe erreicht ist, um dann in einer ähnlichen chromatischen Drehbewegung zum Ausgangston zurückzukehren. Die Melodie wird darüber hinaus durch den jambischen Rhythmus und durch wiederkehrende Triolen charakterisiert. Wir hören dieses Thema am Beginn des Quartetts zuerst in der Viola, dann in der zweiten Geige, dann in der ersten Geige. Das Cello wird zunächst ausgespart, dafür setzt die Viola

16 Begleitheft zu den CDs: Elizabeth Maconchy: String Quartets Nos 1-4, HansonString Quartet, Unicorn-Kanchana, Unicorn Records Ltd. 1989, 6.

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 205

nochmals mit dem Thema ein und fügt der Spiralbewegung aufwärts noch weitere Töne hinzu. (Siehe Notenbeispiel 1 auf dieser und Notenbeispiel 2 auf der nächsten Seite.) Notenbeispiel 1: Maconchy, Streichquartett Nr. 2, Beginn

Quelle: Elizabeth Maconchy, String Quartet No. 2, Alfred Lengnick & Co. Ltd., London, 1959

206 | C HRISTA B RÜSTLE

Notenbeispiel 2: Elizabeth Maconchy, Streichquartett Nr. 2, zweite Seite

Quelle: Elizabeth Maconchy, String Quartet No. 2, Alfred Lengnick & Co. Ltd., London, 1959

Zu diesem Kommentar lassen sich drei Aspekte ergänzen: Erstens gewinnt Maconchy aus dem Ausgangsmaterial der kleinschrittigen Drehbewegung auch ihre Neben- und Gegenstimmen. Zweitens wird der andauernden Be-

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 207

wegung in Halbtonschritten ein überlagerndes zweites lyrisches Thema zugeordnet (mp espressivo), das sich in großen Bögen über die unruhigen rhythmischen Bewegungen und Triolen legt. Auch dieses Thema ist von den Anfangsmotiven abgeleitet. Drittens werden der jambische Rhythmus und die Triolen allmählich zu dynamisierenden, antreibenden Elementen, die teilweise alle Stimmen gemeinsam erfassen und dadurch dem Stimmengeflecht einen satztechnischen Kontrast gegenüberstellen. Zu den weiteren Sätzen des Streichquartetts können hier nur einige Bemerkungen angefügt werden, die sich auf den thematisch-motivischen Zusammenhang beziehen: Im zweiten schnellen Satz (Scherzo) ist hauptsächlich der Wechsel zwischen den Halbtonschritten bestimmend, der Rhythmus wird umgekehrt (Trochäus). Im dritten langsamen Satz wird das Thema in der Viola vergrößert (also rhythmisch erweitert), wohingegen in der ersten Geige vor allem rasche Triolenfiguren als kontrastierende Begleitung eingebracht werden. Der vierte Satz (Allegro) bringt eine weitere Variante des Hauptthemas, das nun ohne Synkopen auskommt und nur mit einer Triole als »Ornament« die ehemalige Drehbewegung in Erinnerung ruft. Die jambischen, kurzatmigen Elemente werden als Blöcke eingesetzt, die alle Stimmen erfassen. Den Schluss bildet das Hauptthema als Ostinato, als Wiederholungsfigur im Cello, so dass es in der tiefen Lage deklamatorisch den Zyklus abschließt. (Siehe Notenbeispiel 3 auf der nächsten Seite.) Die zusammenfassende Beschreibung des zweiten Streichquartetts erlaubt zwar nur einen kurzen Blick auf ein musikalisches Schaffen, über das sehr viel mehr zu sagen wäre, aber die Konzentration darauf sollte einige Hauptpunkte hervorheben, die auch bei den anderen Streichquartetten eine große Rolle spielen. Ein weiterer Bezug zu Bartók, der noch anzusprechen ist, erweist sich auch für die belgische Komponistin Jacqueline Fontyn von Bedeutung. Es handelt sich um die Vermeidung klarer tonaler Strukturen bzw. um die Vermeidung einer bestimmten Grundtonart in Dur oder Moll. Bei Bartók wurde dabei von Bimodalität oder Polymodalität und Chromatizismus gesprochen, die er hauptsächlich aus seinen Erfahrungen mit Melodien der Volkslieder abgeleitet habe. Zwei oder mehrere Tonskalen werden kombiniert, so dass vor allem ein Überhang an großen oder kleinen Terzen vermieden wird und stattdessen beide gleichrangig präsent sind. Sofern die Skalen mit Zwischentönen aufgefüllt werden, entsteht darüber hinaus die Ausweitung in den Raum aller verfügbaren Tonqualitäten. Genau diese

208 | C HRISTA B RÜSTLE

Technik sehen wir in vereinfachter Form bereits in Maconchys Thema aus dem zweiten Streichquartett. Notenbeispiel 3: Elizabeth Maconchy, Streichquartett Nr. 2, Schluss

Quelle: Elizabeth Maconchy, String Quartet No. 2, Alfred Lengnick & Co. Ltd., London, 1959

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 209

In den ersten sechs Takten, die die Viola vorstellt, werden die Stufen bis zur Quinte erschlossen. Doch erstens sind die große und die kleine Terz, die jeweils Dur oder Moll nahelegen würden, immer gleichzeitig vorhanden, und zweitens wird mit dem Ton fis auch ein Ton eingefügt, der weder in die Dur- noch in die Moll-Skala hineinpasst und noch dazu eine starke Reibung mit dem Halteton g im Cello ergibt (fis könnte als Leitton nach g fungieren, wird aber immer abwärts geführt, also entsteht keine Leittonwirkung). Im weiteren Verlauf erschließt das Hauptthema in ähnlicher Form den Tonvorrat über die Oktave hinaus, eine eindeutige tonale Zuordnung wird vermieden. Die Eröffnung von Ton- und Klangräumen, die sich in dieser Form allmählich entfalten, spielt – wie angedeutet – auch für die Kompositionen von Jacqueline Fontyn eine große Rolle. Die belgische Komponistin Jacqueline Fontyn hat mit dem Kompositionsstudium Ende der 1940er Jahre begonnen, nachdem sie bereits als Pianistin erste Erfolge gefeiert hatte. Ab 1948 erhielt sie Unterricht in Musiktheorie, Instrumentierung und Komposition bei Marcel Quinet in Brüssel. 1954/1955 hat Jacqueline Fontyn ihre kompositorische Ausbildung in Paris bei Max Deutsch fortgesetzt, bei dem sie die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs studieren konnte. Etwa gleichzeitig ist sie dem belgischen Theologen und Musikwissenschaftler Denijs Dille begegnet, der sie mit den Werken von Béla Bartók vertraut gemacht hat. Denijs Dille hat für Jacqueline Fontyn gewissermaßen den Vater ersetzt, der im Januar 1955 gestorben ist. Dille wurde für sie in allen künstlerischen Bereichen ein außerordentlich wichtiger Mentor. Er kannte Bartók seit 1937 persönlich, als er ihn bei einem Konzert in Brüssel getroffen hatte. Dille entwickelte sich zu einem Bartók-Spezialisten und -Forscher, der 1974 ein Thematisches Verzeichnis der Jugendwerke Bartóks herausgegeben hat. Darüber hinaus war er von 1961 bis 1971 der erste Leiter des Bartók-Archivs in Budapest. Bei Jacqueline Fontyn liegt demnach eine klare Bezugnahme auf Bartók über Denijs Dille vor. Diese Bezugnahme wird gestärkt durch eine Begegnung mit dem italienischen Komponisten Goffredo Petrassi 1956 in Rom, der sich ebenfalls in vieler Hinsicht auf Bartóks Musik bezogen hat.17

