Prager Moderne(n): Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur 9783839441749

In contrast with the usual distancing presentations of the multi-ethnicity of Prague, this volume focuses on its discurs

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German Pages 348 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Figurationen der Prager Moderne(n) im deutsch- und tschechischsprachigen literarischen Diskurs
Prager Moderne(n)?
Labile Moderne
Zum Sinn des Rokoko-Gartens
Literatur im Dienste der Politik?
Translator’s Visibility
Zentrum und Peripherie. Positionierungen und Hierarchisierungen
Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Vermittlung tschechischer Kultur durch Hermann Bahr
»Prag blickt in Berlin immer gern auf Wien herab«
Prag zwischen Gründungsmythos und Abgesang
Kafkas Liste
Die Geburt der ›Prager deutschen Literatur‹ aus der Dichotomie Zentrum – Peripherie
Verflechtungen sozialer und kultureller (Stadt-)Räume Prags
Prager Perspektiven nach dem spatial turn
Imaginationen Prags in der modernen tschechischen Literatur
Die raumsymbolische Gestaltung Prags in Rainer Maria Rilkes Erzählung König Bohusch
Die Formierung des Prager Raums
Organischer Stadtkörper oder Durchhäuserstadt
Autorinnen und Autoren
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Manfred Weinberg, Irina Wutsdorff, Štěpán Zbytovský (Hg.) Prager Moderne(n)

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft  | Band 13

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Manfred Weinberg, Irina Wutsdorff, ŠtĚpÁn ZbytovskÝ (Hg.)

Prager Moderne(n) Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4174-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4174-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Manfred Weinberg, Irina Wutsdorff, Štěpán Zbytovský | 7

FIGURATIONEN DER P RAGER MODERNE (N) IM DEUTSCH- UND TSCHECHISCHSPRACHIGEN LITERARISCHEN D ISKURS Prager Moderne(n)? Die deutsch- und tschechischsprachige Literatur in vergleichender Perspektive

Irina Wutsdorff | 21 Labile Moderne. Verunsicherungen des Urbanen in deutschsprachigen und tschechischen Prag-Texten

Georg Escher | 53 Zum Sinn des Rokoko-Gartens. Camill Hoffmann und der »Prager Kontext« vor 1914. Übersetzungen, Kritiken, Interpretationen

Daniel Vojtěch | 67 Literatur im Dienste der Politik? Einige Aspekte der Übersetzung deutschsprachiger Literatur der Böhmischen Länder ins Tschechische (1900-1918)

Václav Petrbok | 85 Translator’s Visibility. Paul/Pavel Eisner’s Translation of The Trial

Veronika Tuckerová | 105

ZENTRUM UND P ERIPHERIE. P OSITIONIERUNGEN UND HIERARCHISIERUNGEN Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Vermittlung tschechischer Kultur durch Hermann Bahr

Kurt Ifkovits | 135

»Prag blickt in Berlin immer gern auf Wien herab.« Anton Kuh zieht die Koordinaten der Moldau-Metropole

Walter Schübler | 149 Prag zwischen Gründungsmythos und Abgesang. Positionen (trans-)kultureller (Selbst-)Verortung im Moment der tschechoslowakischen Staatsgründung 1918. Überlegungen zu Richard Weiners Třásničky dějinných dnů

Kathrin Janka | 165 Kafkas Liste. Zivilisationskritik als Diskurshegemonial der regionalen Moderne

Jörg Krappmann | 199 Die Geburt der ›Prager deutschen Literatur‹ aus der Dichotomie Zentrum – Peripherie. Zur Weltfreunde-Konferenz in Liblice (1965)

Manfred Weinberg | 211

V ERFLECHTUNGEN SOZIALER UND KULTURELLER (STADT -)RÄUME P RAGS Prager Perspektiven nach dem spatial turn. Raumkonzepte der Semiotik

Irina Wutsdorff | 229 Imaginationen Prags in der modernen tschechischen Literatur. Julius Zeyer, Jiří Karásek ze Lvovic und Miloš Marten

Marek Nekula | 255 Die raumsymbolische Gestaltung Prags in Rainer Maria Rilkes Erzählung König Bohusch

Lena Zschunke | 275 Die Formierung des Prager Raums. Narrative des Nationalen in Prag-Reiseführern (Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

Jan Randák | 299 Organischer Stadtkörper oder Durchhäuserstadt. Deutsche popularisierende Prag-Bücher der 1930er Jahre

Štěpán Zbytovský | 317 Autorinnen und Autoren | 343

Einleitung M ANFRED W EINBERG , I RINA W UTSDORFF , Š TĚPÁN Z BYTOVSKÝ

Dieser Band versammelt ausgewählte Beiträge zu mehreren Arbeitstreffen des internationalen und interdisziplinären Forschungsverbunds Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n), der im Jahr 2009 in einer Kooperation der Bohemistik an der Universität Tübingen mit der Germanistik der Karls-Universität Prag von den HerausgeberInnen gegründet wurde. Das erklärte Ziel des Forschungsverbunds war und ist es, einen neuen Blick auf die kulturelle Verfasstheit Prags im frühen 20. Jahrhundert zu etablieren. Die bisherige – vor allem die germanistische und auf das Phänomen der sogenannten ›Prager deutschen Literatur‹ fokussierte – Forschung ging von einer klaren Separierung der kulturellen Sphären ›des‹ Deutschen und ›des‹ Tschechischen aus, die allenfalls durch den Verweis auf das kulturell wirksame, jedoch nicht den gleichen Ordnungskriterien zugehörige Judentum komplexer wurde. Eine klare Separierung der Sphären entspricht jedoch ganz offensichtlich nicht den geschichtlichen Tatsachen, wie die historischen Studien von Kateřina Čapková (2005) und Ines Koeltzsch (2012) gezeigt haben. Geschuldet war die Fehleinschätzung vor allem einer deutlich zu einfachen Vorstellung von der Strukturierung kultureller Räume. Anknüpfend an Theorie-Modelle des spatial turn, an Henri Lefebvres Postulat der sozialen Konstruiertheit von Räumen (Lefebrve 2006) sowie Jurij Lotmans Semiosphären-Modell (Lotman 2010) gilt es, das Prag des frühen 20. Jahrhunderts als Ort einer besonderen Interkulturalität1 zu beschreiben, indem kulturelle (Selbst-)Verortungen und ihre Bedingungen in ein Verhältnis zueinander gebracht werden und dabei die diskursive Dynamik in den Vordergrund gerückt wird,

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Vgl. zur theoretischen Konzeptualisierung der Interkulturalität Prags und des Kulturraums der Böhmischen Länder: Heimböckel/Weinberg 2017 sowie Zbytovský 2017, zu Beschreibungsmodellen von deren räumlicher Verfasstheit: Weinberg/Wutsdorff 2017 und Horňáček 2017 sowie den Raum-Beitrag von Wutsdorff in diesem Band.

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von der kollektive wie individuelle Identitätsbildungsprozesse, aber auch die Herausbildung literarischer Kommunikationsgemeinschaften in der komplexen historischen Situation des damaligen Prag bestimmt waren. Dies aber ist eben nicht im isolierten Blick nur auf Prag selbst möglich, dessen spezifische Plurikulturalität sich vielmehr nur erschließt, wenn der Anschluss an kulturelle Entwicklungen in (den anderen Metropolen) Europa(s) sowie die zugehörigen (materiellen, medialen etc.) Austauschprozesse mit beobachtet werden. Vilém Flusser, 1920 als Sohn einer jüdischen Familie in Prag geboren, schreibt in seiner »philosophische[n] Autobiographie« Bodenlos: Selbstredend, man war Prager, das stand nicht in Frage. Es war der Boden, auf dem sich alle anderen Fragen stellten. Aber war man als Prager Tscheche, Deutscher oder Jude? War man überhaupt berechtigt, die jüdische Dimension mit den beiden anderen auf dieselbe Linie zu stellen? Musste man sich zwischen diesen Alternativen entscheiden, oder waren sie irgendwie gegeben? (Flusser 1992: 15-16)

Die von Flusser benannte simple Trias, die er allerdings gleich anschließend als nicht entscheidende ›Ordnung‹ wieder aufhebt,2 findet sich auch im Titel eines Essays von Max Brod, der die drei kulturellen ›Größen‹ ebenfalls einfach reiht: »Juden, Deutsche, Tschechen« (Brod 1918). Beide Reihen suggerieren klare Grenzen, wie sie im Rückblick auch Egon Erwin Kisch vorausgesetzt hat, indem er strikt einsprachige (und damit monokulturelle) Instrumentalkonzerte, Schwimmanstalten, Parks, Spielplätze sowie Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte im Prag des frühen 20. Jahrhunderts (Kisch 1990: 78-79) beschrieb.3

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Allerdings stellt sich die Frage, wie sehr Flussers später Rückblick auf Prag durch seine zwischenzeitlichen Erfahrungen mit der Interkulturalität Brasiliens, in das er 1940 ausgewandert war, geprägt ist.

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Dabei dient ihm solche Separierung nur dazu, sich am Ende seines Textes »Deutsche und Tschechen« als ›Vermittler‹ zu stilisieren, indem er sein Missfallen an den »nationalen Streitereien« bekundet und angibt, dass seine deutsche »Fußballvereinigung ›Sturm‹« weiter mit tschechischen Mannschaften spielte und er mit »Telefonistinnen des Postamts« sowie mit »tschechischen Beamten in ihrer Sprache« kommunizierte, was den Zorn seiner Kollegen in der Bohemia heraufbeschwor, die ihre öffentliche Forderung, »daß man auf den Ämtern deutsch sprechen soll«, unterlaufen sahen. Man habe ihm das aber aufgrund seiner Jugend durchgehen lassen: »Die Redaktion war überaltert, und die alten Herren ließen den gewähren, der ihnen Arbeit abnahm.« (Kisch 1990: 83) So stellt Kisch die Überwindung der Abgetrenntheit der Nationalkulturen durch die nächste Generation in Aussicht.

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Andererseits hat Max Brod schon 1907 in seiner Besprechung einer Ausstellung der Osma, einer Gruppe von deutsch- und tschechischsprachigen bildenden Künstlern, geschrieben, »daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern« (Brod 1966: 53), leitete den Wiederabdruck dieser Besprechung in seiner Studie zum Prager Kreis allerdings mit der Bemerkung ein, dass er »die Dinge damals wesentlich optimistischer gesehen ha[be], als sie lagen, und vor allem: als sie sich nachher entwickelt haben« (ebd.: 52). Die Betonung einer spezifischen Vermischtheit findet sich auch bei Johannes Urzidil. In dessen oft zitierter, aber selten theoretisch ernst genommener Beschreibung seines Lebens als Junge in Prag liest man: »›Ich bin hinternational‹, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben und durch die Gassen und Durchhäuser streichen.« (Urzidil 1960: 11; Hervorh. i. Orig.) Urzidil bringt durch die Absage ans »[Ü]ber- oder [U]nterhalb« nicht nur die kulturelle Vielfalt Prags in ein Nebeneinander, sondern etabliert durch das Anfügen nur eines Buchstabens an das gebräuchliche ›international‹ eine Doppelheit von vordergründiger nationalkultureller Trennung und hintergründiger, so aber grundlegender Gemeinsamkeit. Auf diese Weise werden die »Durchhäuser« zum Insignium Prags und der Prager Stadtraum zu einem (fast) flächendeckenden ›Zwischenraum‹, den alle Prager ›als Prager‹ teilten. Die Abgrenzung betonte dagegen wiederum Pavel/Paul Eisner mit seiner auf die Situation der deutschsprachigen, jüdischen Autoren in Prag gemünzten und oft zitierten Formel vom »dreifachen Ghetto« (Eisner 1933) – als deren sprachliche Abtrennung von der tschechischen Umgebung, soziale Abtrennung im Sinne der Zugehörigkeit zu einer höheren sozialen Schicht und ›religiöse‹ Abtrennung qua Judentum. Diese Diagnose hat Eduard Goldstücker dann auf der traditionsbildenden Liblicer Konferenz unter dem Titel Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur von 1965 zur Grundlage der einen ›Prager deutschen Literatur‹ ›geadelt‹, wodurch sie zur (unangemessenen) Voraussetzung aller weiteren Beschäftigung mit diesem Phänomen wurde (vgl. Goldstücker 1967: 26-27 sowie Weinberg 2017; zur ›Neuformatierung‹ dieses Phänomens vgl. auch Becher et al. 2017). Und selbst bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, denen man ansonsten kaum die Unterkomplexität ihrer Theoriebildungen vorrechnen kann, schleicht sich in der Auseinandersetzung mit Kafkas Rede von den »kleinen Literaturen« eine deutliche Verharmlosung in ihre Argumentation, wenn sie die »kleine oder mindere Literatur« als »Literatur einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient«, beschreiben. Da hilft es dann auch nicht mehr, wenn gleich anschließend von einem »starken Deterritorialisierungskoeffzient[en]« der Sprache der Prager Deut-

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schen die Rede ist. Abgesehen davon, dass sie nur ans ›deutsche‹ Christentum assimilierte Prager Juden kennen und so die nach 1900 sogar größere Gruppe der sogenannten ›Tschechojuden‹ kurzerhand ignorieren, wird auch hier die klare Abgrenzbarkeit der (deutschen) Minderheit von einer (tschechischen) Mehrheit vorausgesetzt – und nicht zuletzt hat die Rede von einer ›Deterritorialisierung‹ nur Sinn, wenn auch der »großen Sprache« ein eigenes und begrenztes Territorium zugesprochen wird.4 Diese so unterschiedlichen Beschreibungen verdeutlichen, dass man der Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder weder mit einer strikt abgrenzenden Rede von drei Gruppen, noch mit der Diagnose einer unterschiedslosen »Hybridisierung« (Welsch 2012: 28) beikommt. Erstere ignoriert das offenbar vorhandene und den Alltag prägende Gemeinsame, zweitere die dann doch vorausgesetzten (und gelebten) Abgrenzungen. Jan Křens Formel von der ›Konfliktgemeinschaft‹ (Křen 1990) der Deutschen und Tschechen versucht zwar, das Getrennte und Gemeinsame in einem Begriff zu fassen, bleibt dabei aber letztlich auch unpräzise. Weiterführend ist nur eine Beschreibung, die Konzepte der Einheit und Vielfalt berücksichtigt. In den letzten Jahren ist in der Literaturwissenschaft ein neu erstarktes Interesse an Prag als ›Literaturstadt‹ – sowohl als Ort literarischer Produktion wie auch als Projektionsraum literarischer Imaginationen – zu beobachten. Mit der kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung der Philologien und dem damit verbundenen Interesse für Kategorien wie Raum, kollektive Identitätsbildung und Gender sowie für die Beziehungen von kultureller Praxis und Politik eröffnete sich in Bezug auf Prag und seine Literaturen die doppelte Chance, neue Zugänge zur deutschen und tschechischen Literatur Prags sowie zu ihrer Interaktion zu erschließen und umgekehrt die neuen Paradigmen gewissermaßen an diesem Fallbeispiel zu testen. Arbeiten zu diesem Bereich waren allzu lange herkömmlichen Kategorien und Erklärungsmustern verhaftet geblieben und hatten ihr Augenmerk allzu oft auf Grenzziehungen gerichtet, sei es jene zwischen der deutschen Literatur Prags und

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Abgesehen davon gründet die Herleitung des Konzepts der ›kleinen Literaturen‹ von Kafkas Ausführungen bei Deleuze und Guattari auf einem Missverständnis, denn in dessen Tagebucheintrag vom 25. Dezember 1911 ist deutlich genug »von der gegenwärtigen jüdischen Literatur in Warschau« und der »gegenwärtigen tschechischen Literatur« (Kafka 1990: 312) die Rede. Kafkas ›kleine Literaturen‹ meinen also nicht »die jüdische in Warschau oder in Prag« (Deleuze/Guattari 2012: 24), sondern die jiddische in Warschau und die tschechische Literatur. Von da an reiht sich in dieser Studie ein sachlicher Fehler an den anderen (eine Bestandsaufnahme und Begründung der falschen Zuschreibungen findet sich bei Thirouin 2012).

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der so genannten sudetendeutschen Literatur, zwischen deutschem und tschechischem Literatur- und Kulturleben, zwischen Juden und Christen usw. Diese hervorgehobenen oder auch bloß behaupteten Grenzziehungen führten gewollt oder ungewollt zu einer Homogenisierung innerhalb der einzelnen behaupteten literarischen Traditionen und zu einer Isolierung dieser Traditionen von ihrem weiteren Entstehungs- und Rezeptionskontext. Ihren Niederschlag fand dies dann einerseits in einer Fortschreibung herkömmlicher diskursiver Muster (Prag als ›Ghetto‹ vs. Prag als ›Vielvölkerstadt‹), andererseits in einer disziplinären Beschränkung: So war die Entwicklung eines konsequent vergleichenden Ansatzes zwischen Bohemistik, Germanistik und Geschichtswissenschaft lange ein Desiderat geblieben. Hier setzte der Forschungsverbund Prag als Knotenpunkt der europäischen Moderne(n) an und hat in inhaltlicher wie auch forschungsstrategischer Hinsicht neue Perspektiven entwickelt.5 Im Vordergrund steht die Frage nach Prozessen der Ausdifferenzierung unterschiedlicher literarischer Traditionen sowohl in produktions- wie rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht und mithin auch nach der Herausbildung, Selbst- und Fremdpositionierung und Interaktion von unterschiedlichen Kommunikations- und Identitätsgemeinschaften in einer Stadt. Deren oft beschworene ›kulturelle Vielfalt‹ oder ›Heterogenität‹ wird dabei nicht als gegebenes Faktum, sondern als sich wandelnder Effekt einer Diskursivierung gesehen, wobei die Akteure innerhalb dieses Diskursfeldes zu unterschiedlichen Zeitpunkten vielfältige, bisweilen widerstreitende Positionen einnehmen konnten. Um dieser Leitfrage nachzugehen, drängt sich eine Kontextualisierung der Prager Literaturen in zweierlei Hinsicht auf. Zum einen geht es um eine Verortung Prags im Kontext der zentraleuropäischen Moderne zwischen Wien und Berlin um 1900. Die Diversifizierung der Moderne-Konzepte und ihre tragende Rolle für die Herausbildung neuer Formen literarischer Tradition kann aus mehreren Perspektiven am Beispiel der aufsteigenden Stadt beobachtet werden. Zu den Kristallisierungspunkten gehören u. a. seit den 1890er Jahren die Versuche, die deutsche Literatur Prags in Reaktion auf die Programme der so genannten ›Wiener Moderne‹ als eine spezifisch geartete Variante der europäischen Moderne zu profilieren; wei-

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Nähere Informationen über die bisherigen Aktivitäten des Forschungsverbundes Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n), zu dem in Tübingen angesiedelten komparatistischen Forschungsschwerpunkt Prager Moderne(n) sowie zu der in der Prager Germanistik angesiedelten Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur finden sich auf folgenden Webseiten: http://www.netzwerk-kulturwissenschaft.de/ projekte/87-prag-als-knotenpunkt-europaeischer-modernen-, http://www.slavistik.unituebingen.de/m/wutsdorff/forschungsschwerpunkt-prager-modernen.html, http://krolop.ff. cuni.cz [4.1.2018]

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terhin die wechselseitigen Einflussnahmen zwischen der tschechisch- und deutschsprachigen Moderne sowie ihre jeweiligen Beziehungen zum Kulturleben in Wien (als Metropole der Monarchie bzw. kulturelles Zentrum der Österreichischen Republik), Berlin (bzw. den Kulturkreisen des Deutschen Reichs und der Weimarer Republik), aber auch weiteren Zentren der europäischen Moderne, insbesondere für den tschechischen Kontext nicht zuletzt Paris. Zum anderen ist der Kontext der Mehr- bzw. Vielsprachigkeit zu berücksichtigen. Die Deutsch- und Tschechisch-Sprachlichkeit der Prager Autoren und ihre Entscheidung für die eine oder andere Sprache bzw. einen programmatischen Bilingualismus müssen als zentraler Faktor für Identitätskonstruktionen wie auch für die literarische Arbeit berücksichtigt werden (vgl. Petrbok 2017 und Nekula 2017). Untersuchungen sollten sich nicht a priori an Sprachgrenzen orientieren, sondern diese als in seiner Bedeutung und Auswirkung veränderlichen Faktor mit einbeziehen. Entscheidend ist dabei, herkömmliche Beschreibungs- und Erklärungsmuster der deutschen Literatur Prags wie auch der tschechischen literarischen Prag-Entwürfe konsequent als Bestandteile eines historisch – insbesondere auch wissenschaftshistorisch – gewachsenen Diskurses zu betrachten und sie einer kritischen Analyse zu unterziehen. In methodischer Hinsicht geht es schließlich auch um die systematische Aufbereitung relevanter Quellenbestände. Anhand eines breiten Spektrums kulturhistorischer Zeugnisse – von den öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen den in Prag (bzw. in Prag und anderen Städten) erscheinenden Periodika bis zur Intimität persönlicher Briefwechsel – lässt sich die Frage untersuchen, ob nationale/ethnische Differenzen sowie ihr immer angespannteres Wahrnehmen als Ursachen von Abgrenzungen zwischen den in konkreten Publikationsorganen, Kulturinstitutionen oder sozialen Netzen fassbaren Akteursgruppen des literarischen Betriebs in Prag zu sehen sind oder ob eher umgekehrt die Positionierungen jener Akteursgruppen die Verteilung der nationalen/ethnischen Schutzmarken sowie Brandmarkungen erst produzierten. Mit der Relativierung der Geltungsbedingungen der Grenzmodelle wird auch das übliche neutrale Vermittler-Modell aufgegeben, denn jegliche Grenzüberschreitungen (bzw. Verfahren, die sich als solche explizit oder implizit markieren) verfolgen jeweils konkrete Interessen und tragen zur Stabilisierung oder Verschiebung bestimmter Grenzsetzungen bei.

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Vor diesem Hintergrund fokussiert der Band drei jeweils interdisziplinäre Problemfelder: 1. Figurationen der Prager Moderne(n) im deutsch- und tschechischsprachigen literarischen Diskurs Die Beiträge dieser Rubrik gelten dem Vergleich von Werken beider Literaturen vor einem mit Silvio Viettas problemgeschichtlichem Zugang als »Situation der Moderne« (Vietta 1992: 2001) zu umreißenden Hintergrund. In den jeweiligen Konzeptionen von Moderne lassen sich so Unterschiede und Gemeinsamkeiten finden, wobei die Grenzlinie dann nicht mehr entlang der sprachlichen Zugehörigkeit verläuft, sondern z.B. zwischen affirmativen und skeptischen Einstellungen zur Moderne. Irina Wutsdorff eröffnet diese Diskussion und geht in komparativen »Parallellektüren« (v.a. der Darstellungen des jüdischen Prags bei Gustav Meyrink und Vítězslav Nezval sowie der Erkenntnis-, Sprach- und Identitätsskepsis bei Franz Kafka und Richard Weiner) der Frage nach, ob sich eine signifikante Prager Prägung der literarischen Moderne feststellen lässt oder mehrere Moderne-Modelle nebeneinander, evtl. jeweils in einem spezifischen Bezug zur plurikulturellen Situation der Stadt auszumachen sind. Ausgehend von der Doppelbedeutung der Metropole als Ort der literarischen Moderne und als zentraler Moderne-Topos lässt Georg Escher seine Untersuchungen v.a. zu den Prag-Texten von Rainer Maria Rilke, Jiří Karásek ze Lvovic und Max Brod auf die These einer doppelten Vorläufigkeit der modernen Situation Prags hinauslaufen. Daniel Vojtěch stellt in seiner Betrachtung des Gedichts Rokokogarten und einer Lyrikanthologie von Camill Hoffmann die Vieldeutigkeit der »modernen Situation« im Spannungsfeld zwischen den »Kontexten« Prags, Wiens, der deutschen und der tschechischen Kultur unter Beweis. In den Beiträgen von Václav Petrbok und Veronika Tuckerová wird die Signifikanz von Übersetzungspraktiken und -politiken als neuralgischen Phänomenen der »modernen Situation« nachgewiesen – und zwar anhand der Übersetzungstätigkeiten im Umfeld der tschechischen Realistischen und der tschechischen Sozialdemokratischen Partei vor 1918 bzw. anhand der tschechischen Übersetzung von Kafkas Process aus der Feder Paul/Pavel Eisners. 2. Zentrum und Peripherie. Positionierungen und Hierarchisierungen Die hierarchisierenden Zuschreibungen, von denen die Rede über Prag vielfach durchzogen ist, bilden den Ausgangspunkt der kritischen Betrachtungen dieser Sektion. Kanonisch ist seit der zweiten Konferenz in Liblice von 1965 die Abgrenzung der (haupt-)städtischen modernen Prager deutschen Literatur von Weltbedeutung gegen die als ländlich-national-völkisch abgetane Literatur der deutschspra-

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chigen Gebiete Böhmens und Mährens. Die Beiträge gehen dagegen der diskursiven Dynamik von Kategorien wie »eigen« und »fremd« bzw. »zentral« und »peripher« nach und untersuchen, welche Rolle sie bei der (Neu-)Definition und Formulierung persönlicher und kollektiver, nationaler und individueller, deutscher, tschechischer oder jüdischer Prager Identität(en) spielten. Die Relevanz der wechselseitigen Positionierungen der Prager gegenüber den Kulturmetropolen Wien und Berlin und vice versa (v.a. der Wiener gegenüber Prag) für diese Dynamik zeigen die Studien von Kurt Ifkovits und Walter Schübler am Beispiel zweier Akteure der Wiener Moderne: Hermann Bahr und Anton Kuh. Mit der Gestaltung und Wertung Prags zur Zeit des historischen Umbruchs von 1918 im Feuilleton- und Reportagenband Třásničky dějinných dnů von Richard Weiner setzt sich Kathrin Janka auseinander. Ausgehend von den Ansätzen einer modernistischen Zivilisationskritik und »Entdeckung der Provinz« untersucht Jörg Krappmann die berühmte gleichwie prekäre »Bestenliste« von Franz Kafka, die den (immer noch üblichen) entterritorialisierenden Blick auf Kafka grundlegend problematisiert. Manfred Weinberg analysiert schließlich die argumentative Funktion und (In-)Kohärenz der Zentrum-Peripherie-Figur in den Beiträgen der erwähnten Liblicer Konferenz von 1965 und in ihrer Wirkungsgeschichte. 3. Verflechtungen sozialer und kultureller (Stadt-)Räume Prags Die hier versammelten Beiträge betrachten Prozesse symbolischer Aneignung des Stadtraums durch Akteure der deutsch- oder tschechisch(sprachig)en Kultur sowie Prozesse der (Selbst-)Verortung und des Transfers, die zu einem von Mit- wie Gegeneinander geprägten Ineinander beider Kulturen führen. Fokussiert werden dabei sowohl Sach- als auch literarische Texte jeweils beider Sprachen. Irina Wutsdorff geht zunächst der Frage nach passenden theoretischen Konzepten des Raums und seiner ästhetischen Gestaltung nach, beschäftigt sich mit Jan Mukařovskýs Funktionenmodell und v.a. mit dem Semiosphärenmodell Jurij Lotmans; ihre Relevanz belegen vergleichende Betrachtungen der Prag-Topographien bei Jiří Karásek ze Lvovic und Rainer Maria Rilke. Dass und wie sich in der tschechischen Moderne ein kritischer Umgang mit dem national geprägten Prag-Narrativ etablierte, weist Marek Nekulas Beitrag anhand der Texte von Julius Zeyer, Jiří Karásek ze Lvovic und Miloš Marten nach. In einer kleinteiligen Analyse der raumsymbolischen Stadtgestaltung in Rilkes König Bohusch erörtert Lena Zschunke die Verflüssigung strenger Grenzziehungen und den Nexus der Raum-, Subjekt-, Zeit- und Sprach-Gefährdung. Die auf Sachtexte konzentrierten abschließenden Beiträge von Jan Randák und Štěpán Zbytovský thematisieren die prominente Rolle nationaler Narrative in tschechischen Prag-Reiseführern und in deutschsprachigen kulturhistorisch-essayistischen Publikationen.

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Die hier versammelten Beiträge gehen größtenteils auf die Anfangszeit und die initiierenden Workshops des Forschungsverbunds Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n) zurück, die – flankierend zu einer Anschubfinanzierung seitens des Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz – durch Mittel des Ausschusses für Forschungsfragen der Universität Konstanz ermöglicht wurden. Der vom Forschungsverbund fokussierte Gegenstandsbereich hat sich als ein äußerst produktives Forschungsfeld erwiesen. So sind in den letzten Jahren – abgesehen von den Themenheften, die die Folgeworkshops des Verbunds dokumentieren (Wutsdorff/Zbytovský 2014, Wutsdorff/Wetz 2015) – eine Reihe von Publikationen entstanden, auf die die Autor/innen dieses Bandes aufgrund der Zeitverzögerung, mit der ihre Beiträge hier erscheinen, meist nur pauschal verweisen, ohne sich detailliert mit deren Ergebnissen auseinandersetzen zu können. Wir haben unseren Autor/innen insofern nicht nur für ihre Beiträge, sondern auch für ihre Geduld zu danken. Ein Dank geht auch an diejenigen, die über die Jahre als wissenschaftliche Hilfskräfte an der technischen und sprachlichen Redaktion der Beiträge beteiligt waren: Anna Conant, Anja Gruber (geb. Jähde), Agnes Hugger, Valentin Peschanskyi, Dorothee Riese, Katja Wetz. Dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist für die Finanzierung des Druckkostenzuschusses zu danken.

L ITERATUR Becher, Peter / Höhne, Steffen / Krappmann, Jörg / Weinberg, Manfred (Hg.) (2017): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart. Brod, Max (1918): Ein menschlich-politisches Bekenntnis. Juden, Deutsche, Tschechen. In: Die neue Rundschau 29, H. 2, S. 1580-1593. Brod, Max (1966): Der Prager Kreis. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1966. Čapková, Kateřina (2005, 22013): Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918-1938. Praha / Litomyšl. [Englische Übersetzung: Czechs, Germans, Jews? National Identity and the Jews of Bohemia. New York / Oxford 2012]. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (2012 [1976]): Kafka: Für eine kleine Literatur. Übers. v. Burkhard Kroebner. Frankfurt a. M. [Original: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris 1975.] Eisner, Pavel/Paul (1933): Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů. In: Československá vlastivěda. Bd. VII: Písemnictví. Praha, S. 325-377. [Deutsche Übersetzung: Die deutsche Literatur auf dem Boden der

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Figurationen der Prager Moderne(n) im deutsch- und tschechischsprachigen literarischen Diskurs

Prager Moderne(n)? Die deutsch- und tschechischsprachige Literatur in vergleichender Perspektive I RINA W UTSDORFF

1. M ETHODOLOGISCHE V ORÜBERLEGUNGEN Will man die deutsch- wie tschechischsprachige Prager Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts (worunter ich hier den weiteren Zeitraum zwischen den 1890er und den 1930er Jahren fasse) vergleichend betrachten, wird man nicht allein Prag fixieren können, sondern den größeren (mitteleuropäischen) Rahmen der Moderne hinzuziehen müssen.1 Dies bedeutet, einerseits den gemeinsamen Entstehungsrahmen, den die Stadt Prag materialiter für die kulturellen Akteure beider Sprachen darstellte, mit zu reflektieren, andererseits aber auch die durchaus unterschiedlichen symbolischen Zuschreibungen zu analysieren, die Prag bzw. einzelne Punkte im Stadtbild dabei erhielten; darüber hinaus gilt es, die jeweilige kulturelle Selbstpositionierung bzw. die Positionierung Prags im Verhältnis zu anderen europäischen Metropolen oder auch zur Provinz und damit letztlich zu den die Zeit prägenden Modernisierungsprozessen zu beachten. Denn das für einen Vergleich notwendige tertium comparationis ist weniger in einem biographischen oder thematischen Prag-Bezug zu suchen,2 als vielmehr in

1

Es handelt sich im Folgenden um eine deutlich erweiterte Fassung meines tschechischsprachigen Aufsatzes: Dá se mluvit o pražské moderně? Poznámky ke komparaci českoa německojazyčné literatury. In: Tomáš Kubíček / Jan Wiendl (Hg.): Moderna / moderny. Olomouc 2013, S. 23-35.

2

In welche Aporien der Versuch, das Material aufgrund biographischer oder thematischer Bezüge zu Prag einzugrenzen, führen kann, hat Georg Escher (2010) anhand des Begriffs ›Prager deutsche Literatur‹ vorgeführt.

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dem, was sich im Sinne Silvio Viettas problemgeschichtlich als »Situation der Moderne« umreißen ließe (Vietta 1992: 2001). Diese absichtlich vage Formulierung zielt einerseits auf jene zivilisatorischen Modernisierungsprozesse, die im betreffenden Zeitraum die Grundbedingungen von Wahrnehmung, von Handlungsoptionen und von Subjektkonstitution bildeten, andererseits auf jene Phänomene, die mit den Stichworten Krise der Identität, Krise des Bewusstseins, Krise der Sprache, Krise der Erkenntnisfähigkeit sowie Krise der Metaphysik und der Religion aufgerufen werden. Literarische Texte der Zeit, werden sich – so die Annahme – auf explizite oder implizite Weise im Bezug auf diese Themenfelder zur ›Moderne‹ äußern, sich zu ihr positionieren, den Begriff positiv oder negativ füllen oder ihn in seiner Ambivalenz ausstellen. Auf explizite oder implizite Weise werden sie dabei auch die eigene (Prager, deutsch-Prager, tschechisch-Prager) Position zum Phänomen der Moderne in Beziehung setzen. In den jeweils zu extrapolierenden Konzeptionen von Moderne also ließe sich nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten suchen, wobei die Grenzlinie dann nicht mehr entlang der sprachlichen Zugehörigkeit verlaufen wird, sondern z.B. zwischen affirmativen und skeptischen Einstellungen zur Moderne differenzieren wird, während sich Verbindendes möglicherweise in der Virulenz bestimmter Themenbereiche wie z.B. der Identitätsproblematik finden lassen wird. Der im Titel mit einem Fragezeichen versehene Begriff der Prager Moderne beinhaltet also auch die Frage, ob sich von einer spezifisch Pragerischen Ausprägung der Moderne sprechen lässt oder ob hier heterogene, nicht unbedingt jedoch entlang der nationalen Zugehörigkeit zu differenzierende Moderne-Auffassungen nebeneinander existierten, ob man also von mehreren Prager Modernen sprechen müsste. Bezogen auf den Prager Kontext kann man also weiter fragen, ob sich hier eine gemeinsame Akzentuierung der Ambivalenzen und Verwerfungen der Moderne findet, die eventuell mit einer gesteigerten Sensibilität der Autoren für den prekären Aspekt kollektiver wie individueller Identitäten aufgrund der multiethnischen Situation zu erklären wäre. Insbesondere die Solitäre der tschechischen Literatur, die keiner der verschiedenen literarischen Gruppierungen der Zeit angehörten, wie Richard Weiner, Ladislav Klíma oder Jakub Deml erlangen unter einem komparatistischen Blickwinkel im Hinblick auf ihre jeweilige Moderne-Konzipierung und auf die Modernität ihrer jeweiligen Schreibweisen ein neues Profil: An deutlichen Ähnlichkeiten zwischen Kafka und Weiner auf der Ebene der Themen und Motive wie der Poetik zeigt sich, dass die Unterschiede eben keineswegs immer entlang der Nationalitäts-Grenzlinien verlaufen.3 Tatsächlich lässt sich das Thema der Identität 3

Vgl. zu dem gern bemühten, wenn auch sonst meist eher an biographischen Parallelen orientierten Vergleich zwischen Kafka und Weiner zuletzt detailliert Peter Zusi (2012), außerdem die auf Denkfiguren Walter Benjamins rekurrierende Studie von Petr Málek (2008).

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nicht nur bei den genannten tschechischen Einzelgängern finden,4 sondern ist deutlich auch bei den Klassikern der Prager deutschen Literatur wie Gustav Meyrink, Paul Leppin oder auch dem frühen Rilke der »Zwei Prager Geschichten« (vgl. Zusi 2006) modelliert. Identität als ein in der Moderne problematisch gewordenes Konzept tritt hier immer wieder in enger Verbindung mit Reflexionen und Experimenten über die Reichweite und Grenzen von Sprache und damit auch von Sprachkunst auf. Prägnant und zugleich mit aller nur allzu gebotenen Vorsicht hat Scott Spector den möglichen Zusammenhang zwischen der im Umbruch befindlichen multiethnischen Situation Prags im beginnenden 20. Jahrhundert und einer besonderen Sensibilität der dortigen Autoren für die Problembereiche Identitätssuche sowie Sprachskepsis mit Bezug auf Kafka formuliert: Einige [Forscher] sind so weit gegangen, die Innovationen der Moderne in ihren vielfältigen kulturellen Ausprägungen mit dem mitteleuropäischen Milieu von Freud, Wittgenstein und Kafka zu verbinden, indem sie argumentieren, dass das erhöhte Bewusstsein für Sprache und ihr besonderer Status im Habsburger Reich seinen Bürgern privilegierten Zugang zu solch einer Denaturalisation von Auffassungen über Sprache gewährte. Im Böhmen und im Prag der Jahrhundertwende waren sowohl die Macht der Sprache als auch ihre Kontingenz in einer expliziteren und direkteren Weise ersichtlich als anderswo, obwohl die relative Wichtigkeit dieses Faktums unmöglich ermittelt werden kann. (Spector 2008: 184)5

Mit einem komparatistischen Blickwinkel wäre also zu fragen, auf welche Weise im Prag der klassischen Moderne in einem kulturellen In-, Mit- und auch Gegeneinander zentrale Problemfelder der Moderne wie Identität, Sprache, Erkenntnis und auch Religion verhandelt wurden und wie und ob sich in diesen vielfältigen Diskussionen eventuell signifikante Prager Positionen herausbildeten bzw. ob und wie dabei jeweils die Positionierung (in) Prag(s) konzipiert wurde. Um der Beantwortung dieser Frage zumindest ansatzweise näher zu kommen, führe ich im Folgenden zwei komparatistische Teilstudien an, die jeweils ein Schlaglicht auf die Situation werfen.

4

Die nach der »Wiederentdeckung« Weiners nach der Wende einsetzende WeinerForschung hat zunächst genau diesen Punkt aufgegriffen: Vgl. die Studien von Steffi Widera (2001) und Filip Charvát (2006).

5

Scott Spector selbst hat zu dieser Agenda einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet mit seinem Buch: Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle. London 2000.

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2. M EYRINK UND N EZVAL : B ILDER DES JÜDISCHEN P RAG IN DER DEUTSCH - UND TSCHECHISCHSPRACHIGEN L ITERATUR In Darstellungen zur Prager deutschen und tschechischen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts findet sich häufig die folgende Gegenüberstellung: Auf der einen Seite die deutschsprachige Literatur, die der Moderne eher skeptisch begegne, auf der anderen Seite die tschechischsprachige Literatur, die in wesentlich stärkerem Maße von einer positiven Einstellung zur Moderne geprägt sei. Diese Annahme, dass sich die Reaktionsweisen auf die (staatlichen, sozialen, ökonomischen und kulturellen) Modernisierungsprozesse je nach nationaler Zugehörigkeit unterschieden, wird meist damit begründet wird, dass der tschechische Bevölkerungsteil von den Entwicklungen, insbesondere der Republikgründung nach dem 1. Weltkrieg, insgesamt eher profitierte, während der deutsche Bevölkerungsteil mehr und mehr in eine Minderheitenposition geriet und mit einer Reihe von Verlusterfahrungen konfrontiert war.6 Die unterschiedliche Erfahrung und Wahrnehmung der Modernisierungsprozesse, so die implizite Voraussetzung, habe sich dann in der jeweiligen Literatur niedergeschlagen. Dabei wird den deutschsprachigen Prager Schriftstellern eine besondere Sensibilität für jene Auflösungserscheinungen attestiert, die der modernen und insbesondere der modernen bürgerlichen Welt inhärent sind. Kanonisch ist hier sicherlich die Position Eduard Goldstückers, der 1967 die Prager deutsche Literatur als Forschungsgegenstand rehabilitieren konnte, indem er genau auf ein in ihr sich artikulierendes Gespür für den allenthalben erkennbaren Niedergang »der bürgerlichen Welt« »unter dem Anprall der neuen Zeit« verwies.7 Die stereotype Gegenüberstellung von melancholisch in die Vergangenheit blickender deutscher und optimistisch der Zukunft zugewandter tschechischer Literatur nimmt ihren Ursprung jedoch bereits in der zeitgenössischen Diskussion um den

6

Eine solche Argumentationslinie findet sich z.B. in der Einleitung von Michael Schardt und Dieter Sudhoff zu der von ihnen herausgegebenen Anthologie Prager deutsche Erzählungen (1992).

7

»Diese Zahlen besagen klar, dass die deutsche Insel in Prag unter dem Anprall der neuen Zeit langsam abbröckelte, dass die Deutschen gegen einen unaufhaltsamen historischen Entwicklungsgang ankämpften […]. […] Der entscheidende Grund, der das bis dahin noch provinzielle Prager deutsche Schrifttum zu einer Literatur von Weltinteresse werden ließ, ist darin zu suchen, dass die Prager Deutschen […] die erste Gesellschaftsgruppe der bürgerlichen Welt waren, deren Dichter erfühlten, dass dieser Welt der Abgrund und das Ende drohten.« (Goldstücker 1967: 30)

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»Prager Roman«,8 konkret anlässlich Gustav Meyrinks Roman Golem, dessen tschechische Übersetzung Arne Novák 1917 in einer Rezension heftig und mit deutlich nationalistischen Tönen9 kritisierte: […] to vše jest ještě na mile vzdáleno od kulturně duchové podstaty Prahy, k níž se může promilovati a protrpěti jen srdce české, rozumějící krvavému písmu dějin a chápající osudové pozadí stavitelských vytvorů. Ze zkutečného života pražského nezná, či lépe řečeno, nechce znáti pisatel ›Golema‹ praničeho. Zcela úmyslně zamlčuje, že kolem groteskního ostrůvku, jakým jest zdejší ghetto, hučí a proudí ruch průmyslový a obchodní, vědecké a umělecké snažení, radostný a mladistvý příboj zdravého a schopného národa. (Novák 1917: S. 181) […] all das ist noch meilenweit entfernt vom kulturell geistigen Wesen Prags, in das sich zu verlieben und mit dem zu leiden allein ein tschechisches Herz vermag, das die blutige Schrift der Geschichte versteht und den schicksalhaften Hintergrund der baulichen Erzeugnisse begreift. Vom wirklichen Prager Leben kennt der Autor des ›Golem‹ überhaupt nichts oder will es zumindest nicht kennen. Absichtlich verschweigt er, dass außer dem grotesken Prager Inselchen, wie es das hiesige Ghetto darstellt, ein reger Industrie- und Handelsverkehr braust und fließt, ein wissenschaftliches und künstlerisches Streben, die fröhliche und junge Strömung einer befähigten Nation.

Diese von nationalen Gesichtspunkten motivierte Gegenüberstellung ließ sich später gut mit einer kommunistischen kombinieren, womit dann ein Gegensatz von überkommener bourgeoiser Einstellung zu Prag hier und einer zukunftsträchtigen, mit der tschechischen Arbeiterschaft verbundenen Einstellung dort entsteht. Einen 8

Vgl. zu dieser Debatte Krolop (2010). Die Übersetzung des zweiten Absatzes im folgenden Zitat folgt der Kurt Krolops in diesem Aufsatz. Alle weiteren Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir, IW.

9

In einer argumentativen Volte wirft Novák den deutschsprachigen Schriftstellern im weiteren zunächst vor, »auf das hiesige Leben in einem schroffen Dualismus« zu blicken (»Dívají se na život zdejší v příkrém dualismu.«) und »zwei Stämme an der Moldau leben« zu sehen, die sich »nach Sprache, Sitte und Blut« unterschieden (»Nad Vltavou bydlí dvě plemena, odlišná jazykem, mravem i krví.«), nämlich einerseits ein Herrenvolk bildeten, andererseits eines, das den »arischen und semitischen Auserwählten« (»arijským i semitským vyvolencům«) die Dienstmädchen und Kellner und dergleichen liefere, um dann festzustellen: »K prvnímu plemeni náleží původem Gustav Meyrink sám, k druhému překladatel jeho ›Golema‹ […].« (»Zum ersten Stamm gehört von der Abkunft her Gustav Meyrink selbst, zum zweiten der Übersetzer seines ›Golems‹ […].«) (alle Zitate Novák 1917: 181)

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Abgesang auf das insuläre Dasein der deutschsprachigen Prager Dichtung verfasste 1959 der Schriftsteller und Publizist Norbert Frýd10: In der dumpfigen Atmosphäre der Prager Patrizierhäuser hatten die deutschen Schriftsteller das Gefühl, den Kalk von den Arterien ihrer Heime abbröckeln zu hören. Aus der Perspektive des Stillstands sahen sie das, was war und wohl niemals anders werden würde: den überdimensionierten, unvollendeten Dom auf dem Hradschin und ringsum die öden Kanzleien, Gedenkstätten eines ehemals glanzvollen Herrschersitzes. Etwas tiefer irrten ihre Augen über die skurrile Wirrnis der Kleinseitner Dächer, deren Ziegel unter einer Kruste von Taubenmist fast verschwanden. Sie blickten in die abscheuliche Gedrängtheit des einstigen Ghettos, das nach Assanation rief, sie durchstöberten die Gewölbe der Trödler und fanden vorvorjährigen Krimskrams, sie beobachteten den verrückten Geigenspieler auf der Karlsbrücke und den komischen Rollmopshändler in der Weinstube, sie lauschten einer tränenvollen Ballade von dem Straßenmädchen, das in die Moldau gesprungen war, und sie vertieften sich in die dunklen Legenden vom Golem des Rabbi Loew. So kommt es, daß Prag in den Werken der deutschen Schriftsteller oft als eine bizarre Stadt dargestellt wird, dem Gestern zugewandt, geheimnisvoll flimmernd. Durch dieses Gerümpel wetterleuchtet mitunter der tschechische Traum von nationaler Selbständigkeit, verkündet jedoch dem Prager Deutschen nichts Zukünftiges, wirkt nur als Anlaß für das stumpfe Beharren auf unwiderruflich Vergangenem. Es erübrigt sich wohl darauf hinzuweisen, daß Prag im Spiegelbild der damaligen tschechischen Literatur ganz anders aussieht. Derart verschieden sind die Bilder voneinander, daß es kein Wunder wäre, würde jemand annehmen, in den beiden Literaturen sei gar nicht von ein und demselben Thema die Rede. Das tschechische Prag ist im Aufstieg begriffen, für die Tschechen hörte es niemals auf, ihre lebendige, natürliche Hauptstadt zu sein, die verkörperte Hoffnung, der Schauplatz jener Prophezeiungen der sagenumwobenen Fürstin Libuscha: »Ich sehe eine große Stadt, deren Ruhm bis an die Sterne reichen wird!« (Frýd 1959, o.S.)

Welche tschechische Literatur hier eigentlich als Gegenstück gemeint ist, wird allerdings weniger deutlich. Nun ist der Prag-Bezug in mehreren der einschlägigen Werke der Prager deutschen Literatur wie etwa in Paul Leppins Severins Gang in 10 Norbert Frýd, ursprünglich Norbert Fried, wurde 1913 als Sohn eines tschechischjüdischen Vaters und einer deutsch-jüdischen Mutter geboren. Er studierte Jura und Literatur und beteiligte sich in den 30er Jahren an den kulturellen und politischen Aktivitäten der Linken Front (Levá fronta). Ab 1942 war er zunächst in Theresienstadt, später in Auschwitz, wo sein Vater und seine Frau ermordet wurden, und in Dachau-Kaufering inhaftiert, von wo ihm 1945 die Flucht gelang. Nach dem Krieg kehrte er in die Tschechoslowakei zurück, wo er als Funktionär der KSČ, Journalist, Diplomat und freier Autor tätig war. Vgl. den Eintrag von Petr Šisler im Slovník české literatury po roce 1945, URL: http://www.slovnikceskeliteratury.cz/showContent.jsp?docId=324 [31.08.2015].

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die Finsternis (1914) oder Gustav Meyrinks Golem (1915) oder auch Franz Werfels Trauerhaus (1933) sehr deutlich – und dies sind allesamt tatsächlich Texte, denen ein melancholischer Gestus eigen ist. Auf Seiten der tschechischsprachigen Literatur der Zeit dagegen ist es wesentlich schwieriger, von einem Bezug auf Prag als hervorstechendes Charakteristikum zu sprechen. Demnach ließe sich der Befund aus einer stark vergröbernden Vogelperspektive zunächst bestätigen: Eine Reihe von zentralen Werken der so genannten Prager deutschen Literatur wird schließlich gern mit dem Expressionismus in Verbindung gebracht, und zwar mit dessen Moderne-skeptischer Ausprägung. Für die Gegenseite liegt es nahe, an die den Erscheinungen der Moderne gegenüber tatsächlich positiv eingestellte tschechische Avantgarde zu denken,11 also an Karel Teiges Proklamationen zum Poetismus und Konstruktivismus oder an seine gemeinsam mit Jaroslav Seifert gestaltete Feier einer fröhlichen, technisierten Moderne »auf den Wellen von TSF« (Na vlnách TSF, 1925). Allerdings bleibt auch hier anzumerken, dass die tschechische Bewegung des Poetismus als späte Avantgarde von Beginn an ein zwar positives, aber doch äußerst reflektiertes Verhältnis zur Moderne unterhielt: Statt uneingeschränkter Technikbegeisterung wie etwa im italienischen Futurismus bemühte sie sich um die notwendige Ergänzung eines rationalen, technisierten Lebens durch Momente der Kreativität und Phantasie. Neben dem Prinzip des Konstruktivismus steht für Teige gleichwertig das des Poetismus und die »Wellen der drahtlosen Telegraphie« sind in dieser Konzeption Mittel, um das bunte Leben der phantasievollen Zerstreuung zu verbreiten, das neben der Rationalität der Technik nicht in Vergessenheit geraten dürfe.12 11 Frýd hatte in den 30er Jahren mit dem Theater-Avantgardisten E.F. Burian zusammengearbeitet und die Abschlussarbeit zu seinem Literaturstudium über den Mitte der 30er Jahre entstandenen tschechischen Surrealismus geschrieben, dessen Mitglieder größtenteils aus der Avantgardebewegung des Poetismus Devětsil hervorgegangen waren. (Vgl. zu diesen biographischen Angaben Šisler, op. cit. in Fn. 10) 12 Zu dieser konzeptionellen Grundtendenz der tschechischen Avantgarde, Gegensatzpaare in einem Spannungsverhältnis zueinander zu denken, s. Wutsdorff (2006). Ähnlich stellt Vojvodík für den tschechischen Surrealismus, der Mitte der 30er Jahre aus dem Poetismus hervorging, im Vergleich zum französischen Surrealismus fest: »Je nápadné, jak významné místo zde [v Nezvalovém programovém letáku Surrealismus v ČSR (1934)] zaujímá – na rozdíl od Bretonova pojetí surreality – právě subjektivita; souvztažnost reality a surreality se vůbec jeví jako jedno ze specifik českého surrealismu a komplementárnost vzájemné se vyvažujících protikladných koncepcí racionality konstrukce a emocionality poezie (stavby a básně), racionality a iracionality jako jeden z konstitutivných rysů české avantgardy.« (Vojvodík 2008: 49 – »Es ist auffällig, einen wie bedeutenden Platz hier [in Nezvals programmatischem Flugblatt Der Surrealismus in der ČŠŘ (1934)] – im Unterschied zu Bretons Auffassung von Surrealität – gerade die Subjektivi-

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Wenn ich im Folgenden poetische Bilder des jüdischen Prag, wie sie sich einerseits bei Gustav Meyrink und andererseits bei Vítezslav Nezval finden, miteinander vergleichen werde, so gehe ich damit auch exemplarisch der Frage nach, inwieweit die verbreitete Annahme angemessen ist, expressionistische Modernekritik auf Seiten der deutschsprachigen Literatur und avantgardistische Moderneaffirmation auf Seiten der tschechischen seien einander entgegen zu setzen. Konkret ziehe ich zum einen den Golem-Roman Gustav Meyrinks heran, der damals die bereits genannte Debatte um den (deutschsprachigen) Prager Roman auslöste, zum anderen ein Werk des für die tschechische Avantgarde zentralen Dichters Vítězslav Nezval. In seiner Übergangsphase vom Poetismus zum Surrealismus hat auch er sich einer ähnlichen Motivik wie Meyrink gewidmet, nämlich dem Jüdischen Friedhof.13 Das lyrische Werk diesen Titels, also Židovský hřbitov, gab Nezval (als »báseň, psáno v červenci 1928« – »Gedicht, geschrieben im Juli 1928«) mit sechs Litographien Jindřich Štyrskýs und in typographischer Gestaltung Karel Teiges zu Weihnachten 1928 erstmals heraus.14 Faszinierend ist, dass in beiden Werken die Imagination ihren Ausgangspunkt von sehr ähnlich gestalteten Szenen im Ghetto nimmt. Frýd mag mit seinem Verweis auf die »Gewölbe der Trödler«, die die »deutschen Schriftsteller« »durchstöberten« (s.o.) auf genau jene Passage im Golem angespielt haben:

tät einnimmt; das Wechselverhältnis von Realität und Surrealität erscheint überhaupt als eines der Spezifika des tschechischen Surrealismus und die Komplementarität wechselseitig einander aufwiegender, entgegengesetzter Konzepte von Rationalität-Konstruktion und Emotionalität-Poesie [Bau und Gedicht], von Rationalität und Irrationalität als einer der konstitutiven Züge der tschechischen Avantgarde.«) 13 Vojvodík (1996) zählt Židovský hřbitov zu jenen Werken aus den 20er Jahren, in denen sich die Hinwendung Nezvals zur Poetik des Surrealismus bereits abgezeichnet und vorbereitet habe (»Nezvalův příklon k poetice surrealismu byl tedy připravován a předznamenán již některými jeho texty z dvacátých let ([…], Židovský hřbitov, 1928, […]) […].«; Vojvodík 1996: 174) 14 Später fügte er eine um ca. ein Drittel, und zwar um einige Szenen und Beschreibungen aus dem jüdischen Ghetto gekürzte Version seinem Zyklus Praha s prsty deště (1936, Prag mit Regenfingern) ein. Für die Werkausgabe 1953 (Bd. VI), kürzte er die Komposition erneut, diesmal um eine zwischen Realität und Phantasie oszillierende Szene, in der das lyrische Ich jene jüdische Prostituierte, der er auf den Friedhof gefolgt ist, erwürgt. Vgl. zur Editionsgeschichte auch den Kommentar der Herausgeber Kateřina Blahynková und Milan Blahynka, in: Vítězslav Nezval: Dílo XXXIV (= Nezařazené básně), Praha 1988, S. 430. Zitiert wird hier aus dieser Edition, die der ursprünglichen eigenständigen Buchausgabe von 1928 folgt.

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Da stand ich plötzlich in einem düsteren Hofe und sah durch einen rötlichen Torbogen gegenüber – jenseits der engen, schmutzigen Straße – einen jüdischen Trödler an einem Gewölbe lehnen, das an den Mauerrändern mit altem Eisengerümpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigbügeln und Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war. Und dieses Bild trug das quälend Eintönige an sich, das alle jene Eindrücke kennzeichnet, die tagtäglich so und so oft wie Hausierer die Schwelle unserer Wahrnehmung überschreiten, und rief in mir weder Neugierde noch Überraschung hervor. (Meyrink 1992: 12)

So lautet der Anfang des zweiten, »Tag« betitelten Kapitels des Golem, mit dem im Anschluss an das zur Rahmenerzählung gehörende Kapitel »Schlaf« die Haupthandlung des Romans beginnt. In Nezvals Židovský hřbitov steht zu Beginn der zweiten, den Imaginationsprozess in Gang setzenden Passage ein ähnliches Bild: V protějším průčelí nad vetešnickým krámem odkud vyletěly krabice rozvířivše prach spatřil jsem letopočet jehož cifry se jaly přemísťovati takže jsem se zprvu domníval že se o mne pokouší závrať Vyňal jsem cigaretu potěšen z právě nastalého bezvětří a chystal jsem se k odchodu když čísla podléhajíce jakémusi neznámému rozmaru neopustivše zdi vytvořila datum mého narození (Nezval 1928: S. 66) Aus der gegenüberliegenden Front über dem Trödlerladen Flogen Schachteln heraus und Staub wirbelte auf Ich erblickte eine Jahreszahl Ihre Ziffern begannen ihre Stellen zu tauschen Auch dachte ich mich befalle Schwindel Ich nahm eine Zigarette heraus Erfreut über die eingetretene Windstille Und wollte weitergehen Als die Zahlen einer unbekannten Laune gehorchend Ohne die Wand zu verlassen das Datum meiner Geburt bildeten (Nezval 1967: 123)

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Zunächst zu der Golem-Passage: Die Abgrenzung zwischen Rahmen- und Haupthandlung ist dort keineswegs so eindeutig, wie ich es zunächst der Orientierung halber dargestellt habe. Vielmehr sind der Ich-Erzähler des Rahmens, dann der Protagonist der Haupthandlung, Athanasius Pernath, und schließlich auch die sagenumwobene Gestalt des Golem als mehrfach ineinander verschachtelte Doppelund Widergänger konzipiert. Gerade die Anfangskapitel enthalten vielfältige Anspielungen auf diese Doppelbödigkeit der Identität(en). Deutlicher als zu Beginn scheint in den ersten Sätzen des »Schluß« betitelten Kapitels die Haupthandlung vom Rahmen abgetrennt zu sein. Dort heißt es: Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und muß mich besinnen, wo ich bin. Ich liege im Bett und wohne im Hotel. Ich heiße doch gar nicht Pernath. Habe ich das alles nur geträumt? Nein! So träumt man nicht. (Meyrink 1992: 269)

Doch was wie eine realistische Auflösung einer phantastischen Situation aussieht, indem die übernatürlichen Züge des Erzählten als Traum erklärt werden, wird alsbald wieder in Frage gestellt, wenn der Ich-Erzähler sich auf der Suche nach Anhaltspunkten für seinen vermeintlichen Traum erneut in Doppelgänger-Erlebnisse verstrickt, bevor er schließlich den nun in völliger Harmonie lebenden Athanasius Pernath erblickt. Pernath gelangt über den Kriminalfall, in den er verwickelt wird, über die schrittweise Wiedererlangung der Erinnerung an seine Jugend, die Initiationen, die er im Kontakt mit dem jüdischen Weisen Hillel durchläuft, und die mystische Begegnung mit dem Golem, die sich auch als Gang in sein Unbewusstes lesen lässt, weniger zu einer individuell begriffenen Identität denn zu einem harmonischen Aufgehen in einem allumfassenden mystischen Zusammenhang. Was zunächst wie die Suche nach dem eigenen Ich erscheint, erweist sich zunehmend als Suche nach einer Überwindung des Ich – symbolisiert am Ende des Hauptteils in Pernaths Sturz aus dem Fenster, bei dem er »[e]inen Augenblick […], Kopf abwärts, die Beine gekreuzt, zwischen Himmel und Erde« (ebd.: 268) hängt, ein altes alchemistisches Symbol für das Eintauchen des Geistes (Kopf) in die Materie (Erde) zitierend (vgl. Krieger 1998: 174, Anm. 46) bzw. »das Lamed oder den Gehenkten, die 12. Karte des Tarotspiels, selbst verkörpern[d]« (Stockhammer 2000: 206). Offenbar, so lässt sich aus dem Schlusskapitel folgern, hat ihn dieser Sturz nicht in den irdischen Tod, sondern auf eine höhere, von größter Harmonie und Ausgeglichenheit geprägte Stufe der Existenz geführt. Diese Zielrichtung des Romans, die vergegenwärtigte Teilhabe an einem schon immer gegenwärtigen, jedoch okkulten Wissen, wird bereits in den Eingangskapi-

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teln erkennbar, besonders deutlich in folgender Passage, mit der die Beschreibung der Lektüre jenes geheimnisvollen Buches endet, das Pernath von einem nicht minder geheimnisvollen Fremden erhalten hat: Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den Händen, da war mir, als hätte ich suchend in meinem Gehirn geblättert und nicht in einem Buche! Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. (Meyrink 1992: 26)

Der Gang ins Unbewusste, als der der spätere Weg durch unterirdische Gänge zur Begegnung mit dem Golem lesbar ist, soll das dort lagernde Wissen aktivieren, es ins Bewusstsein heben. Prag, zumal das sagenumwobene jüdische Prag, dient hier aufgrund seiner imaginären Verbindung mit mannigfachem okkulten Wissen als besonders geeignetes Vehikel. Auch die Fortsetzung der oben zitierten Eingangspassage, in der das Ich bereits herausstreicht, dass es »weder Neugierde noch Überraschung« gegenüber seiner Umwelt zeige, weist eher auf den Endzustand der Gelassenheit voraus, als dass sie das Beunruhigende an dem Doppelgänger-Verhältnis zwischen Rahmen- und Binnenerzähler hervorheben würde: Ich wurde mir bewußt, daß ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung zu Hause war. Auch diese Empfindung hinterließ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem, was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt, keinerlei tieferen Eindruck. (Ebd.: 12)

Während hier also ein Ich erzählt, das offenbar um größtmögliche Unabhängigkeit gegenüber äußeren Eindrücken, die auf die Wahrnehmungsfähigkeit einwirken, bemüht ist, begegnet in Nezvals Text ein Ich, das im Gegenteil seine Umwelt mit geschärften Sinnen wahrnimmt. Zu Beginn situiert sich das lyrische Ich ganz konkret in Zeit und Raum, bevor auch bei ihm eine Bewusstseinstrübung einsetzt: 21. listopadu 1921 šel jsem domů z petřínské rozhledny když pojednou západ slunce oddělil mne od mé minulosti Zastavil jsem se překvapen hodinami jež zhášely v korunách stromů Pak nastala mlha

32 | I RINA W UTSDORFF Spěchaje s vyhrnutým límcem vyhnul jsem se ulicím které mne fascinují až náhlý vítr míchaje reflektory způsobil že jsem stanul v polootevřeném průjezdu (Nezval 1988: 65) 21. November 1921 Ich ging vom Laurenziberg heim Als mit einem Mal der Sonnenuntergang Mich von meiner Vergangenheit trennte Ich blieb stehen Überrascht durch die Uhren die in den Baumkronen erloschen Dann fiel Nebel ein Ich ging weiter mit aufgeschlagenem Rockkragen Ich ging und wich den Gassen aus die mich faszinieren Ich ging so lange bis der Wind der die Scheinwerfer schüttelte Mich in einer halbverfallenen Torfahrt stehenblieben ließ (Nezval 1967: 123)

Nachdem also sowohl die Umwelt als auch das Ich (hierin dem Meyrinkʼschen ähnlich) sich in einem Dämmerzustand befinden und das Ich besonders empfänglich für ungewöhnliche Eindrücke ist, reagiert es jedoch anders als Meyrinks IchErzähler keineswegs ohne »Neugierde« und »Überraschung«, sondern mit Schrecken auf das beunruhigende Bild, das sich ihm bietet: Chtěl jsem vykřiknouti o pomoc zavíraje oči z mého hrdla však vyklouzlo proti mé vůli velmi slabounké zaúpění jež mohlo též pocházeti od někoho jiného a jež mne tak poděsilo že jsem zůstal přimrazen na dveřích jež se pojednou rozletěly za vichřice (Nezval 1988: 67) Ich wollte um Hilfe schreien auch schloß ich die Augen Und meiner Kehle entrang sich unwillkürlich ein schwaches Stöhnen Das auch von jemand anderem herrühren konnte Und das mich entsetzte Ich blieb wie angefroren in der Tür stehen Die plötzlich durch einen Windstoß aufflog (Nezval 1967: 124)

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Bei der dann folgenden Handlung ist – wiederum ähnlich wie bei Meyrink – nicht klar, ob sie in einem Traumzustand oder in der Realität angesiedelt ist. Zweimal ist von einem Erwachen die Rede, außerdem von Fieber, Trugbild und Wahn; eine klare Scheidung solcher Zustände von einer ungetrübten Wahrnehmung der Realität erfolgt aber nicht. Der Protagonist gerät in ein Bordell, wo er von einer jüdischen Prostituierten zum Abschied einen Edelstein erhält. Von Gewissensbissen gegenüber seiner Geliebten geplagt, will er sich an der Prostituierten rächen und verfolgt sie auf den jüdischen Friedhof, wo er sie erwürgt. Als er am Morgen zu Hause erwacht, vertraut er sich seiner Geliebten an und will ihr zum Beweis den Stein zeigen, zieht zum eigenen Entsetzen aber ein Stück Gold aus der Tasche. Die gemeinsame Suche nach dem Bordell bleibt ohne Erfolg, auch die am Vortag so erschreckende Jahreszahl ist diesmal von Taubenflügeln bedeckt, und an der Stelle des Trödlerladens steht ein Katafalk mit einem geöffneten Sarg, in dem eine alte Jüdin liegt, von der es heißt, sie sei die letzte Sternenkundige gewesen. Auf ihr Grab legt das Ich den Stein, nun ein »goldener Stein ohne Gold« (»zlatý kámen bez zlata«, Nezval 1988: 76). Die Schlussstrophe wiederholt zunächst zwei Verse, die bereits zu Beginn auf den erschreckenden Anblick der Jahreszahl gefolgt waren, leitet dann aber zu Aussagen über, die eine metapoetische Ebene eröffnen: Později jsem se otázal historiků na smysl letopočtu jenž mne poděsil byl to úmrtní den alchymisty bylo to datum mého narození sbírám kaménky jimiž jste po mně hodili přátelé i vy budoucí města jimiž jsem neprošel nádherné ženy jež jsem rdousil chiméry kterým jsem obětoval svůj všechen čas budou z nich nezcizitelné klenoty jež zradily mou alchymii (Nezval 1988: 77) Später fragte ich Historiker nach dem Sinn der Jahreszahl die mich entsetzt hatte Es war der Todestag des Alchymisten Es war mein Geburtsdatum Ich sammle die Steinchen die ihr nach mir geworfen habt Ihr Freunde und ihr künftigen Städte durch die ich nicht gegangen bin [Wunderbare Frauen die ich gewürgt habe]15 Chimären denen ich all meine Zeit geopfert habe

15 Die zitierte Übersetzung folgt der Fassung in der Werkausgabe von 1953 und umfasst deshalb nicht die dort gegenüber der Erstausgabe ausgelassenen Passagen. Ihre Übersetzung ist hier in eckigen Klammern ergänzt.

34 | I RINA W UTSDORFF Aus ihnen werden die unveräußerlichen Kleinodien werden Die meine Alchymie verraten haben (Nezval 1967: 126)

Das lyrische Ich wird hier deutlich als textgenerierende Instanz, als dichtendes Ich, gekennzeichnet, das die vielfältigen Eindrücke, die es aufgrund seiner geschärften Wahrnehmung empfangen kann, in Juwelen umzuschmelzen vermag. Der Dichtungsakt ist so gleichermaßen Vorführung und Proklamation seiner selbst. Meyrink und Nezval, so lässt sich zunächst festhalten, rufen Topoi des jüdischen Prag auf, die im kollektiven Bilder-Repertoire verankert sind (den Golem, das Ghetto, den jüdischen Friedhof, jüdische Mystik und Alchimie), um diese Elemente mit Phänomenen des Traums und des Unbewussten in Berührung zu bringen. Über diese Gemeinsamkeit hinaus wäre allerdings zu fragen, welches Verständnis von der eigenen kulturhistorischen Situierung in der Moderne diesem massiven Aufruf von Topoi bzw. eigentlich schon Stereotypen aus dem kultur- und literaturhistorischen Archiv zugrunde liegt und welche Konzepte eines dieser Situation gemäßen Schreibens daraus abgeleitet und damit zugleich umgesetzt werden.16 Nezval, der in diesem Gedicht – wie auch in vielen anderen – seinen Schaffensprozess als erneuernde Teilhabe am kulturhistorischen Archiv ausstellt,17 praktiziert 16 Jutta Müller-Tamm (2005: 269f.) streicht die Anschlüsse von »Meyrinks Darstellung des Prager Ghettos« an »zentrale Muster der modernen Großstadtliteratur« heraus: »das Phänomen des Doppelgängers als Massenmenschen, das Motiv der Stadtlektüre, die Kennzeichnung der Stadtbevölkerung als entindividualisierte und anonyme Masse, das Motiv des geheimnisvollen Verbrechens und die besondere Perspektivierung der dargestellten Selbsterfahrung. Als zitierbare Versatzstücke […] sind diese Elemente von Großstadtwahrnehmung und Moderneerfahrung dem de facto ja nicht mehr existenten, untergegangenen Ghetto zugewiesen.« 17 In ähnlichem Sinne erkennt Josef Vojvodík in kulturtypologischer Hinsicht Affinitäten zwischen der Avantgarde, konkret dem tschechischen Surrealismus, und dem Manierismus: »Zdá se, že jedním z hlavních aspektů, spojujících manýrismus a baroko s uměním avantgardy, je požadavek maxima poietistických možností a schopností, chápání umění jako ars inveniendi, vajadřující subjektivní zvnitřnění, ›absolutní formu‹ a zároveň trvání na antimimetickém principu umění, na důsledné emancipaci od přírody a ›vnejšího‹ modelu. Estetickému a uměleckému myšlení manýrismu, baroka i avantgardy je vlastní představa uměleckého díla jako výsledku umělcovy ›ideje‹, princip autoreflexivnosti, myšlenka sebetematizace a sebekonceptualizace umění (umělec je sám o sobě ›konceptem‹). To uměl(eck)é, ›artistní‹, co umělec svou metodou do díla vložil, má být jako takové pociťováno, tzn. umělecké dílo má být vnímáno jako artefakt.« (Vojvodík 2008: 25 – »Es scheint, dass einer der Hauptaspekte, der den Manierismus und den Barock mit der Kunst der Avantgarde verbindet, die Forderung nach einem Maximum poietischer Mög-

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hier einen partizipierenden Typus von Intertextualität18. Laut Anja Tippner (2009: 163f.) kann diese Beobachtung für Nezvals Prag-Darstellungen verallgemeinert werden: Beschrieben wird, was bereits andernorts beschrieben ist, was bereits im imaginären Archiv niedergelegt ist.19 Dieses wird aktiviert, um die Potentiale des Unbewussten aufzurufen, um neue (verfremdende) Perspektiven auf das scheinbar Bekannte, Vertraute zu eröffnen. Im Zuge des avantgardistischen Strebens nach der

lichkeiten und Fähigkeiten ist, das Verständnis von Kunst als ars inveniendi, eine subjektive Verinnerlichung ausdrückend, eine ›absolute Form‹, und zugleich das Beharren auf einem antimimetischen Prinzip der Kunst, auf gründlicher Emanzipation von der Natur und von einem ›äußeren‹ Modell. Dem ästhetischen und künstlerischen Denken des Manierismus, des Barock wie der Avantgarde eignet die Vorstellung vom Kunstwerk als Folge einer ›Idee‹ des Künstlers, das Prinzip der Autoreflexivität, der Gedanke der Selbstthematisierung und Selbstkonzeptualisierung der Kunst (der Künstler selbst für sich ist ein ›Konzept‹). Dieses Künstl(er)i(s)che, ›Artistische‹, was der Künstler mit seiner Methode in das Werk gelegt hat, soll als solches empfunden werden, d.h. das Kunstwerk soll als Artefakt wahrgenommen werden.«) 18 Renate Lachmann und Schamma Schahadat unterscheiden in einem Überblicksartikel zu Intertextualität drei Typen: Partizipation, die sich durch einen bewahrenden Gestus der Teilhabe und des Dialogs mit der vergangenen Kultur auszeichnet; Transformation, die den fremden Text für das eigene poetologische Programm usurpiert; schließlich Tropik, die den Vorläufertext abwehrt und z.B. parodistisch umkehrt (vgl. Lachmann/Schahadat 1995). 19 Tippner deutet diesen Zug in Nezvals Poetik ebenfalls metapoetisch: »Eine Weise, die eigene Literarizität zu thematisieren, ist der Bezug auf andere Texte. Bereits in Praha s prsty deště [also dem Zyklus, in den Nezval 1936 eine gekürzte Version von ›Židovský hřbitov‹ integrierte, I.W.] macht Nezval davon ausgiebig Gebrauch. Gleich mehrere Gedichte setzen sich mit literarischen und sagenumwobenen Figuren des Pragtextes auseinander: ›Fantom‹ (›Das Phantom‹), ›Rabbi Löw‹, ›Faustův dům‹ (›Fausts Haus‹). […] Es ist die […] Verbindung von Stadt und Literatur, die sie so inspirierend für den Dichter macht. Im Prosatext ›Pražský chodec‹ [›Der Prag-Gänger‹, I.W.] entfaltet Nezval das Verhältnis seines Textes zu den Prätexten, zu den romantischen Legenden und naturalistischen Romanen über Prag dann mit großer Ausführlichkeit. Als Bezug dienen jedoch die gleichen Texte wie schon in der Lyrik. Ein Grund hierfür ist, dass die Stadt als ›Schauplatz der Schrift‹ [Weigel] nur da in seinen Text eingehen kann, wo sie schon beschrieben ist. Stadtteile wie Košíře oder Smíchov, die anders als die Kleinseite durch Neruda oder das Jüdische Viertel durch die Legenden um den Rabbi Löw nicht die Aufmerksamkeit der Schriftsteller auf sich gezogen haben, sind für ihn unbewohnbar und damit auch unbeschreibbar. So entsteht das literarische Paradoxon, dass was nicht bereits dargestellt ist, auch nicht darstellbar erscheint.« (Tippner 2009: 163)

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Etablierung eines »Neuen Sehens« verfolgt Nezvals Poetik damit einen erkenntniskritischen bzw. -erweiternden Impuls. Bei Meyrink, bei dem noch wesentlich deutlicher ein noetisches Interesse zu erkennen ist, ist dieses anders gelagert. Folgt man Jan Christoph Meister, war »Meyrink […] durchaus kein Literat mit einem faible für Okkultismus, sondern umgekehrt ein Okkultist mit einem (allerdings professionalisierten) faible für das Dichten« (Meister 1987: XIV). In einer äußerst synkretistischen Mischung von Versatzstücken verschiedenster okkultistischer, mystischer, alchemistischer und kabbalistischer (Geheim-)Lehren zielt sein Roman darauf, nicht nur für seinen Protagonisten, sondern auch für den Leser eine Form der Erkenntnis zu erlangen, die die übliche Suche nach einer nach außen abgeschlossenen Identität in einem allumfassenden Gestus hinter sich lässt. Es ist sicherlich nicht unbedeutend, dass beide Autoren, bei ihrer Suche nach einer anderen Form der Erkenntnis qua poiesis, als Nicht-Juden eine jüdische Thematik aufgreifen, sich also dem in Prag stets vor Augen stehenden, eigenen Fremden zuwenden. Auch daran mag es allerdings liegen, dass die Behandlung des Jüdischen bei beiden im Grunde nicht über die Anhäufung von Klischées und Stereotypen hinausgeht. Wie Andrea Gnam treffend angemerkt hat, ist Meyrinks Golem-Adaption im Kontext der trivialisierten Wiederentdeckungen hermetisch-kabbalistischer Traditionen im 19. Jh. zu verorten, die deren komplexe Techniken der Auslegung mit anderen magischen und religiösen Systemen zusammengebracht hatte (vgl. Gnam 2006: 196). Hierher gehört etwa die deutliche Bezugnahme auf den Buddhismus zu Beginn des Buches; nimmt man hinzu, dass der Golem bei Meyrink alle 33 Jahre, also – wie bereits Gershom Scholem kritisiert hatte – dem Lebensalter Jesu entsprechend, wiederkehrt, so handelt es sich um eine Mischung buddhistischer Wiedergeburtsvorstellungen mit Versatzstücken aus christlichem und jüdischem Repertoire. Robert Stockhammer (2000) hat Meyrinks Golem gerade wegen dieser Amalgamierung verschiedener magischer Vorstellungswelten und Praktiken im Rahmen seiner Untersuchung zu »Zaubertexten« als Formen der »Wiederkehr der Magie« in der Moderne gelesen. Magie in ihren verschiedenen Ausprägungen, so seine Ausgangsthese, gewinnt um 1900 eine neue Virulenz, weil sie – hierin der Moderne selbst strukturell ähnlich – eine ambivalente Zwischenstellung innehat, insofern sie »›irrationale‹ (›mystische‹) Dispositionen mit ›rationalen‹ (›technischen‹) Praktiken« kombiniert. Denn Magie verweist einerseits auf rational nicht zu begründende Zusammenhänge und gründet ihre Beschwörungen andererseits auf ein Wissen, das insofern rationalisiert ist, als es von Regelmäßigkeiten ausgeht. Durch diesen »Doppelcharakter« wird Magie von zwei Seiten her interessant: Die Karriere der Rede von der Magie ist mit dieser ambivalenten Zuschreibung untrennbar verbunden. Auf der einen Seite ist »Magie«, in ihrer Nähe zur »Mystik«, der Name von

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irrationalen Reserven gegen die »Entzauberung der Welt« – in diesen Konnotationen verspricht sie eine Kompensation von Verunsicherungen, die mit dem Modernisierungsprozeß einhergehen. Auf der anderen Seite ist sie, in ihrer Bestimmung als Gegenteil von »Religion«, der Name von Träumen der zweckrationalen Technik – in diesen Konnotationen drückt sie ein Einverständnis mit der Modernisierung aus. (Stockhammer 2000: 15)

Der »spezifische[…] Beitrag der Literatur zur Rekonfiguration der Magie« nun zeigt sich für Stockhammer insbesondere an solchen Texten, die »sprachmagische Verfahrensweisen ins Feld der Literatur [überführen], um sie dabei zugleich zu transformieren« (ebd.: 40). Sie aktivieren im Modus der Dichtung jenes Potential der Sprache, das Roman Jakobson als poetische Funktion der Sprache beschrieben hat – und zwar, wie Stockhammer zeigen kann, in Übernahme von die Magie kennzeichnenden Prinzipien des Sprachgebrauchs: Die Prinzipien der Similarität (Ähnlichkeit) und der Kontiguität (Nachbarschaft), deren Überblendung aufeinander für Jakobson seiner Projektionsthese zufolge die Poetizität ausmacht, finden sich ebenfalls in Frazers Beschreibung der Zaubersprüchen zugrunde liegenden Prinzipien, auf die Jakobson rekurriert.20 Avancierte »Zaubertexte« der Moderne, die an Denkwie Redefiguren der Magie anschließen, wiederholen diese also nicht nur dem Inhalt nach, sondern setzen sie als literarische Verfahren ein und um. Stockhammer sieht nun genau diesen doppelten Anschluss an die Magie bei Meyrinks Golem gegeben und verwahrt den Roman damit zugleich gegen den gele20 »Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt Jakobson, wenn er Frazers Gesetze der Magie in die Gesetze der Sprache überführt und eine Definition der Poesie daraus ableitet. Nach Frazer liegen der Magie ›zwei verschiedene, falsche Anwendungen der Ideenassoziation‹ [engl. Original: ›two different misapplications of the association of ideas‹, S. 12 / dt.: Der goldene Zweig, S. 17; zit. nach Stockhammer 2000: 32, Fn. 125] zugrunde: Die Ähnlichkeit zweier Dinge werde im Sinne ihrer Identität, die momentane Nachbarschaft zweier Dinge werde im Sinne ihrer dauerhaften Zusammengehörigkeit aufgefaßt. Daher unterhalten zaubermächtige Mittel entweder eine Ähnlichkeits- oder eine Nachbarschaftsbeziehung zum Objekt der Zauberhandlung; beim Schadenszauber können beispielsweise ein Bild des Opfers oder einige seiner Haare verbrannt werden (und natürlich lassen sich beide Modelle auch miteinander verbinden). Diesen Relationen entsprechen die der (›metaphorischen‹) Similarität und der (›metonymischen‹) Kontiguität, die nach Roman Jakobson zum Doppelcharakter der Sprache zusammentreten. […] Die poetische Funktion kombiniert also die beiden Achsen des Beziehungsgefüges, welches nach Frazer das magische Weltbild strukturiert, und überführt es in eine Binnenstruktur des Sprachgebäudes.« (Stockhammer 2000: 32f.) Ein »explizite[r] Rekurs auf Frazer« findet sich laut Stockhammer (2000: 33, Fn. 127) in Jakobsons Aufsatz zum »Doppelcharakter der Sprache« in der englischen Variante auf S. 258, in der deutschen auf S. 173.