17 Vgl. dazu Thiele, Ulrike. 2013. Das Umfeld Dille – Petrassi – Lutosławski: Kompositorische und ästhetische Denkfiguren im Schaffen von Jacqueline Fontyn. In: Brüstle, Christa (Hg.). Jacqueline Fontyn – Nulla dies sine nota. Auto-

210 | C HRISTA B RÜSTLE

Beide Komponistinnen bezogen sich demnach auf Bartóks Musik, doch eine (kompositorische) Bartók-Rezeption in den 1950er Jahren hatte einen ganz anderen Stellenwert als in den 1920er und 1930er Jahren. Während sich Elizabeth Maconchy damals zur »Ultramoderne« bekannte, bedeutete die Anknüpfung bei Bartók für Jacqueline Fontyn in den 1950er Jahren eine Distanzierung von der zeitgenössischen Avantgarde, wenn nicht sogar in manchen Augen eine kompositorisch rückschrittliche oder rückwärtsgewandte Haltung. Dies lag daran, dass Bartók in den 1950er Jahren bereits als moderner »Klassiker« galt, der in einer Position zwischen Schönberg und Strawinsky zwar zu den Vorläufern der Avantgarde gehörte, dem aber keine zentrale, leitende Funktion zuerkannt wurde. Man betrachtete (wie etwa Wolfgang Fortner 1963) Bartók als »großen Komponisten der jüngsten Vergangenheit«, sein Werk habe »seinen geschichtlichen Platz«, aber zu »brennenden Fragen der Musik der Gegenwart« spreche Bartók nicht mehr.18 Zudem wurden Komponisten, die sich an Bartók orientierten, als »unsicher und epigonenhaft« eingestuft.19 Es gab eine prominente Reihe von Autoren, etwa Theodor W. Adorno, René Leibowitz oder Pierre Boulez, die sich alle in dieser abwertenden Form über Bartók und BartókRezeption äußerten, wie die Musikwissenschaftlerin Simone Hohmaier in einer Studie von 2003 ausführlich dargelegt und diskutiert hat.20 Jacqueline Fontyn hat sich demnach ganz bewusst für eine kompositorische Distanz zur damaligen Avantgarde in Darmstadt oder Donaueschingen entschieden, die noch dazu von ihren Lehrern und manchen künstlerischen Freunden unterstützt wurde. »Meine Stunden bei Marcel Quinet [Lehrer Fontyns] wurden jede Woche fortgesetzt. Stimmte es, daß manche ihm vorwarfen, mißtrauisch gegenüber den Komponisten zu sein, die in den 1950er Jahren die avantgardistischen Kreise füllten? Er hat

biographie, Gespräche, Werke. Universal Edition: Wien/London/New York. (= Studien zur Wertungsforschung Bd. 55), 117-133. 18 Zit. nach Hohmaier, Simone. 2003. »Ein zweiter Pfad der Tradition«. Kompositorische Bartók-Rezeption. Pfau-Verlag: Saarbrücken, 9. 19 Vogt, Hans. 1972. Neue Musik seit 1945. Philipp Reclam jun.: Stuttgart 1972, 74. »Wo jedoch Komponisten Bartóks Weg folgten, wirken sie in sich selbst unsicher, epigonenhaft. Sie kopieren Bartók mehr, als daß sie ihn besitzen.« 20 Hohmaier: 2003.

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 211

mir immer sehr davon abgeraten, nach Darmstadt oder Donaueschingen zu fahren, wo Berühmtheiten wie Luigi Nono, Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen herrschten, und wo ich sicher viele Kollegen meines Alters getroffen hätte [...]«21

Die kompositorische Anknüpfung Fontyns bei Bartók bezieht sich vor allem bei der Themen- oder Reihenbildung auf ganz ähnliche Elemente wie bei Maconchy: sie vermeidet eindeutige tonale Strukturen und verwendet viele chromatische Zwischenschritte. Doch wenn aus der Kombination von einzelnen Stimmen Terzen oder Dreiklänge mit Terzen hervorgehen, dann werden diese »tonalen« Konstellationen akzeptiert, sie werden – ähnlich wie bei Bartók – nicht gesucht, aber auch nicht vermieden. Das brachte Bartók den Vorwurf ein, indifferent geblieben zu sein, und das brachte auch seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen den Vorwurf ein, an veralteten Strukturen festzuhalten. Im Blick auf die Musik von Jacqueline Fontyn sei zum Schluss auf ein kurzes Beispiel aus dem Stück Compagnon de la Nuit für Oboe und Klavier (1989) eingegangen, ein Abschiedsgesang auf den befreundeten Maler und Dichter Emile Poncin (1933–1989).22 Am Anfang des Stücks kommt die Oboe z.B. mehrmals auf den gleichen Ton b’ zurück, mit dem die Musik sehr leise anhebt (der Ton h’ ist kurzzeitig mit im Spiel). Von diesem Anfangston aus folgen zunächst chromatische kleine Schritte abwärts, zum as’, zum a’, zum g’, zum f’. Die Rückkehr zum Anfangston b’ wird immer variiert, verkürzt oder verlängert (vgl. Notenbeispiel 4 auf der nächsten Seite). Nach dem ersten Abschnitt wird der Halteton as’ erreicht, damit auch der klangliche Raum des Anfangs verlassen. Die nächsten Haltetöne sind der Ton g’ und der Ton a’’. Der darauf folgende Abschnitt schließt leise mit einer vertikalen Schichtung von h, gis und e (Oboe und Klavier), das könnte man als E-Dur bezeichnen, ohne dass man sich jedoch in einem harmonischen Gefüge befindet. Die zusätzlichen Töne, die an dieser Stelle ebenfalls erklingen (a, ges’, f’, fis’, g’, zudem Tremolo von g’ und fis’ in der Oboe), lassen ohnehin keine eindeutige Akkordwirkung zu.

21 Fontyn, Jacqueline. 2013. Autobiographische Skizze. Wie kann man es sagen... mit Worten? In: Brüstle: 2013, 25. 22 Vgl. Jacqueline Fontyn. 1989. Compagnon de la Nuit, für Oboe und Klavier, POM (Perform Our Music): Limelette.

212 | C HRISTA B RÜSTLE

Notenbeispiel 4: Jacqueline Fontyn, Compagnon de la Nuit, Beginn

Quelle: Jacqueline Fontyn, Compagnon de la Nuit, POM (Perform Our Music), Limelette, 1989

Fontyn hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass sie ein »tonales Gefühl« behalten habe, das ihr zufolge »irgendwo im Unterbewußtsein geblieben« ist, auch wenn sie keine tonalen Entwicklungen oder tonalen Verhältnisse angelegt habe.23 In einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Bruno Peters sagte Jacqueline Fontyn: »Es ist schwierig, sich selbst einzuordnen. Außerdem mag ich Etiketten nicht besonders. Einige werden uns dennoch angeklebt. Für einen Teil der Hörer ist meine Musik zu modern, für andere ist sie es nicht genug. Dabei sollte man sich darüber im Klaren sein, daß sich diese Begriffe ständig weiter entwickeln. Und ich hoffe, daß

23 Brand, Bettina. 1991. Jacqueline Fontyn, Musikfrauen e.V.: Berlin. (= Klangportraits 2), 15.

K OMPONISTINNEN

DER

M ODERNE | 213

ich mich auch weiter entwickle. Einige Stimmen bezeichnen meine musikalische Sprache als zeitgenössischen Impressionismus: ein schöner Name!«24

»Impressionismus« als Begriff würde man musikhistorisch eher am Beginn des 20. Jahrhunderts vermuten; auch mit der positiven Begrüßung dieses Begriffs zeigt sich bei Jacqueline Fontyn im Grunde genommen eine Unabhängigkeit gegenüber zeitgenössischen Strömungen der neuen Musik, und – wenn man so will – eigentlich eine »postmoderne Haltung«, ohne dass die Komponistin je diese Kategorie bemüht hätte. Trotzdem ist zu erwähnen, dass diese Kategorie in den letzten Jahren durchaus dazu beigetragen hat, ihre Kompositionen in einem neuen Licht zu betrachten.

24 Jacqueline Fontyn im Gespräch mit Bruno Peeters (2011). In: Brüstle: 2013, 59.

Überwindung von Genre- und Gender-Grenzen? Gedanken zur Zusammenarbeit von Fe-Mail und Enslaved im Band-Projekt Trinacria K ARL K ATSCHTHALER

Trinacria ist ein im Jahr 2005 gegründetes Projekt von Mitgliedern zweier norwegischer Bands. Von der Encyclopedia Metallum wird es als BlackMetal-Band verzeichnet. Es gibt ein einziges Album mit dem Titel Travel Now Journey Infinitely, das im Jahr 2008 auf dem auf norwegische MetalMusik spezialisierten Label Indie Records erschienen ist. Der eine Teil des Personals von Trinacria besteht aus den beiden Gründungsmitgliedern von Enslaved, einer der bekanntesten Extreme-Metal-Bands Norwegens, Ivar Bjørnson und Grutle Kjellson, der andere aus den zwei Musikerinnen der Noise-Band Fe-Mail, Hild Sofie Tafjord und Maja Solveig Kjelstrup Ratkje, die auch eine Hälfte des Improvisationsquartetts SPUNK bilden. Dazu kommen noch zwei Musiker der Hardrock-Band Audrey Horn und Iver Sandøy an den Drums. Als in den 1980er Jahren ein Teil der bis dahin subkulturellen HeavyMetal-Musik Eingang in den Mainstream findet, entstehen zugleich neue Stile, die laut Deena Weinstein, einer Pionierin der Heavy-Metal-Forschung, eine fundamentalistische Rückkehr zu den Standards der HeavyMetal-Subkultur repräsentieren. Diese Stile, welche Weinstein unter den Begriffen »Speed Metal« und »Trash Metal« sowie dem Subgenre »Death Metal« behandelt, strebten danach, für die hegemoniale Kultur wieder völ-

216 | K ARL K ATSCHTHALER

lig inakzeptabel zu werden, indem sie einen der zwei Themencluster, die Weinstein in den Texten des Heavy Metal festgestellt hat, nämlich die Themen des Chaos, zum alleinigen Thema machten und hyperbolisierten.1 In Europa entstanden ähnliche Tendenzen wie Grind Core und Black Metal, letzterer vor allem in Skandinavien und dort wiederum in erster Linie in Norwegen. Das Gemeinsame dieser Genres liegt nach Keith Kahn-Harris, der sie unter dem Begriff »Extreme Metal« zusammenfasst, nicht nur in der diskursiven Transgression, sondern auch in einer klanglichen und körperlichen.2 In klanglicher Hinsicht ist Black Metal charakterisiert durch sehr stark verzerrte Gitarren, die in seltenen, dunklen Tonarten und unter Verwendung von Dissonanzen und des Tritonus gespielt werden, das Schlagzeugspiel enthält unter anderem Elemente wie die sogenannten »Blast beats« und ist komplex. Die Verzerrung der Gitarren wird auch auf die Stimme übertragen, die durch ein hohes Kreischen gekennzeichnet ist. Die Band Enslaved ist 1991 im Milieu der berühmt-berüchtigten norwegischen Black-Metal-Szene, in der das diskursiv transgressive Element der Gegnerschaft zum Christentum bzw. des Satanismus und des Misanthropischen als transgressives Verhalten bis zu zahlreichen Kirchenbrandstiftungen und zwei Morden führte, entstanden.3 Enslaved und andere von Jeff Wagner »progressive extreme metal« oder »post-black metal« genannte Bands sind aber geprägt durch extreme Individualität des Sounds und der Ideologie: »[…] Norwegian extreme progressive metal – or post-black metal – is a sound and philosophy united only by its will to suspend rules, borders, and expectations. It was dubbed ›The Weirding of Norway‹ by onetime Terrorizer editor Nick Terry; a better name for the phenomenon has yet to found [sic!].«4

1

Vgl. Weinstein, Deena. 2009. Heavy Metal: The Music and Its Culture. Da Capo Press: Cambridge, 48-52.

2

Vgl. Kahn-Harris, Keith. 2007. Extreme Metal: Music and Culture on the Edge.

3

Vgl. Wagner, Jeff. 2010. Mean Deviation: Four Decades of Progressive Heavy

Berg: Oxford u.a., 25-51. Metal. Bazillion Points: Brooklyn, NY, 249. 4

Ebd., 247.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 217

Man kann also sagen, dass sich ihre Transgressivität auch und vor allem auf die Genre-Grenzen richtet.5 Während die frühen Alben von Enslaved sich ganz auf altnordische Krieger-Mythologie konzentrieren,6 dies aber in einer gut informierten und kritischen Perspektive tun7 und somit paradigmatische Beispiele eines progressiven Viking-Metal darstellen, hat die Band dieses Genre inzwischen hinter sich gelassen. Diese Veränderung wird von Jeff Wagner als Genre-Transgression beschrieben: »Later Enslaved albums Isa (2004) and Vertebrae (2008) are packed with unique riffs, Pink Floyd-esque atmospheres, lots of vocal variety, and moments of intensity that prove the band never totally left black metal behind – just expanded on its possibilities […]«8

In dieser Perspektive erscheint die Zusammenarbeit mit Fe-Mail wie ein weiterer Schritt in Richtung Genre-Erweiterung. Ist die Szene des Extreme Metal schon sehr differenziert und beinahe unübersichtlich, so gilt dies wohl in nicht geringerem Maße auch für die sogenannte Noise-Musik. Obwohl die Ursprünge der Noise-Musik bis zum Futurismus zurückverfolgt werden können, gibt es das Genre seit den 70er

5

Ivar Bjørnson sagt dazu: »The ideal was to have a scene in which each band created their own genre with their albums. I think that ideal is very much alive still. But at some point the newer bands had this idea that being a proper Norwegian black metal band was about repetition and maintaining status quo – yet the initial idea was the opposite: Tear down your ideals and just totally fuck up every possible rule.« Zit. nach: Ebd., 249.