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gentlich geäußerten Vorwurf,21 er ziele allein auf die Bestätigung der einen mystischen Wahrheit. So setze Meyrink »die ›Kabbala‹ nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Generierungsprinzip […] ein« (ebd.). Mit seiner Lesart rückt Stockhammer insofern auch bei Meyrink eine metapoetische Ebene in den Vordergrund. Zu den mehrfach gedoppelten, mit der Kabbala assoziierbaren, mystischen Initiationserlebnissen des Ich-Erzählers trete nämlich als ein weiterer »Lektüreeffekt« (ebd.: 207) eine an nicht entzifferbaren Schriftstücken demonstrierte Grunderfahrung von Unlesbarkeit: Meyrinks Roman verschränkt zwei gegenläufige Bewegungen ineinander: Im Zeichen des ›I‹ vollzieht sich die mystische Initiation des Ich-Erzählers mithilfe von kabbalistischen Bildern, konstituiert sich der Mensch als Figur seines eigenen Bilderbuchs und dem unabschließbaren Wuchern seiner Bedeutungen: im Zeichen des ›A‹ insistiert die Schrift als Schrift, um den ›Menschen‹ darauf hinzuweisen, daß er vom Alphabeth konstituiert wird. ›Kabbala‹ als Generierungsprinzip von Meyrinks Roman setzt sich aus den entsprechenden gegenläufigen Bewegungen zusammen: Das ›I‹ figuriert die Bilderfluten, die für die hohen ›Assoziationsoder Affektionswerte‹ des Golem verantwortlich sind; das ›A‹ figuriert den Bruch dieser Bilderfluten, mit dem sich die genuin sprachmagischen Elemente des Golem indizieren. (Ebd.: 207f.)

Es ist hier nicht der Ort zu entscheiden, ob Meyrinks Text mit seinen vielfältigen Verweisen auf die Kabbala letztlich eher auf den einen, allem zugrundeliegenden mystischen Sinn abhebt oder eher die Widerstände in den Vordergrund rückt, die einer solchen Stillstellung von Sinn seitens der Schrift schon je entgegengebracht werden. Im Kontext der hier aufgeworfenen Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Positionierung zur Moderne von Prager Texten und ihrem Prag-Bezug, 21 Der Vorwurf, Meyrink zeige sich in Golem lediglich als Okkultist, findet sich bei dem hier bereits zitierten Meister (1987). Stockhammer verweist außerdem auf Friedrich Kittler, gegen dessen Einordnung des Golem-Romans als U-Literatur, die Kittler an dessen Verfilmbarkeit festgemacht hatte, und den damit implizierten Vorwurf, die Orientierung auf den Plot überwiege hier gegenüber der an einer medialen Selbstreflexion, er den Roman verwahrt (vgl. Stockhammer 2000: 205, Anm. 69 mit Verweis auf Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme, S. 69 und dessen Drehbuchentwurf zur Golem-Verfilmung in Grammophon, S. 243ff.). Auch den von Oehm »aus ideologiekritischer Perspektive« vorgebrachten Einwand, »Meyrinks ›barockes‹ Spiel mit den Doppelgänger-Konstellationen im ›Golem‹ setz[e] jeder Ich-Spaltung allemal noch als Sedativ eine höhere mystische Einheit entgegen‹ und inszeniere damit ›das Drama bürgerlicher Identitätssuche als heilsgeschichtlichen Erlösungsprozeß kosmischen Ausmaßes‹« (Stockhammer 2000: 206, Oehm, Meyrink, ›Golem‹, S. 193 zitierend), wehrt Stockhammer mit dem Hinweis ab, dass »solche Beruhigungen immer zugleich beunruhigend« seien (ebd.).

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der in Meyrinks Golem ebenso wie in Nezvals Židovský hřbitov motivisch sehr deutlich zutage tritt, bleibt Folgendes festzuhalten: Beide Texte wären jenem von Stockhammer aufgerufenen Korpus von Zaubertexten der Moderne zuzuordnen, insofern sie magische Praktiken und (Denk-)Figuren nicht nur behandeln und darstellen, sondern für ihre poetische Praxis nutzbar machen22 – und sich insofern durch eine avancierte, moderne Schreibweise auszeichnen. Denn was sowohl bei Meyrink wie bei Nezval dabei zum Ausdruck kommt, ist nicht etwa das jüdische Prag (das ohnehin nicht authentisch abbildbar wäre), sondern das Archiv seiner häufig stereotypen Diskursivierung – wozu eben auch die Kurzschließung von »Jüdischem« mit »Magischem« gehört. Wenn in beiden Texten einzelne Elemente aus diesem Archiv aufgegriffen und auf jeweils sehr individuelle Weise variiert, mit weiteren Elementen kombiniert und weiter entwickelt werden, lässt sich bei beiden Autoren eine Poetik erkennen, die nicht in erster Linie auf Neuheit im Sinne der Ablösung eines Alten und seiner Ersetzung durch etwas vollkommen Neues zielt. Bei beiden wird – gerade auch im Rückgriff auf Bestehendes – eine Erweiterung des Bewusstseins und der Wahrnehmungsfähigkeiten intendiert. Dabei zielt allerdings Meyrink (auch in Stockhammers wohlwollender Lesart mindestens teilweise) auf ein dem mythischen Denken analoges ganzheitliches Weltbild, in das die aufgerufenen kulturhistorischen Topoi verschmolzen sind. In seiner die Zeiten überspannenden Unveränderlichkeit trägt es einen a-historischen Zug und positioniert sich so gewissermaßen jenseits der Moderne. In einem ähnlichen Sinne sieht Jutta MüllerTamm »den Anspielungs- und Zitatcharakter von Meyrinks Pragdarstellung als Bestandteil einer allegorischen Strategie, die Modernität überhaupt erst als Echo des Gewesenen inszeniert« (Müller-Tamm 2004: 565). Im Anspielungs- und Verweischarakter, im ebenso melancholischen wie trivialisierenden Spiel mit einer auch schon historisch gewordenen Modernität enthüllt sich die allegorische Qualität dieser Pragdarstellung. Das Leben der Stadt scheint stillgestellt in der permanenten Oszillation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Zusammenbruch und Aufbau, Verfall und Modernität. Prag erscheint als Ort, in dem eine vergangenheitsbesessene Zeit von

22 Es wäre lohnend, jenem von Stockhammer bei Jakobson aufgezeigten Bewusstsein für eine Affinität zwischen magischem Denken und der poetischen Funktion der Sprache bezogen auf Nezval weiter nachzugehen, das westeuropäische Textkorpus Stockhammers also um dieses Beispiel eines mitteleuropäischen Avantgardisten zu erweitern. Denn Nezval stand nicht nur mit Jakobson während dessen Prager Zeit in engem Austausch, sondern hat Magie und Dichtung mehrfach in zentralen Texten mit ausgeprägt metapoetischen Zügen miteinander in Verbindung gebracht: so schon im Titel des Poems Podivuhodný kouzelník (1924, Der wundersame Zauberer) oder mit Bezug zu Edison als einem modernen Magier in dem gleichnamigen Poem.

40 | I RINA W UTSDORFF der Macht der Erinnerung eingeholt wird, als untote Stadt einer Wiederkunft des Untergangs im Allerneuesten. (Ebd.: 570)

Bei Nezval dagegen fungieren die kulturhistorischen Topoi als Impulse einer neuen und erneuernden kreativen Tätigkeit. Nicht zufällig steht am Ende des Golem ein Bild statischen Glücks, am Ende von Nezvals lyrischer Komposition ein uneindeutiges Bild, das sich auf Vergangenheit und Zukunft bezieht (»budoucí města« – »künftige Städte«, »budou z nich nezcizitelné klenoty« – »Aus ihnen werden die unveräußerlichen Kleinodien werden«). Trotz einer Reihe von Ähnlichkeiten in den Verfahren, die über die Verwendung eines ähnlichen Initialbildes weit hinausgehen, wären die beiden Texte in typologischer Hinsicht, was ihre Positionierung zur Moderne betrifft, demnach unterschiedlich einzuordnen. Gemeinsam bleibt ihnen dabei, dass diese Positionierung mit einem deutlichen lokalen Bezug auf die kulturhistorischen Gegebenheiten Prags erfolgt. Anders liegt der Fall bei meinem zweiten Beispiel, einer Gegenüberstellung von Texten Franz Kafkas und Richard Weiners. Bei beiden Autoren ist »das Jüdische«, das bei Meyrink und Nezval gewissermaßen als anregendes Exotikum ausgestellt wird, nicht direktes Thema, auch wenn sie jüdischer Herkunft sind. Vielmehr zeugen ihre Werke von einer umfassenden Verunsicherung, die nicht nur Fragen der Identität betrifft. Mein Fokus in der folgenden Teilstudie liegt darauf, wie bei beiden die Zumutungen und Ambivalenzen der Moderne verhandelt werden, wobei ein (allerdings nur indirekter) Prag-Bezug der hier ausgewählten Text(ausschnitt)e in der Thematisierung von Mehrsprachigkeit und Mehrdeutigkeit liegt.

3. E PISTEMOLOGISCHE S KEPSIS IM V EREIN MIT S PRACH - UND I DENTITÄTSSKEPSIS : K AFKA UND W EINER Die Wahl Franz Kafkas und Richard Weiners als zwei markanten Vertretern der Prager Moderne beinhaltet einige Implikationen, die sich unter dem Stichwort Expressionismus subsumieren ließen: Den ›Außenseiter‹ Kafka hat Silvio Vietta im Rahmen seines problemgeschichtlichen Ansatzes in großer Nähe zum expressionistischen Paradigma situiert. Dies war ihm möglich, weil er den Expressionismus v.a. durch die Auseinandersetzung mit Kernfragen der Moderne wie Ichdissoziation, Sprachkrise und Erkenntniskritik bestimmte – allesamt Fragen, die auch bei Kafka auf eindrückliche Weise behandelt werden (vgl. Vietta 1997: 21-213). Die Affinität zwischen Kafka und dem Expressionismus sieht Vietta vor allem bei der von ihm so genannten erkenntnistheoretischen Reflexionsprosa Kafkas. Denn die kulturkritische Auseinandersetzung des Expressionismus mit der Moderne fasst er unter dem Phänomen der »Ichdissoziation« zusammen und begründet die-

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sen Begriff damit, dass »er die gemeinsame Wirkung der Vielfalt der in der modernen Wirklichkeit wirksamen dissoziierenden Komponenten auf das Subjekt festhält, mithin die in der Moderne sich wandelnde Kategorie der Subjektivität selbst im Blick hat« (Vietta 1997: 22). Insofern Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit auch das Erkenntnissubjekt selbst in Zweifel ziehen – nämlich das Ich, das sich einst im rationalen Reflektieren seiner selbst vergewisserte –, leiste Kafkas erkenntniskritische Prosa der als Grundsignum der Zeit beschriebenen Ichdissoziation ebenfalls Vorschub (vgl. ebd.: 159). Bei Kafka seien diese Zusammenhänge ganz besonders eindringlich zur Darstellung gebracht. In den Erzählungen Kafkas schlägt die entfremdete Situation – weil diese Reflexion verstellt ist – so auf das Subjekt zurück, dass es pathologische Auflösungserscheinungen zeigt, bis hin zum physischen Tod. Diesen vollziehen die ›Helden‹ Kafkas vielfach an sich selbst. Ichdissoziation als subjektiver Reflex eines total gestörten Wirklichkeitsverhältnisses ist bei keinem Autor so im buchstäblichen Sinne vernichtend beschrieben worden wie bei Kafka. (Ebd.: 79)

Die zweite mit dem Stichwort Expressionismus verbundene Implikation eines Vergleichs von Weiner und Kafka ist Chalupeckýs Kennzeichnung der Solitäre der tschechischen Literatur Richard Weiner, Jakub Deml, Ladislav Klíma, aber auch Jaroslav Hašeks als Expressionisten (Chalupecký 1992), womit er sie für eine spezifisch mitteleuropäische Moderne reklamierte und programmatisch der deutschsprachigen Prager Literatur annäherte. Chalupecký hatte dabei auf durchaus ähnliche (wenn auch etwas verkürzte) Weise wie später Vietta argumentiert: Všichni tři (Deml, Klíma, Weiner) zůstávali osamocenými individualitami, a kritik, který by dovedl jejich spřízněnost rozpoznat a upozornit na ni, v této generaci chyběl. A chyběl i v generaci příští. Ta spřízněnost není nikterak povrchní. Predevším všichni zakoušejí stejný rozpad osobnosti a tedy i světa. […] Weiner rozvíjí tento motiv od tématu dvojnictví k tématu ›čtvercení‹ osobnosti. (Chalupecký 1992: 195) Alle drei (Deml, Klíma, Weiner) blieben vereinzelte Individuen, und ein Kritiker, der es vermocht hätte, ihre Verwandtschaft zu erkennen und auf sie aufmerksam zu machen, fehlte in dieser Generation. Und er fehlte auch in der folgenden Generation. Diese Verwandtschaft ist keineswegs oberflächlich. Vor allem durchleiden alle denselben Zerfall der Persönlichkeit und damit auch der Welt. [...] Weiner entwickelt dieses Motiv vom Thema des Doppelgängertums zum Thema der ›Vierteilung‹ der Persönlichkeit.

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Über die Angemessenheit des Etiketts Expressionismus für beide Autoren – v.a. in stilhistorischer Hinsicht23 – ließe sich sicherlich weiterhin streiten.24 Wichtig war mir hier aber der problemgeschichtliche Zusammenhang, jener bereits von Chalupecký konstatierte Zusammenhang von Identitäts-, Erkenntnis- und Sprachkrise, der in Weiners wie Kafkas Werk einen Ausdruck findet. Wie diese Problemfelder der Moderne bei beiden Autoren zusammengebunden werden, möchte ich anhand zweier kürzerer Werke sondieren, in denen die mehrsprachige, mehrkulturelle Situation Prags einen Niederschlag findet: Kafkas Miniaturprosa »Die Sorge des Hausvaters« und Weiners »Ela. (Odposloucháno)« (»Ela. Abgelauscht«). »Die Sorge des Hausvaters« gilt dem berühmten »Odradek«, jenem Gebilde, von dem nicht klar ist, ob es ein Lebewesen oder ein zum Leben erwachtes Artefakt ist, dessen ursprünglicher Zweck so unklar ist wie auch die Herkunft seines Namens: Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflusst. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. […] Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist. (Kafka 2008: 197f.)

Auf für Kafka typische Weise beginnt das Prosastück mit einer Kontradiktion, die hier allerdings als zwei einander widerstreitende Meinungen über die Etymologie des Namens Odradek präsentiert wird. Als sicher erweist sich – allerdings auch mit 23 Allerdings konstatiert Thomas Anz in seiner Einführung Literatur des Expressionismus (2002) den problematischen Charakter des Expressionismus als Epochenbezeichnung, weil damit eine Reihe zeitgleicher, aber äußerst differenter Phänomene ausgeklammert bleibe. Auch als Bezeichnung für eine Stilformation habe er sich als unbrauchbar erwiesen, die Festlegung auf einheitliche Stilformen sei weitgehend gescheitert (vgl. ebd.: 9). 24 Die Diskussionen darüber, inwieweit in der tschechischen Literatur überhaupt von Expressionismus gesprochen werden kann, dokumentiert der von Michal Baur (2006) herausgegebene Sammelband. Literaturhistorisch behandelt die Frage der Aufnahme des Expressionismus in der tschechischen Literatur Eva Jelínková (2010).

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der Einschränkung »wohl mit Recht« – allein die Unsicherheit beider Deutungen, die durch die Sinnlosigkeit des Wortes, dem sich eben keine ursprüngliche Bedeutung zumessen lässt, noch verstärkt wird. Diese Sinnlosigkeit wird im dritten Absatz dann auf »das Ganze« des merkwürdigen Gebildes ausgedehnt. Die zunächst lediglich etymologische Unsicherheit weitet sich zu einer epistemologischen, die sich bereits im ersten Absatz mit der Unmöglichkeit, eine zutreffende Herleitung und damit eine Erklärung des Namens Odradek zu finden, andeutet. Das Gebilde Odradek, das sich allen üblichen Erklärungsmodellen entzieht, wird zum Sinnbild eines Nicht-Menschlichen, mit dem der Mensch doch beständig konfrontiert ist, ohne es begreifen, sinnvoll benennen und einordnen zu können. Nach dem (oben in Gänze zitierten) dritten Absatz wird Odradek nicht mehr als dingliches Neutrum »es«, sondern als personales Maskulinum »er« bezeichnet. Analog dazu wechselt das Subjekt der Rede vom »man« zum »ich«, dem die Vorstellung vom andauernden Fortleben Odradeks zur Sorge existentiellen Charakters wird: Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, dass er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche. (Ebd.: 198)

Selbst diese bedrohliche Sorge aber bleibt vage: Es handelt sich lediglich um die »fast schmerzliche« Vorstellung, dass Odradek nach dem eigenen Tod weiterleben »sollte«. Nicht fraglich und scheinhaft – wie Odradeks Gestalt und das hölzerne Material, »das er zu sein scheint« (wie es am Ende des vierten Absatzes heißt) – ist offenbar allein die Vergeblichkeit allen Fragens nach Bedeutung, Sinn und Zweck, mit der dieser letzte Absatz anhebt (»Vergeblich«). Ausgehend von einer etymologischen Unsicherheit, die deutlich an den deutsch- und tschechischsprachigen Prager Kontext rückgebunden ist, weitet diese Prosaminiatur sich so zu einer epistemologischen und existentiellen Unsicherheit, die weit über den Prager Kontext hinaus als ein Signum der Moderne gelten kann. So hat Andreas Kilcher (2010) in seiner an transtextuellen Kontexten orientierten Lektüre gezeigt, wie Kafka in der hybriden, nicht fassbaren, wandelbaren Gestalt des Odradek drei zeitgenössische Leitdiskurse der Moderne verhandelt, nämlich »den anthropologischen Diskurs der Psychoanalyse, den ökonomischen des Marxismus und den kulturpolitischen Diskurs des Zionismus« (Kilcher 2010: 101) und wie er die zentralen Denkfiguren dieser Diskurse, die jeweils auch mit Angst besetzt sind, nämlich das Unbewusste, Ware bzw. Geld und Diaspora, in eben jener den Hausvater beunruhigenden Figur miteinander verschränkt, indem er prägnante

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Bilderwelten dieser Diskurse aufruft. Hinzuzufügen wäre der um die Jahrhundertwende so dominante Diskurs der Sprachkritik, der im nicht nur Prager Kontext insbesondere mit dem Namen Fritz Mauthners verbunden ist.25 Bezogen auf diesen Kontext hat Renate Werner gar die Möglichkeit vorgeführt, Kafkas »Sorge des Hausvaters« als »einen sprachkritischen Scherz im Denkhorizont Mauthners« (Werner 2002: 189) zu lesen. Sie verweist dazu auf Mauthners Ausführungen zur vergessenen Etymologie des Wortes ›Zweck‹ (die sich auch mit dem Grimmʼschen Wörterbuch stützen lassen): Bevor es die abstrakte Bedeutung im Sinne von τέλοζ erhielt, bezeichnete es zunächst und ganz konkret einen Holzpflock, der z.B. in der Mitte einer Zielscheibe angebracht deren Befestigung diente. Odradek hätte dann also nicht nur, wie es dem Hausvater scheint, »früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt«, sondern wäre gerade in seiner aller Zweck- und Zielgerichtetheit so widersprechenden Gestalt genau das: ein Zweck. Was Kilcher für die Diskurse der Psychoanalyse, der Ökonomie und des Zionismus konstatiert, dass nämlich Odradek eine ganz eigene, polyvalente Verhandlung dieser Wissensbereiche samt ihrer Angstfiguren darstellt, ließe sich also um den Bereich der Sprachkritik erweitern. Auch die Arbitrarität der Zeichen, die fraglich gewordene Zielgerichtetheit sprachlicher Verständigung fließt in Odradeks beunruhigende Gestalt ein. Ein weiterer Punkt, der mir für Kafkas Poetik wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass Odradek dabei nicht nur ein Gebilde ist, das sich in seiner Wechselhaftigkeit den Beschreibungsversuchen des Hausvaters entzieht (»da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist«), sondern auch scheinhaft ist (mehrfach werden die Aussagen über ihn mit einem ›es scheint‹ eingeschränkt). Damit ist er eine Rätsel-Figur, die dem Hausvater ebenso Anlass zur Sorge bietet wie sie seiner sorgenvollen Phantasie entspringt. Odradek trägt Züge menschlichen Gestaltungswillens, und zwar sowohl – in seiner konkreten Gestalt, die einem Zweck ähnelt – eines ganz praktischen, als auch – in seiner fiktiven Ausgestaltung – eines po(i)etischen. Die Sorge, die er verursacht, mag ihren Ursprung auch in dieser Zwitterhaftigkeit haben. Odradek ist im doppelten Sinne ein Artefakt, das sich 25 Im Lichte dieses Kontextes hat Peter André Alt (1985) Kafkas Poetik als eine von »doppelter Schrift, Unterbrechung und Grenze« geprägte beschrieben. Gegenüber dem erkenntnistheoretischen Impuls, der für Mauthners Kritik vor allem der philosophischen, begrifflichen Sprache leitend war, hebt Alt bei Kafka die Präferenz der trotz allem errungenen poetischen Schreibweise hervor: »Für Kafka ist die Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des philosophischen Diskurses weniger durch erkenntnistheoretische Prämissen bedingt als durch den Glauben daran, daß allein die poetische Schreibweise kraft Aufspaltung ihrer Schriftebenen die Dinge zeigen kann, wie sie sind (nämlich in der Schwebe, verdoppelt, uneindeutig), während der Begriff alle Erscheinungen auf ihr Allgemein-Sein verpflichtet, ohne deren eigentümlicher Unbestimmtheit Rechnung zu tragen.« (Alt 1985: 488)

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verselbständigt hat und sich damit allen rational bestimmten und bestimmbaren Zwecken entzogen hat. In Richard Weiners Erzählung »Ela« ist der Name der titelgebenden Hauptfigur, wie Petr Málek und Petr Hrůza konstatiert haben (Hrůza 1997: 3ff.), mehrfach lesbar: Als Allusion an das hebräische Wort ›El‹ ruft er den ältesten Namen Gottes auf, als Anspielung auf das französische ›Elle‹ hieße er schlicht ›sie‹. Ela, von der es in der Erzählung heißt, sie sei »eher wie eine Deutsche« (»spíš jako Němka«, Weiner 1998: 167) und die immer wieder deutsche Sätze in ihre Rede einflicht, würde dann mit ihrem Namen zusätzlich zu diesen beiden in der Erzählung aufgerufenen Sprachen noch auf das Hebräische – und damit den jüdischen Kontext – und auf das Französische – und damit den Ort der Handlung Paris – verweisen. Anders als bei Kafkas Odradek wird ihr Name und dessen Herkunft in der Erzählung aber nicht reflektiert. Signifikant im Hinblick auf eine sprach-, erkenntnis- und auch identitätskritische Dimension der Erzählung ist jedoch ihr wiederkehrender deutschsprachiger Ausspruch: »Pass’ nicht auf, das will nichts heissen.« »Pass’ nicht auf, das will nichts heissen«, řekla dopátravši se mého pohledu. Jinak jsme mluvili česky. Tato věta však nenapadla mě jen proto, že byla německá. Jenomže jsem tehdy ještě netušil, jak často ji bude pronášet a že se stane jakoby heslem, které sice nic neznamená, ale je přesto jakoby brodem, kudy se dáváme přes ony řeky zlých a osudových slov, která se nesmějí vyslovit pod trestem… pod trestem… ach! (Weiner 1998: 163) »Pass’ nicht auf, das will nichts heissen*«, sagte sie, nachdem sie meinen Blick erforscht hatte. Ansonsten sprachen wir tschechisch. Dieser Satz fällt mir nicht nur deshalb ein, weil er deutsch war. Ich ahnte damals noch nicht, wie oft sie ihn vorbringen und daß er zu einer Art Devise werden sollte, die zwar nichts bedeutete, aber immerhin eine Furt darstellte, auf welcher wir über den Fluß der bösen und schicksalhaften Worte gelangten, die bei Strafe nicht ausgesprochen werden dürfen … bei Strafe … ach! (Weiner 1968: 101f.) [* Sämtliche so bezeichneten Sätze und Wörter stehen auch im Original deutsch.]

Petr Málek hat darauf hingewiesen, dass die wörtliche Übersetzung dieses deutschen Satzes lautet ›To se chce jmenovat/nazývat nic.‹, und dass sich darin insofern eine potentielle Allusion auf den bekannten Vers aus dem zweiten Gesang von Máchas Máj verberge: »toť, co se ›nic‹ nazývá« und damit an den melancholischen Gestus des Mácha’schen Poems (vgl. Málek 2008: 366ff.). Außer der Erklärung, mit der das Erzähler-Ich Elas merkwürdigen Ausspruch abzutun versucht und mit der er ihn zugleich übersetzt als »[To …] nic neznamená.« (im Sinne von »Das hat keinerlei Bedeutung.«), gäbe es also noch die mögliche Übersetzung »Das bedeutet ›nichts‹.« Auch der scheinbar klarere zweite Halbsatz ist demnach alles andere als eindeutig. Noch viel weniger lässt sich das von dem ersten Halbsatz sagen, der

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einen Widerspruch in sich darstellt, denn man kann nicht absichtlich nicht aufpassen, wie Elas Imperativ es fordert. Ähnlich wie bei Kafka ist hier über eine zunächst nur als Sprachspiel scheinende Formulierung eine Meta-Ebene aufgerufen, auf der sprach- und erkenntnisphilosophische Fragen aufgeworfen werden. Laut Málek sei es denn auch »signifikant, dass Weiner an den [Mácha’schen] Vers anspielt, der die Sprachproblematik, den Bezeichnungs- und Benennungsprozess thematisiert. Ebenso wie Weiner hat ein Jahrhundert zuvor Mácha seine Sprache an die Grenze ihrer funktionellen Mitteilungsfähigkeit geführt. Der zweite Gesang des Máj ist nicht nur philosophisch, sondern auch aus sprachlicher Perspektive, im Hinblick auf die Thematisierung des Wortes, der Sprache bzw. des Schweigens und der Stille am exponiertesten.« (»[Je] příznačné, že Weiner naráží na [Máchův] verš, který tematizuje problematiku jazykovou, proces značení, (po)jmenová(vá)ní. Stejně jako Weiner, tak století před ním Mácha přivedl svůj jazyk na hranici jeho funkční sdělnosti. Druhý zpěv Máje je nejexponovanější nejen filozoficky, ale i z perspektivy jazykové, tematizací slova, řeči či mlčení a ticha.«, Málek 2008: 368) Zusätzlich zu diesen Problemfeldern wird in »Ela« die Identität und die Abgeschlossenheit der Persönlichkeit, die Integrität der Protagonistin thematisiert. Ela changiert nicht nur in der Sprachwahl, sondern auch in der Stilebene ihrer Ausdrucksweise: Beim ersten Wiedersehen zwischen ihr und der Ich-Erzählerfigur Tonda in Paris »kommt es« zweimal »über sie«, wie sie selbst es nennt (»jak mi to vlastně přišlo«, Weiner 1998: 166), dass sie hässliche Dinge zu ihm sagt, die er zunächst zu überhören versucht bzw. deren Realität ihm zweifelhaft ist. Zaslechl jsem je jasně, to slovo [hovno]. Ale bylo řečeno tak nějak, že ušláplo už v zárodku sebemenší úžas, překvapení či pohoršení. Řekl-li bych, že jsem ho nedbal schválně, lhal bych. Bylo prostě tak, že slova onoho jako by nebylo. Nikoliv! Ne jakoby. Slova toho nebylo vskutku. (Weiner 1998: 165) Ich hatte es deutlich vernommen, das Wort [Scheiße]. Doch es war so gefallen, daß es Verwunderung, Überraschung, Verärgerung sofort im Keim erstickte. Wollte ich sagen, ich hätte es geflissentlich unbeachtet gelassen, so würde ich lügen. Es war einfach so, als hätte es jenes Wort nicht gegeben. Nein! Nicht, als hätte, es hatte das Wort tatsächlich nicht gegeben. (Weiner 1968: 104)

Aber nicht nur in dieser Hinsicht bleibt Ela unfassbar, sondern auch bezogen auf die Kategorien Raum und Zeit. Der Erzähler beobachtet eine Szene mit ihr am Place de la Nation, bei der ihr Liebhaber ihren Hund erwürgt. Ela bestreitet, dass diese Szene stattgefunden hat, da sie zu der Zeit mit ihrer Freundin in Mantes gewesen sei, und kann dies umso überzeugender tun, als ihr Hund ganz offensichtlich noch am Leben ist. Der Status von Ela als realer Person, der der Erzähler begegnet, oder als Ausgeburt seiner Phantasie bzw. Erinnerung ist insofern unklar. Schließlich beginnt die

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Erzählung: »Nevím už jistě, snil-li jsem ještě či zase už bděl.« (Weiner 1998: 161 – »Ich weiß nicht mehr genau, ob ich noch träumte oder schon wieder wach war.«, Weiner 1968: 99) Immer wieder finden sich in dem Text metapoetische Einschübe, die den Akt der Hervorbringung, des Formulierens selbst thematisieren. So tritt der Ich-Erzähler in »Ela« im Anschluss an Elas Ausfälligkeiten als der Schreibende, der Verfasser der Erzählung in Erscheinung und räsoniert über die Wahrscheinlichkeit des eben Erzählten: »(Navzdory újmě, která tím vzniká plynulosti, navzdory všem zvyklostem odhodlávám se zde k přeruše a prosím čtenáře, úpěnlivě ho prosím, aby měl chvíli ještě strpení.)« (Weiner 1998: 165f. – »[Obwohl der Erzählfluß darunter leidet, obwohl es allem Herkömmlichen widerspricht, entschließe ich mich hier zu einer Unterbrechung und bitte den Leser, bitte ihn flehentlich, noch ein wenig Geduld zu haben.]«, Weiner 1968: 105) Nicht nur über das Erzählte, sondern auch über die Erzählweise wird reflektiert. In die langen Passagen der direkten Wechselrede mit Ela sind kürzere beschreibende Passagen eingeschoben, deren Trefflichkeit zugleich mit einem vorsichtigen Abtasten der Formulierungen in Frage gestellt wird. Als Ela anhebt zu erzählen, »wie es eigentlich über [sie] kam«, heißt es zunächst: Nalil jsem do dvou sklínek. »Je to silné?« prohodila, ale na odpověď nečekavši. Nýbrž »spustila«. Není jiného slova. Mluvila tak bíle jako horské vodopády. A se stejnou žalobnou dravostí. A se stejnou přisouzenou bezradností. (Weiner 1998: 166) Ich schenkte zwei Gläser voll. »Ist das stark?« warf sie hin, wartete jedoch die Antwort nicht ab, sondern »sprudelte« los. Anders kann man es nicht nennen. Sie sprach weiß wie Wasserfälle im Gebirge. Und mit dem gleichen anklagenden Ungestüm. Und mit der gleichen vorbestimmten Ratlosigkeit. (Weiner 1968: 106)

Die hier mit ›lossprudeln‹ übersetzte Metapher ›spustit‹ ist mit distanzierenden Anführungszeichen wie in Parenthese gesetzt, um im Folgesatz bekräftigt zu werden, worauf dann ein direkter und recht ungewöhnlicher Vergleich folgt, der in den beiden folgenden unvollständigen Sätzen weiter ausgeführt wird. In dem sonst an Bildern armen Text tritt dieser Vergleich dadurch umso deutlicher in seiner Gemachtheit hervor. Die Erzählung ›handelt‹ so gleichermaßen von Ela wie vom Imaginationsprozess und vom Schreiben. Ähnlich wie bei Kafkas sich verselbständigendem Artefakt Odradek ist das Prosastück auch eine Aussage über das Schreiben und über den Status des Geschriebenen.

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So sind beide Prosastücke zu Recht auch auf ihre metapoetischen Implikationen hin gelesen worden. Die offensichtlich verhandelten Problemfelder einer zweifelhaft gewordenen Identität und Erkenntnisfähigkeit des Menschen – allesamt Problemfelder, die nicht nur für die Prager Moderne signifikant sind – werden in den beiden Werken von einer mehrsprachigen Situation aus entfaltet, die die angesprochenen Unsicherheiten noch verstärkt und die nun allerdings der spezifischen Prager Situation zugeschrieben werden kann, mit der beide Schriftsteller verbunden sind. Manches von dem, was in der umfänglichen Kafka-Sekundärliteratur zu Kafkas Verhältnis zur Sprache herausgearbeitet worden ist, lässt sich auch von Weiner sagen: Wie vielfach konstatiert wurde, ist Kafkas Sprache arm an Bildern und Metaphern und bezieht ihre Wirkmächtigkeit gerade aus dieser Kargheit. Bei Weiner wie Kafka erscheint die Sprache, die immer auch mit der anderen Sprache konfrontiert ist, auf ihr Wesentliches reduziert, bar üppiger Vergleiche oder Metaphern, wie sie im Gegensatz zu Kafkas spröder Sprache bei anderen Vertretern der Prager deutschen Literatur wie Meyrink und Leppin zu finden sind. Insofern lässt sich hier tatsächlich eine poetologische Ähnlichkeit über die Sprachgrenze hinweg konstatieren. Die Sprache selbst bleibt intakt, die Bruchstellen treten auf der Ebene des Ausgesagten, nicht des Aussagemodus auf. In korrekter Syntax werden in sich widersprüchliche Aussagen getroffen, mit denen die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen mit genuin literarischen Mitteln aufgezeigt werden. Bei Kafka treten, wie in den Eingangsüberlegungen zur Etymologie des Namens Odradek, logische Widersprüche innerhalb oder zwischen syntaktisch korrekten Sätzen auf. Weiner arbeitet zwar mehr mit Vergleichen und Bildern, klammert diese aber häufig mit Reflexionen ein oder relativiert sie mit einem ›jakoby‹ (›etwa wie‹) anstelle von ›jako‹ (›wie‹). Ähnlich wie Kafkas Hausvater-Figur, die Odradek nicht zu beschreiben vermag, sondern nur angeben kann, wie er ihm zu sein ›scheint‹, nähert auch Weiners IchErzähler sich Ela nur mit dem Vorbehalt des ›als ob‹ (›jakoby‹). Mit diesen sehr reduzierten Mitteln geben beide Autoren der Vielschichtigkeit wie Widersprüchlichkeit menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und Imaginierens Ausdruck. Es mag kein Zufall sein, dass der Vergleich von Kafka und Weiner – den beiden Außenseitern ihrer jeweiligen Literatur – eher Gemeinsamkeiten zutage fördert, zumal, wenn beide unter Aspekten wie Erkenntnis- und Sprachkritik betrachtet werden, mit denen sie sich in einen übergreifenden kritischen Zug der europäischen Moderne einreihen. Sowohl auf der Ebene noetischer wie auch poetischer Grundeinstellungen findet sich hier eine Reihe von Ähnlichkeiten. Die Lektüre Meyrinks und Nezvals unter diesen Aspekten hat hingegen trotz einiger motivischer Gemeinsamkeiten eher die gängige Annahme unterschiedlicher Stoßrichtungen der Prager deutschen und der tschechischen Literatur bestätigt. Es ging in diesen beiden Parallellektüren aber auch gar nicht darum, eine umfassende oder gar abschließende Aussage zu Nähe oder Ferne von mit Prag verbundenen deutsch- und tschechischsprachigen literarischen Werken zu treffen. Dies

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wird – selbst wenn man noch wesentlich mehr Texte als die beiden Textpaare, die hier schlaglichtartig auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin beleuchtet wurden, hinzunähme – kaum zu leisten sein. Was anhand der beiden Vergleichspaare erprobt und verdeutlicht werden sollte, ist die Tragfähigkeit eines Vergleichs, der das tertium comparationis in der Bezugnahme auf die conditio humana unter den Bedingungen der Moderne sucht, und spezifischer unter jenen Bedingungen der Moderne, die in einer plurikulturellen, mehrsprachigen Stadt wie Prag besonders markant hervortreten. Hier, in dieser – noch einmal mit Vietta gesprochen – problemgeschichtlichen Konstellation und ihrer ästhetischen Bearbeitung ließe sich wohl, wenn überhaupt, das Spezifikum einer Prager Moderne finden, die deshalb keineswegs eine Prager Moderne im Sinne einer einheitlichen Stilrichtung, Poetik oder Gruppierung sein muss.

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Labile Moderne Verunsicherungen des Urbanen in deutschsprachigen und tschechischen Prag-Texten G EORG E SCHER Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander. (Musil 1978: 10)

Beschäftigen wir uns mit den Figurationen der Moderne im deutschsprachigen und tschechischen Prag, so bewegen wir uns in einem Kontext, der für die ModerneForschung seit jeher zentral ist: Es gilt, sich mit dem engen Nexus zwischen gesellschaftlicher Modernisierung, ästhetischer Moderne und den modernen Formen von Urbanität, d. h. der europäischen Großstadt an der Wende zum 20. Jahrhundert, zu befassen. Traditionellerweise wird die Metropole als Zentrum der Moderne gesehen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Die Metropole ist der sozialgeschichtliche Ort, an welchem sich die literarische Moderne entfaltet; zugleich ist sie ein zentraler Topos in der Imaginationswelt der literarischen Moderne.1 Einerseits bietet die Großstadt den literatursoziologischen Rahmen, in welchem sich die Ästhetik der Modernebewegung herausbilden kann, andererseits ist diese Ästhetik als aisthesis, als Wahrnehmungsform, durch die großstädtische Lebenswelt bedingt: Die Metropole lässt sich als Ver-Dichtung der Moderne sehen.

1

Vgl. u.a. Klotz 1969; Scherpe 1988; spezifisch für die Avantgarde Hunkeler/Kunz 2011.

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Verfolgen wir diese Linie weiter, so bietet sich in Bezug auf Prag die naheliegende Möglichkeit an, die moderne Metropole als eine Art tertium comparationis herbeizuziehen: Den tschechisch wie deutsch schreibenden Autoren gemeinsam ist, zumindest in einem elementar biographischen Sinn, die Erfahrung der Stadt Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und dass Prag als Ort lebensweltlicher Erfahrung, literarischer Sozialisierung wie auch als literarischer Topos eine zentrale Rolle in den literarischen Traditionen beider Sprachen spielt, liegt auf der Hand. So gibt es denn auch in der Literaturkritik, Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft eine lange Tradition, die gerade eine fundamentale Unterschiedlichkeit der Stadterfahrung entlang der Sprachgrenze postuliert. Sie findet in den topischen Bildern des ›neuen tschechischen‹ und des ›alten deutschen Prag‹ ihre Zuspitzung: Während tschechische Autoren in der Lage seien, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt in einen fruchtbaren literarischen Dialog zu bringen, seien die deutschsprachigen Autoren auf die historische Kulisse der Innenstadt fixiert geblieben.2 Diese Sichtweise unterstellt zwar just die literarischen Repräsentationen der Stadt als Vergleichsbasis für die tschechische und deutschsprachige Moderne; die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind jedoch aus heutiger Perspektive verfehlt, da unbesehen literaturkritische Positionen übernommen werden, die sich in den 1910er-Jahren im Rahmen einer tschechisch-deutschen Auseinandersetzung um ›Prager (deutsche) Literatur‹ bzw. den ›Prager Roman‹ herausgebildet hatten und entsprechend mit zeitgenössischen (identitäts-)politischen Interessen aufgeladen sind (vgl. dazu Krolop 2010, Escher 2010). Hier ist der Weg zu einem verkürzenden, sich sozialgeschichtlich gebenden Biographismus nicht mehr weit, wo schlicht die Zugehörigkeit der Autoren zu einem bestimmten Milieu für die jeweiligen literarischen Prag-Bilder verantwortlich gemacht wird (Goldstücker 1967).3 Damit sei auf ein weiteres Problem verwiesen, das sich ergibt, wenn man von der modernen Metropole als Grundlage und Vergleichsbasis für die Modernebewegungen ausgeht, nämlich auf die Frage nach dem sozialgeschichtlichen Kontext, den man sich bei einer solchen Herangehensweise gezwungenermaßen als Ausgangspunkt einhandelt. Mit anderen Worten: Es geht im Allgemeinen um den Repräsentationscharakter literarischer Schilderungen des städtischen Raums und im Speziellen um den Status Prags als moderner Großstadt um 1900. Nun gibt es natürlich eine Reihe soziologischer und urbanismusgeschichtlicher Kriterien, die herangezogen werden können, doch Einwohnerzahl, Bevölkerungswachstum, Elektrifizierung und Beleuchtung oder das Aufkommen von Kinosälen und Straßenbahnen bleiben relative Größen und erweisen sich insbesondere in Bezug auf die Literatur 2

So argumentieren beispielsweise Sudhoff/Schardt (1992: 29).

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Fiala-Fürst (1996: 87, 93) argumentiert für die Ära nach 1910 gar mit dem Wohnort der Prager deutschsprachigen Autoren.

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letztlich als zufällige Kategorien, die nicht nur nichts Zwingendes über die Situation der Moderne und dem Ort der Literatur in ihr aussagen, sondern auch den literarischen Texten einen Referenzcharakter unterstellen, der ihnen so a priori nicht gegeben ist, sondern vielmehr das Resultat einer möglichen Lektüre unter vielen darstellt. Vielversprechender scheint es mir, die Frage nach dem Großstadtcharakter Prags und der Referenzialität literarischer Texte umzudrehen und nach jenen Spuren in literarischen Texten zu suchen, die von der Forschung bereits vielfach als charakteristisch für die Modernität einer Metropole beschrieben wurden. In stichwortartiger Verknappung seien hier genannt: eine im städtischen Raum erfahrbar werdende Krise der Wahrnehmung (das Benjaminsche »Chockerlebnis«, vgl. Neumeyer 1999: 138) und damit verbunden auch eine Krise des Individuums und der Integrität des Ich (vgl. Becker 1993), bedingt durch das von Georg Simmel (1995 [1903]) beschriebene Paradox einer doppelten individuellen Freiheit in der Stadt, die das Individuum dazu ermächtigt, gleich zu sein wie alle anderen, und dazu zwingt, sich von allen anderen zu unterscheiden, was, so Simmel (1995: 118) zu einer distanzierenden Schutzhaltung der »Blasiertheit« führe. Das vielleicht gewichtigste Moment des Stadtraums der Moderne hat indes Karlheinz Stierle (1993) am Beispiel von Paris herausgearbeitet: eine paradoxe Bewegung der universalen Semiotisierung des städtischen Raums und einer gleichzeitigen Krise der Lesbarkeit desselben, die einhergeht mit einer bereits von Simmel beschriebenen typisch großstädtischen Fremdheit als sozial-räumliche wie auch als semiotische Kategorie: als Zusammenleben fremder Menschen auf engem Raum, zugleich auch als grundlegende Alterität in der »zeichenhaften Unendlichkeit« (Stierle 1993: 43) eines semiotischen Verweisungsprozesses. Wenn wir die deutsch- und tschechischsprachigen Texte Prags daraufhin befragen, ob und wie sich diese Diskurselemente der modernen Metropole in ihnen manifestieren, können wir erkennen, ob und wie sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten entlang der sprachlichen Trennlinie formieren. Am markantesten und naheliegendsten überschneiden sich die äußere Modernisierung und der literarische Diskurs Prags bekanntlich im 1893 begonnenen und bis in die 1910er-Jahre andauernden Assanierungsprojekt, der radikalen städtebaulichen Umgestaltung des ehemaligen jüdischen Viertels und großer Teile der angrenzenden Altstadt. Ich gehe auf diesen Komplex hier nicht im Detail ein,4 sondern greife nur einen Aspekt heraus: Die gegen die Assanierung gerichtete, vom prominenten Autor Vilém Mrštík angeführte und in der Literatur reflektierte Protestbewegung prägt den Begriff von stará Praha (Alt-Prag) mit, ist aber zugleich selbst ein zutiefst modernes Phänomen, hat doch der Architekturhistoriker Gerhard Vinken (2010) nachgewiesen, dass das Konzept Altstadt erst im Zuge der großen Stadt4

Detailliert dazu Giustino (2003), Bečková (1993).

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umbauprojekte entsteht und der Moderne in ganz Europa5 inhärent ist. Vielleicht kann man sogar sagen, die Denkmal- und Heimatschutzbewegung sei ein früher Vertreter einer Gegenmoderne im Sinne Ulrich Becks (1993: 102). Charakteristisch scheint mir in diesem Zusammenhang das, was während und nach der asanace mit dem zunehmend literarisierten und nur noch in der Fiktion existierenden Raum der abgerissenen Alt- und Josefstadt passiert: Gerade hier manifestiert sich die Krise eines stabilen Sinnzusammenhangs und der Interpretierbarkeit des städtischen Raums; gerade hier lokalisieren sich die prototypischen literarischen Elemente moderner Großstadtwahrnehmung: das ziellose Umherirren, die grundlegende Kontingenz jeder Raumstruktur (vgl. Isernhagen (1983), die Bedrohung des zumeist männlich imaginierten Subjekts durch eine zumeist weiblich konnotierte und in Naturmetaphern gefasste Auflösung des Raums und der Identität. Genannt seien etwa Meyrinks Golem (1915), Leppins kurze Erzählung Das Gespenst der Judenstadt (1914), aber auch frühere Texte wie Auguste Hauschners Familie Lowositz (1908) oder Karl Hans Strobls Vaclavbude (1902), in bedeutend geringerem Ausmaß kommen diese Motive auch in tschechischen Texte wie z.B. Karel Matěj Čapek-Chods Turbína (1916, Die Turbine) vor. Diese Verflechtung des alten mit dem neuen Raum und der damit verbundene paradoxe Charakter großstädtischer Erfahrung ‒ sie findet gerade dort statt, wo der vormoderne Raum aus dem modernen gewissermaßen herausfällt ‒ erweckt den Eindruck, als sei eine moderne Stadt nur als Vexierbild einer vormodernen Raumstruktur zu imaginieren, wobei sich die Vorzeichen jederzeit verkehren können: Gerade der vormoderne Raum provoziert jene Erfahrung einer Orientierungs- und Identitätskrise, die als prototypisch für die Moderne gesehen werden kann. Diese gegenläufige Raumstruktur ist meines Erachtens charakteristisch für die zeitgenössische Situation in Prag. Diese These kann nun nicht nur für die Zeit um und nach 1910, sondern auch für Texte aus der Jahrhundertwende gelten, wobei weitere Bereiche der literarisch imaginierten Stadt ins Blickfeld rücken und sich Parallelen zwischen der tschechischen und deutschsprachigen Literatur eröffnen. Zugleich ist zu fragen, was diese Zwischensituation für die Entwicklung der literarischen Moderne auf Deutsch und auf Tschechisch bedeutet. Dazu gehe ich vorerst auf zwei Texte aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein – Rainer Maria Rilkes König Bohusch (1899) und die Erzählung Stojaté vody (1895, etwa: Stehendes Gewässer) von Jiří Karásek ze Lvovic6 –, um sie anschließend Max Brods rund zehn Jahre später entstandenem Roman Ein tschechisches Dienstmädchen (1909) gegenüberzustellen. In allen drei Texten geht es mehr oder minder explizit um eine Wahrnehmungskrise der Stadt, jedoch dies5

Zum gesamteuropäischen Charakter des Phänomens vgl. Fehl/Rodríguez-Lorez (Hg.)

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Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Lucie Merhautová.

(1993).

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mal der Stadt als Ganzes, wobei dieses Ganze durch panoramatische Blicke vergegenwärtigt wird. Zugleich finden wir in diesen Texten, in jeweils unterschiedlichem Ausmaß, eine Reflexion des Künstlers und der Kunst (der Literatur) angesichts der prekär gewordenen Lesbarkeit der modernen Stadt. In Karáseks Stojaté vody begibt sich ein nicht mehr ganz junger Dichter ‒ »[n]epochopen, neoceněn, zapomenut, odbyt« (Karásek 1989: 61 – »missverstanden, ungeschätzt, vergessen, zurückgewiesen«7) ‒ auf einen abendlichen Spaziergang durch die Straßen der Prager Innenstadt, um eine schöpferische Krise zu überwinden und durch das Bad in der Menge auf andere Gedanken zu kommen. Šel shora dolů promenádou a zase nahoru, v sobě utonulý uprostřed šumu promenujících, maje ze všeho zase jen dojem vlnící se masy a v žluté a černé pruhy rozstříhaných a rozsekaných chodníků […]. (Karásek 1989: 56) Er ging die Promenade hinab und dann wieder hoch, in sich versunken mitten im Rauschen der Promenierenden, und hatte von allem wieder nur den Eindruck einer wogenden Masse und in gelbe und schwarze Streifen zerschnittener und zerhackter Gehsteige […].

Die Stadt, wie sie der sich »in Apathie gegen alles um ihn herum« (»v apatii k celému okolí«, ebd.: 59) zurückziehende Flaneur wahrnimmt, verfließt in einen diffusen Gesamteindruck (»Rauschen«, »wogende Masse«), und der geradezu geometrisch abstrakte Raum von Schwarz und Gelb entleert, verdunkelt und verkleinert sich scheinbar zunehmend. Davon betroffen ist auch das topische Prager Panorama der vom Moldaukai aus betrachteten Burg: Masa domů protějšího břehu […] činila dojem uhaslého transparentu. […] Z hradčanského hradu zářila dvě okna, vysoko nad černým pásem, jako zbloudilé hvězdy. Celek se směsoval v dojem tvrdých temnot, nejrůznějších nuancí, postříkaných kalnou žlutí světel; vše zdálo se býti dolů stlačeno a ponořeno v slabě tekoucí, skoro nehybné černo. (Karásek 1989: 68) Die Häusermasse am gegenüberliegenden Ufer […] machte den Eindruck einer erloschenen Leuchtreklame. […] Von der Hradschinburg glänzten zwei Fenster herüber, hoch über dem schwarzen Band, wie verirrte Sterne. Das Ganze vermischte sich zu einem Eindruck harter Dunkelheit verschiedenster Schattierungen, gesprenkelt vom trüben Gelb der Lichter; alles schien herabgedrückt und in ein träge fließendes, fast unbewegliches Schwarz getaucht.

Nach einem Irrgang durch die düsteren Gassen muss der suchende Dichter schließlich erkennen, dass er selbst es ist, dessen innere Leere und Stagnation die Weiterentwicklung seiner Kunst verhindert: »[…] pocítil cizost a nevyjasněnost 7

Alle Übersetzungen aus Karásek von GE.

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celku ..., a viděl, jak vše se hýbe a pokračuje, zatímco on ustrnul […], zatímco on hnije, hnije, hnije […].« (Karásek 1989: 73 – »[…] er fühlte die Fremdheit und Ungeklärtheit des Ganzen […] und sah, wie alles sich bewegt und weitergeht, während er erstarrt ist […], während er fault, fault, fault […].«) Die Krise der Wahrnehmbarkeit des in geometrische Muster zersplitterten und in Dunkelheit getauchten städtischen Raums bedeutet zugleich eine Krise des künstlerischen Ausdrucks, des Künstlers und des Individuums. Sie manifestiert sich nicht nur im typisch modernen Raum der »Promenade«, sondern auch und gerade in der Wahrnehmung des historischen Prager Panoramas, in welches durch das Auge der betrachtenden Hauptfigur auf bemerkenswerte Weise Elemente des modernen Stadtraums eingeschrieben werden, wenn die nurmehr von der Gasbeleuchtung erhellte »Häusermasse […] den Eindruck einer erloschenen Leuchtreklame macht« (»masa domů […] činila dojem uhaslého transparentu«, Karásek 1989: 68, Hervorhebungen GE). Nun hat der panoramatische Blick auf die (und von der) Prager Burg in der tschechischen Literatur des 19. Jahrhunderts bereits eine spezifische Geschichte als Charakter eines pars pro toto, das auf die sich im 19. Jahrhundert verfestigende Allegorisierung der weiblich besetzten Stadt im Rahmen der Wiedergeburtsbewegung verweist. So manifestieren sich für das männliche patriotische Individuum im Anblick der Stadt-Frau seine Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv und der Zustand dieses National-Körpers (Hodrová 1983: 169f.). So kann die Prag-Allegorie auch die Krise des nationalen Projekts im ausgehenden 19. Jahrhundert verkörpern, wie sie sich in den Texten zeigt, die Daniela Hodrová (1994: 96) als »patriotische Romane der Desillusionierung« (»deziluzívní vlastenecký román«) bezeichnet: In Julius Zeyers Jan Maria Plojhar (1891) erscheint Prag als »geschändete Königin« (»zhanobená královna«, Zeyer 1918: 112), in Vilém Mrštíks Santa Lucia wiederum als »schwarze Verführerin« (»svůdnice černá«, Mrštík 1893: 36), in welcher sich der Protagonist verliert, erkrankt und zugrunde geht. Die Desillusionierung des Helden in der Stadt – seit Balzac ein literarischer Topos des 19. Jahrhunderts – erhält bei Karásek freilich eine neue Dimension. Hat bei Zeyer und Mrštík die Stadt auch in den Krisenerfahrungen der Hauptfiguren stets noch eine allegorische Funktion, so fehlt diese bei Karásek völlig, zumal sich der fragmentierte städtische Raum nicht mehr in einen stabilen semiotischen Verweisungszusammenhang einordnen lässt. Im Verlust der allegorischen Funktion der Stadt manifestiert sich die für die Situation der Moderne immer wieder beschriebene grundlegende Krise der Lesbarkeit des städtischen Raums, die über den lokalen Prager Kontext hinaus verweist. Sie ist auch in Rainer Maria Rilkes König Bohusch (1899) präsent. In einem Gespräch zwischen dem Verschwörer Rezek und Bohusch wird das in Karáseks Text durchwegs präsente Motiv der gefährdeten Lesbarkeit der Stadt in abgewandelter Form aufgegriffen und mehrfach variiert:

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Ich kenne mein Mütterchen Prag bis ins Herz – bis ins Herz […], denn das ist doch wohl sein Herz, die Kleinseite mit dem Hradschin. Im Herzen ist immer das Heimlichste, und sehen Sie, es ist soviel Heimliches in diesen alten Häusern. Ich muss es Ihnen sagen, Rezek, denn Sie sind vom Lande und wissen es vielleicht noch nicht. (Rilke 1976: 17) […] ich kenne mein Mütterchen Prag bis ins Herz, ja, und mir hat nie ein Dichter davon was gesagt. Man muss nur groß werden mitten unter diesen Kirchen und Palästen. Die brauchen, weiß Gott, keinen, der für sie spricht, die sprechen selbst, mein’ ich. Wenn man nur hören mag. Oh, was die für Geschichten wissen. Lieber, ich will Ihnen einmal einige erzählen, ja! (Rilke 1976: 23)

Die weibliche Konnotation der Stadt und die Körpermetapher zitieren die im tschechischen Kontext omnipräsente Allegorisierung Prags, zugleich aber rückt die Stadt-als-Buch-Metapher in den Vordergrund, die der auch in seinen ästhetischen Ansichten naive Bohusch zwar bemüht, aber nicht mehr zum Funktionieren bringen kann: Bohusch versucht vergeblich, eine Ordnung auch in ihrer räumlichen Dimension aufrechtzuerhalten, die später für Malte Laurids Brigge angesichts des berühmten Pariser Abbruchhauses völlig zusammenbricht. Die aktualisierte Lesbarkeitsmetapher der Stadt trägt bei zur tragischen Ironie, dass der von Rezek ausgenutzte Bohusch alle und alles verkennt. Geschildert wird hier eine tödliche Bedrohung der Integrität des Ich, aber auch eine elementare Krise der Zugehörigkeit, der kollektiven Identität als Prager Erfahrung. Zwar spielt Rilkes Text wiederholt explizit auf die tschechische literarische Modernebewegung an und lässt sich in Teilen seiner Handlungskonstellation ‒ die tragische Desillusionierung der naiven Hauptfigur ‒ als Echo auf Zeyer oder Mrštík lesen; die Zuschreibungen kollektiver Identität in der Erzählung sind allerdings weit komplexer, wie Peter Zusi (2006) gezeigt hat, so dass sie sich durchaus nicht nur auf den tschechischen, sondern auch auf den deutschsprachigen Kontext beziehen lässt. Die ironische Konstellation taucht auch in Paul Leppins Erzählung Severins Gang in die Finsternis (1914) wieder auf, wo der der deutschsprachige Severin »dem Tschechenmädchen« die »stille Sprache der Stadt« (Leppin 1998: 30) erschließt und damit den Lesbarkeitstopos noch einmal bemüht, letztlich jedoch ohne Erfolg, da er sich in der Stadt ebenso ziellos verliert wie Karáseks Protagonist und zuletzt einem ähnlich tragischen Missverständnis zum Opfer fällt wie König Bohusch. Sowohl in tschechischen wie auch in deutschen Texten äußert sich also die genuin moderne Erfahrung eines ver- oder entfremdeten städtischen Raums, dessen Diskontinuität und Instabilität auch herkömmliche, mit dem Stadtraum verbundene Zuschreibungen personaler und kollektiver Identität zum Wanken bringen. Den jeweiligen Entwürfen nationaler Zugehörigkeit und den Versuchen, sie in den städtischen Raum einzuschreiben, um diesen in einen vergewissernden Sinnzusammen-

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hang mit personaler und kollektiver Identität zu stellen, steht also die gemeinsame, grundlegende Erfahrung großstädtischer Diskontinuität und Kontingenz gegenüber. Diese lässt sich allerdings nicht in erster Linie an den vordergründig modernen Elementen des Raums festmachen, sondern vielmehr im topischen Blick auf die Monumente der Vergangenheit. Sie gewinnen dadurch plötzlich moderne Züge als Elemente der fremdartigen großen Stadt, zugleich wird ihr früheres literarisches Funktionieren jedoch nicht gänzlich überschrieben. Durch das stark selbstreflexive Element in den Texten von Rilke und Karásek wird ein weiterer Aspekt sichtbar, der mir für die Charakteristik literarischer Entwürfe des Urbanen und deren labile Modernität in Prag entscheidend scheint: Die sprachlichen Mittel zur Literarisierung der elementaren Fremdheits- und Kontingenzerfahrung in der sich modernisierenden Stadt sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Prager Kontext nur beschränkt verfügbar. Zwar weist Karáseks Erzählung u.a. mit ihren langen Periodisierungen und Elementen der inneren Rede deutliche Spuren des Experimentierens mit der visuellen und auditiven Großstadterfahrung auf; reflektiert werden die Grenzen des verfügbaren literarischen Potenzials jedoch anhand der expliziten Nennung von Huysmans und Zola, deren Wege der gescheiterte Dichter-Protagonist nicht weiter gehen kann, was angesichts der äußeren Bewegung zu einem tödlichen inneren Stillstand führt. Dieses vorerst erfolglose Suchen nach neuen sprachlichen Mitteln zur Repräsentation urbaner Erfahrung ist in zahlreichen zeitgenössischen Texten ersichtlich. Auf explizitere und zugleich weitaus weniger differenzierte Weise ist das künstlerische Scheitern im Angesicht des Prager Panoramas Thema in einer Erzählung von Hugo Salus mit dem Titel Das Symbol des Lebens (1903): Hier steht am Franzensquai unter den Spaziergängern, die das abendliche Hradschin-Panorama betrachten, ein Maler, der voller Begeisterung seine Pläne erläutert, »das Symbol des Lebens« zu malen, eine Art allegorisch überhöhten Akt. Daran muss er scheitern, und die Sehnsucht nach der perfekten Allegorie überblendet sich am Schluss mit dem verklärten Panorama der Prager Burg. Der Dichter aber, der damals auf der Brücke stand und in den Strom hinabschaute, geht immer noch Abend für Abend über den Franzenskai und sieht mit leuchtenden Augen auf das geruhige [sic] Bild jenseits des Stromes und träumt von Schönheit und Größe. Und allabendlich bleibt er an der Bank stehen, vor der damals sein inzwischen verschollener, gestrandeter Freund Andreas stand; und wenn die Sonne hinter dem Hradschin untergeht, dann sieht er das mächtige Weib in den Lüften die Burg überragen und träumt von Werden und Vergehen […]. (Salus 1903: 158f.)

Was Karáseks dichtender Protagonist in erschreckender Klarheit als künstlerisches Versagen gegenüber dem Wandel von Raum und Zeit erkennt, erscheint hier in die herkömmliche Form einer sentimentalen Künstlernovelle gefasst.

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Anders als bei Karásek, Rilke und Salus fehlen in Max Brods Ein tschechisches Dienstmädchen zwar die Künstlergestalten, anhand derer sich die literarischen Herausforderungen der Großstadt artikulieren, dafür ist umso deutlicher erkennbar, wie Brod mit Schreibweisen an der Grenze zweier Paradigmen experimentiert, die Becker (1993: 12) als »Literatur über die Großstadt« und »Literatur der Großstadt« bezeichnet hat, wobei in letzterer »[g]roßstädtische Lebenswelt […] nicht als literarisches Motiv thematisiert, sondern als bewusstseinsverändernde und daher stilprägende Erfahrung gestaltet [wird]« (ebd.). In der Tat erlebt der Ich-Erzählers William Schurhaft durch die Begegnung mit dem Dienstmädchen Pepitschka eine fundamentale Bewusstseinsveränderung, die es ihm erst möglich macht, die Stadt wahrzunehmen. Freilich manifestiert sich diese Erfahrung auf der Ebene des Erzählduktus nur in Ansätzen: Jetzt war gleichsam Bresche [sic] in meine Stumpfheit geschossen, Millionen von Eindrücken zogen durch die zertrümmerte Mauer wie eine erobernde Armee. […] Wenn ich jetzt auf meinen zahllosen Wegen und Besorgungen die engen Prager Straßen ablief, war ich gepreßt von all diesen neu bemerkten Dingen, überschüttet von Verkehr, Beleuchtungseffekten, Perspektiven, den Bewegungen eines Menschen, der eine breite Haustür nach außen öffnete, den elektrischen Wagen, den Winkeln und Ecken des Häuserzuges, den Zacken oben vor dem Himmel, den melodischen Fassaden Dientzenhoffers allenthalben, von jedem einzelnen Fensterschwung, den steinernen Rosengirlanden, die durch jonisierende, schräggestellte Voluten gezogen sind, den Vasen, Pyramiden auf vier Kugeln, Kartuschen und Jakobspilgermuscheln, kreisrunden Dachluken, Attiken, Türklopfern, Gittern, Portalen, Balkonen, wildbewegten Barockstatuen […]. (Brod 1909: 75f.)

Durch ihre lange Reihung verweist diese Passage auf ein benjaminsches »Chockerlebnis«, ihre Wirkung wird jedoch durch die Häufung von Pauschalbegriffen (»Millionen von Eindrücken«, »Verkehr, Beleuchtungseffekte[], Perspektiven«) abgeschwächt, und schließlich rekurriert der Text in einer fast schon grotesken Wendung wieder auf das »barocke Kontinuum« (Pynsent 2008) Prags. Wie Karásek und Salus lässt auch Brod seinen Protagonisten noch einmal an den Moldaukai treten, allerdings in einer euphorischen Stimmung: Ich war aus der Myslikgasse hervorgetreten und da stand ich vor einem weiten Himmel mit vielen Wolken […]. Dort der Hradschin, etwas Altes, Ewiges, Undurchsichtiges, fern und undeutlich. Eine unermeßliche Kaskade von Häusern sprudelt unter seinem Schutze bergab. Bis zur Moldau bergab, die hier an der Palackybrücke in totaler Reflexion liegt, ein abendliches Leuchten, nur silberiges Licht, die zitternden Widerscheine der Brückenlampen in ihr wie ewig fallender Goldstaub. (Brod 1909: 76f.)

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Auch dieses Panorama8 trägt die Signatur des modernen Stadtraums: Der Hradschin als Garant der Tradition und Kontinuität ist nurmehr »fern und undeutlich« erkennbar, dagegen klingt in der »unermeßliche[n] Kaskade von Häusern« die Naturmetapher des ›steinernen Meers‹ in literarischen Großstadtdarstellungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Könnte man vermuten, dass im »abendliche[n] Leuchten« plötzlich so etwas wie ein versöhnliches Miteinander von Alt und Neu, eine Kontinuität innerhalb der diskontinuierlichen Entwicklung der modernen Großstadt möglich wird, so relativiert sich diese Annahme beim Blick auf den grundlegenden Erzählstrang des Texts: William Schurhafts Empfänglichkeit für die Schönheiten Prags wird erst durch das Phantasma der tschechischen Frau vom Land geweckt; vor der verhängnisvollen Affäre mit dem »tschechischen Dienstmädchen« leidet der Held unter der zeittypischen Nervosität und der von Simmel diagnostizierten »Gleichgültigkeit« (Brod 1909: 11) des modernen Großstädters (Schurhaft kommt aus Wien nach Prag). In paradoxer Weise ist die Wahrnehmbarkeit der Stadt bei Brod an den modernekritischen Gestus der Flucht aufs Land bzw. ins Ländliche geknüpft. Die Fahrt aufs heilsame Land ist zwar ebenso ein charakteristisches Element der Moderne, indem sie als Ausgangspunkt stets die Großstadt voraussetzt; bei Brod wird die Stadtflucht jedoch lediglich zitiert in Form der Anwesenheit des Anderen, Weiblichen, Ländlichen in der Stadt (Pepitschka duftet nach frischen Fichtennadeln, Brod 1909: 11) und dem Andulka-Šafářová-Lied (Brod 1909: 109f.); gesungen wird dieses allerdings ausgerechnet an einem der profansten Orte der modernen Stadt – in einem Stundenhotel hinter dem Bahnhof (Brod 1909: 105). Sowohl in tschechischen wie auch deutschsprachigen literarischen Prag-Texten aus dem Zeitraum zwischen 1895 und 1909 zeigt sich die moderne Situation in doppelter Hinsicht als vorläufig: zum einen in der ‒ zumindest im Vergleich zu den Bewegungen in Wien und Berlin ‒ als zögerlich zu bezeichnenden Suche nach literarischen Formen im Umgang mit der großstädtischen Lebenswelt, zum andern in einer modernen Überschreibung der stets im Stadtraum noch präsenten vormodernen Elemente. Die Räume der historischen Stadttradition werden nicht kontrastiert mit prototypisch modernen Räumen, sondern gewinnen durch diese Überschreibung eine bemerkenswerte Uneindeutigkeit. Beiden sprachlichen Kontexten eigen ist schließlich eine frühe Hinwendung zu gegen die Stadt gerichteten, aber von der Stadt ausgehenden Phantasien von der Flucht aufs Land, die als Antwort auf die zunehmende Schwierigkeit interpretiert werden können, kollektive Identitäten und dazu parallel gesetzte literarische Traditionen in den kontingenten Raum der modernen Stadt einzuschreiben. Der Versuch einer solchen Festlegung von 8

Dass ihm eine wichtige Funktion im Roman zukommt, zeigt auch die Tatsache, dass es in Form eines stilisierten Bilds auf dem Einband der Erstausgabe des tschechischen Dienstmädchens zitiert wird (Brod 1909).

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jeweils spezifischen Prag-Bildern auf eine deutschsprachige bzw. tschechische Literaturtradition und nationale Identität gewinnt erst in den 1910er Jahren in den literaturkritischen Debatten um den ›Prager Roman‹ und den Begriff ›Prager deutsche Literatur‹ neue Virulenz. Den von Daniel Vojtěch (2010; 2011) als flüchtig und transitorisch beschriebenen Parallelen zwischen deutschsprachiger und tschechischer literarischer Moderne in Prag um 1900 wäre also eine Gemeinsamkeit hinzuzufügen: die geteilte Erfahrung des gewandelten Raums der Großstadt, die sich in den untersuchten Texten in erster Linie als Verunsicherung artikuliert und ihnen auf der Ebene der Motivik, der Sujets und des Stils einen suchenden Charakter verleiht. Gültige literarische Antworten auf die Herausforderung der modernen Stadt finden die tschechisch und deutsch schreibenden Autoren in Prag erst während und nach dem Ersten Weltkrieg ‒ zu einer Zeit also, in der sich nicht nur die jeweiligen Modernebewegungen, sondern auch die Literaturen insgesamt bereits weiter- und auseinanderentwickelt haben.

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Zum Sinn des Rokoko-Gartens Camill Hoffmann und der »Prager Kontext« vor 1914. Übersetzungen, Kritik, Interpretationen1 D ANIEL V OJTĚCH

I.

E INLEITUNG

Als Dichter, Journalist und Übersetzer gehörte Camill (nach 1919 auch in tschechischer Orthographie Kamill) Hoffmann zu denjenigen deutsch schreibenden jüdischen Intellektuellen, die sich aktiv an der Entwicklung und Organisation des tschechisch-deutschen Kulturlebens im neuen Tschechoslowakischen Staat beteiligten und sogar in den Staatsdienst, genauer in den diplomatischen Dienst eintraten. Hierher gehören Hoffmanns wichtige Übersetzungen von Schriften der Präsidenten T. G. Masaryk und Edvard Beneš und z. B. auch der biographischen Gespräche, die Karel Čapek mit Masaryk führte.2 Schon die Anfänge von Hoffmanns literarischer Tätigkeit beweisen, dass der Ursprung dieser kulturellen Identifizierung mit dem neuen Staat zum einen in seiner tief verankerten ambivalenten Beziehung zu beiden Sprachkulturen Böhmens lag.3 Zum anderen war für ihn sein Erleben des großstäd-

1

Die Fertigstellung des Aufsatzes wurde unterstützt aus Mitteln des European Regional Development Fund-Project »Creativity and Adaptability as Conditions of the Success of Europe in an Interrelated World« (No. CZ.02.1.01/0.0/0.0/16_019/0000734).

2

Die folgenden Publikationen sind Übersetzungen Hoffmanns: T. G. Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen. 1914-1918. Berlin: E Reiss 1927; Edvard Beneš: Der Aufstand der Nationen. Der Weltkrieg und die Tschechoslowakische Revolution. Berlin: Bruno Cassirer Verlag 1928; T. G. Masaryk: Masaryk erzählt sein Leben. Gespräche mit Karel Čapek. Berlin: Bruno Cassirer Verlag [1936].

3

Zur kritischen bzw. übersetzerischen Tätigkeit und Biographie Hoffmanns siehe Sudhoff 1995; Polák 2006; Merhautová 2016.

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tischen Wien der Jahrhundertwende als einer modernen, dynamisch pulsierenden Metropole maßgeblich, zumal die dortige Atmosphäre ihm im Vergleich mit den damals äußerst zugespitzten und restriktiv national-ideologischen Tendenzen in Böhmen als Vorwegnahme einer wirklichen Europäisierung erscheinen musste. In einem Brief an Ottokar Winicky vom April 1902 erwähnt er »das [Prager] Milieu«4, welches, wie er 1906 an Hermann Hesse schreibt, im Grunde genommen »die Menschen, die darin wohnen«5, als solche subsumiere. Ähnlich wie einige seiner zu Jung Prag gehörenden Mitstreiter, d. h. jüngerer Mitglieder des Vereins deutscher bildender Künstler, die etwa zu Paul Leppins Publikationen beitrugen, der wiederum Hoffmanns Mitschüler am deutschem Gymnasium in der Štěpánská Gasse gewesen war (vgl. Krolop 1967: 51ff.), – ähnlich wie dieser Umkreis also verband Hoffmann sein Wissen über die zeitgenössische tschechische Literatur von allem Anfang an mit seinem eigenen poetischen Profil. Als er im Jahre 1900 nach Wien übersiedelte, und insbesondere dann ab 1902, als er an der Transformation der Zeitschrift Die Zeit in eine Tageszeitung beteiligt war (vgl. Vojtěch 2012), begann seine Zusammenarbeit mit dem gleichnamigen Wochenblatt; außerdem übernahm er von Ernst (Arnošt) Kraus die Rubrik des sogenannten tschechischen Briefes im Literarischen Echo (Berlin). Zumindest bis l907 war die Vermittlung tschechischer Literatur an den deutschen Leser wesentlich von seinem Urteil bestimmt, und zwar nicht nur durch seine Kritiken, sondern auch weil seine Übersetzungen von Werken ihm nahestehender Autoren auf einem hohen Niveau standen. Er druckte sie vornehmlich in der Zeitschrift Aus fremden Zungen (J. Zeyer, O. Březina, R. Svobodová, J. K. Šlejhar, K. Hlaváček, J. S. Machar), wobei seine Übersetzungen sich bei den Autoren hoher Wertschätzung erfreuten. Im Briefwechsel mit R. Svobodová und J. S. Machar wird deutlich, wie sehr sie das Verständnis schätzten, das er als Übersetzer ihrer Ästhetik und ihrer Gesinnung entgegen bringe und das sich in den von ihm gefundenen adäquaten Formulierungen zeige. Den Höhepunkt von Hoffmanns Bemühungen auf diesem Gebiet vor dem ersten Weltkrieg stellen seine Übersetzungen von O. Březinas Essays aus dem Band Hudba pramenů (Musik der Quellen) dar, die er selbst für maßgeblich hielt. Denn sowohl die Werke Březinas als auch die Otakar Theers repräsentierten für ihn in der zeitgenössischen tschechischen Literatur Höhepunkte des dichterischen Ausdrucks einer modernen Geisteshaltung sowie moderner sprachlicher Form und ein Beispiel jener intellektuellen Unabhängigkeit, die aus der Interaktion mit Europa entsteht. In seinen eigenen Lyrikbänden aus dieser Zeit, seiner Reflexion über die »Aufgabe des Übersetzers« und seiner in der Anthologie Deutsche Lyrik aus Oesterreich seit Grillparzer (1912) präsentierten Auffassung von der österreichischen deutschsprachigen Litera4

Brief vom 19. April 1902 (Památník národního písemnictví, Praha).

5

Brief vom 24. 1. 1906 (Das Schweizerische Literaturarchiv, Bern), zit. nach Polák 2006: 16.

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tur konkretisiert sich eine historische Vorstellung von der kontextuellen Bedingtheit jeder Vermittlung. Diese betrifft dann nicht nur die Übersetzung im engeren Sinne, sondern auch das kritisch differenzierende ästhetische Werk, welches über die eigenen kontextuellen Grenzen hinausragt und auf die Universalität moderner dichterischer Vorstellungskraft verweist. Gewisse scharf konturierte Züge in Hoffmanns Poetik während seiner Wiener Jahre entsprechen der zeitgenössischen Ästhetik der Wiener Moderne. Nicht zuletzt konkretisiert sich in ihnen eine modernistische Reflexion der Aufklärung und der deutschen Bildungskultur, wie sie sich auch im Schaffen weiterer deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller Mitteleuropas am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts finden lässt.

II. T EXT Der zweite Lyrikband Hoffmanns Die Vase erschien 1910 in Berlin im Axel Juncker Verlag, der auch Bücher von anderen »Prager« Literaten wie z.B. Max Brod, Rainer Maria Rilke oder Emil Faktor herausgab. Den Band dominiert eine RokokoStilisierung, welche der zeitgenössischen Variante symbolisch-ornamentaler Synthesis entspricht. Diese hatte in der britischen ästhetischen Bewegung ihre hervorragendsten Realisationen gefunden sowie im Schaffen der Künstler und Literaten des Jung-Wiener Kreises, vor allem in Hofmannsthals und Strauss’ Rosenkavalier (das Libretto wurde l909 bearbeitet, die Uraufführung fand 1911 statt). Von den einleitenden sechs Zeilen des Gedichts Rokokogarten weisen die ersten drei auf die bekannte Einleitung von Baudelaires Correspondences hin, die folgenden drei greifen zu einer harlekinhaft ironisierenden Stilisierung, durch welche die Motive des Gartens und des Wissens in ein galantes Spiel von Variationen, gedämpften Tönen, Schattierungen und Bedeutungsnuancen transformiert werden: In diesen grünenden und graden Gängen siehst du das Leben wunderlich erstarren und sich in trügerischen Formen zwängen. Hier bauten vornehme und weise Narren sich ihre Liebesgärten auf den Hängen, erfüllt vom Klang ironischer Guitarren. (Hoffmann 1910: 11)

Das Gedicht, das man als Manifestation von Hoffmanns Poetik lesen kann, entwickelt im Mittelteil ein kontemplatives Spiel mit diesem Ort, welcher eine ihm eigene Natürlichkeit und aufgrund der Anwesenheit der Götter eine gewisse Unzeitgemäßheit zeigt:

70 | DANIEL V OJTĚCH Uralte Ahornbäume, graue Buchen stehn da und Mauern frommer Taxushecken. Willst du Natur an diesem Orte suchen, sie äugt dich an aus lieblichen Verstecken. Gott Pan weilt ferne, nur am Wasserbecken grinst ein Triton – doch musst du nicht erschrecken: gewöhne dich zu lächeln, statt zu fluchen. (Ebd.: 11)

Für die Bewahrung solcher Kontemplation plädiert der Schluss mit der Maxime einer distanzierten Betrachtungsweise im Stile Altenbergs: Gewöhne dich zu lächeln, statt zu hassen. Nie würde deines Herzens Zwiespalt neben die heitre Anmut dieser Hügel passen. Du musst die Welt nur im Betrachten fassen und dich, wie einst es Brauch war, durch das Leben in einer Sänfte tragen lassen. (Ebd.: 11)

Das thematisch-motivische Repertoire dieser Sammlung war schon in Hoffmanns lyrischem Debüt Adagio stiller Abende enthalten. Die Sammlung erschien 1902 in jener Editionsreihe, die der Berliner Verlag Schuster und Löffler unter dem charakteristischen Titel »Wiener Dichter« solchen Autoren wie Adolf Donath, Richard Schaukal, Oscar Wiener oder Stefan Zweig widmete. Was die musikalische Stilisierung betrifft, gehörte Hoffmanns Debüt eher der Phase des dekadenten Symbolismus an, den Robert B. Pynsent (2008) mit dem Begriff »Interstatualität« beschrieben hat.6 Das Reich einer von Träumen bewegten, lautlosen Abenddämmerung mit einer Abendmelodie eröffnet dort mit dem Blick in einen geschlossenen Garten – 6

Dieter Heimböckel identifizierte während einer Diskussion in Hoffmanns Debüt auch einen deutlichen Anklang an die Poetik Stefan Georges. Hoffmann selbst hat mit Sympathie in seiner tschechischen Besprechung der Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten über George geschrieben und sich dadurch selbst als Dichter charakterisiert: »Jsou to písně soumraku, poloskutečna, vybledlých barev, mizících kontur, umírněných vášní, odříkavých, utajovaných bojů. Jsou podmíněny volbou slova, žijí svou melodii, okouzlují řídkou, jemnou vůní. Nemluví o ničem, nesdělují nic; ›účinkují‹, nejsou než náladami [...].« (Hoffmann 1901: 400 – »Es sind Lieder der Dämmerung, der Halbwirklichkeit, Lieder verblasster Farben und verschwindender Konturen, gemäßigter Leidenschaften, entsagender, geheim gehaltener Kämpfe. Sie sind von der Wortwahl bedingt, sie leben ihre Melodie, sie bezaubern mit ihrem dünnen, feinen Duft. Sie erzählen von nichts, sie sagen nichts: sie ›wirken‹, sie sind nichts als Stimmungen [...].«)

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einen verzauberten Garten voller Erwartungen, umwoben vom stürmenden Getöse der Welt – den Blick in ein anderes Reich. Die märchenhafte Stilisierung trägt schon dort galante Abschattungen von Balkon-, Mond- und Nocturno-Szenerien (»Erscheinung«, »Allegorie vom rosigen Ritter«). Durch die Zeitlosigkeit dieser ästhetisch errichteten Welt hindurch meldet sich aber eine Erinnerung an heimatliche Melodien als sinnliches und gefühlvolles Erwachen. Als einziges der Gedichte, die die Kinderjahre in Kolín thematisieren, nahm Hoffmann das Heimwehlied in seine Sammlung auf: Einst habʼ ich mitgesungen Die böhmischen Lieder so schlicht, Sie machten ganz still und traurig Die wildesten von uns Jungen, und das vergisst man nicht. (Hoffmann 1902: 31)

Der jambische Verlauf regelmäßiger Verseinheiten wie Terzinen, Rondeaux, hauptsächlich aber Lieder, erhielt durch raffinierte Lautinstrumentierung im zweiten Buch Die Vase mit Hilfe von dreisilbigen Gestalteinheiten größere Variabilität. Der Vers wurde länger und dynamischer. Hoffmann stilisiert seine Poesie rokokohaft, den Sprecher lässt er gleichzeitig in ironische Distanz dazu treten. Von Ironie ausgenommen wird allein die religiös christliche [sic!] Symbolik der Gedichte »Adventus« und »Drei Könige«. Eine derartige Ideen-Perspektive dominiert im zweiten Teil des Bandes. Eine wesentliche Veränderung aber stellt die Einbeziehung des Themas Zeit dar. Das Buch unterscheidet sich vom Erstlingswerk durch Selbststilisierung – »Verklungen ist das Adagio stiller Abende« – nocturnale Stimmung tritt zurück gegenüber einer wirbelhaften Bewegung, in der zwischen der Leere der großstädtischen Zeit und der schon erwähnten Rokokoästhetik eine Spannung entsteht: Des Herzens korallener Brunnen geht tiefer und lauter. Die Städte umsingt der goldene Reigen der Träume. Alle Dinge werden dir nun vertrauter, wie sehr du auch fühlst: du stehst am Abgrund der Räume. (Hoffmann 1910: 7)

Das erste Thema wird neu gefasst in Gedichten wie z. B. »Reise«, wo das städtische Labyrinth die Zeit verschluckt (»doch was mein Herz an Heimweh hat / fliegt jenem Ufer zu und irrt / durch fremder Strassen wirren Plan, / auf Plätzen, wo der Tag verscholl«, Hoffmann 1910: 13). Das zweite Thema erklingt in Gedichten mit so charakteristischen Titeln wie »Rokoko«, »Hoffest«, »Die Mondnacht« oder »Mondschein«. In engem Zusammenhang damit steht die zweifache Thematisierung von Kolín als einer Synekdoche der böhmischen Heimat – als ein Traum vom

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Wandern in der Landschaft der Kinderjahre (»Die Heimat«) und als Bild des Kasernenlebens (Hoffmann war 1899 als einjähriger Freiwilliger in Kolín). Das folgende Gedicht, eine Erinnerung an das Gefühl der Zusammengehörigkeit, widmete er dem tschechischen Dichter Otakar Theer: Es dehnt sich darin des Böhmerlands schwerkrumiger Acker in trägem Glanz, – die jungen Soldaten brennt es im Stillen, sie tragen des Kaisers Rock wider Willen. Ihr Blick schweift über der Dächer Rand, ihr Heimweh erglüht wie der Abendbrand. Wie fühl ich im Lärm der Stadt dies Bangen! Ich bin wie sie durch die Wiesen gegangen. (Hoffmann 1910: 22)

Im Gedicht »Das Haus« durchkreuzen und verbinden sich beide Motivreihen, das heißt die Bilder des Salons, der Galanterie, der Konversation, des Spinettspiels auf der einen und die Darstellung der Wandelbarkeit der großstädtischen Formen auf der anderen Seite. Diese Verbindung zeigt – auf etwas pädagogische Art – den Fluchtpunkt ihrer Konnotationen auf einer anderen Ebene – als Selbstbefreiung von der von Bedeutung überlasteten Welt, die hier mit einem alten Haus verglichen wird. Die Sehnsucht, eine Strasse hinzuwandern, zemürbt ihr Herz, die Sehnsucht nach ganz andern Stadtgassen, Plätzen, Treppen, Fluren, nach freien Tagen, die sie nie erfuhren. Allein kein Wort verrät je ihr Geschick; du kannst es nur erspähn in ihrem Blick... Erbau dein Haus dir neu, nur dann ist’s dein. In alten Häusern wohnt man nicht allein. (Hoffmann 1910: 35)

Beide Lyrikbände Hoffmanns fanden positiven Widerhall sowohl bei den Zeitgenossen in Wien (er erhielt einen Brief voller Verständnis von Hermann Hesse), als auch in Prag – und zwar nicht nur bei den deutsch schreibenden Rezensenten in der Bohemia (J. A. Bondy) und der Deutschen Arbeit7, sondern auch bei den tschechischen Kritikern. Bemerkenswert ist hier Otakar Theers Artikel von 1903 in Lumír. Theer beginnt seine Besprechung mit einer Hochschätzung von Hoffmanns Aufsätzen über tschechische Literatur (Hoffmann hatte Theers zweite Poesiesammlung 7

Vgl. H. Hesse an C. Hoffmann 20. Februar 1903 (Deutsches Literaturarchiv, Marbach); Bondy 1903: 3; G. K. 1902: 170. Siehe Polák 2006: 19-20.