6

Zur musikalischen Analyse des Kriegerischen im Viking-Metal von Enslaved vgl. Florian Heeschs Analyse des Songs Wotan in: Heesch, Florian. 2011a. Performing Aggression: Männlichkeit und Krieg im Heavy Metal. In: Ellmeier, Andrea/Ingrisch, Doris/Walkensteiner-Preschl, Claudia (Hg.). Gender Performances: Wissen und Geschlecht in Musik. Theater. Film. Böhlau: Wien, 49-74, hier: 62-68.

7

Vgl. Von Helden, Imke. 2010. Barbarians and Literature: Viking Metal and its Links to Old Norse Mythology. In: Von Helden, Imke/Scott, Niall W. R. (Hg.). The Metal Void: First Gatherings. Inter-Disciplinary Press: Oxford, 257-264, hier: 261.

8

Wagner: 2010, 270.

218 | K ARL K ATSCHTHALER

Jahren zuerst als Industrial Music und etwas später, aber zum Teil überschneidend als Japanoise. In der in England entstandenen Industrial Music ist eine starke Tendenz nicht nur zu klanglicher, sondern auch zu einer dunklen diskursiven Transgressivität zu beobachten. Das Verhältnis zur Macht ist dabei anders als im Heavy Metal nicht eines der Ermächtigung und Kontrolle,9 sondern das einer ambivalenten Komplizenschaft, wie Paul Hegarty festgestellt hat: »[…] power is an essential part of the contents and/or ›message‹ of industrial music […] Unlike subversive music of the 1960s and 1970s, industrial music is formally complicit with power – replicating some of its structures (e.g. aggression, control, propaganda). Its critiques then, while far from being nuanced, are ambiguous, often suspect or seemingly absent. […] Industrial music is a Foucauldian take on power.«10

Arbeitete die frühe Industrial-Szene auf der diskursiven Ebene des Transgressiven mit kontroversen Bildern von Gewalt, Krieg und Faschismus, so konzentriert sich die japanische Szene auf klangliche Transgression und brachte mit Akita Masami alias Merzbow nicht nur den einzigen internationalen Noise-Superstar hervor, sondern ließ Noise, wie David Novak feststellt, zugleich als neues japanisches Genre und als kulturlose Form von Anti-Musik erscheinen.11 Obwohl Maja Ratkje während ihres Musikstudiums an der Musikakademie in Oslo 1995 das Oslo Industrial Ensemble mitbegründet hat, stehen

9

Vgl. Weinstein: 2009, 23.

10 Hegarty, Paul. 2007. Noise/Music: A History. Continuum: New York u.a., 119. 11 Vgl. Novak, David. 2013. Japanoise: Music at the Edge of Circulation. Duke University Press: Durham/London, 119. Die genrebildende und genrestabilisierende Wirkung des enormen Outputs von Merzbow findet ihren vorläufigen Höhepunkt in der Veröffentlichung der Merzbox, eines Sets von 50 CDs von Aufnahmen, welche die Geschichte von Merzbow dokumentieren. Novak beschreibt ihre Wirkung: »The Merzbox also represented a codex of Noise that solidified the genre for a broad range of listeners. Far from becoming a lost rarity, copies of the Merzbox are furiously traded among fans. More important, its release symbolized the possibility for Noise to be multiple, to become a literature, and ultimately to be consumed as Music.« Ebd., 137.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 219

sie und Hild Sofie Tafjord der japanischen Noise-Musik näher, was sich nicht zuletzt auch darin niederschlug, dass das erste Konzert von Fe-Mail während eines Japanaufenthalts im Jahr 2000 in Tokio stattfand. Nach eigener Aussage ist das Primäre in ihrer Arbeit die Suche nach unerhörten Klängen und die Erfahrung dieses Sounds, den Ratkje mit Musik gleichsetzt: »The goal was all the time the Sound = the Music […]«12, sagt sie im Interview. Die Erfahrung von Noise beschreibt sie nicht als transgressiv im Sinn des Abjekten, sondern affirmativ: »Noise is a positive energy even if it has dark forces. It’s [sic!] directness goes straight to my heart. Playing or listening to noise is like covering all dull colours with white paint, a powerful white wall fencing off all personal frustrations and hang-ups.«13

Die Suche nach dem noch nie Gehörten wird dabei auch durch die Praxis freier Improvisation unterstützt, die sowohl die Arbeit des Improvisationsquartetts SPUNK, also auch die Zusammenarbeit von Ratkje und Tafjord in Fe-Mail wie auch Ratkjes Soloauftritte als Noise-Musikerin charakterisiert. Notwendigerweise kann die Improvisationspraxis von Fe-Mail im Projekt Trinacria nicht in ihrer »reinen« Form in den Progressive-Extreme-MetalKontext übertragen werden, doch wird sie auch nicht völlig aufgegeben. Allerdings findet Improvisation hier innerhalb der von der Komposition klar und relativ eng gesteckten Grenzen statt, wie Tafjord im Interview beschreibt: »The metal part is quite strict, and the goal of our improvisation in this setting is not to create totally new forms within the concert, but to fulfil the form we have decided upon. It is to feed into the picture and make it come alive a little bit different each time…«14

12 Interview mit Maja Solveig Kjelstrup Ratkje 2003. http://ratkje.no/2003/02/ this-interview-was-made-in-the-wire’s-issue-for-march-2003-this-is-the-entireinterview-as-it-was-before-being-edited-and-printed/ (Zugriff am 9.6.2013). 13 Ebd. 14 Ratkje, Maja Solveig Kjelstrup. 2008. Trinacria: Inspired by Occult Confusion. http://ratkje.no/2008/06/trinacria-inspired-by-occult-confusion/ (Zugriff am 16.6.2013).

220 | K ARL K ATSCHTHALER

Doch auch wenn sich diese Improvisationen in die festgelegten Strukturen der Songs einfügen, tun sie dies nicht unter völliger Selbstaufgabe, gehen also nicht auf in den Metal-Strukturen, sondern erhalten sich einen gewissen Grad an Fremdheit in Bezug auf die Hörerwartungen. Im ersten Song auf dem Album mit dem Titel Turn Away bleibt der elektronische Noise zunächst über mehrere Minuten im Hintergrund und gibt so der MetalMusik nur eine ungewohnte Färbung. Doch gegen Ende hin steigert sich dieser Noise immer mehr, bis er schließlich dominant wird und am Schluss den Metal-Part zum Schweigen bringt. Im folgenden Stück Silence alternieren dann blast-beat-geprägte Metal-Teile mit Noise, um sich später miteinander zu verbinden. Der Song endet mit leisen Gitarrenklängen. In Make no Mistake ist der Noise zwar in den Metal-Part integriert, transgrediert diesen aber auch immer wieder. Das langsame Endless Roads beginnt dann mit leisen Geräuschelementen, erst später setzen die tiefer gestimmten Gitarren ein, in deren Klang sich immer wieder Noise-Elemente mischen, bis sich diese gemeinsam mit dem Screaming des Sängers gegen Ende steigern. Musikalisch zeigen diese Beispiele, dass hier der kompositorisch festgelegte Metal-Part durch die improvisierten Noise-Elemente verfremdet wird, was auf der anderen Seite heißt, dass er insgesamt doch dominant bleibt.15 Doch über diese Differenz der musikalischen Performance hinaus stellen sich hier auch Fragen der Gender-Performance, da es sich ja nicht nur um Noise-Improvisationen im musikalischen Umfeld des Metal handelt, sondern auch um Frauen in einer nicht nur männlich dominierten, sondern maskulinistisch ausgerichteten Subkultur, eine Ausrichtung, die nach der Analyse von Deena Weinstein zum Wesen des Mainstream-Heavy-Metal gehört, denn: »Power, the essential inherited and delineated meaning of heavy metal, is culturally coded as a masculine trait.«16 Weinstein kommt zum Schluss, dass der maskulinistische Code der Metal-Subkultur derart