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Výpravy k já [Expeditionen zum Ich] sehr positiv rezensiert, er sah darin eine würdige Fortsetzung des tschechischen Symbolismus). Theer hob die Originalität der dichterischen Sprache Hoffmanns und ihre Differenz zur zeitgenössischen Lyrik in Deutschland hervor. [Hoffmannovy verše] mají nejen svoji osobitou formu bohatě propracovanou, hned parnasisticky zvučnou, hned mile primitivní – ale i svoji vlastní senzibilitu a, chcete-li, svoji vlastní filozofii. Vezměte si například básníkův poměr ku přírodě. Jak je důvěrný, jak je takřka synovsky srdečný! Všechny její kouty se oživují, mrtvé stává se hybným, kámen mluví, hvězdy se usmívají, zlo vymizelo. Vše zná jen úsměv a smutek. Tolik vnitřní, živné síly, tolik stylové zralosti v první knize p. Hoffmannově. (Theer 1902/03: 208) [Hoffmanns Verse] haben nicht nur eine eigene, reich durchgestaltete Form – eine parnassistisch tönende, andererseits lieblich einfache – darüber hinaus aber auch eine ihnen eigene Sensibilität und – wenn Sie so wollen – auch eine ihnen eigene Philosophie. Nehmen Sie nur sein Verhältnis zur Natur. Wie vertraut behandelt er sie, geradezu herzlich wie ein Sohn! Alle ihre Winkel erwachen, was tot war spürt neue Bewegung, der Stein spricht, die Sterne lächeln, das Böse ist verschwunden. Alles kennt nur lächelndes Antlitz und Trauer. So viel an innerer, belebender Kraft, so viel Stilreife ist in Herrn Hoffmanns erstem Buch.8

Max Lederer bemerkt in Srdce, einer Zeitschrift der jüngsten Generation, zu diesem Thema folgendes: Jasný, růžový názor životní [...] jest největší předností této poezie, která tak dojímá svou prostou srdečností. A ještě jednu velkou přednost mají tyto básně: milý, půvabný tón, který nám jest tím dražší, že je to namnoze náš, český tón, který z písní těch zaznívá. Jest to teskně jásavá nota našich národních písní, jak autor sám přiznává [...], která nás v této sbírce tak mile dojímá. (Lederer 1902/03: 95) Eine klare rosige Lebensauffassung […] ist die vornehmste Qualität dieser Dichtung, welche so ansprechend wirkt durch ihre einfache Herzlichkeit. Und noch einen großen Vorzug haben diese Gedichte: den lieben, anmutigen Ton, der für uns umso teurer ist, als von diesen Liedern unser tschechischer Klang vielfach tönt. Es ist jene sehnsuchtsvoll jauchzende Note unserer Volkslieder, wie der Autor selbst zugibt [...], welche uns in dieser Sammlung so angenehm ergreift.

Ähnlich referierten Paul Leppin in Moderní revue (1902/03: 22-24) und ein Rezensent der Zeitschrift Moderní život (Banjour 1903: 56). 8

Alle weiteren Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir, DV.

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Im Unterschied zu seinem Debüt fand Hoffmann mit seinem zweiten Band in der tschechischen wie in der deutschen Presse nur bescheidenen Widerhall (Julius Bab in der Neuen Rundschau, April 1912, Gregori Ferdinand im Literarischen Echo, August 1911). Wesentlich war aber wiederum die Einsicht Otakar Theers (Lumír, Februar 1911), der in seiner Besprechung deutlich die Andersartigkeit dieser Dichtung gegenüber den »reichsdeutschen Traditionen« hervorhob und ihren Zusammenhang mit der französischen – und implizit – mit der Wiener Moderne deutlich machte: Pan Hoffmann patří totiž mezi neúnavné cizeléry básnického slova, mezi ty jemné klenotníky rytmické mluvy, jimiž se vídeňská básnická skupina – zajisté, že ne bez vlivu Hofmannsthalova a francouzské lyriky – odlišuje od tradic lyriky říšskoněmecké. Slova je v nové sbírce [...] užíváno s úzkostnou ekonomií: přihlíží se neustále k jeho barevným vlastnostem, tak aby každý verš svítil a zářil. Ale svit a zář nesmí tu mít křiklavý lesk šperků, položených bez ladu a skladu ve výkladní skříni. Pravý umělec nezapomíná, že ›ars est celare artem‹: využít tohoto barvitého slovního podkladu k tomu, aby mluvil prostě a tklivě, takový je básnický cíl našeho autora. (O. T. 1910/11: 240) Herr Hoffmann gehört nämlich zu den unermüdlichen Ziseleuren des dichterischen Wortes, zu jenen feinsten Juwelieren rhythmischer Sprache, durch die sich die Wiener Dichtergruppe – natürlich nicht ohne den Einfluss von Hofmannsthal und der französischen Lyrik – von der reichsdeutschen Lyrik unterscheidet. Das Wort wird in der neuen Gedichtsammlung mit äußerster Ökonomie verwendet: ununterbrochen werden seine farbigen Eigenschaften berücksichtigt, auf dass jeder Vers leuchte und strahle. Nichtsdestoweniger dürfen Glanz und Schein keineswegs schreiend wie Schmuckstücke wirken, die ohne Regel und Ordnung im Schaufenster ausgelegt wurden. Ein echter Künstler vergisst nicht, dass ›ars est celare artem‹: diese farbenreiche sprachliche Grundlage dazu zu nutzen, um einfach und wehmütig zu sprechen, solcherart ist das dichterische Ziel unseres Autors.

Ähnlich konstatierte Julius Brabec, dass »der Dichter zwar von der mächtigen Woge der sogenannten Jung Wiener Schule erreicht wurde, welche die Form oft überschätzt, dieser Brandung aber widerstehen konnte. Durch ihre Einwirkung wurde zwar die Bemühung um Musikalität und um die Schönheit des reinen Verses gestärkt, nicht aber zum Nachteil von Geschlossenheit und Erfahrung.« (»básníka zasáhla mocná vlna tzv. mladé vídeňské školy, přeceňující namnoze formu, leč odolal jejímu příboji. Vlivem jejím stupňována sic snaha po hudebnosti a kráse čistého verše, leč nikoli na úkor sevřenosti a zkušenosti.«, Brabec 1911: 141)

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Damit meint er Hoffmanns dichterische Erinnerungen an die als zauberhaft empfundenen Kinderjahre im Elbtal.9 Hoffmanns dichterische Welt war die Baudelaires, die Welt des symbolischen Wortes, welches die unendliche Variabilität der Sprachformen als eigentliche Natur moderner Einbildungskraft in sich trägt. Im Unterschied zum Schaffen der Zeitgenossen Schnitzler oder Hofmannsthal, die die Unsicherheit des sprachlichen Weltbildes thematisierten, war seine Auffassung der Welt mit Zuversicht in die Möglichkeiten der Freiheit verbunden, welche sich als Selbstbesinnung in einer Sprache lyrischer Formen realisiere. Die Stabilität des stilisierten, d. h. geformten Raumes stellt in seiner Dichtung ein Integritätsprinzip dar, welches die störende Disharmonie der historischen, ideologisch belasteten Zeit überwindet und ihre traumatisierende Realität in eine dichterische Erinnerung transformiert, die wiederum eine gefühlvolle Verbindung zur Heimat als Landschaft erster dichterischer Inspiration erneuert.

III. K ONTEXT Den primären Kontext – verstanden als Zusammenhang zwischen Texten und ihrer Überlieferung – stellte für die Deutsch schreibenden Schriftsteller, die in Prag um die Jahrhundertwende debütierten, die deutsche Literatur dar. Wie ihre Wiener Kollegen ließen sie ihre Bücher in Deutschland und vornehmlich in Berlin erscheinen. Wenn sie sich der Vermittlung tschechischer Kultur widmeten, führte der Weg überwiegend über deutsche Periodika (obschon die Wiener Periodika Die Waage und Die Zeit dabei auch ihre Rolle spielten). In seiner ausführlichen Biographie Hoffmanns erklärt Pavel Polák, dass »Hoffmanns innige Kultur ganz klar die deutsche war« (Polák 2006: 16). Was bedeutete dies aber im konkreten Falle? Ich habe gezeigt, dass die tschechische Kritik auf die Eigenständigkeit von Hoffmanns Lyrik vor dem Hintergrund ihrer Zugehörigkeit zur Ästhetik der Wiener Moderne hingewiesen hat. Ohne diese Feststellung übermäßig auszuweiten, kann man vielleicht doch sagen, dass seine Gedichte dank ihrer Heimwehmotivik zu einer positiveren Wertung des Jung Wiener Kreises in Prag beigetragen haben, und

9

»Bloudíme s ním hlubokými parky v dobách rokoka, v záchvěvech sladké bolesti i měkkých snů, jež brázdí labutě vzpomínek na domovinu a dětství, kouzlivě krásné, prožité v labském údolí.« (Brabec 1911: 141 – »Wir irren mit ihm durch tiefe Parks zu Zeiten des Rokoko, in Beben süßen Schmerzes und sanfter Träume, die Schwäne der Erinnerungen an die Heimat und die Kindheit durchfurchen, die zauberhaft schöne, im Elbtal durchlebte.«)

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zwar im Vergleich zur unmittelbaren Vergangenheit. Denn in den 1890er Jahren distanzierten sich viele tschechische Modernisten von dem »oberflächlichen« und »leichtlebigen« Wien, von Bahrs Programm der Nervenkunst oder von Schnitzlers Szenen (siehe dazu die bissige Ironie Šaldas in seinem »Anatol – Umírání« [»Anmerkungen über Anatol«], Šalda [Pavel Kunz] 1898: 284-285, zit. nach Šalda 1951: 284-285). Paul Leppin versuchte bereits 1903 – auf seine poetische Art –, die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur mit dem Hinweis auf eine ähnliche Situation der modernen Wiener und Prager Dichter zu charakterisieren: Wenn die Menschen irgendwo in einem Lande alt geworden sind und viele Traditionen haben, dann geschieht es zuweilen, daß sie mit einer gewissen Noblesse ihrer Kultur zu kokettieren beginnen, mit hunderterlei feudalen Mätzchen, die der Vater dem Großvater abgeguckt und die mit einer eleganten und mühelosen Gebärde auf den Enkel gekommen sind. Die österreichischen Menschen sind solche Leute. Wenn ich etwas sage, so ist es beileibe nicht bös gemeint. Es ist etwas überaus Liebenswürdiges und Solides in dieser feinen und überlegenen Art. Eine schöne und vornehme Linie und ein aristokratischer Accent, der durchaus nicht protzig und posiert ist und der sehr ehrlich und sehr herzlich klingt. Das alles ist zumeist und hauptsächlich von den grossen und kleinen Städten gesagt, in denen die letzten hundert Jahre nicht gestorben sind, und wo man zwischen den Steinen und Fenstern und zwischen den Worten, die jemand an uns vorüberträgt, ihre Reliquien findet. Wien und Prag, wo es Häuser und Gassen gibt, die uns noch heute ganz altösterreichisch anmuten, und die Leute, die darin wohnen sind geradeso. Da ist es nicht wunderlich und versteht sich ganz von selbst, daß in der Kunst und vor allem in der Literatur, in den Gedichten, die diese Leute schreiben, und in den Geschichten die sie einander erzählen, alle die Dinge wiederkehren, die wir an ihnen so liebgewonnen haben, ihre brave und feine Ironie und ihre kluge Güte, ihre Capricen und ihr schönes und höfliches Herz. (Leppin 1903: 1318-1319)

Nach seiner Übersiedlung nach Wien war Hoffmann in dieser Hinsicht skeptischer, wie aus seinem Beitrag für die Moderní revue vom Dezember 1900 ersichtlich wird (Hoffmann 1900/01a: 106-110). Seine Dichtung wie seine Referate über das Schaffen Schnitzlers, Hofmannsthals, Saltens, Luckas oder Zweigs und seine Redaktionstätigkeit im Tagblatt Die Zeit zeigen jedoch, dass er während des ersten Jahrzehnts immer offener gegenüber der Wiener Moderne wurde. 1912, nachdem er eine Stelle in der Redaktion der Dresdner Neuesten Nachrichten angenommen hatte, gab er in Berlin eine umfangreiche Anthologie Deutsche Lyrik aus Österreich seit Grillparzer (Verlag C. H. Meyer und Jessen) heraus, an der er zwei Jahre gearbeitet hatte. Seine Einleitung formuliert geradezu ein Manifest einer österreichischen Kultur deutscher Sprache, die als ein mitteleuropäisches autonom-mannigfaltiges Gebilde anzusehen sei. Dieses reiche trotz dessen Integrationsfähigkeit über Wien hinaus, und zwar obwohl Wien »Gipfel und Quintessenz« österreichischer Kultur darstelle. Gleich am Anfang wird die besondere Aufgabe Österreichs hervorgehoben:

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Ein Reich im Auseinanderprall der Rassen. Ist es nicht seine historische Mission, das harte Zusammenklirren zu mildern? Die grelle Buntheit in einen harmonischen Akkord aufzuschmelzen? Grenzvölker mischen ihr Blut. Scharf schießen ihre Gegensätze im politischen Kampfe hervor. Aber unsichtbar vollzieht sich doch der Ausgleich. (Hoffmann 1912: V)

Zur Charakterisierung dieser Einheit in Mannigfaltigkeit nützte Hoffmann ein literaturhistorisches Modell, das er von dem Taines zu Milieu und Rasse ableitete. Dabei akzentuierte er aber charakteristischerweise die »südliche« und »musikalische Natur« dieser Literatur, welche auf ihre Ursprünglichkeit achte. Hier gilt Hoffmanns Meinung nach: »Fremde Art filtert schwer sich durch.« Bei aller lokalen Unterschiedlichkeit von Tirol über Böhmen und Mähren bis zu den Sudeten, Deutsch-Ungarn oder Siebenbürgern und die Bukovina – »Dies bleibt der Reiz aller deutsch-österreichischen Kunst: daß sie aus einem Geblüt stammt, das sich durch viele Jahrhunderte veredelt und das eine jüngere und eine ältere Rasse mitgespeist habe. Die Kunst ist beschwingter, farbiger, differenzierter geworden.« (Ebd.: 6-7) Im Abschluss betont er, dass nicht einmal zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Protagonisten der deutschen Romantik und der Jenaer Ideale ihre Aktivitäten in Wien entfalteten, die deutschen und österreichischen Dichter einig werden konnten. »Was die Sprache verband, bildete [aber] ein einziges geistiges Reich« – der Weg zur modernen Dichtung und zur Verfeinerung des sprachlichen Ausdrucks sei in Österreich jedoch abweichend verlaufen. Ziel seiner Anthologie war es, diesen Weg zu zeigen und den Einwand zurückzuweisen, dass dieses »vielstimmige Orchester […] nicht auf eigene Hand [spielt]« (ebd.: 11). Hoffmanns Anthologie wurde insgesamt positiv aufgenommen, vor allem dank des Schwerpunkts in der Jung Wiener Literatur mit Hofmannsthal an erster Stelle, aber auch dank der Vertretung von Prager Zeitgenossen des Herausgebers. Positive Rezensionen sind von Hermann Hesse (in März; 1912: 360) und von Felix Braun (in Der Rheinländer; 1912: 142) erschienen. Karl Kraus fühlte sich offensichtlich getroffen, da die in der Fackel publizierenden Dichter wie auch er selbst nicht eingereiht waren. Er besprach den Band im Januar 1912 ironisch in der Fackel unter dem sprechenden Titel »Razzia auf Literarhistoriker« (Kraus 1912). In Böhmen reagierte Julius Brabec in Nový obzor (April 1912) sehr positiv. Er konstatierte, dass es sich um einen ersten Versuch seiner Art handle und vornehmlich um eine kritische Auswahl, bei der der Herausgeber wirklich eine »glückliche Hand« gehabt habe, was die charakteristischen individuellen Züge der jeweiligen Poetik betreffe. Aufgenommen fanden sich auch Werke, die der Nachbarschaft jüngster moderner Lyrik würdig seien, wie z. B. Gedichte Ferdinand Sauters oder Ferdinand Kürnbergers »Süden«. Rilke und Hofmannsthal werden als Höhenpunkt zeitgenössischer deutscher Poesie vorgestellt – Rilkes Gedichte wurden hier erstmals in eine Anthologie deutscher Literatur eingereiht. Die Besprechung hat ein für die nationale Situ-

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ation Böhmens charakteristisches, im Bezug auf Hoffmanns Biographie zwar ungenaues, der Intention der Anthologie gegenüber aber gefälliges Ende: Sám pořadatel, Němec z Čech, jenž nezapře, že v jeho cévách proudí smíšená krev slovanská, zastoupen pěkně, podobně jako kruh pražských básníků německých Adlerem počínaje [...] Tisíce strun se tu ozývá ve zdánlivé disharmonii, ale celek působí velice pěkně, svěže, jako tisíce květů nejrůznějších barev roztroušených na jarem vzkříšených lukách. [...] jest opravdu klíčem ku poznání zajímavé básnické tvorby nejbližších našich sousedů. (Brabec 1912: 230) Der Veranstalter selbst, ein Deutscher aus Böhmen [sic!],10 der nicht abreden kann, dass in seinen Adern vermischtes slawisches Blut fließt, wird schön vertreten, ebenso wie der Kreis Prager deutscher Dichter von Adler beginnend [...] Tausende Saiten tönen da in scheinbarer Disharmonie, aber das Ganze wirkt sehr gut, frisch, wie tausende Blüten verschiedenster Farben zerstreut auf den im Frühling auferstehenden Wiesen. [...] Es ist ein wirklicher Schlüssel zur Erkenntnis des interessantesten dichterischen Schaffens unserer nächsten Nachbarn.

IV. D IE Ü BERSETZUNG Am Beginn seiner Zusammenarbeit mit Der Zeit übernimmt Hoffmann die Stelle Hermann Bahrs. Der hatte sich systematisch darum bemüht, den tschechischen Modernismus in seine organisatorischen Aktivitäten einzugliedern, scheiterte aber an den Übersetzungen.11 Es mangelte in dieser Hinsicht an einem ausreichenden Angebot, insbesondere was das aktuelle Schaffen der jüngeren Generation betrifft, ebenso problematisch war das niedrige sprachliche Niveau vieler Übersetzungen, das in Uniformität, d. h. eine ungenügende Individualität des Ausdrucks mündete. Hoffmann allerdings erwarb schon sehr bald Erfahrungen ersten Ranges durch die Übersetzung einer Auswahl aus Baudelaires Werken, die er 1902 mit Stefan Zweig

10 Hoffmann stammte aus einer jüdischen Familie, die Deutsch, gelegentlich jedoch auch Tschechisch sprach. Eine solche Zweisprachigkeit war in jüdischen Familien in Kolín nicht ungewöhnlich, hatte aber unterschiedliche Gründe. So engagierte sich zum Beispiel der Vater von Hoffmanns jüngerem Altersgenossen, dem Germanisten, Bohemisten, Dichter und Dramatiker Otokar Fischer (geb. 1883) für die jüdische Integration in die tschechische Gesellschaft und legte auch bei der Erziehung seiner Kinder Wert auf eine Ausbildung in tschechischer Sprache und Literatur. In Hoffmanns Familie sprach man bei entsprechenden Gelegenheiten Tschechisch (so häufig mit Besuchern und bei anderen gesellschaftlichen Anlässen). 11 Siehe Jähnichen 1972; Ifkovits 2007; Kostrbová 2011; Kostrbová/Ifkovits/Doubek 2011.

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zusammenstellte und in Leipzig herausgab.12 Regelmäßig wies er in seinen Besprechungen auf einen Mangel an übersetzerischer Urteilskraft hin, was der tschechischen Literatur auf ihrem Weg über die Grenzen des eigenen Sprachgebiets hinderlich sei, und forderte von den Übersetzern kritische Kommentare, mit denen er seine eigenen Übertragungen begleitete (so z. B. »Inultus« von J. Zeyer oder Erzählungen von R. Svobodová und F. X. Svoboda in der Stuttgarter Zeitschrift Aus fremden Zungen, Jg. 12, 1902, Nr. 3 und 4). 1904 reagierte er im Literarischen Echo scharf auf das Programm der Slawischen Bibliothek des Verlegers Jan Otto: »Die Tschechen wünschen sich eben auch, was den Russen und Polen längst gelungen ist, nämlich West- und Mitteleuropa für ihre Litteratur zu interessieren.« (Hoffmann 1903/04: 1723-1726). Es genüge aber nicht, eine qualitativ gute Übersetzung zu schaffen. Der Übersetzer müsse wissen, an wen er seine Arbeit adressiert, welcher Art die Erwartungen seines eventuell interessierten Publikums sind. In dieser Hinsicht sei die langweilige Romanproduktion dieser Bibliothek eine höchst unglückliche Wahl. Hoffmanns Rat lautete, moderne Verleger in Berlin auszusuchen, Unternehmungen mit ästhetisch verwandten Editionskonzepten. In diesem Sinne schätzenswert erschien ihm erst die Übersetzung von Březinas Sammlung Ruce (Die Hände) durch Saudek im Jahre 1909 (vgl. Hoffmann 1908/09a: 132-122; Hoffmann 1908/09b: 1656-59). 1907 wiederholte er sein Urteil über Ottos Unternehmen (wobei Arne Novák ihm in einer polemischen Erwiderung im Grunde recht gab)13: [...] diese Serie beweist mir klar, daß die Tschechen keine Ahnung haben, was des Auslands Neugier zu wecken vermag. Und solange der Eroberungsfeldzug von Prag ausgeht, verspricht er überhaupt keinen Erfolg… Das Vorurteil gegen einen tschechischen Verleger ist entschieden noch größer. Um die unfreiwillige Exklusivität zu brechen, werden sich die Tschechen erst deutsche Verleger gewinnen müssen [...]. (Hoffmann 1906/07b: 1549)

Hoffmanns Bemühungen um Vermittlung waren von immer größerer Kritik und Skepsis gegenüber der aktuellen Situation der tschechischen Literatur geprägt, so dass er nach 1907 nur noch sporadisch zu ihr zurückkehrte. Schon Ende 1906 hatte er im Literarischen Echo die Schwäche der zeitgenössischen tschechischen Literatur der europäischen Bedeutung der skandinavischen Literaturen gegenübergestellt: Es ist ein merkwürdig zartes Kulturempfinden, das die Skandinavier voraushaben, selbst vor einigen grossen Nationen voraus, und das ihnen ihre Sonderstellung in der gesammten europäischen Literatur verschafft. Da sind mehrere andere kleine Völker, die sogar literarische 12 Charles Baudelaire: Gedichte im Vers und Prosa. Übersetzt von Camill Hoffmann und Stefan Zweig. Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger, 1902. 13 Siehe auch A. N. (= Arne Novák) 1906/07: 784-85.

80 | DANIEL V OJTĚCH Tradition haben. Etwa die Tschechen. Sie sind mitten in Europa hineingesprengt, umspült von deutschen, französischen und russischen Einflüssen, die sie in alle neuen Strömungen mit fortreißen, ihnen Anregungen und Ideen zutreiben, und die ein überaus reges, bewusstes Leben führen. Lässt sich der Gewinn aus der tschechischen Literatur im entferntesten mit dem aus der norwegischen, schwedischen, dänischen Literatur vergleichen? Das zusammengedrängte Leben ist hier vorhanden wie in den drei schmalen Reichen im Norden. Aber in der Literatur erhält es nicht das erhöhte Niveau; ja im Spiegel der Literatur zeigt es durchaus provinziellen Charakter, zerfahrene Buntheit, breitschichtige Zerklüftung, verwischte Derbheit, vor deren unebenen Hintergrunde sich jede halbwegs urbane Erscheinung als dekadent abhebt. Es fehlt das innige Kulturempfinden, dem die wunderbar weise Weltbetrachtung der nordischen Dichter [...] entspringt. (Hoffmann 1906/07a: 338)

Mit Ausnahme der Prosa-Arbeiten Jan Wojkowicz’ widmete er der zeitgenössischen tschechischen Literatur merkwürdigerweise keine größere Aufmerksamkeit, obwohl man sie in vielerlei Hinsicht als seiner Poetik ästhetisch verwandt auffassen könnte – z. B. die märchenhafte Stilisierung der Poesie bei Alfons Breska und vor allem Arthur Breiskys Essay über »Harlekin – kosmischer Clown« (Breisky 1909), eine der hervorragendsten Darstellungen des Beardsleyschen Rokokoornaments in der tschechischen Literatur. 1907 reagierte er in einem Brief an Otakar Theer auf den Vorwurf, sein Urteil über das gegenwärtige tschechische Schrifttum werde immer rigoroser, und er schreibe auch über eigentlich »interne« Auseinandersetzungen, wie z. B. J. S. Machars Ablehnung eines Akademiepreises (vgl. Hoffmann 1903/04: 1547-1550): Das thut mir natürlich sehr leid, aber Sie sind im Unrecht, wenn Sie annehmen, ich sympathisiere mit der tschechischen Literatur nicht mehr. Nach wie vor interessiert sie mich nach der deutschen Literatur am meisten und ich freue mich immer sehr, wenn ich auf Beachtenswertes stosse. Aber je länger ich aussen stehe, desto kritischer sehe ich die Dinge. Sie können nur einwenden, ob Strenge in diesem Falle überhaupt am Platze ist. Vielleicht soll ich wirklich mit dem Lobe freigebiger sein, grössere Worte machen, dicker unterstreichen. [...] Das ist so, als suchte ich mit Absicht Ungünstiges heraus. Ich bin nicht der Ansicht, dass eine Angelegenheit, die öffentlich debattiert wird und die bekanntesten Namen betrifft, bloss ›intern‹ behandelt werden soll. Wäre sie in Frankreich passiert, wäre die Welt voll davon. Grosse Völker haben grosse Skandale, sie ertragen sie. Sind die Tschechen so klein, dass sie so empfindlich werden, wenn man sie etwas rückhaltloser anfasst? (Brief vom 16.09.1907, zit. nach Schmitz/Udolph 2001: 147)

Von seiner »Aufgabe« hat er aber nicht abgelassen. Bald nach seiner Übersiedelung nach Dresden übersetzte er zwei Essays von Březina, »Das Lächeln der Zeit« und »Die Gefahren der Ernte«, für die Neuen Blätter. Einen Briefwechsel mit dem Dichter hatte er schon 1901 begonnen, als er für Die Waage eine enthusiastische

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Besprechung der fünften Sammlung Březinas, d. h. von Ruce (Die Hände), verfasste. 1912 bat er den Dichter um Autorisierung seiner bereits angefertigten Übersetzungen, wobei er auf das Übersetzungsmonopol Saudeks verwies, sowie um die Erlaubnis, das ganze Buch Hudba pramenů (Musik der Quellen) für den Herausgeber der Neuen Blätter Heger zu übertragen. Denn seiner Meinung nach könne sich der deutsche Leser mit dem Werk des Dichters durch diese Essays am besten bekannt machen.

V. S CHLUSS Hoffmanns Schaffen nach 1900 ist ein anschauliches Beispiel für (inter)kulturelle Vermittlung, in seinem Fall im Sinne einer Interpretation von Kontextbeziehungen und ihrer Einbindung in den neu entstandenen Kontext modernistischer Literatur. Begleitet wurde dieses Bestreben bei Hoffmann allerdings von Anfang an von einer Skepsis gegenüber dem zeitgenössischen kulturellen Potential in Böhmen bzw. gegenüber den dortigen Möglichkeiten, derartige Beziehungen zu pflegen. Die Ebene kritischer Interpretation und Übersetzung mit ihren Referenzen auf aktuelle Entwicklungen der Moderne sowie in ihrer Konfrontation mit Entwicklungen in Wien und/oder Prag überschneidet sich schließlich mit der Ebene literaturhistorischer Konzepte. Analog zu den zeitgenössischen tschechischen Bemühungen auf dem Gebiet der Kritik um 1900, die Moderne in eine Wechselbeziehung mit verschiedenen Typen historischer Literaturmodelle bzw. mit verschiedenen Auffassungen von Tradition (F. X. Šalda, Miloš Marten, F. V. Krejčí, Arne Novák u.a.) zu bringen, wirkt auch Hoffmanns Unternehmen einer repräsentativen Zusammenstellung deutsch-österreichischer Lyrik wie ein Hinweis auf die weit verzweigte Tradition, die seit beinahe hundert Jahren die Ausdifferenzierung der deutschsprachigen Dichtung in Österreich mit der aktuellen Produktion in den modernistischen Zentren verband. Der Verweis auf das kulturell integrierende Wesen und die Aufgabe dieser Lyrikanthologie, deutlich heterogene literarische Gebilde in eine spezifische ästhetische Formation einzubinden, die in die modernistischen Werke der JungWien-Bewegung mündet, entspricht – wie auch aus den zitierten frühen kritischen Bemerkungen Leppins deutlich wird – Hoffmanns Prager Ausgangspunkt. Dieser historisierende Vorschlag, die modernistische Situation in ein Modell deutscher Bildungskultur zu integrieren, bedeutete zugleich – und im Hinblick auf den internationalen Gedanken der modernistischen Bewegungen paradoxerweise – den Weg zu einem gemeinsamen deutsch-tschechischen literarischen Kontext zu verlassen. Von einem solchen lässt sich also bei der Analyse des Modernismus in Böhmen und Österreich aus literaturhistorischer Perspektive nur mit allergrößter Vorsicht sprechen, eher von einer Untersuchung sekundärer Interpretationskontexte, wie sie

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hier die so genannte österreichische Literatur oder die österreichische Lyrik darstellt. Historische Konkretisierungen von Vorstellungen diesen Typs können einer vergleichenden Literaturgeschichtsschreibung das benötigte tertium comparationis bereit stellen. Die Aktualisierung der Rokoko-Ästhetik in der Jung-Wien-Bewegung hielt Carl E. Schorske für eine Flucht aus der traumatisierenden Welt der Väter in ein axiologisch nicht verankertes immorales Träumen (vgl. Schorske 1981). Die Errichtung einer künstlichen Welt in Anknüpfung an Ideen Rousseaus und Voltaires konnte jedoch, wie auch jüngere Studien zur Wiener jüdischen Kultur bestätigen,14 auch die integrative bzw. reintegrative Funktion erfüllen, eine abgegrenzte Identität (eine nationale Präferenz, eine politische Loyalität) zu errichten, die den ursprünglichen kritischen Sinn der Bildungsidee als Flucht- und Angelpunkt einer sprachlich lokalisierten literarischen Kultur bildet.

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Literatur im Dienste der Politik? Einige Aspekte der Übersetzung deutschsprachiger Literatur der Böhmischen Länder ins Tschechische (1900-1918)1 V ÁCLAV P ETRBOK

Die prekäre Rolle tschechischsprachiger Intellektueller, die sich für deutschtschechische Annäherungen auf dem Gebiet der Kunst engagierten, charakterisierte Otokar Fischer anlässlich der Aufführung der Wedekind’schen Lulu im Maiheft der Zeitschrift Česká revue 1914 folgendermaßen: My překladatelé z němčiny, my čeští germanisté, nikdy bychom se nemohli smířiti s pomyšlením, že, propagujíce Hebbela, Nietzscheho, Wedekinda a j., chceme český národní umělecký život vepjati jako podružnou složku v okruh německého snažení a umění, že ze svého písemnictví děláme provincii německého ducha a zdá se mi příznačno, že naproti tomu dnešní Němci, byť sebe více hleděli vycházeti vstříc našim uměleckým snahám, neobejdou se bez stanoviska, jež podceňuje naši národnostní svéráznost a svébytnost: tak nedávno Bahr, loni za kampaně hebbelovské, letos v záležitosti Wedekinda. (Fischer 1913/14: 512) Wir Übersetzer aus dem Deutschen, wir tschechischen Germanisten, könnten uns nie mit der Vorstellung versöhnen, daß wir, wenn wir Hebbel, Nietzsche, Wedekind u.a. propagieren, damit die Absicht verfolgen, das tschechische nationale Kunstleben als dienendes Glied in den Bereich deutschen Kunstlebens zu integrieren, daß wir unsere Literatur zu einer deutschen Geistesprovinz machen, und es erscheint mir kennzeichnend, daß demgegenüber die Deutschen von heute, mögen sie unseren künstlerischen Bestrebungen auch noch so sehr entgegenkommen wollen, noch immer nicht ohne einen Standpunkt auskommen, der unsere

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Der Beitrag entstand im Rahmen eines von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung finanzierten Forschungsaufenthalts an der Universität Tübingen in den Jahren 2010-11. Eine Aktualisierung des Beitrags konnte jedoch nur im geringem Maße durchgeführt werden.

86 | V ÁCLAV P ETRBOK nationale Eigenart und Eigenständigkeit unterschätzt: so unlängst Bahr, so voriges Jahr bei der Hebbel-Kampagne, so heuer in der Angelegenheit Wedekind.2

Fischer erwähnte diese in seinen Augen traumatischen Erfahrungen mit der deutschen (stillschweigend aber auch mit der tschechischen) Kritik ganz und gar nicht ohne Grund. Zu nennen wären etwa die Ansichten Hermann Bahrs über die tschechische Kultur, die für ihn – wie Fischer zuspitzt – »nur so etwas wie ein ins Tschechische übersetzter Extrakt der deutschen Kultur zu sein habe« (Jähnichen 1969: 373f.), oder die Polemik, die durch Paul Kischs Dissertation (Hebbel und die Tschechen. Das Gedicht An seine Majestät König Wilhelm I. von Preußen, seine Entstehung und Geschichte) über das bekannte höhnische Gedicht Friedrich Hebbels über die Tschechen und die Polen ausgelöst wurde. Fischer hatte damals bereits mehrere Übersetzungen aus dem Deutschen ins Tschechische veröffentlicht – so Wedekinds Lulu (1914, mit František Zavřel), Hofmannsthals Jedermann (Člověk a smrt, 1910), Kleists Penthesilea (1912), Nietzsches Also sprach Zarathustra (Tak pravil Zarathustra, 1914). Er hatte sich auch eingehend mit der deutschsprachigen Literatur befasst, wie seine Dissertation über Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung (1904), mehrere Beiträge über Kleist in der Zeitschrift Euphorion und vor allem Monographien über Kleist (1912) und Nietzsche (1913) in tschechischer Sprache beweisen. Die folgenden Worte können in diesem Kontext als eine Art Rechtfertigung sowie Selbstverteidigung seinen tschechischen Landsleuten gegenüber verstanden werden: Proto pokládám za důležito konstatovati zde alespoň ve vlastním jméně, že sám bych perhorreskoval jakékoliv snahy o germanisaci našeho umění, že naopak mám naši národní kulturu za dosti silnou, aby snesla, strávila, přizpůsobila si též významné literární prvky a zjevy národa, s nímž vedeme národnostní boj. (Ebd.) Deshalb halte ich es für wichtig, hier zumindest in meinem eigenen Namen zu erklären, daß ich selbst jederlei Bestrebungen zur Germanisierung unserer Kultur perhorreszieren würde, daß ich im Gegenteil unsere Nationalkultur für stark genug halte, auch literarische Elemente und Phänomene eines Volkes zu vertragen, zu verarbeiten, anzuverwandeln, mit dem wir einen Nationalitätenkampf führen.

Diese Proklamation ist für den tschechischen Kontext sehr kennzeichnend. Und zwar in dreierlei Beziehung:

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Deutsche Übersetzung zit. nach Krolop (2005: 166), der auch die gesamte Polemik wiedergibt und analysiert. Die Übersetzungen stammen, sofern nicht anders vermerkt, vom Autor.

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1. Fischer folgt hier einer weit verbreiteten Argumentation, der zufolge sich jene tschechische literarische Öffentlichkeit, die sich mit der Vermittlung der deutschsprachigen Kultur befasste, bei aller Sympathie für die Ausgangskultur stets zu ihren eigenen, d.h. nationalen, Aufgaben bekennen solle. Die Tatsache, dass es sich bei der Ausgangskultur um die deutschsprachige handelte, verlieh der Tätigkeit der Vermittler und Vermittlerinnen nämlich eine gewisse gesellschaftliche und politische Brisanz. Besonders deutlich wurde dies in den Krisenzeiten, so in der Badeni-Krise (1897) und der Hilsner-Affäre um die Jahrhundertwende, während der Demonstrationen für das Allgemeine Wahlrecht (1905), der Hochschulkrise und des Standesrechts (1908) und auch in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Schließlich hatte der Kaiser mit den sogenannten Annenpatenten im Juli 1913 den Landesausschuss suspendiert und durch eine Verwaltungskommission ersetzt. Diese Maßnahmen wurden de facto als »Einführung des Ausnahmezustands« verstanden und »stellten einen gemeinsamen Mißerfolg von Tschechen und Deutschen dar« (Křen 1996: 297-299). 2. Die Auswahl zu übersetzender Werke wie die Publizistik zur deutschsprachigen Kultur waren sehr komplexen Prozeduren, Kontrollen und Disziplinierungen ausgesetzt. Dies galt umso mehr für Übersetzungen deutschsprachiger Literatur aus den böhmischen Ländern, insbesondere wenn sie – gewissermaßen dem Milieu »des nationalen Gegners« entspringend – die nationalen Auseinandersetzungen unter umgekehrten Vorzeichen thematisierte. Ein weiteres Problem war es, dass mit dem kulturellen Leben »der Anderen« der – oft auch erfolgreichere – Gegenpol zu den tschechischen kulturellen Leistungen beschrieben wurde. 3. In Fischers Argumenten klingt auch das weit verbreitete tschechische Autostereotyp nach, die tschechische Kultur sei gegenüber der deutschen zurückgeblieben. Dieses entstand vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die sogenannte »Kulturträgertheorie« beziehungsweise den »Nationalbesitzstand« und damit um die angeblich deutschen Wurzeln der Kultur und Zivilisation in der Schlüsselstadt Prag, wie sie sich im Streit um das »Erstgeburtsrecht« manifestierten (vgl. Bollenbeck 1994: 219f., Judson 1995). Die Empfindlichkeit der tschechischen (kulturellen) Öffentlichkeit spiegelte auch ihr Bedürfnis nach Anerkennung von deutscher Seite wieder bzw. zeigte, wie die Tschechen sich selbst gerne im Wettstreit mit den Deutschen hätten sehen wollen (Kořalka 1993). Die Rolle der kulturellen Vermittlung und des Übersetzens aus dem Tschechischen in den deutschsprachigen Kontext ist seit einiger Zeit ein fester Teil literatur- und

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kulturhistorischer (bzw. -theoretischer) Forschung.3 Erstaunlicherweise besteht in umgekehrter Richtung ein Desiderat.4 Es ist jedoch wichtig, auf diese kulturelle Vermittlung und Übersetzung deutschsprachiger Literatur aus den böhmischen Ländern und aus Prag, die zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg in der tschechischen Presse stattfand, aufmerksam zu machen. Im kulturellen Gedächtnis des deutsch-tschechischen Zusammenlebens wurden die Kulturvermittler zwischen beiden Sprachen sehr lange vernachlässigt. Dies liegt vermutlich am Scheitern des Zusammenlebens der Deutschen, Juden und Tschechen nach dem Jahre 1938, der Shoah und der Vertreibung der Deutschen sowie der erst allmählichen Rückkehr und Akzeptanz der deutschsprachigen Kultur in der tschechischen kulturellen Öffentlichkeit (vgl. Koeltzsch 2011: 15). Bei der Recherche stößt man insbesondere bei Übersetzern aus dem Deutschen ins Tschechische auf eine Reihe von Akteuren, deren Anteil an der Herausbildung eines gemeinsamen deutsch-tschechischen Kulturaustausches eigentlich nicht zu übersehen ist, bisher jedoch noch kaum beachtet wurde. Vor der Analyse der kon-

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Hier sind z. B. die Arbeiten von Kurt Ifkovits (2007), Manfred Jähnichen (1967, 1971), Hillel J. Kieval (2005), Ladislav Nezdařil (1985), Lucie Kostrbová (2010, 2011), Walter Schmitz/Ludger Udolph (2001), Stefan Simonek (2005), Scott Spector (2000: 195-233, 2005), Barbora Šrámková (2010b) oder Gaëlle Vassogne (2009) zu nennen.

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Wie sich bei der Zusammenstellung der Bibliographie für die Geschichte der Übersetzung und Kulturvermittlung für den Katalogband Praha – Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler herausstellte (Dudková 2010), existieren seit Neuestem dank der unermüdlichen Arbeit von Peter Drews (2007, 2011) umfassende Bibliographien von Übersetzungen aus dem Deutschen ins Tschechische. Eine ausführliche kultur-, literaturgeschichtliche oder translatologische Analyse ist bisher jedoch nicht vorgelegt worden. Zum Thema sind nur drei Übersichten zu erwähnen, und zwar von Veselý/Vízdalová (2002) und die eher beschreibenden Einführungen Drews’ bzw. die Analysen zu seinen Bibliographien (2007, 2011). Als Appendix zur tschechischen Übersetzung der Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen (2006) von Josef Mühlberger hat der Autor dieser Studie zusammen mit Veronika Dudková eine Übersicht über die Übersetzung deutschsprachiger AutorInnen aus den böhmischen Ländern zusammengestellt (Dudková/Petrbok 2006). Vgl. auch Hulanová (2001). Es existieren allerdings Einzelstudien zur Vermittlung der deutschsprachigen Literatur in den tschechischen Kontext. In diesem Zusammenhang sei auf die einzelnen Beiträge im Konferenzband Übersetzer zwischen den Kulturen. Der Prager Publizist Paul/Pavel Eisner (2011) oder im Ausstellungskatalog Praha – Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler (2010) verwiesen. Neuerdings legte Ines Koeltzsch (2012) eine komplexe Synthese der tschechisch-jüdisch-deutschen Kulturvermittlung in der Zwischenkriegszeit vor.

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kreten Fallbeispiele ließe sich im Anschluss an die inspirierende Fragestellung von Ines Koeltzsch (2011: 14-15) fragen:5 1. In welchen Zwischen- oder Spielräumen handelten diese kulturellen Vermittler? Mit welchen Persönlichkeiten inner- und außerhalb Prags entwickelten sie freundschaftliche Beziehungen? 2. Welchen Vermittlungsstrategien folgten sie? In welchen Zusammenhängen? Waren diese Strategien von der Zielgruppe und von den Zeitverhältnissen abhängig? 3. Ein weiterer Fragenkomplex hat mit dem politischen und kulturellen Kontext zu tun, wobei besonders das Handeln der Vermittler, ihre Möglichkeiten und Grenzen, ihre Einbeziehung in und ihr Ausschluss aus den jeweils relevanten Kontexten eine große Rolle spielen. 4. Auch ihre Selbstreflexion soll beobachtet werden, ihre Stellungnahmen zur eigenen Tätigkeit. Als Fallbeispiele für diese Studie konzentriere ich mich auf zwei Kreise, die sich dadurch auszeichnen, dass sie bei der Propagierung der deutschsprachigen Literatur in und aus den böhmischen Ländern auch eine politische Zielsetzung verfolgten. Es geht einerseits um die bisher wenig beachteten PublizistInnen und ÜbersetzerInnen im Umkreis der Realistischen Partei und andererseits um PublizistInnen, die der Sozialdemokratie nahe standen.6 Dabei sollen im Folgenden einige tschechische Übersetzungen in ihrem damaligen Kontext betrachtet werden, um so weitere Überlegungen zur deutsch-tschechischen Interaktionen auf dem Gebiet der Literatur in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anzustoßen.

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Zur Kulturtransferforschung siehe auch programmatisch Werner/Zimmermann (2002), dazu kritisch Gotter (2012); einen Überblick bietet Bachman-Medick (2006). Vgl. aber auch Koeltzsch (2011: Anm. 1).

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Ich bemühe mich dabei keinesfalls um Vollständigkeit. Weiter zu nennen wäre z. B. das Presseorgan der Česká strana státoprávně pokroková Samostatnost (hier war Viktor Dyk Redakteur, der regen Kontakt mit deutschsprachigen Schriftstellern, z. B. P. Leppin pflegte; hier wurden auch Werke von G. Meyrink oder H. Mann veröffentlicht), die ursprünglich alttschechische Zeitung Národní politika oder das »übernationale« Amtsblatt Pražský deník, herausgegeben von der Böhmischen Statthalterei.

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1. Ü BERSETZUNGSTÄTIGKEITEN IM U MFELD DER R EALISTISCHEN P ARTEI Die Presseorgane der PublizistInnen und ÜbersetzerInnen aus dem Umfeld der Realistischen Partei, der späteren Nationalen Fortschrittspartei, waren vor allem die Zeitung Čas, die Zeitschriften Besedy Času und Naše doba. Den Worten ihres Vorsitzenden Tomáš Garrigue Masaryk zufolge war die Realistische Partei »eine grundsätzliche, überjungtschechische Partei, die nicht nach dem Erfolg des Augenblicks trachtet und treu ein wirklich tschechisches Programm verfolgt« (»zásadovou nadmladočeskou stranou, která by nehleděla na okamžitý úspěch a věrně stála na svém programě skutečně českém«, Masaryk 1897: 640). Die Realistische Partei war neben der sozialdemokratischen die einzige tschechische Partei, die ihre Politik nicht auf die für die anderen Parteien zentrale Forderung nach Verwirklichung des böhmischen Staatsrechts gründete (Hoffmann 1988: 216). Die theoretischen Grundlagen dazu lieferte Masaryk schon in seinen Werken Česká otázka (1895, Die tschechische Frage) und Naše nynější krize (1896, Unsere derzeitige Krise). Es ist bekannt, mit welchen Mitteln er als Vertreter der Autonomie beider »Volksstämme« (»národní[…] kmen[y]«) sein Programm der nationalen Versöhnung proklamierte. In der Neujahrsnummer der Zeitung Čas 1910 hieß es: »Nic naplat – Němec je nám zeměpisně a je nám hospodářsky nejbližší, proto musíme na slušnou dohodu s ním stále pamatovat. Ta dohoda je náš nejbližší, je náš nejnutnější úkol.« (Masaryk 1910 – »Es nutzt nichts – der Deutsche ist uns geografisch und wirtschaftlich der allernächste, daher müssen wir stets an ein entsprechendes Übereinkommen mit ihm denken. Dieses Übereinkommen ist unsere nächste, ist unsere dringendste Aufgabe.«) Es überrascht also nicht, dass die Realisten sowohl das entsprechende Kulturschaffen als auch die Literatur zum Werkzeug ihrer aufklärerischen und kulturellen Arbeit machten. Unter den Kulturmittlern und Übersetzern, die zum Kreis der Realisten gezählt werden können, sind die Germanisten Arnošt Vilém Kraus und Jan Krejčí zu nennen. Das vielseitige und umfangreiche Werk des Ersteren ist bislang vor allem im Zusammenhang mit seiner pädagogischen und literaturhistorischen Tätigkeit an der Universität aufgearbeitet worden (vgl. Pokorná 2006, 2007), darüber hinausgehende Untersuchungen stehen jedoch noch aus. Kraus (1859-1943) gründete eine journalistische Plattform, die Zeitschrift Čechische Revue, in der auch Übersetzungen ihren Platz fanden (z. B. von Wenzel Ernst7, Zdena Hostinská8, Rudolf Illový oder

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Wenzel Karl Ernst (1830–1910) war deutschböhmischer Dichter, Prosaiker und Mittelschulpädagoge. Als politischer Gefangener verbrachte er die Jahre 1849-54 an mehreren Orten in Ungarn. Er übersetzte u.a. den tschechischen Teil der späteren offiziellen Version der tschechoslowakischen Hymne der Zeit von 1918-38.

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Otto Pick9). Jan Krejčí (1868-1942)10, später Germanist an der Brünner Universität, verfasste literaturhistorische Abhandlungen über Siegfried Kapper und folgte treu der tschechisch-jüdischen Interpretation Kappers als vorbehaltlosem Anhänger der Annäherung zwischen Tschechen und Juden (Krejčí 1911). Besonders interessant sind auch seine Studien über drei Schriftstellerinnen aus den böhmischen Ländern. Ihre belletristische Behandlung sozialer Themen (die eng mit ihrer mehrsprachigen Lebenswelt verbunden waren) sah Krejčí als Möglichkeit, gleichermaßen die Frauenemanzipation und den Pazifismus – beides Ziele der Realisten – zu unterstützen. Die ausführlichen Studien über die aus dem mährischen Zdislawitz/Zdislavice stammende und in Wien ansässige Marie von Ebner-Eschenbach (Krejčí 1901/02), die ursprünglich aus Prag stammende Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner (Krejčí 1904) und die ebenfalls aus Prag stammende Ossip Schubin (Krejčí 1907/08) wurden in der der Realistischen Partei nahe stehenden Zeitschrift Naše doba und der vom bürgerlichen Verein Ústřední spolek českých žen (Zentralverein der tschechischen Frauen) herausgegebenen Zeitschrift Ženský svět veröffentlicht.11 Alle drei Autorinnen waren bereits vorher auf eine gewisse Resonanz in tschechischen Literaturkreisen gestoßen, unter anderem im von den Realisten angefeindeten katholischen Milieu. Jetzt ging es darum, ihre Werke für die Zwecke der erstarkenden Frauenbewegung – und zwar in der antiklerikalen Bildungsintention der Realistischen Partei – zu gewinnen. Suttners Kampf gegen diejenigen, die die Kriege ausrufen und führen, interpretiert Krejčí als »Unglauben im Sinne der katholischen Dogmatik. Spinoza, Voltaire und Renan waren nicht ohne Einfluss auf sie. Atheistin ist sie aber nicht.« (»[nevíru] ve smyslu katolických dogmat. Spinoza, Voltaire i

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Zdena/Zdenka/Zdeňka Hostinská (1863-1942) war Ehefrau des tschechischen Ästhetikers Otakar Hostinský. Sie übersetzte aus dem Tschechischen ins Deutsche (Růžena Svobodová, für Ottos Slavische Romanbibliothek die Erzählungen von Josef Karel Šlejhar) sowie auch aus dem Deutschen ins Tschechische (Richard Dehmel, Richarda Huch, Thomas Mann, Friedrich Nietzsche, Clara Viebig).

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Pick informierte in dieser Zeit auch reziprok die tschechische Leserschaft über deutschsprachige Dichter in der Zeitschrift Přehled. Ebenso schrieb Camill Hoffmann etwas früher über deutschsprachige Dichtung in Lumír und Naše doba und über tschechische Literatur in Das Literarische Echo, Aus fremden Zungen usw.

10 Zu Krejčí etwa Munzar (2003). 11 Um die Erforschung und Übersetzung von B. v. Suttner und M. v. Ebner-Eschenbach machte sich auch Anna Řeháková (1850-1937) in Ženský svět verdient; sie widmete ihre Aufmerksamkeit daneben vor allem den sozialkritischen Erzählungen der österreichischen Schriftstellerin Ada Christen (Ze života, 1911 [Aus dem Leben]). Zu Řeháková vgl. Heczková (2008: 160–163). Ferner ist noch die Übersetzung des in Wien tätigen Journalisten und Privatgelehrten Josef Karásek (1868-1916) Božena (1896) zu erwähnen.

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Renan na její smýšlení náboženské nebyli bez vlivu. Ateistkou však není.«, Krejčí 1904: 47). Auch die von ihm ausgewählten Übersetzungen sollen diese – wenn auch strittige – Behauptung über ihren undogmatischen Glauben stützen. In derselben Nummer von Ženský svět erschien auch Suttners Erzählung Si vis pacem... über eine hedonistische, degenerierte und abergläubische Adelsfamilie in dem utopischen Land Hilariopolis (womit wohl die zeitgenössische österreichische Monarchie gemeint ist), die aus purer Dekadenz Streit mit ihren Nachbarn sucht (vgl. Suttnerová 1904). Ähnlich einseitig wird auch Adalbert Stifters Werk im tschechischen Umfeld rezipiert (Šmahelová 2007). Seine erste tschechische Buchveröffentlichung, die Erzählung Křišťál (Bergkristall), besorgte erst im Jahre 1906 der Mittelschullehrer und Übersetzer Jan Satranský (1863-1929) für die Reihe Žeň z literatur (Früchte der Literatur) des Verlages Jan Laichter, der ebenfalls den Realisten nahe stand. Dabei wurde besonders Stifters Fähigkeit zu »eindringlichen« Naturschilderungen hervorgehoben. Der tschechische Hintergrund wird bezeichnenderweise im Zusammenhang damit erwähnt, dass die Erzählung im Böhmerwald spielt, seien es doch »die besonders auch uns Tschechen lieben und teuren Wälder im Böhmerwald, deren Schönheit Stifter so unermüdlich in einigen seiner Erzählungen rühmte« (»jsou to zejména i nám Čechům milé a drahé lesy šumavské, jichž krásu Stifter tak neúnavně velebil v několika povídkách«, Satranský 1906: 76).12 Ein weiterer Kulturvermittler und Übersetzer war František Tichý alias Zdeněk Broman (1886–1968)13 aus dem mittelböhmischen Chyňava. Er war promovierter Bohemist, übersetzte aus mehreren Sprachen, schrieb Liebesgedichte und gab Unterrichtsmaterialien heraus. Er ist heute – wenn überhaupt – als Kenner der ruthenischen Sprache und Literatur bekannt. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehörte er aber zweifellos zu den produktivsten Übersetzern aus dem Deutschen. Und dabei veröffentlichte Broman in den Zeitschriften Besedy Času, Čas, Český svět, Rudé květy, Ženský obzor14 und Ženský svět nicht nur Übersetzungen der Stars der

12 Satranský redigierte auch die vom Ústřední spolek českých profesorů (Zentralverein der tschechischen Professoren) konzipierte Publikationsreihe Česká knihovna zábavy a poučení (Tschechische Unterhaltungs- und Lehrbibliothek) im Verlag Jan Otto und übersetzte u.a. Theodor Storms Schimmelreiter (Jezdec na bílém koni, 1906). 13 Zu Broman (= František J. Tichý) siehe Lexikon české literatury IV/1: 915-917. 14 Ženský obzor, herausgegeben von Jan und Anna Ziegloser, gehörte zu den prominenten Zeitschriften der »fortschrittlichen« Frauenbewegung; in ihr publizierte Broman Übersetzungen der Gedichte von Else Lasker-Schüler, Maria Stona und Rainer Maria Rilke. In Besedy Času (1914: 244-245, 248) wurden auch Übersetzungen der Gedichte von Maria

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deutschsprachigen Dichtung um 1900 wie Detlev von Liliencron, Otto Julius Bierbaum oder Richard Dehmel, sondern auch Übersetzungen von Dichtern aus den böhmischen Ländern, für die er eine Vorliebe hatte. Darunter sind Friedrich Adler, Jakob Julius David, Franz Karl Ginzkey, Rainer Maria Rilke, Richard Schaukal und immer wieder Hugo Salus. Eine Auswahl von Salus’ Erzählungen mit Prager Motiven, Pražské i jiné novely (1907) (Prager und andere Novellen), erschien in der Buchreihe Ottova světová knihovna (Ottos Weltbibliothek), und Christa, evangelium krásy (1906) (Christa. Ein Evangelium der Schönheit) wurde als bibliophile Ausgabe ausgestattet. Broman war mit Hugo Salus auch persönlich bekannt und bemühte sich, dessen Werk sowie noch unveröffentlichte Arbeiten anderer deutschsprachiger AutorInnen in tschechischen Kreisen bekannt zu machen (Broman 1910). Besonders lag ihm aber daran, das Interesse deutschsprachiger Schriftsteller für die tschechische Kultur und einige ihrer Vertreter (Antonín Dvořák, Max Švabinský, Jaroslav Vrchlický) darzustellen im Sinne einer Selbstbehauptung der tschechischen Kunst gegenüber den literarischen und kulturellen Kreisen des »Nachbarvolkes«. Dabei wollte er auf die »Ignoranz und Überheblichkeit« deutschböhmischer Politiker im Unterschied zu Salus aufmerksam machen, wie aus seinem Artikel Pražský básník německý a čeští umělci (Der Prager deutsche Dichter und die tschechischen Künstler, Broman 1916) ersichtlich ist, wo er mehrere tschechische Bekannte von Salus aufzählt und mit der Behauptung endet: »Osobnost i dílo Salusovo poskytlo by ještě hojnost podnětů jiných [...]. Než i tak jest s dostatek dosvědčena příchylnost německého básníka k české kultuře, jíž oplácí naše veřejnost upřímnou sympatií.« (»Die Persönlichkeit und das Werk von Salus würde noch weitere Beispiele dazu [...] leisten. Aber auch auf diese Art und Weise ist die Neigung des deutschen Künstlers zur tschechischen Kultur hinreichend bewiesen, die auch unsere Öffentlichkeit mit aufrichtiger Sympathie vergelten kann.«) Seinem Streben nach nationalem Ausgleich entsprechend wählte Broman für seine Übersetzungen gerade solche Werke, die böhmische oder mährische Landschaftsmotive und/oder Ereignisse aus der tschechischen Geschichte bzw. Kultur positiv darstellten. Dazu zählen Rilkes bekannte Gedichte »Volksweise« (das er unter dem Titel »Národní píseň« herausbrachte, womit die nationale Dimension betont wurde) und Kajetán Týl (über das auf der Tschechoslavischen Etnographischen Austellung in Prag 1895 ausgestellte Zimmer des bekannten Dramatikers und Autors des späteren tschechischen Hymnentextes), oder die Antonín Dvořák bzw. Jaroslav Vrchlický gewidmeten Gedichte Hugo Salus’ sowie dessen Erzählung

Stona mit einem kurzen Medaillon von B. Beneš [Bedřich Beneš Buchlovan?] veröffentlicht.

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Rukavička (Der Handschuh) über den Prager Maler Otakar Lebeda.15 Etwas zugespitzt gesagt zensierte Broman mit seiner Auswahl die übersetzten Autoren, da er absichtlich den größeren Teil ihrer Arbeiten, der nicht in direktem Zusammenhang mit böhmischen oder tschechischen Themen stand, vernachlässigte. Diese unter tschechischen ÜbersetzerInnen verbreitete Praxis kommentierte Max Brod in einem Brief an Otokar Theer bissig: »Bisher haben ja einige tschechische Blätter sehr nett über mich geschrieben, jedoch mehr vom ethnographischen Standpunkt als vom künstlerischen.«16 Da Bromans Übersetzungen mehrmals schlechte Kritiken erhielten, ist fraglich, in welchem Maße sie überhaupt eine größere Wirkung entfalten konnten. Der Realität entsprachen wohl eher die Ansichten von Jan Osten alias Ohrenstein (1871-1921), der unter anderem der erste tschechische Übersetzer von Max Brods Ein tschechisches Dienstmädchen (Česká služka, 1911) war. Osten schrieb: Jaký rozruch způsobí u nás, napíše-li nějaký poctivý německý autor několik slov zasloužené chvály o Praze neb o Čechách [...] Hermann Bahr, Rainer Maria Rilke, Max Brod, Hugo Salus budtež uvedeni namátkou. [...] Knihu básní Rilkeho neb Saluse čte – jako básně vůbec – snad v nejlepším případě pár set lidí. (Osten 1911:1) Welch ein Aufsehen löst es bei uns aus, wenn ein aufrichtiger deutscher Schriftsteller ein paar verdienstvolle Worte über Prag oder Böhmen in seinem literarischen Werk schreibt [...] Hermann Bahr, Rainer Maria Rilke, Max Brod, Hugo Salus seien nur zufällig angeführt. [...] Aber die Gedichtbände von Rilke oder Salus lesen – wie Gedichte überhaupt – vielleicht bestenfalls ein paar hundert Leute.17

15 Salus bedankte sich bei seinem Übersetzer, indem er ihm eines seiner Gedichte widmete. das Broman prompt (»aus der Handschrift«) übersetzte und veröffentlichen ließ (Broman 1926/27). Zu Salus und Vrchlický: Abret (1980). 16 Max Brod an Otokar Theer am 3. 7. 1909, abgedruckt in Džambo (2010: 97). 17 Nach Viktor Fischls Feststellung (1937) haben sich drei (!) Leser das Exemplar der tschechischen Auswahl von Gedichten Salus’ (Výbor z básní, 1918; übersetzt von Julius Alois Koráb) aus der Prager Stadtbücherei ausgeliehen. Zur Polemik über das Buch von Brod vgl. Vassogne (2009: 42-46), u.a. reagierte Růžena Jesenská, die Tante Milena Jesenskás, empört auf das Buch, da sie die tschechischen Frauen erniedrigt sah. Diese Kritik ist jedoch bis heute nur aus der Autobiographie von Brod (1969: 220) bekannt. Šrámková (2010: 308-310) sowie Vassogne (2010) führen überraschenderweise den Namen des Übersetzers nicht einmal an. Der Belletrist und Journalist K. M. Čapek Chod widmete Max Brod ironisch für Das tschechische Dienstmädchen seine Novelle Beethovenův večer (Der Abend von Beethoven, in: Máj 11, 1912/13).

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2. Ü BERSETZUNGSTÄTIGKEITEN IM U MFELD DER S OZIALDEMOKRATISCHEN P ARTEI Meine zweite Fallstudie gilt der Übersetzungs- und Vermittlertätigkeit von Publizisten aus sozialdemokratischen Kreisen in den Parteizeitungen Právo lidu und Večerník Práva lidu, in den Zeitschriften Akademie, Rudé květy, Dělnická osvěta, Nová doba, Dělnický kalendář Českoslovanské strany sociálnědemokratické v Rakousku, Svět, Věstník dělnické akademie und in der Kinderzeitschrift Jaro. Nach reichsdeutschem Muster definierte sich die sozialdemokratische Partei in Österreich lange Zeit als international, bedingt auch durch die Einbeziehung der so genannten »internationalen Sozialdemokraten nichtdeutscher Muttersprache«. Die unbedingte Versöhnlichkeit der sozialdemokratischen Partei in der Nationalitätenfrage wurde jedoch ab 1905 – häufig aus dem tschechischen Lager – in Frage gestellt. Daher gründete ein Teil der tschechischen Sozialdemokraten eine eigene Partei (Mommsen 1963: 188f.). Allerdings wurden aus der stärksten Tschechoslawischen sozialdemokratischen Partei auch weiterhin Versuche unternommen, die beiden Völker einander anzunähern. Durch die Kriegsbegeisterung der mehrheitlich deutschösterreichischen und jüdischen Sozialdemokraten in Österreich wurden die Beziehungen zu Beginn des Ersten Weltkriegs aber schwer belastet. In diesem Zusammenhang ist der Korrektor und Typograph František Holeček (1866-1938)18 zu nennen, Autor humoristisch-nostalgischer Prosawerke über das urwüchsige Prager Moldau-Viertel Podskal/Podskalí. Holeček hat sich besonders als Übersetzer der frühen Erzählungen von Gustav Meyrink einen Namen gemacht, die er vor der Veröffentlichung in Buchform in der Parteizeitung Právo lidu und ihrer Beilage Dělnická besídka abdrucken ließ. Holečeks zweibändige Auswahl aus Arbeiten Gustav Meyrinks (Výbor z prací Gustava Meyrinka) mit Texten aus Des Deutschen Spießers Wunderhorn, in dem Meyrink mit dem Spießbürgertum seiner Zeit abrechnet, und aus dem sozialkritischen Erzählungsband Der heiße Soldat und andere Geschichten, erschien 1910-11 in der Bücherreihe Lidová knihovna des sozialdemokratischen Verlages Zář. Es ist bezeichnend, dass Holeček Meyrinks spätere Erzählungen und Romane zu phantastisch-okkultistischer Thematik, zu übersinnlichen Phänomenen und zum metaphysischen Sinn der Existenz bei seiner Übersetzungstätigkeit nicht berücksichtigte. Sozialkritisches Engagement im Verein mit einer Vorliebe für das Prager historische Milieu und einem feinen Sinn für dessen naturalistisch-skurrile Beschreibung, wie sie auch für sein eigenes Schaffen charakteristisch war, fand Holeček im Werk Salomon Kohns, des Hauptvertreters jüdischer Erzählliteratur in deutscher Sprache. Unter dem Titel David Leb Magdeburger. Obrázek z poslední čtvrti osmnáctého věku (1908), ebenfalls in der Publika-

18 Zu Holeček vgl. Lexikon české literatury II/2: 236-237.

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tionsreihe Lidová knihovna (Volksbibliothek), veröffentlichte Holeček seine Übersetzungen in Auszügen aus Kohns Sammlung Prager Ghettobilder (1884). Holeček verdient auch Erwähnung als Übersetzer der Novellen Heinrich Manns ins Tschechische (Pippo Spano a jiné novely, 1915)19, und zwar in der bereits erwähnten bekannten Reihe Světová knihovna, die der Verleger Jan Otto in Nachahmung der Reclam Universal-Bibliothek herausgab. Ein weiterer Mittler zwischen der deutschsprachigen und tschechischen Kultur war der aus Zasmuk/Zásmuky bei Kaurzim/Kouřim stammende Rudolf Illový (1881-1943),20 ein tschechischsprachiger jüdischer Schriftsteller. Er besuchte dieselbe Klasse wie Franz Kafka im deutschen humanistischen Gymnasium in der Prager Altstadt, verließ es jedoch schon 1898 aus finanziellen Gründen und arbeitete als Beamter der Prager Filial Eskompt Bank. Illový ist Autor zweier Gedichtbände, in denen er das Thema der individuellen Revolte und vereinzelt auch des jüdischen Schicksals mit den sozialen und historischen Themen der Freidenker- und Arbeiterbewegung verbindet. Gegen den damaligen Antiklerikalismus setzt er in pantheistischer Tradition Gott und Natur gleich. Er ist auch als Übersetzer von Gedichten Heinrich Heines, John H. Mackays, Ludwig Thomas’, Detlev von Liliencrons oder Richard Dehmels bekannt. Durch seine umfangreiche Sammlung Československá poesie sociální (Tschechoslowakische soziale Dichtung, 1925) und den in ihr vertretenen Begriff sozialer Poesie ließ sich Franz Carl Weiskopf bei der Zusammenstellung seines Gedichtbandes Es geht eine Trommel (1923) und bei der Veröffentlichung der Übersetzungen Das Herz – ein Schild: Lyrik der Tschechen und Slowaken (1937) inspirieren (Václavek 1968: 9). In Illovýs spätere, 1935-37 herausgegebene zweibändige Anthologie mit Arbeiterdichtung Pochodně (Fackeln) wurden auch mehrere deutschsprachige Autoren einbezogen. Bei seiner Auswahl – z.B. Richard Dehmel, Georg Herwegh, Erich Mühsam oder Ernst Toller – ließ er sich von der Sammlung Franz Diederichs (Von unten auf, 1911, 1920, 1928) inspirieren.21 Bei Illový diente die Einbeziehung von Übersetzungen aus dem Deutschen

19 Karel Sezima begrüßte die Übersetzung als das Werk eines »Schriftstellers wirklich Flaubert’scher Kultur« (»spisovatele kultury vysloveně Flaubertovské« Sezima 1915: 384), wobei dieser Vergleich mit dem französischen Schriftsteller mit deutlich positiver Konnotation gerade in der Kriegszeit geführt wurde. Heinrich Mann war mit seinem antimilitaristischen Engagement in tschechischen Kreisen sehr berühmt; er hielt sogar einen Vortrag über Emile Zola in Prag, von dem Macek in Právo lidu am 13.1.1916 berichtete. Zu seiner Popularität trugen auch seine familiären Kontakte bei, er heiratete 1914 die aus einer jüdischen Familie stammende tschechische Schauspielerin Marie (Mimi) Kanová. 20 Zu Illový vgl. Lexikon české literatury II/1: 425-426. 21 Ähnliche Integrationsversuche findet man auch vereinzelt bei Friedrich Adler, der seine Gedichtsammlung Neue Gedichte (1893) mit einigen seiner Übersetzungen Jaroslav

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dazu, eine emotionale Wirkung zu entfalten und den propagandistischen Effekt der »Klage- und Armutsbilder« (»obrazy žalu a bídy«), so der Untertitel der Anthologie, zu verstärken. Die keinesfalls übliche Aufnahme deutschsprachiger Schriftsteller zeugt nicht nur von den aufklärerischen Absichten des Herausgebers und von dem so oft beschworenen Internationalismus der »Arbeiterklasse«, sondern auch – und vor allem – von einer guten Kenntnis der Nachbarkultur und einer großen Offenheit ihr gegenüber. Diese Tendenz ist auch in Illovýs literaturkritischer Tätigkeit in Rudé květy, Právo lidu, Svět u. a. zu erkennen. Hier macht er die tschechischen Leser mit Werken der Prager deutschsprachigen Schriftsteller bekannt und informiert über die Prager Theatervorstellungen des Vereins deutscher Arbeiter.22 Es überrascht nicht, dass Illový auch aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzte, und zwar die antiklerikalen satirischen Gedichte Tyrolské elegie Karel Havlíčeks, die er in der Čechischen Revue 1907 (Illový 1907) veröffentlichte. Seine Frau Milena (1888-1944), die sich in mehreren sozialdemokratischen Presseorganen für Frauenrechte einsetzte, übersetzte unter anderem einen Text Kafkas ins Tschechische, und zwar die Erzählung »Vor dem Gesetz« aus der Sammlung Der Landarzt unter dem Titel »Před zákonem« (Illová 1920).23 Kafka, der davon erst im Nachhinein erfuhr, drückte in einem Brief an Milena Jesenská vom 22. Oktober 1920 sein Bedauern über »eine kleine Einmischung in unsere Angelegenheiten« aus, die er nicht habe verhindern können.24

Vrchlickýs und Antonín Klášterskýs ergänzte (Petrbok 2010: 81f.), oder bei Alfred Guth und Josef Adolf Bondy, die in die zweibändige Anthologie Moderne Dichtung (1897) auch Übersetzungen von Gedichten Otokar Březinas, Jiří Karáseks, Josef Svatopluk Machars, Antonín Sovas und Jaroslav Vrchlickýs aufnahmen (vgl. Topor 2012). Mit der Aufnahme von Gedichten Vrchlickýs, die dem angestrebten poetologischen Muster folgen, das er bei den französischen Parnassisten und Symbolisten erlernt hatte, suchten die Vertreter der Bewegung des »Jungen Prag« auch ihre eigenen poetischen Versuche zu rechtfertigen. 22 Hier wäre auch die Tätigkeit von Jan Emil Šlechta zu erwähnen (1859-1911). Er war sozialdemokratischer Publizist, Dramatiker, Dichter und Übersetzer (u.a. von Marie Ebner Eschenbachs Tři novely [Drei Novellen], 1907; von Nevěrec? [Glaubenslos?], 1908; von Anton Ohorns antiklerikalem Hockenwanzel als Povídka o Hokevendovi, 1908). Zu Šlechta vgl. Lexikon české literatury IV (2008: 656-657). 23 Später übersetzte Illová auch den Roman Vítek (1926 [Witiko]) von Adalbert Stifter. 24 »Den beiliegenden Brief von Illový bekam ich heute Freitag, an und für sich ist es sehr belanglos, aber doch in gewissem Sinn eine kleine Einmischung in unsere Angelegenheiten und deshalb hätte ich es verhindert, wenn ich es früher erfahren hätte (Illový, ein übertrieben bescheidener, stiller Mensch – ›i ten malý Illový (sogar der kleine Illový)‹

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Der dritte Autor aus dem sozialdemokratischen Umfeld, der hier betrachtet werden soll, Antonín Macek (1872-1923),25 war mehr als 20 Jahre in der Verwaltung der Parteizeitung Právo lidu beschäftigt. Er gab sowohl die schon erwähnte Zeitung Rudé květy (in der Kriegszeit in Svět umbenannt), wie auch die Buchreihe Lidová knihovna und die Kinderzeitschrift Jaro heraus. Er übersetzte den damals sehr populären autobiographischen Bildungsroman Lebensgang eines deutschtschechischen Handarbeiters (1909) von Wenzel/Václav Holek26, den Roman Republikáni: Román ze života Indiánů (Der Legitime und die Republikaner, 1917) des österreichisch-mährischen Freidenkers Charles Sealsfield alias Karl Postl sowie den Roman V zemi všehojnosti (Im Schlaraffenland. Ein Roman unter freien Leuten) von Heinrich Mann, der als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Zář erschien. Darüber hinaus übertrug er Gedichte Walter Klemms, Erich Mühsams und Johannes Urzidils, sowie Erzählungen des früh verstorbenen expressionistischen Lyrikers und Erzählers deutschmährischer Herkunft Karl Brand ins Tschechische. Ihm widmete Macek schon früh einen Artikel im Prager Tagblatt (Macek 1916) und übersetzte zwei seiner Erzählungen (Macek 1916/17a, Macek 1916/17b). Die Idee, dass Kunst und kulturelle Bildung den Weg in das alltägliche Leben eines arbeitenden Menschen finden sollten, um es zu vertiefen und zu veredeln, verband Macek mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und der Kritik an der Kommerzialisierung der Welt und entwarf eine beinahe religiöse Vision einer neuen sozialistischen Gesellschaft, in der es zur geistigen und ethischen Erneuerung des menschlichen Geschlechts kommen werde. In diesem Zusammenhang suchte er entsprechende Texte auch unter den deutschsprachigen Autoren der böhmischen Länder. Bekannt ist seine Auswahl aus Kischs Kurzprosa, die zuerst 1913-14 in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften und dann in drei kleinen Bändchen unter den Namen Pražské obrázky (1913), Temnou Prahou (1914) und Zapovězené lokály a jiné povídky (1914) erschien. Dabei sparte er Kischs antitschechische Skizze »Alt-Prager Mensurlokal« aus und pries Kisch überspitzt als »Sozialironiker aus tiefer Kenntnis menschlicher Not, aus Kenntnis des gewaltigen Übels des Klassenstaates« (»sociálním ironikem z hlubokého poznání lidské bídy, z poznání nesmírného zla třídního státu«, Macek 1914: 3). Wie Josef Poláček festgestellt hat, wehrte sich

stand letzthin im Červen – als die Juden der Rechtspartei aufgezählt wurden – war mein Mitschüler in paar Gymnasialklassen, seit vielen Jahren habe ich nicht mit ihm gesprochen und dieses ist der erste Brief, den ich Jemals von ihm bekommen habe.« (Kafka 1983: 284f.) 25 Zu Macek vgl. Lexikon české literatury III/1:14-17. 26 Macek (1910/11). Es gibt noch eine anonyme Übersetzung, erschienen als Romanbeilage von Dělnické listy in Wien 1911 und einen gekürzten Auszug (Besedy Času 1910) von J. Kudela.

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Kisch mit folgenden Worten rückblickend und selbstironisch gegen diese Charakterisierung: Hatte mich Paul Wiegler zum Feuilletonisten gemacht, so stempelte mich Antonín Macek zu etwas, was ich nie angestrebt und nie zu sein geglaubt hatte: zu einem Sozialisten... In der Einleitung zum ersten Band nannte er mein Genre Sozialironie [...] Hielt ich das schon damals für eine freundschaftlich gemeinte Unrichtigkeit, so halte ich das heute noch viel mehr dafür. Sehr, sehr weit war ich damals vom Sozialismus! Richtig war nur, daß mich das Leben des Bürgertums in keiner seiner Äußerungen interessierte, mondäne Stoffe niemals die meinigen waren. (Kisch zit. nach Poláček 1967: 284, 289)

Wie das Beispiel Kisch, so lassen auch die anderen hier sondierten Fälle erkennen, wie kompliziert die Wege und Strategien übersetzerischer Vermittlungsversuche aus dem Deutschen ins Tschechische in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren und wie sie noch dadurch verkompliziert wurden, dass es sich um deutschsprachige Literatur aus den Gebieten Böhmens und Mährens handelte. Denn diese Vermittlungsversuche entfalteten sich in der gesellschaftlich und politisch schwierigen Situation gegenseitigen nationalen Widerstreits. Auch wenn sich bei der Analyse der einzelnen Beispiele sicherlich eine gewisse Ambivalenz feststellen lässt (die thematische Reduktion der übersetzten Werke, die persönlichen Interessen der Übersetzer oder häufig die einseitige politische Instrumentalisierung der Übersetzungen), stellen sie doch ein – immer noch kaum untersuchtes – Moment der wechselseitigen kulturellen Beziehungen dar. Die Frage, inwieweit diese Versuche einer kulturellen Annäherung erfolgreich waren bzw. wie sie sich (auf institutioneller und persönlicher Ebene) weiter entwickelten, bleibt allerdings weiterhin offen.

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Translator’s Visibility Paul/Pavel Eisner’s Translation of The Trial V ERONIKA T UCKEROVÁ 1

Kafka’s The Trial was published for the first time in Czech in 1958 in Prague, in a translation by Kafka’s Prague contemporary, Paul/Pavel Eisner (1889-1958). The year seems both late and early: late, thirty years after the publication of the original German edition, or early, five years before Kafka was publicly discussed for the first time in Communist Eastern Europe at the 1963 conference in Liblice that has been celebrated as marking the »rehabilitation« of Kafka in the Soviet bloc.2 The history of Eisner’s translation of The Trial provides a key for considering and comprehending the discontinuous reception of Kafka’s work in Czechoslovakia. I focus on three distinct moments: Eisner’s late 1920s interest in Kafka at the time when the author was not well known; the period of the Second World War, which Eisner spent in Prague, partly in hiding, when he apparently translated The Trial, and 1958, when the novel was published in Czech. This article examines Eisner’s translation of The Trial as a specific case of mediation, and the intervention that a translation makes in a new linguistic context. Eisner’s translation of The Trial (unlike translations of the novel to other languages) has not been a subject of critical scrutiny. This is particularly striking if we consider the importance of the novel in Czech culture. I examine the translation in the context of Eisner’s essays about Kafka and his own ideas about bilingualism, 1930s German-to-Czech-translation discourse, and against the background of contemporary translation theory. Eisner’s perceived access 1

All translations are mine, unless otherwise indicated.

2

Kafka, although not a published writer after 1948, has always been present, marginally, among the readers who knew his work from few older editions, such as that of 1935 translation of The Castle. On the 1963 Liblice conference, see for example Marek Nekula’s critical article (2014).

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to Kafka’s world generated both his theory of »triple ghetto« (describing the conditions and language of the German Jewish writers in Prague) and shaped his translation of the novel. I attempt to trace how Eisner’s linguistic self-identity influenced his theorization of Kafka and how it affected his translation. Eisner’s complex grappling with his linguistic, as well as ethnic, national, and religious identity is relevant for contemporary theoretical discussions that attempt to re-contextualize Kafka, to anchor him in the multi-lingual, multi-ethnic context of the late Austro-Hungarian and early Czechoslovak context (Spector 2000; Binder 2000). Eisner’s embrace of his »two mother tongues,« is reflected in his translations and emblematic of the linguistic and national tensions of Kafka and Eisner’s times. If we agree with Yasemin Yildiz’s claim that Kafka was »uncomfortably positioned within the [monolingual] paradigm,« which the German tradition helped to establish (Yildiz 2012: 5), then the scrutiny of Eisner, and his ideas about bilingualism become particularly timely. This article engages with the question of Eisner’s role as a mediator, as Kafka’s »literary advocate« or »proxy.«3 Although a central figure of translation and mediation from Czech to German and vice versa, Eisner has so far received merely marginal attention in contemporary scholarship that is skewed towards translators from Czech to German (e.g. Spector 2000). To examine Eisner as a translator implies a shift to discussing translation in the opposite direction, from German to Czech. What was at stake in such activity? What did Eisner (and his peers such as Otokar Fischer) try to achieve through their translation? How was their project different from that of Max Brod, Otto Pick and Rudolf Fuchs, who enabled German speakers to get acquainted with modernist authors such as Jaroslav Hašek and Leoš Janáček? At the time of Eisner’s initial intention of translating The Trial into Czech in the late 1920s, the non-existent »Czechoslovak language« was the official language of the recently founded Czechoslovakia (1918). Czech, Slovak, German, and Hungarian were used in the new country. Eisner’s move from being a translator from Czech to being a translator to Czech, around 1930, cannot be viewed merely as an identity shift. I consider it as Eisner’s response to what he called the »triple ghetto« of Kafka’s Prague environment and as his enactment of »symbiosis,« which Eisner proposed as a »way out« of the »ghetto.« Eisner’s shift towards Czech, as well as his preference in his Trial translation of etymologically Slavic words over cognates, can be seen as a way out of the ghetto, as a motion towards symbiosis. Spector argued that rather than reconciling contradictions of languages and identities, Prague’s Czech-to-German-translators created a »middle nation« which they desired to inhabit as a space of their own. I argue that similarly, the translators from German to Czech such as Eisner or Fischer also engaged in creation of an alternative to nationalism, but were more liberal than their colleagues in embracing bilingualism, 3

Term used for example by Doreen Densky (2011).

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allowing for coexistence of »two mother tongues« as a »way out.« Rather than living in their own »national« space, Eisner tried to live in both – or several – spaces, including the symbiotic or bilingual space of his own making. Deleuze and Guattari viewed Kafka as the embodiment of deterritorialized minor literature, written in a »deterritorialized language,« Prague German. Rather than a literature of a small nation, minor literature is a form of expression, a subversion of a language by a minority use or utilization (Deleuze/Guattari 1986: 16). Perceptions of Kafka’s position in Prague can be seen through the movements of de-territorialization and re-territorialization, as assigning Kafka clear identity, for example through language, or seeing him as de-territorialized. Attempts in the 1960s by Czech reformed Marxists to »bring Kafka back to Prague«4 via assigning him Czech identity (arguing that Kafka possessed a perfect command of Czech, the request by the influential figures such as the Austrian Marxist Ernst Fischer to grant Kafka »permanent Czech visa«) can be seen as such re-territorialization. Eisner, writing earlier, was not yielding to such facile solutions when he interpreted Kafka from his unique environment, the triple ghetto. He did not strive to re-territorialize Kafka in the exclusively Czech environment, aware that a clear shift to monolingualism was not a solution. Eisner’s translation of Kafka corresponds to his understanding of »Prague,« but is also an imprint of Eisner’s own predicament. His Trial displays two contradictory tendencies: on the one hand, conscious distancing of Czech from German through the choice of expressive language (his conscious use of words of Slavic origin), and on the other, formal, syntactic closeness to the original, and stylistic interferences of German in Czech. We can also understand Eisner’s bold lexical choices of Slavic words as illustrating an attempt at creating a Czech or Slavic Kafka, »more Czech« than Kafka’s text demands, as well as his own passion for Czech language and literature. The particular moment of Eisner’s translation – i.e. the extreme national animosities during the Nazi occupation – is important if we want to understand Eisner’s linguistic strategies. Eisner wrote several books about Czech language and etymology during the war. His translation of Kafka to Czech can be viewed as giving the Czechs the important Prague author in a language different from the politically fraught/corrupted German of the Nazi times. In that respect, Eisner »domesticated« (Venuti 1994) Kafka in the Czech environment. But the same tendency to emphasize Czech, in the context of the Nazi occupation, his choice of some particularly »Czech« words over readily available cognates, can be read as »foreignizing,« as subversive, distancing Kafka from German further than necessary, de-emphasizing the German compound of his complex identity.

4

E.g. Eduard Goldstücker and Ernst Fischer in their papers at the 1963 Liblice conference (Goldstücker 1963).

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E ISNER ’ S »T RIPLE G HETTO «

AND

B ILINGUALISM

In contemporary scholarship, Eisner is valued as a mediator and translator (Grenzgänger, Vermittler, Übersetzer), along with Max Brod, Otto Pick and Rudolf Fuchs (Koeltzsch 2009). The growing interest in these figures formerly considered marginal is manifest in discussions of their role in the times of »intolerant nationalism« (Koeltzsch 2009; Spector 2000; Kieval 2005). Josef Mühlberger in his Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900-1939, paid translators and mediators such as Eisner scanty attention (Mühlberger 1981).5 Ladislav Nezdařil positioned Eisner’s translations above his writings, whether they concerned literary history, the Czech language, or his own poetry. Without Eisner, explains Nezdařil, authors such as Alfred Döblin, Adalbert Stifter, Rainer Maria Rilke, Heinrich Mann, and most importantly Thomas Mann and Franz Kafka, would not have been accessible to Czechs who do not read German (Nezdařil 1985: 246). Despite the contemporary growing interest in Eisner, his translations were examined very sporadically. Although critical opinions of them (often dismissive when they relate to Kafka) abound among Czech scholars and intellectuals,6 just a handful of critical texts were published on the topic.7 None of them examines his translations of Franz Kafka and Thomas Mann, two authors who stand out in his translation oeuvre. German-to-Czech-translation, in general, has not been subject to much scrutiny. Scott Spector examined Czech-to-German-translation. In reference to Deleuze and Guattari, he characterized the German Jewish inhabitants of Prague as a »deterritorialized nonnation« (Spector 2000: 201). Spector argued that in times when everyone felt the need of belonging to one nation, mediators such as Rudolf Fuchs, Otto Pick and Max Brod, also attempted to carve out a territory for themselves that they could occupy as »national poets.« Spector hardly discussed the work of Paul Eisner whom he called the »brilliant German-Czech ›hermaphrodite,‹« nor did he mention him in his chapter on mediators between the German and Czech cultures.8

5

Mühlberger’s book is interesting today for its contemporary perspective: Mühlberger devoted more space to the German nationalistic prose writer E. G. Kolbenheyer (1878-1962) than to Kafka.

6

For example my interviews with the Czech philosopher and Kafka scholar Ivan Dubský and the poet Zbyněk Hejda.

7

Petr Kučera (2009) examined Eisner’s translation of Rilke, Jaromír Povejšil (1992) his translation of Der Ackermann aus Böhmen, Ladislav Nezdařil (1985: 244) gave a more general evaluation of Eisner in his book on Czech poetry in German translations.

8

Spector (2000: 175) briefly discusses Eisner’s ideas about the issues of nationality and eroticism.

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There is a reason for Spector’s fleeting engagement with Eisner. In his chapter on translators and mediators, he focused on translation from Czech to German (Max Brod, Rudolf Fuchs) and interpreted it as a way of gaining a new territory for Czech cultural figures such as Hašek or Janáček. Eisner’s main contribution lies in the opposite direction, in translation from German to Czech. Translation from German to Czech cannot be seen exclusively as an attempt to gain a new territory for German literature, simply because of the asymmetry between the Czech and German culture. Czech, in this context, seems to be destined to remain »minor«: translation of German authors into the »minor« Czech language were seen as reinvigorating Czech language and culture, still in the 1920s-1930s, while the translations of Hašek into German were viewed as a major contribution to world literature. Spector conceptualized Czech-to-German-mediators as creating a »middle nation.« In a later article, he distinguished this »middle nation« from »marginality« and »hybridity,« associated with postcolonial theory and describing »the ambivalent effects of the identities produced by the colonial processes« (Spector 2006: 45f.). Terms such as hybridity and marginality are mostly used to describe the postcolonial conditon in developing countries, although ironically, as Spector points out, Homi Bhabha’s model was that of Jews in the Habsburg monarchy. Spector notes that Bhabha conceived of the terms differently from how they were later applied. Bhabha refers to hybridity as either a process or a sign of processes of domination and resistance. It is specifically not ›a third term that resolves the tension between two cultures,‹ a description in which we more than faintly recognize the image many have painted of certain groups of Habsburg Jews in the period of nationalist conflict, such as the German-speaking Jews of Prague. (Spector 2006: 46)

The Habsburg Jews, according to Spector, cannot be seen as striving for a resolution of tensions between two cultures, of reconciling contradictions: rather than ›hybrids,‹ these particular Central European Jews could be conceived as a ›middle nation‹ (from Mitteleuropa): their poetry was a new sort of ›national literature,‹ grounding an alternative to ›nations‹ in the ordinary sense of the word. […] such a literature was not a ›Jewish literature,‹ and that such a nation – ›Middle Nation‹ – was not Zion. It functioned, so my argument goes, as an alternative – and, yes, a subversive one – to the ideological complex binding essential peoples to eternal literatures and sovereign territories. (Spector 2006: 52)

I agree with Spector’s reservations about the applicability of the terms »marginality« and »cultural hybridity« to characterize the Jews in the Habsburg monarchy. As Spector notes, historical qualifications are necessary. In the 1880s Prague, Jews were comfortable in their German or »dual« (Czech-Jewish) identity, but for Kafka’s peers (born in the 1880s) when German liberalism was challenged both by the Czech

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national movement and German nationalism, the situation was different; they sensed the »unstable, tenuous, peripheral state of their condition« (Spector 2006: 47). Their identities were complex: they were a Jewish minority, but attached to the German language and its culture, which was still the language of the monarchy, while the Czechs were gaining their independence. Eisner’s linguistic position differed from that of Kafka’s more famous proxy, Max Brod (as well as from that of Kafka himself). Eisner was born in a Prague German Jewish family, where both Czech and German were spoken.9 His parents moved from a mostly Czech area in Central Bohemia to Prague to look for better economic opportunities, like Hermann Kafka. According to Petrbok, as it was common for Jews living in the Czech environment, they had command both of German and Czech, but their mother tongue was German.10 The children spoke Czech with their maids. (A situation similar to that of other Prague German Jewish families such as Kafka’s.) However, unlike Kafka, Eisner’s education was both in Czech, at a Gymnasium11 and German, at Prague’s German University.12 Petrbok suggests that the choice of Czech schools (elementary and Gymnasium) was a result of the worsening financial situation of Eisner’s father, but his choice of Czech schools at the time of peaking Czech anti-Semitism also attests to the father’s loyalty to the Czech linguistic milieu (Petrbok 2009: 288-289). Eisner’s high school experience was therefore very different from that of Kafka and his circle. Unlike Prague’s German schools where the number of Jewish students equaled the number of non-Jews, or even made up the majority, Eisner’s Czech school was attended by nationalistically-oriented middle and lower classes, and anti-Semitism was present. Binder notes that Eisner was in the position of an outsider with correspondingly stigmatizing experiences (Binder 2000: 66). Eisner translated from Czech to German and from nine languages to Czech, and authored many essays, anthologies, and newspaper articles.13 In addition to his day

9

See the introduction to Eisner (1974) by Eisner’s daughter Dagmar Eisnerová. She was an exile in Switzerland. A newer Czech edition of the book (Eisner 1997) reprinted Eisnerová’s text as an afterword.

10 Petrbok (2009) reprints Eisner’s 1946 letter to the Czech critic Václav Černý, in which Eisner describes the linguistic situation in his family. 11 Česká reálka pražská in Ječná street. After 1850, it was one of the first schools in AustriaHungary with Czech as the language of instruction. 12 In addition to indicated sources, this short biographical portrait of Eisner rests on articles by Kurt Krolop (2007) and Hartmut Binder (2000), as well as biographical material contained in Eisner’s collection in the Literární archiv Památníku národního písemnictví v Praze (Fond Pavel Eisner). 13 Until the late 1920s, Eisner translated Czech poetry into German and edited and contributed to anthologies of Czech literature in German (e.g. he edited an anthology Tschechische

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job as the head of the translation department at the Bohemian Chamber of Commerce,14 he was a writer and external editor of the Prager Presse, a German newspaper founded after Czechoslovakia’s independence in 1918. His former colleague from the paper, František Kubka (1894-1969) offers glimpses into Eisner’s everyday life. He provides a first hand testimony to Eisner’s love for reading and music, but also about his hearing and visual disabilities:15 Už v mládí byl P. E. krátkozraký a skoro hluchý. Skrýval to druhým i sobě, protože neměl humor. Krátkozraké oči však četly a četly. Knihy byly jeho světem. Hluchý slyšel podle svého zvuk jejich slov a vytvářel si o tom své teorie, duchaplné a vzrušené. Měl své představy o verši, o próze a o hudbě. Chodil na koncerty a rozuměl podle svého Beethovenovi, Smetanovi a Janáčkovi. Miloval češtinu. (Kubka 1959: 109) Already in his youth P. E. was shortsighted and almost deaf. He was hiding it from others as well as from himself because he lacked humor. But the shortsighted eyes read incessantly. Books were his world. The deaf heard the sound of their words and he developed his own theories, witty and exalted. He had his notions about verse, prose and music. He went to concerts and in his own way understood Beethoven, Smetana and Janáček. He loved Czech.

Despite criticism, Eisner’s »triple ghetto« theory still exerts influence on contemporary thinking about Kafka’s Prague (e.g. through the concept of »minor literature« of Deleuze and Guattari).16 Eisner’s thesis remained strikingly unaltered from 1920s to 1958. It was at length articulated in his essay, »Franz Kafka a Praha», which was published in Kritický měsíčník in 1948.17 Eisner criticized the speculative nature of interpretations of Kafka both by foreign and Prague critics and claimed that they all seem to »hang in the air« (»visí ve vzduchu«). Kafka, argues Eisner in the

Anthologie. Vrchlický, Sova, Březina, 1917, for Hugo von Hofmannsthal’s series Österreichische Bibliothek). He also edited anthologies of Slavic folk songs and the 1928 collection Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten, dedicated to Hugo von Hofmannsthal (Krolop 2007: 8f.). 14 Böhmische Handels- und Gewerbekammer, from 1914 until his forced retirement in 1939. 15 Daniel Řehák alerted me to this source. 16 There are striking similarities between Eisner and the work of Deleuze and Guattari. One way of explaining them is to consider the common source, Wagenbach’s book about Kafka’s early years (Wagenbach 1958, 1989). For further analysis, see Thirouin 2014, Tuckerová 2017. 17 It is one of Eisner’s two best-known essays on the topic. It was published in English translation as a book with the same title in 1950 in New York. The second one appeared in 1957 in the journal Světová literatura (World Literature).

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version of his essay that appeared (with some changes) in English in 1950, is »explicable only in terms of his Prague, and thus only by means of an intimate knowledge of circumstances which are unique and will never recur again.« (Eisner 1950: 6; »Franze Kafku lze vyložit jen z Prahy«, Eisner 1948: 66 – »Franz Kafka can be explained only from Prague.«) Eisner implicitly claimed to have had access to Kafka’s world, and based his triple ghetto theory on this perceived access. Eisner described the situation of Prague German Jewish writers as follows: Tak žil pražský německý žid životem »jako by«, životem ve vzduchoprázdném prostoru. Byl »Němec«, ale kolem něho a za ním nebylo německého lidu, přirozeně členěné národní společnosti. S židovstvím souvisel ponejvíce už jen vnějšně […] pro českou Prahu však byl žid cizím tělesem hned v dosahu trojím: jakožto žid, tedy vyznáním a pokrevní nesmíšeností; jakožto zpravidla zámožný, často bohatý měšťák v hemživém davu proletářů a maloměšťáků; a za třetí, jakožto Němec. Neřekl bych, že pražský německý žid byl u Čechů v nenávisti; ale není divu, že český pohled na něho byl pohled kosý. Vždyť byl ztělesněním nadobro cizího principu životního. (Eisner 1948: 71)18 And so the Prague German lived ›as if‹ existence in air-tight space. He was ›German,‹ but around him there were no German people, no naturally constituted national community, and he rejected the provinciality of the ›Sudetengau‹ just as much as it rejected him. […] But in the eyes of the Czechs, the German Jew was a stranger in three senses: as a Jew, either owing to creed or to unmixed blood; as a generally comfortable, prosperous and, often enough, rich citizen, in the midst of a crowd of proletarians and small bourgeois; and thirdly, as a ›German.‹ No wonder the glance the Czechs cast on Prague German Jews was askance. For the Prague German Jew was precisely the embodiment of a completely foreign way of life. (Eisner 1950: 35-36)

The Prague German Jewish authors of the generation up to the outbreak of the First World War lived, according to him, in a triple ghetto, i.e. in a state of religious, national, and social isolation (Eisner 1950: 21). This »triple ghetto« formed the work of writers such as Kafka. 18 A literal translation of this passage would read: »So the Prague German Jew lived a life ›as if‹, he lived as if in an empty space. He was a ›German,‹ but around him and behind him there was no German people, a naturally composed national society. To Jewishness he connected merely externally [...] for the Czech Prague, however, a Jew was an alien body in a triple way: as a Jew, due to his confession and different blood; as a usually wealthy, often rich bourgeois in a multifold crowd of the proletariat and the small bourgeoisie; and thirdly, as a German. I wouldn't say that Czechs regarded the Prague German Jew with hatred; but there is no wonder that the Czech view of him was askance. He was the embodiment of an entirely alien life principle.«

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Significantly, Eisner describes German Jews from a Czech perspective (»český pohled na něho«). This grounded perspective is usually ignored in discussions of Eisner’s concept of ghetto; the focus is simply on the »ghetto,« »insularity« of the Prague German Jewish community, an »island,« on the separation from German territories and on the poverty of the Prague German language as if Eisner had the privileged view of an ultimate outsider, an objective view from nowhere. But there is no such view. Eisner assigned this perspective to the Czechs, but it might also reveal the perspective of Eisner as a self-perceived Czech who does not belong to the »ghetto« community. If read carefully, Eisner’s 1948/1950 essay reveals his »double« or »triple« identity: as a Czech German Jew (he converted to Protestantism in 1919), or Czech Jew with German as his mother tongue, he perceived the insularity, but was also able to »step out« from that environment and glance at it from the outside as a »Czech.« Eisner was acutely aware of his position as someone living in both German and Czech worlds (if they can be viewed as separate), or rather in neither of them fully. Complementary to Eisner’s idea of ghetto is his biologistic notion of symbiosis, which he envisioned as a way to overcome the ghetto. At the beginning of his 1930 book, Milenky (Lovers), Eisner states: »Údělem této země je symbiosa.« (Eisner 1992: 11 –»The fate of this country is symbiosis.«) This is a normative and declarative rather than descriptive statement: he is aware that neither Czech nor German literature provides any evidence of this symbiosis. Czech authors yield a schematic image of Germans, and vice versa. Both literatures »disliked the inherited strangeness, traditional unfamiliarity and national repulsion of the other environment, all the invisible barriers that divide the intimate life of both tribes« (»vadila zděděná cizost, tradiční neznámost a nacionální odpudivost toho druhého prostředí, všechny ty nevidomé přehrady, jež dělí intimní život obou kmenů«, Eisner 1992: 12). But there is, according to Eisner, an important exception: the depiction of Czech women in the writings of the Czech German authors. The Prague Jewish poet instinctively looks to Czech women as a way out of the »ghetto inside him« (»z ghetta v sobě«, Eisner 1992: 20). Eisner imagined the Czech language as a woman, and the German man as having an erotic relationship with her: I [český] jazyk osvědčuje se jako svůdce, kuplíř a množitel erotické slávy. Jazyk ne zrovna nejzvučnější a nejlichotnější mezi evropskými, jazyk bez valné pověsti co do svých krás… Ale jazyk, jenž dává ženě mluvnický atribut pohlaví a pohlavnosti […]. (Eisner 1992: 16) The [Czech] language too is a seducer, a go-between and breeder of erotic glory. A language not the most melodic and flattering among the European languages, a language without a great reputation for its beauties… But a language that gives to woman a grammatical attribute of gender and sexuality […].

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The Czech language became increasingly a subject for reflection for Eisner, especially during the Second World War, when he wrote several books on the subject while also translating Kafka’s The Trial. Spector alludes to Eisner’s discussion of the erotic relationship between a Czech woman and a German male, but notes that »the word ›symbiosis‹ would have been foreign to Czechs and Germans alike« in the context of Czech-German cohabitation (Spector 2000: 211). Symbiosis was an essential term for Eisner; it was widely used, sometimes dismissively, by Kafka’s contemporaries as well as later, e.g. Felix Weltsch, Gershom Scholem and Martin Buber. Spector’s curious remark can be read as asserting that an actual symbiotic relationship between Germans and Czechs did not exist. Eisner used the term to proclaim an ideal cohabitation of Czechs and Germans, rather than reality (with the exception of the erotic relationship between German male and Czech female). Spector’s use of the »hermaphrodite« figure to characterize Eisner is peculiar in perpetuating Eisner’s own gendered metaphors. Eisner’s discussion of the relationship between Czech and German identities is highly sexualized (the mutual erotic attraction between Czech women and German [including German-Jewish] males). The Czech woman attracts the German through her exoticism; also the Czech language is highly erotically charged (Eisner 1992: 16). If I should elaborate on Spector’s hermaphrodite metaphor, the Czech language is the nymph Salmacis, while Hermaphroditus is the German (Spector 2000: 175). Eisner’s »body« combines both the Czech and German elements, but in no way do they coexist in harmony, as befits the ancient myth. Rather, they seem to be in a constant strife. It is Salmacis who assumes the active role in the relationship: she prays to the gods to make them one body. Eisner, living in a majority Czech population, actively appeals to the Czech language, allows the Czech to embrace him, wishes to yield to the Czech element – however without ever giving up on his German mother tongue. Eisner’s position would likely be controversial, as suggested by the pejorative word amphibians (obojživelníci) for Jews speaking German and Czech, used in the nineteenth century, for example by Ján Kollár.19 Two statements about Eisner persist and reinforce each other: Eisner as bilingual and his »turn« around 1930. »From a German writer he became a Czech writer,« (»Z německého spisovatele se stal spisovatelem českým.«, Kubka 1959: 109) noted Eisner’s Prager Presse colleague Kubka. The transition was reflected in the two variations of Eisner’s name, Paul and Pavel (Kubka 1959; Krolop 2007; Nezdařil 1985).

19 In the nineteenth century, the pejorative term ›amphibians‹ was used to describe Jews speaking German and Czech. As Toman writes, the »Czech literary mainstream« in the nineteenth century was »not particularly interested« in incorporating Jewish authors (Toman 2009: 331).

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These comments do not pay justice either to the complexities and contradictions involved in Eisner’s grappling with the two languages, or to the bilingual condition as such. Petr Kučera (2009) made the more discerning observation that with bilingual individuals, the two languages are never equal. Around 1930, Czech assumed the status of Eisner’s dominant language, it became the target language of his translations. Krolop quotes Eisner’s 1929 talk, in which Eisner criticized mutual ignorance between Czechs and Germans, as signaling his »turn« towards Czech. Krolop uses both the expression »turn« (»Wendung«) to describe the evolvement of Eisner’s linguistic situation, as well as the more fitting »center of gravity« (»Schwerpunkt«, Krolop 2007: 9). Eisner’s words on the subject (quoted also by Krolop) reveal a fluid linguistic identity, in which both languages remained Eisner’s focal points, albeit shifting. In his 1937 article »Zwei Literaturen und ein Argot« Eisner described Prague’s multi-lingual predicament, this time from the point of view of a German, who instead of benefiting from the bilingual situation (and attempting »linguistic symbiosis«) lived separate from the Czechs: Denn es ist ja so, daß die besinnliche Beherrschung und Verwendung einer fremden Sprache, der tägliche Umgang mit ihr mein Ohr für die Eigentümlichkeiten, Werte, Geheimnisse meiner Muttersprache zu schärfen vermag wie keine andere Sprachschule der Welt, und daß ein gedankenloses Hinleben in einem fremden ›Sprachraum‹ mich anfällig machen muß für ein unbewußtes und schleichend-tückisches Beeinflußwerden. (Eisner 1937, quoted from Krolop 2007: 11)

Eisner proposes an interesting model of the mutual influence of languages in a multilinguistic environment. The active mastering of the »foreign« languages enables a perceptive, acute speaker to better perceive »peculiarities, values, mysteries« of his own mother tongue. It is important to note that Eisner possessed the concept of Muttersprache, which, at least in this quotation, was German. The Czech language, which was becoming increasingly important to him, remained his second language. Unlike in the essay »Franz Kafka and Prague,« which betrays a perspective of a Czech, Eisner wrote here from a position of a Prague German, admonishing the Germans for having failed the opportunity of the German-Czech symbiosis: Die Sprachsymbiose der Stadt vom Gesichtspunkt der Deutschen: Sie wurde nicht genützt, man lebte auch sprachlich aneinander vorbei... Aber den Gesetzen einer Symbiose entrinnt man nicht; und was ein Segen auch in allem Sprachlichen hätte werden können, wurde ein Fluch. (Ibid.)

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The refusal to live consciously »symbiotically,« to benefit from each other, resulted in Prager Deutsch replenished by Austrian, Prague and Bohemian expressions, language affected in its syntax, pronunciation, and lexically so much as to become incomprehensive to a visitor from Germany. At its best, the symbiosis produced two outstanding poets, Rilke and Kafka: »Der sprachsymbiotisch belehrte Franz Kafka meißelt seine Gesichte einer metaphysischen Lebensverschuldung und Verstrickung in den Granit einer Prosa, deren deutsche Echtheit gleich neben Stifter zu stehen kommt.« (Ibid.) Eisner’s struggle to come to terms with his languages might be best illustrated by his oxymoronic idea of »two mother tongues,« which he apparently proposed during a lecture on bilingualism in the »Translator Circle« in Prague in 1936.20 The idea is subversive in the context of both past and increasing nationalism. Eisner was not unique in his liberal approach to bilingualism. The scholar and foremost translator from German to Czech Otokar Fischer (1883-1938), in his 1926 article »The Paradox of the National Literature« (»Paradox národní literatury«) suggested, in reference to Belgium and the Flemish, that »perhaps already their mother tongue was ›bilingue‹« (»snad již jejich mateřština byla ›bilingue‹«, Fischer, 1965: 200). And further, »every literary language is an artificial construct […]. Bilingualism is not solely a phenomenon of ›bilingual‹ countries/territories/lands such as Belgium, Alsacia, or the Czech lands, but it belongs to the very pre-conditions of all conscious, and thereby artificial literary writing.« (»jeden každý spisovný jazyk je umělý […]. Bilingvismus není jen jevem ›dvojjazyčných‹ zemí jako Belgie, Alsasko, Čechy, nýbrž náleží k samým prapodmínkám všeho uvědomělého a tedy umělého spisovatelství.«, Fischer 1965: 204)21 In a later article »Jews and Literature« (»Židé a literatura«, 1933) Fischer wrote that syncretism and »mixing/blending« (»promísení«) is fundamental to the tradition of Europe. Jews distinguished themselves through their empathy (»dar vciťování«), linguistic talent, »virtuosity of expression« (»virtuozita slovního projadřování«, Fischer 1965: 212); the roots of their lingusitic sensibility lies in their centuries-long bilingualism. Eisner’s endorsement of bilingualism contradicts Koeltzsch’s claim that Eisner strove to »belong unambiguously« to one culture, as was typical of the nationalistic 20 I didn’t find the text of the lecture, merely a reference to it in an article clipping in Pavel Eisner Fond in the Literary Archive in Prague (Literární archive Památníku národního písemnictví, osobní fond Pavla Eisnera). 21 It is telling that Fischer’s liberalism was inspired by the reflections about Belgium, but he was more ambiguous and conservative towards Czechs. When writing about Czechoslovakia, he admonished Czech Jews for having assimilated towards the German culture and implores that they embrace the Czech element; he also warns against the »double-edged« nature of bilingualism (»dvojí ostří«, Fischer 1965: 213).

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times he lived in. In Koeltzsch’s reading, Eisner’s conversion at the beginning of the 1920s is a sign of such a desire (Koeltzsch 2009: 11f.). According to Eisner, Kafka’s informed attitude towards symbiosis (»der sprachsymbiotisch belehrte« Kafka) was constitutive to his writing; this is an important part of Eisner’s interpretation of Kafka. Escher explains how Eisner rejected the attempts at reclaiming Kafka for the Czech cultural tradition, a position represented for example by Hugo Siebenschein. Die geradezu metaphysische Züge annehmende Isolation, aus der Kafkas literarisches Werk in Eisners Auffassung erst seine Außergewöhnlichkeit schöpft, kann […] für Eisner nicht einfach durch eine demonstrative Hinwendung zu einer tschechischen Identität aufgehoben werden. (Escher 2011: 269)

Similarly, there were no simple solutions for Eisner, who passionately argued for a symbiotic coexistence of Germans and Czechs, for mutual influences rather than commitment to one language only. His writing on the subject and his translations however reveal fluidity as well as deep contradictions: shifts from one language to another, uneven coexistence of both, liberal embrace of »two mother tongues.« Rather than moving from one language-based identity to another, from being German into being Czech, Eisner was oscillating between the two, while asserting that an ideal »symbiosis« was unattainable though desirable. Eisner (and Fischer) engaged in creation of a space that functioned as a subversive alternative to the existing national, linguistic-based identities. In comparison to the Czech-to-German-mediators, there was more at stake in translation from German to Czech, as the identities of these translators were more fragile, their terrain more uncertain – and as a result they were at once more liberal and more nationalistic. Eisner’s liberal attitude was an alternative not to nationalism, but to the missing up on the opportunity of benefitting from the other (Germans did not embrace the Czech). Next I will show how Eisner’s decades-long engagement with questions of »symbiosis«, or what we could term a productive cohabitation of German and Czech cultures, his active engagement with his »second« (in the sense of coming later) language, Czech, and his long term interest in Kafka, are reflected in his translation practice.

E ISNER ’ S T RANSLATION OF T HE T RIAL Eisner appears to have striven for publication of The Trial in Czech already at the end of the 1920s. As we learn from his 1928 letter to the scholar and translator Otokar Fischer, he hoped to translate the novel for the Sfinx publishing house; but a novel

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by E.G. Kolbenheyer Amor Dei about Spinoza was published instead (Čermák 1991a).22 Eisner translated The Trial during the war. In his letter to Max Brod from April 1947, he confessed that he did the translation, »in his hideout and in fairly inconceivable conditions« (Čermák 1991b).23 The Trial, under Eisner’s title Hrdelní pře, was to be published after the war as part of Kafka’s works in six (or perhaps eight or ten) volumes by the publisher Václav Petr (based on the 1930s edition of Brod and Politzer, published by Schocken and Mercy in Berlin and later in Prague). The Trial was apparently already typeset, as was The Castle, but the entire project collapsed after the 1948 communist coup. (The Castle in Eisner’s translation was included on the list compiled by the post-1948 Ministry of Information and Education, of books that needed to undergo a new review process and would never be published [Bauer 2003: 141-145].) Čermák described the thwarted publication of Kafka’s collected works as a »lost chance«: it could have been the first translation of Kafka’s oeuvre into any language (Čermák 1991a; b; c). Eisner’s translation is surprisingly disparate. It imposes bold choices, but also contains less conscious interference of German on Czech, both lexical and syntactic. Do Eisner’s choices of distinct words with Slavic etymology, where a cognate would be appropriate, serve a foreignizing effect? And how to reconcile the unevenness between the conscious interventions and interferences of German on Czech, whether intended or unconscious? Two drafts of Eisner’s translation of The Trial are preserved in the Literary Archive in Prague (PNP). While what seems to be the first draft hardly contains any revisions, the second draft is marked in longhand, in blue and black ink; the corrected text corresponds to the 1958 publication of the novel. Eisner’s changes are of two kinds: lexical and in verbal constructions. The lexical changes are rare but instructive. The most significant is Eisner’s decision to change the key word of the novel, ›der Process,‹ which he originally translated as ›pře‹ into a Czech cognate, ›proces.‹ Eisner originally called the novel Hrdelní pře, an archaic term referring to ›throat‹ (›hrdlo‹) and denoting a trial for murder. He referred to the novel under this title already in the 1920s.

22 Krolop notes, on basis on the correspondence between Eisner and Otokar Fischer, that Eisner had encouraged Fischer to read Kafka at least since 1927 (Krolop 2007: 9). The correspondence between Eisner and Fischer is discussed in Mourková (1990). 23 This assertion however strangely contradicts another Eisner’s recollection, dated, perhaps mistakenly, 1936, in which he locates not only his translation but even the publication of the novel to the past (clearly a mistake; the anthology which includes Eisner’s recollection indicates the year of publication as 1957; The Trial was published in 1958).

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Eisner apparently decided to change the title to Proces when he proofread the translation for the 1958 publication. He commented on the change in his afterword.24 The term »process« refers to the »complex, strange thing« that »runs,« proceeds in the course of the novel (»složitá podivná věc, o kterou v něm běží«): »proces probíhá nezadržitelně dál, rozloží jako jakási houba nebo peronospora celý život obžalovaného, ochromí jeho výkonnost v povolání – zcela jako kdyby to byl pathologický ›proces‹ smrtelné choroby.« (Eisner 1958: 208 – »The process proceeds relentlessly on, it dissolves the entire life of the accused, paralyzes his productivity at work like some mushroom or peronospora – as if it was a pathological ›process‹ of a deadly disease.«) Eisner’s is a somewhat biologic, organic interpretation of the novel: the process is a pathological, destructive agent. Biologic metaphors recur in Eisner’s writing (e.g. ›symbiosis‹). We can challenge his interpretation and argue that the main character, Josef K., is not given any life that could be disintegrated. This modern character does not change throughout the course of the novel. Eisner commented on his translation of the title: Se zřetelem k pathologickému zabarvení ústředního termínu ›proces‹ u Kafky bylo toto označení důsledně ponecháno i v českém vydání, ačkoli by bez tohoto momentu místy znělo přirozeněji a lépe slovo ›pře‹, ›soudní pře‹ a v titulu díla snad ›Hrdelní pře‹. (Eisner 1958: 208) Taking into consideration the pathological color of the central term ›proces‹ in Kafka, this expression was consequentially maintained in the Czech edition, although without this instance the word ›pře‹, and ›soudní pře‹ would at some points sound more natural and better, and in the title perhaps ›hrdelní pře.‹

The 1937 Czech dictionary25 includes both ›proces‹ and ›pře‹ for what we can render in English as ›trial.‹ Today the word ›pře‹ sounds archaic. It derives from the verb ›přít se‹ (›to argue or quarrel‹), and implies an adversarial adjudication of the Common Law type. The word ›proces,‹ with its Latin etymology, ›processus,‹ implies an action, a continual development, and a temporal dimension: »a progressive forward movement from one point to another on the way to completion.«26 The expression ›hrdelní pře,‹ a trial for murder, also implies a death sentence. The adjective ›hrdelní‹ derives from ›throat‹ and implies execution; there are other Czech expressions in which ›hrdlo‹ implies death sentence; with some license, ›hrdlo‹ can be read 24 The title »Proces« resonates with the political show trials in the 1950s (which became popularly known as »proces« with Milada Horáková, Josef Slánský, etc.). 25 Příruční slovník jazyka českého, 1937. Prague: Czech Academy of Sciences and Arts, 1941-1943. 26 Merriam-Webster’s Unabridged Dictionary.

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as a synecdoche for death penalty. The fact that Eisner originally proposed this title is curious.27 Not only would a cognate ›process‹ better correspond to the original, but Hrdelní pře also interprets the novel in a faulty way. ›Hrdlo‹ in the title would correspond to Josef K.’s »double« execution, or its one component (strangling and stabbing) in the final scene of The Trial, but it is of course misleading, because the term, ›hrdelní pře,‹ clearly refers to the crime of murder. We don’t have any information about Josef K.’s crime, and certainly we are not told that he commited a murder; and it would be a logical fallacy to draw this conclusion from his execution. The choice of ›hrdelní pře‹ to translate Kafka’s title is indeed puzzling. It would linguistically correspond to the last sentence of the novel: »Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn.« (Kafka 2002b: 312), but only had Eisner translated ›Gurgel‹ by using the corresponding common Czech word ›hrdlo.‹ But rather than this onomatopoeic word, Eisner used the much more expressive ›chřtán‹ for K.’s throat.28 One of Eisner’s books about the Czech language (Čeština poklepem a poslechem, published originally in Prague in 1948) may shed some light on this peculiar choice. In this poetic/etymological dictionary – one of several books he wrote about the Czech language during the war – Eisner writes that the word ›hrdlo‹ is »not nice enough for what it denotes« (»nedost krásné pro to, co označuje«, Eisner 1996: 102f.). By contrast, and in the same entry, Eisner prefers the much more expressive ›chřtán,‹ as it is »perfectly expressive« (»dokonale výrazivé«); its sound evokes well the image of »the narrow cove, or defile in the human body« (»představu úzké soutěsky, průsmyku v lidském těle [...] po stránce zvukové sugestivnosti nelze vyjádřit funkčněji«). Yet ›hrdlo‹ would be more accurate in the context of the novel since K.’s executioners are placing their hands on his throat. ›Chřtán,‹ by contrast, is usually used for animals and evokes a long, narrow space; it is most commonly used in the idiomatic expression: ›nacpat něco do chřtánu‹ (›to push something in someone’s throat‹), to force-feed and colloquially and strongly expressively, to force something on someone, ›down his or her throat.‹ To sum up, ›chřtán‹ has no legitimacy in the translation of Kafka’s sentence: it is inaccurate linguistically as well as semantically. It is hardly a coincidence that the important Czech novelist of Eisner’s generation and his friend Vladislav Vančura (1891-1942), published a novel titled Hrdelní pře aneb Přísloví in 1930 (Trial for Murder or Proverbs). The novel is remarkable for its experimental language; it uses archaisms and many proverbs. Eisner dedicated his book on Czech language Chrám i tvrz (Cathedral and Fortress), which he wrote during the war and published in 1946, to Vančura, who, as Eisner notes, »hosted the

27 Eisner (1958) called his original choice for translating the title, Hrdelní pře, a mistake. 28 Eisnerová’s revision of Eisner’s translation (1965) and Čermák (1997) use the more accurate and less expressive »hrdlo«.

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expelled« (»hostil vyhnance«) at his home near Prague and did not cease to visit Eisner in Vinohrady during the war »in the apartment of the Homeless, when each [visit] could cost you your life« (»v bytě Bezdomkově, z nichž každá už o sobě tě mohla stát život«, Eisner 1997: 7). Vančura was executed in Prague in 1942 as a member of the Communist resistance. ›Chřtán‹ for ›throat‹ and ›hrdelní pře‹ in the title constitute Eisner’s bold interventions in Kafka’s text. They are not the only unusual expressions in Eisner’s translation. The next example however attests to an involuntary interference rather than conscious experimentation. Eisner created new expressions when German interfered with Czech. In the novel’s first sentence, Eisner’s rendering of Kafka’s ›verleumden‹ is ›křivé udání,‹ literally ›crooked or false denunciation.‹ The adjective ›křivý‹ or ›false‹ (literally ›crooked‹) exists in Czech in connection to ›přísaha‹ (›oath‹) and ›svědectví‹ (›testimony‹). The expression ›křivé udání‹ is Eisner’s construct, probably a translation of the German ›falsche Anzeige.‹29 It does not stand out, as the reader immediately understands its meaning. I should also note that it is not an accurate translation of Kafka’s ›verleumden,‹ since the phrase ›učinit udání‹ used by Eisner (›to denunciate, to make a statement of denunciation‹) denotes a bold, deliberate action, an announcement of someone’s act to an authority (a very resonant expression in the Czech political and cultural context of the 1950s). Kafka’s ›verleumden‹ does not have this institutional reference, it is more ambiguous.30 The disparate examples above are emblematic of Eisner’s translation. Lawrence Venuti’s terms »fluency,« »transparency,« »foreignization,« and »domestication« are useful in assessing Eisner’s translation despite the fact that Venuti conceived of them to criticize translation into English; the German-to-Czech-translation of course possesses its own problems and history. Venuti criticized translations into English, which traditionally have been striving for »fluency« at the cost of accuracy. Fluency is achieved by the absence of any »stylistic peculiarities,« which results in a text that seems transparent giving the appearance that it reflects the foreign writer’s personality or intention or the essential meaning of the foreign text – the appearance, in other words, that the translation is not in fact a translation, but the ›original.‹ […] The more fluent the translation, the more invisible the translator, and, presumably, the more visible the writer or meaning of the foreign text. (Venuti 1994: 1) 29 Another expression, ›falešné udání,‹ (›false denunciation‹) based on German, exists in Czech. 30 Two other examples of a similar interference: the nominalized verb »Ausrufen« is translated as »řečňování,« and »mit Schnee bedeckte[s] Dach« into »posněžen[á] střech[a]« (1958: 113), using a word that does not exist as a Czech adjective (›posněžený‹). (Eisnerová and Čermák have the standard adjective »zasněžen[á]«.)

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The approaches that emphasize fluency attempt to »domesticate« the translated work, rather than strive to retain its foreign quality. The text should resist the translator’s attempts at domestication. A »dissident translator« can deploy various means of »foreignizing intervention.« He can choose a text that is marginal in the receiving culture, and translate it by using a »canonical discourse,« thus challenging dominant cultural hierarchies, or he can choose a canonical text and translate it using a »marginal discourse« (colloquialisms, archaisms), offering an entirely new interpretation of the canonical work (Venuti 1994: 267f.). Eisner’s preference for words with Slavic etymology over those with German roots cannot be understood as attempts at foreignizing Kafka in Czech culture, as he was not a canonic author at the time. They are certainly a mark of translator’s visibility. To support this statement, we need to historicize Eisner’s translation, to consider the particular moment of its origin – the late 1920s when Eisner conceived of the translation, and WWII, when he translated the novel.

G ERMAN - TO -C ZECH -T RANSLATION D ISCOURSE Both »Landessprachen« Czech and German were used in Bohemia, and their cohabitation engendered similarities, tensions, dependency, and willful attempt at distancing Czech from German. Czech was mostly a spoken language until the philological project of the Czech National »Revival« from the late eighteenth to the middle of the nineteenth century. The aim of translation was primarily didactical; it served mostly to assist in the construction of Czech literary and poetic language. The creation of new words was part of this tradition (Macura 1995: 61-78). Translation of authors such as Goethe and Schiller was for a long time perceived as impossible as Czech was perceived as lacking the appropriate stylistic means. The debate about the role, technique and purpose of translation was intense after the foundation of Czechoslovakia in 1918, when German ceased to be the dominant official language (Veselý 2002: 162f.). In the late 1920s and in the 1930s, the discourse was lively and passionate and was carried in critical essays, lectures, newspaper articles, and even polemical poems about the role and mission of a translator. Otto Pick’s poem »Der Übersetzer,« and Otokar Fischer’s response, titled, in Czech, »Překladatel,« were printed in a booklet published on the occasion of the evening devoted to translation in Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prague in 1935, along with Eisner’s brief but insightful text, his »confession«31 titled

31 The term used by Rudolf Vápeník who wrote an introduction to the anthology (Vápeník 1935: 3). The short anthology about theory and practice of translation includes poems and essays by Otto Pick, Otokar Fischer, and Paul Eisner.

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»Paradoxní řemeslo překladatelské« (»Paradoxes of the Translation Craft«). Eisner’s translation of Rilke was read during the evening (Eisner 1935: 7f.). In his short text, Eisner wittily alludes to the paradoxes of being a translator and the »entirely dark« (»naskrz temné«) translation praxis. Although an »egoistic enterprise« (»sobectví«), translation nevertheless requires the highest sacrifices, of one’s own intellect and one’s »soul«: »uttermost loyalty, innermost synchronization, passivity of some kind of trance« (»poslední oddanost, naprosté splynutí, nejniternější synchronisaci, trpnost jakéhosi transu«). It is parasitic: »Napít se z cizí sklenice, vykloktat to, a pak prohlásit: Ejhle, toť Shakespeare plus já […].« (»Drink from someone else’s glass, gurgle and spit it out, and then say: Ecce Shakespeare plus myself.«) Does the translator create something new? He must retain the »soul« (»duše«), he creates a new body, but not entirely; a body-pastiche, a new robe, new cloths, like a tailor. Is tailoring a craft, or an art? Most likely, the translator is an interpreter, a missionary, but one that transmits his own interpretation. The translator is a producer of a falsified text: »Fraudulosní ministre plénipotentiaire. Výrobce náhražku. Falsátor.« (Eisner 1935: 8 – »A fraudulent minister plénipotentiaire. Producer of a substitute. A falsifier.«) Eisner’s short text has a light tone appropriate for a social occasion. It addresses the relationship between the original and the translation, the original author and the translator. He asks hyperbolically: »Jak může být Homunculus lepší než Adam?« (»How can Homunculus be better than Adam?«) The translator assumes the position of the demiurge, and corrupts the original creation. The translator is a falsifier; translation is always inferior to the original text. »Je těžko dobrat se jeho vlastní raison d’être.« (»It is hard to find its raison d’être.«) Translation is perhaps »stubborn foolishness, entirely methodical« (»zatvrzelé bláznovství, zcela metodické«). Eisner (ibid.) describes paradoxes, and each of his claims has its counterpart. How »passive« is Eisner as a translator? He can never »merge absolutely.« To use Venuti’s figure, Eisner’s own translation practice is far away from the »invisibility« stemming from a »fluent« translation. Eisner’s generation criticized the late-nineteenth century model of translation that strove for literalness (e.g. the poet Jaroslav Vrchlický and his translation of Faust) and rejected »literalness« (»doslovnost«) in favor of »fidelity,« »faithfulness« (»věrnost«). Otokar Fischer, in his crucial 1929 essay »On Translation of Poetic Works« (»O překládání básnických děl«) outlined three periods in Czech translation: after the period of Josef Jungmann (translation was used mostly didactically and in celebration of how much Czech can already achieve) and Jaroslav Vrchlický (end of the 19th century), distinguished by its focus on form and catching up with Europe, was followed by the generation of Fischer, the period of revision (first decades of the 20th century). »Nám běží dnes o to, aby velká průkopnická díla nebyla nazírána pod dojmem školy, kterou vytvořila […] a byla cítěna […] ve své první svěžesti, smělosti, nezvyklosti.« (Fischer 1965: 287 – »It is our task to view the great pioneering works

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not through the prism of the schools that created them […] but they should be felt […] in their original freshness, courage, strangeness.«) To fulfill the program, Fischer proposed »transposition« (»transpozice«, ibid.: 275) as a way to achieve fidelity, a program that seems contradictory to the task. Rather than creating a formal imitation, the poet translator needs to find »substitutions streaming from the spirit of the mother tongue. In other words, the original poem must be newly created from the spirit of the new language« (»aby […] byly nalézány náhrady prýštící z ducha jazyka mateřského. Jinými slovy: původní báseň je nutno znovu vytvořit z ducha nového jazyka«, ibid.: 275). Fischer employed a characteristically organic figure to declare that the purpose of translation in his generation was to »fertilize our birth soil« (»aby oplodňoval rodnou prsť«, ibid.: 279). »Nejde o to, přenést a uchovávat lisovaný preparát. Nýbrž [...] o to, aby byl přesazen kmen i se svými kořeny, aby vyháněl nové květy, aby oplodňoval rodnou prsť.« (Ibid. – »The task is not to transpose and preserve a pressed specimen. Rather […] the stem must be transposed with their roots, it must spring new flowers, fertilize our birth soil.«) In a formulation that would likely be rejected by a contemporary theoretician for its »domesticating« tendencies: »[M]ám-li přeložit Novalisovu Hymnu noci, […] musím se vmyslit do situace, že by básník byl měl výhody i nevýhody materiálu mého, t. j. že by byl psal česky, že by byl tvořil z ducha češtiny.« (ibid.: 279 – »[I]f I were to translate Novalis’ Hymns to the Night, […] it would be necessary for me to imagine the situation of the poet having had all the advantages and disadvantages of my material, i.e. of writing in Czech, of composing in the spirit of the Czech language.«) Fischer had been praised for his »congenial« 1928 translation of Goethe’s Faust. Eisner reviewed Fischer’s translation in Prager Presse and deemed it the first Czech translation of Faust that did not fail. According to Eisner, the Czech language was finally capable of such a translation of Goethe (Veselý 2002: 171). Eisner praised its reliability, fidelity and originality; the task of translation was to transpose the main idea of the original work in the language of the translation. Venuti’s three key categories characterizing relationship between a source text and its translation are useful when considering what was at stake when Eisner translated The Trial: the relative autonomy of translation (»the factors that distinguish it from the source text and from texts initially written in the translating language«); equivalence (how the translation is connected to the source text; »accuracy«, »adequacy«, »correctness«, »correspondence,« »fidelity,« or »identity«), and function (how is the translated text connected to the receiving language and culture; »the potentiality of the translated text to release diverse effects« – communication of information, production of response comparable to that the translated text had in its own culture, but also social and political effects – development of national literatures, etc.; Venuti 2000: 5).

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The relationship between autonomy, equivalence and function, shifts in different historical periods. Czech translation from German in the 1920s and 1930s was dominated by the functional approach. The project of fostering national literature was still on the mind of translators such as Fischer or Eisner. The proclamations that the Czech language is now capable to translate Goethe suggest that despite the firm position of the Czech language in Czechoslovakia, Czechs continued to have an uneasy relationship to the language of their neighbor and this sensibility was reflected in their thinking about German-to-Czech-translation. Fischer’s earlier article, »The Paradox of the National Literature« (1926), mentioned above, makes it apparent that Fischer was more liberal when discussing the bilingual situation of Belgium than in his reflections on Czechs. Fischer’s demand that a translator should see the translated author »as if he wrote in Czech« are clashing with Eisner and Fischer’s contemporaries such as Walter Benjamin (1923). But this declaration also seems to contradict Fischer’s requirement that the »great pioneering works […] should be perceived […] in their first freshness, courage, strangeness« (»velká průkopnická díla […b]yla cítěna ve své prvotní svěžesti, smělosti, nezvyklosti«). Are such demands reconcilable with the idea of transposition? Can »transposition« accommodate foreignization? How do we assess what constitutes foreignizing and domesticating intervention? The date of Eisner’s translation is important. Czech was a firmly established, dominant language in Czechoslovakia when Eisner turned towards it and when he translated The Trial. Czech can be viewed as an expression of his Czech loyalties. If we take it that the translation originated during the Nazi occupation, Eisner’s attempt to distance Czech from German echos his political proclivities, and thus even the Slavic words such as ›chřtán‹ or ›pře‹, which could be otherwise understood as having »domesticating« effect, are subversive. Eisner adhered to Fischer’s method of transposition and used some verbal experimentation and archaisms to create a Czech Kafka. In fact, he was (later) criticized for excessive experimentation and creation of neologisms in his translations. Ladislav Nezdařil (1985), in his book about Czech translations of German poetry, characterized Eisner’s approach as »pioneering, reflective, educated, but not always mastered linguistic expressionism« (»novátorský, přemýšlivý, vzdělaný, ale ne vždycky zvládnutý jazykový expresionismus«, 246). Eisner’s approach was influenced by Otokar Fischer, but lacked, according to Nezdařil, »Fischer’s deeper poetic substance« (»hlubší básnická substance«, ibid.). Nezdařil points out Eisner’s »overexposed expressionist style« (»přeexponovaného expresionistického slohu«, 248), »translation intellectualism« (»překladatelský[] intelektualism[]«, 247), and »linguistic originality« (»jazykovou originalitu«, 248). Povejšil (1992) set Eisner’s translations of Der Ackermann aus Böhmen and the Czech Romanticist poet Karel Hynek Mácha’s German poems against his translations of Thomas Mann. He asserted that Eisner’s original and creative language interfered and overshadowed the original of Mann’s prose.

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By contrast, Povejšil praised Eisner for being able to »give up on the originality of his own language« (»svébytnosti svého vlastního jazyka jakoby zřekl«, ibid.: 14) in his translations of Mácha and Der Ackermann. In rendering Mácha’s German poems in Czech, Eisner used the language of Mácha’s Czech poems, and in translating Der Ackermann, he used the seventeenth-century language of Comenius (ibid.: 14-16). Kučera (2009) criticized Eisner’s penchant for creating neologisms in his 1930 translation of Rilke’s Duineser Elegien and for his overly expressive tone. Neologisms were no longer justified in Eisner’s times. A result of keen linguistic observations, they serve him well in some of his writing on Czech language, but can do harm in his translations. Kučera praised Eisner’s translation of Rilke as »a courageous act« (»je tedy činem velmi odvážným«, ibid.: 87), but also criticized his »exalted expression« (»výrazová exaltovanost«, 88) that does not correspond to Rilke’s modern voice. Kučera’s assessment of Eisner’s translation overall is nevertheless positive. In The Trial, Eisner makes some bold, deliberate lexical changes that do not quite correspond to the original. They result from his intense engagement with Czech language and literature, from his interest in Slavic etymologies and modern Czech experimental prose (such as Vančura’s). Eisner’s choice of ›chřtán‹ over the more accurate ›hrdlo‹ can be attributed to Eisner’s proclivity for archaisms, as well as his affirmative turn towards the Czech language after 1930, described above. Translations of ›Gurgel‹ as ›chřtán,‹ ›Prozess‹ as the originally conceived ›pře,‹ emphasize the »Czechness« of Czech and contribute to the »distancing« from German, to the domestication of the original in the target language that nevertheless can be viewed as subversive within the particular moment of the translation’s origin during the Nazi occupation of Prague.

S YNTACTICAL C LOSENESS

OF

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As I noted above, Eisner’s translation displays two tendencies: bold lexical interventions, and syntactical closeness to the original, when his German seems to influence his Czech. Eisner’s translation is syntactically close to the original, unlike for example the first translations of Kafka’s novels to English by Edwin and Villa Muir from the 1920s and 1930s, which have been criticized for the lack of accuracy, for correcting Kafka’s »mistakes,« and for cutting Kafka’s long sentences into short ones (Harman 1996). Eisner’s translation is much closer to German, in its syntax as well as in maintaining nominal constructions. Fischer might have criticized such translation as too literal or »slavish.« The closeness of Czech and German syntax, in translation, was questioned by none other than Kafka himself, in his reaction to Milena Jesenská’s Czech rendering of his short story, »Der Heizer« (»The Stoker«). Jesenská was Kafka’s first translator;

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her translation of »The Stoker« was the very first translation of Kafka’s work into any language. Discussions of her translation form an important part of the correspondence between her and Kafka. In one of his letters, Kafka commented on what he called her faithful translation and wondered whether Czech readers would not reproach her for the »faithfulness« (»Treue«). In a letter from Meran at the end of April 1920, Kafka commented: […] mit welcher Treue Sie es getan haben, Sätzchen auf und ab, einer Treue, deren Möglichkeit und schöne natürliche Berechtigung, mit der Sie sie üben, ich in der tschechischen Sprache nicht vermutet habe. So nahe deutsch und tschechisch? (Kafka 1952: 14f.) […] your faithfulness toward every little sentence, a faithfulness I would not have thought possible to achieve in Czech, let alone with the beautiful natural authority you attain. German and Czech so close to each other? (Kafka 1990, 7-8)

The concern about »faithfulness« is reiterated in a later letter. Kafka further praises Jesenská’s translation of The Stoker, and notes that it is »the nicest part of the translation« (»das Liebste an der Übersetzung«, Kafka: 1990, 13). Briefe an Milena elicited numerous scholarly responses (Anderson 1989; Spector 2000; Zilcosky 2003). Some of them discuss Kafka and Jesenská’s dialogue about her translation of Kafka’s writings, but surprisingly little was written about Jesenská’s translation. A rare exception is an article by Čermák, who, in line with Kafka’s hesitant questioning of the literalness of her translation, comments on »literalness bordering on the extreme« (»ans Extreme grenzende Worttreue«, Čermák 1989: 20). Čermák suggests that there may have been a historical reason for Jesenská’s translation that »slavishly retains the German sentence structure« (»sklavische Einhalten des deutschen Satzbaus«) and does not sound natural in Czech. Čermák proposes a more »natural« (»natürlich«) translation of Kafka’s complex sentences. Čermák insists that German literature was »much less commonly translated « (»viel weniger übersetzt«, Čermák 1989: 23) into Czech than other literatures in Slavic languages because the educated classes of Jesenská’s generation read German. Consequently the development of techniques of translating German to Czech was slower (Čermák 1989: 23). This claim is intriguing, but it appears inaccurate; there has been a long tradition of translating from German to Czech. Complex contradictory attitudes towards the German language and culture are reflected in the history of translation from German to Czech and seem to be insufficiently reflected in contemporary critical writings (e.g. Čermák’s remark). Czech writings about translations from German betray a curious paradox: on the one hand, there is a repetitive assertion that translations from German to Czech were not perceived as necessary due to the widespread knowledge of German as the language of

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education in Bohemia; the only purpose of translating from German was to patriotically demonstrate the richness of the Czech language (Veselý 2002: 163). On the other hand, it is a simple fact that most translations to Czech were from German. German even served for a long time as an intermediary language for translating from other European languages such as French or English (Veselý 2002: 127). This situation changed by the early twentieth century. The syntactical proximity of Eisner’s translation, the »slavish« retaining of sentence structure that Kafka called »Treue« in reference to Jesenská, attest to Eisner’s closeness – both unconscious and by choice – to German, which continued to be his mother tongue – or one of his mother tongues – also after his shift towards Czech around 1930. Unwilling intereferences of German to Czech (lexical, syntactical) may also be attributed to certain »hastiness« with which the translation of the novel came about, and the conditions of hiding and isolation. Eisner’s bold lexical interventions form a counterpoint to the more passive tendency and can be understood as the translator’s reaction to the enforced literal »invisibility« during his hiding. The translation of The Trial reflects Eisner’s bilingual predicament and his conscious, active engagement with his two languages on the one hand, but also some unreflected practices, on the other. Eisner argued that »thoughtless, unconscious living« (»gedankenlose[s] Hinleben«) in a strange linguistic space must make him susceptible for »insidiously-treacherous influences« (»unbewußtes und schleichendtückisches Beeinflußwerden«, Eisner 1937, quoted from Krolop 2007: 11). Eisner consciously resisted such passive influences by active interventions, by peculiar word choices, neologisms. In response to his own linguistic situation, and perhaps also to the political environment, he consciously strove for distance between German and Czech. Eisner’s liberal position on bilingualism and Czech-German cohabitation was subversive in the context of the traditional Czech nationalism as well as increased nationalistic tensions of the 1930s. Along with other German-to-Czech-translators and mediators, Eisner occupied a space even more marginal than that of the Czechto-German-mediators such as Max Brod. Due to their marginality and the precariousness of their position, translators such as Eisner were more liberal in exploring bilingualism and allowing for two mother tongues, conceptually and in their own creativity. Their »middle nation,« was not a place they could inhabit as their own, but a space that could allow for more. Eisner’s translation of Kafka conformed to the functional principle, prevalent at the time and formulated by Eisner’s peer Otokar Fischer, to »transpose« literary works into a new linguistic environment. Through his emphasis on Czech words of Slavic etymology, Eisner »domesticated« the little known Kafka in the Czech environment, while »estranging« him from the German of the Nazis. His translation of Kafka into Czech, during WWII, at the time when Kafka was not acceptable for the Nazis, was a subversive gesture.

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Zentrum und Peripherie. Positionierungen und Hierarchisierungen

Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Vermittlung tschechischer Kultur durch Hermann Bahr1 K URT I FKOVITS

Während die Mehrheit der Autoren der Wiener Moderne, etwa der junge Hugo von Hofmannsthal, das Slawische als etwas Befremdliches, Gefahrvolles ansahen, es bestenfalls ignorierten, so sie es nicht überhaupt negativ bewerteten, bildete Hermann Bahr diesbezüglich eine Ausnahme. Im Folgenden will ich den Motiven dieses solitären Interesses nachgehen. Hierbei soll ein Ansatz der Kulturtransferforschung Anwendung finden, der, jenseits des oft bemühten ›Pathos der Vermittlung‹, den Brüchen und Diskontinuitäten dieser Vermittlungsaktivitäten nachgeht und dabei die konkreten Interessen der handelnden Akteure offenlegt. Unter Fokussierung auf eine ›österreichische/cisleithanische‹ Perspektive2 soll auch die (wechselnde) Dynamik von Zentrum und Peripherie berücksichtigt werden.

1

Dieser Artikel erhebt keineswegs den Anspruch, Unpubliziertes zu bringen. Vielmehr versucht er, an verschiedenen Orten Ausformuliertes in Beziehung zu stellen. Verwiesen sei auf Kostrbová (2011a, 2011b), Kostrbová/Ifkovits/Doubek (2011), Farkas (2004), Ifkovits (20015a, 2015b, 2011a, 2011b) sowie den vom Autor herausgegebenen Briefwechsel Hermann Bahrs mit Jaroslav Kvapil (Bahr/Kvapil 2007).

2

In diesem Artikel wird ›Österreich‹ verwendet als jener Raum der Habsburgermonarchie, der mit der Gründung der K.u.K. Monarchie, also dem ungarischen Ausgleich 1867 entstanden war, der mithin also nicht identisch mit dem Gebiet des heutigen Österreich ist.

136 | K URT I FKOVITS

M ODERNE

UND

E UROPÄERTUM

Spätestens seit 1892, jenem Jahr, in dem die tschechische Kultur in Wien im Rahmen der »Internationalen Musik- und Theater-Ausstellung« präsentiert wurde und damit ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit drang, rezipierte auch der einst rabiate Deutschnationale Hermann Bahr die tschechische Kultur, um sie sogleich in sein gerade in Durchsetzung begriffen seiendes System der Wiener bzw. österreichischen Moderne3 zu integrieren. Wie mehrfach gezeigt (Sprengel/Streim 1998), war es damals Bahrs erklärtes Ziel, die Wiener Moderne von jener des Deutschen Reiches abzugrenzen. Hierzu kam ihm die ›Entdeckung‹ der tschechischen Kultur, verstanden als Teil der österreichischen, gerade gelegen. Die Einbeziehung der Peripherie, konkret der tschechischen Kultur, stärkte somit die Autonomie des im Entstehen begriffenen literarischen Feldes der Moderne Österreichs. Den Zusammenhang zwischen einer Überwindung nationaler Begrenztheit durch Regionalisierung, der Herausdifferenzierung der Wiener Moderne und der dabei den Tschechen zugedachten Rolle hatte bereits die Besprechung Bahrs zu eben jener »Internationalen Musik- und Theaterausstellung« aus dem Jahr 1892 angedeutet: »Nur in Wien konnte dieser über den Nationen europäische Gedanke gedeihen.« [sic] (Bahr 1892: 837) Mit ›europäisch‹ ist hier ein Fahnenwort Bahrs jener Zeit angesprochen. Auch in seinem programmatischen Artikel »Das junge Österreich« skizzierte er dessen Kunst als »europäische Kunst« (Bahr 1893a: 2). Gerade das Habsburgerreich biete auf Grund seiner Multiethnizität ideale Voraussetzungen hierfür: Und es könnte, wenn sie [die Vertreter des jungen Österreich; KI] die rechte Gestalt des Österreichischen finden, wie es jetzt ist, mit diesen bunten Spuren aller Völker, mit diesen romanischen, deutschen, slavischen Zeichen, mit dieser biegsamen Versöhnung der fremdesten Kräfte – es könnte schon geschehen, dass sie, in dieser österreichischen gerade, jene europäische Kunst finden würden, die in allen Nationen heute die neuesten, die feinsten Triebe suchen. (Bahr 1893a: 2)

»Über den Nationen« stehen und »europäisch« sein waren für Bahr integrale Bestandteile einer Moderne, wie er sie zum damaligen Zeitpunkt verstand und wortreich propagierte. Selbstverständlich musste auch eine österreichische bzw. Wiener Moderne diese Bedingungen erfüllen. Bahr denkt das Zentrum ›österreichische Moderne‹ von den Rändern her. Dies war wohl auch ein Reflex der spezifischen multiethnischen Verfasstheit der Habsburgermonarchie, durch die sie sich vom Deutschen Reich abhob.

3

Bahrs Begrifflichkeit ist hier nicht immer eindeutig. Zum Teil verwendet er beide Begriffe synonym.

Z ENTRUM

UND

P ERIPHERIE

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Auf die Fahnenwörter ›europäisch‹, ›modern‹ konnten sich auch die Tschechen Anfang der Neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts einigen, und so war Vertretern der tschechischen Moderne eine kurzzeitige Zusammenarbeit mit Hermann Bahr möglich. Die Initiative aber ging von Bahr selbst aus. Noch im Jahr der Ausstellung 1892 hatte er Vertreter der tschechischen Kultur, konkret den damals in Wien lebenden Autor Josef Svatopluk Machar und den Herausgeber und Übersetzer moderner tschechischer Lyrik, Eduard Albert, kontaktiert. Niederschlag sollte diese partielle Zusammenarbeit in der Wochenschrift Die Zeit finden, die Bahr mitbegründet hatte und deren Redakteur er von 1894 bis ins Jahr 1899 war. In diesem Organ wurde nicht nur die tschechische literarische Moderne – etwa im 58. Heft das »Manifest der tschechischen Moderne« – vorgestellt, mit T. G. Masaryk war auch die politische Moderne mit über dreißig Artikeln vertreten. Diese Vermittlungsprozesse waren jedoch eher sekundäres Produkt unterschiedlicher Motivationen. Bahrs Interesse an der tschechischen/slawischen Kultur war nicht, wie es damals viele tschechische Kritiker verstanden wissen wollten, im Sinne einer Unterstützung des nationalen Kampfes der Tschechen zu verstehen, sondern diente der Konstruktion einer spezifisch österreichischen Moderne. Den Tschechen jedoch ermöglichte die Publikation in einer deutschsprachigen Zeitschrift im Zentrum der Monarchie, sich jenseits der eigenen Diskursräume neu zu verorten (vgl. Kostrbová/Ifkovits 2011: 13). Die konkreten Vermittlungsprozesse, heute oft unter dem Vorzeichen nationalen Ausgleichs verstanden, lassen sich also auch als (möglicherweise nicht einmal intendierte) Nebenprodukte verstehen. Hierfür spricht, dass die Verbindung zwischen der tschechischen und der Wiener Moderne in der Zeit als Plattform nur von kurzer Dauer war – gelang es der Redaktion doch kaum, die Tschechen in ihre Pläne einzubinden. Zugleich änderte sich die Basis, die die Verknüpfung gestiftet hatte.

D IE »E NTDECKUNG DER P ROVINZ « S PIELART DER M ODERNE

ALS

Um 1896/97 nämlich begann sich Bahr allmählich vom Gründungsprogramm der Zeit, das Europäertum, Moderne und Junges Österreich zusammengekoppelt hatte, zu entfernen – nun, da er die Moderne dank seiner Bemühungen etabliert sah, änderten sich die Schlagworte. Hatte sich Bahr schon in den späten Bänden der Zeit für eine antistädtisch ausgerichtete Heimatkunst stark gemacht, so veröffentliche er den programmatischen Artikel »Die Entdeckung der Provinz« (Bahr 1899) bei seinem neuen Arbeitgeber, dem Neuen Wiener Tagblatt, und zwar als ersten Artikel. Was sich als großer Bruch inszeniert (dort weiland europäisch, hier nun provinziell), ist bei genauerer Analyse

138 | K URT I FKOVITS

durchaus von Kontinuität bestimmt. Denn der Begriff der Heimatkunst, wie Bahr ihn verstand, bedeutete keinen Bruch mit früheren Konzepten, sondern kann als weitere Ausformung seiner Auffassung der Moderne gesehen werden. Mit ›Provinz‹ legte sich Bahr – im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen – keineswegs auf den deutschsprachigen Teil der Habsburgermonarchie, genauer gesagt Cisleithaniens, fest, sondern behielt (weiterhin) das Randständige im Auge: also das Tschechische, Polnische oder Ruthenische etc. Heimatkunst war für Bahr nicht das, womit man sie heute gemeinhin verbindet und womit sie bereits damals mehrheitlich verbunden wurde, nämlich deutsch-völkisch-national (was freilich nicht heißt, dass er Autoren dieses Spektrums ausgeblendet hätte). Zudem verabschiedet sich Bahr mit seinem Konzept der Provinz keineswegs vom Begriff des Europäischen. Denn Europäertum und Provinz sind für ihn kein Widerspruch: »Stellt Euch doch auf die feste Erde Eurer Provinz, Europäer!« (Bahr 1898: 12)

D IE B EDEUTUNG J AROSLAV K VAPILS V ERMITTLUNGSPROZESS

FÜR DEN

Die Überzeugung, randständige Literatur Cisleithaniens der Welt näher bringen zu müssen, sollte schließlich auch die eigentliche Motivation zur Kontaktaufnahme mit dem Theatermann, Schriftsteller und späteren Politiker Jaroslav Kvapil sein. Bahr, zu der Zeit gerade bei Max Reinhardt in Berlin beschäftigt, beabsichtigte, Alois Jiráseks Schauspiel Lucerna an die Bühnen Reinhardts zu bringen. Da er keinerlei Kontakte zu dem Autor hatte, kontaktierte Bahr das Nationaltheater, das wiederum in der Person Kvapils bereitwillig antwortete. In der Folge sollten diese beiden Protagonisten ein dichtes Netz von Vermittlung tschechischer, ja slawischer Literatur und Kunst in den deutschsprachigen Raum knüpfen. Bahrs »Entdeckung der Provinz« heißt also auch: Interesse für anderssprachige Literatur des Habsburgerreiches.4 Von der nichtdeutschsprachigen Peripherie der Habsburgermonarchie ausgehend, im konkreten Fall von Böhmen aus, sollte das Zentrum Wien befruchtet werden – und davon ausgehend dann der restliche deutsche Sprachraum, wenn nicht gar Europa. So meinte Bahr 1894 gegenüber Masaryk, an die »Internationale Musik- und Theater-Ausstellung« des Jahres 1892 erinnernd: »[…] damit wir auf diese Weise für

4

Dass dieser von Bahr an- und eingeforderten Provinzkunst aus anderer Perspektive dann eben doch Provinzielles im pejorativen Sinne anhaften kann, zeigt Kvapils Charakterisierung der Maryša der Gebrüder Mrštík als »böhmische[s] Bauerdrama [sic]« (Bahr/Kvapil 2007: 79).

Z ENTRUM

UND

P ERIPHERIE

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die Wiener (und durch diese für ganz Deutschland) das böhmische Schrifttum ›entdecken‹, wie durch die Theaterausstellung die böhmische Oper ›entdeckt‹ wurde.« (Kostrbová u.a. 2011: 292)

W ECHSELSEITIGE V ERMITTLUNG Z ENTRUM UND P ERIPHERIE

ZWISCHEN

Innerhalb des literarischen Feldes der Moderne, in dem nicht die Sprache oder die Ethnie, sondern das ästhetische Moment die Dominante ist, verlaufen die Vermittlungsprozesse hinsichtlich der Frage von Zentrum und Peripherie allerdings komplexer als man gemeinhin vermuten würde. Die Richtung der Vermittlung geht weder eindeutig vom Tschechischen/Slawischen ins Deutsche, noch von der Peripherie immer in Richtung Zentrum. So vermittelt Bahr zwar tschechischsprachige Schauspiele in den deutschsprachigen Raum (das Schauspiel Maryša der Gebrüder Alois und Vilém Mrštík geht etwa nach Wien und Berlin), Jaroslav Kvapil bringt Schauspiele Bahrs auf seine Bühne und regt Übersetzungen von Werken Bahrs an; doch es geht darüber hinaus: Auch der kroatische Autor Josip Kozor findet dank Bahrs Engagement den Weg an das Prager Nationaltheater. Und Jaroslav Kvapil setzt sich beispielsweise für den deutschsprachigen Lyriker Hugo Sonnenschein alias Sonka bei Bahr ein. Es wird also nicht nur das sprachlich Eigene bzw. Verwandte vermittelt. Wie sehr man davon profitieren konnte, zeigt folgender Brief Bahrs vom 14. Jänner 1909: Bahr wolle »auf etwa zwei Monate nach Dalmatien gehen«, »um ein kleines Buch darüber zu schreiben. Haben Sie südslavische Freunde in Dalmatien, die mir helfen könnten, das südslavische Problem verstehen zu lernen, so möchte ich an diese gern empfolen [sic] werden.« (Bahr/Kvapil: 90) Bei dem »kleinen Buch« handelt es sich um die Dalmatinische Reise. Diese gibt nicht nur seine Eindrücke wieder, sondern berichtet auch von Gesprächen mit südslawischen Intellektuellen, die Kvapil vermittelt hatte. Der Grund, warum Bahr sich zu diesem Zeitpunkt vorwiegend auf die tschechische Kultur und vor allem auf die Person Jaroslav Kvapils konzentrierte, ist evident, waren ihm doch mit dem Paradigmenwechsel seiner Konzeption der Moderne die Kontakte zu den einstigen Beiträgern der Zeit (erwähnt seien hier stellvertretend die Tschechen T. G. Masaryk, Josef Svatopluk Machar, František Václav Krejčí, der Ukrainer Ivan Franko und der Pole Stanislav Przybyszewski) verloren gegangen. Mit anderen Slawen Cisleithaniens, etwa den Dalmatiern, sollte er eben auf Vermittlung Kvapils in Kontakt treten. In den Jahren um 1906, dem Beginn des kontinuierlichen Briefwechsels zwischen Hermann Bahr und Jaroslav Kvapil, hatte sich Bahrs Schwerpunkt hin zu einer politischen Perspektive auf Österreich verschoben. In Texten wie der Dalmatinischen

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Reise oder in Austriaca, seiner in Buchform gegossenen Abrechnung mit der Stadt Wien, vor allem aber im Briefwechsel mit Jaroslav Kvapil und in seiner Charakterisierung der tschechischen Kultur wird deutlich, wie sehr er sich um eine politische Reform des Staates bemühte. All diese Texte illustrieren zudem, welche Bedeutung er dabei den Tschechen, insbesondere eben Kvapil, beimaß.

D AS › WAHRE Ö STERREICH ‹: IN DEN P ROVINZEN – MULTIETHNISCH – AUTHENTISCH Schon die ersten Seiten der Dalmatinischen Reise belegen eindrucksvoll, wie sehr sich Bahrs primäres Interesse von Europa nach Österreich verschoben hat. »In anderen Provinzen glaubt Österreich zuweilen den Fremden ein bisschen Europa vorspielen zu müssen. Hier [in Dalmatien; KI] hat es das nicht nötig. Hier kann es sich noch unverdorben zeigen. Hier steht es nackt da, wie im Paradiese.« (Bahr 1909: 5) Mit einer gleichermaßen religiösen (die bereits Bahrs spätere Entwicklung vorwegnimmt) wie sexualisierten Metaphorik (die auf frühere Phasen verweist) beschwört Bahr einen Urzustand, der frei von jeglichen zivilisatorischen Einflüssen, frei von ›Sünde‹ wäre. In der Provinz findet er Orte authentischer österreichischer Kultur: Salzburg, Prag, Krakau, Trient, Bozen, Ragusa. Vor dem Stradone Ragusas vergewissert sich der in sich versunkene Bahr mittels eines Selbstgesprächs seiner Überzeugung: Siehst Du, in der Getreidegasse, wenn das zittrige Glockenspiel herüberklingt, und in den bunten Goldmacherhäuseln des Hradschin und vor dem Tuchhaus in Krakau, wo der Mickiewicz steht, und auf dem Platz in Trient, wo der Dante seine Hand zum Norden hebt, und in Bozen auf dem Platz des Vogelweiders und hier im Abglanz der Kommenden fühlst du dich zu Haus, dies alles ist dein Heim, dies alles zusammen erst bist du, siehst du jetzt, was ein Österreicher ist? (Bahr 1909: 56)

An diesen Stellen erweitert Bahr seinen zivilisationskritischen, anti(groß)städtischen, vor allem gegen Wien gerichteten Impetus, den er bereits in Texten wie »Die Entdeckung der Provinz« (Bahr 1899) und »Gegen die große Stadt« (Bahr 1898) verkündet hatte. Während er in diesen nicht explizit vom nichtdeutschsprachigen Österreich gesprochen hatte, inkludiert er hier in das als ›österreichisch‹ Definierte (mit Ausnahme Salzburgs) Städte mit multiethnischer, ja sogar mehrheitlich nichtdeutschsprachiger Bevölkerung. Immer wieder insistiert Bahr auf Multiethnizität als Kennzeichen des ›echten Österreichers‹. In der Dalmatinischen Reise liest man über den Kapitän des Schiffes,

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mit dem Bahr unterwegs ist: »Der Rasse nach ein Spanier, die Eltern haben in Mailand gelebt, er spricht Italienisch, Kroatisch, Deutsch, Französisch und Englisch; alles zusammen gibt einen echten Österreicher, an dem man seine Freude hat.« (Bahr 1909: 22) Ja mehr noch, gerade in den Hegemonieansprüchen der deutschsprachigen Bevölkerung Österreichs liege, so Bahr, die eigentliche Misere Cisleithaniens: »Wie denn unser ganzes österreichisches Problem dies ist, dass es uns möglich werden muß, Österreicher deutscher oder slawischer oder italienischer Nation zu sein.« (Bahr 1909: 11) Kurzum, es mangle an einem österreichischen Nationalbewusstsein, das die Multiethnizität gebührend würdige. Sowohl die Dalmatinische Reise wie auch das Buch Wien (1907, dort als Antithese) kreisen im Zusammenhang mit der Konstruktion Österreichs um eine lebenslange Frage von Bahrs Denken, nämlich die Frage nach Authentizität, nach einer Befreiung der inneren Natur, einem Zu-sich-selbst-Kommen. Waren für den frühen Bahr Riten der Entgrenzung der Décadence, des Körperlichen (bald als zum Scheitern verurteilt erkannte) Möglichkeiten, die in der Moderne verloren gegangene Einheit wiederzuerlangen, so wird die Denkfigur körperlicher Entgrenzung nach 1900 auf den Staatskörper projiziert, wobei zusehends völkerpsychologische Überlegungen zum Tragen kommen, während er später das Christentum als (endgültiges) Lösungsangebot ansehen sollte. In den Provinzen, so Bahr bereits in der »Entdeckung der Provinz« (1899), sei der Österreicher noch authentisch, nicht deformiert, unverbildet, der in der Provinz lebende Österreicher gehorche seiner ›inneren Stimme‹. Rassen- beziehungsweise völkerpsychologische Aspekte werden vor allem im Umkreis von Bahrs Wien-Buch aktuell. Der Wiener war für Bahr exakt das Gegenteil dessen, was ihm als Ideal eines Bürgers Cisleithaniens vorschwebte. Die Ursache hierfür sah er in dessen ›keltischen Blutanteilen‹. Diese machten ihn […] nicht stark […] nicht eigenwillig, nicht eigensinnig, aber von einer merkwürdigen Kraft für das Andere, an welchem, in welchem sie selbst erst gedeihen. Immer bereit, sich aufzugeben. Immer bereit, abzuweichen, auszuweichen, anzunehmen, einzunehmen, einzugehen, aufzugehen. Immer bereit, sich zu verwandeln und auch die Verwandlung wieder zu verwandeln und immer nur eben Verwandlung zu sein, Werden zu sein. Kein Charakter, alles Figur. (Bahr o.J.: 40)

Daher fehle dem Wiener der Sinn für die Wirklichkeit, er sei unauthentisch, nehme alles an, bilde das Gefäß für jeden Inhalt, was auch die hohe Kunst des Lavierens erkläre. Sämtliche dem Wiener zugeschriebenen Charaktereigenschaften würden sich

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daraus erklären.5 Dem derart charakterisierten und kritisierten Wiener, dessen Sinnbild der Hofrat, dessen dynastische Entsprechung die Habsburger seien, stellt Bahr mit dem Tschechen einen idealtypischen Entwurf gegenüber: eben in der Provinz beheimatet und verwurzelt, aktivistisch, authentisch, stolz auf eine Jahrhunderte lange Tradition bauend, aller Gewalt trotzend, das Eigene weiterführend: Deshalb scheinen mir [...] unter allen Slawen jetzt gerade die Tschechen von der größten Bedeutung, weil sie, bei der gleichen Leidenschaft, nichts was geistig irgendwo in Europa vorgeht, ungenützt zu lassen und durchaus an den geistigen Schicksalen Europas mit ihrer ganzen Kraft teilzunehmen, doch in ihrer nationalen Eigenart so stark sind, daß sie nichts ergreifen können, ohne es sich sogleich innerlich anzueignen und es auf ihre Weise umzuformen, bis es alles fremde Wesen ablegt und durchaus mit dem eigenen Geist dieser merkwürdigen, sinnlich weichen und zugleich brutal willensstarken, schwärmerischen und verstandesharten, romantisch realistischen Nation durchsetzt ist. (Bahr 1913: VII-VIII)

D IE T SCHECHEN ALS M ITTLER – J AROSLAV K VAPIL ALS M ASS ALLER D INGE Dabei hatten die Tschechen eine zusätzliche Aufgabe zu übernehmen, die Bahr bereits 1892 in seiner Ausstellungsbesprechung der österreichischen Kultur zugeschrieben hatte, nämlich die Funktion des Mittlers. Schon damals hatte er als ein »slavisches Zeichen« die »biegsame Versöhnung der fremdesten Kräfte« verstanden, freilich zu diesem Zeitpunkt noch primär in ästhetischem Sinn (Bahr 1892). Nun sollte diese Vermittlung auch eine politische Dimension erhalten. Nach dem Ausscheiden der Habsburgermonarchie aus dem Deutschen Bund habe Österreich eine neue Aufgabe erhalten, ja sei gezwungen gewesen, sich nach neuen Aufgaben umzusehen. Auf Grund seiner Lage inmitten Europas sei Österreich dazu prädestiniert, Mittler zwischen Ost und West zu sein. Diesen historischen Wandel und die sich damit ändernde Aufgabe Österreichs, sah Bahr folgendermaßen: »Aber unsere Staatskünstler wissen noch immer nicht, dass wir aus einem deutschen Östreich [sic] ein slawisches Westreich geworden sind. Vor dreiundvierzig Jahren ist das geschehen. Es wäre Zeit, sich daran zu gewöhnen...« (Bahr 1909: 76) Die Nichtakzeptanz dieser Tatsache seitens

5

Pikanterweise waren dies auch die Charaktereigenschaften, mit denen Vertreter der tschechischen Moderne die Protagonisten der Wiener Moderne charakterisierten, etwa Hugo von Hofmannstahl oder Arthur Schnitzler. Vielvölkertum und Kosmopolitismus galten beispielsweise F. X. Šalda oder Arnošt Prochazka als problematische Erscheinungen, die mit Charakterlosigkeit, Formlosigkeit und Assimilation als Identitatsverlust assoziiert wurden (vgl. Kostrbová 2011b: 78).