15 Als eine Art Verfremdung des Enslaved-Sounds werden die Noise-Elemente auch in den meisten Besprechungen gewertet. In der Kritik in Lords of Metal wird dabei auch schon der Gender-Bezug hergestellt, wenn es dort heißt: »And let’s not forget the prominent noise elements and spooky sound effects. Those last mentioned additions are the feminine touch of Trinacria […].« Travel Now Journey Infinitely reviews, http://ratkje.no/2008/11/travel-now-journeyinfinitely-reviews-in-english-and-norwegian/ (Zugriff am 17.6.2013). 16 Weinstein: 2009, 62.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 221

stark sei, dass Frauen nur die Wahl zwischen zwei alternativen Formen von Konformität hätten: »Women, on stage or in the audience, are either sex objects to be used or abused, or must renounce their gender and pretend to be one of the boys. The few female metal performers must conform to the masculinist code, and have generally opted to appear as sex objects.«17

Robert Walser geht in seiner bahnbrechenden Studie zu Gender und Maskulinität in der Heavy-Metal-Musik einen Schritt weiter und unterscheidet vier verschiedene Gender-Strategien, welche dazu dienen, die Dominanz des Maskulinen auf der enaktiven Ebene zu sichern: Misogynie, Ausschluss des Femininen, Androgynie und Romanze.18 Den Viking-Metal kann man als paradigmatischen Fall der Ausschluss-Strategie betrachten, da er sich, wie Florian Heesch gezeigt hat, von vornherein schon auf ein Image bezieht, das auf der Basis des Ausschlusses von Frauen funktioniert. Dieses werde auch mit musikalischen Mitteln bestätigt.19 Außerhalb des Subgenres des Viking-Metal scheint im Black Metal auch die dritte Strategie Walsers, die Androgynität, verbreitet zu sein. Wenn auch Mikael Sarelin bei seiner Untersuchung von Maskulinität im finnischen Black Metal einige wenige signifikante Ausnahmen von der enaktiven Bestätigung von Maskulinität gefunden hat, die er auf die Angst vor Stagnation und dem Verlust der Schockwirkung in der Szene zurückführt, so dominiere doch klar die Hete-

17 Ebd., 221. 18 Vgl. Walser, Robert. 1993. Running with the Devil: Power, Gender, and Masculinity in Heavy Metal Music. Wesleyan University Press: Middletown, CT, 110111. 19 Vgl. Heesch, Florian. 2010. Metal for Nordic Men: Amon Amarth’s Representations of Vikings, in: Von Helden/Scott: 2010, 71-80, hier: 75. Diese musikalische Bestätigung von Männlichkeit analysiert Heesch am Beispiel der schwedischen Death-Metal-Band Amon Amarth und identifiziert als musikalisches Mittel dazu eine bestimmte Vokaltechnik, das sogenannte Growling: »The sound of a death growl can be seen as a twofold masquerade: it seems to be very loud and masculine. The first aspect is a result of vocal technique in combination with electronic amplification; the second one is construed by discourse.« Ebd.

222 | K ARL K ATSCHTHALER

ronormativität der finnischen Gesellschaft auch innerhalb der Black-MetalSubkultur.20 Abbildung 1: Trinacria. Bandfoto aus dem CD-Booklet von Travel Now Journey Infinitely (2008)

Foto von Asle Birkeland

Androgynität scheint aber bei Enslaved auch nach ihrer Entfernung vom Viking-Metal kaum eine Rolle zu spielen und auch auf Promotionsfotos von Trinacria posieren die männlichen Bandmitglieder betont männlichaggressiv mit Vollbärten und verschränkten muskulösen Unterarmen. In auffälligem Kontrast dazu posieren die beiden Musikerinnen selektiv koloriert (Haare, Hände, Lippen) auf einem der Schwarzweißfotos (Abbildung 1) mit offener Armhaltung und aufgesetzt wirkendem, erstarrtem Lächeln, was ihrer Performance von Weiblichkeit hier eine ironische Brechung verleiht, welche auch auf die ausgestellte Männlichkeit zurückwirkt.

20 Vgl. Sarelin, Mikael. 2010. Masculinities within Black Metal: Heteronormativity, Protest Masculinity or Queer? In: Von Helden/Scott: 2010, 61-69, hier: 6365.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 223

Die Bühnenperformance bietet ein ähnlich ambivalentes Bild. Während die männlichen Bandmitglieder ganz dem Metal-Code entsprechend Maskulinität performen, fügen sich ihm die beiden Frauen nur scheinbar, wenn sie schwarze Jeans und T-Shirts tragen und somit genau das tun, was nach Weinstein weibliche Metal-Fans im Konzertpublikum akzeptabel macht.21 Denn zum einen ist fraglich, ob diese Strategie der Zurücknahme auch auf der Bühne funktioniert, zum anderen treten die beiden auch in langen schwarzen Trägerkleidern auf und unterminieren so beides, die Verleugnung der Femininität und die Präsentation als Sexobjekt. Diese aufgeführte Ambiguität ist aber im Extreme-Metal-Kontext wohl nur aufgrund des Ausnahmecharakters des Projekts Trinacria und der Verankerung der beiden Fe-Mail-Musikerinnen in anderen musikalischen Kulturen wie der freien Improvisationsmusik und der zeitgenössischen Komposition möglich. Dies wird deutlich im Vergleich mit einer Künstlerin, die versucht, professionell und erfolgreich im Genre des Extreme Metal tätig zu sein, ohne sich als Sex-Objekt präsentieren zu müssen. Dabei handelt es sich um die Sängerin der schwedischen Death-Metal-Band Arch Enemy, Angela Gossow. Ihre Bühnenpräsenz wirkt männlich-aggressiv, ihre Kleidung entspricht mehr oder weniger der Strategie, Femininität nicht zur Schau zu stellen. Wiederholte Angebote, sich in Heavy-Metal-Magazinen als SexObjekt präsentieren zu lassen, hat sie trotz des damit verbundenen »bandschädigenden Verhaltens« immer wieder abgelehnt.22 Damit überträgt sie die von Weinstein für die Frauen im Publikum festgestellte Alternative auch auf die Bühne, wo letztere noch alternativlos nur die Möglichkeit sah, sich als Sex-Objekt zu präsentieren.23

21 Vgl. Weinstein: 2009, 105. 22 Vgl. das Interview in: Heesch, Florian. 2011b. Extreme Metal und Gender. Zur Stimme der Death-Metal-Vokalistin Angela Gossow. In: Meine, Sabine/Noeske, Nina (Hg.). Musik und Popularität: Aspekte zu einer Kulturgeschichte zwischen 1500 und heute. Waxmann: Münster (= Populäre Kultur und Musik 2), 167-186, hier: 184. Viermal habe Gossow Angebote des Metal-Magazins Revolver in der Reihe »Hottest Chicks in Metal« mit Pin-up-Fotos präsentiert zu werden abgelehnt, was sie mit den Worten kommentiert: »da muss man ganz bewusst gegen arbeiten und muss also wirklich auch Bandschädliche [sic!] Sachen machen.« 23 Oder zumindest versucht sie es, denn im gleichen Interview berichtet sie auch von »Ausziehen«-Rufen aus dem Publikum, die allerdings immer seltener wür-