Z ENTRUM

UND

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der Politik und das Insistieren auf der Hegemonie des Deutschtums war für Bahr der Grund für die nationalen Zwistigkeiten, für die eigentliche Misere Österreichs. Im künstlerischen Schaffen seines Freundes Jaroslav Kvapil sah Bahr all jene Eigenschaften und Verhaltensweisen gebündelt, die er von dem Österreicher, wie dieser ihm idealerweise vorschwebte, einforderte. Gerade die Begegnung mit der Person Kvapils sollte für die Entwicklung von Bahrs Denken ein befruchtender Glücksfall sein. Denn in dem vielseitigen Schaffen des Tschechen fand Bahr seine Ideen nicht nur bestätigt, es ermöglichte ihm auch, sie noch zu erweitern. Derart gelangte er über die Person seines tschechischen Freundes zu einem Idealtypus des Tschechen, ja in weiterer Folge des österreichischen Slawen – eines Typus, der freilich nicht ohne Rückgriff auf vereinfachende Vorurteile gebildet war und durchaus völkerpsychologische Stereotypen des Slawischen bemühte (wie etwa die Weichheit der Slawen). Zugleich war dieser Idealtypus schon allein deshalb von der Realität abgekoppelt, weil Bahr bei seiner Konstruktion ›die tschechische Kultur‹ zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen auf die Aktivitäten eines – innerhalb des tschechischen Kulturlebens durchaus nicht unumstrittenen – Akteurs des kulturellen Lebens verengte.6 Zudem war Bahrs Rezeption der tschechischen Kultur, da er mangels Sprachkenntnis auf Übersetzungen angewiesen war, zwangsläufig eingeschränkt. Derart nahm er mehrheitlich das als tschechische Kultur wahr, was ihm Kvapil vermittelte.

D IE S LAWEN Ö STERREICHS K ULTUR IN Ö STERREICH

ALS

T RÄGER

DER DEUTSCHEN

Ausgangspunkt von Bahrs Überlegungen war Kvapils produktive Rezeption internationaler kultureller Strömungen: Kvapil war nicht bloß Schriftsteller, der an die Moderne anschließen wollte, Dramaturg und von der internationalen Theatermoderne im Sinne Max Reinhardts und Konstantin Stanislavskijs beeinflusster Theaterregisseur am Prager Nationaltheater, sondern auch Übersetzer, Redakteur und Herausgeber der international orientierten Buchreihe Světová knihovna, die als tschechisches Pendant zum Reclam-Verlag gesehen werden kann. Über all diese Arbeiten urteilte Bahr: »Kvapil hat den Mut, weil er sich sicher fühlt, daß er und seine Leute doch alles, was sie annehmen, sich unbewußt gleich assimilieren und in ihr Eigentum verwandeln werden.« (Bahr 1910: 146) Die Tschechen seien bereit, das Neue aufzunehmen und

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Jaroslav Kvapil galt einerseits als Vertreter der Schule Vrchlickýs und wurde daher von den Vertretern der tschechischen Dekadenz abgelehnt, den konservativen Kräften hingegen war er zu international orientiert. Kritik an Bahrs Tschechenbild sollte sich erst ab den Zehnerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts regen, als mit Arne Laurin und Otokar Fischer eine jüngere Generation die Bühne der Kritik betrat (vgl. Bahr/Kvapil 2007: 40-44).

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hätten doch die Fähigkeit, es in Eigenes zu integrieren, ohne sich selbst zu verleugnen. Eine Herangehensweise, die Bahr als ›synthetisch‹ bezeichnete. In der Folge übertrug Bahr diese Eigenschaft auf alle Slawen und grenzte sie scharf von der Kulturpraxis der deutschsprachigen Bevölkerung ab, wobei er den Begriff »deutsche Kultur« von seiner ethnischen Bindung löste: Mein Freund Kvapil [...] kommt jeden Augenblick nach Berlin, mit einer wahren Todesangst, nur ja nichts zu versäumen, was draußen vorgeht; alles wollen sie wissen, alles haben [...]. Während in den österreichischen Deutschen eine Neigung ist, hochmütig gegen das Neue sich im Alten zu beruhigen, als ob sie nichts mehr nötig hätten. Hält bei diesen der Dünkel, bei jenen die Gier an, so kann es geschehen, daß in Österreich die neue deutsche Kultur nur noch bei Slawen zu finden sein wird. (Bahr 1909: 98)

Diese (scheinbar) paradoxe Überzeugung, ›deutsche Kultur‹ sei bald nur mehr bei den Slawen zu finden, zeigt in welchem Maße Bahrs Vorstellung von der deutschen Kultur zum damaligen Zeitpunkt von einer Hegemonie des Deutschtums entkoppelt ist. ›Deutsche Art‹, ›deutsche Kultur‹ ist für ihn vielmehr frei von ethnischen Zuordnungen. Hatte Bahr 1897, auf der Suche nach dem ›Österreichischen‹ im Rahmen der Forderung nach einer deutsch-österreichischen Literaturgeschichte, Österreich infolge der historischen Entwicklung vorerst in einen deutschen und österreichischen Teil mit »eigenthümlichen Charakterzügen« der jeweiligen »Volksseelen« (Bahr 1897: 59, 111) aufgespalten (»Die Deutschen unter uns werden nicht österreichisch heissen wollen, die Österreicher nicht deutsch.«, ebd.: 60), so sah er das ›Österreichische‹ zunehmend von allem Deutschtum entkoppelt. Tatsächlich orientierte sich Jaroslav Kvapil, der die künstlerischen Verhältnisse der Tschechen zum damaligen Zeitpunkt auch auf Grund der nationalen Borniertheit als rückständig ansah, in seiner Arbeit an den künstlerischen Zentren, was allerdings für ihn nicht bloß Berlin, sondern mindestens Berlin, Wien und Moskau bedeutete. Die Befruchtung durch die Zentren der Moderne gaben ihm internationales Renommee, ermöglichten es ihm, sich künstlerisch durchzusetzen. Ähnlich der ersten Phase, als die Kontakte nach Wien die tschechische Moderne mitkonstituierten, erhält Kvapil nun über Bahr symbolisches Kapital, das dann auf den nationalen Raum zurückwirkt. Denn über die Anerkennung eines deutschsprachigen Schriftstellers konnte sich der nicht unumstrittene Kvapil im tschechischen Raum endgültig etablieren.

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I MPERIALISTISCHE P ERSPEKTIVEN – AM ÖSTERREICHISCHEN W ESEN SOLL

DIE

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GENESEN

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges steht Bahrs österreichische Perspektive unter imperialistischen Vorzeichen, wenn auch unter fortdauernder Einbeziehung der Tschechen, die allerdings immer weniger bereit waren, an Bahrs Aktivitäten teilzunehmen und sich derart von ihm vereinnahmen zu lassen. Nach einer kurz aufflackernden deutschnationalen Begeisterung Bahrs zu Kriegsbeginn wächst spätestens mit dem Jahr 1915 seine Skepsis gegenüber dem Bündnispartner Deutsches Reich. In Zukunft sollte Bahr Österreichs Multiethnizität von den Hegemonievorstellungen des Deutschen Reiches abgrenzen und dem Bündnispartner vorwerfen, kein Verständnis für die Besonderheiten Österreichs zu haben, ja in letzter Konsequenz im Deutschen Reich den »Erbfeind Habsburgs« (Bahr/Kvapil 2007: 260) sehen. Die Einbeziehung der nichtdeutschsprachigen Provinz, vor allem der Tschechen war ihm conditio sine qua non der Existenz Österreichs. Gerade Österreichs Rolle als Mittler, zu dem es die Multiethnizität, die historische Entwicklung wie die geographische Lage gleichermaßen prädestinierten, war für Bahr eine ›historische Sendung‹, an der ganz Europa sich zu orientieren habe. Die Sendung Österreichs aber war, als Miniatur des Abendlandes gleichsam, einander widerstrebende Völkern, Stämme und Rassen zu verbinden und sie durch Eifersucht sämtlich höher zu führen, als sie sonst auch nur versucht hätten. […] Österreich war immer die Brücke des Abendlandes zum Morgenland. (Bahr: 1928)

In diesem Sinne ist auch Bahrs Eintreten für verfolgte Tschechen und Dalmatiner während des Ersten Weltkrieges und seine wieder erstarkende Rezeption der tschechischen Kultur (die zu der Zeit auch bei anderen Autoren wie etwa Hofmannsthal zu erkennen ist) als Versuch zu sehen, seine Idee von Österreich durchzusetzen. Angesichts der auseinander brechenden Monarchie sollte noch einmal die geistige Einheit des Reiches beschworen werden. Von diesem Gedanken waren etwa seine Tätigkeiten im Hofburgtheater beseelt, wo Bahr Dramaturg in einem Führungsgremium war. Auch hier versuchte er, tschechische Dramatik auf die Bühne zu bringen. – Freilich konnte nun, gegen Ende des Ersten Weltkrieges, nach allem, was geschehen war, und am Vorabend der Gründung der Tschechoslowakei die Vermittlung tschechischer Schauspiele nach Wien seitens der Tschechen nicht mehr wie im Jahre 1906 als Eintreten für ihre Sache (miss)interpretiert werden. Unter veränderten politischen Umständen ist die gleiche Aktion der Vermittlung völlig anders zu bewerten als gute zehn Jahre früher. Man könnte meinen, Bahr habe nach dem Ende der Monarchie seine Vorstellungen revidiert oder doch zumindest einer kritischen Revision unterzogen, doch ganz

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im Gegenteil. Da er ja bereits früher den Begriff des Österreichischen nicht am Deutschtum, sondern an bestimmten Eigenschaften festgemacht hatte, konnte er im August 1922 gegenüber dem tschechoslowakischen Staatsbürger Jaroslav Kvapil etwa auch folgende Meinung vertreten: Ich muß mir also in der leeren Luft ein Leben aus der Kraft meines eigenen Geistes improvisieren, denn ich bin leider zu alt, um warten zu können, bis das tschechische Volk jenes Östreich [sic] auf einander angewiesener Völker schaffen wird, das ich mir von einer Verwandlung der alten Habsburgermonarchie erhoffte: ich bin fest überzeugt, daß es Eure Sendung ist, ein solches Reich zu führen. (Bahr/Kvapil 2007: 254f)

Was einst Zentrum gewesen war, war nun auf Grund der historischen Entwicklung Peripherie geworden. Auch wenn die Tschechen freilich weit davon entfernt waren, sich als Vollstrecker der von Bahr als historische Mission verstandenen Aufgabe Österreichs zu sehen, so sei doch angemerkt, dass die Rolle des Mittlers zwischen Ost und West Staatsdoktrin der neu gegründeten Tschechoslowakei wurde. Wie schnell Bahrs Gedankenkonstrukt unter sich verändernden Perspektiven problematisch werden kann, zeigt seine weitere Entwicklung: Er kehrte in den Schoß der Kirche zurück, empfing täglich die Kommunion, versenkte sich in die Riten der katholischen Mystik – wohl der letzte Versuch, das eigene Ich zu finden, der damit in einer langen Tradition des ewigen Suchenden Bahr steht. Sein antizivilisatorischer Impuls, gepaart mit dem realen Wegfall der nichtdeutschsprachigen Provinzen, demgegenüber er sturköpfig auf der positiven, befruchtenden Rolle der Provinzen beharrte, bedeutet im politischen Diskurs Österreichs der Zwischenkriegszeit Problematisches: So waren in Bahrs Terminologie aus den Provinzen bald »Stämme« geworden und Hitler »ein Mann aus dem Innviertel«, der Faschismus eine Form des »Aktivismus«. Beiden gilt die Sympathie des späten Bahr, der dabei freilich immer Österreich retten wollte. Hermann Bahrs solitäres Interesse an der tschechischen Kultur steht unter verschiedenen Vorzeichen, wobei sich mehrere, freilich einander überlagernde und konterkarierende Phasen festmachen lassen. Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts war es Bahrs Ziel, eine spezifisch österreichische Kultur zu generieren, die Anschluss an die internationale Moderne finden und sich zugleich von jener des Deutschen Reiches unterscheiden sollte: Eine nationale Kultur, die zugleich europäisch sein sollte. Nach der Jahrhundertwende traten politische Überlegungen hinsichtlich der Reform des Staates Österreich stärker hervor, die sich schließlich hin zu einem Imperialismus entwickeln sollten, der Österreich als das Maß aller europäischer Staaten sah. Ungeachtet der sprichwörtlichen Sprunghaftigkeit, auch der Inkonsequenz, ja Widersprüchlichkeit von Bahrs Denken wie den daraus resultierenden Schlussfolgerungen, sowie seines polemischen, dem Tage geschuldeten Impetus, liegt allem doch

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eine Konstante zugrunde: die Suche des in der und durch die Moderne desorientierten Menschen nach seinem authentischen Ich, nach Wahrheit, nach ›reiner Kultur‹. Das Interesse Bahrs an der tschechischen Kultur war ein Teil dieser Suche, der Sehnsucht nach der Konstruktion von etwas ›anderem‹ – sei es einer Moderne oder eines authentischen Österreich. Für beide benötigte Bahr – in unterschiedlicher Intensität – die tschechische Kultur.

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»Prag blickt in Berlin immer gern auf Wien herab« Anton Kuh zieht die Koordinaten der Moldau-Metropole W ALTER S CHÜBLER

Wien im April 1919. Zu den Klängen des Gladiatorenmarsches stampft die Crème de la crème des internationalen Ringkampfsports auf die Bühne des Etablissement Ronacher, »20 bis 25 Zentner ›Meisterschaftskonkurrenz‹«: »Sie lassen die Arme hängen wie Möbelpacker, in deren Gelenken die Fähigkeit, sich ein Klavier ohne Umstände auf den Buckel zu schupfen, stolze Rast hält. Eine Unsumme retardierter Watsch-Energien. Zehntausend ungeohrfeigte Totschlag-Ohrfeigen defilieren am Publikum vorbei.« »Die Nationalitäten sind buntgewürfelt«: Vom »stolzen Linzer« über den »kühnen Atzgersdorfer« bis zum »unerschrockenen Znaimer« registriert Anton Kuh alles, was »die politische Naturgeschichte einstmals unter dem Namen ›Österreicher‹ vereinte«. Einer der Stars des Abends: »Herr Hawliczek« aus Prag. Gleich bei seinem ersten Kampf – das Publikum rast – muss der Schiedsrichter einschreiten, und er tut das mit der vehementen Abmahnung: »›Herr Hawliczek, wir sind nicht in Prag!‹« (Kuh 1919: 7f.) Wofür »Prag« hier steht, markiert der Zwischentitel vor dieser Episode: »Ein politisches Intermezzo«. Er verweist darauf, dass die Pressionen der jungen tschechoslowakischen Staatsmacht vis-à-vis der deutschen Minderheit in der ehemaligen Reichshaupt- und Residenzstadt rundweg missbilligt wurden.1 Herr Hawliczek hat also, wie man damals sagte, ›roh‹ gekämpft und wurde vom Schiedsrichter wegen unsportlichen Verhaltens verwarnt. Geradezu eine Leerstelle signalisiert hingegen der Titel eines Prag-Texts von Anton Kuh vom Juni 1914: »Zwischen Wien und Berlin« (Kuh 1914b). »Wien« und

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Solche Exzesse kommentiert Anton Kuh wiederholt (Anton [d.i. Anton Kuh] 1919: 6; a. [d.i. Anton Kuh] 1919: 7).

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»Berlin«, das sind »nicht nur die Namen zweier Städte, es sind darüber hinaus Chiffren für Kulturen« (Jäger/Schütz 1999: 9). In den 1920er Jahren ist die Gegenüberstellung von Donau- und Spreemetropole als Gegenüberstellung zweier Kulturen so notorisch, dass, wenn Arthur Kahane im Mai 1926 einen Text im Berliner BörsenCourier »Die beiden Städte« betitelt, jeder sofort weiß, welche zwei Städte damit nur gemeint sein können (Kahane 1926: 5f.). ›Wien‹ ist intuitiv und gefühlsbetont, ›Berlin‹ ist rational und analytisch; ›Wien‹ ist behäbige Muße, ›Berlin‹ ist ›Betrieb‹, Dynamik, Tempo; ›Wien‹ ist gemütliche Schlamperei, ›Berlin‹ ist preußische Organisation und Disziplin; ›Wien‹ ist behagliches Savoir-vivre, ›Berlin‹ gilt der Genuss des Daseins als Sünde und Zeitverlust – so die gängigen Stereotypen. Wofür aber steht ›Prag‹? Und zwar das Prag abseits der touristischen Klischees (vgl. Thomsen 2010) vom »goldenen Prag«, von der »hunderttürmigen Moldaustadt«, vom »nordischen Rom«, abseits auch von »Prag als ›Stoff‹« (Winder 1918:3), also abseits des vor allem literarisch vermittelten ›dämonischen‹, ›magischen‹ Prag. Die angesprochenen Topoi verstellen den Blick auf die konkreten Lebenswelten. Deshalb will ich hier dafür plädieren, das Feuilleton – jene Zeitungstexte »unter dem Strich«, deren Bandbreite von der tagesaktuellen Kulturberichterstattung bis zur literarischen Artikulation der sogenannten »Kleinen Form« reicht – als »kulturhistorische Quelle ersten Ranges« (Jäger/Schütz 1999: 9) zu nutzen, als Folie, vor der sich die »gesellschaftlichen Konturen« der zeitgenössischen Belletristik »am deutlichsten zeichnen ließen« (vgl. Schmidt-Dengler 2002: 11). Das Feuilleton ist ein »Medium […], das sich täglich mit der Konstruktion von Wirklichkeit auf verschiedenen Ebenen befaßt. Hier wird bewertet und formuliert, gespiegelt und gestaltet, Tag für Tag. Die Feuilletons gelten mithin als Auskunftei zu Selbstwahrnehmung und Selbstbildentwürfen einer intellektuell bestimmenden Schreiberschaft.« (Jäger/Schütz 1999: 10) Ein »Anforderungsprofil«, das Anton Kuh – 1890 in Wien in eine aus Prag stammende deutsche jüdische Publizistenfamilie geboren und 1941 im New Yorker Exil gestorben – geradezu mustergültig erfüllte. Als Chronist erfasste der Artikelschreiber die Physiognomie der Zeit so luzide, wie er sie brillant zeichnete. Seinem Selbstverständnis nach »Linksler, Exzedent, Schmutzfink der Aufrichtigkeit« und damit »geborener Spielverderber« (Kuh 1926a: 5), hatte er mit der gern als ›Wiener Note‹ bezeichneten Spielart des Feuilletons, dem heiteren Geplauder, nichts zu schaffen. Respektlos, sarkastisch und voll polemischer Verve, verweist sein scharfsichtiger Spott durchwegs auf das Argument. Bohemien, lässt Kuh keine Gelegenheit aus, das épater le bourgeois geistlaunisch zu exerzieren. Er provoziert gern, legt den Finger auf den wunden Punkt, ist programmatisch taktlos. Er ist bekennender Neurastheniker, einer jener Nervösen also, die als

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Phänomen der modernen, »beschleunigten«, überreizten Jahrhundertwende-Großstadtkultur von Krafft-Ebing und anderen beschrieben wurden.2 Er hält sich auf »die Nervosität als Witterungssprache zwischen den Menschen« durchaus etwas zugute, wenn er sie mit der »robuste[n] Geschlossenheit unnervöser Menschen« (Kuh 1914a: 2) vergleicht, ohne indessen die Gefährdung dieses übersensiblen, aufgekratzten Temperaments zu übersehen: Die auf Permanenz gestellte Rastlosigkeit nagt an der Substanz. Kuraufenthalte schon in jungen Jahren können das Tempo, in dem die Kerze von beiden Enden abbrennt, nicht mindern. Ganz entgegen dem tradierten Klischee vom ›Kaffeehausliteraten‹ war Kuh keineswegs eine Wiener ›Lokalgröße‹ (im doppelten Sinn des Wortes), sondern als Kritiker, Glossist und Stegreifredner überaus aktiv ins literarische, politische und gesellschaftliche Leben nicht nur des Wien und Prag der Habsburgermonarchie und der Zwischenkriegszeit, sondern auch des Berlin der Weimarer Republik involviert. An die Frage, wofür Prag steht, knüpft sich jene nach der Positionierung Prags – zunächst der böhmischen Metropole innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie und dann der Hauptstadt des jungen Nationalstaats – in Bezug auf andere zentraleuropäische Metropolen wie Wien und Berlin, Budapest, München oder Paris. Wird Prag als Metropole, soll heißen als Zentrum mit Strahl- und Anziehungskraft, gesehen (und wenn ja, in welchen Zeiträumen) oder bloß als eine Stadt, die auf dem Weg von Wien nach Berlin liegt oder von Budapest nach München oder von Warschau nach Paris? Anders und banaler, aber auch konkreter gefragt: Warum wandern so viele Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller Anfang des 20. Jahrhunderts aus Prag ab? Aufschluss, zumindest punktuell, bietet eine Handvoll Antworten auf ebendiese Frage, die Ende Mai und Anfang Juni 1922 in der Deutschen Zeitung Bohemia und im Prager Tagblatt veröffentlicht wurden.3 Geantwortet haben Gustav Meyrink, Franz Werfel, Paul Kornfeld, Ernst Weiß und ein anonymer »bekannter Prager Schriftsteller, der seit einiger Zeit im Auslande lebt«. Für Meyrink (verlässt Prag 1903) »ist Prag […] die Stadt der Verbrecherintelligenz und ihre Atmosphäre ist die Atmosphäre des Hasses« (O.N. 1922b: 6). Werfels Weggang 1912 ist ein »Rettungsversuch. Mein Lebensinstinkt wehrte sich gegen Prag. Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, ist ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Ghetto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt.« (O.N. 1922c: 6) Auch Paul Kornfeld verlässt 1914 mit Prag eine Stadt, die, »für einen Deutschen, eine Kleinstadt ist« (O.N. 1922b: 6). Der anonyme »bekannte Prager Schriftsteller« (verlässt Prag um 1921) führt neben Motiven ökonomischer 2

Siehe dazu: Eckart (2009: 64-79).

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Kurt Krolop hat vor inzwischen 45 Jahren auf die Rundfrage »Warum haben Sie Prag verlassen?« als Quelle hingewiesen (Krolop 1966).

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Natur die »gereizte Stimmung«, die »nationalen Gehässigkeiten«, die nicht nur das künstlerische Schaffen nicht fördern, sondern Prag zu einer »kleinen, engen Stadt« machen, als Beweggründe an (O.N. 1922a: 3f.). Ernst Weiß (verlässt Prag 1921) macht auch materielle Gründe geltend (»daß es einem deutschen Schriftsteller, dessen Werke in Deutschland erscheinen und in Mark bezahlt werden, in dem letzten Jahre unmöglich wird, in einem Lande mit höherer Valuta zu leben, und mag er seine Lebensansprüche noch so bescheiden stellen«), stellt aber ausdrücklich klar, dass nicht diese ausschlaggebend gewesen seien, sondern vielmehr die Tatsache, dass er sich »in Prag von Tag zu Tag mehr als Fremder, als Ausländer« gefühlt habe (O.N. 1922b: 6). Er ist verbittert über die »Tschechisierung« der Stadt mit dem traumatischen Tiefpunkt der Besetzung und »Wegnahme des alten Landestheaters«: »Man muß atmen können. Das kann man nicht ohne Rechtsgefühl.« (Ebd.) Atmosphärisch war Prag demnach unerträglich (geworden), jedenfalls für die deutschsprachige Minderheitsbevölkerung. Anton Kuh beschreibt diese Prager Atmosphäre, präziser gesagt: die Atmosphäre des deutschen Prag,4 in seinem Feuilleton »Zwischen Wien und Berlin«. Unter dem Untertitel »Entdeckungen eines Zugereisten« formuliert er sein »Erkenntnisinteresse«: »Jede Stadt hat ihre Zahl von kulturterminologischen Selbsterkenntnissen, die sie wie ein Plakat auf der Stirne trägt.« (Kuh 1914b: 2) Was fällt Kuh – bei programmatisch oberflächlichem Blick – an Wienerischem bzw. Berlinischem in Prag auf? An Wienerischem zunächst der so genannte Bummel, das institutionalisierte Flanieren also. Wobei sich der Prager Bummel allerdings vom wienerischen unterscheidet: Denn der Wiener Bummel ist eine Vergewisserung auf das wechselseitige Wohlbefinden und Am-Leben-Sein; die Lust an unterhaltsamer Vermischung ist im Spiel dabei. Wien ist die Stadt des Grußes, aber des Grußes aus patschierlicher oder streberhafter Koketterie. Auch Prag ist die Stadt des Grußes. Aber der Gruß ist schwerer, zeremonieller, die Hand bezeugt keine übertriebene Freude und kein legeres Wohlwollen, sondern Achtung und Hochachtung. Wenn man sieht, wie viele Leute sich am Prager Graben grüßen und wie sie sich grüßen, dann muß man an eine Gruß-Kurve denken, die der Prager täglich zwei- oder dreimal absolviert. Es ist ein 4

Denn neben »Deutsch-Prag, Getto-Prag« gibt es Kuh zufolge »noch ein anderes Prag, ein helles, hunderttürmig-buntes, sonniges, wo gesunde, fast dörflich animalische Menschen wohnen, ein Prag draller Wirklichkeiten und Morgigkeiten, Groß-Prag, das Prag der Tschechen. Das ist ja das Einzigartige dieser Stadt, daß kreuz und quer sich schlängelnd, fast Mann an Mann vorbei, eine chinesische Mauer ihr Inneres in zwei Teile schneidet. Und noch seltsamer, daß der kleine, deutsche Teil stärker auf den anderen hinüberstrahlt als dieser auf ihn; so daß es vielleicht bald mehr hysterisierte Tschechinnen geben wird als gesundete Kommerzialräte.« (Kuh 1927: 12) Diese Passage fehlt bezeichnenderweise in einem Abdruck des Texts im Prager Tagblatt (Kuh 1930: 3; dort ein Vorabdruck aus der Autorsammlung »Der unsterbliche Österreicher« [Kuh 1931]).

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kaufmännisches Eintragen des Nominalwertes der persönlichen Würde. [...] Es ist eine Vergewisserung auf die wechselseitige Geltung. Und um das ist der Prager Bummel nördlicher als der Wiener: man spaziert, aber man kokettiert nicht. (Ebd.: 2)5

Was fällt Kuh an »Berlinischem« in Prag auf? – Große »Rund- und Glotzbrillen«, so »zweckmäßig, spiegelscharf«, dass er argwöhnt, sie könnten sogar aus den USA importiert sein: Nicht mehr Intelligenzbrillen sind es, sondern Kulturbrillen. Aber, mein Gott, das Maß scheint mir etwas zu selbstübernommen. Wie alles Dekorativ-Programmhafte vergrößern sie den Schein und verkleinern sie das Sein der Person. In Wien trägt man für Kunst- und Kulturzwecke doch lieber noch den schlamperten Zwicker, der das Geistige nicht so unterstreicht, aber auch nicht blamiert. Hier ist man gründlich und gediegen und beäugt das Wesen der Dinge ganz nahe der Hornhaut. Das gehört zur pragerischen Strenge. (Ebd.: 3)

Eine Strenge, für die Kuh durchaus Sympathie hat: »Hier in Prag ist [im Gegensatz zu Wien] die Luft doch wenigstens klar – wenn auch kalt.« (Ebd.: 4) Eine Strenge, die Kuh Anfeindungen aus Wien gegenüber im Dezember 1917 vehement verteidigen zu müssen glaubt. Hintergrund ist eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Die jungen Dichter« an der »Neuen Wiener Bühne«, in deren Rahmen etwa Franz Werfel (Oktober 1917) und Paul Kornfeld (Februar 1918) in Wien lesen – und in deren Gefolge »Prag!« »das neueste ›Hepp hepp‹« der Wiener Kulturszene wird: ein »Spottwort«, mit dem sich die »skeptische Sinnlichkeit gegen die Hegemonie der ledernen Gedanklichkeit« verwahrt (so Kuh 1917: 4). Kuhs Kommentar: Nun ist die Gereiztheit Wiens ja begreiflich. Es ist Jahre, Jahrzehnte lang in seinem warmen, wohligen Talentnest gesessen, ganz eingebettet in die Watte von Impression, Ironie und SelbstKoketterie, unbekannt und doch genannt, und da kommt nun von Norden etwas Neues, was unter Verzicht auf Wien via Leipzig, Berlin und Hamburg seinen Weg genommen hat und die Zentrale links liegen läßt [...]. Nach uns kräht kein Hahn mehr – und bei Euch [Kuh nennt konkret: Brod, Werfel, Kafka, Meyrink, Kornfeld] merkt ganz Deutschland auf, Ihr werdet mit Feuilletons-Wirbel und Notizen-Schwall von jeder Kleinstadt empfangen. (Ebd.) 5

Ergänzend dazu, das heißt zum Thema »kokettieren«, im Sinne von »anbandeln«, »flirten«, eine Bemerkung Kuhs aus dem November 1916 anlässlich eines Gastspiels von Claire Wallentin im Deutschen Landestheater. Und zwar in Molnárs »pikantem« Lustspiel Der Gardeoffizier, dessen Aufführung Kuh im Prager Tagblatt bespricht. Kuh: »Das Publikum, über das hie und da eine Welle der Entzückung lief, war nach den Aktschlüssen merkwürdig reserviert. Fräulein Wallentin mag sich trösten: Prag ist keine erotische Stadt. Das schöne Spiel, das von der Pose aufs Gefühl und zurück springt, der süße Kleinkrieg zwischen Liebe und Leben bleibt ihr unbegreiflich.« (–uh [d.i. Anton Kuh] 1916: 6)

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Und Kuh gestattet »jedem, über Prag zu spotten – nur keinem Wiener. Wenn er den Anschluß verloren hat, soll er nachlernen.« Er möchte indessen gleichwohl »auf das Wort ›Prag!‹ nicht verzichten. Es sagt doch zuviel an intellektuellem Stuckertum, unsinnlichem Schwergewicht und parnassischer Branchetüchtigkeit.« (Ebd.) Zum Antrieb für die Ausnahmestellung, die sich die Prager deutsche Literatur erworben hatte, erklärt Kuh in einem Text aus dem Jahr 1927: Klassenprimus-Eifer der Provinz, in geistigen Dingen noch up to dater zu sein als Großeuropa; dem Modehauch, der sich auf den Hauptplätzen der Welt regt, um einen Tag zuvorzukommen. So war denn Prag lange Zeit eine Art meteorologischer Versuchsstation für deutsche Kunst und Literatur. Man konnte auf dem Barometer des Café Arco genau ablesen, wann der christliche Pantheismus seine Herrschaft antreten, wann der Ex- dem Impressionismus nachfolgen, wann welche neue Bewegung in Schwung kommen würde. Das aber ist der zweite Grund, warum das Wort Prag ironisch gebraucht wird. Denn Heißhunger nach geistigen Urteilen ist selten von Grazie gesegnet. (Kuh 1927: 11)

Strenge, Ernst, die auch im gesellschaftlichen Kreis, selbst im Kreis der Familie den Ton angeben: denn zu den Einrichtungen eines geregelten Prager Haushalts gehört unfehlbar das sogenannte Problemanschneiden. Das Problem – es heiße ›Übervölkerung‹, ›Eifersucht‹, ›Zionismus‹ oder wie immer – wird wie ein Kuchen in die Mitte des Tisches gestellt; die Männer legen ihre Hände, die Frauen dazu noch die Büsten auf den Tisch; und dann nimmt jeder sein schärfstes Verstandesmesser zur Hand und schneidet an. (Ebd.: 12)

Einerseits sind Stadt-Imagines zäh- und langlebig und geprägt von hartnäckigen Stereotypen, andererseits sind das Prestige und die Attraktivität von Metropolen keineswegs statisch, sondern unterliegen konjunkturellen Schwankungen. An der Relation Wien–Prag wird das besonders deutlich. Mit dem Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie im November 1918 war Wien vom Finanz- und Handels- und kulturellen Zentrum eines 52 Millionen Menschen umfassenden Reichs zur Hauptstadt eines Kleinstaats von knapp sieben Millionen Einwohnern geschrumpft. Angesichts von Hyperinflation, die man bis Ende der 1920er Jahre nicht in den Griff bekam, und Massenarbeitslosigkeit prägten Endzeit- und Katastrophenstimmung die ehemalige Donaumetropole, vom einstigen Nimbus der Leichtlebigkeit und Unbeschwertheit war nichts mehr zu spüren. In Prag dagegen herrschten eine neue Gründerzeit, wirtschaftliche Prosperität (die Tschechoslowakei hatte den Löwenanteil der Industriestandorte der ehemaligen Monarchie geerbt) und Aufbruchsstimmung. Wien, auf dem Weg in die ökonomische und kulturelle Bedeutungslosigkeit, fror im Winter 1918/1919 und wartete auf Brennmaterial-Lieferungen aus den tschechoslowakischen Kohlerevieren. Und Prag

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ließ Wien warten und ließ die ehemalige »Zentrale« spüren, dass man nun Oberwasser hatte. Sogar hinter dem Phänomen, dass Wiens Frauen Mitte der 1920er Jahre den Trend zum gertenschlanken ›Sportgirl‹ verschliefen – das Schnitzlersche ›süße Wiener Mädel‹ ist bekanntlich ›mollert‹ –, witterte man eine Verschwörung: Das tschechoslowakische Außenministerium habe die in Wien tätigen böhmischen MehlspeisKöchinnen mit neuen, besonders verführerischen Rezepten versehen, um Wien auch in dieser Hinsicht den Anschluss an die Moderne verpassen zu lassen (so Arthur Rundt zum »Mythus ›Wien‹« im Simplicissimus, 1927: 406). Anfang der zwanziger Jahre setzte denn auch der Exodus der Wiener Intellektuellen und Kulturschaffenden nach Berlin ein, verstärkt noch nach dem Ende der Inflation in Deutschland 1923, weil sie dort bessere Publikations- und allgemeine Arbeitsmöglichkeiten erwarteten. Auch Anton Kuh übersiedelte im Sommer 1926 nach Berlin. Er zog es vor »in Berlin unter Wienern statt in Wien unter Kremsern zu leben« (Kuh o.J. [1931]: 9). Anders gesagt: Was Kuh, wie viele andere, aus Wien wegtrieb, war der Wandel Wiens von der weltstädtischen Metropole des Habsburgerreichs zur älplerischen Hauptstadt der Konkursmasse Deutsch-Österreich. Während die anbrandende ›Provinz‹, repräsentiert in den christlichsozialen Bundesregierungen, die Verhältnisse im sozialdemokratisch verwalteten ›Roten Wien‹ der 1920er Jahre zunehmend eng werden lässt, ist Enge seit langem ein konstitutives Element Prags, genauer gesagt: Deutsch-Prags. Kuh thematisiert das wiederholt: Jedes Getto – es kann auch christlich-deutscher Art sein und heißt dann »Heimatssprengel« oder »Grätzel« – wacht über die Vollzähligkeit seiner Insassen; das Kainszeichen seiner Unentrinnbarkeit brennt auf ihren Stirnen; sie kennen einander, ihre Urkunden, Stammbäume und Familiengeschichten und genießen wechselseitig das Nachbarsrecht, durch Wandspalt und Schlüsselloch zu sehen. Ja, sie sind […] alle miteinander verwandt. Nun, man weiß ja, wie Verwandte zueinander stehen: sie hassen sich, weil sie sich nichts mehr vormachen können. Und sind eben deshalb von unbezähmbarem Drang erfüllt, einander etwas vorzumachen. (Kuh 1927: 11)

Kuh sollte es am eigenen Leib erfahren. Er hielt am 19. November 1920 in Berlin einen Vortrag über Georg Kaiser. Paul Wiegler, von Ende 1908 bis Anfang 1913 Feuilletonchef der Bohemia und als solcher Nachfolger von Emil Faktor, inzwischen wieder nach Berlin übersiedelt, besprach diesen Auftritt im Graphischen Kabinett in der B. Z. am Mittag, indem er auf Kuhs »Prager Herkunft« hinwies und ihm einen »Prager Tonfall« attestierte (P.W. [d.i. Paul Wiegler] 1920: 3). Kuh verwahrte sich dagegen in einer Berichtigung. Anstelle dieser Berichtigung erschien allerdings lediglich eine zweizeilige, lakonische Mitteilung des Wortlauts: »Anton Kuh ersucht uns um Mitteilung, dass er nicht Prager, sondern Wiener Herkunft sei.« (O.N. 1920: 3) Was Kuh wiederum eine Glosse in der Bohemia eintrug mit dem Tenor: »So weit ist es schon mit Prag gekommen. Es wird Zeit, darüber nachzudenken, warum ein

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Schriftsteller es für notwendig hält, die Prager Herkunft zu bestreiten.« (aeo 1920: 2) Den historischen Hintergrund bilden die so genannten Novemberereignisse 1920: der Sturm aufs Deutsche Haus, die Kaperung des Deutschen Landestheaters, die Ausschreitungen gegen die Redaktionen des Prager Tagblatts und der Deutschen Zeitung Bohemia – eine Situation jedenfalls, in der Abtrünnige oder vermeintlich Abtrünnige besonders argwöhnisch beäugt wurden. Kuh stellte in einer Zuschrift an die Bohemia klar: Hätte [Wiegler] mich in jenem Sinn als Prager angesprochen, in dem es eine Ehre ist, Prager zu sein, also etwa Geist vom Geiste Tychos de Brahe, Karls IV., Franz Werfels – es wäre mir nie eingefallen, die imputierte Herkunft zu verleugnen. Aber er meinte es in dem Sinne, in dem ich selbst wiederholt (wenngleich mit entschiedener Abwehr der Wiener Seichtironie) die ominöse Widerspiegelung von Intellektualität, Bewegungssucht, Primus-Ehrgeiz und Hausbackenheit in einem Tonfall festgestellt hatte, dessen Schwingungsfeld von der Beredtheit bis zur sensiblen Behutsamkeit reicht. (Kuh 1920: [2])

Dass Kuh im Übrigen die Etikettierung »Prager« völlig unverkrampft sah, erweist sein Umgang mit folgendem pikierten Rüffel von Seiten der Bohemia (man achte auf die Klischees bzw. Versatzstücke der jeweiligen Stadtbilder, mit denen operiert wird): Früher hatte sowohl Prag wie Wien Vorzüge, welche Lokalpatrioten züchteten. In Prag wurde bekanntlich das reinste Deutsch gesprochen, während in Wien die besten Mehlspeisen zubereitet wurden. Jetzt wird in Prag nicht mehr Deutsch gesprochen und in Wien werden keine Mehlspeisen mehr gebacken. Der Wohlgeruch des Prager Deutsch und die Klassizität der Wiener Mehlspeisen – beide sind der Ungunst der Zeit zum Opfer gefallen. Es fragt sich nun, was ehrenvoller ist: Abkömmling einer Stadt zu sein, die die deutsche Sprache ausrottet oder Sohn einer Stadt, die ihren Ruf als Mehlspeismetropole einbüßt. (aeo 1920: 2)

Kuh repliziert: »Ich möchte darauf und auf die Frage, ob ich denn der Wiener Mehlspeise vor dem Prager reinen Deutsch den Vorzug gebe, prinzipiell zusammengefasst erklären: [...] In der Stichwahl zwischen dem Prager reinen Deutsch und der Wiener Mehlspeise entscheide ich mich für die Mehlspeise. Für die Prager Mehlspeise.« (Kuh 1920: [2]) Kuh wurde völlig zu Unrecht des Renegatentums bezichtigt. Er stammte zwar aus einer alteingesessenen Prager jüdischen Publizistenfamilie – sein Großvater David

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Kuh war eine Ikone des ›Deutschtums‹ in Böhmen, Gründer des Tagesboten aus Böhmen und Fraktionsführer der Deutschböhmen im Landtag und im Reichsrat6 –, seine Eltern waren allerdings 1885/86 von Prag nach Wien übersiedelt und er wurde 1890 in Wien geboren. Er hatte indessen mit der Gesinnung seines Großvaters oder mit dem, was davon übrig war, nichts am Hut: Ich lernte die Stadt meiner Väter mit neunzehn Jahren kennen. Man führte mich auf den Friedhof zum Grabmal meines Großvaters, der sich im Geist, doch nicht in der Gesinnung seines Enkels als Zeitungsmann und Politiker betätigt hatte und dafür von Studenten mit der Inschrift bedankt worden war: »Alle Ehre von der Treue kommt.« Leitartikler vorgeschrittenen Alters musterten mich, mißratenen Erben des Liberalismus, inwieweit ich durch den Ausspruch bewegt würde. Es war eine Luft um uns von Rütlischwur und Ritterschlag. Soviel Pathos war ich nicht gewachsen – ich entlief den Pionieren des Deutschtums in ein tschechisches Beisl. (Kuh 1927: 11)

Den Prager Deutschen warf er vor, dass sie die deutschliberale Tradition zur Vereinsmeierei hätten verkommen lassen: So war Deutsch-Prag, geistig immer um ein Inselalmanach-Jahr voraus, politisch um 30 Jahre zurück. Und so wurde jene Politik, zeitfremd und ausgedorrt wie sie war, am Ende bloß zum Tummelplatz für Eitelkeit, Strebertum, Couleurbrüderei. Wo früher Männer stritten, Geister sich erhitzten, nickten jetzt bärtige Pagodenköpfe zum Worte »nationales Bollwerk«. Theater, Presse, Bildung – alles sank zur Vereinssache, zum Gesellschaftsspiel einer gesinnungs- und überzeugungsverkleideten Honorigkeit. (Anton [d.i. Anton Kuh] 1918: 6)

Weiter zieh er sie der Naivität: Statt sich mit den Tschechen zu verständigen, hätten sie die Sache der Deutschböhmen, der Sudetendeutschen, zu der ihren gemacht – um sich von ebendiesen teutonisierenden Sudetendeutschen dann mit »Pfui, Jud!« anpöbeln zu lassen.7

6

Ein »tapfere[r] und unerschrockene[r] Kämpfer[] für Deutschtum und Freiheit«, wie es in einer Festrede bei einem Bankett zum 25jährigen Bestehen des Tagesboten im Deutschen Kasino am 5. Feber 1877 hieß (O.N. 1928: 10). Mit David Kuhs Tod im Januar 1879 stellte der Tagesbote sein Erscheinen ein. Oscar Kuh trat mit der Montags-Revue aus Böhmen. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft, Kunst und Literatur im April desselben Jahres in die Fußstapfen seines Vaters und hielt mit der Montags-Revue – dem späteren Montagsblatt aus Böhmen bzw. Montagsblatt bzw. Prager Montagsblatt – »unnachgiebig« an den Grundsätzen »deutsch, demokratisch, freiheitlich« fest (O.N. 1928: 3).

7

»Von der Empörung gegen die Tschechen bleibt in der Bilanz nichts als dieses ›Pfui, Jud!‹ übrig.« (Kuh 1922: 5)

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Wie gereizt jedoch die Stimmung und wie prekär der Friede zwischen den Prager Deutschen und der tschechischen Mehrheitsbevölkerung noch Mitte der 1920er Jahre war, veranschaulichen die Vorfälle rund um einen der begeistert akklamierten Stegreifvorträge, die der »Sprechsteller« (Panter [d.i. Kurt Tucholsky] 1932: 179) Anton Kuh am 17. April 1925 im großen Prager Uraniasaal zum Thema »Wien–Prag oder: Die Diktatur der Bureaukratie« hielt. Zwei Tage nach dem Vortrag beeilte sich die Urania, in der Bohemia festzustellen: Zur Beachtung! Die Leitung der »Urania« teilt mit, daß der Vortrag Anton Kuh kein UraniaVortrag war und daß die gegenteilige Notiz in der Abendzeitung vom 17. d. nicht von der »Urania« herrührte. Bei dieser Gelegenheit bringen wir nochmals zur Kenntnis der Öffentlichkeit, daß nur jene Veranstaltungen »Urania«-Veranstaltungen sind, die in der »Urania-Rubrik« als solche angekündigt werden. Anderen Veranstaltungen im Urania-Saale (Deutsches Vereinshaus) steht die »Urania« fern. ([Urania] 1925: 7)

Diese Distanzierung erwies sich allerdings als allzu eilfertig, denn Kuh erntete von tschechischer Seite Lob für seine sachlichen Bemerkungen, so in Právo Lidu: Duch, který pronikal jeho přednáškou, byl prost úzkoprsosti, nacionalismu a malichernosti. I pro tohoto ducha zasluhuje jeho přednáška, která našla v německém posluchačstvu v Uranií dle vnějších známek vděčné prostředí – povšimnutí. [...] Je-li v Praze německé prostředí, které systematicky pořádá přednášky tohoto druhu, není třeba pesimisticky soudit o možnostech klidného soužití s Němci a spolupráce českoněmecké. Při nejmenším není možno všechny Němce házet do jednoho nacionalistického pytle. Zvykli jsme si příliš posuzovat orientaci našich Němců podle jejich listů. Suďme o ní také podle jejich kulturní a vzdělávací činností, která se v listech nezobrazuje. (O.N. 1925b: 7) Der Geist, der seinen Vortrag durchdrang, war frei von Engstirnigkeit, Nationalismus und Kleinlichkeit. Und dank dieses Geistes verdient sein Vortrag Beachtung, der bei den deutschen Zuhörern in der Urania, nach deren Verhalten zu schließen, ein dankbares Publikum fand. [...] Wenn es in Prag ein deutsches Milieu gibt, das systematisch Vorträge solcher Art veranstaltet, ist es nicht notwendig, die Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens mit den Deutschen und der tschechisch-deutschen Zusammenarbeit pessimistisch zu beurteilen. Zumindest darf man nicht alle Deutschen in den nationalistischen Topf werfen. Wir haben uns allzusehr daran gewöhnt, die Orientierung unserer Deutschen nach ihren Zeitungen zu beurteilen. Wir sollten aber auch nach ihrer Kultur- und Bildungstätigkeit urteilen, die in der Presse nicht aufscheint. (Übersetzung von Hana Blahová)

Dabei war Kuh den im Titel angekündigten brisanten Vergleich zunächst schuldig geblieben und nur über die hypertrophe und politisierte Bürokratie hergezogen, unter deren eisernem Griff das christlichsozial regierte Österreich zu ersticken drohe. Erst

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ganz zum Schluss war er unvermittelt auf das Thema zurückgekommen mit der Bemerkung, dass auch die Tschechoslowakei das Joch der Bürokratie zu tragen habe, »nur mit dem Unterschied, daß man in der Tschechoslowakei etwas für die Qualen der Bureaukratie bekomme«, wie es in der Besprechung des Vortrags in der Bohemia heißt (O.N. 1925a: 6). Das Montagsblatt, Nachfolgeblatt des Tagesboten aus Böhmen, ließ es sich allerdings nicht nehmen, den Vergleich, den Kuh nicht gezogen hatte, nachzuholen und auf einer halben Seite aufzulisten, was denn die Tschechoslowakei, genauer gesagt, die deutsche Minorität, für diese Qualen bekomme. Mit dem Resümee: Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den Qualen, mit denen das hier herrschende System namentlich die deutsche Bevölkerung bedrückt und terrorisiert. [...] Wir sehen also, daß ein Vergleich zwischen Prag und Wien immer noch zugunsten der Donaustadt ausfällt. Man kann die Wiener Polizei und Bürokratie mit den schwärzesten Farben malen, ohne daß man an die hiesigen Zustände herankommt. Denn hier ist alles Polizei, vom Kesselflicker bis zum Minister, und jeder tschechische Patriot rechnet es sich zur Ehre an, den Spitzel und Denunzianten zu spielen, wo er nur kann. Von Demokratie ist nicht eine Spur. Und wenn der Vortragende etwas unklar sagt, daß man in der Tschechoslowakei etwas für die Qualen der Bürokratie bekommt, so können wir Deutsche ergänzend hinzufügen: Ja, Fußtritte, Schikanen und Schmähungen. (–ê 1925: 2)

Die »unverschämte und freche Weise« (»neomalený[] a drzý[] způsob[]«), in der das »jüdisch-liberale Prager Montagsblatt« (»židovskoliberální[] pražsk[ý] ›Montagsblatt[]‹«) »über die hiesigen Verhältnisse« (»o zdejších poměrech«) berichtet hatte, reizte wiederum Národní politika zum Zorn und zur unverhohlenen Drohung gegen den Herausgeber des Montagsblatts: »Pane Oskare Kuh, pozor!« (O.N. 1925c: 5. – »Herr Oskar Kuh, geben Sie acht!«) Eine der persönlichen Kautelen Anton Kuhs ist es auch, in deren Verlauf die im Titel dieses Beitrags genannte Bemerkung fällt. Kuh wird 1926 von Emil Faktor im Berliner Börsen-Courier im Zusammenhang mit einer Polemik gegen »Das Mauscheln« heftig angegangen: Manche Wiener Literaten haben für Sprachverderbnis eine besondere Vorliebe. Der von ihren Eltern bereits abgestreifte Jargon ist in ihnen atavistisch erwacht, und sie bevorzugen ihn in sportlich krasser Übertreibung. Wer nie sein Abendbrot mit Grausen aß, wenn am Nebentisch z. B. Anton Kuh eine misstönig verzerrte Ghettosprache entfesselte, hat keine Ahnung, wie unerträglich der Witz des Mauschelns werden kann. Der Großvater dieses Schriftstellers war ein führender deutscher Politiker und in mustergültigen kämpferischen Aufsätzen einer der Begründer deutschböhmischer Publizistik, der Vater Leitartikler eines großen Wiener Blattes. Der Enkel buddelt freiwillig im linguistischen Ke[h]richt. (Faktor 1926: 2)

Kuh repliziert:

160 | W ALTER SCHÜBLER Ich kenne Herrn Faktor – nebenbei bemerkt einer der pathetischesten Fadiane, die sich je im Bereiche deutscher Theaterkritik ernstgenommen haben, ein Rhadamanthys des Referats, der seiner pragerischen, auf »Armitschkerl« und »Herrich« gestellten Aussprache seit seiner Übersiedlung nach Berlin ein so reichsdeutsches Rachen-Timbre gibt, daß seine Worte aus Seriosität und Stockschnupfen geformt scheinen. [...] Milieu, Titel, Unterschrift ließen in ihrer wechselseitigen Beziehung keinen Zweifel, daß hier ein sehr kräftiges »Fi donc!« an die Adresse jener natürlich wienerischen – Prag blickt in Berlin immer gern auf Wien herab – Literaten erfolgen werde, die durch ihr Jüdeln die Ohren aller verletzen, deren Seele es sich soeben abgewöhnen wollte. [...] Was aber das Abendbrot-Grausen anlangt: [...] Ich, der ich noch nicht Abendbrot, sondern, verjüdelt wie ich bin, noch bei Nachtmahl halte, habe das Grausen oft bemerkt. Ich kann Herrn Faktor beschwören, daß es mir immer eine Genugtuung war, zu sehen, mit welchen prompten Appetitverlust-Seufzern er darauf reagierte, wenn ich ihm meine anscheinend so absichtslos gesprochenen Worte ums Ohr pfefferte, deren klangreiche Exzessivität ihn allein im Lebensnerv traf. [...] Herrn Faktors Anklage ist für meine Ohren ein uraltes Motiv. Von früher Jugend auf geschah es mir, daß ich im Umgang mit Klassenkollegen, die zur deutschen Sprache gekommen waren, »wie Euer Gnaden zur Republik«, mich parodistisch eines ihrem Tonfall abgelauschten Idioms bediente, um ihrer krümeligen Intelligenzlersprache, die ich als ein »Hochdeutscheln« empfand, nicht wehrlos gegenüberzustehen, also wie ich es nannte: das latente Jüdeln um mich herum in ein eklatantes zu verwandeln. Was, denkt ihr, taten nunmehr diese Mitschüler? Sie sagten: »Ach, wie er jüdelt!« Ich war ein peinliches Memento an das Haus, das sie zum Verlernen in die Schule schickte. Ähnlich liegt der Fall Faktor. (Kuh 1926b: 5)

Bei ›den‹ Prager Deutschen handelte es sich – entgegen dem Eindruck, den man aus Kuhs Darstellung gewinnen könnte – keineswegs um eine homogene Gruppe. Die Fraktionierung wird an den Begleitumständen eines Vortrags von Anton Kuh allzu deutlich. Am 19. April 1932 hielt er bei den von der Urania federführend programmierten Feierlichkeiten der Prager Deutschen zum 100. Todestag Goethes den Stegreif-Vortrag »Was würde Goethe dazu sagen?«. Die deutschsprachige Prager Tageszeitung Sozialdemokrat (deren Titel für die politische Richtung steht) kündigte die Rede unter dem Titel »Goethe-Schändung der Prager Urania« an und warf der Urania vor, »daß sie die deutsche Kultur in Prag schlechter vertritt, als es der letzte Zirkus vermöchte«. Sie fand es besonders empörend […], daß dem literarischen Kammerdiener Békessys8 gestattet wurde, den Namen Goethes in den Titel seiner Expektoration zu setzen. […] Daß der Kuh sein Publikum 8

Imre Békessy war jener erpresserische Medienunternehmer, den Karl Kraus mit seiner 1925 lancierten Kampagne »Hinaus aus Wien mit dem Schuft!« Anfang 1926 dann tatsächlich aus Wien vertrieben hatte. Für eines der Békessy-Blätter, für die Tageszeitung Die Stunde, arbeitete Kuh von 1923 bis 1926. In einer Leserzuschrift war Kuh bereits drei Jahre

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und die Urania ihren Rebbach finden werden, macht die Sache nicht entschuldbar; als Sühne würde man höchstens das Eingreifen hakenkreuzlerischer Jungbarbaren ansehen, denen zwar nicht strafrechtlich, sicher aber moralisch in diesem Falle die Legitimation der Sittenpolizei zustünde, weil sie dem Libertinertum gegenüber noch immer das kleinere Übel darstellen. (O.N. 1932a: 5)

Kuh zog nach diesem Hetz-Artikel bei seinem Goethe-Vortrag gegen die verantwortlichen Redakteure des Sozialdemokrat vom Leder. Der Sozialdemokrat wiederholte seine Vorwürfe und ging nicht nur mit der Urania und deren Leitung scharf ins Gericht, wiederholte den Vorwurf, das »Prager Volksbildungsinstitut« habe sich dadurch, dass sie Kuh in seinen Räumlichkeiten habe auftreten lassen, »zum Zirkus erniedrigt« (O.N. 1932b: 5). Auch das Prager Tagblatt – »das Kulturblatt der Prager deutschen Bourgeoisie« (so der Sozialdemokrat ebd.) – kriegte sein Fett ab, weil es Kuh immer sehr wohlwollend gegenüberstand. Professor Frankl, der Direktor der Urania, habe einem Redakteur des Sozialdemokrat nach einem Vortrag Kuhs im Herbst 1931, in dem er den Sozialdemokrat beflegelt hatte, weil der es zugelassen hatte, dass man ihn, Kuh, dort als »Hofjuden Békessys« bezeichnen durfte, versprochen, dass er Kuh keine Bühne mehr bieten werde (ebd.). Und – so der Sozialdemokrat –: Es blieb dem Leiter der Urania und Kultur-Repräsentanten des Prager Deutschtums vorbehalten, sein Versprechen zu vergessen oder zu brechen, seinen Degout an den Verdauungsbeschwerden des Kuh zu überwinden, und den ›deutschen Schriftsteller‹ von Békessys Gnaden neuerlich in der Urania auftreten zu lassen. Daß dabei der Namen Goethes mißbraucht wurde, machte die Sache vollends zu einem Skandal, der mit aller Druckerschwärze des Prager Tagblatt nicht abzuwaschen ist. (Ebd.)

Einige Redakteure des Sozialdemokrat klagten gegen Anton Kuh wegen Ehrenbeleidigung. Der B.Z. am Mittag unterlief in ihrem Bericht über den Prager Prozess ein bezeichnender Fehler: Dort stand zu lesen, dass Kuh »von den Redakteuren eines deutsch-nationalsozialistischen Blattes« verklagt worden sei (O.N. 1932c: [2]). Anton Kuh stellte tags darauf richtig, dass es nicht ein »deutsch-nationalsozialistisches« Blatt gewesen sei, das die Nazis dazu aufgerufen hatte, seinen Vortrag zu stören, sondern ein »deutsch-sozialdemokratisches« – und merkte an, dass seine Ausfälligkeiten dadurch vielleicht verständlicher seien (Kuh 1932: 4). Karl Kraus leistete von Wien aus »Rechtshilfe«, indem er Anton Kuhs Prozessgegnern ein ganzes Dossier mit ehrabschneiderischem Material zur Verfügung stellte, das von Zechprellerei bis

zuvor im Sozialdemokrat als »Hausjude des Herrn Békessy« bezeichnet worden (O.N. 1929: 6; unter der Spitzmarke »Auf den Kuh gekommen«).

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– unverzeihlich – Majestätsbeleidigung, begangen an Karl Kraus, reichte. Genützt hat es nichts – Kuh wurde vom Vorwurf der Ehrenbeleidigung freigesprochen. Zum Goethe-Vortrag selbst bemerkte übrigens »das Kulturblatt der Prager deutschen Bourgeoisie« Folgendes: »Was würde Goethe dazu sagen?«, daß sich Anton Kuh gestern in der »Urania« in seiner so oft bewunderten, an sich selbst verbrennenden Leidenschaft den Olympier zum Thema, richtiger zum Anlaß eines Vortrag nahm? So divergierend auch die Vorstellung einer Begegnung des wolkenthronenden Weimarers mit Anton Kuh, dieser in der Luft verpuffenden spirituellen Grazie (die übrigens nicht ihresgleichen findet), erscheinen mag – auch Goethe hätte seine helle Freude an diesem zweiten Neffen Rameaus haben müssen. Tatsächlich liegt in der Gewalt dieser dialektischen Suada etwas wie ein Hauch antiker Gestaltung, ein prometheisches Feuer, vielleicht nur Feuerwerk, das doch vom Himmel gestohlen ist. Anton Kuh – noch nie so in Form wie gestern – hielt sein Publikum, das den Uraniasaal bis rings um das Podium füllte, zwei Stunden in atemloser Spannung. Man spürte förmlich, wie diese blendend produzierte Magie des Wortes auch dort einwirkt, wo es fast unmöglich scheint, daß die Hörer den Vortragenden sachlich und gedanklich begleiten können. Der Beifall war groß. (o. r. 1932: 6)

L ITERATUR a. [d.i. Anton Kuh] (1919): Dum-Dum!. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Nr. 21/X (26. 05.), S. 7. aeo (1920): Die dementierte Prager Abstammung. In: Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 277/XCIII (28. 11.), [S. 2]. Anton [d.i. Anton Kuh] (1918): Die Prager Deutschen. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Nr. 51/IX (30. 12.), S. 6. Anton [d.i. Anton Kuh] (1919): Sie spielen »Staat«. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Nr. 17/X (28. 04.), S. 6. –ê (1925): Prag und Wien. In: Montagsblatt, Nr. 17/XLVII (27. 04.), S. 2. Eckart, Wolfgang U. (2009): Nervös in den Untergang. Zu einem medizinisch-kulturellen Diskurs um 1900. In: Zeitschrift für Ideengeschichte III, H. 1, S. 64-79. Faktor, Emil (1926): Das Mauscheln. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 188/LVIII (23. 04.), Abend-Ausgabe, [S. 2]. Kahane, Arthur (1926): Die beiden Städte. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 219/ LVIII (13. 05.), 1. Beilage, S. 5-6. Krolop, Kurt (1966): Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: »Warum haben Sie Prag verlassen?«. In: Germanistica Pragensia IV (= Acta universitatis Carolinae, Philologica 5), S. 47-64. Kuh, Anton (1914a): »Nervöse Leute«. Kritik eines Nervösen. In: Prager Tagblatt, Nr. 160/XXXIX (13.06), Morgen-Ausgabe, S. 1-2.

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Kuh, Anton (1914b): »Zwischen Wien und Berlin«. In: Prager Tagblatt, Nr. 164/ XXXIX (17. 06.), Morgen-Ausgabe, S. 2-3. Kuh, Anton (1917): Prag! In: Prager Tagblatt, Nr. 342/XLII (16. 12.), Morgen-Ausgabe, S. 4. Kuh, Anton (1919): Bei den Gladiatoren. In: Der Neue Tag, Nr. 29/I (20. 04.), Morgen-Ausgabe, S. 7-8. Kuh, Anton (1920): Die dementierte Prager Abstammung [Zuschrift]. In: Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 295/XCIII, (19. 12.), 1. Beiblatt, [S. 2]. Kuh, Anton (1922): Das Ideal aus der Großväterzeit. In: Neues Wiener Journal, Nr. 10.420/XXX (19. 11.), S. 5. Kuh, Anton (1926a): Wie zwitschern die Jungen? Eine Rundfrage und eine Idylle. In: Die Stunde, Nr. 924/IV (08. 04.), S. 5. Kuh, Anton (1926b): Traktat über das Mauscheln oder Herrn Faktors empfindliche Ohren. In: Die Stunde, Nr. 955/IV (16. 05.), S. 5. Kuh, Anton (1927): Prag. Eine Vision der Wirklichkeit. In: Neues Wiener Journal, Nr. 12.209/XXXV (20. 11.), S. 11-12. Kuh, Anton (1930): Deutsch-Prag. Eine Vision der Wirklichkeit. In: Prager Tagblatt, Nr. 274/LV (22. 11.), S. 3 [dort ein Vorabdruck aus Kuh 1931]. Kuh, Anton (1931): Der unsterbliche Österreicher. München. Kuh, Anton (o.J. [1931]): Physiognomik. Aussprüche von Anton Kuh. München. Kuh, Anton (1932): Noch mickriger .... In: B.Z. am Mittag, Nr. 245/LVI (13. 10.), Erstes Beiblatt, [S. 4]. Jäger, Christian / Schütz, Erhard (1999): Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden. O.N. (1920): [In der Rubrik »Theater, Konzerte, Vorträge«]. In: B.Z. am Mittag, Nr. 275/XLIII (25. 11.), [S. 3]. O.N. (1925a): Anton Kuh über die bösartige Form des unsterblichen Bürokratismus. In: Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 91/XCVIII (18. 04.), S. 6. O.N. (1925b): Vídeňský problém, nĕmecký nacionalism a součinnost s Nĕmci. In: Právo Lidu, Nr. 93/XXXVI (21. 04.), S. 7. O.N. (1925c): Roste jim hřebínek. In: Národní politika, Nr. 115/XLIII (27. 04.), Nachmittagsausgabe, S. 5. O.N. (1928): O.T. In: Montagsblatt, Jubiläumsnr. 18/L, 30. 04., S. 10. O.N. (1929): Auf den Kuh gekommen. In: Sozialdemokrat, Nr. 9/XII (15. 01.), S. 6. O.N. (1932a): Goethe-Schändung der Prager Urania. In: Sozialdemokrat, Nr. 93/XII (19.04.), S. 5. O.N. (1932b): Deutsche Kultur in Prag. Die Urania und ihr Anton Kuh. In: Sozialdemokrat, Nr. 96/XII (22. 04.), S. 5. O.N. (1932c): Was heißt »mickrig«? Berliner Philologie vor einem tschechischen Gericht. In: B.Z. am Mittag, Nr. 244/LVI (12. 10.), Erstes Beiblatt, [S. 2]. O.N. (1922a): Warum haben Sie Prag verlassen? In: Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 124/XCV (28. 05.), S. 3-4.

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O.N. (1922b): Prag als Literaturstadt. In: Prager Tagblatt, Nr. 127/XLVII (02. 06.), S. 6. O.N. (1922c): Prag als Literaturstadt. In: Prager Tagblatt, Nr. 128/XLVII (03. 06.), S. 6. o. r. (1932): Was würde Goethe dazu sagen? In: Prager Tagblatt, Nr. 95/LVII (21. 04.), S. 6. P.W. [d.i. Paul Wiegler] (1920): Vortrag Anton Kuh. In: B.Z. am Mittag, Nr. 271/ XLIII (20. 11.), [S. 3]. Panter, Peter [d.i. Kurt Tucholsky] (1932): Auf dem Nachttisch. In: Die Weltbühne, (02. 02.), S. 177-180. Rundt, Arthur (1927): Der Mythus »Wien«. In: Simplicissimus, Nr. 31/XXXII (31. 10.), S. 406. Schmidt-Dengler, Wendelin (2002): Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der österreichischen Literatur der Zeit zwischen 1918 und 1938. In: Ders.: Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 7). Wien / Köln / Weimar, S. 9-23. Thomsen, Martina (2010): »Historisches Prag« versus »modernes Prag«. Kontroverse Pragbilder in deutschen und tschechischen Reiseführern 1918-1945. In: Peter Becher / Anna Knechtel (Hg.): Praha – Prag. 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen. Passau, S. 229-247. –uh [d.i. Anton Kuh] (1916): Gastspiel Claire Wallentin. In: Prager Tagblatt, Nr. 316/ XLI (14. 11.), Morgen-Ausgabe, S. 6. [Urania] (1925): Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 92/XCVIII (19. 04.), S. 7. Winder, Ludwig (1918): Prag als »Stoff«. In: Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 18/XCI (19. 01.), S. 3.

Prag zwischen Gründungsmythos und Abgesang Positionen (trans-)kultureller (Selbst-)Verortung im Moment der tschechoslowakischen Staatsgründung 1918. Überlegungen zu Richard Weiners Třásničky dějinných dnů K ATHRIN J ANKA

1. P RAG ,

DIE EWIG JUNGE

S CHÖNE

Jaká byla Praha v polovině dubna roku 1934? Rozkvetlá, stará, drolící se. Půvabná, půvabnější než Vídeň, než kterékoli město, které Berta kdy navštívila. Vnímá v Praze hned několik měst, jedno překrývá druhé. Berta vnímá věkovitost Prahy v kontrastu s Československem, kde má všechno ještě příchuť novosti a osobního nadšení. Pražané se snaží běžencům z Německá a Rakouska pomoct […]. Jsou hrdí na to, že je mohou přijmout ve své zemi a poskytnout jim ochranu. (Platzová 2006: 143) Wie ist Prag im April 1934? Blühend, alt, bröckelig. Bezaubernd, bezaubernder als Wien, als jede andere Stadt, die Berta je besucht hat. Sie spürt, dass sich in Prag mehrere Städte überlagern. Prag, jahrhundertealt, bildet einen Kontrast zur Tschechoslowakei, in der noch alles neu und von Begeisterung getragen ist. Die Prager versuchen, den Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich zu helfen […]. Sie sind stolz darauf, sie in ihrem Land aufnehmen und ihnen Schutz gewähren zu können. (Platzová 2009: 179)

Mit dieser Kurzbeschreibung beginnt die zeitgenössische tschechische Autorin und Journalistin Magdaléna Platzová das Kapitel 8 (»Praha« – »Prag«) ihres zweiten, 2006 erschienenen Romans Aaronův skok (Aarons Sprung, 2009). Der Kurzroman berührt die Orte Wien, Weimar, Berlin, Prag und Theresienstadt und deckt einen

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Zeitraum von gut 100 Jahren ab. Indem Platzová die Lebenswege dreier Frauen durch diesen Raum und durch das 20. Jahrhundert nachzeichnet, lässt sie im Hintergrund des eng gesponnenen Netzes persönlicher Beziehungen zunächst eine Ahnung, dann die Gewissheit eines versunkenen, gesamteuropäischen Kulturraums vor, im Augenblick und nach seiner Zerstörung entstehen. Die Art und Weise, wie die Autorin den zentral- bzw. mitteleuropäischen Raum und seine Geschichte darin darstellt, weist einige Aspekte auf, die wohl als beispielhaft für die Ingredienzien der aktuellen (Re-)Konstruktion des Pragbilds im Rückblick auf die Zeit vor den erneuten, tiefgreifenden Veränderung dieses Kulturraums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten können. Im Kontext unserer Betrachtungen zu »Prag als Knotenpunkt europäischer Modernen« und den dortigen »Figurationen der Moderne« können diese auch als Ausdruck und Zeugnis der Langlebigkeit, Wandelbarkeit und andauernden Virulenz einiger historischer Mythen oder auch Narrative verstanden werden, die im 19. Jahrhundert wurzeln, nach 1918 die nationale tschechoslowakische Eigenstaatlichkeit und das Gefühl einer tschechoslowakischen Volkszugehörigkeit begründeten und die Beschreibung Prags und seiner Stellung im mitteleuropäischen Raum bis heute prägen, deuten und (re-) kreieren.1 Im Sinne der Beobachtung Lotmans, dass der Mensch sich in dem ihn umgebenden Raum »zwangsläufig eine räumliche Sphäre« schafft, ein »räumliches Weltbild«, das dann seinerseits wieder »aktiv und formend« auf den Menschen zurückwirkt (Lotman 2010a: 290), zeugt sie außerdem von der Wechselwirkung zwischen den diskursiv geprägten Zeichenpraktiken sowohl der Literatur (bzw. der Kunst/Kultur im allgemeinen) als auch der sie reflektierenden Literatur-, Kulturbzw. Geschichtswissenschaften einerseits und deren »Trägern« – den Schriftstellern, Künstlern, Lesern, Rezipienten und den Wissenschaftlern, die sie untersuchen – andererseits innerhalb einer gegeben Semiosphäre. Als Semiosphäre bezeichnet Jurij Lotman eine »denkende Struktur«, einen synchronen, semiotischen Zeichenraum, in dem Kommunikation über sprachliche und nicht-sprachliche Kanäle stattfindet und »der die Grenzen der Kultur erfüllt und ohne den einzelne semiotische Strukturen nicht funktionieren und gar nicht erst entstehen können« (Lotman 2010a: 12). Es ist ein Raum, der sich zwar auf einen geographisch ortbaren Ort – ein dynamisches Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie – bezieht, der sich aber nicht in dieser geographischen Zuschreibung erschöpft. Vielmehr verweist Lotmans Paradigma von Zentrum und Peripherie – obwohl es der geographischen bzw. räumlichen Begriffswelt entlehnt ist – als räumliche Metapher und dynamische Vorstellung eines Umschlagens des Zentrums in die Peripherie, von der Grenze als Ort des Ereignisses und von der Teilbarkeit der Semiosphäre letztlich zurück in den Bereich der Zeichen und der Kommunikation. Die

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Vgl. hierzu etwa Rak 1994, Macura 1995, Nekula 2010, Nekula 2017.

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Semiosphäre ist ein Raum, den Lotman zu den drei Funktionen in Bezug setzt, anhand derer er »Intellekt« definiert, als da wären: 1) der Übermittlung von bereits vorhandenen Informationen, 2) der Erzeugung neuer Informationen und 3) dem Gedächtnis, der Fähigkeit, Information (Texte) zu bewahren und wiederzugeben (vgl. Lotman 2010a: 10). Diesem Raum eignet Lotman zufolge eine dialogische Grundstruktur. Darüber hinaus sei die »Struktur der Semiosphäre asymmetrisch« (ebd.: 169), und ihre »Asymmetrie« zeige sich, »im Verhältnis zwischen dem Zentrum der Semiosphäre und ihrer Peripherie. Das Zentrum der Semiosphäre bilden die am weitesten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen. In erster Linie ist dies die natürliche Sprache der jeweiligen Kultur.« (Ebd.) Damit ist für Lotman, wie seine Herausgeber Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz im Nachwort zur Innenwelt des Denkens festhalten, »[d]ie Semiosphäre […] der Ort, an dem – auf der Basis kommunikativer Prozesse, Kultur entsteht, kanonisiert wird und dieser Kanon wiederum ins Wanken gebracht wird« (Frank/Ruhe/Schmitz 2010: 398). Platzovás 2006 erschienener Roman kann also aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive – jenseits seiner Fiktionalität und seiner autonomen Eigenqualität als literarisches Kunstwerk – als stellvertretend für einen gewissen kulturell-textuellen ›Rückkoppelungs‹- oder Kanonisierungseffekt gelesen werden. Er nimmt einen bestimmten Stand des wissenschaftlichen und literarisch-intellektuellen Diskurses zum Thema Mitteleuropa und Prager Deutsche Literatur auf: Den Status Quo 2006 des Prag-Mitteleuropa-Diskurses im kulturellen Gedächtnis, kurz vor der zweiten Wiederholung der Kafkakonferenz in Liblice im Jahre 2008,2 der mit der Erforschung bzw. Konstruktion der so genannten »Prager deutschen Literatur«3 durch E. Goldstücker, K. Krolop und (Zeit-)Genossen 1963 begann und der sich seitdem in Konferenzen, Tagungen und wissenschaftlichen Aktivitäten um einige Umdrehungen weitergedreht hat. Besonders interessant ist Aaronův skok in unserem Kontext aufgrund der Kombination historischer Erzählung und immanenter Reflexion über das künstlerische

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Die erste Kafkakonferenz, die für die vom soz-realistischen Literaturleitbild geprägte ČSSR und über deren Grenzen hinweg Signalwirkung hatte, fand 1963 als internationale Tagung des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes in Liblice statt. Die Beiträge zu der 1965 an sie anknüpfenden zweiten Liblicer Konferenz sind in dem von Eduard Goldstücker herausgegebenen Band Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur (Goldstücker 1967) versammelt. Eine gewisse Neuauflage erlebte die legendäre »Kafkakonferenz« sodann 1992 im Rahmen des Colloquiums »Kafka und Prag« (vgl. Krolop/Zimmermann 1994). Eine dritte, auf 1963 zurückbezogene Kafkakonferenz wurde unter dem Titel »Kafka und die Macht« 2008 erneut in Liblice veranstaltet.

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Vgl. unter vielen anderen Escher (2010).

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(und davon letztendlich untrennbar gesellschaftlich-politische) Projekt der Moderne, das, verankert in einem radikalen Individualismus und Freiheitsbegriff, aber auch im gesellschaftsreformerischen Gestus, in vielen Facetten thematisiert wird. Das historische Mitteleuropa-Thema steht dabei als gleichberechtigter Erzählstrang neben einer so erzählerisch kunstvoll-knappen wie gedanklich vielschichtigen, mehrstimmigen Reflexion auf Kernfragen einer (mit Vietta [1992] im weiteren Sinne begriffenen) Moderne (deren Aufzählung sowie die weitere Analyse des Romans würde allerdings den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen und muss an anderem Ort erfolgen).4 Aber wie ist nun dieses Prag, das hier beschrieben wird, an einem fiktiven Apriltag 1934? Das tschechische, republikanische Prag, das Berta betritt, ist vital, neu und begeistert. Es steht in voller Blüte und zeigt als personifizierte Schöne in charmant-verführerischer Weise der exilierten jüdischen Künstlerin Berta aus Wien seine Reize, zu denen auch die lange Vergangenheit und ihre bröckelnden Gemäuer gehören. Die alte Stadt ist – im Vergleich zu Wien und »jeder anderen Stadt, die [sie] je besucht hat« (Platzová 2009: 143, s. o. Zitat am Anfang des Artikels) – auch für die gebürtige Wienerin Berta faszinierend in ihrer Vielschichtigkeit5 und nicht zuletzt dem Kontrast aus historischer Kulisse und neuer, demokratischer, nationaler Eigenstaatlichkeit. Platzová zeichnet hier also das Bild eines Prag zwischen Untergang und Erneuerung, in dem jedoch die lebendige (tschechisch-staatliche) Seite –

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Als Grundstruktur von Aaronův skok dienen – neben der Verwendung verschiedener Textgenres und Erzählperspektiven (Erzählung, Brief, Tagebuch; auktoriale Erzählung, stream of consciousness) – topographische Anker, als welche die manchmal stilisierter, manchmal auch differenzierter wirkenden geographischen Lebensstationen der Protagonisten in ihrer Bewegung durch Mitteleuropa (und im Falle der jüngeren Generation Israel) fungieren. So sind mehrere Kapitel programmatisch nach den Städten benannt, in denen sie spielen (Kap. 3: »Výmar« [»Weimar«], Kap. 4: »Berlín« [»Berlin«], Kap. 6: »Vídeň« [»Wien«] und Kap. 8: »Praha« [»Prag«], und das Kapitel 7 – »RevoluceOdjezd« [»Revolution/Abreise«] – könnte auch »Wieder in Wien« heißen), und dieser Ortsbezug hat immer auch zugleich eine programmatisch-symbolische Bedeutung für die im Rahmen dieses Ortskapitels agierenden Personen. Diese Orte stehen dann symbolisch für bestimmte Tempi, Lebensentwürfe und Erlebnisse der Protagonisten und werden dadurch mehr oder weniger skizzenhaft aufeinander bezogen und voneinander abgegrenzt. Damit bilden sie eine Bezugsfolie des modernen Europa, innerhalb der sich die Protagonisten positionieren können, aber auch müssen. Hier erweist sich die Autorin also zeitgemäß als Adeptin des spatial turn, der die Zeichen des kulturellen Gedächtnisses vor allem in authentischen und imaginären Orten und ihren materiellen Zeichen aufsucht.

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»hned několik měst, jedno překrývá druhé« (Platzová 2006: 143 – »mehrere Städte, die einander überlagern«, Platzová 2009: 179).

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getragen von der persönlichen Begeisterung seiner Bewohner – die Oberhand gewonnen hat.6 Und auch wenn diese Stadtbeschreibung 16 Jahre nach der Staatsgründung angesiedelt ist, scheint ihr zur bröckelnden Schönheit »Praha« personifiziertes Prag nichts von der Lebendigkeit und Begeisterung verloren zu haben, die der Journalist und Autor Richard Weiner in seinen 1919 erschienenen Třásničky dějinných dnů (Fransen/Fragmente historischer Tage) aus den Tagen des Zusammenbruchs des Habsburger Reiches und der Geburt der Ersten Tschechischen Republik beschreibt.

2. Z WISCHEN LEBENDIGER B LÜTE UND MORBIDEM S CHWINDEN : D ER T OPOS P RAG ALS RÜCKBLICKENDE , NARRATIVE (R E -)K ONSTRUKTION Mit dieser Zeichnung steht Platzová nicht allein. Man könnte sagen, dass das Narrativ vom quirligen, großzügigen und einladenden, neuen tschechischen Prag der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bzw. vor dem Münchner Abkommen vom 30.09.1938 und dem Einmarsch der deutschen Truppen am 15.03.1939 im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit den Pragtexten der tschechischen Avantgarde und der ›Prager deutschen Literatur‹ kanonisch geworden ist. Dies gilt auch dort, wo dieses Prag als »verlorene Geliebte« (Urzidil 1982), ambivalentes Klauenwesen alias »Mütterchen mit Krallen«7 oder als bedrohliche Gegenfolie eines »dreifachen Ghettos«8 und Ort der eigenen Verdrängung bzw. Isolation erlebt wird.9 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Metapher der Überblendung von Stadt und Frau

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»Berta vnímá věkovitost Prahy v kontrastu s Československem, kde má všechno ještě příchuť novosti a osobního nadšení.« (Platzová 2006: 143 – »Prag, jahrhundertealt, es bildet in Bertas Augen einen Kontrast zur Tschechoslowakei, in der noch alles neu und von Begeisterung getragen ist.«, Platzová 2009: 179)

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Siehe Franz Kafkas viel zitiertes Diktum in einem Brief an Oskar Pollak vom 20.12.1902: »Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Stellen müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.« (Kafka 1975: 14)

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Vgl. Werfels Antwort auf die 1922 in Prager Tageblatt und Bohemia veröffentlichte Umfage »Warum haben Sie Prag verlassen?«: »Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto […] eine dumpfe Welt« (zitiert nach Pazi 2001: 157). Vgl. dazu u.a. auch Krolop (1966) und insbesondere Escher (2007).

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Vgl. z.B. auch Alena Wagnerovás Biographie der Milena Jesenská (Wagnerová 1995), auch wenn es sich hier – anders als bei Platzová – nicht um einen fiktiven Text handelt.

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ein gängiger literarischer Topos und damit nicht Prag-spezifisch ist (vgl. Escher 2006) und dass manche Aspekte dieses Tableaus – wie z.B. das Narrativ von der allzeit großzügigen, »slawisch«-friedfertigen, patriotisch-bewussten Hilfsbereitschaft der Tschechen gegenüber den Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich in den 30er Jahren – inzwischen einer kritischen Relektüre unterzogen worden sind (vgl. Čapková/Frankl 2008). Die jüngeren Publikationen zum Prag-Topos, die seit den 1990er Jahren erscheinen, arbeiten großenteils daran, das auf eine tschechisch-nationale Perspektive verengte Bild Prags (wieder) auf eine bi- und trinationale Perspektive zu erweitern, und (re-)konstruieren Schritt für Schritt die Vielschichtigkeit und Fülle Prags als einer modernen Metropole (oder bestreiten Prags ›Eignung‹ zu einer solchen). 10 So eröffnen z. B. Schmitz und Udolph ihre Einleitung zum Katalogbuch zur Ausstellung »Tripolis Praga« mit den Worten: Um 1900 war aus der Provinzhauptstadt des Habsburger Reiches eine moderne Großstadt und ein lebendiges Zentrum der Kultur in Mitteleuropa geworden. Diese Kultur ist untergegangen; wie brüchig und fragil ihre Voraussetzungen waren, hatte schon der Erste Weltkrieg offengelegt, und das 20. Jahrhundert mit seinen Verwirrungen und Katastrophen, dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Europas in die Blöcke von Ost und West, hat von der ehemaligen kulturellen Blüte der Städte Mitteleuropas fast nicht mehr übriggelassen. Sogar die Erinnerung daran schien zu verblassen. Erst seit den Revolutionen von 1989 beginnt eine Revision des kulturellen Gedächtnisses, und vielleicht dürfen wir auch Anzeichen einer neuen kulturellen Blüte vermerken. (Schmitz/Udolph 2001: 14; Hervorhebungen KJ)

Abgesehen davon, dass eine solch unpersönliche Beschreibung der Auflösung des Kulturraums Mitteleuropa die Frage nach den Akteuren, seinen Bewohnern und ihrer (Mit-)Schuld, ihren Opfer- und Täterschaften (sicherlich bewusst und mit gutem Grund) ausklammert und man sich fragen kann, ob die Formulierung »Brüche und Katastrophen« die geeignete Form ist, um die systematische, geplante Verfolgung

10 Zu nennen wären einerseits Arbeiten, die den Fokus auf die Prager/böhmischtschechische Mehrsprachigkeit gelegt und die Position der jüdischen Intellektuellen zwischen Deutschen und Tschechen neu beleuchtet haben (so Pazi 2001; Schmitz/Udolph 2001; Čapková 2006; Nekula/Koschmal 2006; Nekula 2008; Becher 2010; Koeltzsch 2010; Koeltzsch 2012), andererseits Untersuchungen, die verstärkt mit dem RaumParadigma arbeiten, die Materialisierung der nationalen Konstrukte in Bauten und Denkmälern betrachten und Prag als einen in umkämpfte »Territorien« (so Spector 2000; Jaworski/Stachel 2007; Schneider 2009; Nekula 2010; Nekula 2017) aufgeteilten Stadtraum ›lesbar‹ gemacht bzw. gender-orientierte Fragestellungen (so Escher 2006; Schneider 2009) in den Blick genommen haben.

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und Vernichtung von Menschen nach rassistischen, politischen (und wirtschaftlich zuträglichen) Kriterien, einen Krieg mit 55 Millionen Toten, die Shoa und Phänomene wie die Versklavung von 16 Millionen Menschen zur Zwangsarbeit oder aber auch ethnisch motivierte Vertreibungen zu umschreiben, enthält dieser kleine, zitierte Abschnitt einige wesentliche Ingredienzien dessen, was die Wieder- und Weitererzählung des als besonders gekennzeichneten Prager Raums (also den narrativen Rückbezug, der mit einer (Re-)Konstruktion des betreffenden Raumes im Bewusstsein seiner LeserInnen und BesucherInnen, letztlich als kultureller Gedächtnisraum nach Assmann oder Lachmann einhergeht) im 20. Jahrhundert charakterisiert: den Topos des lebendigen Zentrums, die Akzentverschiebung von Zentrum und Peripherie im Zuge der Moderne (»Provinzhauptstadt« vs. »lebendiges Zentrum« und »moderne Großstadt«), die Betonung der kulturellen Bedeutung Prags und die Mitteleuropa-Thematik. Sodann wird der »deutschen Tristesse in Prag« ein Zitat des tschechischen Schriftstellers Norbert Frýd (1913-1976) entgegengestellt, der die Untergangsstimmung der deutschsprachigen Prager wie folgt erklärt: »Das, was ringsum lag, [war] ein ganz anderes Prag, das lebendige, aufbegehrende, aufwärts strebende Prag des tschechischen Volkes.« (Schmitz/Udolph 2001: 14)11 Tatsächlich wird hier der mit einer gehörigen Prise gesamtmitteleuropäischer Nostalgie beschriebene Zerfall des mitteleuropäischen Raums mit dem »Ersten Weltkrieg« und dem »Untergang Kakaniens« (Titel von Becher 1982) auch staatspolitisch zu einer Tatsache. In der Gründung der vom Geiste einer dem Herder’schen Sprachnationalismus verpflichteten, nationalstaatlichen Idee getragenen Ersten Tschechoslowakischen Republik wird der Verlust der vormaligen Einheit in Vielheit staatspolitisch manifest. Hier wird fortan eine der großen Ideen des 19. Jahrhunderts vom Kopf auf die Füße gestellt: Das Projekt demokratischer Staatlichkeit manifestiert sich nun auch in Mitteleuropa in der Realität, und in den Ländern der neu auf der Landkarte erscheinenden Pufferzone ›Zwischeneuropa‹, des Cordon

11 Der Topos der Insel und des dreifachen Ghettos ist in der Forschung zu Prag, Kafka und dem Prager Kreis hinlänglich besprochen worden (vgl. Anm. 22 und 24), und auch das hier als Ausgangspunkt aufgemachte, bipolare, nationale (tschechisch-deutsche) Paradigma hat in vielen Studien gerade der letzten zehn Jahre eine Erweiterung und Differenzierung erfahren. Erweitert wurde es in allererster Linie um den Aspekt der jüdischen Nationalität – der zitierte Ausstellungskatalog ist mit seinem programmatischen Titel »Tripolis Praga« (der im ›translingualen‹ Latein verfasst ist, das auf eine scheinbar unproblematischere, vor-nationale historische Zeit verweist und eine Dreiheit der Prager Nationalitäten impliziert) selbst Teil und Ausdruck dieser Forschungsentwicklung und eines der zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Aufsatzes 2010 immer noch seltenen, komparatistischen (d.i.: tschechisch- und deutschsprachige Literatur gleichermaßen berücksichtigende) Beispiele in der ›monographischen‹ Annäherung an das Thema Prag und Moderne.

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Sanitaire, fällt dies mit der Realisierung einer zweiten Idee in eins: der nationalen. Dieser Neuanfang hat Implikationen für Prag als geographisches, imaginäres und symbolisches Konstrukt sowie als Gedächtnisraum. Prag wird real zur Hauptstadt eines modernen, demokratischen, europäischen Nationalstaats im Zentrum Europas, was eine symbolische Neupositionierung der Stadt (nach Innen als »zentraler Schauplatz des Geschehens« und nach Außen durch die Ziehung von Staatsgrenzen) in Europa mit sich bringt. Prag erhebt sich und tritt neben die anderen Hauptstädte: Berlin, Wien, Rom, und natürlich Paris, das nicht erst seit Benjamins Passagenwerk die europäische Hauptstadt des 19. Jahrhunderts ist. Dies zieht eine Refiguration des »symbolischen« Prag, des Prag-Narrativs (bzw. der Prag-Narrative) in einem graduell schattierten Zwischenraum zwischen ›Gründungsmythos‹ und ›Abgesang‹ nach sich, die u.a. die geographische, symbolische und ideologische Neuorientierung der Bewohner der Stadt und des gesamten Landes, der literarisch Tätigen wie der literarisch Untätigen, der »Wachtposten« wie der »Grenzgänger« (Titel von Schneider 2009) im verhandelten Territorium erzwingt. In meiner nachfolgenden Analyse eines zeitgenössischen Augenzeugenberichts aus den Tagen der Republikgründung lasse ich mich demgemäß von der Arbeitshypothese leiten, dass das zwischen den einzelnen nationalen, politischen und gesellschaftlichen Gruppen verhandelte, aber dennoch allen gemeinsame ›neue‹, identitätsstiftende Prag nach der Republikgründung in Anlehnung an Jurij Lotman als eine Semiosphäre aufgefasst werden kann, die aus dem Umschlagen der Peripherie (Provinzhauptstadt am Randes des Habsburgerreichs) bzw. der »Explosion« einer anderen, vorher vorhandenen Semiosphäre (Untergang Kakaniens) in ein neu entstandenes Zentrum (Prag als Hauptstadt eines neuen Nationalstaats) entstanden ist.12

12 Um diese Arbeitshypothese zu untermauern wären freilich weitere systematische Überlegungen zu Lotmans Modell der Semiosphäre anzustellen, für die in diesem Rahmen nicht der gebotene Raum zur Verfügung steht. Zum einen müsste man die Grundannahme Lotmans, dass in der semiotischen Praxis der natürliche Kern von als Semiosphäre bezeichneten Einheiten in erster Linie durch die natürlichen Sprachen gebildet werde, noch einmal separat untersuchen. Und zwar wäre dies einerseits notwendig vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sowohl für Prag und den tschechisch/böhmischen Raum, als auch für das Habsburger Reich vor 1918 insgesamt ja Mehrsprachigkeit festzustellen ist, obwohl alle diese Räume ansonsten durchaus die Kriterien eines synchronen, semiotischen Zeichenraums zu erfüllen scheinen, in dem Kommunikation über sprachliche und nicht-sprachliche Kanäle stattfindet und »der die Grenzen der Kultur erfüllt und ohne den einzelne semiotische Strukturen nicht funktionieren und gar nicht erst entstehen können« (vgl. Lotman 2010a, 12). Da es sich bei Lotmans Modell um ein zeichentheoretisches

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3. Z ENTRALES UND P ERIPHERES , E IGENES IN DER G EBURTSSTUNDE DER E RSTEN T SCHECHOSLOWAKISCHEN R EPUBLIK

UND

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F REMDES

3.1 Der Geburts-Tag der Ersten Tschechoslowakischen Republik als Historientheater und wahrgewordenes Märchen »Historický den takhle [ne]vyhlíží.« (Weiner 2002: 9 – »So sieht ein historischer Tag [nicht] aus.«) »Vždyt’je to ohromující, úžasné, pohádkově krásné – a je to pohádka, kde není lidožrouta.« (Ebd.: 11 – »Es ist doch verblüffend, irre, märchenhaft schön – und es ist ein Märchen ohne Menschenfresser.«)

Den Augenblick, in dem der Bruch vollzogen wird und in dem aus der Konkursmasse der »insolventen Firma Mitteleuropa« (»insolventní[…] firm[a] Mitteleuropa«, Weiner 2002: 13) die neue, erste Tschechoslowakische Republik hervorgeht, hat der tschechisch schreibende, jüdische Autor und Journalist Richard Weiner (1883-1937) in seinen 75 Feuilletons und Reportagen festgehalten, die 1919 unter dem Titel Třásničky dějinných dnů (Fransen/Fragmente historischer Tage) in Buchform erschienen.13 In fünf thematischen Oberkapiteln,14 die ihrerseits durch zahlreiche Unterüberschriften in kleine, nicht chronologisch geordnete Episoden untergliedert sind (vgl. Klímek 2002: 737), kommentiert Weiner als politisch wacher, kritischer Zeitgenosse die Kapitulation Österreichs, die Gründung der Tschechoslowakischen Republik, die Heimkehr des Philosophen-Präsidenten T.G. Masaryk und die Tätigkeit der Tschechischen Delegation im Rahmen der Friedensver-

handelt, das zwar in der Begrifflichkeit von Zentrum und Peripherie etc. mit räumlicher Metaphorik operiert, aber letztlich in seiner dynamischen Vorstellung vom Umschlagen der Peripherie in ein neues Zentrum, von der Grenze als Ort des Ereignisses und von der Teilbarkeit der Semiosphäre auf den Bereich der Zeichen und der Kommunikation zurückverweist, wäre außerdem zu prüfen, ob es sich auf ein an konkreten historischgeographischen Orten festgemachtes Konzept übertragen lässt. 13 Alle hier und im weiteren angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf den Abdruck der Třásničky dějinných dnů in Band 4 (2002) der seit den 1990er Jahren in Prag erscheinenden Weiner-Gesamtausgabe (Weiner 2002: 7-178). 14 Die Kapitelüberschriften lauten: »Praha nadšená a bláznívá« (»Prag begeistert und närrisch/verrückt«), »Panoptikum Národního shromáždění« (»Panoptikum der Nationalversammlung«), »Do Paříže« (»Nach Paris«), »Paříží sem a tam« (»Durch Paris hin und her«) und »Dělá se mír« (»Frieden wird gemacht«).

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handlungen von Paris/Versailles. Dabei impliziert bereits die Bezeichnung »historische Tage« im Titel das volle Bewusstsein des Autors für seine historische Zeugenschaft und für die Bedeutung und Tragweite der Dinge, deren Zeuge und Kommentator er wird, für das kollektive historische Gedächtnis. Zugleich wird das Gewicht dieser Position durch die Wahl des Wortes ›třásničky‹ – ›Troddeln, Fransen‹ – als Genrebezeichnung für die eigenen Texte direkt relativiert und ironisiert. Denn sicherlich ist es zwar – im Sinne von Silke Kleins deutscher Übersetzung als »Fragmente historischer Tage« in der von Steffi Widera herausgegebenen Werkauswahl Kreuzungen des Lebens, wo einige Auszüge aus den Třásničky abgedruckt sind (vgl. Weiner 2005: 171) – durchaus denkbar, dass hier einfach nur das Disparate, Fragmentarische der eigenen Beobachtungen bezeichnet wird – »Fragmente« eben. Andererseits weist auch die Position des impliziten Autors, die im gesamten Text zwischen einem neutralisierend-objektivierend-registrierenden Kameraauge und sporadischen subjektiv-empathisch-kommentierenden Einsprengseln eines involvierten Beobachter-Ichs oszilliert – darauf hin, dass auch die distanzierte Haltung des berichterstattenden Zeugen Programm ist. Dieses Distanzierte verweist insofern nicht von vornherein und ausschließlich auf ein Ausgeschlossen-Sein und (ethnisch-nationales) Nicht-Zugehörig-Sein eines jüdischen Autors vom bzw. zum tschechisch-national-feierlichen Geschehen,15 sondern fußt auch in einer individuellen, ironischen, spielerischen und teilweise humoristischen Grundhaltung, die sich in weiten Teilen bei der Schilderung auf Gestisches und Visuelles verlässt und eine maximale, alle fünf Sinne einbeziehende Aufnahme und Wiedergabe verschiedenster Details und Meinungen, Ansichten und Positionen ermöglicht.16 Zu den filmischen Schreibweisen, mit denen Weiner in dieser historischen Collage ein Tempo erzeugt, das die Atemlosigkeit der ersten Stunden der neuen Republik, aber auch den Sound der modernen Großstadt in seinen Texten zum Leben erweckt, gehört eine an das Filmschnittverfahren erinnernde, elliptisch-fragmentarische Schreibtechnik, die über weite Strecken aus Reihungen extrem verkürzter Sätze und assoziativen Auslassungen besteht. Dies erzeugt einerseits den Eindruck ei-

15 Den Aspekt der »Nichtzugehörigkeit«, den Weiner selbst reflektiert, wenn er u.a. sein Leben lang das Tschechische als Arbeitssprache beibehält, zu dem er sich aber auch explizit äußert, wenn er eine »Wahl«-Zugehörigkeit zur tschechischen Nation in Betracht zieht – bzw. der »Desertion von der nationalen Truppe« hebt Steffi Widera in ihren Kommentaren hervor, wenn sie Weiners Selbstaussage vom 18.7.1913 aus seiner ersten Pariser Zeit »Ich bin weder Jude noch Tscheche, weder Deutscher noch Franzose« (vgl. Weiner 2005: 15) zur Kapitelüberschrift erhebt (vgl. ebda.: 13) und mehrfach betont, der »Künstler-Kosmopolit« habe »weitaus weniger in die nationale Literaturszene [gepasst] als in die internationale« (ebd.: 170). 16 Zum Gestischen und Visuellen in den Třásničky vgl. Klímek (2002: 735ff.).

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nes Kameraauges, das über das Geschehenen gleitet, hierhin und dorthin springt, wobei dann kurze Sequenzen gegeneinander geschnitten werden, und andererseits so etwas wie eine rhythmische Toncollage, eine Art (geschriebenen, impliziten) Sound-Clusters der Stimmen im Bauch der feiernden Stadt. So wechseln etwa im Eröffnungstext »Opona se zdvíhá« (»Der Vorhang hebt sich«) Ortsbezeichnungen und Gesprächsfetzen oder einzelnen Sätze anonymer Sprecher mit der reflexiven Stimme des Beobachter-Ichs, Fragmente, die kommentar- und urheberlos nebeneinandergestellt werden und den Eindruck von atemloser Bewegung, Desorientierung und wachsender Informiertheit und Feierlichkeit hervorrufen: […] v tramvaji kdosi řekl, že Rakousko kapitulovalo. »No pomalu, pomalu! To je trochu silný tabák.« – K polednímu však přece to nedá. »Pojďme do města.« – V dejvických ulicích klidno. »Vidíte, povídačky! Historický den tahle nevyhlíží. Lidé chodí příliš pomalu.«- Na Klárově. Nic. – Kaprova ulice. Ahoj! Něco se děje. Podle čeho to poznáváme? Suď bůh, ale něco se jistě děje. – Staroměstké náměstí. Zvláštní vydání Národních listů. »Občane, co je?« – Kde se vzalo »Občane!«? – Rakousko přijalo veškeré podmínky Wilsonovy, zvláště uznává nároky Čechoslováků a Jihoslovanů. – Poklusem! – Železná ulice, staré Německé divadlo, ulice Havířská. Přikopy. Dům banky Bohemie. Na něm velký americký prapor. Vytřešťujeme oči, druh na druha. Bez dechu. […] – Zmatený běh lidí. – Tam onde známý. Rozpřahují se ruce. »Co je?«- »Nevím!« – »Konec.« – »Abtreten!« – »Došli jsme!« […] Strážník přešlapuje na stanovišti. – »Extraausgabe Bohemia.« – »Německé ne,« povídá strážník. »Dnes je to jedno, občane strážníku! A neprovokujte!« – Strážník se směje. – Prapory vylézají. Na stožárech Muzea vztyčují právě druhou, mocně se vzdouvající bíločervenou plachtu. Kolem sochy sv. Václava černo. Plakát na podstavci: Ať žije Česká republika!« (Weiner 2002: 9f.) [...] in der Straßenbahn sagte jemand, dass Österreich kapituliert habe. »Na langsam, langsam! Das ist ein bisschen starker Tobak.« – Gegen Mittag jedoch kein Halten mehr. »Auf in die Stadt.« – In den Straßen von Dejvice Ruhe. »Seht ihr, Ammenmärchen! So sieht kein historischer Tag aus. Die Leute gehen zu langsam.« – Klárov. Nichts. – Kaprova ulice. Ahoj! Es tut sich etwas. Woran erkennen wir das? Bei Gott, aber irgendwas tut sich ganz sicher. – Altstädter Ring. Sonderausgabe der Národní listy [Nationalzeitung, A.d.Ü]. »Bürger, was ist?« – Wo kommt das »Bürger!« her? – Österreich hat alle Bedingungen Wilsons akzeptiert, besonders erkennt es die Ansprüche der Tschechoslowaken und Südslawen an. – Im Trab! – Železná ulice, das alte Deutsche Theater, ulice Havířská. Graben. Haus der Bohemia-Bank. Darauf eine große amerikanische Flagge. Wir sperren die Augen auf, sehen einander an. Atemlos. [...] – Verwirrtes Gerenne von Leuten. – Hie und da ein Bekannter. Arme werden ausgebreitet. »Was ist?« – »Ich weiß nicht!« – »Ende.« – »Abtreten!« – »Wir sind da!« [...] Der Wachtmeister tritt auf der Stelle. - »Extraausgabe Bohemia.« – »Keine deutsche«, sagt der Wachtmeister. »Heute ist das egal, Bürger Wachtmeister! Und provozieren Sie nicht!« – Der Wachmeister lacht. – Flaggen kriechen hervor. Auf dem Fahnenmast des Museums zie-

176 | K ATHRIN J ANKA hen sie gerade ein zweites, rotweißes Segel auf, das sich mächtig bauscht. Um das Standbild des Hl. Wenzel herum Schwarz. Am Sockel ein Plakat: Es lebe die Tschechische Republik!17

Bei aller inszenierten Atemlosigkeit erinnert der Berichterstatter dieses Textes dennoch weniger an Egon Erwin Kischs rasenden Reporter,18 als an einen Flaneur (»chodec«, ebd.: 23), der den Schauplatz des historischen Geschehens mit einer gewissen beobachtenden Distanz abschreitet. Dieser lässt sich von den Wellenbewegungen des »Menschenmeeres« (»lidské moře«, ebd.: 11) von der Peripherie – Ausgangsort: Dejvice19 – ins Zentrum des Geschehens, dann noch einmal zurück an die Peripherie und zum Schluss doch wieder ins Zentrum spülen, wobei er Überlegungen zum historischen Gewicht des erlebten Geschehens anstellt. Sein tendenziell neutraler, in seinem einfühlenden Verstehen teilweise geradezu ethnologischer Blick auf das fremde Geschehen im eigenen Land registriert teils staunend und begeistert, teils nachdenklich bis bedauernd und manchmal auch leise ironisch das Geschehen und gibt es in kurzen, pointierten, szenisch bzw. filmisch wirkenden Sätzen wieder. Der weiter oben erwähnten, quasi-filmischen Schnitttechnik in den Texten entspricht die Anordnung der thematisch gegliederten Unterkapitel, in deren Titeln sich national bedeutsame Ortsbezeichnungen innerhalb Prags wie die Prager Burg (ebd.: 22), Žofín (ebd.: 52), der Weiße Berg (ebd.: 49), Bezüge zur Geographie und Politik Europas (»A Francie?« [ebd.: 12 – »Und Frankreich?«]), Hinweise auf Personen und Personengruppen (ethnische Gruppen wie die Ungarn, ebd.: 13; die

17 Da die Übersetzung aus den Třásničky in der deutschen Weiner-Ausgabe von 2005 nicht alle hier zitierten Stellen enthält, habe ich die hier angeführten Übersetzungen aus dem Text selber besorgt. 18 Die Reportage, die in den 1910er und 1920er Jahren in Mode kommt, kann als signifikantes Genre der rasant beschleunigten modernen Zeit gelten (vgl. Jäger/Schütz 1999). Der »ethnologische« Blick des Reporters richtet sich gleichermaßen auf Exotisches in aller Welt wie auf die Peripherien des (fremden) Eigenen, die Ränder der Gesellschaft, den Alltag, die Unterwelt. Ähnlich wie Übersetzungen vermitteln Reportagen und Feuilletons aus dem In- und Ausland Bilder »fremder« bzw. »eigener« Kultur, deren »orientierende« Wirkung für die Bewohner des jungen tschechischen Staates nach der Kappung der traditionellen k.u.k.-Einbindung nicht zu unterschätzen sein dürfte. Die mehr oder weniger rasenden Reporter werden so zum Träger eines sich immer weiter entleerenden Großstadtdiskurses, den wir in mythisch erstarrter, ewig wiedergekäuter und mittlerweile beinahe musealer Form als Kulisse eines Massentourismus heutzutage in vielen europäischen Großstädten wiederbeleben und erleben. 19 »Návštěvou v Dejvicích. Periferie Prahy.« (Weiner 2002: 9 – »Zu Besuch in Dejvice. Peripherie Prags.«)

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tschechischen Legionäre, ebd.: 30; Kriegsgefangene, ebd.: 45; Gäste, ebd.: 43; der Präsident, ebd.: 39; ein »Widersacher« [»odpůrce«, ebd.: 12]; und ein »Flagellant« [»Flagelant«, ebd.: 27]), die zum ›Personal‹ der historischen Tage gehören, historische und politische Handlungen bzw. ihre Deutung (»Demonstrace« [ebd.: 28 – »Demonstrationen«]; »Heslo ulice« [ebd.: 50 – »Das Motto der Straße«]), nationale Symbole (»Prapory« [ ebd.: 11 – »Fahnen«]; »Slovanská lípa« [ebd.: 51 – »Die slawische Linde«]) und Regieanweisungen (»Opona se zdvíhá« [ebd.: 9 – »Der Vorhang hebt sich«]; »Zlatý hřeb programu« [ebd.: 54 – »Der Clou des Programms«]) abwechseln. Die Metapher des Guckkasten-Theaters, die durch die erste Binnenüberschrift »Der Vorhang hebt sich« evoziert und in Bildern wie dem von »der Komparserie großer Tage«20, den Kulissen etc. weitergeführt wird, trägt einerseits ebenfalls zur Konstruktion der den Texten innewohnenden Beobachterdistanz bei. Andererseits schafft sie einen Rahmen, der die Akteure des historischen Geschehens allesamt zu den Figuren eines Historiendramas macht: das »verlegen lächelnde Grüppchen deutscher Studenten« (»hlouček mladých německých studentů se rozpačitě usmívá«, ebd.: 9) ebenso wie den patriotischen Schutzmann und die Grüppchen, die an der Peripherie »singend im Gänsemarsch über die Feldwege gehen« und »bis auf den Friedhof zu hören sind« (»Po polních stezkách jdou zpívající lidé husím pochodem.«, ebd.: 10), so dass »[n]un auch eine Tote [die gerade zu Grabe getragen wird] weiß, dass JENER Tag gekommen ist« (»Nyní ví to i mrtvá, že nastal Onen den.«, ebd.: 10), den besorgten, deutschen Nachbarn, der aus Vorsicht tschechisch spricht, ebenso wie die unbesorgte »deutsche Dame«, die sich über die Nervosität ihres Ehemannes wundert, und die abziehenden Ungarn, die tschechischen Legionäre ebenso wie den »Freund« aus Dejvice, und den »Rat Mattuš«, von dem, als man ihn tagsüber in den Straßen der Stadt trifft, noch niemand ahnt, »dass sich dieser Zivilist uns abends als Stationsvorsteher von Prag vorstellen wird« (»Kdo tušil, že tento civilista se nám večer představí jako staniční velitel pražský?«, ebd.: 10). All diese Individuen und die Massen, die sich spät abends vor dem Museum versammeln, bilden ein rauschendes »Menschenmeer«, von dem gesagt wird: »Ani čtverečného centimetru neušetřilo toto lidské moře. A jak halasí! Jak hřímá! A lze pozorovati, kterak schází zvuk nenávistný. Tato chvile je vyhrazena pouze velikému díkůčinění.« (Weiner 2002: 11 – »Nicht einen Quadratzentimeter spart dieses Menschenmeer aus. Und wie es lärmt! Wie es donnert! Und man kann beobachten, wie jeder hasserfüllte Ton fehlt. Dieser Moment ist einzig dem Ausdruck großer Dankbarkeit vorbehalten.«)

20 »[…] od Můstku valí se komparzerie velkých dnů: hloučky, shluky.« (Weiner 2002: 10 – »[...] vom Můstek wälzt sich die Komparserie großer Tage heran: Grüppchen, Ansammlungen.«)

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An diesem ersten Tag der neuen, republikanischen Zeit feiert eine vielstimmige, vielsprachige Menge friedlich in den Straßen Prags, »dieses glücklichen Babylons« (»tohoto šťastného babylonu«, ebd.: 21). Prag wird hier zur Bühne, auf der »Praha« selbst, die personifizierte Stadt, zur Hauptfigur und zugleich zum Schauplatz des historischen Geschehens wird. Im Bild des personifizierten Prag wird neben dem verruchten Aspekt des modernen Großstadt-Sündenbabels an diesem »historischen Tag« vor allem der strahlende, reine Aspekt der nationalen »heiligen« Stadt21 aufgerufen. Praha, das goldene, tschechische Prag, erscheint im Text in bester mythologischer und national-symbolischer Tradition als personifizierte Schöne, die »begeistert und närrisch/verrückt« (»nadšená a bláznivá«, ebd.: 9) die neuen Zeiten feiert, als »Kokette«, die sich – ehrlich und züchtig – »mit dem schmückt, was sie gerade hat«, was ihr »gut steht, wie immer«,22und nichts vorgaukelt, wenn sie sich auf den Empfang des großen Mannes – des Staatsgründers und nunmehr Präsidenten Masaryk – vorbereitet (Unterkapitel »Praha se chystá«, ebd.: 19 – »Prag bereitet sich vor«) und sodann ihn und alle anderen Heimkehrer und Besucher willkommen heißt (Unterkapitel »Praha vítá« [ebd.: 32 – »Prag heißt Willkommen«]); die Vorbereitung auf den Präsidenten wird hier inszeniert wie die einer Braut – »jahrhundertelang verwitwet« und nun »um Jahrhunderte verjüngt« – auf den himmlischen Bräutigam oder auf eine mystische Hochzeit, so dass als Assoziation im Hintergrund eine Analogie zum himmlischen Jerusalem aufscheint: A den nastal. Den, jakého pamatuje a jakého již nikdy nezažije toto město nádherné a po staletí vdoví, jež povstává omlazeno o věky, aby se znova zasnoubilo s ženichem nejšvarnějším a nejmužnějším, to s radostí vzkříšeného národa, s radostí tak božskou a čistou, že bys poklekl a modlil se k ní, slze. […] A ještě druhá náhodná shoda jako by tu byla předpovědí až mystickou: je svátek sv. Tomáše. (Weiner 2002: 33, Hervorhebungen KJ) Und der Tag ist gekommen. Ein Tag, wie ihn diese wunderbare und jahrhundertelang verwitwete Stadt, erinnern und wie sie ihn nie wieder erleben wird, [diese Stadt,] deren Gestalt um Jahrhunderte verjüngt ist, um sich von neuem mit einem äußerst feschen und mutigen Bräutigam zu verloben, und zwar mit der Freude eines wieder auferstandenen Volkes, mit einer so göttlichen und reinen Freud, dass man niederknien und zu ihr beten möchte, unter Tränen.

21 Als ein Beispiel für diesen lang tradierten und u.a. von Rak (1994) und Macura (1995) thematisierten Topos können die Prag-Emphasen in Julius Zeyers Roman Jan Maria Plojhar (1919) gelten. 22 »a co se legionářů týče, měla dva dni po jejich příjezdu koketka Praha cos lepšího na práci než špekulovati o výzdobě: obléka, co zrovna měla po ruce – slušelo ji to jako vždy« (Weiner 2002: 19, Hervorhebung KJ).

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[...] Und noch eine zweite zufällige Fügung war hier eine geradezu mystische Vorhersage: es ist der Tag des Hl. Thomas.

Personifiziert in der Tradition des Gründungsmythos von Prag als Witwe der Könige und Braut (vgl. hierzu Macura 1995: 181) und des im Laufe des 19. Jahrhunderts kanonisierten und ritualisierten Mythos der nationalen Wiedergeburt verkörpert die Stadt als Zentrum des Geschehens zugleich die Wiege, das Herz und die Mutter der Nation:23 Zatím rozbujelo se praporů do bílo-červeno-modrých vln, nepřetržitých, vysoko bijících. Kde jste spaly, vy velezrádná trojbarví, kde jste se vzaly, nesčetné kokardy, lvíčkové, transparenty a praporečkové girlandy? (Weiner 2002: 10) Inzwischen wuchsen sich die Flaggen zu weiß-rot-blauen ununterbrochenen, hoch schlagenden Wellen aus. Wo habt ihr geschlafen, ihr hochverräterischen Trikoloren, wo kommt ihr jetzt her, ihr unzähligen Kokarden, kleinen Löwen, Transparente und Girlanden kleiner Fähnchen?

Wie die mythischen Ritter im Blaník, die auferstehen, um Stadt und Nation im Augenblick der höchsten Bedrängnis zu retten, scheinen sie irgendwo geruht zu haben und »kriechen nun hervor« (»prapory vylézají«, ebd.: 10), die Fahnen und Wimpel in den Farben der nationalen, widerständigen Trikolore und die kleinen (böhmischen) Löwen, Girlanden und Kokarden: In Windeseile erobern die im Zuge der Einkodierung des nationalen Mythos in das öffentliche Bewusstsein verwendeten Symbole, Begleiter national orientierter Feste und Begräbnisse, als Insignien der neuen Macht den öffentlichen Stadtraum und vervollständigen die Übernahme der entzauberten ›Kaiserburg‹ auf dem Hradschin24 an der sichtbaren Oberfläche der

23 Vgl. Macura (1995: 178-188), Kapitel »Praha«. Dort ist von Personifizierungen und Allegorien die Rede, im Zuge derer Prag der allgemeinen Allegorie der Heimat (»Vlast«) angenähert wird. Macura erwähnt auch die geläufige Bezeichnung von Prag als »Mutter« (»matka«) oder »Mütterchen« (»matička«) (ebd.: 184). 24 »Pražský hrad však ›odpohádkověl!‹ tak náhle a tak důkladně, že o tom jistě kdysi bude napsána pohádka. Zánik hradního čaru udál se s takovou vehemencí, že nelze jinak než věřiti v kouzlo. Po léta letoucí spočíval obrovský zámek na svém návrší jako slavný nebožtík, vystavený v sarkofágu s velikou, nádhernou pompou: tak ve dne. V noci však jevil se vznešeným a zasmušilým obrem, kterého porazili a jenž bez hnutí a bezdech spočívá, vzbuzuje tesklivou úctu svým bezživotím.« (Weiner 2002: 23 – »Die Prager Burg jedoch, ›ist ihre Märchenhaftkeit losgeworden‹!, so plötzlich und so gründlich, dass sicher einst darüber einmal ein Märchen geschrieben wird. Das Schwinden des Burgzaubers

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Stadt und gehen Symbiosen ein mit der Tradition, die in hier und da getragenen Trachten repräsentiert ist. Diese und weitere »Requisiten« entwickeln in der »Kulisse« des neuen Staates25 ein fröhliches, wenn auch teilweise noch chaotisches Eigenleben, das sich mit dem Gesang der feiernden Massen und dem technischen Sound der Großstadt verbindet – Straßenbahnen klingeln, Züge rattern und vor dem Gemeindehaus/Obecní dům am Graben zischen Limousinen vorbei – und das sich selbst und seine nationale Vorgeschichte im filmischen Medium unmittelbar reflektiert – eine Tatsache, die der Berichterstatter ironisch-pointiert zusammenfasst in einer Beobachtung, die eine gewisse Austauschbarkeit des ritualisierten Geschehens auf der nationalen Bühne zu implizieren scheint, sind doch die einstigen Träger nationaler Aufmärsche und Versammlungen wie der Turnverein Sokol und die Pfadfinderorganisation Skaut auch in diesen historischen Tagen aktiv: »Protože nový film – První dni samostatnosti – není ještě hotov, předvádějí zatím náhražku: všesokolský slet 1912. A hle! – výborná náhražka!« (Weiner 2002: 47, Unterkapitel »V kinematografu« [»Im Kino«], Herv. KJ – »Weil der neue Film – Die ersten Tage der Unabhängigkeit – noch nicht fertig ist, führen sie derweil einen Ersatz vor: das gesamtstaatliche Turnertreffen von 1912. Und sieh an! – einen hervorragenden Ersatz!«) 3.2 Die demokratische Neuordnung des inneren und äußeren Raumes: Prag als neues Zentrum in Europa und als Umschlagspunkt von Peripherie und Zentrum Unter räumlichem Aspekt behandeln die Třásničky dějinných dnů auf verschiedenen – mikrokosmischen und makrokosmischen – Ebenen die Umordnung, Neusetzung und Bestätigung der für die räumliche Verortung grundlegenden Orientierungskategorien ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹. In »Opona se zdvíhá« vollzieht der teilnehmende Beobachter eine Bewegung von der Peripherie (Dejvice) ins Zentrum (Wenzelsplatz/Václavské náměstí), von dort erneut in anderer Richtung an die Peripherie (Olšany, Strašnice) und ins Zentrum zurück (Museum, Václavské náměstí).26 So wandert unser Berichterstatter des historischen Tages dem Gerücht von der

vollzog sich mit solcher Vehemez, dass man nicht anders kann als an Zauberei glauben. Seit Ewigkeiten ruhte dieses Schloss auf seiner Anhöhe wie ein berühmter Toter, ausgestellt im Sarkophag, mit großartigem Pomp: so am Tag. In der Nacht jedoch erschien er als erhabener, trübseliger Riese, der besiegt wurde und bewegungslos und atemlos daliegt, wobei er mit seiner Leblosigkeit bangen Respekt hervorruft.«) 25 »Zde jest kus zákulisí nového státu, síň rekvizit.« (Ebd.: 26 – »Hier ist ein Stück des Raums hinter den Kulissen des neuen Staats, der Requisitensaal.«) 26 Zum Wenzelsplatz/Václavské náměstí vgl. u.a. Hojda (2007) und Koeltzsch (2009).

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habsburgischen Kapitulation folgend von »Dejvice an der Peripherie Prags« über Klárov, die Karlova ulice ins Zentrum der Stadt: zunächst zum Staroměstské náměstí und von dort erreicht er schließlich durch die Železná und die Havířská am Ständetheater vorbei den Graben/Na Příkopě. Dort, auf dem Gebäude der Bank Bohemia findet sich das erste sichtbare Zeichen der Kapitulation: Die amerikanische Flagge. Aber erst im symbolischen Zentrum des Zentrums, an der Statue des Hl. Wenzel/Václav, des Schutzpatrons der Böhmischen Länder, auf dem Václavské náměstí hängt ein Transparent, das die neue nationale und politische Wirklichkeit bestätigt: »Es lebe die Tschechische Republik!«27 Von dort lassen sich der Berichterstatter und sein Begleiter über die Ferdinandstraße (heute Národní třída) und die Spálená nach Žižkov treiben: Es zieht sie am Olschaner Friedhof/Olšanské hřbitovy vorbei auf den Friedhof von Strašnice, wo sie eine Blume auf dem Grab eines geliebten Menschen ablegen. Der Kommentar der Bettlerin, es handle sich dabei um eine »Friedensnelke«28 markiert ein weiteres Mal (wie schon das Gespräch mit dem »Bürger Schutzmann« zuvor) das Einsickern der neuen, demokratischen Gleichheit in das Bewusstsein aller Beteiligten. Und auf dem Rückweg ins Zentrum werden die Freunde von den »Gänsemärschen« (»husí pochod«) der aus anderen Vororten – Strašnice, Vinohrady – zusammenströmenden »ganzen Familien und Gruppen« (»celé rodiny a pochody«, Weiner 2002: 10) gerahmt und begleitet, mit denen sie sich gemeinsam – dem eisig pfeifenden Wind und drohenden Schneewolken zum Trotz – in das Menschenmeer am zentralen Nationalmuseum ergießen, das die Stirnseite des Václavské náměstí dominiert und illuminiert ist und wo festlich musiziert wird: Všechny obloukové lampy hoří, hudby hrají a z muzejní rampy je viděti cosi, čeho nikdo nepamatuje, byť se rozpomínal na největší pražské dny. Obrovský bulvár napěchován doslova masou, která se nemůže pohybovati. Ani čtverečního centimetru neušetřilo toto lidské moře. (Ebd.: 11) Alle Bogenlampen brennen, Musik spielt und von der Rampe des Museums ist etwas zu sehen, was seit Menschengedenken niemand gesehen hat, auch wenn er sich an Prags größte Tage erinnern sollte. Der riesige Boulevard ist im wahrsten Sinne des Wortes vollgestopft mit einer Masse, die sich nicht bewegen kann. Keinen Quadratzentimeter hat dieses Menschenmeer ausgespart.

27 Vgl. hier das eingangs angeführte längere Zitat von Weiner (2002: 9ff.). 28 »›Mírová rezeda!‹ praví babka žebračka.« (Ebd.: 10 – »›Eine Friedensnelke!‹ sagt die alte Bettlerin.«)

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Der Sog ins Zentrum, von dem sich der Berichterstatter und die zunächst ungläubigen und verwirrten, dann immer fröhlicher feiernden Massen leiten lassen, verläuft in gut kanalisierten Bahnen: Die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts hatte für den Ernstfall im wahrsten Sinne des Wortes vorgebaut und in der Stadtlandschaft Prags durch Denkmäler, Gebäude und Straßenschilder nationale Akzente gesetzt, die im Rahmen patriotischer Aktionen und Feiern mit nationalem Symbolwert aufgeladen wurden und im gegebenen politischen Augenblick aktualisiert werden und die Kulisse und den Rahmen für die Feier der neuen Staatlichkeit bilden konnten.29 Der durch Gebäude, Denkmäler und andere Indizes als ›slawisches Terrain‹ eroberte Stadtraum ist in den Třásničky allgegenwärtig und gleichermaßen Rahmen und Teilnehmer des Geschehens: Der heilige Václav auf dem Václavské náměstí/Wenzelsplatz, das Nationalmuseum, das Hus-Denkmal, der Wilsonovo nádrazi/WilsonBahnhof, der Tanz- und Festsaal Žofín, das Schlachtfeld am Weißen Berg/Bílá hora und das Repräsentantenhaus/Obecní dům werden zu zentralen Indizes, die das tschechische nationale Narrativ repräsentieren und transportieren, zu »Gliedern« und »Schmuck« der glücklich feiernden »Praha«/»Slavie«, von der einmal zahmen, dann wilden, teils orientierten, teils aber auch chaotischen Masse umspielt. Als Kontrapunkte und Repräsentanten der ›Gegenseite‹, der überwundenen alten Ordnung, treten der Graben, die Burg, die alten Adelspaläste und die Mariensäule auf dem Altstädter Ring auf den Plan. Die lebendigen, symbolisch aufgeladenen Elemente dieser symbolischen Kodierung werden vom Berichterstatter der Třásničky nicht von ungefähr aufgerufen: Sie dienen einerseits dem Transport der symbolischen, affirmativen und feierlichen Selbstvergewisserung des neuen, jungen Staates und der damit einhergehenden ansteckenden, eher feierlichen als aggressiven Begeisterung, die Jiří Pokorný in seinem Artikel »Der Umsturz als Feier – die ersten Tage der Tschechoslowakischen Republik« (2007) hervorhebt. Diese Selbstvergewisserung wird jenseits der topographisch-symbolischen Ebene durch einen Lobgesang auf die tschechoslowakische Trikolore und die nationalen Farben unterstützt, die zugleich eine Feier der nationalen Wiedergeburt und eine Feier der in den französischen Nationalfarben repräsentierten europäischen demokratischen Tradition seit der Französischen Revolution ist: Jaké blaho míti za národní barvy bílou, modrou a červenou! Jsou rozmnožovatelkami radosti. A národ, jenž ve svých šťastných dnech vztyčuje barvy tyto, vděčí jim za zázrak, že se radost

29 In der Lektüre von Denkmälern, Straßennamen und weiteren Repräsentationen des in den Stadtraum Prags projizierten nationalen Mythos/Narrativs schließe ich an Escher 2007, Petrbok/Randák 2010, Nekula 2010, Nekula 2017 u.a. an, die zur Projektion des Nationalmythos in den Stadtraum gearbeitet haben.

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jeho znova a znova obrozuje ze sebe samé. Ony prosvětlují ulice a loudí úsměv na rty. Ony kouzlí iluzi jara i v těchto podzimních dnech. Ony překonávají mlhu a déšť. Ze střízlivého šedého převlečníku tvoří slavnostní roucho, ale největší div konají na rakouských uniformách: nenávist učarovaly na frenetickou lásku. Nejkrásnější prapory vlají na Pražském hradě. (Weiner 2002: 11) Was für eine Wohltat, Weiß, Blau und Rot als Nationalfarben zu haben! Sie sind Multiplikatorinnen der Freude. Und ein Volk, das in seinen glücklichen Tagen diese Farben aufzieht, verdankt ihnen das Wunder, dass sich die Freude immer wieder von neuem aus sich selbst wiedergebiert. Sie erfüllen die Straßen mit Licht und locken ein Lächeln auf die Lippen. Sie zaubern die Illusion von Frühling hervor auch in diesen Herbsttagen. Sie überkommen Nebel und Regen. Aus einem nüchternen grauen Überzieher machen sie eine feierliche Robe, aber das größte Wunder vollbringen sie auf österreichischen Uniformen: Hass verzauberten sie in frenetische Liebe. Die schönsten Fahnen wehen auf der Prager Burg.

Über die analog zur Menge als wogendes, personifiziertes Meer beschriebenen »Fahnen«, die das »graue Alltagskleid« zur »Festtagsrobe« machen, rückt hier nicht nur das Bild der einzelnen Bürger, die die Masse formen und ihre Kleidung mit Fahnen und Wimpeln schmücken in den Blick. Metaphorisch kehrt auch die Dame Praha, feierlich gekleidet, wogend und tanzend, wieder in das Bild zurück, das der Berichterstatter vom Geschehen zeichnet – was eine räumlich-geographische und symbolische Rückbindung an den konkreten Ort zur Folge und zugleich die gesamte immer wieder neu erzählte historisch-mythische Tiefendimension mit aufruft. Andererseits – über die von Pokorný betonte reine und unschuldige nationale Begeisterung hinaus – fungieren die aufgezählten Elemente der genannten symbolischen Kodierung des Prager Stadtraums auch als Aufhänger für ironische Spitzen und nachdenklichere, reflexive Töne, die auch die Randgestalten des Geschehens im Auge behalten. Und die zwar die »Entzauberung« der Burg feiern, aber angesichts der allzu augenfälligen Rache an der alten symbolischen Ordnung, wie sie etwa das Stürzen der Mariensäule darstellt, ein Unbehagen nicht nur spüren, sondern auch auszudrücken wagen.30

30 »Rád bych nyní věděl, kdo vynašel heslo, že mariánský sloup na Staroměstském náměstí je památníkem bitvy bělohorské. Teď, kdy se rozbil na sedm kusů, kdežto Madona, korunující jeho vrchol, je na střepů nespočetně, dovídáme se, že oslavoval nikoliv bělohorskou bitvu, nýbrž uhájení Prahy před Švédy. – Děkuji za poučení. Ale přichází pozdě. Co živ vždy jsem slýchával, že mezi bělohorskou bitvou a mariánským sloupem je bezprostřední souvislost. Ale nejen slýchával. Také čítal. A nejsa historikem, jsem i věřil. […] Dnes snad není už životu nebezpečno říci, že je sloupu věčná škoda. Bylo to krásné umělecké dílo. – Kéž by to bylo lze říci o památníku Husovu! – […] Nenahlížím však, proč

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Dieses Prag, in dem eine entfesselte Menge sich an den Denkmälern des überwundenen »Feindes« rächt, nur um hinterher festzustellen, dass sie gar nicht – wie es der Wiedergeburtsmythos will – Denkmäler der Niederlage gegen Habsburg, sondern des Siegs über die Schweden waren,31 erscheint dem Betrachter als immer noch genauso peripher und provinziell wie eh und je, ein Teil jener »zweiten Hälfte Europas«, die den Maßstab wahrer demokratischer Zivilisation, den Frankreich gesetzt hat, erst noch erreichen muss.32 Analog zu den national kodierten Anlaufstellen innerhalb Prags treten in den Třásničky die Städte Europas auf den Plan und werden Teil einer gesamteuropäischen Landkarte. Allerdings ist die »europäische Luft«33 nicht allerorts dieselbe: Den Zug der »Compagnie des wagon-lits et des grands express européens« am Wilson-Bahnhof/Wilsonovo nádraží umweht die »Atmosphäre Europas« (»ovzduší Evropy«), nach Jahren des Eingeschlossen-Seins auf den Gleisen der »insolventen […] Firma Mitteleuropa« (»insolventní[…] […] firmy Mitteleuropa«, Weiner 2002: 13) zwischen Kamenec Podolski, Groce, Baden bei Wien und »irgendeinem Dorf

by mariánský sloup nebyl mohl zůstati tam, kde byl. […] Svobodná Francie nebojí se pomníků absolutismu.« (Weiner 2002: 50, Hervorhebung KJ – »Nun wüsste ich gern, wer die Losung ausgegeben hat, dass die Mariensäule auf dem Altstädter Ring ein Denkmal für die Schlacht am Weißen Berg sei. Jetzt, wo sie in sieben Stücke zerschlagen wurde, wogegen die Madonna, die einst ihre Spitze krönte, in unzähligen Scherben liegt, erfahren wir, dass sie keinesfalls die Schlacht am Weißen Berge, sondern die Verteidigung Prags gegen die Schweden feierte. – Danke für die Belehrung. Aber sie kommt zu spät. Mein ganzes Leben lang habe ich immer wieder gehört, dass zwischen der Schlacht am Weißen Berge und der Mariensäule ein unmittelbarer Zusammenhang bestünde. Und nicht nur gehört. Auch gelesen. Und da ich kein Historiker bin, habe ich es auch geglaubt. [...] Heute ist es vielleicht nicht mehr lebensgefährlich zu sagen, dass es um die Säule ewig schade ist. Es war ein schönes Kunstwerk. – Könnte man doch dasselbe von dem Hus-Denkmal sagen! – [...] Ich sehe jedoch nicht, warum die Mariensäule nicht hätte dort bleiben können, wo sie war. [...] Das freie Frankreich fürchtet die Denkmäler des Absolutismus nicht.«) 31 Zu Hus und Mariensäule vgl. auch Schneider (2009: 141-157). 32 Weiners Frankreich-Emphase erinnert hier an Heinrich Mann, für den Frankreich in vielen seiner Werke und auch in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder Thomas Mann anlässlich von dessen Betrachtungen eines Unpolitischen Bezugspunkt und Symbol progressiver, zivilisierter, demokratischer moderner Staatlichkeit war (vgl. Mann, H. / Mann T. 1984). 33 Vgl. die Zwischenüberschriften »Vzduchu Evropy část první« (Weiner 2002: 13 – »Europäischer Luft Teil eins«) und »Vzduchu Evropy část druhá« (ebd.: 16 – »Europäischer Luft Teil zwei«).

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bei Bitolje« (»nějaké vši poblíže Bitolje«) »träumen« seine Waggons von Reisen über den Brenner oder den Simplon nach Turin oder Padua. Als Repräsentanten eines Moderne-typischen, technisch beschleunigten Reisens und als Symbol der Überschreitung nationaler Grenzen werden sie für den Berichterstatter zum Aufhänger, über den Status Quo in Europa nachzudenken. Und dazu, bei den zu wenig dankbaren tschechoslowakischen Mitbürgern die Rolle Frankreichs im Ersten Weltkrieg ins Gedächtnis zu rufen. Der Geist Europas erscheint also in zweideutiger, »gefährdeter« Weise – als Erinnerung an Krieg, Zwist und Zersplitterung, an die Schützengräben Frankreichs und zugleich in deren symbolischer Überwindung. Denn heute steht die Heimkehr nach Europa auf dem Plan – der Zug am Wilsonovo nádraží bringt seine Insassen nach Paris. Und diese sind sich des feierlichen Moments bewusst, sie haben »allesamt […] ein eigentümerhaftes Verhältnis zu ihm, und man sieht es ihnen an, wie sie in den Türen stehen« (»všichni […] cítí, že mají k němu vzaty vlastnické, a je to na nich znáti, jak stojí mezi dvířkami«, ebd.: 14), die Damen sind in »beinahe ›großer‹ Toilette« (»v toaletách témeř ›velikých‹«, ebd.: 15) unterwegs und alle scheinen »gewissermaßen zu versuchen«, »dieser Abreise, die eine historische Szene ist, […] das Aussehen einer friedlichen Familienfeier zu verleihen« (»tomuto odjezdu, jenž je scénou historickou, všichni jako by se snažili dodati vzhledu vlídné rodinné slavnosti«, ebd.: 15). Den ausfahrenden Zug verabschieden die Rufe »›Vive la Republikque tchéchoslovaque!‹ – ›Ať žije Francie!‹« (ebd.: 15 – »Es lebe die Tschechoslowakische Republik!‹ – ›Es lebe Frankreich!«). Von Norden allerdings weht die »Luft aus dem anderen Teil Europas« (»vzduch z druhé části Evropy«, ebd.: 16) herüber: »Nikoliv Alpy a slunný jih: nikoliv, tentokráte fouká severák a ne pasáty. – Několik dnů je v Praze chvilemi tak, jako by bylo lze slyšeti střílenici z Berlína.« (Ebd. – »Nicht etwa die Alpen und der sonnige Süden: Keinesfalls, diesmal bläst Nordwind, nicht der Passat. – Einige Tage lang ist es in Prag manchmal so, als könnte man die Schießereien aus Berlin hören.«) Denn das ›Gespenst des Bolschewismus‹ geht in diesen Tagen auch in Prag um: »Jdu na Vinohrady. Na Purkyňové náměstí mítinky jako už ode dvou dnů stále. Slyším: ›Bolševismus!‹ – ›Kletba Rakouska!‹ – ›Jste bolševik?‹ – ›Já bolševik? Já? – Kdepak!‹ A podivný mužík kyselého úsměvu se ztrácí v davu.« (Ebd.: 17 – »Ich gehe nach Vinohrady. Auf dem Purkyňovo náměstí sind schon seit zweit Tagen irgendwie ständig Meetings. Ich höre: ›Bolschewismus!‹ – ›Fluch Österreichs!‹ – ›Sind Sie Bolschewik?‹ – ›Ich Bolschewik? Ich? – Ach was!‹ Und das merkwürdige Männlein mit dem sauren Lächeln verliert sich in der Menge.«) Und angesichts des Attentats auf den Premierminister Karel Kramář am 8. Januar 1919 gibt der Beobachter der Prager Szenerie lakonisch ein Gespräch wider, in dem die Frage verhandelt wird, ob solche Formen politischer Gewalt etwa vielleicht zur neuen Größe, zur »Seele« einer Hauptstadt wahren europäischen Formats gehören: »Kdosi praví na rohu Vodičkové ulice: ›Atentát! Víte, to nám scházelo do veliké politiky!‹ – Nerozpoznávám, je-li tu ironie, ale tolik vím: tu mluví duše velikého

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města.« (Ebd.: 18 – »Jemand sagt an der Ecke Vodičková: ›Ein Attentat! Wissen Sie, das hat uns noch gefehlt zur großen Politik!‹ – Ich kann nicht ausmachen, ob das hier Ironie ist, aber so viel weiß ich: Hier spricht die Seele der Großstadt.«) Die Neuverortung Prags und der Tschechoslowakei auf der politischen Landkarte Europas, die sich nach der »Explosion« – bzw. eigentlich eher: dem einer Implosion gleichkommenden inneren Zusammenbruch des Habsburgerreichs – vollzieht, gleicht – auf dieses Territorium bezogen – einem Umschlagen der Peripherie in ein neues Zentrum. In der Perspektive des Mythos der tschechoslowakischen Wiedergeburt erfüllt sich der lang gehegte Traum von der Erneuerung vergangener Größe, und Prag nimmt seine Stellung als Zentrum im Herzen Europas wieder ein (Macura 1995: 184). Gleichzeitig steht nun Prag als junge, neue Hauptstadt eines demokratischen Staates gleichberechtigt neben den anderen Hauptstädten Europas. Und diese äußere Neuordnung verläuft parallel zur inneren Neuorientierung der Bürger des neuen Staates, die sich national, politisch, sozial und moralisch in der neuen Situation neu situieren müssen. Madame Praha trägt also bei ihrem Auftritt in Europa nach Ansicht unseres Betrachters zwar die richtigen Farben, hat aber dennoch noch einiges zu lernen. 3.3 »Kde domov můj«34 oder auch »Wo ist mein Platz?«35 Weiners Třásničky dějinných dnů zeichnen die in den Straßen der neugeborenen Hauptstadt feiernden Massen als polyglotte und multiethnische Menge. Aus der tschechischen Volksmasse, die heranwogt und sich ausbreitet und die national codierten Erinnerungsorte der Stadt umspielt, um den tschechischen, von Fremdherrschaft befreiten Raum in der Hauptstadt und im Lande einzunehmen und zu feiern, tauchen vereinzelte »Widersacher« (»Odpůrce«) bzw. ›andere‹ hervor – deutsche Nachbarn, ungarische Soldaten, Kriegsgefangene, eine »Dame aus der besseren Gesellschaft« (»Dáma z lepší společnosti«, Weiner 2002: 53) und der bereits erwähnte, scheinbare »Flagellant«, der sich als selbstironischer Spiegel der eigenen Position des Berichterstatters als französischstämmiger, deutschsprachiger Jude aus Wien mit Begeisterung für die tschechische nationale Sache entpuppt. Dabei ist die Zuordnung der Einzelnen zu den und ihre Reaktion auf die national tschechisch kodierten Bezugspunkte(n) der Gründungsfeier nicht so eindeutig, wie sie sein könnte. Selbst die einst wahrscheinlich eher streitbaren deutschen Studenten stehen angesichts der ersten Kapitulationsnachrichten »verlegen grinsend in

34 Titel der tschechischen Nationalhymne, der Text stammt aus Josef Kajetán Tyls 1834 uraufgeführtem Theaterstück Fidlovačka (Das Schusterfest), die Melodie wurde von František Škroup komponiert. 35 Titel eines Artikels von Richard Weiner (1918).

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einem Grüppchen« (»hlouček mladých německých studentů se rozpačitě usmívá«, ebd.: 9) herum. Die eingangs bereits zitierte deutsche Dame teilt die nationale Begeisterung, ohne zu fürchten, dass sie sich gegen sie richten wird: »Německá paní praví společnici, ukazujíc na svého muže: ›Proč je tak nervózní? Vždyť je to ohromující, úžasné, pohádkově krásné – a je to pohádka, kde není lidožrouta. Proč je tedy nervózní? Já jsem nadšena, třebas mě to bolelo.‹« (Ebd.: 11 – »Eine deutsche Frau sagt zu ihrer Gefährtin, wobei sie auf ihren Mann zeigt: ›Warum ist er so nervös? Das ist doch erstaunlich, verblüffend, märchenhaft schön – und es ist ein Märchen, in dem es keinen Menschenfresser gibt. Warum ist er also nervös? Ich bin begeistert, auch wenn es weh getan hat.‹«) Diesen Einzelgestalten, die aus der Masse heraustreten, ist eines gemeinsam: Dass sie zumeist ihren angestammten Platz im vormaligen politischen Gefüge des Landes verloren haben und ihn unter den neuen politisch-geographischen Vorzeichen – zusätzlich zur demokratischen Umorientierung, die alle betrifft, – auch in ethnischer, möglicherweise auch gesellschaftlich-sozialer Hinsicht erst (wieder)finden bzw. neu definieren müssen. Die geschieht ganz im Sinne der von Steffi Widera in ihre Textauswahl prominent aufgenommenen selbstreflexiven Überlegung Weiners, die in der Zeitung Národ (Volk bzw. Nation) unter dem Titel »Kde moje místo?« (»Wo ist mein Platz?«) vom 13.06.1918 veröffentlicht wurde, in der er feststellt: […] jest doba, kdy každému jednotlivci – židu, nežidu – jest se tázati po jeho místě. Kdy každému jednotlivci jest přesně věděti, kam patři, a kdy súčtováni toto konati jest především s plným pocitem odpovědnosti za svou lidskou důstojnost; ale také jen za sebe a za nikoho jiného. Otázka po tom, kam patřím, je z nejzávažnějších otázek životních. Pocit náležitosti někam a k něčemu člověka mravně zakotvuje. (Weiner 1918: 293) […] es ist Zeit, dass man jeden Einzelnen – ob Jude oder Nichtjude – nach seinem Platz fragt. Daß jeder einzelne genau wissen muss, wo sein Platz ist und dass er diese Bilanz vor allem in voller Verantwortung für seine Menschenwürde zieht; aber auch nur für sich selbst und für niemanden anderen. Die Frage, wo mein Platz ist, gehört zu den wichtigsten Fragen des Lebens überhaupt. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Ort oder einer Sache verankert den Menschen moralisch. (Weiner 2005: 45)

Der Autor, der für sich selbst die ›Standortbestimmung‹ »[d]iese Zeilen schreibt ein tschechischer Schriftsteller und Jude« (»Řádky tyto píše český spisovatel a žid.«, ebd.) vornimmt, spricht hier wohl nicht von ungefähr von einem »Ort« (eigtl.: »irgendwo« – »někam«) und einer »Sache« (eigtl.: »irgendwohin/zu etwas« – »k něčemu«, Weiner 1918: 293 bzw. Weiner 2005: 46), die den Menschen moralisch verankert, nicht aber von einem – unproblematisch oder eindeutig begriffenen »Volk« oder einer Nation. Denn bereits seine eigene Standortbestimmung ist ja

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nicht nur ambivalent – ›český‹, also ›tschechischer‹ bzw. ›böhmischer‹ Schriftsteller und Jude – sondern sie ist auch das Ergebnis eines bewussten nationalen, politischen, moralischen, ästhetischen und emotionalen Reflexionsprozesse, wenn Weiner ausführt: Od dob kdy jsem se počal zajímati o život veřejný, cítil jsem, že mi nelze jíti nevšímavě mimo otázku židovskou, že jest mi životní potřebou překlenouti rozstup mezi pravdou, že »mezi Čechy domov můj«36, a mezi skutečnosti, že nejsem zcela týž jako jiní Češi. (Weiner 1918: 293) Seit ich begonnen habe, mich für das öffentliche Leben zu interessieren, spüre ich, dass ich die jüdische Frage einfach nicht unbeachtet lassen kann, daß es mir ein existentielles Bedürfnis ist, die Kluft zu überbrücken zwischen der Wahrheit, dass »meine Heimat unter den Tschechen ist«, und der Tatsache, daß ich nicht genauso bin wie die anderen Tschechen. (Weiner 2005: 46)

Diese Positionierung ist also keinesfalls von vornherein gegeben/angeboren, sondern beinhaltet Eigenaktivität, eine Art von ›Arbeit‹ an der eigenen, identitätsstiftenden Standortbestimmung und die Überbrückung einer Kluft, die die Basis für eine frei bestimmte, eigene Wahl darstellen. Dass diese bewusste Entscheidung für eine nationale Wahlverwandtschaft keine einfache Entscheidung für ein wie auch immer definiertes ›Judentum‹ ist, macht Weiner in seinem Artikel ebenfalls deutlich: Měl jsem na vybranou: t. zv. Hnutí českožidovské nebo sionismus. Nerozhodl jsem se pro žadné z nich. Pokud jsem se zúčastnil hnutí českožidovského, byl jsem účastníkem velmi vlažným. Sveden jedině zřeteli společenskými či spíše ještě zřeteli osobního přátelství. (Weiner 1918: 293) Ich konnte es mir aussuchen: die sogenannte tschechischjüdische Bewegung oder den Zionismus. Ich habe mich für keines von beiden entschieden. Wenn ich mich an der tschechischjüdischen Bewegung beteiligte, dann sehr lax. Allenfalls aus gesellschaftlichen Rücksichten oder vielmehr mit Rücksicht auf persönliche Freundschaft. (Weiner 2005: 46)

Sein Zugehörigkeitsgefühl zum češství begründet Weiner ästhetisch-emotional, anhand der Wirkung, die »Mánes, Aleš, Slavíček und andere Maler« im Unterschied zu noch so sehr geliebten französischen Künstlern (»Mánes, Aleš, Slavíček a jiní

36 Zitat der letzten Zeile der zweiten Strophe der tschechischen Nationalhymne: »mezi Čechy domov můj!«

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malíří ve mně vzbuzují cosi, což navzbudí žadný z malířů fracouzských«), »die Worte von Palacký und die Verse von Sládek« (»slova Palackého a verš Sládkův«), die »Weissagung der Libussa« (»proroctví Libušino«) oder Smetanas Mein Vaterland (»Smetanova Moje Vlast«) bei ihm auslösen (Weiner 1918: 294 bzw. Weiner 2005: 47f.). Die Offenheit und innerlich distanzierte Haltung des impliziten Autors der Třásničky allein dem ethnischen Jüdischsein des Autors zuzuschreiben, wie es Widera tendenziell tut und wie es ein Ansatz wie der von Pazi37 implizieren würde, der eine eigene, quasi ›national‹ jüdische Literatur zu konstruieren bemüht ist, erweist sich hier als eine ebenfalls nationalisierende Sackgasse, hieße er doch, die Texte und die bewussten Standortreflexionen des impliziten Autors der Třásničky und seiner Figuren Lügen strafen. Denn dieser begreift sich als hoffnungsvoller, teilnehmender, im Mitfühlen und der Berichterstattung beteiligter, selbstbewusster Beobachter des Aufbruchs mit einer eigenen Stimme – und bei aller Kompliziertheit seiner Lage dennoch nicht als Opfer der Historie auf einer für immer und ewig zum Untergang verdammten, tragischen Außenseiterposition. Eine solche, die ›jüdische‹ Position des Autors über die Position des impliziten Autors schiebende Lesart von Weiners Selbstaussagen und historischen Kommentaren ist – in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht – aus einer Perspektive nach 1945 und der Shoa verständlich, greift m.E. aber zu kurz: Bei den vorliegenden Texten handelt es sich vielmehr – zumindest primär – um die Standortbestimmung eines individuellen, reflektierten, modernen und politisch denkenden, demokratisch gesinnten Individuums jenseits aller ethnischen oder nationalen Zuschreibungen.38 Entsprechend der von Weiner im selben Artikel noch bekundeten Neigung, »sich schnell begeistern [zu lassen], doch […] gern auch meine eigene Begeisterung, auch meine eigene Ergriffenheit« zu »ironisieren« (»přesto že [...] snadno se dám uchvátíti, mám silný sklon k ironii a ironisuji rád i vlastní své nadšení«) und einer »Unfähigkeit« zur »Ungerechtigkeit« gegen »politische Feinde«, die jedoch

37 In einem ihrer Essays zur jüdisch-deutschen Literatur hebt Margarita Pazi eine Sonderstellung Prags in der Moderne hervor: »In dem zusammenfassenden Schlußessay des Buches Juden in der deutschen Literatur (1922) hat Alfred Wolfenstein die These aufgestellt, in der Gegenwart trage keiner die ›Zeichen des Übergangs so sichtbar wie der Jude‹. In Prag wurde der Übergang früher und schärfer sichtbar als in den deutschsprachigen Nachbarländern, und der besondere Charakter der Stadt Prag hatte diesen Autoren auch die Notwendigkeit und künstlerische Fruchtbarkeit der ›Kulturkreuzung‹ verdeutlicht.« (Pazi 2001: 33) 38 Ausführlich jüngst zum zitierten Artikel Weiners, der Frage des Fremdseins in der Weiner-Rezeption, der Position jüdischer Intellektueller und der »Fremdheit« des modernen Künstlers vgl. Málek 2015.

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»im politischen Kampf so notwendig« sei (Weiner 2005: 48 – »těžce nesu, že se v horlení proti nepřátelům politickým nedovedu povznésti až k nesprávedlnosti, tak nutné v politickém boji«, Weiner 1918: 294), beschreibt sein Berichterstatter der historischen Tage die oben erwähnten, aus dem nationalen und demokratischpolitischen Rahmen fallenden Einzelgestalten empathisch und ohne sie national oder politisch eindeutig festzulegen, mit einem verhaltenen, aber dezidierten Grundverständnis für ihre Situation. Sichtbar wird dies beispielweise in der Szene der sprachlichen Parteinahme für den deutschen Nachbarn im Unterkapitel »Odpůrce« (»Der Widersacher«), das an vierter Stelle – gleich nach dem Heben des Vorhangs und der Apotheose der rotweiß-blauen Fahnen – direkt im Anschluss an die erste Zweifels-Frage in der Überschrift des dritten Unterkapitels (»A Francie?« ) – in den Text der nationalen Begeisterung und Feier hineinkomponiert ist. Anders als der eingangs zitierte Schutzmann, der es am historischen Tag ablehnt, Deutsch zu reden bzw. zu lesen, entbietet der Berichterstatter in der unter der Binnenüberschrift »Odpůrce« gefassten Episode von der Begegnung mit einem deutschen Nachbarn diesem den Abschiedsgruß auf Deutsch und erhält zwar eine tschechische Antwort, aber einen Blick voller Dankbarkeit: V pondělí 28. října večer. Před Obecním domem, tedy sídlem Národního a Vojenského výboru, potkávám známého Němce. Drobně prší. On se choulí do svrchníku. – »Jak se máte? Co tomu říkáte?« – »Moje sestra vypukla v hořký pláč, když uslyšela, že se Rakousko zřítilo.« – Toho dne nebylo slyšeti německého slova. Až teprve ve středu šli Němci opět do ulic se svou mateřštinou. Také my mluvili český se známým Němcem. […] Jak asi bylo Němci? Pripadal mi, zdálo se, cizím a jakoby zajatcem. I přišlo mi na mysl, abych zmírnil jeho pocit osamění. Když jsme se rozcházeli, řekl jsem mu: »Guten Tag und auf Wiedersehen.« – Odpověděl česky: »Děkuji«, a jeho oči pravily, že děkuje za více než za pozdrav. (Weiner 2002, S. 12; Herv. KJ) Am Montag, den 28. Oktober abends. Vor dem Gemeindehaus, also dem Sitz des Nationalund Militärausschusses, treffe ich einen deutschen Bekannten. Es regnet leicht. Er schmiegt sich in seinen Überzieher. – »Wie geht es Ihnen? Was sagen Sie dazu?« – »Meine Schwester ist in heiße Tränen ausgebrochen, als sie hörte, dass Österreich zusammengebrochen ist.« – An diesem Tag war kein deutsches Wort zu hören. Erst am Mittwoch gingen die Deutschen wieder mit ihrer Muttersprache auf die Straßen. Auch mein deutscher Bekannter und ich sprachen Tschechisch. [...] Wie war wohl dem Deutschen? Er kam mir fremd vor, wie es schien, und wie ein Gefangener. Und mir kam in den Sinn, sein Gefühl der Vereinsamung zu mäßigen. Als wir auseinandergingen, sagte ich ihm: »Guten Tag und auf Wiedersehen.« – Er antwortete Tschechisch: »Danke«, aber seine Augen sagten, dass er für mehr dankte als nur für den Gruß.

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Während in dieser Episode schon die aufkeimende Möglichkeit einer Diskriminierung oder Gefahr für deutschsprachige Staatsbürger – oder zumindest die Furcht davor – anklingt, sind jetzt, unmittelbar zum Zeitpunkt des Neuanfangs und des Umschlags in die neue Zeit die »Anderen« (noch?) (potentielle) »Brüder«. Denn letztlich sind auch die heimgekehrten Legionäre, die an der Seite der Entente gegen die Mittelmächte gekämpft haben und nun als nationale Befreier im Rathaus und auf der Burg empfangen werden, anders als die anderen, Daheimgebliebenen, die diese Ankömmlinge als Helden feiern.39 Sie erscheinen unserem Berichterstatter wie zurückgekehrte, gestrenge, »große Brüder«, die die Welt gesehen, die echte »europäische Luft« geatmet haben und sich darin bewähren mussten, während sich ihre kleinen, jungen, aufbruchsbereiten Geschwister – die aufstrebende tschechische Nation – noch in ihrem Provinzfrieden tummelten.40 Die hier wiederholt aufscheinende Möglichkeit der Anteilnahme ebenso wie der ironisch-kritischen Distanz zum historischen Geschehen ist bereits in der Rahmenkonstruktion der Theaterbühne angelegt, die den Einzelnen zwischen der Position des Akteurs und des Zuschauers wählen lässt – aber ihm an diesem historischen Tag auch die Möglichkeit bietet, zwischen diesen beiden Positionen zu wechseln. Dies führt dazu, dass aus der Position des Einzelnen – im Gegensatz zur tschechisch-begeisterten Masse, die sich bei ihrer Feier an den national kodierten, im Stadtbild verankerten nationalen Erinnerungs- und Identitätsorten orientiert und organisch von der Peripherie ins neue Zentrum fließt, um das dort nach dem Zusammenbruch Österreichs entstandene Machtvakuum mit ihren Symbolen und ihrer Aktivität zu füllen – nicht von vornherein eindeutig ist, was als ›eigen‹, was als ›fremd‹ definiert werden muss, um eine bewusste, individuelle Standortbestimmung à la »Wo ist mein Platz« im neuen Rahmen vorzunehmen. Letztlich bietet dabei auch die (Mutter-)Sprache – an sich aus dem Konzept der Herder’schen Sprachna-

39 »My však víme, že jsou jiní než my. Nedělá to jen uniforma; viděli, co my neviděli; slyšeli, o čem nám i sníti bylo zakázáno; konali, o čem my ani představy jsme nenabyli; žili, kdy my živořili; hovořili, kdy my šeptali či jen posuňkovali; bojovali, kdy my jen v úzkostech vzpomínali.« (Ebd.: 31, Herv. KJ – »Wir wissen jedoch, dass sie anders sind als wir. Das macht nicht die Uniform; sie haben gesehen, was wir nicht gesehen haben; sie haben gehört, wovon uns sogar zu träumen verboten war; sie haben ausgeführt, wovon wir nicht einmal eine Vorstellung gefasst haben; sie haben gelebt, als wir vegetierten; sie haben gesprochen, als wir flüsterten oder nur gestikulierten; sie haben gekämpft, als wir uns nur voller Beklommenheit erinnerten.«) 40 »Ano, naši bratři. Ale tak jako když starší bratr, jenž přichází z ciziny, kde dobyl věhlasu, náhle vstoupí mezi sourozence.« (Ebd.: 31 – »Ja, unsere Brüder. Allerdings ist es, wie wenn ein älterer Bruder, der aus der Fremde kommt, wo er zu Ruhm gelangt ist, plötzlich unter die Geschwister tritt.«)

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tion heraus gedacht der sicherste Anhaltspunkt, der – wenn auch erweitert auf die Formel »Sprache ist ein Kode plus seine Geschichte«41 –, wie wir gesehen haben, auch für Lotmans ansonsten höchst dynamisches Konzept der Semiosphären einen gewissen Ankerpunkt darstellt – keine sichere Orientierung: Denn dem teilnehmenden Beobachter begegnet im Unterkapitel »Flagelant?« (ebd.: 27f. – »Ein Flagellant?«) ein »Herr, den ich nicht kannte und auf den ich kurz zuvor aufmerksam geworden war, als er einen kurzen Satz einwarf, der ahnen ließ, dass er fließend französisch spricht« (»pán […], kterého jsem neznal a na něhož byl před chvíli upozorněn tím, jak se vmísil krátkou větou, která dávala tušiti, že mluví plynně francouzsky.«, ebd.: 27:) Auf Tschechisch angesprochen, erweist sich, dass er weder Tschechisch spricht, noch Franzose ist, sondern – wie er es formuliert – »leider Deutscher« (»Němec bohužel«, ebd.). »Leider«, da er, wie er dem verwunderten Flaneur-Berichterstatter erklärt, von einem tiefen Gefühl der Wahlverwandtschaft zu dem feiernden, befreiten tschechischen Volk befallen ist, das seiner eigenen natürlichen, sprachlich-nationalen Zugehörigkeit zum ›Deutschtum‹ entgegenläuft, für die er sich schämt. Und der fleißig Tschechisch lernt. In diesem in Paris geborenen und aufgewachsenen Mann, der »mütterlicherseits Franzose« ist und der unserem Beobachter die »jüdische Frage in all Ihrer Tragik« vor Augen führt,42 trifft der implizite Autor ein weiteres spielerisches Alter Ego, seinen Doppelgänger: Einen Phänotyp, der sich seit dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und der Auflösung der wie auch immer konfliktbehafteten, vielsprachigen Semiosphäre der Koexistenz und Kohabitation tschechischer und deutscher Untertanen und Staatsbürger eben so hartnäckig gehalten hat wie das Bild vom jungen, tschechischen koketten Prag und dem morbide schwindenden Mütterchen mit seinen Krallen.43 Etwa in der Person

41 Lotman 2010b, S. 11. Vgl. auch das Kapitel »Die Logik der Explosion«, ebda. S. 147157. 42 »»[...] stejným právem či neprávem, jako říkáte, že jste ›Němcem bohužel‹, mohl byste říci, že jste ›chválabohu Francouzem‹.« – »Nikoliv,« odpověděl, »myslím, že si tohoto práva osobovati nesmím.« – někdo by řekl: flagelant, sebemrskač. – Přede mnou však vyvstala tímto rozhovorem židovská otázka ve vší své tragice.« (Ebd.: 28 – »»[…] gleichermaßen berechtigt oder unberechtigt, wie Sie sagen ›Deutscher, leider‹, könnten Sie sagen. dass Sie ›Gottseidank Franzose‹ sind.« »Auf keinen Fall,« antwortete er, »ich glaube, dieses Recht darf ich mir nicht anmaßen.« Man könnte sagen: ein Flagellant, der sich selbst quält. – Mir stand jedoch durch dieses Gespräch die jüdische Frage in all ihrer Tragik vor Augen.«) 43 »»Abych vám vysvětlil, proč jsem řekl, že jsem Němec bohužel a proč jsem se přitom zapýřil. To že se stydím.« – »K tomu vlastně nemáte příčiny,« odpověděl jsem mu a bylo mi nevolno. On nato: Po celou válku žil jsem ve Vídni. Nevíte, co jsem tam vytrpěl. Neboť moje srdce bylo při Dohodě. Nejlepší můj přítel byl Čech. On mě docela

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jener »Deutscher«, die im Protektorat – trotz persönlicher Nachteile – für die tschechische Volksliste optierten. Im Gegensatz zur unsicheren und trüben Kategorie der bluts- und sprachbasierten národnost alias Volkszugehörigkeit und Nationalität als Kriterium für die Zugehörigkeit, also die Teilhabe am ›Eigenen‹ oder Ausgrenzung des ›Fremden‹, scheinen es nach Ansicht und Hoffnung unseres Berichterstatters also im neu erstandenen Herzen Europas – quer zum nationalen bzw. nationalisierenden Denken – kulturelle, politische und soziale Aspekte zu sein,44 anhand derer sich die Bürger des neuen demokratischen Staates zuordnen lassen.