224 | K ARL K ATSCHTHALER

Wie sieht es aber nun mit der musikalischen Gender-Performance aus? Musikalisch sind die Mittel des Metal zur Aufführung und Bestätigung von Maskulinität zahlreich. Robert Walser listet auf: »Impressive technical and rhetorical feats on the guitar […] Vocal extremes, guitar power chords, distortion […] Sheer volume of bass and drums.«24 Die E-Gitarre wird zum einen diskursiv als phallisches Instrument mit Maskulinität konnotiert und oft auch von den Musikern auf der Bühne entsprechend gehandhabt, zum anderen ist sie als ein elektrisches Instrument mit diversen Effektgeräten mit dem männlichen Image der Technik verbunden. Dies betrifft über den Bereich des Metal hinaus überhaupt die gitarrenbasierte Rockmusik, wie Mavis Bayton ausgehend von der Frage, warum es keine berühmten RockGitarristinnen gäbe, festgestellt hat: »Rock is associated with technology, which is itself strongly categorized as ›masculine‹. ›Femininity‹ involves a socially manufactured physical, mechanical and technical helplessness, whilst ›masculinity‹ involves a display of technical competence.«25

Allerdings hat Bayton auch beobachtet, dass ab den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts diese Gender-Zuschreibungen von Musikerinnen in einem bestimmten Bereich unterminiert worden sind. In einer Fußnote meint sie dazu: »[…] women in feminine ›drag‹ (satin slips, nighties, wedding dresses) ›kicking shit‹ out of their guitars, women like Courtney Love and Babes in Toyland, and indie women with the ironic and contradictory ballgowns-plus-Doc Martens approach, are creating exactly the sort of ›gender trouble‹ which Judith Butler (1990) proposes as subversive political action, upsetting the notion of a fixed, true or real gender and revealing gender to be, in itself, a fabricated performance.«26

den. Ebd. Weinstein meint kategorisch: »The female metal artists do not transcend their primary role as sexual objects.« Weinstein: 2009, 68. 24 Walser: 1993, 108-109. 25 Bayton, Mavis. 2004. Women and the Electric Guitar. In: Frith, Simon (Hg.). Popular music. Vol. 1: Music and Society, Critical Concepts in Media and Cultural Studies, Routledge: London u.a., 270-281, hier: 274-275. 26 Ebd., 281, Fußnote 3.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 225

Im Metal-Bereich ist Runhild Gammelsæter wohl die einzige Musikerin, die an die Aufführung eines solchen Gender-Trouble heranrührt, wenn sie im Ballkleid nicht nur besonders tiefes und »männliches« Growling praktiziert, sondern auch die E-Gitarre spielt und auf High Heels die Effektpedale bedient.27 Abbildung 2: Trinacria at Roadburn 2010

Foto von »Head Ov Metal«

Maja Ratkje und Hild Sofie Tafjord überlassen das E-Gitarrenspiel zwar ihren männlichen Bandkollegen und stehen während eines Großteils der Show am Rand der Bühne hinter einem großen Tisch (Abbildung 2), dort aber sind sie meist mit einer hochtechnischen Art der Klangerzeugung beschäftigt, sozusagen ›kicking shit out of their laptops‹ und weiterer elektronischer Klangerzeuger inklusive Effektgeräte. Damit führen sie die weibli-

27 Allerdings ist Gammelsæter eine in der Fachwelt zwar respektierte Musikerin, vom Erfolg her aber eine Randerscheinung, die ihre Arbeit im Bereich des Doom-Metal auch nicht hauptberuflich ausübt und nur noch sporadisch auftritt. Mit ihrem Solo-Album Amplicon von 2008 hat sie sich in einen sehr experimentellen Bereich des Extreme Metal begeben, wenn nicht überhaupt das Genre verlassen.

226 | K ARL K ATSCHTHALER

che Hilflosigkeit gegenüber komplizierter Technik gerade nicht auf, ohne freilich in den männlich kodierten Bereich der E-Gitarre einzudringen. Von Maja Ratkje gibt es ein Foto, auf dem zwischen einem Keyboard rechts und einem Mischpult links nur ihr Gesicht und die zu Fäusten geballten Hände mit lauter Audiokabeln zwischen den Fingern zu sehen sind. Emblematisch verweist dieses Bild auf Ratkjes technische Versiertheit und ihren Einsatz verschiedenster Klangerzeugungstechnik bei ihren Auftritten, die visuell immer auch ein Sammelsurium elektronischer Klangerzeuger und ein mit ihnen verbundenes Kabelwirrwarr zu bieten haben, wie auch auf dem Pressefoto in Abbildung 3 (auf der nächsten Seite) zu sehen ist. Trotzdem wird sie oft primär als Vokalperformerin wahrgenommen.28 Als solche bewegt sie sich im Bereich der erweiterten Stimmtechniken, die in der improvisierten Vokalmusik nicht nur eine große Rolle spielen, sondern auch in spezifischer Weise weiblich kodiert sind. Stefan Drees stellt zu dieser Kodierung fest: »Dass sich hierbei vor allem Frauen auszeichnen […] männliche Vokalperformer […] hingegen weitaus seltener anzutreffen sind, verleiht der Behauptung Gewicht, Ausgangspunkt der Modifikationen vokalen Agierens sei vielfach die ›Perspektive des Weiblichen‹, die dazu führe dass ›mit den Entgrenzungen des Stimmklangs‹ zugleich ›verdrängte weibliche Erfahrungen und Verhaltensweisen aufgesucht und gestaltet‹ würden.«29

Allerdings wehrt sich Ratkje gegen diese Zuschreibung und definiert sich selbst nicht als Vokalperformerin im Sinne von Joan La Barbara oder Cathy Beberian, sondern als »performing composer«.30

28 Vgl. Tinker, Benjamin Ethan. 2011. Kineticism and Inclusiveness in the Music of Maja Ratkje. http://ratkje.no/2011/12/kineticism-and-inclusiveness-in-the-musicof-maja-ratkje/ (Zugriff am 17.6.2013). 29 Drees, Stefan. 2011. Körper Medien Musik: Körperdiskurse in der Musik nach 1950. Wolke: Hofheim, 24. Die Zitate im Text stammen aus: Büchter Römer, Ute. 2003. »Geflüster, Geschrei, Gesang« – Die Stimme in der improvisierten und experimentellen Musik. Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, 94-109, hier: 108-109. 30 Vgl. Tinker: 2011.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 227

Abbildung 3: Maja S.K. Ratkje live

Foto von Mizuho Yabe

Im Metal dagegen sind extreme Vokalpraktiken männlich kodiert. Das im Black Metal übliche hohe Kreischen, wie es auch Grutle Kjellson praktiziert, ist zwar aufgrund der unbestimmten Tonhöhe nicht der kulturellen Norm von Männer- bzw. Frauenstimme zuzuordnen, im Schreien als Nicht-

228 | K ARL K ATSCHTHALER

Singen wird aber zugleich Männlichkeit aufgeführt.31 Verstärkt wird diese Performanz von Männlichkeit im Growling des Death Metal noch durch die tiefe, aber auch dort unbestimmte Tonlage. Wie sehr Growling tatsächlich als männlich wahrgenommen wird, zeigt die Tatsache, dass das erste Album mit Angela Gossow als Sängerin von Arch Enemy ohne Nennung ihres Namens veröffentlicht wurde und die Rezipienten ganz selbstverständlich von einem männlichen Sänger ausgingen bzw. Gossow auch nach ihrem »Outing« als Frau noch oft als »the woman who can growl like a man« bezeichnet wird.32 Besonders deutlich wird die Dichotomie von weiblichem Singen und männlichem Nicht-Singen im Gothic Metal, wenn die sich als hyperfeminin präsentierende Sängerin mit klarer, konventionell schön klingender Stimme in Sopranlage, also stereotyp weiblich singt, was innerhalb des Genres »heavenly voice« genannt wird, der männliche Sänger der Band dagegen sein tiefes Growling praktiziert. In dieser Klischeekonstellation von »die Schöne und das Biest« werden, wie Florian Heesch feststellt, »beide Seiten der kulturellen Norm ›Frauen singen, Männer hingegen nicht‹ zugleich performiert.«33 Genau eine solche Situation scheint auch im Titelsong des TrinacriaAlbums Travel Now Journey Infinitely, der am Ende des Albums zu finden ist und immer auch am Ende einer Live-Performance der Band gespielt wird, vorzuliegen, wenn Ratkje mit klarem Singen in hoher Lage beginnt und Kjellson dann mit dem Screaming beginnt. Auf der Bühne kommt Ratkje für diesen Song noch dazu nach vorne und steht neben Kjellson. Allerdings präsentiert sie sich weder hyperfeminin noch klingt ihr Gesang opernhaft, ihre Performance ist also wohl nicht als die der »heavenly voice«, sondern vielmehr als deren verfremdetes Zitat aufzufassen. Dies

31 Vgl. Heesch: 2011a, 62. Diese Einschätzung von Heesch basiert auf der These von Suzanne G. Cusick, der zufolge Singen weiblich und Nicht-Singen männlich codiert seien. Cusick schließt daraus, dass z.B. Eddie Vedder von Pearl Jam mit seiner Stimme Männlichkeit performe, indem er die Konventionen des Singens verletze. Vgl. Cusick, Suzanne G. 1999. On Musical Performances of Gender and Sex. In: Barkin, Elaine/Hanessely, Lydia (Hg.). Audible Traces: Gender, Identity, and Music, Carciofoli Verlagshaus: Zürich u.a., 25-48, hier: 33. 32 Vgl. Heesch: 2011b, 169 und Heesch: 2010, 76. 33 Heesch: 2011a, 63.

Ü BERWINDUNG

VON

G ENDER -

UND

G ENRE-G RENZEN ? | 229

umso mehr, als später im Song auch bei ihr die Transgression des Singens zum Kreischen stattfindet und damit das Klischee unterminiert wird. Zuletzt ist in Bezug auf musikalische Gender-Performance noch die Frage der Improvisation zu stellen. Improvisation muss im Metal-Kontext als fremd erscheinen, so wie auch schon die Fe-Mail-Musikerinnen sowohl als Frauen als auch als Laptop-Musikerinnen, ganz zu schweigen von Tafjords Waldhorn, das sowohl aural als auch visuell auffällig ist und in einen auch noch so stark erweiterten Metal-Code nur schwer zu integrieren sein dürfte. Performen Fe-Mail also mit ihren immer wieder sozusagen unmusikalischen Lärmattacken und den improvisativen Elementen ihrer Performance das weiblich Andere? Im Verlauf des Interviews mit Ratkje in der Zeitschrift Wire fragte der Journalist an einer Stelle: »A friend, who is not particularly fond of experimental music, after having seen SPUNK live, commented ›this is too female and irrational for me‹. Do you often get comments of the supposed link between the female and irrationality/madness?«34

Ratkje antwortet darauf relativ aggressiv abwehrend, nimmt sogar Bezug auf die Hexenverbrennungen und schließt mit den Worten: »I’m sick and tired of the only two true possibilities of female behaviour; the whore/ madonna dualism is limiting the possibilities of expression for women who are ›different‹.«35 Nicht nur mit SPUNK und Fe-Mail bemühen sich Ratkje und Tafjord diesem Dualismus zu entkommen, sondern auch im TrinacriaKontext. Gerade indem sie sich in die vereinbarten Strukturen der MetalSongs einfügen, performen sie nicht einfach das irrational weiblich Andere und konfrontieren es mit der Performanz des Maskulinen durch die MetalMänner, sondern setzen, indem sie in diesem Rahmen improvisieren, immer wieder Irritationen der Konventionalität sowohl der Metal- als auch der Gender-Konstruktionen.

34 Ratkje: 2003. 35 Ebd.

Autor_inn_en

Brüstle, Christa, Dr. habil., Senior Scientist PostDoc am Institut für Musikästhetik und Leiterin des Zentrums für Genderforschung an der Kunstuniversität Graz. Forschungsschwerpunkte: Neue Musik und ihre Aufführungsgeschichte, Musiktheater, Performance Studies, Klangästhetik, Musik und Medien, Intermedialität, Gender Studies in der Musikwissenschaft. Jüngste Publikationen: Konzert-Szenen. Bewegung – Performance – Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950-2000 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 73), Stuttgart 2013; Jacqueline Fontyn – Nulla dies sine nota. Autobiographie, Gespräche, Werke, hg. v. Christa Brüstle (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 55), Universal Edition, Wien, London, New York 2013. Geier, Andrea, Prof. Dr., seit 2009 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft/Gender-Forschung an der Universität Trier und Vorstand des Centrums für Postcolonial und Gender Studies. Dissertation über ›Gewalt‹ und ›Geschlecht‹. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre (2005) an der Universität Tübingen. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gegenwartsliteratur, kultur- und literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung, Literatur im Medienwechsel, Antisemitismus, produktive Rezeption. Veröffentlichungen und weitere Informationen zu Projekten siehe www.andrea-geier.de. Horváth, Andrea, PhD, studierte Germanistik, Romanistik und Niederlandistik an der Universität Debrecen (Ungarn). Sie promovierte 2006 über Barbara Frischmuth und ist zurzeit Oberassistentin des Instituts für Germanistik an der Universität Debrecen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten ge-