4. »H ISTORKA ZARUČENĚ

PRAVDIVÁ « 45

Der Vorhang senkt sich mitsamt seinen Troddeln auf die Bühne der historischen Tage 1918/1919. Das Projekt der Neuordnung Europas, und der individuellen, sozialen und politischen Neuzuordnung seiner Bewohner hat begonnen. Die neu entstandenen Grenzen erscheinen hier als Hoffnungsträger, die Gefahr eines möglichen, aggressiven innereuropäischen Nationalismus wird im neuen Zentrum Prag im Rausch der Befreiung und der Hoffnung auf das Aufblühen der erweckten Schönen möglicherweise unterschätzt. Dieses Bild des blühenden, friedlich feiernden Prag hat eine Strahlkraft, die sich auch in Zeiten der Bedrohung durch die Zerschlagung der zweiten Republik infolge des Münchner Abkommens, während der Zeit der deutschen Okkupation und nach 1945 bzw. der Machtübernahme der KPČ 1948

čechizoval. A když přišel převrat, odstěhoval jsem se ihned do Prahy, našel zde slušné místo a učím se česky. Doufám, že zanedlouho budu mluviti plynně, nebot činím rychlé pokroky. […]«« (Ebd.: 28f. – »Um Ihnen zu erklären, warum ich leider Deutscher gesagt habe und warum ich dabei errötet bin. Weil ich mich schäme.« – »Dazu haben Sie eigentlich keinen Grund,« antwortete ich ihm und mir war nicht wohl. Er darauf: »Den ganzen Krieg über habe ich in Wien gelebt. Sie wissen nicht, was ich dort ausgestanden habe. Denn mein Herz war bei der Entente. Mein bester Freund war Tscheche. Er hat mich völlig tschechisiert. Und als der Umsturz kam, bin ich sofort nach Prag gezogen, habe hier eine anständige Stellung gefunden und lerne Tschechisch. Ich hoffe, dass ich in nicht allzu langer Zeit fließend sprechen werde, denn ich mache schnelle Fortschritte. [...]««) 44 Als Beispiel für den sozialen »Biss« des Textes kann die Persiflage auf die »Dáma z lepší společnosti« (ebd.: 53 – »Dame aus der besseren Gesellschaft«) gelten. Auch die wiederholte Betonung der Anrede »Bürger« weist auf die demokratisch-politische Grundstimmung hin. 45 »Eine garantiert wahre Geschichte / Ein Histörchen, Wahrheit garantiert«, letzte Zwischenüberschrift der Třásničky (ebd.: 54).

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jenseits nationaler und politisch vereinnahmender Diskurse hüben wie drüben halten kann und in entscheidenden, späteren historischen Momenten (etwa 1968 und 1989) als Topos des kollektiven europäischen Gedächtnisses reaktivieren lässt. So bildet es auch den Ausgangspunkt für die althergebrachte, unausrottbare Idee vom konkreten, geographischen Ort Prag als Herz und Mutter Europas – und einen idealen Nährboden für das Projekt, Prag als Knotenpunkt mehrerer, vielstimmiger europäischer Modernen zu erfassen – bzw. neu zu (er-)finden. Hierbei kann man durchaus Gefahr laufen, aus dem historischen Abstand zu Phänomenen wie der Monarchie, dem Adel oder dem Einfluss der Kirche das (ebenfalls vorhandene) gewalttätige, antihumanistische und menschenverachtende Potential dieser überkommenen Institutionen des religiös und ständisch gebeutelten Europa vor 1918 rückwirkend zu unterschätzen – ein Potential, das die Verwirklichung der Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen über Jahrhunderte verhindert und gebremst hat. Die mit dem neuen Zentrum Prag einhergehende Herausbildung einer neuen Semiosphäre, deren Kern nun tatsächlich eine bzw. eng verwandte slawische Sprache(n) bilden, verschiebt viele Überreste der vorangegangenen vielsprachigen Habsburger Semiosphäre tendenziell an den Rand der offiziellen kollektiven Erinnerung. Im Rückblick erweisen sich die Bewohner des von ihr beschriebenen Raumes als in ihrer Verortung zu langsam oder nur teilweise kompatibel mit dieser Entwicklung: allerorten lauern die Überreste der alten Semiosphäre und bilden den Bodensatz einer Peripherie, die nun – hundert Jahre später, im Rahmen eines erneuerten, vereinten Europa – anscheinend das Pendel zurückschwingen lässt.

5. C ODA Auf einer ganz anderen Ebene wäre zu fragen, ob und unter welchen Umständen ein geographischer Ort bzw. die Dort-Befindlichkeit von bestimmten Individuen zu einem bestimmten Punkt in der Zeit wirklich per se und jenseits der rein symbolischen Ebene Garant für eine bestimmte geistige Entwicklung sein kann – und diese Frage gilt für Europa und Prag gleichermaßen. In seinem Aufsatz »Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für Europa« definiert Otmar Ette Europa als »Bewegung« und damit als einen Ort ständig neuer Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen: »Europa, so scheint mir, lässt sich nicht begreifen, ohne es zugleich in Bewegung und als Bewegung zu verstehen.« (Ette 2009: 260) Aus der Einsicht heraus, dass Literatur nicht per se einen festen territorialen oder sprachlichen Wohnsitz haben muss (man kann in eine Sprache »immigrieren« und – wie z.B. Milan Kundera, aber etwa Richard Weiner nicht – in einer Fremd-

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sprache schreiben), steht ihm Europa »nicht nur für multilinguales oder interlinguales«, sondern für ein »translinguales Schreiben« (Ette 2009: 290). Was die Richtung der »Bewegung« betrifft, so ist das Prag, das Richard Weiner hier zeichnet, schon am ersten Tag der tschechoslowakischen Republik ganz in Europa angekommen (oder vielleicht – trotz seiner relativen Randlage im Verhältnis zum Zentrum Wien – niemals daraus weg gewesen).

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Kafkas Liste Zivilisationskritik als Diskurshegemonial der regionalen Moderne J ÖRG K RAPPMANN

Der rasche Wandel der Stile in der ästhetischen Moderne erinnert an die Fabel vom Hasen und Igel, wobei die Rolle des Igels eindeutig Hermann Bahr einnimmt. Sein Umgang mit Autoren, Gruppierungen und Kulturinstitutionen zeugt zwar manchmal von mangelndem Taktgefühl, aber mangelnder Spürsinn hinsichtlich neuer Tendenzen in der Gesellschaft und ihrer literarischen Verarbeitung kann ihm kaum nachgesagt werden. Eine große Wendung in diesem Spiel, die bis heute kontrovers diskutiert wird, vollzog Bahr um 1900 in der Propagierung der Provinz. Für ihn war dies kein Abschied von der Moderne, sondern die konsequente Antwort auf das gespaltene Verhältnis der Autoren zur Großstadt, auf die Auswüchse liberaler Gesinnung und kapitalistischer Wirtschaftsform und auf die Suche nach Sinn, die sich nun auch in literarischen Texten immer stärker Bahn brach: »Die große Stadt zerstört nur, sie kann nichts schaffen. So hilft sie niemals der Kultur, sondern sie ist eine Gefahr für unsere Kultur geworden. In der großen Stadt kann diese nicht wohnen. Wollen wir sie beherbergen, dies kann nur in der Provinz geschehen.« (Bahr 1921: 200f.) Wie immer gelingt es Bahr dadurch eine allgemeine Tendenz der Zeit zu einem Kunstprogramm zu erheben. In diesem Fall die Fluchtbewegung, die alle Naturalisten der ersten Stunde ergriff. Diese waren aus Kleinstädten oder noch geringeren Orten der Provinz in die Großstadt Berlin gezogen und von den dortigen Bedingungen entsetzt. Das entmenschlichte Leben der Großstadtbevölkerung wurde trotz aller ernst gemeinten sozialen Anteilnahme nie zu ihrem eigenen Lebenshorizont. Dem Gedränge und der Enge des Zusammenlebens konnten sie kaum positive Aspekte abgewinnen. Ganz im Gegensatz etwa zu dem »Urberliner« Heinrich Zille,1 1

Heinrich Zille wurde 1858 in Radeburg geboren, kam aber im Gegensatz zu den literarischen Naturalisten bereits als Kind 1867 nach Berlin (Ostwald/Zille 1929: 349). Zu Be-

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der zur selben Zeit die gleichen Verhältnisse in der liebevoll-ironischen Art und Weise zeichnete, die ihm zumindest in der Stadtkultur Berlins bis heute einen festen Platz bewahrt. Die Naturalistengeneration hingegen sah schnell zu, der Stadt wieder den Rücken zu kehren. Hauptmanns Lebensdomizil auf Hiddensee ist legendär, aber auch Rudolf Rittner, sein Paradeschauspieler ging diesen Weg. Aus dem Erlös seiner Erfolge als Fuhrmann Häntschel oder Florian Geyer kaufte er sich in seinem Heimatdorf Weissbach bei Jauernig im nördlichsten Teil des österreichischen Schlesien ein Anwesen.2 Bahr ist nicht der Erfinder der Provinzliteratur der Moderne, aber sein entschiedener und mit Bedacht aggressiver Ton ermöglichte die Absetzungsbewegung von den gängigen literarischen Stilen, die sich ja gleichwohl in den führenden Presseorganen noch großer Beliebtheit erfreuten. Der heftige Angriff auf die Kulturlosigkeit der Großstadt ist auch als Reaktion auf Ansichten innerhalb der regionalen Literatur zu werten, die unter der Prämisse, auch die Metropolen würden einen wichtigen Teil von Heimat bilden, auf einen Ausgleich zwischen Stadt- und Landliteratur drängten (Jacobowski 1899/1900; Gruner 1901). Ähnlich kompromissbereit traten auch die eigentlichen Entdecker der Provinz, Peter Rosegger und Hugo Greinz, in ihren literarischen und essayistischen Arbeiten auf. Ihre Zurückhaltung war von der Angst geprägt, mit der formelhaften Gleichsetzung von Provinzliteratur gleich Heimatliteratur gleich Trivialliteratur konfrontiert zu werden. Diese Angst spiegelt sich auch in einem Essay in der Literarischen Warte aus dem Jahr 1902: »Es heften sich der Heimatkunst noch immer Dilettanten an die Fersen, die an den jungen Gluten der Bewegung ihr armseliges Süpplein kochen wollen.« (Gruner 1901: 762) Ferdinand Gruner, der Autor dieser Zeilen, fordert deswegen eine provinzielle Höhenkunst, die seichte Mittelmäßigkeit energisch abschütteln müsse. Gruner stammte aus der Region Österreichisch-Schlesien und trat auch durch eigene Romane hervor. Er ist mithin ein Vertreter, auf dessen Schaffen die Bahrsche Wendung in die Provinz zielte. Das gilt auch für Egid Filek von Wittinghausen, der bereits zwei Jahre zuvor im Deutsch-akademischen Leseverein in Brünn einen Vortrag mit dem programmatischen Titel Provinzliteratur hielt, der den Intentionen von Gruner nahe steht (Filek 1900; Eschgfäller 2009: 101-104). Gruner zeichnet sich jedoch gegenüber Filek dadurch aus, dass er in ginn seiner Karriere waren seine Zeichnungen auch noch auf das Elend des Arbeitermilieus konzentriert. 2

Von dort aus kehrte Rittner zweimal ins öffentliche Leben zurück, um seine großen Erfolge in naturalistischen Dramen sowohl im Stummfilm als auch in der beginnenden Tonfilmzeit zu wiederholen. Freilich war auch sein Rückzug in die schlesische Provinz kein vollständiger. Das belegen die reichhaltige Korrespondenz und die penibel geführten Tagebücher, die in seinem Nachlass im Kreisarchiv Freiwaldau (SOkAr Jeseník) aufbewahrt werden. Vgl. auch Tunková (2015).

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seinen Artikeln nur selten von Provinz- oder Heimatliteratur spricht, sondern, wie im obigen Zitat, von Heimatkunst. Damit suchte und fand Gruner Anschluss an die Heimatkunstbewegung, für deren Ausprägung der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn Pate stand. Die programmatische Weiterentwicklung leisteten Ernst Wachler und Friedrich Lienhardt,3 ihr literaturkritischer Exekutor war Adolf Bartels. Das zentrale Publikationsorgan der Heimatkunstbewegung war die Zeitschrift Kunstwart. Die Zeitschrift »dümpelte« nach ihrer Gründung 1887 durch Ferdinand Avenarius zunächst einige Jahre »bei einer Auflage von 400 im Kreise zahlreicher anderer Kunst- und Familienzeitschriften […] vor sich hin« (vom Bruch 2003: 362). Durch einen Wechsel in den Münchner Verlag Callwey und eine inhaltliche Umstrukturierung schnellte die Auflage auf 20.000 hoch (ebd.: 364). Der Kreis der Leser mag noch um ein vielfaches höher gelegen haben, da zur Zeit der Moderne Kunstzeitschriften beliebter Lesestoff in Kaffeehäusern, Vereinen, Clubs und anderen Örtlichkeiten waren, in denen sich Interessierte zusammenfanden. Spätestens seit der Jahrhundertwende nahm der Kunstwart dadurch eine Sonderstellung innerhalb der weit verzweigten GebildetenReformbewegung ein, zu der auch die Heimatkunstbewegung zu rechnen ist. Die Heimatkunstbewegung florierte an den geographischen Rändern des Deutschen Reiches. Schleswig-Holstein, Schlesien, Ostpreußen und das Elsaß waren ihre künstlerischen Zentren. Im weiteren Verlauf drang sie auch nach Süddeutschland vor und erhielt nach dem Ersten Weltkrieg nochmals eine Auffrischung durch die Grenz- und Auslandsdeutschen. »Die österreichische Heimatkunst ist«, so heißt es im Standardwerk von Karlheinz Rossbacher, »ein Kapitel für sich« (Rossbacher 1975: 20). Ein ungeschriebenes Kapitel, denn Rossbacher entledigt sich einer Aufarbeitung der österreichischen Komponente durch den Verweis auf die Verschmelzung der Heimatkunstbewegung mit dem Streit um einen Reformkatholizismus in Österreich, der vor allem in den Zeitschriften Hochland und Gral ausgetragen wurde. Die beiden Lager wurden von dem Langbehnverehrer Carl Muth und dem konservativen Böhmen Richard von Kralik angeführt. Die Einbeziehung dieser Kontroverse wäre durchaus auch für meine Argumentation zielführend, steht doch die Entdeckung der Provinz und Bahrs Hinwendung zum Katholizismus in einem engen Zusammenhang. Allerdings täuscht eine allzu rasche Verlagerung des Themas auf den religiösen Disput über die Tatsache hinweg, dass der Boden für die Heimatkunst auch in Österreich bereits bereitet war. Michael Georg Conrad hatte schon vor der Jahrhundertwende Die Gesellschaft, zur Gründung noch ein führendes Organ des Naturalismus, ins Zentrum der Heimatkunstbewegung geführt (Strieder 1985: 115-118). Diese Linie der Zeitschrift 3

Lienhardt hat seine Rolle innerhalb der Heimatkunstbewegung stets heruntergespielt. Trotzdem war er an mythenbildenden Ereignissen, etwa der Gründung des Harzer Bergtheaters aktiv beteiligt (Châtellier 1999: 114-130).

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wurde von seinen Nachfolgern Hans Merian und Ludwig Jacobowski noch ausgebaut. Obwohl gerade Jacobowski versuchte, die Kontakte zu naturalistischen oder realistischen Autoren nicht abreißen zu lassen, waren doch diejenigen Beiträge in der Mehrheit, die den Bauernstand »als Sinnbild unverdorbenen Deutschtums« (Strieder 1985: 173) idealisierten. Da die Gesellschaft im Unterschied zu den Berliner naturalistischen Zeitschriften von Beginn an auch österreichischen Autoren offen stand, gelang hier bald eine Art unterschwelliger Schulterschluss mit dem von Bahr inszenierten Provinzdiskurs. Ein Indiz dafür sind die beiden Ableger der Gesellschaft, die in Österreich gegründet wurden. Der Scherer und mehr noch die Zeitschrift Neue Bahnen bezogen klar Position gegen die Großstadt, und Großstadt hieß Wien oder Berlin.4 Beiden Zeitschriften stand Ottokar Stauf von der March (eigentlich Ottokar Friedrich Chalupka) redaktionell vor, der zusammen mit Karl Maria Klob die theoretische Speerspitze der Entdeckung der Provinz in Mähren bildete, sich aber auch für die Ziele der deutschen Heimatkunstbewegung engagierte. Während aber Bahr auf der rasenden Zugfahrt der Moderne sich von Waggon zu Waggon hangelte und dabei jeweils den letzten Wagen abkuppelte, war Stauf auf den Zug gar nicht aufgesprungen. Als Bahr noch eine exaltierte Nervenkunst forderte, wetterte Stauf schon gegen die dekadente Kunst der Neurotischen.5 Als Bahr einen neuen Ton in der Lyrik verlangte, verunglimpfte Stauf die Neutonlyrik als »gestreifte Safranblümleinweis« (Stauf von der March 1903: 30). Diese früheren Gegensätze verhinderten aber nicht, dass sich Bahr und Stauf unter dem Signum »Entdeckung der Provinz« zumindest in der Bewertung von einigen Autoren und Werken zusammenfanden. Beiden gemein war auch die grundsätzliche Überzeugung, die Wende zur Provinz sei eine notwendige Reaktion auf die Krise der Zivilisation und somit eine avantgardistische und keine revanchistische Position. Die Unterschiede zwischen Entdeckung der Provinz und Heimatkunstbewegung sollen hier jedoch nicht klein geredet werden. Um 1900 lagen die Differenzen vor allem in der Verankerung der Heimatkunstbewegung im Wilhelminismus und in ihrem latenten Antisemitismus, der von Bahr und seinen Anhängern in Österreich nicht

4

Eine Frontstellung gegen München ist kaum auszumachen, was wohl auch Conrads Einflussnahme und einer bajuwarisch-österreichischen Stammesverwandtschaft geschuldet ist.

5

Trotz der etwas anderen Terminologie widerspiegelt dieser Gegensatz die unterschiedliche Beurteilung des Phänomens Nervosität im Fin de Siècle. Während für Krafft-Ebing die Nervosität einen pathologischen Überreizungszustand darstellte, bewertete der Literaturhistoriker Richard M. Meyer das Nervöse als besonders hohe Sensibilität für Neuerungen in der Kunst (Eckart 2009).

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mitgetragen wurde.6 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Gleichsetzung von Heimatkunstbewegung und Antisemitismus weitgehend nur in den zahlreichen Publikationen von Adolf Bartels vorgenommen wurde. Die Literatur in Böhmen und Mähren nahm dazu eine Mittelposition ein, indem sie sich von deutschen und österreichischen Autoren heimatlicher Prägung inspirieren ließ. Dazu ein illustres Beispiel. Franz Kafkas früh einsetzende Lektüre des Kunstwart ist bekannt, weniger dass er sich auch später noch für das literarische Programm dieser Zeitschrift interessierte (Kafka 1967: 428f.). Durch Max Brod hat sich eine Autorenliste erhalten, die Kafka seinem Freund unter der Spitzmarke »bedeutendste Romanschriftsteller« als Empfehlung überreichte. Da die Liste dazu angetan ist, das herrschende Bild von Kafka zu relativieren, sei sie hier ungekürzt wiedergegeben: Wilhelm Fischer, Traugott Tamm, Heinz H. Ewers [sic!], Schnitzler, Kellermann, Ginzkey, Rudolf Hans Bartsch, Stratz, Herzog, Zobeltitz, Conte Skapinelli, Hermann Ilgenstein, Otto Ernst, Sudermann, Wilbrandt. […] Der Name »Rudolf Hans Bartsch« ist doppelt unterstrichen. (Brod 1966: 91)

Über Kafkas literarischen Geschmack soll hier nicht gerichtet werden. Erinnert sei zur ausgleichenden Gerechtigkeit nur, dass auch Friedrich Nietzsche mit Heinrich Jung-Stilling (KSA 2: 599) und dem heute weitgehend vergessenen Theodor Mügge (KSA 8: 423) zwei Autoren in seiner Bestenliste führt, die heute kaum noch gelesen werden. Für die Unterscheidung zwischen Entdeckung der Provinz und Heimatkunstbewegung ist die Liste aber aufschlussreich, vielmehr hinsichtlich der nicht vollzogenen Unterscheidung. Der »Süderdiethmarscher« (Floeck 1926: 148) Traugott Tamm ist einer der norddeutschen Heimatdichter, deren Werk vom Kunstwart gefördert wurde. Rudolf Stratz und die Brüder Hans und Fedor von Zobeltitz waren Vertreter der beliebten Gattung des Offiziersromans. Fedor von Zobeltitz, auf den sich wohl auch Kafka bezog, war aber auch mit Heimatromanen (Der gemordete Wald, 1898) hervorgetreten und Stratz galt im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende als der führende Vertreter des Bergromans. Rudolf Herzog, von allen Genannten in der Zwischenkriegszeit sicherlich der auflagenstärkste, wurde durch seine Familienromane großer deutscher Industriellen6

Wilhelminismus und Antisemitismus waren aber in der Heimatkunstbewegung kein Dogma. Bereits 1895 verfasst Michael Georg Conrad seinen utopischen Roman In purpurner Finsternis, in dem das moderne Nordika dem rückständigen, das wilhelminische Reich symbolisierenden, Teuta gegenübergestellt wird. Gegen einen antisemitischen Konsens in der Heimatkunstbewegung spricht die Tatsache, daß Ernst Wachler, einer ihrer wichtigsten Fürsprecher, selbst Jude war. Zudem scheint es in der Spätphase eine Art Wandlungsprozess gegeben zu haben, in dessen Folge Adolf Bartels wegen seiner judenfeindlichen Schriften seinen Redakteursposten beim Kunstwart räumen mußte.

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familien berühmt (Lehmann 1986: 165-178). Ähnlich wie Thomas Manns Buddenbrooks wurden Herzogs Romane von den Zeitgenossen als Zeichnungen bestimmter Milieus oder Regionen verstanden, galten gemeinhin auch als Heimatromane, was in zweien seiner Bücher Die vom Niederrhein (1903) und Hanseaten (1909) bereits im Titel zum Ausdruck kommt. Der in Istrien geborene Franz Karl Ginzkey, deutschböhmischer Herkunft, und Wilhelm Fischer, der sich zur besseren Unterscheidung später Fischer-Graz nannte, sind wiederum Beispiele für die Provinzliteratur in der Habsburger Monarchie. Deren Verkörperung geradezu ist die hervorgehobene Persönlichkeit in Kafkas Parnaß, der doppelt unterstrichene Bartsch, der mit seinem Roman Zwölf aus der Steiermark (1908) neben den erfahrenen Peter Rosegger und Rudolf Greinz zum ersten jungen Erfolgsautor der Provinzliteratur avancierte.7 Trotz aller nationalen und politischen Unterschiede wurden also die beiden parallelen Heimat- bzw. Provinzbewegungen von den Zeitgenossen als zwei Seiten einer Medaille verstanden, deren Wert in der Ablehnung großstädtischer Zivilisation und der Hinwendung zur provinziellen Kultur lag. Von Kafka aus kann nun auf die literarische Phantastik übergeleitet werden, eine Literaturform, die zunächst kaum ins Blickfeld gerät, wenn man sich mit heimatlicher oder Provinzliteratur beschäftigt. Doch Provinzliteratur und Phantastik besitzen auf den zweiten Blick zwei strukturelle Gemeinsamkeiten. Die Phantastik setzte sich im gleichen Zeitraum in der deutschsprachigen Literatur durch und sah sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt wie die Provinzliteratur. Kämpfte die eine Seite gegen eine einfache Gleichsetzung von Heimatkunst mit trivialer Heimatliteratur, so wurde die Phantastik mit einer Kampagne überzogen, die als Unterhaltungsliteraturdebatte8 begann und schließlich in einem Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften gipfelte, das am 18. Dezember 1926 vom Reichstag beschlossen wurde (Richter 1929; Gupte 1991: 254). Sie ist also, von ihrer literarischen Bedeutung her als Literatur des Randes rezipiert worden, als eine Literatur, die sich der Peripherie zuordnen lässt, im Gegensatz zum kanonisierten Zentrum der sogenannten Höhenkammliteratur. Sie steht aber auch geographisch am Rande. Clemens Ruthner hat bereits auf das Übergewicht »aus den slawischen Nordterritorien der k.u.k. Monarchie« hingewiesen (2004: 104). Sein Verzeichnis, das u.a. Namen wie Kubin, Meyrink, Perutz, und Spunda enthält, ließe sich zwar nicht beliebig, aber doch recht lange mit 7

Bartschs Roman erschien im Staackmann Verlag, der insgesamt auch für die Schriftsteller aus Böhmen und Mähren die beste Anlaufstelle für Publikationen war, die die engeren Grenzen der Provinz überschreiten sollten.

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Zu den frühen Gegnern der Unterhaltungsliteratur gehörten auch Ferdinand Avenarius, der Leiter des Kunstwart, und der deutschmährische Schriftsteller Otto Leixner von Grünberg, der der Deutschen Romanzeitung vorstand (Storim 1999: 373-376).

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böhmisch-mährischen und Prager deutschen Autoren fortführen. Ebenso finden sich wie in der Heimatkunst überproportional viele Vertreter der phantastischen Literatur im Baltikum, in Schleswig-Holstein oder in Ostpreußen. Eine Verteilung übrigens, die sich bis zu den Autoren und Autorinnen des Magischen Realismus in der Zwischenkriegszeit weiter verfolgen lässt. Über die doppelt verstandene Randlage hinaus besteht jedoch auch eine tiefere literarische Verbindung zwischen Heimatkunst und Phantastik. Das verbindende Glied ist der Exotismus in der Ausprägung, die ihm Wolfgang Reif gab. In Anlehnung an die englische und romanische Literaturtheorie unterscheidet Reif zwischen Exotik und Exotismus. Unter Exotik werden diejenigen Texte zusammengefasst, deren Handlungen in »fernen Ländern« spielen, um 1900 sind der Orient, die Vereinigten Staaten und Indien bevorzugte Sujets. Diese literarischen Bearbeitungen sind Weiterführungen der Reiseberichte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einen immer größeren Absatz fanden. Der Folgecharakter von Reisebericht und Exotismus ist in der Anfangsphase noch deutlich erkennbar, gehen doch sowohl bei Balduin von Möllnhausen, Friedrich Gerstäcker, dem Böhmen Ludwig August Frankl und dem Mährer Charles Sealsfield ausgiebige Reisen und deren Aufzeichnungen dem späteren Romanschaffen voran. Um 1900 ist das eigene Erleben nicht mehr notwendig (siehe Karl May), aber doch immer noch üblich (siehe Hanns Heinz Ewers).9 Das Erlebnis der Exotik führt zu exotischen Romanen, dem gegenüber steht der Exotismus, der ästhetische Konstruktionen exotistischer Prägung liefert: »Als soziales und literarisches Phänomen bezeichnet er [der Exotismus, J.K.] eine besondere Ausprägung des Eskapismus, eine Fluchtbewegung also, die nach Mitteln und Wegen sucht, um sich den Folgen der zivilisatorischen Entwicklung zu entziehen.« (Reif 1975: 10) Dass Reif im Anschluss daran eine klare Trennlinie zwischen Exotismus und Phantastik ziehen möchte, ist dem Zeitgeist geschuldet. Reifs Buch Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume erschien 1975. Kurz zuvor entstanden die strukturalistischen Arbeiten von Callois (1965) und Todorov (1970), die eine besonders enge Definition anstrebten, um die literarische Phantastik erstmals als festes Genre in die literaturtheoretische Diskussion einzuführen. Inzwischen hat eine Öffnung des Begriffes stattgefunden, die Differenzierungen innerhalb des weiten

9

Die spätere Nähe von Ewers zum Nationalsozialismus verhinderte bisher die Aufarbeitung seines Frühwerks aus trans- oder interkultureller Perspektive. Aber besonders Indien und Ich (1911), seine ebenso humorige wie intensive Auseinandersetzung mit den Erlebnissen einer Asienreise, wäre hinsichtlich seiner präzisen Schilderungen der unterschiedlichen Volksteile für eine ethnologisch-anthropologische Kulturwissenschaft interessant. Besonders wenn man Ewers’ Positionen mit den ideologisierten Indienbildern der zeitgenössischen Romane vergleicht (z.B. Richard Voß: Der Heilige Haß. 1915).

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Feldes der Phantastik ermöglicht, ohne trennscharfe Subgenres zu generieren.10 Auf eine genauere Nachzeichnung dieses Weges muss und kann an dieser Stelle verzichtet werden. Es geht hier nur darum zu zeigen, dass sich die Hinwendung zur Heimat oder Provinz und die Konstruktion phantastischer Wunschräume um 1900 unter dem gemeinsamen Stichwort Zivilisationsflucht zusammenfassen und zusammen denken lassen. Schon eine derartig schlichte Synopse erbringt für die Literatur in Böhmen und Mähren zumindest drei Vorteile. Erstens findet die Literaturwissenschaft damit Anschluss an Erkenntnisse der Geschichts- und Kulturwissenschaft. Etwa an die Konzeption von Thomas Rohkrämer, der mittels einer als innovativ aufgefassten Zivilisationskritik dem traditionellen Verständnis von Moderne eine andere Moderne gegenüberstellt, wobei beide Modernen nicht kontrastiv, sondern komplementär zu verstehen sind (Rohkrämer 1999). Durch eine Engführung zwischen der Heimatkunstbewegung und der Entdeckung der Provinz in Österreich kann zudem aus einer innerliterarischen Perspektive die bisherige Begrenzung der anderen Moderne auf Deutschland hinterfragt und vielleicht untergraben werden. Zweitens hilft dieses synoptische Erklärungsmuster die heterogene Zusammenstellung von Themen, Motiven und Gattungen bei manchen Autoren der regionalen Literatur zu verstehen. Besonders deutlich lässt sich dies an Karl Hans Strobl aufzeigen, dessen Werk von Beginn seines Schaffens an, von eben genau den beiden Themenkomplexen Heimatkunst und Phantastik geprägt ist. Die 107 Titel, die Wilpert/Gührings Erstausgaben deutscher Dichtung für Strobl ausweisen, müssen dafür gar nicht bemüht werden. Es genügen Strichproben aus einigen Jahren. 1903 veröffentlicht Strobl den Iglauer Schlüsselroman Der Fenriswolf und das Heimatdrama Die Starken, im Jahr darauf, die bereits seit einiger Zeit vorbereitete erste Sammlung von phantastischen Erzählungen Die Eingebungen des Arphaxat. 1909 entstehen der technikkritische, aber nicht technikfeindliche Heimatroman Der brennende Berg und die Mährischen Wanderungen, ein mit fiktiven Einsprengseln durchsetztes Heimatbuch. Im Jahr darauf erscheint wiederum in zwei voluminösen Bänden Eleagabal Kuperus, Strobls bis heute bekanntester phantastischer Roman. Die beiden thematischen Komponenten reichen bei Strobl sogar über das Epochenjahr 1918 hinaus. 1920 erscheinen in kurzen Abständen der politisch motivierte Provinzroman Der Attentäter, der phantastische Wiener Roman Gespenster im

10 »Ein operativ brauchbarer Vorschlag für den hier gesteckten Rahmen wäre indes, Phantastik als Oberbegriff einer spekulativen Literatur, die sich nicht widerspruchslos dem kommensensuellen Wirklichkeits- und Sprachverständnis ihrer Zeitgenossenschaft unterordnet, zu verstehen […].« (Ruthner 2006: 9; Hervorhebungen im Original) Einen maximalistischen Phantastikbegriff konzeptualisieren auch die Herausgeber des interdisziplinären Handbuchs Phantastik (Brittnacher/May 2013).

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Sumpf und der erste Teil seiner Lebenserinnerungen, damals noch unter dem sprechenden Originaltitel Verlorene Heimat.11 Liegen bei Strobl die beiden Themen nebeneinander, so durchdringen sie sich in vielfacher Weise bei dem deutschböhmischen Lyriker und Romancier Gustav Leutelt (1860-1947). In seinen sprachgewaltigen Beschreibungen der Waldlandschaft des Isergebirges sieht Josef Mühlberger den »Höhepunkt der sudetendeutschen Heimatdichtung« (1929: 116). Zugleich sind die Romane Leutelts aber durchsetzt mit hellsichtigen Figuren, Druden, eintreffenden Todesprophezeiungen, Visionen und anderem Übernatürlichem, dass sie selbst nach der engeren Definition von Todorov noch zur Phantastik zu rechnen wären, wenn auch mit einer Nähe zu Fechners Lehre von der Pflanzenseele und zu reformkatholischen Vorstellungen. Ähnlich verhält es sich, um auch wieder etwas näher an die Prager deutsche Literatur heranzurücken, mit Alfred Kubin, der neben der Anderen Seite auch Erzählungen, Anekdoten und Reisebeschreibungen aus dem Böhmerwald verfasste. Die Wahl seines Lebenssitzes im ländlichen Zwickledt, von ihm liebevoll als »Zwicklöd« apostrophiert (Herzmanovvsky-Orlando 1983: 15 und passim), dürfte einer ähnlichen Motivation entsprungen sein wie die Domizile Hiddensee und Weissbach bei den großstadtflüchtigen Naturalisten Hauptmann und Rittner, sowie UnterMaxdorf und Perchtoldsdorf bei Leutelt und Strobl. Die drei Autoren aus Böhmen und Mähren jedenfalls betrachteten sowohl ihre Hinwendung zu heimatlichen Themen als auch ihr individuelles Verbleiben in provinziellen Lebensräumen als Akt der Moderne. Dafür sprechen die essayistischen und autobiographischen Äußerungen, in denen sich alle drei dezidiert mit den Problemen einer Zivilisationskrise der modernen Gesellschaft bzw. einer Krise der Kultur unter den Vorzeichen ausufernder Zivilisation auseinandersetzten. Eine Stellungnahme von Alfred Kubin darf aber nicht fehlen, da sie direkt mit dem eingangs angeführten großstadtkritischen Bemerkung Bahrs korreliert. Die Stelle stammt aus einer Antwort Kubins auf die, mit beeindruckender journalistischer Naivität gestellte Rundfrage Was halten Sie von der Kulturkrise? »Um für gewisse innere Stimmen in ihrer Rätselhaftigkeit empfänglicher zu sein, empfehle ich manchmal Bekannten, mit dem ebenso grellen wie aushöhlenden Intellektualismus, welcher nebst dem andrängenden Massen- und Maschinenlärm die Vordergründe unserer Weltbühne beherrscht, ernstlich Schluß zu machen.« (Kubin 1976: 50) Der dritte Vorteil, um zu meiner Aufzählung zurückzukommen, ist vielleicht der folgenschwerste und strittigste, trotzdem kann er sehr knapp formuliert werden. Führt man die von Bahr propagierte Entdeckung der Provinz, die deutsche Heimatkunstbewegung und ihre Rezipienten und Akteure in Böhmen und Mähren, sowie die phantastische Literatur der Jahrhundertwende unter der Ägide des Themas Zivi11 In der dreibändigen Ausgabe seiner Autobiographie, die von 1942-1944 erschien, ist der Titel in Heimat im frühen Licht. Jugenderinnerungen aus deutschem Ostland abgeändert.

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lisationsflucht zusammen, dann entsteht zumindest für den Zeitraum, der auch für die Prager deutsche Literatur von entscheidender Bedeutung ist, ein derartig hegemonialer Diskurs, dass er es erlaubt, die Schranken zwischen der Literatur in der Metropole und den Literaturen in der Provinz zu überwinden. Auch Brod gaben die Literaturempfehlungen Kafkas aus der rückschauenden Perspektive »Rätsel auf«, da er sich an manche Autoren »nicht einmal dem Namen nach erinnern« konnte (1966: 91). Ihm blieb schließlich kein anderes Erklärungsmuster als »Ironie« zu unterstellen (1966: 92). Vielleicht eine vorschnelle Unterscheidung, die schon zu sehr von dem weltliterarischen Phänomen Kafka beeinflusst ist. In seinen beiden autobiographischen Schriften weist Brod selbst mehrfach dezidiert darauf hin, dass Kafka kein weltfremder oder dekadenter Schriftsteller gewesen sei, ja er betont dessen Naturliebe und Ausflugsfreudigkeit (1966: 37ff; 84; 97). Zudem sieht er Kafka auch als regionalen und damit, trotz der Herkunft aus der Großstadt, als heimatbezogenen Autor.12 Er war der Auffassung, dass er nur aus der regionalen Prager Perspektive zu verstehen sei, wenn auch sein Werk darüber hinaus weise. Bei aller Kritik an der offensiv vorgetragenen Deutungshoheit Brods kann der Umstand, dass Kafka lange in Prag lebte und sich vom Kontext der Stadt und der Region Böhmen und Mähren beeinflussen ließ, nicht vollständig von der Forschung ausgeklammert werden (am entschiedensten wohl in Jahraus 2006). Dies gilt aber eben auch für seine Literaturliste, denn sie ist ebenfalls Ausdruck zeitbestimmter oder regionaler literarischer Trends, denen sich Kafka nicht entziehen konnte und wohl auch nicht wollte. Das nachfolgend abschließende Zitat von Max Brod bezieht sich eigentlich auf Kafkas Verhältnis zum Zionismus, gilt indirekt aber wohl auch für Kafkas Verhältnis zur Natur, zum Leben und zur heimatlichen Landschaft. Ich beziehe es nun zusätzlich auf meine hier dargelegten Thesen zur Neubestimmung der Prager deutschen Literatur, sowie der Literaturen in Böhmen und Mähren. »Da aber am Ende immer die Wahrheit siegt, mache ich mir nicht allzu viele Gedanken über die bizarren Fehldeutungen und weiß genau, daß schließlich meine Kafka-Darstellung sich durchsetzen wird.« (Brod 1966: 93)

L ITERATUR Bahr, Hermann (21921): Essays. Leipzig. Bartsch, Rudolf Hans (1908): Zwölf aus der Steiermark. Leipzig. Brittnacher, Hans Richard / May, Markus (Hg.) (2013): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart. 12 »Als wahrer Sohn der Stadt Prag wurzelte Kafka stark im Prager Boden. Seine dichterische Seele war vom Zauber des alten Prag und der Mannigfaltigkeit seiner Einwohner bestrickt.« (Brod 1966: 96f.)

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Brod, Max (1966): Der Prager Kreis. Stuttgart. vom Bruch, Rüdiger (2003): Kunstwart und Dürerbund. In: Michel Grunewald / Uwe Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellen-Milieu in Deutschland und seine Netzwerke (1890-1960). Bern, S. 353-375. Callois, Roger (1965): Au coeur du fantastique. Paris. Châtellier, Hildegard (1999): Friedrich Lienhard. In: Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 18711918. München, S. 114-130. Eckart, Wolfgang U. (2009): Nervös in den Untergang. Zu einem medizinischkulturellen Diskurs um 1900. In: Zeitschrift für Ideengeschichte III, H. 1, S. 6479. Eschgfäller, Sabine (2009): Kulturelle Selbst- und Fremdbilder bei mährischtirolischen Autoren im 19. Jahrhundert. Olomouc. Ewers, Hanns Heinz (1911): Indien und Ich. München. Filek von Wittinghausen, Egid (1900): Provinzliteratur. Brünn. Floeck, Oswald (1926): Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Karlsruhe. Gruner, Ferdinand (1901): Heimatkunst. In: Literarische Warte 2, H. 12, S. 758762. Gupte, Niteen (1991): Deutschsprachige Phantastik 1900-1930. Essen. Jacobowski, Ludwig (1899/1900): Heimatkunst. Ein Paar Glossen. In: Die Zeit, Jg. 6, Bd. 24, Nr. 313, S. 200-202. Jahraus, Oliver (2006): Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart. Herzmanovsky-Orlando, Fritz von (1983): Der Briefwechsel mit Alfred Kubin 1903 bis 1952. Sämtliche Werke. Band VII. Hg. v. Michael Klein. Wien. Kafka, Franz (1967): Tagebücher 1910-1923. Hg. v. Max Brod. Frankfurt a. M. Kubin, Alfred (1976): Aus meiner Werkstatt. München. Lehmann, Hans-Thies (1986): Die Stoltenkamps und ihre Frauen von Rudolf Herzog. In: Marianne Weil (Hg.): Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen. Berlin, S. 165-178. Mühlberger, Josef (1929): Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten fünfzig Jahren. Kassel. Nietzsche, Friedrich (1988): Kritische Studienausgabe (KSA). Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München. Ostwald, Hans / Zille, Heinrich (1929): Das Zillebuch. Berlin. Reif, Wolfgang (1975): Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Stuttgart. Richter, Kurt (1929): Der Kampf gegen Schund- und Schmutzschriften in Preußen auf Grund des Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18. Dezember 1926. Berlin. Rohkrämer, Thomas (1999): Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933. Paderborn.

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Rossbacher, Karlheinz (1975): Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart. Ruthner, Clemens (2004): Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert. Tübingen. Ruthner, Clemens (2006): Im Schlagschatten der »Vernunft« Eine präliminare Sondierung des Phantastischen (Vorwort). In: Ders. / Ursula Reber / Markus May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen, S. 7-14. Stauf von der March, Ottokar (1903): Literarische Studien und Schattenrisse. Dresden. Storim, Mirjam (1999): Literatur und Sittlichkeit. Die Unterhaltungsliteraturdebatte um 1900. In: Mark Lehmstedt / Andreas Herzog (Hg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900. Wiesbaden, S. 369-395. Strieder, Agnes (1985): »Die Gesellschaft« – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeitschrift der frühen Naturalisten. Frankfurt a. M. Todorov, Tzvetan (1970): Introduction à la literature fantastique. Paris. Tunková, Jana (2015): Glanz und Narrenglanz. Rudolf Rittner (1869-1943): Schauspieler, Dramatiker und Kooperationspartner von Otto Brahm und Gerhart Hauptmann. Diss. Masch. Olmütz. Voß, Richard (1915): Der Heilige Haß. Berlin.

Die Geburt der ›Prager deutschen Literatur‹ aus der Dichotomie Zentrum – Peripherie Zur Weltfreunde-Konferenz in Liblice (1965) M ANFRED W EINBERG

In einem am 2. Juni 1906 im Prager Tagblatt erschienenen Text Prag als Literaturstadt, der die Rückmeldungen von Autoren auf die von der Deutschen Zeitung Bohemia und eben dem Prager Tagblatt gemeinsam initiierten Rundfrage »Warum haben Sie Prag verlassen?« zusammenfasst, liest man: Es wird im Ernst und Spott behauptet, daß die ganze deutsche Literatur aus Prag stamme. Nun ist das ja nicht so ganz richtig, selbst wenn man Brünn und Olmütz usw. zu Prag rechnet. Denn schließlich sind Hauptmann, die Brüder Mann, Stefan George, Trakl, Kaiser, die Lasker-Schüler und andere Sterne am Literaturhimmel der neuen Zeit keineswegs tschechoslowakische Deutsche. Dennoch: Rilke, Werfel, Kornfeld, Ernst Weiß, Brod, Franz Kafka, Leppin, Rudolf Fuchs sind es, andere, wie etwa Meyrink, sind es fast; und zu einer Zeit, wo noch das Café »Arco« in Blüte stand, konnte der selige Oberkellner Počta glauben, er halte mit seinen Krediten tatsächlich die ganze deutsche Literatur aus. (O.A. 1922: 6; zit. nach Krolop 2005: 100)

Diese Darstellung belegt die damalige Wahrnehmung der Quantität und Qualität einer aus Prag stammenden deutsch geschriebenen Literatur als wichtigem, gar vorherrschenden Teil der ›ganzen‹ deutschsprachigen Literatur. Das Phänomen kennt man heute als ›Prager deutsche Literatur‹, was die Folge einer höchst erfolgreichen literaturwissenschaftlichen Strategie ist. Eduard Goldstücker hatte schon 1963 marxistische GermanistInnen zu einer Konferenz über Franz Kafka zusammengerufen,1 der er, taktisch geschickt, den Titel Franz Kafka aus Prager Sicht gab. Einesteils war 1

Im rückblickenden Vorwort, das keine Verfasserangabe hat, ist dies so formuliert: »An der Konferenz nahmen vorwiegend Literaturwissenschaftler teil, die auf dem Boden der marxistischen Weltanschauung stehen und von diesem Standpunkt einen neuen Zugang zum Werk Kafkas erörterten.« (O.A. 1965: 7)

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dieser Titel zwar der pure ›Etikettenschwindel‹, da die Tagung eigentlich nur eine groß angelegte Debatte darüber war, ob man sich als Marxist mit Kafkas Texten überhaupt noch befassen sollte.2 Ernst Fischer aus Österreich, Roger Garaudy aus Frankreich und Eduard Goldstücker plädierten mit Vehemenz dafür, die meisten anderen – unter ihnen mit besonderer Insistenz die aus der DDR stammenden Germanisten – wollten Kafka samt Joyce und Proust als durch und durch bourgeoise Autoren kurzerhand ›entsorgen‹. Eine Abstimmung am Ende der Tagung hätte wohl dieser Fraktion den klaren ›Sieg‹ beschert. Andernteils konnte es Goldstücker als großen Erfolg verbuchen, dass es in der kommunistischen Tschechoslowakei (und damit im ›Ostblock‹) überhaupt eine Konferenz zu Kafka gegeben hatte; allein diese Tatsache hat später dazu geführt, dass diese immer wieder als Vorbote des Prager Frühlings beschrieben worden ist.3 Goldstücker, um mich hier zunächst nur auf ihn als treibende Kraft zu beschränken, gelang mit dieser Konferenz aber noch etwas Anderes. Er behauptete kurzerhand so etwas wie einen Alleinvertretungsanspruch der Prager Germanistik für den Sonderfall Franz Kafka. Schon im Vorwort liest man, dass die Konferenz ihre Aufgabe erfüllt habe: »Kafkas Rückkehr in seine Heimatstadt Prag wurde nicht nur proklamiert, sondern findet tatsächlich statt.« (O.A. 1965: 8), wobei hier die Differenz zwischen dem damals gegenwärtigen kommunistischen Prag und jenem ganz anderen Prag zu Kafkas Lebzeiten gelassen ignoriert wird.4

2

Eduard Goldstücker hat die Ziele der Tagung kurzerhand auf die Formel gebracht, sie sei ein »Baustein für den künftigen festen, marxistisch orientierten Standpunkt über Kafka« (Goldstücker 1965a: 25).

3

Im Oktober 2008 haben das Heidelberger Institut für Textkritik und das Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften Prag unter dem Titel Kafka und die Macht eine Folgekonferenz auf Schloss Liblice veranstaltet, über die Gerrit Bartels im Tagesspiegel berichtete. Man liest als Rückblick auf die erste Tagung in Liblice: »[W]ie sich das für einen ordentlichen Mythos gehört, ranken sich um diese Konferenz unterschiedlichste Wahrheiten und Interpretationen. Den einen gilt sie als literaturwissenschaftliche Veranstaltung, die sich zu einem politischen Ereignis auswuchs, das letztendlich in den Prager Frühling bis zu seinem Ende am 21. August 1968 durch den Einmarsch der russischen Truppen mündete. Andere sind zurückhaltender.« (Bartels 2008) Unter den ›Zurückhaltenderen‹ findet sich auch Kurt Krolop, zu dem es bei Bartels heißt: »Der Germanist Karl [sic!] Krolop wiederum, ebenfalls Zeuge der 63er-Konferenz, hält nur wenig von der These, Liblice sei der Ausgangspunkt für den Prager Frühling gewesen: ›Für mich war das eine Revolte der Gemäßigten in der kommunistischen Partei, die für Erleichterungen auf den unterschiedlichsten Gebieten zu sorgen versuchten.‹« (Ebd.)

4

Im Folgenden gibt es Übereinstimmungen mit meiner kritischen Darstellung der ersten Konferenz von Liblice in: Weinberg (2014).

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Goldstücker selbst ging noch einen Schritt weiter, als er formulierte: »Ich vermute […] – und ich hoffe, daß diese Vermutung nicht ein lokalpatriotisch motivierter Wunsch bleiben wird –, daß einige, mit dem Leben und Werk Franz Kafkas zusammenhängende Fragen doch am besten von Prag aus beantwortet werden können.« (Goldstücker 1965: 26) Später wird er deutlicher: Ich glaube, die entscheidende Rolle […] spielt die gründliche wissenschaftliche Erhellung eben jenes Fragenkomplexes, der sich unter der Überschrift »Kafka und Prag« zusammenfassen ließe. In dieser Hinsicht ist bis jetzt bei weitem noch nicht das entscheidende Wort gesprochen, und hier erwarten den Forscher noch zahlreiche Aufgaben. (Ebd.: 35)

Alexej Kusák hat Goldstücker damals in einem Vortrag unter dem Titel Bemerkungen zur marxistischen Interpretation vehement widersprochen, indem er von dem ›Geheimnis‹ Kafka ausging: Wo ist der Schlüssel, der die Türen seines Geheimnisses aufschließt? Liegt er vielleicht in der Tatsache, daß Kafka Prager ist? Hier sind wir bei einer der grundlegenden Fragen angelangt, um die sich die Diskussion schon lange dreht. Sie hängt mit der Ansicht Eduard Goldstückers zusammen, daß ein gewichtiges Wort zu einer Reihe von Kafka-Problemen nur von Prag aus gültig gesagt werden kann5. Eduard Goldstücker wollte damit bestimmt nicht sagen, daß dieses Wort von Prag aus deshalb gesagt werden kann, weil hier besonders geniale Germanisten oder Literaturwissenschaftler leben. Bei diesen wiederholt vorgebrachten Ansprüchen geht es ihm um etwas anderes: er ist der Meinung, daß Kafka vor allem genetisch aus seinem Milieu erklärt werden muß, daß also Kafka »geerdet« werden muß, daß man sein Leben und sein Werk im Zusammenhang mit allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren studieren muß. Nichts dagegen, wenn wir das als selbstverständliche Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Arbeit verstehen – mit dem Materialstudium beginnen, alles über Umgebung und Zeit wissen. Aber darüber müßten wir doch gar nicht besonders reden, und das kann bei Kafka zum Beispiel auch ein Forscher tun, der in Grönland lebt, wenn er sich die betreffende Literatur beschafft und das historische Material einige Zeit an Ort und Stelle studiert. Aber wie reimt sich das mit Goldstückers Ansicht zusammen, daß man Kafka vollgültig nur von Prag aus erkennen kann? Ist Prag vielleicht mit einem besonderen Fluidum gesegnet, das zu erkennen nur den Pragern gegeben ist? Kann man Kafkas Geheimnis nur mit dem Schlüssel des Prager Primators aufschließen? (Kusák 1965: 170f.)

Nach diesem Angriff springt Paul Reimann dem ›Genossen‹ Goldstücker in seinem Referat »Über den fragmentarischen Charakter von Kafkas Werk« zur Seite:

5

Im Original gesperrt.

214 | M ANFRED W EINBERG Zunächst die Frage, warum wir beide, Genosse Goldstücker und ich, dem Zusammenhang Kafkas mit Prag eine so große Bedeutung beimessen. Genosse Kusák irrt, wenn er glaubt, daß es uns nur in einem engen Sinn um die Feststellung lokaler Dinge, die topographische Untersuchung der Schauplätze von Kafkas Erzählungen usw. geht. Das ist nicht das Wesentliche. Prag ist für Kafkas Verständnis wichtig aus einem anderen Grunde. Wie immer wir es nehmen, Prag ist ein alter Kulturboden, der durch Jahrhunderte wuchs, ein großes Zentrum des europäischen Kulturlebens, ein Zentrum, in dem sich auch wichtige historische Konflikte verknoteten. Man muß Kafkas Wort von dem Mütterchen Prag, das Krallen hat, das nicht losläßt, zur Kenntnis nehmen, man muß auch auf den Gedanken von E.E. Kisch hinweisen, daß in der Geschichte Prags, wie kaum in einer anderen Stadt Mitteleuropas sich die ganze Weltgeschichte widerspiegelt. In Prag flossen durch die Jahrhunderte verschiedenartige Strömungen der europäischen Kultur zusammen; aus ihrem Zusammenstoß entwickelten sich teils Konflikte, teils komplizierte wechselseitige Einflüsse. Prag wurde zu einem Vorposten der slawischen Kulturwelt, die hier einen großen überragenden Einfluß erlangte. Nach Prag drangen aber auch Einflüsse der deutschen Kultur, hier gab es Konflikte, aber auch wechselseitige Beziehungen dieser beiden Kulturwelten. Prag war schließlich ein altes Zentrum des jüdischen Lebens, hier entstand die legendäre Tradition des Rabbi Löw, die man – wenn man von Kafka spricht – nicht ignorieren kann, denn ich bin überzeugt, daß auch die jüdische Tradition, der Talmud und anderes, an der Entstehung seines Werkes mitwirkte. Kafkas Eigenarten kann man völlig nur verstehen, wenn man ihn als eine Erscheinung wertet, die aus diesem und gerade aus diesem Kulturboden hervorgewachsen ist. (Reimann 1965: 222f.)

Eduard Goldstücker lässt es sich schließlich in seiner Zusammenfassung der Diskussion nicht nehmen, auf diesen Punkt ein weiteres Mal zurückzukommen: Aus den Fragekomplexen, die uns helfen, näher an Kafka heranzukommen, ist der Komplex Kafka und Prag wichtig. Da wir diese Konferenz in Prag veranstalten und weil viele Momente dafür sprechen, daß gewisse Dinge nur von Prag aus gesagt werden können, aus der intimen Kenntnis dessen, was Prag zu Kafkas Lebzeiten bedeutete, sowie der ganzen Atmosphäre jener Epoche, glaube ich, daß die Kafka-Forschung in der Tschechoslowakei im Rahmen der KafkaForschung in der Welt eine besondere Aufgabe hat. Deshalb habe ich den Komplex von Problemen hervorgehoben und tue dies von neuem. Es ist undenkbar und entspricht nicht den Tatsachen, daß ein Gelehrter, nehmen wir an aus Grönland, der auf eine Woche hierher kommt, oder der einen Monat, eventuell ein ganzes Jahr lang zurückgezogen in einem Archiv arbeitet, das Wesen dieser Dinge erfassen könnte. Wie falsch eine solche Behauptung ist, zeigt die Tatsache, daß praktisch alles, was in der sich mit Kafka befassenden Weltliteratur über den Komplex Kafka und Prag gesagt wird, entweder von Personen stammt, die den Komplex aus der Prager Autopsie kennen, oder von solchen, die ihn von Pragern übernehmen. Zu diesem Komplex wurde jedoch von niemandem wesentlich Neues hervorgebracht, das nicht aus Prag stammen würde. (Goldstücker 1965: 278)

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Jetzt erst bewegt sich Goldstücker mit seinen Ausführungen zum Thema ›Kafka und Prag‹ auf dem Niveau, das ihm Kusák zuvor schon vorgeworfen hatte: Zu diesem Punkt hat jeder Nicht-Prager zu schweigen! Doch geht es hier ja nicht um die erste Konferenz von Liblice, sondern um die zweite und das auf ihr etablierte Modell einer ›Prager deutschen Literatur‹. Dennoch ist es wichtig, sich an diesen auf der ersten Konferenz in Liblice wortreich erhobenen Alleinvertretungsanspruch zu erinnern, der natürlich bezüglich Kafkas ganz und gar nicht funktionierte; die ›Gemeinde‹ der weltweiten Kafka-Interpreten wusste tatsächlich wohl viel zu wenig von den ›besonderen‹ Prager Verhältnissen, um überhaupt ermessen zu können, wovon Goldstücker sprach. Dass Goldstücker sich seinerseits aber zu der These verstieg, man verfüge als ›Prager‹ so einfach über dieses Wissen und es müsse auch seitens der Prager Germanistik nicht erst wieder in einem mühsamen Forschungsprozess ans Licht geholt werden, steht auf einem anderen Blatt. Naheliegend erscheint aber die These, dass der dekretierte Alleinvertretungsanspruch der ›Formatierung‹ der ›Prager deutschen Literatur‹ auf der Weltfreunde-Konferenz auch deshalb so erfolgreich war und sich – obwohl doch offensichtlich war, dass auch diese Tagung eine zu marxistischen Bedingungen war – keinerlei ernsthafter Widerspruch einstellte, weil ihm schon 1963 der Boden bereitet worden war. Von der nun erst so bezeichneten ›Prager deutschen Literatur‹ hatten zu dieser Zeit wirklich (fast) nur jene eine Ahnung, die auch auf der Konferenz sprachen. Wer also hätte ihnen ernsthaft widersprechen sollen? Insofern kann man sogar davon ausgehen, dass der überragende Vortrag (und dann Aufsatz) von Kurt Krolop »Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ›expressionistischen Jahrzehnts‹« (Krolop 1967), mit dem sich kein anderer Forscher auch nur ansatzweise messen konnte, zuletzt einem Modell zum Durchbruch verholfen hat, an das Krolop selbst nur ›zur Hälfte‹6 glaubte. 6

Kurt Krolop schreibt zwar gleich am Anfang seiner Studie: »die Wege ihrer bedeutendsten Autoren aus provinzieller Enge zu weltliterarischer Geltung sind wiederholt nachgezeichnet worden, zuletzt in Eduard Goldstückers Studien und Aufsätzen zur Prager deutschen Literatur, deren Ergebnisse ich hier als bekannt voraussetze. Die folgenden Ausführungen wollen im Zusammenhang mit dieser wiederholt dargelegten Gesamtkonzeption der literarischen Entwicklung verstanden sein und sich bemühen, einzelne Phasen herauszuarbeiten und voneinander abzugrenzen; es wird also streckenweise mehr vom Trennenden als von dem Gemeinsamen die Rede sein, das hier zwar nicht von neuem ausgeführt werden kann, aber doch stets den Rahmen des Ganzen gibt.« (Krolop 1967: 47f.) Allerdings hat Kurt Krolop auf meine Nachfrage am Rande des Workshops unter dem Titel »Zentrum und Peripherie. Transkulturelle Hierarchien am Beispiel Prags«, auf dem der Vortrag, der diesem Aufsatz zugrunde liegt, gehalten wurde, in seiner ihm ganz eigenen Weise erklärt, dass er den Verweis auf Goldstückers Einheitsmodell der ›Prager deutschen Literatur‹ auch damals schon nur halb ernst gemeint habe.

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Bevor hier nun aber die Formatierung der einen ›Prager deutschen Literatur‹ auf der Weltfreunde-Konferenz von Liblice 1965 unter dem Aspekt der Rolle, welche die Dichotomie Zentrum – Peripherie bei der Etablierung dieses Verständnisses gespielt hat, eingegangen sei, gilt es, die ›Vorgeschichte‹ dieser Modellbildung zu betrachten. Georg Escher hat in seinem Beitrag zum Sammelband Praha – Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen mit dem Untertitel »Überlegungen zu Geschichte und Implikationen des Begriffs Prager deutsche Literatur« ausführlich die Vorgeschichte des Begriffs ›Prager deutsche Literatur‹ vor seiner Verfestigung durch die Weltfreunde-Konferenz von Liblice 1965 dargestellt. Allerdings blickt auch er zunächst auf Liblice: Die Frage, wer, wann, wo zum ersten Mal von Prager deutscher Literatur oder Pražská německá literatura spricht, ist zwar banal, aber schwierig zu beantworten. Laut Jürgen Born und Diether Krywalski sind die Bezeichnungen »Prager deutsche Literatur« und »[d]eutschsprachige Literatur Prags« […] jüngeren Datums; sie seien »erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu festen Begriffen der Literaturgeschichte« geworden und hätten zunächst durch die marxistisch geprägte tschechische Germanistik der Sechzigerjahre, besonders durch die zwei wirkungsmächtigen Konferenzen auf Schloss Liblice, Verbreitung gefunden. Das Anliegen der damaligen tschechischen Germanistik sei es gewesen, auf den singulären Charakter der deutschsprachigen Literaturtradition Prags hinzuweisen und damit Prager deutsche Literatur von einer mehrheitlich als provinziell und nationalistisch geltenden deutschböhmischen beziehungsweise sudetendeutschen Literatur abzugrenzen. (Escher 2010: 199)

Damit sind wichtige Faktoren – vor allem die Gegenüberstellung einer »singulären« Prager deutschen und einer ›nationalistischen‹ und ›provinziellen‹ sudetendeutschen Literatur, die ja gerade der Dichotomie von Zentrum und Peripherie geschuldet ist – schon benannt. Doch gilt es, Georg Escher zunächst in die Zeit vor Liblice zu folgen, zu der er anmerkt: »Ungefähr zwischen 1896 und 1914 häufen sich in der deutschsprachigen wie auch tschechischen Literaturkritik Ausdrücke wie ›Prager Dichter‹, ›Prager Roman‹, ›deutscher Dichter/Roman aus Prag‹, ›deutsche Literatur Prags‹.« (Escher 2010: 201) Was an diesen Formeln auffällt, ist gerade das Fehlen des bestimmten Artikels. Davon scheint es bei Georg Eschers Belegstellen nur eine Ausnahme zu geben – nämlich die Aussage Otokar Fischers: »Es wäre unrichtig, sich die Prager Deutschen oder auch die Prager deutsche Literatur als monolithischen Block vorzustellen.« (Übersetzung nach Escher 2010: 201) So würde in der einzigen Aussage mit bestimmtem Artikel die Einheit der ›Prager deutschen Literatur‹ dementiert. Tatsächlich ist der bestimmte Artikel aber auch nur ein Effekt der deutschen Übersetzung, denn im tschechischen Original ist der Grammatik des Tschechischen entsprechend kein bestimmter Artikel zu finden: »Nebylo by správné pražské Němce nebo i pražskou německou literaturu představovat si jako jednolitou vrstvu.« (Fischer 1914: 1)

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So lässt sich als die eigentliche ›Leistung‹ der Weltfreunde-Konferenz tatsächlich die Verkopplung des Begriffs ›Prager deutsche Literatur‹ mit dem bestimmten Artikel (und damit deren Singularisierung) veranschlagen. Das zeigt sich sogar am Layout des Titelblatts. Während die Ausgabe im deutschen Luchterhand-Verlag den Untertitel »Konferenz über die Prager deutsche Literatur« in einen Zweizeiler umbricht, geht die Ausgabe im Verlag der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften anders vor: Jedes Wort erhält eine eigene Zeile, nur das »die« steht mit »Prager« in einer Zeile, wird aber nach links aus den untereinander bündigen sonstigen Zeilen herausgerückt. Noch deutlicher kann man das alles entscheidende »die« nicht machen. Nicht zuletzt tragen alle drei einleitenden Beiträge, denen ich mich gleich genauer widme, den bestimmten Artikel im Titel: Paul Reimanns »Die Prager deutsche Literatur im Kampf um einen neuen Humanismus« (Reimann 1967), Eduard Goldstückers »Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen« (Goldstücker 1967a) und, wie bereits erwähnt, Kurt Krolops »Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ›expressionistischen Jahrzehnts‹« (Krolop 1967). Wenn man heute über die Weltfreunde-Konferenz spricht, dann meist nur von den definitorischen Zuschreibungen Eduard Goldstückers und dem Beitrag von Kurt Krolop, der das ganze Panorama der ›Prager deutschen Literatur‹ kundigst entfaltete. Unerwähnt bleibt meist, dass am Anfang der stark weltanschauliche Beitrag von Paul Reimann stand, der in den kurzen biographischen Angaben am Ende des Bandes als »Korrespondierendes Mitglied der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Historiker und Literaturhistoriker, Direktor des Instituts für die Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei« (Goldstücker 1967b: 295f.) angeführt wird. Als erster Redner aber musste Reimann ein Doppeltes leisten: das Thema der Konferenz zu marxistischen Bedingungen und eben den bestimmten Artikel rechtfertigen. Er beginnt: Wenn wir von Prager deutscher Literatur sprechen, geht es nicht um die Klärung einer lokalen literarischen Problematik, sondern um die Erörterung von Problemen und Erscheinungen, die für die Herausarbeitung eines wissenschaftlich fundierten Bildes der Literaturentwicklung im zwanzigsten Jahrhundert wesentliche Bedeutung haben. Schon auf der Kafka-Konferenz im Jahr 1963 wurde es klar, dass manche von diesen Problemen auch in den Auseinandersetzungen der Gegenwart ihre Bedeutung nicht verloren haben. (Reimann 1967: 7)

Reimann stellt, dabei sicher nicht zufällig auf die Kafka-Konferenz von 1963 verweisend, an den Anfang also eine Enträumlichung und eine Entzeitlichung der Prager deutschen Literatur. Es handelt sich um kein lokales Phänomen, zudem eins mit Bedeutung für das ganze 20. Jahrhundert. Wie aber ist zu eben diesen Bedingungen der bestimmte Artikel zu rechtfertigen? Reimann spielt durchaus mit offenen Karten, wenn er angibt, versuchen zu wollen, »das, was wir unter Prager deutscher Literatur

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verstehen, näher zu umschreiben« (ebd.). Der Konstruktcharakter des behaupteten Phänomens wird also nicht einmal verschwiegen. Mehr noch: Reimann sagt, es gehe nicht darum, künstlich irgendeine literarische Schule zu konstruieren, die es nicht gegeben hat. Schon die Aufzählung der wichtigsten Autoren – Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch, Ludwig Winder, Gustav Meyrink, Franz Weiskopf, Louis Fürnberg u.a. – weist darauf hin, dass es hier um Schriftsteller von sehr verschiedenem Charakter geht, dass sich in der Prager deutschen Literatur nicht nur verschiedenartige, sondern sogar vielfach entgegengesetzte Tendenzen widerspiegeln. (Ebd.)

Es folgt eine Variation des enträumlichenden und entzeitlichenden Arguments, wenn die ausdrücklich zugestandene Vielfalt im Zeichen einer »weltweite[n] Wirkung« sowie von »Anregungen und Impulse[n] […], die auf die Gesamtentwicklung sowohl der deutschen als auch der internationalen Literatur befruchtend wirkten«, in eine Einheit überführt wird. Schon kann Reimann von einem »Kreis dieser Schriftsteller« (ebd.) schreiben und mit der Kreismetapher die Einheit als gegeben voraussetzen. Es folgt das Argument, dass die Prager deutsche Literatur rein gar nichts mit der deutschböhmischen oder sudetendeutschen Literatur zu tun habe. Weder Egon Erwin Kisch noch Rudolf Fuchs hätten sich zur sudetendeutschen Literatur rechnen lassen wollen. Ihr Werk sei »in bewusster Opposition zu dem chauvinistischen Geist der Blut- und Bodenliteratur, die in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei verheerend wirkte« (ebd.: 8), entstanden. Hier also findet sich zwar das Argument von der Peripherie im Hinweis auf die Grenzgebiete; doch korrespondiert dem eben nicht ein qualitativ gefülltes Zentrum. Im Anschluss verweist Reimann auf eine von ihm mit Rudolf Popper »im Jahre 1944 in der Londoner Emigration« unter dem Titel Stimmen aus Böhmen herausgegebene Anthologie und zitiert aus deren Einleitung: »Existiert noch immer die geistige Gemeinschaft der böhmischen Menschen deutscher Sprache, die all dem widerstrebt, wodurch sich ein so großer Teil der deutschen Bevölkerung der böhmischen Länder aus der Gemeinschaft der zivilisierten und demokratischen Völker ausgeschlossen hat?« Diese Frage knüpfe dabei an Gedanken an, »die Franz Werfel schon in der Zeit des ersten Weltkriegs aussprach, als er in der Vorrede zu der Fuchsschen Übersetzung der Gedichte von Petr Bezruč den Satz schrieb: ›Unser Herz fühlt konnational mit allen Unterdrückten aller Völker …‹«. Danach geht es zurück in die Zeit des zweiten Weltkriegs: »[E]s besteht für uns nicht der geringste Zweifel: Hätten Dichter wie R.M. Rilke und Franz Kafka diese schwere Zeit noch miterlebt, sie hätten beide im gleichen Lager der Feinde der neuzeitlichen Barbaren ihren Platz gefunden.« (Ebd.) Reimann fährt fort: Suchen wir also einen gemeinsamen Nenner für den Kreis der Schriftsteller, die wir der Prager deutschen Literatur zurechnen, können wir mit der allgemeinen Feststellung beginnen: So sehr

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sich auch der geistige Standort und die künstlerische Aussage aller dieser literarischen Schöpfer unterschieden, gemeinsam war ihre humanistische Grundhaltung, gemeinsam war ihnen die Ablehnung des Chauvinismus, eine freundschaftliche Beziehung zu den nationalen, literarischen und kulturellen Bestrebungen des slawischen Völker, insbesondere des tschechischen Volkes. (Ebd.)

Um den Gedankengang zu ›skelettieren‹: Reimann spricht zunächst von der Heterogenität der Autoren, die sich zur Prager deutschen Literatur rechnen lassen. Deren Einheit wird dann in der Differenz zur sudetendeutschen ›Blut und Boden‹-Dichtung etabliert. Es folgt ein zeitlicher Sprung ins Exil während des zweiten Weltkriegs und die zweite Rechtfertigung der Einheit über das, was in der Emigration ›Volksfront‹ hieß: dem gemeinsamen Kampf marxistischer und bürgerlicher Intellektueller gegen Hitler. Diese hätten aber keine andere Position vertreten als Franz Werfel schon im ersten Weltkrieg. Und wenn Rilke und Kafka zur Zeit des Nationalsozialismus noch gelebt hätten, wären sie bestimmt Teil der Volksfront gegen Hitler gewesen. Ergo: Die Gemeinsamkeit der Prager deutschen Dichter ist ihre humanistische Grundhaltung und die Ablehnung des Chauvinismus. In der Skelettierung wird das Abstruse dieser Argumentation sichtbar – vor allem erkennbar am ›Volksfront‹-Argument, da diese ja eine ausdrückliche Vereinbarung kommunistischer und bürgerlicher Intellektueller war, der bei den Prager deutschen Dichtern kein entsprechender ausdrücklicher Pakt korrespondiert. Die Sortierung nach Zentrum resp. Zentren und Peripherie findet sich allerdings noch an einer anderen Stelle bei Reimann, wenn er von »eine[r] Reihe von Völkern [spricht], denen man den Rang historischer oder welthistorischer Völker zusprach« (ebd.: 10) – England, Frankreich, Deutschland, Italien, ggf. Spanien. Auch Hegel habe historische von geschichtslosen Völkern unterschieden, und selbst Marx und Lenin seien zunächst von dieser Konzeption beeinflusst gewesen. Nur bei Herder lasse sich eine andere Konzeption finden, »die die Fähigkeit aller7 Völker zur Entwicklung einer eigenen Kultur anerkannte und in diesem Aspekt den kulturellen Aufstieg der osteuropäischen, insbesondere der slawischen Völker voraussagte« (ebd.). Die ›welthistorischen Völker‹ – und unter ihnen besonders Deutschland – hätten sich selbst die Lizenz zur Hegemonie zugeschrieben. Gleichzeitig sei aber die kulturelle Entwicklung in Deutschland in eine »langandauernde Periode der Stagnation« geraten. »Der Impuls für neue literarische Entwicklungen geht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr von Ländern aus, die bis dahin nur eine periphere Rolle spielten.« (Ebd.: 11) Gemeint ist damit zunächst vor allem Russland. Man dürfe also getrost die Ansicht aussprechen, dass die alten Ansprüche einiger großer Nationen, besonders der deutschen, auf eine beherrschende Großmachtstellung auf dem Gebiet der Literatur durch 7

Im Original gesperrt.

220 | M ANFRED W EINBERG die Entwicklung des kulturellen Eigenlebens auch der kleineren Nationen gründlich widerlegt wurde (ebd.: 12).

Als Teil dieses »kulturellen Eigenlebens« bis dahin peripherer Nationen zeichnet Reimann dann im Weiteren auch die ›Prager deutsche Literatur‹. Diese Rechtfertigung des bestimmten Artikels bleibt frappierend, denn die Konfrontierung des Zentrums Prag mit dem peripheren Sudetendeutschland erweist sich so als nur eine Seite der Medaille. Tatsächlich wird die Einheit der ›Prager deutschen Literatur‹ auch von der Peripherie her gerechtfertigt – als Stimme gegen den Hegemonieanspruch vermeintlich ›zentraler‹ Völker, die sich zeigt in einer besonderen Form von Interkulturalität, für die Reimann die Übersetzungstätigkeit der Prager deutschen Dichter anführt. Nun ist der Beitrag von Paul Reimann ja möglicher Weise nicht umsonst vergessen. Doch argumentiert Eduard Goldstücker erstaunlicherweise nicht wesentlich anders. Bezüglich Goldstückers Argumentation mache ich es mir zunächst einfach – und zitiere Jörg Krappmanns Zusammenfassung von Goldstückers Voraus-Setzungen aus seinem unter den Titel »Anschwellender Bocksgesang. Eine Prager Coverversion mit Rilke« gestellten Beitrag zum Sammelband Prag als Topos der Literatur: 1. Die eigentliche Prager deutsche Literatur ist datiert von der ersten Gedichtsammlung Rainer Maria Rilkes 1894 bis zur »deutschen antifaschistischen Emigrationsliteratur« in den 1930er Jahren. 2. Die Prager deutsche Literatur ist aufs schärfste abzugrenzen von der deutschböhmischen oder »sudetendeutschen« Literatur. Während die eine, ihrem Selbstverständnis nach, eine Vermittlerrolle zwischen den Kulturen einnahm, verharrte die deutschböhmische Literatur auf einem »militant nationalistischen« und antisemitischen Standpunkt. Die deutschböhmische Literatur ist aus diesem Grund auch künstlerisch minderwertig. 3. Die Autoren der Prager deutschen Literatur setzen sich aus gebürtigen oder aus der Provinz zugezogenen Autoren zusammen. 4. In Prag selbst existierte auch eine deutschböhmische Literatur. (Krappmann 2011: 33f.)

Krappmann resümiert: Damit beansprucht Goldstücker für die Prager deutsche Literatur eine besondere Exklusivität, die sie von anderen regionalen oder Stadtliteraturen unterscheidet. Während etwa in die deutschmährische Literatur oder Brünner Stadtliteratur unvoreingenommen diejenigen Autoren oder Texte eingereiht werden, die aus der Region oder Stadt stammen bzw. sich mit Mähren oder Brünn auseinandersetzen, weist Goldstücker die Prager deutsche Literatur in zeitliche, politische und implizit auch literaturgeschichtliche Schranken. (Ebd.: 34)

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Dem ist nicht zu widersprechen. Die engen »Schranken« sind vielmehr gerade eines der Mittel, mit denen die Einheit der ›Prager deutschen Literatur‹ gerechtfertigt sein soll. Das ist aber noch nicht alles. Auch Goldstücker spielt mit offenen Karten, wenn er seinen Beitrag mit dem Satz beginnt: »Ich will versuchen, das Thema unserer Konferenz und den Grundriß für die bevorstehende Diskussion zu umgrenzen« (Goldstücker 1967: 21), womit auch bei ihm der Konstruktcharakter des Folgenden erkennbar bleibt. Auch Goldstücker rechtfertigt die Einheit der ›Prager deutschen Literatur‹ mit dem enträumlichenden Argument, dass sie »über den lokalen Rahmen hinauswuchs und Weltbedeutung erlangte« (ebd.). Er fährt fort: »Schon vor dem Auftreten R.M. Rilkes gab es in Prag ein reges literarisches Leben, das jedoch über einen guten provinziellen Durchschnitt nicht hinausging.« (Ebd.: 22) Unklar bleibt wiederum, was hier der Gegenbegriff zu ›Provinz‹ sein soll, da Provinz als qualitativer (nicht räumlicher Begriff) erscheint (nur so kann ihm dann auch die zuletzt nicht räumliche »Weltbedeutung« korrespondieren). Aber nicht nur vor Rilke gab es in Prag Provinzielles. Nach der neuerlichen harschen Abtrennung der ›Prager deutschen Literatur‹ von der nationalistischen und antisemitischen »sudetendeutschen Literatur«8 heißt es: Ich möchte hier darauf hinweisen, dass auch die deutsche Bevölkerung Prags […] in zwei Gruppen zerfiel: in ständige Einwohner und in vorübergehende, deren größten und auch lautesten Teil die aus der Provinz stammenden Studenten der Prager deutschen Hochschulen bildeten. Auch dieser Teil der deutschen Bevölkerung hatte seine Literatur; obzwar sie zu ihrer Zeit viel böses Blut machte, ist sie, wie wir heute rückblickend feststellen können, so gut wie spurlos verschwunden. (Ebd.: 25)

Es gibt somit Provinzielles in Prag sowohl vor Rilke als auch während der Zeit der Prager deutschen Literatur, womit Goldstücker – eine ganz bestimmte Literatur und Haltung fest im Blick – eigentlich den Einheits-Begriff der ›Prager deutschen Literatur‹ unterminiert, weil er auch eine andere, nämlich provinzielle ›Prager deutsche Literatur‹ kennt. Die so im doppelten Sinne – bezogen auf die Peripherie und Prag – nur ex negativo bestimmte Einheit der ›Prager deutschen Literatur‹ als ›nicht provinziell‹ verliert dann in einer weiteren Enträumlichung endgültig ihre Berechtigung: »In ihren größten Werken und ihrer Bedeutung nach ist sie nicht nur über den regionalen, sondern auch den nationalen Rahmen hinausgewachsen.« (Ebd.) Die ›Prager deutsche Literatur‹ wird gleichsam zu einem leeren Zentrum, dessen Leere offenbar 8

Goldstücker schreibt: »Die Prager deutsche Literatur in unserem Sinne unterscheidet sich von dieser sogenannten sudentendeutschen Literatur dadurch, daß kein einziger ihrer Verfasser, obwohl sie sich als Angehörige des deutschen Volkes fühlten, den militant nationalistischen Standpunkt gegenüber den Tschechen einnahm und selbstverständlich keiner von ihnen unter dem Einfluß des Antisemitismus stand.« (Ebd.: 25)

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nur weltanschaulich gefüllt werden kann. Von daher heißt es, die ›Prager deutsche Literatur‹ sei ein untrennbarer Teil des humanistischen Kulturerbes der Menschheit, in dessen Annalen sie eine Seite in deutscher Sprache gerade zu der Zeit schrieb, als diese Sprache zum Instrument der grausamsten Barbarei geworden war. Sie bildet also jedenfalls ein selbständiges Kapitel im Rahmen jeder nationalen oder übernationalen Literaturgeschichte, in die sie eingereiht wird. (Ebd.: 26)

Auch hier zeigt sich die Dichotomie Zentrum – Peripherie als bloße Hilfskonstruktion. Die ›Prager deutsche Literatur‹ wird eben nicht als Literatur des Zentrums einer Literatur der Provinz oder Peripherie (und sei diese eine in Prag) entgegengesetzt. Vielmehr wird sie aus (fast) allen Kontexten herausgerückt und singularisiert. Goldstücker unterschreibt im Weiteren ausdrücklich Pavel Eisners These vom »dreifachen Ghetto« (ebd.: 27; vgl.: Eisner 1933), in dem die Autoren der ›Prager deutschen Literatur‹ gelebt hätten (als Juden unter Christen, als Deutsche unter Tschechen und als sozial Höhergestellte unter sozial niedriger Gestellten). Er fügt allerdings hinzu: »Das Kasten- und Ghettoleben der Prager Deutschen hatte es schon in der Generation vor Rilke gegeben, und doch hatte die Prager deutsche Literatur keine Dichter aufzuweisen, die einen guten provinziellen Durchschnitt überragt hätten.« (Ebd.: 27) Die Erklärung Goldstückers ist bekannt: Der entscheidende Grund, der das bis dahin noch provinzielle Prager deutsche Schrifttum zu einer Literatur von Weltinteresse werden ließ, ist darin zu suchen, dass die Prager Deutschen […] die erste Gesellschaftsgruppe der bürgerlichen Welt waren, deren Dichter erfühlten, dass dieser Welt der Abgrund und das Ende drohten. (Ebd.: 30)

An einer Stelle läuft Goldstückers Argumentation dann doch auf das (umgekehrte) Modell von Zentrum und Peripherie heraus. Man liest: Prag war die Hauptstadt des (wirtschaftlich, politisch und kulturell) fortgeschrittensten der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns und deshalb auch einer der Hauptschauplätze des Nationalitätenkampfes, dessen Intensität die Prager Deutschen vor allen anderen zu spüren bekamen. Vom Standpunkt des Nationalitätenkampfes lag die Kaiserstadt Wien tief im Hinterland, Prag aber in der vordersten Frontlinie. (Ebd.: 29f.)