232 | K ONSTRUKTION – V ERKÖRPERUNG – P ERFORMATIVITÄT

hören Gender Studies und postkoloniale Literaturtheorien. Jüngste Publikationen: Wir sind anders: Gender und Ethnizität in Barbara Frischmuths Romanen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007 (= Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; 601); Identitäten im Wandel. Grenzüberschreitungen in der Literatur (Hg. mit Eszter Pabis), Debrecen 2012. Jelinek, Elfriede, freischaffende Schriftstellerin. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise, unter anderen: Georg Büchner Pries 1998, Franz Kafka Literaturpreis 2004, Literaturnobelpries 2004. Katschthaler, Karl, Dr. habil., Assoz.-Prof. für neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Debrecen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Musik, Neue Musikwissenschaft, ethnographisches und autobiographisches Schreiben, Autor- und Identitätskonzepte, Kulturgeschichte der Natur und der Kunst. Jüngste Publikationen: Gustav Mahler – Arnold Schönberg und die Wiener Moderne (Hg.), Frankfurt a.M. 2013; Interkulturalität und Kognition (Hg. mit Tamás Lichtmann), Frankfurt a.M. 2013; Latente Theatralität und Offenheit. Zum Verhältnis von Text, Musik und Szene in Werken von Alban Berg, Franz Schubert und György Kurtág, Frankfurt a.M. 2012. Knaus, Kordula, Professorin. Promotion 2003 über Alban Bergs Lulu. Frühjahr 2007 Gastprofessur am New York City College. Herbst 2010 Habilitation im Fach Musikwissenschaft mit einer Arbeit über gegengeschlechtliche Besetzungspraxis in der Barockoper. Seit September 2013 Forschungsaufenthalt an der Università degli Studi di Bologna mit einem Stipendium des Österreichischen Wissenschaftsfonds zur Erforschung der komischen Opern Baldassare Galuppis. Seit März 2015 Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Jüngste Publikationen: Autorschaft – Genie – Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hg. von Kordula Knaus und Susanne Kogler, Köln 2013; Kordula Knaus, Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender Casting in der Oper 1600-1800, Stuttgart 2011; Musikwissenschaft studieren. Arbeitstechnische und methodische Grundlagen, hg. von Kordula Knaus und Andrea Zedler, München 2012.

A UTOR _ INN _ EN | 233

Kovács Edit, PhD, Dozentin für neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Károli Gáspár Universität, Budapest. Forschungsschwerpunkte: Recht und Literatur, Literatur und Ethik, Literatur und Photographie, deutsch-ungarische Literaturbeziehungen. Jüngste Publikationen: Richter und Zeuge. Figuren des Autors in Thomas Bernhards Prosa, Wien 2009; Ruinen der Melancholie. W.G. Sebalds Benjamin-Lektüre in Die Ringe des Saturn, Budapest 2015. Müller-Adams, Elisa, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Koordinatorin des Centrum für Postcolonial und Gender Studies, Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Literatur von Frauen um 1800 und im 19. Jahrhundert, europäische Rezeption deutschsprachiger Autorinnen, Reiseliteratur, Kulturtransfer und Interkulturalitätsforschung. Jüngste Publikationen: Wege aus der Marginalisierung: Geschlecht und Erzählweise in deutschsprachigen Romanen von Frauen 1780-1914 Nancy: Presses universitaires de Nancy 2013 (Hg. Mit Kerstin Wiedemann); Gender and the City. – Urban Narratives in Travel Writing about London by German-speaking Women in the 19th Century. In: Narrations genrées. Ecrivaines dans l’histoire européenne jusqu’au début du XXe siècle (Proceedings of the Bochum conference May 2009). Hg. von Lieselotte Steinbrügge und Suzan van Dijk. Louvain etc., Peeters, 2014, 218-232. Nieberle, Sigrid, Dr. phil. habil., Professorin für Neuere und neueste deutsche Literatur an der TU Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Biographik, Erzählforschung; Intermedialität von Literatur, insbesondere zu Musik und Film, Gender und Diversity Studies. Jüngste Publikationen: Gender Studies und Literatur. Eine Einführung, Darmstadt 2013; Gastlichkeit und Ökonomie. Wirtschaften im deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts (Hg. mit Claudia Nitschke), Berlin und Boston 2014; Unlaute. Noise/ Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 (Hg. mit Sylvia Mieszkowski), Bielefeld 2015. Pabis, Eszter, PhD, Universitätsoberassistentin an der Universität Debrecen. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnistheorie, Identitätskonzepte, nation and narration, Schweizer Gegenwartsliteratur und interkulturelle Fremdheitsforschung. Jüngste Publikationen: Die Schweiz als Erzählung. Natio-

234 | K ONSTRUKTION – V ERKÖRPERUNG – P ERFORMATIVITÄT

nale und narrative Identitätskonstruktionen in Max Frischs Stiller, Wilhelm Tell für die Schule und Dienstbüchlein, Frankfurt a.M. 2010; Identitäten im Wandel. Grenzüberschreitungen in der Literatur (Hg. mit Andrea Horváth), Debrecen 2012, Gedächtnis, Identität, Interkulturalität. Ein kulturwissenschaftliches Studienbuch (Hg. mit Andrea Horváth), Budapest 2006. Stephan, Inge, Prof. (a. D.) für Neuere deutsche Literatur, Geschlechterproblematik im literarischen Prozess an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, weibliche Literatur- und Kulturtradition, feministische Theorie und aktuelle Gender-Forschung. Jüngste Publikationen: Cold Fronts. Kältewahrnehmung in Literatur und Kultur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Hg. mit Monika Szczepaniak), Tübingen 2013 (= Colloquia Germanica 43, Heft 1/2); Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. 3. Auflage (Hg. mit Christina von Braun), Köln 2013; Freud und die Antike (Hg. mit Claudia Benthien u. Hartmut Böhme), Göttingen 2011; Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst (Hg. mit Kirsten Möller u. Alexandra Tacke), Köln 2009; NachBilder der Wende (Hg. mit Alexandra Tacke), Köln 2008. Wiedemann, Kerstin, Dr. phil., Agrégée d’allemand, Maître de conférences an der Universität Lothringen (Nancy). Mitglied des CEGIL (Centre d’études germaniques interculturelles de Lorraine). Forschungsschwerpunkte: Kulturtransfer und deutsch-französische Literaturbeziehungen im 19. Jahrhundert, Rezeptionsforschung, Literatur und Gender. Jüngste Publikationen: Kerstin Wiedemann/Elisa Müller-Adams (Hg.), Wege aus der Marginalisierung. Geschlecht und Schreibweisen in deutschsprachigen Romanen von Frauen 1780-1914, Nancy 2013.

Lettre Jenny Bauer Geschlechterdiskurse um 1900 Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion April 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3208-8

Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns März 2016, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Februar 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Jennifer Clare Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968 Februar 2016, ca. 334 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3283-5

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 Dezember 2015, 406 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen August 2015, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881

Sebastian Schmitt Poetik des chinesischen Logogramms Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900

Januar 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

September 2015, 300 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3247-7

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing

Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans

Januar 2016, 252 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Elisabeth K. Paefgen Film und Literatur der 1970er Jahre Eine Studie zu Annäherung und Wandel zweier Künste Dezember 2015, 348 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3039-8

Reinhard Babel Translationsfiktionen Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens November 2015, 422 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3220-0

Erik Schilling Dialog der Dichter Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts September 2015, 160 Seiten, kart., 23,99 €, ISBN 978-3-8376-3246-0

Anna Katharina Knaup Der Männerroman Ein neues Genre der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur September 2015, 378 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3309-2

September 2015, 402 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6

Andreas Heimann Die Zerstörung des Ichs Das untote Subjekt im Werk Elfriede Jelineks August 2015, 334 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3214-9

Julia Catherine Sander Zuschauer des Lebens Subjektivitätsentwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Juni 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3127-2

Toni Tholen Männlichkeiten in der Literatur Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung Mai 2015, 224 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3072-5

Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken April 2015, 248 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2887-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de