Hier wird die Modellierung ins Militärische verschoben: Wien ist Hinterland, Prag Frontlinie. Man kann gleichwohl Reimanns Argument wieder erkennen: An die Stelle des hergebrachten Zentrums Wien (wenngleich Österreich-Ungarn auf der Liste der ›welthistorischen‹ Völker bei Reimann fehlt) tritt die bisherige Peripherie Prag. Und wiederum erscheint Prag als Ort einer spezifischen Interkulturalität, die

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sich im Nationalitätenkampf gewaltsam, in der Prager deutschen Literatur aber humanistisch und anti-chauvinistisch zeigt. Zuletzt: Die von Goldstücker propagierte Weltgeltung der ›Prager deutschen Literatur‹ kann man – ich formuliere drastisch – nur als ›erschwindelt‹ beschreiben. Sie hängt an der Trias Rilke, Werfel, Kafka, von denen Goldstücker im dritten Abschnitt seines Beitrags jeweils einen Text genauer untersucht. Dazu wendet er sich bei Rilke zwei Gedichten aus dem Stundenbuch zu, von dem er zugibt, es sei »unter dem starken Eindruck verfasst, den das Russland der Jahre 1899-1900 auf ihn [Rilke] ausgeübt hatte« (ebd.: 32), also allemal nicht (allein) von Prag aus herleitbar. Schließlich wird das Werk des frühen Rilke mit dem späteren Weltpoeten Rilke unhintergehbar verkoppelt, denn die Gedichte zeigten schon den »voll entfalteten Bilderreichtum und [die] Sprachvirtuosität [...], mit denen Rilke sich einen unverrückbaren Platz in den Annalen der Weltpoesie sicherte« (ebd.: 32). Bei Werfel wird auf ähnliche Weise Kontinuität beschworen. Hier liest Goldstücker einen Text, der gleich nach Werfels Abschied aus Prag entstanden ist: »Die Stagione«. Zum Protagonisten Wladimir heißt es, er sei die »erste Figur einer genealogischen Reihe […], deren spätere Glieder die tschechischen Verkörperungen von Werfels Idee der Frömmigkeit sind: die Amme Barbara und der Magd Teta« (ebd.: 41). Verwiesen ist somit auf zwei Texte Barbara oder die Frömmigkeit von 1929 und Der veruntreute Himmel von 1939, die 17 bzw. 27 Jahre nach dem Jahr entstanden sind, in dem Franz Werfel endgültig Prag verließ. Die beiden Autoren, die Prag verlassen haben und dann erst zu Weltruhm gelangten, werden also kurzerhand fest an Prag gebunden. Man braucht das Spätwerk, um die Weltgeltung Rilkes und Werfels zu erweisen, was nichts anderes sagt, als dass die beiden zu ihren Prager Zeiten solche Weltgeltung noch nicht hatten. So bleibt für die ›eigentliche‹ ›Prager deutsche Literatur‹ wieder einmal nur Kafka. Zusammenfassend: Weder die Argumentation Reimanns, noch die Goldstückers können den bestimmten Artikel nachvollziehbar rechtfertigen. Ihr eines Argument ist dabei die Abgrenzung von der sudetendeutschen Literatur, die zwar nach dem Muster Zentrum – Peripherie verläuft, aber das Zentrum eigentlich eben nur als ›nicht provinziell‹ qualifiziert. Dieses sozusagen leere Zentrum wird dann notdürftig mit einer durchgängig humanistischen Haltung angefüllt, die aber nun wirklich keine Legitimation einer Einheit vorstellt. Sowohl bei Reimann als auch bei Goldstücker erscheint jedoch auch eine zweite Argumentationsfigur: Prag ist – im Verhältnis zu den Hauptstädten vermeintlich ›welthistorischer Völker‹ (Reimann) oder zu Wien (als Hauptstadt Kakaniens) Peripherie, wird gerade deshalb aber zum Zentrum eines neuen Zusammenlebens der Völker, das sich in der Haltung der Prager deutschen Autoren zu ihren tschechischen Landsleuten ausdrückt. Insofern lässt sich zuletzt doch von der Geburt der Prager deutschen Literatur aus der Dichotomie Zentrum – Peripherie sprechen; doch eben nicht nach einem einheitlichen Modell, was wiederum die theoretische Inkonsistenz der Argumentationslinien Reimanns und Goldstückers deutlich macht.

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Die Schlussfolgerungen aus dieser Diagnose sind allerdings immens. Wenn Reimanns und Goldstückers ›Fassung‹ der ›Prager deutschen Literatur‹ dermaßen inkonsistent ist, bedarf es einer grundlegend neuen Beschäftigung mit diesem Phänomen, denn was auf den beiden Konferenzen von Liblice etabliert wurde, hat im Wesentlichen den ganzen weiteren Umgang mit den deutsch schreibenden Autoren Prags und der Böhmischen Länder bestimmt. Auch nach dem Wegfall der ideologischen Begrenzungen, die die Etablierung des Konzepts der ›Prager deutschen Literatur‹ eindeutig bestimmt haben, haben es InlandsgermanistInnen nicht für nötig befunden, überhaupt noch einmal genauer hinzuschauen; das Phänomen schien hinreichend konzeptualisiert, so dass man meinte, gebetsmühlenhaft die immer gleichen Bestimmungen wiederholen zu können. In einem Neuansatz wird das Phänomen zuletzt aber auch nicht mehr als ›Prager deutsche Literatur‹ erscheinen können, da dieser Begriff allzu sehr mit der Liblicer ›Fassung‹ verbunden ist. Immerhin gibt es inzwischen erste und entschiedene Schritte zu einer solchen Neukonzeption. Im November 2017 ist im Metzler-Verlag das Handbuch der deutschsprachigen Literatur Prags und der Böhmischen Länder erschienen (Becher et al. 2017). Allerdings mussten die Herausgeber den Metzler-Verlag, der zunächst auf der ›Prager deutschen Literatur‹ im Titel beharrte, weil alles andere den deutschen LeserInnen strikt unbekannt sei und somit nicht zu einer – für die Durchsetzung einer neuen Konzeption ja durchaus wichtigen – Verbreitung des Handbuchs beitragen würde, erst mühsam von diesem Titel überzeugen. Zudem ist im Mai 2015 in Prag ein Pendant zur schon lange existierenden Arbeitsstelle zur deutschmährischen Literatur an der Palacký-Univeristät Olmütz/ Olomouc gegründet worden – nämlich eine Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur. Diese Forschungsstelle hat sich dabei einen Namen gegeben, der nach dem Vorstehenden die damit intendierte Programmatik deutlich zu erkennen geben sollte: Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur.9

L ITERATUR Becher, Peter / Höhne, Steffen / Krappmann, Jörg / Weinberg, Manfred (Hg.) (2017): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart. Bartels, Gerrit: Kafka-Konferenz in Liblice. Franz und der Frühling. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/kafka-konferenz-in-liblice-franzund-der-fruehling/1358318.html [21.8.2017]. Eisner, Pavel/Paul (1933): Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů. In: Československá vlastivěda. Bd. VII: Písemnictví. Praha, S. 325-377. (Deutsche Übersetzung: Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR von 1848 9

Vgl. im Netz: http://krolop.ff.cuni.cz (letzter Besuch: 21.8.2017) – und zum Programm der Forschungsstelle: Weinberg 2012.

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bis 1933. In: Jahrbuch des Adalbert Stifter Institutes des Landes Oberösterreich 9,10 [2002/2003], S. 124-199). Escher, Georg (2010): »In Prag gibt es keine deutsche Literatur«. Überlegungen zu Geschichte und Implikationen des Begriffs Prager deutsche Literatur. In: Peter Becher / Anna Knechtel (Hg.): Praha – Prag: Literaturstadt zweier Sprachen. Passau, S. 197-211. Fischer, Otokar (1914): Neznámá Praha. In: Národní listy 54, 149 (2.6.1914), S. 1f. Goldstücker, Eduard / Kautman, František / Reimann, Paul (Hg.) (1965): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Prag. Goldstücker, Eduard (1965a): Über Franz Kafka aus der Prager Perspektive 1963. In: Ders. / František Kautman / Paul Reimann (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Prag, S. 23-43. Goldstücker, Eduard (1965b): Zusammenfassung der Diskussion. In: Ders. / František Kautman / Paul Reimann (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Prag, S. 277-88. Goldstücker, Eduard (1967a): Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen. In: Ders. (Hg.): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin / Neuwied, S. 21-45. Goldstücker, Eduard (Hg.) (1967b): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin / Neuwied. Krappmann, Jörg (2011): Anschwellender Bocksgesang. Eine Prager Coverversion mit Rilke. In: Almut Todorow / Manfred Weinberg (Hg.): Prag als Topos der Literatur. Olomouc, S. 31-45. Krolop, Kurt (1967): Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des »expressionistischen Jahrzehnts«. In: Eduard Goldstücker (Hg.): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin / Neuwied, S. 4796. Krolop, Kurt (2005): Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: »Warum haben Sie Prag verlassen?«. In: Ders.: Studien zur Prager deutschen Literatur. Eine Festschrift für Kurt Krolop zum 75. Geburtstag. Hg. v. Klaas-Hinrich Ehlers, Steffen Höhne u. Marek Nekula. Wien, S. 89-102. Kusák, Alexej (1965): Bemerkungen zur marxistischen Interpretation Kafkas. In: Eduard Goldstücker / František Kautman / Paul Reimann (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Prag, S. 169-180. O.A. (1922): Prag als Literaturstadt. In: Prager Tagblatt Nr. 127/XlVII (02.06.), S. 6. O.A. (1965): Vorwort. In: Eduard Goldstücker / František Kautman / Paul Reimann (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Prag, S. 7-8. Reimann, Paul (1965): Über den fragmentarischen Charakter von Kafkas Werk. In: Eduard Goldstücker / František Kautman / Paul Reimann (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Prag, S. 221-227.

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Reimann, Paul (1967): Die Prager deutsche Literatur im Kampf um einen neuen Humanismus. In: Eduard Goldstücker (Hg.): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin / Neuwied, S. 7-19. Weinberg, Manfred (2012): Arbeitsprogramm der Kurt Krolop-Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur an der Karls-Universität Prag. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei N.F. 20, S. 169-185. Weinberg, Manfred (2014): Die versäumte Suche nach einer verlorenen Zeit. Anmerkungen zur ersten Liblice-Konferenz Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. In: Steffen Höhne / Ludger Udolph (Hg.): Franz Kafka – Wirkung, Wirkungsverhinderung, Nicht-Wirkung. Köln / Wien / Weimar, S. 209-235.

Verflechtungen sozialer und kultureller (Stadt-)Räume Prags

Prager Perspektiven nach dem spatial turn Raumkonzepte der Semiotik I RINA W UTSDORFF

Ein philosophiegeschichtlich fundierter »spatial turn« wird nicht nur die neueren Ansätze, die unter diesem Schlagwort propagiert wurden, zur Kenntnis nehmen müssen, sondern auch die diesem turn vorangehenden Wend(ung)en des erkenntnistheoretischen Blicks auf den Raum. Die Vorgeschichte des spatial turn lässt bei näherem Hinsehen eine Parallel- oder sogar Alternativgeschichte zur neuen Aufmerksamkeit für den Raum erkennen. Denn dieser ist selbstverständlich schon je Gegenstand epistemologischer und kulturphilosophischer Überlegungen. Kants kopernikanische Wende rückt die jeder Erfahrung vorausgehenden Formen der Anschauung der Zeit und des Raums als apriorische ins Zentrum der Erkenntnistheorie. Ernst Cassirer untersucht im Zuge seiner phänomenologisch geprägten Philosophie der symbolischen Formen (1923-29) auch Raumvorstellungen als symbolische (und damit immer kulturelle) Formen der Bezugnahme des Menschen auf seine Umwelt und reflektiert, wie »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« (2004 [1931]) konstituiert werden.1 Programmatisch sieht der Raumtheoretiker Stephan Günzel (2010) nicht nur in dieser phänomenologischen Wende, sondern auch in dem für die gesamten Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts prägenden linguistic turn Vorwegnahmen bzw. sogar Korrekturen avant la lettre des spatial turn. Während Kants Kehre bedeutete, die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu reflektieren und dabei

1

So lässt Stephan Günzel (2010) seinen Überblick über die Vorgeschichte(n) des spatial turn bei der von Kant selbst als solcher bezeichneten Kopernikanischen Wende seiner Epistemologie beginnen, um dieser insbesondere die phänomenologische Korrektur Husserls, aber auch Cassirers Kulturphilosophie mit seiner phänomenologisch geprägten Variante eines Neukantianismus entgegenzustellen.

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als Anschauungsform auch den Raum – wie Günzel zuspitzt2 – vorzugsweise auf Seiten des Subjekts zu betrachten, richtet sich Husserls Phänomenologie auf die Korrelation zwischen den wahrgenommenen Dingen und der auf sie gerichteten Intentionalität des Bewusstseins. Günzel betont nun nicht zuletzt die Verwandtschaft dieser Herangehensweise zu der strukturalen Denkmodellen inhärenten Relationalität und kommt zu dem Schluss: »[D]ie phänomenologischen und strukturalistischen Ansätze des frühen 20. Jahrhunderts sind […] für die heutige Debatte um den spatial turn nicht nur als eine Vorgeschichte von Interesse, sondern geradezu als das Durchdenken seiner letztlich vermeidbaren Aporie.« (Günzel 2010: 88) Denn mit einer »Hinwendung zum Raum als relationale Ordnung« (ebd.: 83) lässt sich sowohl die Gefahr umgehen, Raum zu ontologisieren und auf verkürzende Weise für die Erklärung sozialer und diskursiver Phänomene heranzuziehen,3 als auch »die kantische Kehre zum Subjekt revidier[en], indem die Einsicht in die Strukturbedingtheit der Realität, die im linguistic turn exemplarisch anhand von Sprache aufgezeigt wird, allgemeiner gefasst wird« (ebd.). Die von Günzel (auch 22009) stark gemachte Verbindung von Phänomenologie und Strukturalismus nun findet sich auch in den etwa zeitgleich mit Cassirers Kulturphilosophie entstehenden Arbeiten des Prager Strukturalismus, in denen der für den strukturalistischen (und auch schon den formalistischen) Ansatz so entscheidende Begriff der Funktion eine deutlich phänomenologische Komponente erhält: Dies gilt sowohl für das Modell Roman Jakobsons (1979 [orig. engl. 1958]), in dem jeder sprachlichen Funktion die intentionale Bewusstseinseinstellung auf eine bestimmte Komponente der Kommunikation zugewiesen ist (vgl. Holenstein 1974; 1976), als auch für Jan Mukařovskýs Modell der anthropologischen Funktionen, in dem diese als verschiedene »Weise[n] des Sich-geltend-Machens des Subjekts

2

Es handelt sich hier insofern um eine Zuspitzung, die als solche auch der Gefahr der Vereinfachung nicht ganz entgeht, als Kant sich der Implikation seiner »Wende zum Subjekt« durchaus bewusst war, nämlich der Problematik, die vom Skeptizismus, Relativismus oder Konstruktivismus in verschiedenen Spielarten durchdacht wird: In welchem Verhältnis denn die äußere Wirklichkeit zu unseren Bewusstseinsinhalten stehe. Allerdings vollzieht Kant insofern eben keine radikale Wende allein zum Subjekt, als er tendenziell von einer Passung unseres Apperzeptionsapparates auf die äußere Wirklichkeit ausgeht. Genau in der vorbegrifflichen Erkenntnis dieser Passung sieht Kant ja das Spezifikum ästhetischen Wohlgefallens. »Wie Kant sich nachzuweisen bemüht, werden solche ästhetischen Urteile aufgrund eines Lustgefühls gebildet, das sich im Urteilenden einstellt, wenn der Gegenstand für die Reflexion eine ›Form‹ zeigt, ›wodurch‹ er ›für unsere Urtheilskraft gleichsam vorherbestimmt zu sein scheint‹.«, so Majetschak (2007: 45f.) mit Bezug auf Kants Kritik der Urteilskraft (1968: 245).

3

Markant ist diese Gefahr als »Raumfalle« gefasst bei Lippuner/Lossau (2004 und 2010).

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gegenüber der Außenwelt« (Mukařovský 41982: 125 – »způsob sebeuplatnění subjektu vůči vnějšímu světu«, Mukařovský 2000 [1942]: 177) definiert werden. Unter anderem an die von Mukařovský vor allem im Bereich der Ästhetik entwickelten Ansätze schloss die vielfach auch als sowjetischer Strukturalismus bezeichnete Moskau-Tartuer Schule insbesondere in der Person Jurij Lotmans mit kulturtypologischen Arbeiten an. Das mit den Vertretern der ersten kulturwissenschaftlichen Welle des beginnenden 20. Jahrhunderts geteilte Interesse gilt hier der Dynamik von Entstehungsmechanismen und Entwicklungsprozessen von Kulturen, die semiotisch als Zeichensysteme verstanden werden. Ähnlich wie schon bei Cassirer geht es dabei auch um verschiedene Betrachtungsweisen des Raums, letztlich Welt-Anschauungen, die Kulturen (im transitiven wie intransitiven Sinne) prägen. Allerdings wird der Schwerpunkt der Fragestellungen deutlich von allgemeineren subjekt- und erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Funktionsweise und Typologie konkreter Kulturen verlagert. Das avancierteste Beschreibungsmodell lieferte Lotman (1990; 1996) hier mit dem der Semiosphäre, einem in metaphorischen Begriffen des Raums gedachten Geltungsbereich kultureller Codes, die einem steten Wandlungsprozess unterliegen, insofern zentripetale, den Code verfestigende Kräfte mit zentrifugalen, den Code vor allem in der peripheren Grenze seines Geltungsbereichs verändernden Kräften in beständigem Widerstreit liegen. Als Kontaktzone unterschiedlicher Codes ist für Lotman gerade die Grenze von besonders hoher Produktivität. Dieses Modell scheint in hohem Maße geeignet, um es auf die Interaktion verschiedener kultureller Codes im symbolischen Raum von Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n) anzuwenden. Wenn Günzel rekonstruiert, wie strukturalistisch geprägtes Denken zum Raum seinen Weg in die Kulturwissenschaften gefunden hat – nämlich über eine Begegnung zwischen Roman Jakobson und Ernst Cassirer, die beide in die USA emigriert waren, zu Claude Lévi-Straussʼ Beschreibungen mythischer Raumordnungen (Günzel 2010: 82) –, ignoriert er auf eine für westliche Theoretiker nicht untypische Weise den parallelen Weg, auf dem diese Ansätze im mittel- und osteuropäischen Raum miteinander verbunden und weiterentwickelt wurden: In der Kultursemiotik der Moskau-Tartuer Schule, die an den (Prager) Strukturalismus anschloss, findet sich jenes Potential strukturalistischen Denkens gerade auch mit Bezug auf den Raum entfaltet, das Günzel unter dem Begriff Topologie einklagt:4 4

Einem rein westlichen Rezeptionspfad folgend muss Günzel das strukturalistisch phänomenologische Topologie-Konzept mit Verweis auf Deleuze gegen eine psychoanalytische Vereinnahmung des Begriffs durch Lacan verteidigen: »Es ist […] das Verdienst von Gilles Deleuze (1925-1995) gewesen, auf die enge Verbindung von Strukturalismus und Phänomenologie hinzuweisen und den Begriff der Topologie von dem Klischee zu befreien, das ihm teilweise durch die französische Psychoanalyse mit Jacques Lacan (1901-1981) zukam. […] Topologie hat es dagegen mit einem ›reinen Spatium‹ zu tun, wie es sich mit

232 | IRINA W UTSDORFF Raum ist für den Strukturalismus eine kritische Größe, die als Relationsgefüge verstanden wird und den Kulturwissenschaften jenen doppelten Vorteil verschaffen kann: Raum so topo-logisch verstanden, vermeidet nicht nur einen Determinismus, in dem die Natur als Ursache von Kultur angesehen wird, sondern relativiert zugleich die Ordnungen oder Kulturen zueinander. (Günzel 2010: 83)

Nicht nur aus den von Stephan Günzel stark gemachten methodologischen Gründen sollen in dieser Abhandlung zu semiotischen Raumtheorien die phänomenologisch und strukturalistisch geprägten Ernst Cassirers und Jurij Lotmans fokussiert werden, sondern auch mit Blick auf den Gegenstand »Prag um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, da sich hier in Zeit und Raum Koinzidenzen zur Theoriebildung zeigen. Ernst Cassirer ist einer der Akteure der ersten kulturwissenschaftlichen Welle, die im Untersuchungszeitraum statthat. Sie steht in einem größeren geistesgeschichtlichen (und in vielfacher Hinsicht mitteleuropäischen) Zusammenhang, in dem einerseits lange unhinterfragte Annahmen wie die des euklidischen Raumes ins Wanken geraten – so etwa in der Unterscheidung des (aus Mähren stammenden) Ernst Mach (2006 [1905]) »zwischen einem physiologischen Raum der sinnlichen Empfindung und einem davon gesonderten Raum der Geometrie« (Günzel 2010: 80) –, andererseits neue Denkmodelle erprobt werden – wie eben z.B. Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923-29) oder der anthropologische Funktionalismus des Prager Strukturalismus. Mit der Rezeption und Fortentwicklung dieser Ansätze in der Kultursemiotik lässt sich insofern auch ein spezifisch mittel- und osteuropäischer Theorientransfer nachzeichnen, der mit der relativierenden Betonung von (Inter-)Relationalität möglicherweise nicht zufällig in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts von vielfältigen Umbrüchen geprägten plurikulturellen Mitteleuropa einen entscheidenden Schub erfährt.

1. R AUMGESTALTUNGEN

BEI

E RNST C ASSIRER

Direkt dem Thema Raum hat Cassirer sich in dem Vortrag »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« (2004 [1931]) gewidmet, den er 1930 auf dem Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft in Hamburg hielt. Titel und Anlass Deleuze (1992, 19) auf einen paradoxen Begriff bringen lässt: Dieser pure Raum besteht aber nicht in der Leere, sondern aus den Relationen.« (Günzel 2010: 83 mit Verweis auf Gilles Deleuzeʼ Woran erkennt man den Strukturalismus? in der Ausgabe Berlin 1992; vgl. die hier anzitierte Passage in Fn. 15) Tatsächlich erwähnt Deleuze in dieser programmatischen Schrift den Prager Strukturalismus nur in seiner linguistischen Ausprägung: »Zu Recht bezeichnet man die Linguistik als Ursprung des Strukturalismus: nicht nur Saussure, sondern auch die Moskauer Schule, die Prager Schule.« (Deleuze 2003 [1973]: 248)

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lassen zweierlei erkennen: Wie schon in seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen stellt Cassirer auch in der Bezugnahme auf den Raum mythischen wie (neuzeitlich) theoretischen, aber auch ästhetischen Weltzugang in ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit nebeneinander, wobei er dem ästhetischen einen besonderen Status beimisst. Unter dem Gesichtspunkt einer »Phänomenologie der Erkenntnis«5, können Raum wie auch Zeit nicht »lediglich als Objekte der Erkenntnis [ge]faßt« werden, da sie »innerhalb des architektonischen Baus der Erkenntnis die beiden Grundpfeiler [bilden], die das Ganze tragen und das Ganze zusammenhalten« (Cassirer 2004: 411). Wie bereits für Kant wird insofern auch für Cassirer die Reflexion des Raums zwangsläufig zu einer epistemologischen Reflexion. In einer für die Phänomenologie des beginnenden 20. Jahrhunderts typischen Doppelbewegung versucht er dabei zu reflektieren, wie das Bewusstsein sich in Bezugnahme auf die Dinge in der Welt konstituiert. »So kehrt die Erkenntnis, je tiefer sie in die Strukturen des Raumes und der Zeit eindringt, umso gewisser in sich selbst zurück – so erfaßt sie erst an ihnen, als dem gegenständlichen Korrelat und Gegenhalt, ihre eigenen Grundvoraussetzungen und ihr eigentümliches Prinzip.« (Ebd.) Cassirer betont – und hierin liegt die Affinität seiner Herangehensweise zu strukturalistischen –, dass ein derartiger Blickwinkel auf den Raum zur »Erkenntnis des Vorrangs des Ordnungsbegriffs vor dem Seinsbegriff« (ebd.: 413) führt. Mit Verweis auf Leibniz, der als Monadologe zwar dem Substanzbegriff angehangen, als Logiker und Mathematiker aber eine »Lehre von der Relation« (ebd.: 415) entwickelt habe, resümiert Cassirer: Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr »reale Relationen«; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der »Wahrheit von Beziehungen«, nicht an irgend einer absoluten Wirklichkeit. In dieser Hinsicht hat Leibniz bereits in voller Klarheit die Lösung antizipiert, die die moderne Physik für das Raum- und Zeitproblem gefunden hat. (Ebd.: 415)

Im Hinblick auf den jeweiligen Ordnungsbegriff dann kann Cassirer theoretische, mythische und ästhetische »Raum-Anschauung«, denen jeweils eine »Raumgestaltung« entspricht, als verschiedene mögliche Bezugnahmen des Menschen nebeneinander stellen. So wird deutlich, […] daß es nicht eine allgemeine, schlechthin feststehende Raum-Anschauung gibt, sondern daß der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung erhält, innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die »Form« des Raumes – und diese Wandlung […] bezieht sich auf ihn als Gesamtheit, auf seine prinzipielle Struktur. Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struk-

5

So lautet der Titel des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen.

234 | IRINA W UTSDORFF tur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment. (Ebd.: 419)

Dabei ist der Modus des Ästhetischen für Cassirer insofern privilegiert, als er jenem »Sieg des Pluralismus über den abstrakten Monismus, der Vielförmigkeit über die Einförmigkeit« (ebd.: 417), der grundsätzlich mit der Ablösung des Seinsbegriffs durch den Ordnungsbegriff verbunden ist, am meisten entspricht – und zwar weil die »Funktion der künstlerischen Anschauung und Darstellung« sich im Medium der »reinen Gestalt« vollzieht (ebd.: 418). In dieser »Sphäre der reinen Darstellung« wirken die gestaltbildenden Kräfte des Menschen, mit denen er sich in »ein neues Verhältnis« zur Welt setzt (ebd.: 422).6 Dass dem Modus des Ästhetischen dabei ein spezifisches Erkenntnispotential zukommt, leitet Cassirer folgendermaßen her: Die echte »Vorstellung« ist immer zugleich Gegenüber-Stellung; sie geht aus vom Ich und entfaltet sich aus dessen bildenden Kräften; aber sie erkennt zugleich in dem Gebildeten ein eigenes Sein, ein eigenes Wesen und ein eigenes Gesetz – sie läßt es aus dem Ich erstehen, um es zugleich gemäß diesem Gesetz bestehen zu lassen und es in diesem objektiven Bestand anzuschauen. So ist der ästhetische Raum […] ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt. (Ebd.: 423)

Cassirers Gedanke, Kunst – und zwar in produktions- wie rezeptionsästhetischer Hinsicht – sei »privilegierter Manifestationsort der menschlichen Wirklichkeitserschließung« (Lüdeke 2006: 452), findet sich in ähnlicher Weise und Begründung in Jan Mukařovskýs Ästhetik. Die Grundlage für Mukařovský bildet ein anthropologisches Funktionenmodell, innerhalb dessen er verschiedene Arten der Bezugnahme des Menschen auf seine Umwelt unterscheidet, wobei es dem Wesen des Menschen entspreche, sie in ihrer Vielfältigkeit zu verwirklichen. Genau auf diese dem Menschen wesensgemäße Polyfunktionalität verweist laut Mukařovský die ästhetische Funktion, weil sie im dialektischen Gegensatz zu den übrigen Funktionen nicht auf einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit und auf einen bestimmten Zweck gerichtet ist, sondern auf die Wirklichkeit als Ganze. Ähnlich wie in Cassirers Modell enthält so der zweckfreie Modus des Ästhetischen, in dem sich die freie Gestaltungskraft des Menschen entfaltet, einen indirekten Wirklichkeitsbezug.

6

»Denn jetzt [bei der Betrachtung des ästhetischen Raumes] sehen wir uns mit einem Schlage in eine neue Sphäre, in die Sphäre der reinen Darstellung versetzt. Und alle echte Darstellung ist keineswegs ein bloßes passives ›Nachbilden‹ der Welt; sondern sie ist ein neues Verhältnis, in das sich der Mensch zur Welt setzt.« (Cassirer 2004: 422)

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2. Z UR S PEZIFIK ÄSTHETISCHEN W IRKLICHKEITSBEZUGS : J AN M UKAŘOVSKÝS F UNKTIONENMODELL Die anthropologische Grundlage seines Funktionenmodells hat Mukařovský besonders prägnant im Hinblick auf den »Standort der ästhetischen Funktion unter den übrigen Funktionen« (Místo estetické funkce mezi ostatními, 2000 [1942]) herausgearbeitet. Hier grenzt er seinen Funktionsbegriff explizit von dem des »ursprünglichen Funktionalismus […] der Architektur« (Mukařovský 41982: 121 – »s původním funkcionalismem […] architektonick[ý]m«, Mukařovský 2000: 174) ab, der von der falschen Voraussetzung ausgegangen sei, die Funktion eines Bauwerks lasse sich allein aus dessen Zweckbestimmung ableiten (vgl. Mukařovský 1982, 121; »že budova má jedinou, přesně vymezenou funkci danou účelem, za kterým je stavěna«, Mukařovský 2000: 174). Mukařovský fordert eine Umkehrung der Perspektive: Nicht mit Blick auf das Objekt, sondern aus der Sicht des Subjekts sind die Funktionen zu bestimmen. Dann werde klar, dass es Monofunktionalität nicht geben könne. »Žádná oblast lidského konání a lidské tvorby není omezena na funkci jedinou: vždy je funkcí víc, jsou mezi nimi napětí, spory a vyrovnání; […].« (Mukařovský 2000: 174 – »Kein Bereich menschlichen Tun und Schaffens ist auf eine einzige Funktion begrenzt: immer gibt es mehrere Funktionen, unter denen es Spannungen, Konkurrenz und Ausgleich gibt; […].«, Mukařovský 41982: 121) Hier findet sich Mukařovskýs avancierteste Bestimmung von Funktion: »Funkce je způsob sebeuplatnění subjektu vůči vnějšímu světu.« (2000: 177 – »Die Funktion ist die Art und Weise des Sich-geltend-Machens des Subjekts gegenüber der Außenwelt.«, Mukařovský 41982: 125). Diese Definition ist phänomenologisch, insofern sie sich auf eine Weise der intentionalen Bewusstseinseinstellung des Menschen bezieht, sie enthält darüber hinaus die These, dass Formen der Einwirkung des Menschen auf seine Umwelt immer auch Formen der Selbstverwirklichung des menschlichen Seins sind. Hieraus leitet sich ein idealer Maßstab ab: Der Mensch ist seinem Wesen nach polyfunktional, er verfügt über verschiedene Weisen, sich der äußeren Umwelt gegenüber geltend zu machen. Historisch betrachtet haben sich die verschiedenen Funktionen erst im Laufe der kulturellen Entwicklung voneinander geschieden, die Tendenz zum Monofunktionalismus sieht Mukařovský mit dem Aufkommen der Maschinentechnik verbunden, was einer deformierenden Reduktion des menschlichen Wesens gleichkomme. Für Mukařovský jedoch ist von einer »grundsätzliche[n] Funktionsvielfalt menschlichen Handelns und […] grundsätzliche[r] Allgegenwart der Funktionen« (41982: 121 – »zásadní mnohofunkčnost lidského konání a zásadní všudypřítomnost funkcí«, 2000 [1942]: 174) auszugehen. Der ästhetischen Funktion nun kommt in seinem Modell die Aufgabe zu, dem Menschen sein (eigentliches) polyfunktionales Wesen stets von neuem vor Augen zu führen. Sie ist dazu in der Lage, weil sie sich

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im Unterschied zu den anderen Funktionen nicht direkt auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit bezieht, sondern vermittelt über das ästhetische Zeichen auf die Wirklichkeit als Ganze verweist. Pro estetickou funkci není skutečnost objektem bezprostředním, ale zprostředkovaným; bezprostředním objektem (tedy naprosto ne nástrojem) je pro ni estetický znak, který postoj subjektu, realizovaný výstavbou znaku, promítá do skutečnosti jako její obecný zákon, nepozbývaje přitom svébytnosti. Svou svébytnost projevuje estetický znak tím, že vždy poukazuje ke skutečnosti jako celku, nikoli k jednotlivému jejímu úseku. (Mukařovský 2000: 179) Für die ästhetische Funktion ist die Wirklichkeit nicht unmittelbares, sondern vermitteltes; unmittelbares Objekt (also durchaus nicht Instrument) ist für sie das ästhetische Zeichen, das die Einstellung des Subjekts, realisiert im Aufbau des Zeichens, in die Wirklichkeit als deren allgemeines Gesetz hineinprojiziert, ohne dabei seine Eigenständigkeit aufzugeben. Seine Eigenständigkeit offenbart das ästhetische Zeichen dadurch, daß es immer auf die Wirklichkeit als Ganze verweist, keineswegs nur auf den einzelnen Ausschnitt. (Mukařovský 41982: 130; Übers. modifiziert, IW)

Der Verweis auf die Wirklichkeit als Ganze ist insofern an die Selbstverwirklichung des Menschen gegenüber der Wirklichkeit gekoppelt, als diese »im ästhetischen Zeichen […] nach dem Bild der Einheit des Subjekts unifiziert wird« (Mukařovský 4 1982: 129 – »sjednocena podle obrazu jednoty subjektu«, Mukařovský 2000: 179). Über die ästhetische Zeichenhaftigkeit des Kunstwerks aber ist der Mensch verwiesen auf seine Teilhabe am allgemeinen menschlichen Sein. Das Ideal einer polyfunktionalen Selbstverwirklichung des Menschen gerät so zum Maßstab seiner individuellen Einstellung der Wirklichkeit gegenüber.

3. S TRUKTURALE ANALYSE VON R AUMSEMANTIKEN : J URIJ L OTMANS M ODELL DER G RENZE Konkreter auf die ästhetische Gestaltung des Raums bezogen findet sich das Modell einer strukturalen Analyse in Jurij Lotmans literaturwissenschaftlichen Arbeiten. In seinem einschlägigen Lehrbuch Zur Struktur literarischer Texte (orig. Struktura chudožestvennogo teksta = Struktur des künstlerischen Textes), das Ansätze strukturaler Textanalyse systematisiert, bezeichnet er Kunst und Literatur in einem an Mukařovský anschließenden Sinne als »sekundäre modellbildende Systeme«. Denn auch primäre modellbildende Systeme, »Weltbilder« einer Kultur, sind meist räum-

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lich aufgebaut: Wie Lotman konstatiert, »erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als eines des grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit« (Lotman 4 1993 [1972]: 313). Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines »Weltbildes« – eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist. Vor dem Hintergrund solcher Strukturen gewinnen dann auch die speziellen von diesem oder jenem Text oder einer Gruppe von Texten geschaffenen räumlichen Modelle ihre Bedeutsamkeit. (Ebd.)

Solche räumlichen Modelle der Welt und ihres Aufbaus konnotieren auch jeweils ein bestimmtes Ordnungs- und Normensystem, in dem z.B. ›oben‹ mit ›gut‹ und ›unten‹ mit ›schlecht‹ verbunden ist. Für den Aufbau narrativer Texte, an dem Lotman seine Überlegungen zum »Problem des künstlerischen Raums« weiter entwickelt,7 werden nun die Grenzen solcher semantischer Felder entscheidend, denn erst an ihnen bzw. in ihrer Überschreitung kann sich die für sujethafte Texte konstitutive Ereignishaftigkeit vollziehen, die Überschreitung der Verbotsgrenze durch eine Figur, mit der zugleich das primäre Ordnungssystem in Frage gestellt wird. Das sujetlose System ist also primär und kann in einem selbständigen Text zum Ausdruck kommen. Das Sujet-System dagegen ist sekundär und stellt immer eine Schicht dar, die die zugrundeliegende sujetlose Struktur überlagert. Dabei ist das Verhältnis der beiden Schichten zueinander immer konfliktgeladen: gerade das, was die sujetlose Struktur als unmöglich behauptet, macht den Inhalt des Sujets aus. Das Sujet ist ein »revolutionäres Element« im Verhältnis zum »Weltbild«. (Lotman 41993: 339)

Ähnlich wie Cassirer, für den der Modus des Ästhetischen in besonderem Maße dazu befähigt ist, auf die Vielförmigkeit zu verweisen, und ähnlich auch wie Mukařovský, für den die auf keinen konkreten Ausschnitt der Wirklichkeit gerichtete ästhetische Funktion implizit auf die dem Menschen gemäße Polyfunktionalität verweist, ist auch für Lotmans kultursemiotisch fundierte Analyse der Funktionsweise künstlerischer Texte in diesen ein Verweis auf die Vielfalt möglicher (semantischer) Ordnungssysteme enthalten: »Wissenschaftliche Wahrheit existiert in jeweils einem semantischen Feld, künstlerische gleichzeitig in mehreren, in deren Korrelation zueinander.« (Ebd.: 353) Mit seinem kulturtypologischen Ansatz betont Lotman die vielfältigen Bezüge, in denen künstlerische Texte zu ihrem jeweiligen kulturhistorischen Kontext stehen und die von Affirmation bis Subversion des bestehenden – meist

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Nämlich zum »Problem des Sujets«, wie das folgende Unterkapitel innerhalb des Teils »8. Die Komposition des Wortkunstwerks« heißt.

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räumlich gedachten – Ordnungssystems reichen, wobei ein künstlerischer Text auf verschiedenen Ebenen verschiedene »Geordnetheiten«8 realisieren kann. Die gleichzeitige Einbeziehung des künstlerischen Textes in viele sich gegenseitig überschneidende textexterne Strukturen, die gleichzeitige Zugehörigkeit jedes Textelements zu vielen Segmenten der textimmanenten Struktur – all das macht das Kunstwerk zum Träger vieler außerordentlich komplex untereinander korrelierender Bedeutungen. (Ebd.: 424)

In Lotmans textanalytischen Überlegungen ist sowohl die in Ereignishaftigkeit fundierte Sujethaftigkeit erzählender Texte, als auch das ihnen innewohnende kulturkritische Potential an eine Grenzüberschreitung semantischer Räume geknüpft. Dem liegt die epistemologisch-anthropologische Annahme zugrunde, dass Weltaneignung wie auch die Infragestellung üblicher Weltbilder primär über Raumvorstellungen funktioniert, wie Lotman es bereits in einem frühen Text (russ. 1969) formuliert hatte: Es ist eine der universellen Besonderheiten der menschlichen Kultur, die vielleicht mit den anthropologischen Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins zusammenhängt, dass das Weltbild unweigerlich die Merkmale einer räumlichen Charakteristik erhält. Die Konstruktion der Weltordnung selbst wird zwangsläufig auf der Grundlage irgendeiner räumlichen Struktur gedacht, die alle ihre anderen Ebenen organisiert. (Lotman 1974: 344f)

Ein Reflex dieser Grundannahme findet sich auch noch in seinem späteren Semiosphärenmodell, das ebenfalls metaphorisch mit dem Begriff der Grenze operiert. Das in literarischen Texten als konstitutiv für Sujetbildung beschriebene Ereignis der Grenzüberschreitung wird hier in einer nun auf größere kulturelle Prozesse gerichteten Perspektive zum kulturgenerierenden Faktor.

4. Z UR D YNAMIK VON Z ENTRUM UND P ERIPHERIE : J URIJ L OTMANS S EMIOSPHÄREN -M ODELL Die im vorigen Abschnitt behandelte, relativ frühe, gleichwohl kanonische literaturwissenschaftliche Arbeit Lotmans zur Raumsemantik ist zweifelsohne ein wichtiger Teil seines theoretischen Denkens, zumal die Beschäftigung mit literarischen Texten auch weiter zentral für seine Arbeitsweise bleibt.9 Für eine kulturwissenschaftliche 8

»Ein künstlerischer Text stellt ein komplexes System dar, das als Kombination allgemeiner und spezieller Geordnetheiten verschiedener Ebenen gebaut ist.« (Lotman 41993: 354)

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In der von Stephan Günzel und Jörg Dünne 2008 herausgegebenen und inzwischen bereits in zweiter Auflage erschienenen Anthologie mit Grundlagentexten aus Philosophie und

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Herangehensweise an Phänomene, die sich im Raum manifestieren, dürften Lotmans spätere kultursemiotische Arbeiten zur Semiosphäre aber mindestens genauso relevant sein.10 Ich werde mich im Folgenden insbesondere auf die Ausführungen zum Modell der »Semiosphäre« in Die Innenwelt des Denkens11 beziehen, in dem sich Lotmans kultursemiotische Arbeiten bündeln, um abschließend einige Überlegungen anzustellen, ob und wie dieses Modell auf die hier in Rede stehende Prager Situation anwendbar ist. 4.1 Lotmans Modell der Semiosphäre Mit der Semiosphäre formuliert Lotman eine Theorie des semiotischen Raums, um die Komplexität von Kommunikation adäquat erfassen zu können. Explizit hebt er sich damit von Kommunikationsmodellen ab, die lediglich die Instanzen Sender, Empfänger und Verbindungskanal berücksichtigen. Um zu funktionieren, müsse eine solche Anordnung von einem semiotischen Raum umgeben sein, der die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation ist. Denn: Paradoxerweise muss […] jedem semiotischen Akt bereits eine semiotische Erfahrung vorausgehen. Wenn man analog zu Vladimir Vernadskijs Konzept der Biosphäre auch eine Semiosphäre definiert, dann wird klar, dass dieser semiotische Raum nicht die Summe aus einzelnen Sprachen ist, sondern gewissermaßen die Bedingung dafür, dass diese Sprachen überhaupt existieren und funktionieren; er geht ihnen voraus und steht in ständiger Wechselwirkung mit ihnen. (Lotman 2010a: 163f.)

Unter Sprachen versteht Lotman hier sowohl natürliche Sprachen, als auch sämtliche anderen Formen von Codierungen (wie etwa Mode, Architektur, Jargons), von denen Kulturwissenschaften zur Raumtheorie ist denn auch dieser Ausschnitt zu »Künstlerischem Raum, Sujet und Figur« aufgeführt. 10 Inzwischen liegen die wichtigen späten Arbeiten Lotmans auch auf Deutsch vor: Die Innenwelt des Denkens und Kultur und Explosion, beide Berlin 2010. 11 Der russische Originaltitel lautet Vnutri mysljaščich mirov (eigentlich: Im Inneren denkender Welten). Das Buch erschien allerdings zunächst 1990 auf Englisch unter dem Titel The universe of the mind und 1996 dann auch auf Russisch. Der 1990 in der Zeitschrift für Semiotik in deutscher Übersetzung publizierte Aufsatz »Über die Semiosphäre« ist in das entsprechend betitelte Kapitel eingegangen, dort allerdings bezeichnenderweise erweitert um kulturtypologische Überlegungen und vielfach literarische Beispiele. Die Herausgeber/innen von Die Innenwelt des Denkens weisen in ihrem Nachwort auf die häufig »verkürzte westliche Rezeption« hin, die genau diese »Verbindung zwischen räumlichen und kulturtypologischen Merkmalen« zumeist nicht adäquat erfasste (vgl. Frank/Ruhe/Schmitz 2010: 386).

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»der semiotische Raum einer Kultur« geprägt ist. Auch hier ist wieder der Gedanke der Wechselwirkung entscheidend: Gleichzeitig vollzieht sich im gesamten Raum der Semiosphäre […] auch eine ständige Erneuerung des Codes. Damit ist jede einzelne Sprache umgeben von einem semiotischen Raum, und nur kraft ihrer Wechselwirkung mit diesem Raum kann sie funktionieren. Der kleinste Funktionsmechanismus der Semiose, ihre Maßeinheit, ist nicht die einzelne Sprache, sondern der gesamte semiotische Raum einer Kultur. Ebendiesen Raum bezeichnen wir als Semiosphäre. […] [Sie ist] zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur. (Ebd.: 165)

Die Semiosphäre ist in Lotmans Modell damit Gedächtnisspeicher und Informationsgenerator gleichermaßen. Letzteres ist sie insbesondere aufgrund der Asymmetrien, die immer in ihr anzutreffen sind: Denn da die Semiosphäre nicht als der Raum einer homogenen Sprache gedacht ist, sondern als ein stets von mehreren Sprachen durchzogener, kommt es beständig zu Übersetzungsprozessen zwischen den einzelnen Sprachen. Weil diese Übersetzungen nun immer in mehr oder weniger großem Maße inadäquate Momente enthalten werden, generieren sie zugleich einen Mehrwert an Information. Denn Informationen können niemals eins zu eins von einer Sprache in eine andere übertragen werden: Treffen sie in der Zielsprache auf andere, neue Kontexte, so treten sie mit diesen in Wechselwirkung und es entstehen neue Bedeutungsmöglichkeiten: »Da der semiotische Raum von zahlreichen Grenzen durchzogen ist, muss jede Mitteilung, die in ihm zirkuliert, immer wieder neu übersetzt und transformiert werden, und dabei wird lawinenartig immer neue Information generiert.« (Ebd.: 187) Der Dynamik erzeugenden Asymmetrie steht zwar durchaus als Gegenpart die Tendenz jeden semiotischen Systems zu Selbstorganisation und -beschreibung gegenüber. Lotman lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass er in diesen Tendenzen zu Unifizierung, die in er in dem am höchsten organisierten und strukturierten Zentrum einer Semiosphäre ansiedelt, die Gefahr der Erstarrung sieht. Deutlich gilt seine Präferenz der Peripherie der Semiosphäre, jenen Rändern, an denen weniger organisierte und weniger bestimmte semiotische Praktiken anzutreffen sind, an denen es zur Konfrontation mit anderen semiotischen Systemen sowie zu Übersetzungsprozessen in und aus diesen kommt, in deren Verlauf semiotischer Mehrwert entsteht. Gerade die Begegnung und der Umgang mit heterogenen Codes und heterogenen Normen erhöht für ihn die Flexibilität eines semiotischen Systems. Die Bereiche der Semiosphäre, die im Zentrum des kulturellen Raums liegen und die Ebene der Selbstbeschreibung erreichen, werden dadurch straff organisiert und beginnen sich selbst zu regulieren. Gleichzeitig verlieren sie aber ihren dynamischen Charakter, sie erschöpfen ihren Vorrat an Unbestimmtheit und werden starr und entwicklungsunfähig. An der Peripherie – je weiter vom Zentrum, desto deutlicher – wird das Verhältnis zwischen der semiotischen Praxis

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und der ihr aufgezwungenen Norm immer konfliktträchtiger. Die normgerechten Texte hängen ohne reales semiotisches Umfeld in der Luft, und die Werke, die aus der realen semiotischen Umgebung hervorgehen, treten in Widerspruch zu der künstlichen Norm. Dies ist das Gebiet der semiotischen Dynamik. Hier entsteht das Spannungsfeld, in dem künftige Sprachen sich entwickeln. (Ebd.: 178)

Aus diesem Grund sind für Lotman »semiotische Prozesse im Grenzbereich der Semiosphäre intensiver«, da »in diesen Bereich ständig Einflüsse von außen eindringen« (ebd.: 189). Die Übersetzungen fungieren dabei einerseits als Prozesse der Aneignung und Domestizierung des Fremden, Anderen und stören andererseits zugleich immer das Gefüge des eigenen Codes und der eigenen Normen auf. Dieser Punkt wird anhand von Lotmans Ausführungen zur Grenze deutlich: Einerseits dient die Grenze in ganz klassischer Manier zur Abgrenzung des »Eigenen« vom »Fremden«, womit sie die Einheit des von ihr Umschlossenen verbürgt und zugleich der Strukturierung des Außenraums als dem »anderen« dient. Andererseits dient sie nicht nur der Abschottung, sondern vielmehr dem Austausch. Lotman resümiert: Die Brennpunkte der semiotisierenden [semioobrazovatel’nye] Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache »unserer eigenen« Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das »Äußere« zum »Inneren« wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren. (Ebd.: 182)

Lotman bringt an dieser Stelle ein Beispiel für die Widersprüchlichkeit der Grenzsituation: In der Kiever Rusʼ wurden die »sesshaft gewordenen Nomaden, die an den Rändern des russischen Gebiets siedelten und im Bündnis mit den russischen Fürsten Feldzüge gegen ihre nomadisierenden Stammesgenossen unternahmen«, »naši pogany« genannt, wobei ›naši‹ ›unsere‹ und ›poganyj‹ in der ursprünglichen Bedeutung ›heidnisch, fremd, falsch und ungläubig‹ heißt (vgl. ebd.: 182). Ähnlich bezeichneten die tschechischen Prager die deutschsprachigen Bewohner Prags gern als »naši němci«, also »unsere Deutschen«. Hier spiegelt sich genau jenes ambivalente Verhältnis von Abgrenzung und Vereinnahmung, Fremdem und Eigenem, das Lotman bei den semiotischen Austauschprozessen an der Grenze zweier Semiosphären beschreibt.

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4.2 Zum Verhältnis von Raumtheorie und Semiotik bei Lotman Die Bezugnahme auf den Raum, die Lotmans Semiosphären-Modell eingeschrieben ist, verleiht ihm für die Kulturwissenschaften im Zeichen des spatial turn eine verführerische, aber auch irreführende Attraktivität. Denn gerade auf die Situation von Imperien mit einem die Norm prägenden Zentrum und einer weniger strukturierten, dafür vom vielschichtigen Kontakt mit anderen angrenzenden Kulturen geprägten Peripherie scheint das Modell auch räumlich direkt übertragbar. Lotman leistet dem durchaus Vorschub, wenn er klassische Beispiele aus der Geschichte von Imperien anführt: das römische Reich mit seinen Kontaktzonen zu den sog. Barbaren bzw. die östliche, sibirische Grenze des russischen Imperiums, die keine starre Grenze war, sondern eine in ständiger Dynamik begriffene Kontaktzone zwischen normierender Zentralmacht und indigenen Kulturen mit ihrem je eigenen Code. Nimmt man diese Hinweise allzu wörtlich, verfehlt man allerdings den Kern von Lotmans in erster Linie eben semiotischer und nicht raumtheoretischer Argumentation.12 Lotman nimmt aus heuristischen Gründen Bezug auf den Raum:13 Denn er hält es für eine anthropologische Konstante, dass wir uns ein räumliches Bild von der uns umgebenden Welt machen. Auch sein Modell ist ein solches räumliches Bild, zugleich aber ist es ein Instrument, mit dem die räumlichen Bilder, die Kulturen von sich selbst entwerfen, beschreibbar und in Folge analysierbar werden sollen. Das zweite heuristische Instrument, das Lotman anwendet und mit dem er die Dimension der Zeit einholt, ist ein synchroner Schnitt durch die Semiosphäre. Die Diachronie ist dabei deshalb mitberücksichtigt, weil wir nach Lotmans Überzeugung 12 Prominent hat in letzter Zeit Albrecht Koschorke in seinen Grundzügen einer allgemeinen Erzähltheorie (2012) für eine »Wiederanknüpfung an Lotman« (ebd.: 128) plädiert. Wenn er dabei allerdings, statt Lotmans Begriff der Semiosphäre zu übernehmen, weil dieser für ihn »insofern einen problematischen Beiklang [hat], als er sich in die Linie eines holistischen Denkens stellt und dabei auch an körperschaftliche Vorstellungen anknüpft«, vorschlägt, »im Plural von kulturellen Feldern zu sprechen« (ebd.: 119), verkürzt er die in der Kultursemiotik liegende Verbindung von Kultur- und Zeichentheorie gerade um die Zeichendimension und folgt allein der Raummetaphorik. 13 »Die Semiotik des Raums ist von größter, wenn nicht entscheidender Bedeutung für das Weltbild einer Kultur. Der Charakter dieses Weltbilds hängt mit den Eigenschaften des Raums selbst zusammen. Um das Leben zu meistern, muss eine Kultur sich zwangsläufig zunächst ein Bild von der Welt machen, ein räumliches Modell des Universums. In diesem Fall rekonstruiert das räumliche Modell die ebenfalls räumliche Gestalt der realen Welt. Jedoch können räumliche Bilder [obraz] auch anders verwendet werden. […] So kann man etwa einen ethischen, einen mythischen, einen Farbenraum usw. beschreiben. Das räumliche Modell wird also zu einer Sprache, in der sich nicht-räumliche Vorstellungen ausdrücken lassen.« (Lotman 2010a: 202)

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bei einem solchen Schnitt immer ein Bild von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erhalten werden: In jedem synchronen Schnitt durch die Semiosphäre treffen somit verschiedene Sprachen in verschiedenen Entwicklungsstadien aufeinander, und bestimmte Texte stehen in einem ihnen fremden sprachlichen Kontext, in dem die Codes, mit denen sie dechiffriert werden könnten, gar nicht vorhanden sind. (Lotman 2010a: 168) Ein aufmerksamer Historiker findet in praktisch jedem synchronen Querschnitt einer Kultur nicht ein einziges System kanonisierender Normen, sondern ein ganzes Paradigma konkurrierender Systeme. (Ebd.: 179)

Nicht nur an der Grenze einer kulturellen Einheit also treffen – sozusagen im kleinen Grenzverkehr – verschiedene Codes aufeinander; Lotmans Modell ist noch dynamischer: Auch innerhalb jeder Semiosphäre findet er zahlreiche Binnengrenzen,14 auch hier laufen ständig Übersetzungsprozesse ab, etwa zwischen älteren und jüngeren Codierungen, die sich samt ihrer jeweiligen axiologischen Konnotationen auf denselben Gegenstand beziehen können. Lotman verdeutlicht dies anhand der widerstreitenden Konnotationen, mit denen Petersburg in der russischen Kulturgeschichte je nach ideologischem Standpunkt belegt wurde und die zu einer äußerst »komplizierten Verflechtung von Eigenem und Fremden in der Semiotik Petersburgs« (ebd.: 288) führten. 4.3 Das Semiosphären-Modell in Bezug auf Prag Was aber bedeutet es, den semiotischen Aspekt in Lotmans Modell vor dem Raumbezug zu betonen, für den hier in Rede stehenden konkreten Fall, also für das Prag der Jahrhundertwende und des beginnenden 20. Jahrhunderts? Wollte man die räumliche Metaphorik allzu wörtlich nehmen, würde man sich in eine Reihe von Schwierigkeiten begeben. Was wäre hier Zentrum: Prag selbst, oder doch Wien oder wahlweise Berlin oder gar Paris? Und was wäre Peripherie: Prag, wegen der offensichtlichen Überlagerung verschiedener Codierungen? Aber kann das für Deutsche und

14 »Faktisch ist der gesamte Raum der Semiosphäre von Grenzen unterschiedlicher Niveaus durchzogen, den Grenzen einzelner Sprachen und sogar Texte, und der Innenraum jeder dieser Sub-Semiosphären hat sein eigenes semiotisches ›Ich‹, das sich als Verhältnis einer Sprache, einer Gruppe von Texten oder eines einzelnen Texts (dabei sind Sprachen und Texte auf verschiedenen hierarchischen Ebenen angesiedelt) zu einem sie beschreibenden metastrukturellen Raum realisiert. Diese Binnengrenzen, die die Semiosphäre durchziehen, erzeugen ein mehrstufiges System.« (Lotman 2010a: 184)

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Tschechen gleichermaßen gelten? Könnte Prag für Wien- oder Berlin-orientierte Deutsche Peripherie und für national orientierte Tschechen Zentrum sein? Eine solche direkte räumliche Identifizierung erweist sich als unmöglich. Gewinnbringender scheint ein Anschluss an Lotmans Überlegungen zur Grenze und zu den an der Grenze stattfindenden Übersetzungsprozessen, die stets einen Mehrwert an Information produzieren. Denn jenseits von Deleuze und Guattaris (1975) Verweis auf die deutschböhmische als kleine Literatur ließe sich so eine Erklärung für die unbestreitbare enorme kulturelle Produktivität dieses vielschichtigen kulturellen Raumes finden, der zwangsläufig von beständigen Übersetzungsprozessen durchzogen war. Übersetzung ist dabei dann nicht in einem harmonisierenden Sinne als Vermittlung zu verstehen, sondern schließt konfliktträchtige Formen der Auseinandersetzung ebenso ein wie usurpierende oder auch anerkennende. Übersetzung im Lotman’schen Sinne ist eine geradezu zwangsläufige Folge des Aufeinandertreffens mehrerer semiotischer Systeme. Gerade weil der Transfer aus der einen Sprache in die andere in der Mehrzahl der Fälle eben nicht glückt bzw. gar nicht vollständig glücken kann, entfalten diese Übersetzungsprozesse eine besonders hohe semiotische Aktivität, produzieren in erhöhtem Maße jenen Mehrwert an Information, von dem Lotman spricht und der ihn besonders interessiert. Den Wert des Dialogs macht nicht jener sich überschneidende Teil [des sprachlichen Raums] aus, sondern die Übermittlung von Informationen zwischen den sich nicht überschneidenden Teilen. Das stellt uns vor einen unlösbaren Widerspruch: Uns interessiert gerade die Kommunikation mit jenem Bereich, der die Kommunikation erschwert – und sie im äußersten Fall verunmöglicht. Mehr noch, je schwieriger und inadäquater die Übersetzung eines sich nicht überschneidenden Raums in die Sprache des anderen ist, desto wertvoller wird die Tatsache dieser paradoxen Kommunikation in informativer und sozialer Hinsicht. Man kann sagen, die Übersetzung des Nicht-Übersetzbaren ist Träger hochwertiger Information. (Lotman 2010b: 13)

Es ist nicht zuletzt das axiologische Moment jeder Semiose, das den Prozess der Übersetzung beeinträchtigt, aber auch zu jenem von Lotman so hervorgehobenen Mehrwert an Information führt. So kann mit der Stadt Prag im einen (deutschsprachigen) kulturellen Code Provinzialität15 verbunden sein, im anderen (tschechischnationalideologischen) Zentralität. Schon deshalb ist das Modell der Semiosphäre nicht einfach räumlich umsetzbar: Prag als Ort ist weder Peripherie noch Zentrum in einem essentialistischen Sinne, als Zeichen in verschiedenen kulturellen Semiosphären aber kann es je unterschiedliche Wertungen codieren. Genau solch eine immer 15 So ein häufig genannter Grund in der von der Deutschen Zeitung Bohemia durchgeführten Umfrage »Warum haben Sie Prag verlassen?« (Nr. 124/ XCV [28. 05.], S. 3-4), auf die Krolop (1966) hingewiesen hat.

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relationale Betrachtung, wie sie für strukturalistische Ansätze charakteristisch ist, klagt Stephan Günzel, wie eingangs erwähnt, für einen methodisch reflektierten kulturwissenschaftlichen Umgang mit Raum ein und verwendet hierfür programmatisch den Begriff Topologie16: »Entscheidend für die Beschreibung ist aber nicht der Ort, sondern dass die Artikulation erfolgt. Anders gesagt: Der Ort ist zwar im Raum, aber seine Bedeutung besteht darin, dass er in einer Hier-Dort-Relation eingebunden ist.« (Günzel 22009: 229) Tatsächlich berücksichtigen gerade die strukturalistisch geprägten Raumtheorien der Kultursemiotik, die eben mehr als Raumtheorien sind, diesen Aspekt der Relationalität und Validierung schon je, da er Bestandteil jedes »semiotisierenden Prozesses« (s.o., Lotman 2010a: 182) ist.

5. P RAG -B EZÜGE IN DER LITERARISCHEN M ODERNE DER J AHRHUNDERTWENDE : E XEMPLARISCHE Ü BERLEGUNGEN Im Zusammenhang mit dem innerhalb der Kultursemiotik vor allem von Toporov (1984; 2003) vertretenen Theorem vom Petersburger Text17 stehen auch bei Lotman Arbeiten zu literarischen Petersburg-Texten.18 Lotmans Analysen fokussieren dabei auf ihre Umgangsweise mit der von Anfang an ambivalenten Codierung Petersburgs, dessen Gründung von proeuropäisch eingestellten Westlern positiv als Kulturleistung konnotiert wird und von den Slavophilen negativ als kulturloser Traditionsbruch.

16 Mit dieser Begriffsverwendung bezieht Günzel (22009: 225) sich auf das »zweite Kriterium: das Lokale oder die Position« aus Deleuzeʼ Bestimmung des Strukturalismus: »Die Elemente einer Struktur haben weder eine äußere Bezeichnung noch eine innere Bedeutung. Was bleibt? Wie Lévi-Strauss nachdrücklich in Erinnerung ruft, haben sie nichts anderes als einen Sinn: einen Sinn, der sich notwendig und einzig aus der ›Position‹ ergibt. Was struktural ist, ist der Raum, aber ein ausgedehnter, präextensiver Raum, reines spatium, das sich nach und nach als Ordnung der Nachbarschaft herausgebildet hat und in dem der Begriff der Nachbarschaft zunächst einen ordinalen Sinn hat und nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung.« (Deleuze 2003: 253) 17 Im Anschluss an diese Arbeiten aus der Kultursemiotik zum Petersburger Text hat Susanne Fritz (2005) versucht, einen »Prager Text« zu rekonstruieren. Abgesehen von der Beschränkung auf deutschsprachige Texte ist an ihrer Herangehensweise allerdings problematisch, dass sie allzu summierend verfährt, wenn sie anhand einzelner literarischer Texte nachvollzieht, wie diese jeweils den Prager Raum codiert haben, und versucht, daraus ein Gesamtbild abzuleiten. 18 Vgl. innerhalb der Arbeit über »Die Semiosphäre« den Abschnitt »Die Symbolik Petersburgs« (Lotman 2010a: 269-288).

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Sein besonderes Augenmerk gilt auch hier Übersetzungsprozessen, wenn für den einen Code signifikante Petersburg-Symbole im anderen anders gedeutet werden, oftmals in ihr Gegenteil verkehrt werden und dabei doch etwas von ihrer ursprünglichen Bedeutung im System des anderen Codes behalten und in den anderen Code mittransportieren, dessen Geschlossenheit sie damit aufstören. Auch in diesem Zusammenhang ist also nicht zu fragen, ob das Prag der Jahrhundertwende und des beginnenden 20. Jahrhunderts Zentrum oder Peripherie war, sondern in welchen kulturellen Zeichensystemen es als Zentrum codiert wurde und in welchen als Peripherie und zu welchen Übersetzungsprozessen es zwischen diesen unterschiedlichen Codierungen kam. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Semiosphären müssen dann keineswegs entlang der nationalen Zugehörigkeit der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften verlaufen. Nicht alle Deutschen also werden Prag mit der Bedeutung provinzieller Peripherie belegen, nicht alle Tschechen mit der nationaler Zentralität. Gerade literarische Texte liefern Beispiele für derartige Verschiebungen in der Semiotik Prags, sie unterlaufen und variieren die üblichen Zuschreibungen, entwerfen den Raum in dem von Cassirer beschriebenen Sinne im Modus des Ästhetischen neu bzw. bringen – mit Mukařovský gesprochen – eine ästhetische Haltung des Subjekts zur Geltung, in der mit dem Verweis auf die Vielfältigkeit der Wirklichkeit als Ganzer jene Partikularität überschritten wird, die Bedeutungs- und Ordnungssystemen stets anhaftet. Wie solche jeweils historisch gegebenen Normensysteme in literarischen Texten tendenziell unterlaufen und umcodiert werden, hat Lotman im Modell des semantischen Raums anhand narrativer Texte durchbuchstabiert. Im Anschluss daran und auch in Verbindung mit Foucaults Heterotopie-Modell ist, wie Lüdeke (2006: 459f.) bemerkt, immer wieder die Frage aufgekommen, »ob ästhetische Diskurse womöglich spezifische Spiel-Räume eröffnen, die sich den lebensweltlichen Raummodellen, auf die sie Bezug nehmen, widersetzen und inwieweit den literarisch funktionalisierten Raumrepräsentationen ein besonderes transgressives oder reflexives Potential […] zuzugestehen ist.« Es ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, dass auch Derrida seine Dekonstruktion als eine nicht nur im metaphorischen Sinne räumliche Praxis entwirft. In einem seiner Hauptbegriffe, der différance, sind im Rückgriff auf die Grundbedeutung des lateinischen differre zeitliches Aufschieben und räumliches Verschieben enthalten: »Différance als Temporisation, différance als Verräumlichung.« (Derrida 1976 [orig. frz. 1972]: 37) Gegen das Denken der Präsenz, das sich für ihn in einer weit verbreiteten Präferierung der Stimme manifestiert, bevorzugt Derrida die Schrift, allerdings als stets vorläufiges Supplement, als Markierung einer »Ent-Ortung«19. In seinen Lektüren nicht zuletzt literarischer Texte der Moderne spürt er 19 »Diese Verschiebung findet nicht statt (n’a pas lieu), hat nicht einmal stattgefunden, so wie ein Ereignis. Sie hat keinen einfachen Ort (lieu). In einer Schrift findet sie nicht

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dann Praktiken der Verräumlichung (espacement) nach. Bezogen auf Mallarmé beschreibt er diese Lektürepraxis, die eine vom Text vollzogene Praktik aufspürt, folgendermaßen: Den Buchstaben, das, was das Räumliche durch Falten, Rückfaltungen, Entfaltungen, Expansionen aus ihm zieht, ihn müssen wir uns jetzt anschauen, beschauen, mit anderen Worten: seine Zeichnung nachziehen. Wir müssen die Struktur der mallarméschen Verräumlichung bestimmen, ihre Effekte berechnen und daraus die kritischen Konsequenzen ziehen. (Derrida 1995: 265)

In Derridas Impuls, in einer paradigmatisch auf literarische Texte, und zwar vorzugsweise solche der Moderne, gerichteten Praxis der Dekonstruktion nachzuzeichnen, wo diese festgefügte Ordnungssysteme unterlaufen und ins Wanken bringen, liegt eine Affinität seines Ansatzes noch zu der Sonderstellung, die dem ästhetischen Modus menschlichen Weltbezugs bei Cassirer und Mukařovský zukommt.20 Ihr Grundgedanke, gerade im ästhetischen Modus lasse sich der Verweis auf die Vielfalt möglicher Weltbezüge realisieren, findet in Lotmans Modell ein Echo in der Vorstellung, künstlerische Texte bezögen ihre Kraft gerade daraus, dass sie sich in Widerspruch zu vorherrschenden Weltmodellen begeben.21

statt/hat sie keinen Ort. Diese Ent-Ortung (ist das, was sich) schreibt. Für diese Verdopplung der Markierung, die gleichzeitig ein formaler Bruch und eine formale Verallgemeinerung ist, wären Mallarmés Text und ganz besonders das »Blatt«, das Sie vor Augen haben, exemplarisch (doch selbstverständlich muß jedes Wort dieser letzten Behauptung im selben Schlag verschoben oder unter Verdacht gestellt werden).« (Derrida 1995: 215) Das »Blatt«, auf das hier verwiesen wird, hatten alle Teilnehmer der zwei titelgebenden Zusammenkünfte (»Die zweifache Séance«) des Groupe d’Études théoretiques erhalten. Es gab einen Auszug aus Platons Philebos und Mallarmés Mimique wieder (vgl. die dem Text vorangestellte Anmerkung der Redaktion, ebd.: 193). 20 Auf Parallelen zwischen der »Kunstauffassung des Prager Strukturalismus und der Dekonstruktion« hat Petříček (1991) hingewiesen. Sie lassen sich insbesondere an dem Konzept der Unabsichtlichkeit in Mukařovskýs später strukturaler Ästhetik festmachen. Vgl. dazu Jankovič (1999) und Wutsdorff (2006: 198-245). 21 In diesem Zusammenhang bezieht Lotman sich direkt auf Mukařovský: »Der Begriff der Kraft oder der Energie künstlerischer Strukturen, vom Leser immer wieder empfunden und oft in Rezensionen zu finden, wird in Literaturtheorien nicht erwähnt. So, wie wir ihn verstehen […], steht er dem nahe, was bei Ju.N. Tynjanov und einigen tschechischen Gelehrten – J. Mukařovský und seinen Schülern – ›Funktion‹ genannt wird.« (Lotman 41993: 277) Allerdings leitet Lotman daraus an dieser Stelle vorwiegend Schlüsse für den entwicklungsgeschichtlichen Wert einzelner Texte ab (vgl. ebd.: 285f.).

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Angedeutet seien derartige Verschiebungen, Brüche und Transgressionen hier an zwei Fallbeispielen der ästhetischen Moderne um die Jahrhundertwende: auf der deutschsprachigen Seite Rainer Maria Rilke mit seinen Zwei Prager Geschichten und auf der tschechischsprachigen Jiří Karásek ze Lvovic.22 Bei diesem Vertreter der tschechischen Dekadenz treffen in exemplarischer Weise nicht nur in synchroner Hinsicht heterogene, deutsche und tschechische, Codes aufeinander, sondern auch in diachroner Hinsicht heterogene, vorwiegend tschechische. Karásek situiert sich auf einer intellektuellen Landkarte – das hat Katherine David-Fox (2004) in ihrer Studie zur »verborgenen Geographie des tschechischen Modernismus« sehr überzeugend herausgearbeitet – nicht so sehr in Prag als vielmehr mit Orientierung nach Wien und Berlin als Zentren der europäischen Moderne. Innerhalb des Moderne-Verständnisses, das er mit Procházka und dem in Berlin residierenden polnischstämmigen Przybyszewski teilt, wird dann allerdings Prag paradoxerweise wieder zu einem Zentrum, weil dort in idealer Weise die Prinzipien der Dekadenz (von Karásek und Procházka in ihren publizistischen Aktivitäten) verwirklicht werden. Gerade über die Abwertung Prags, mit der sich die Akteure der Dekadenz gegen den im 19. Jh. vorherrschenden Code der nationalen Erneuerung stellen, kann Prag zu einer neuen Zentralität finden, die aber – dem Code der Dekadenz und des Nihilismus folgend – allein ex negativo definiert wird. Folgt man Vladimír Macuras (1994 [orig. tsch. 1992]) von Lotman inspirierten kultursemiotischen Studien zur tschechischen Kultur und ihren Selbstbeschreibungsmodellen, ist die vergleichsweise stark ausgeprägte Phase der Dekadenz in der tschechischen Literatur, in der das Ästhetische in den Vordergrund rückt, zu sehen als eine späte Folge jenes nicht selbstverständlichen, künstlichen, scheinhaften Zuges, der das nationale Bewusstsein seit der Zeit der Wiedergeburt als Paradox begleitet hatte: Die tschechische Kultur stellt sich mit der Geste der Bezweiflung, gar der Leugnung ihrer Existenz fest auf die eigenen Füße. […] Die Kultur der Wiedergeburt, wie sie sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, stellte sich aufgrund ihrer Künstlichkeit und der ihr aufgezwungenen Inauthentizität unter der Oberfläche der Normalität als ›Nichtsein‹ dar, als ein zum großen Teil illusionäres, zu einer Scheinrealität verurteiltes kulturelles Gebilde. […] Gerade der Höhepunkt der Emanzipation der tschechischen Kultur von der Vorstellungswelt der Wiedergeburt wird bestimmt von dieser Erfahrung der ›Nichtexistenz‹, von dem Bewußtsein, daß eben dieses ›Nichtsein‹ ein wesentlicher Aspekt der tschechischen Eigenart und im Grunde auch eine Ästhetisierung dieser Qualität sei. Die emanzipatorische Geste wird – bildlich gesprochen – zum Bekenntnis zum Nichtsein. (Macura 1994: 282)

22 Vgl. zu Rilke den Beitrag von Lena Zschunke in diesem Band sowie Zusi (2006), zu Karásek ze Lvovic u.a. den Beitrag von Marek Nekula in diesem Band, zu Rilke und Karásek auch den Beitrag von Georg Escher in diesem Band..

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Unter diesen Voraussetzungen sei es offensichtlich, dass die tschechische Kultur sich mit den Empfindungen der Dekadenz habe identifizieren müssen, ja, die tschechische Situation als den richtigen Schlüssel zu der umfassenden (europäischen) zeitgenössischen Stimmung habe wahrnehmen müssen (ebd.: 283). In Karáseks Gotická duše (1900, Die gotische Seele) wird diese Abkehr von der allgemein erwarteten tschechisch-nationalen Identifizierung deutlich. Ihr wird eine kosmopolitische Ausrichtung entgegengehalten, die sich eben nicht am Tschechischen, sondern am Deutschen und Französischen orientiert. Tschechentum – so wird hier jener tschechische Nationaltopos der (Selbst-)Erniedrigung überboten, der sich an der Niederlage am Weißen Berg festmacht – lässt sich nur noch ex negativo als Hort des Nihilismus definieren. Myslil často nyní na souvislost s prostředím. Hledal vysvětlení své nemohoucnosti ve svém češství. Je vůbec český jeho duševní svět? Myslí německy a francouzsky. Zajímá se o Francouze a Němce. Cítí, dýchá a žije germánsky a galsky. (Karásek 1991: 34) Je ze zbabělé kasty, která cítila po několik věků cizí nohu na zádech… To bylo jeho češství… Nihilismus, ano nihilismus jest jediná možná filozofie tohoto lidu. Nihilismus, jenž je morálkou otrokovou, filozofií páriů. A zatímco v krvi jiných národů víří pýcha, výbojnost, u této degenerované rasy jest jediný převládající pocit: zbabělost a naprostá nedůvěra ke všemu. A předem k životu… (Ebd.: 37) Er dachte jetzt häufig an den Zusammenhang mit der Umgebung. Er suchte eine Erklärung für seine Ohnmacht in seinem Tschechentum. Ist seine geistige Welt überhaupt tschechisch? Er denkt deutsch und französisch. Er interessiert sich für die Franzosen und Deutschen. Er fühlt, atmet und lebt germanisch und gallisch. Er ist aus einer feigen Kaste, die mehrere Jahrhunderte lang einen fremden Fuß auf dem Hintern zu spüren bekommen hatte… Das war sein Tschechentum… Nihilismus, ja Nihilismus ist die einzige mögliche Philosophie dieses Volkes. Nihilismus, der eine Sklavenmoral, eine Parierphilosophie ist. Und während im Blut anderer Völker Stolz, Kampfesmut brodelt, ist bei dieser degenerierten Rasse das einzige vorherrschende Gefühl: Feigheit und ein völliges Misstrauen allem gegenüber. Und vor allem dem Leben gegenüber… (Übers. I.W.)

Einzig und dezidiert im Modus des Ästhetischen wird in einer mehrfach paradoxen Bewegung der derart verneinte Ort hier als Zentrum entworfen, als Zentrum eines auf der Höhe der Zeit stehenden und über den Ort hinaus gültigen nihilistischen Lebensgefühls, das doch gespeist wird aus den spezifischen kulturellen Konnotationen eben jenes Ortes bzw. aus der affirmativen Umkehrung dieser Konnotationen. Ebenfalls ganz im Modus des Ästhetischen realisiert der Protagonist von Rilkes gleichnamiger »Prager Geschichte« (1899), König Bohusch, ein »kleiner, unförmiger

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Mann« mit »unförmigem Kopfe« (Rilke 1996: 151), mit schwacher Stimme (ebd.: 154) und Artikulationsschwierigkeiten seine scheinbar naiven Gedankenspiele und Traumlandschaften: Und so schwieg er, preßte die Lippen, die wie aus Holz geschnitzt waren, eng aneinander und begann, wie oft als Kind, still für sich mit den vielen goldenen Gedanken zu spielen, ganze Berge und Burgen zu bauen, aus deren schlanken Säulenfenstern seine Träume ihn grüßten. (Ebd.: 154)

Im Kontrast zu dem tschechischen Studenten Rezek, der seine genauen Kenntnisse des unterirdischen Prag für seine terroristischen und damit zerstörerischen Untergrundaktivitäten nutzen will, setzt Bohusch auf die schöpferische Kraft des Erzählens, mit dem die realen Gebäude der Stadt um lebendige Geschichten ergänzt werden. »Ich meine, – sehen Sie, ich kenne mein Mütterchen Prag bis ins Herz, ja, und mir hat nie ein Dichter davon was gesagt. Man muß nur groß werden mitten unter diesen Kirchen und Palästen. Die brauchen, weiß Gott, keinen, der für sie spricht, die sprechen selbst, meinʼ ich. Wenn man nur hören mag. Oh, was die für Geschichten wissen. Lieber, ich will Ihnen einmal einige erzählen, ja? Oder noch besser: Sie sollen meine Mutter davon reden hören.« (Ebd.: 162)

Es ist eine bewusst ästhetische, bewusst andere Topographie Prags, die bei Karásek bzw. Rilke, einmal im Gestus des Nihilismus, einmal im Gestus scheinbarer Naivität entworfen wird. Die phänomenologisch und strukturalistisch geprägten Ansätze, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts von Theoretikern wie Cassirer, Mukařovský und Lotman erarbeitet wurden, zielen darauf, das Potential, das solchen ästhetischen Raumentwürfen eignet, zu reflektieren und zu erschließen.

L ITERATUR Cassirer, Ernst (2001/02): Philosophie der symbolischen Formen [1923/29]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. XI-XIII. Hamburg. Cassirer, Ernst (2004 [1931]): Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. XVII. Hamburg, S. 411432. [zuerst in: Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), S. 21-36 und 50-54 (Aussprache).] David-Fox, Katherine (2000): Prague-Vienna, Prague-Berlin. The Hidden Geography of Czech Modernism. In: Slavic Review 59, H. 4, S. 735-760.

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P RAG

NACH DEM SPATIAL TURN

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Imaginationen Prags in der modernen tschechischen Literatur Julius Zeyer, Jiří Karásek ze Lvovic und Miloš Marten1 M AREK N EKULA

1. T EXT

UND

R AUM

In der Philosophie und Physik begegnen wir nach Hansen-Löve (1994: 29f.) zwei Arten des Umgangs mit dem Raum. Isaac Newton sah den Raum als »leer« an und verstand ihn als eine absolute und selbstständige Entität, die von den Objekten, die darin vorkommen, unabhängig ist. Gottfried Wilhelm Leibniz war sich dagegen der Relativität des Raumes bewusst und erachtete ihn als »voll«, worunter er verstand, dass der Raum durch die in ihm enthaltenen Objekte geschaffen wird. Diese Unterscheidung des leeren und vollen Raumes ergibt nicht nur bei der Deutung des physikalischen Raums Sinn, sondern auch bei der Deutung des Raums in fiktionalen Texten. So scheint der Raum in der Fiktion etwa durch einen referentiellen Verweis auf die Außenwelt einerseits lediglich eine Kulisse zu sein, vor der sich die Handlung abspielt und die auf die handelnden Figuren bestenfalls einen Schatten werfen kann. Andererseits geht man davon aus, dass der fiktionale Raum erst durch die Handlung der Figuren geschaffen wird, wobei der Raum mit der Zeit verbunden wird. So geht es in dem erzählten Raum nicht nur um Orte und territoriale, sprachliche, ethnische, soziale oder ethische Grenzziehungen, die durch die Figuren abgerufen werden, sondern auch um Überschreitungen von Grenzen, Bewegungen vom Zentrum zur Peripherie oder von unten nach oben usw., die durch die Handlung der Figuren zustande kommen.

1

Der vorliegende Text ist eine grundlegende Überarbeitung von Nekula (2007) aus dem Jahre 2012.

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Wie bereits deutlich geworden ist, ist im Falle der fiktionalen Literatur die Frage der Relation von referentiellem und erzähltem Raum zu klären. Nach Jurij Lotman ist die erzählte Welt einerseits ein metonymisches »Modell« der realen Welt, auf die sich die erzählte Welt direkt (etwa durch indexikalische Ausdrücke) oder indirekt (etwa durch Präsuppositionen, die dem Leser das physikalische, soziale oder ethische Handeln der Figuren als ›sinnvoll‹ erscheinen lassen) bezieht, andererseits ist die erzählte Welt von der realen unabhängig (ihr gegenüber arbiträr) und durch die Handlung der Figuren als »Zeichen« geschaffen.2 Die erzählte Welt wendet sich als Zeichen dem Leser zu, schließt aber in sich auch ein Modell ein, das der realen Welt zugewandt ist (vgl. Lotman 1964: 37). Mit Michail Michailovič Bachtin (2008) gesagt, sind die Figuren und ihr Handeln in einen Chronotopos, die Ko-Präsenz unterschiedlicher Räume und Zeiten, eingebettet, der einerseits – etwa physikalisch und/oder sozial – einen realen Zeitraum modelliert, sich aber andererseits nach der Logik der erzählten Figuren richtet. Lotmans und Bachtins Unterscheidung des Modells und des Zeichens bzw. der modellierten realen und der erzählten Welt wird in diesem Beitrag auf den topographischen und sozialen Raum Prags beschränkt, auf den in den ausgewählten Texten Bezug genommen wird und der darin auch hinterfragt wird.3 Das Spannungsverhältnis zwischen der durch die Modellierung evozierten realen und der erzählten Welt ergibt sich dabei in erster Linie aus dem Verhältnis des erzählten Raums zu der mit historischem Gedächtnis aufgeladenen Stadt.4 Es geht also um die Materialität und Kodierung von Erinnerungsorten, die als Texte einer Kultur gedeutet werden können.5 So können durch die Handlungen der Figuren Erinnerungsorte und mit ihnen verbundene Narrative aufgerufen, modifiziert oder umgangen werden, und in Kombination mit sozialen Charakteristika der Figuren kann ein spezifisches Bild von Prag geschaffen werden. Damit ist der modellierte Raum bei Weitem nicht nur eine Kulisse der Handlung, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Erzählstruktur der ausgewählten Texte. Anders gesagt, gehe ich in diesem Beitrag davon aus, dass der in den ausgewählten Texten erzählte Raum vor dem Hintergrund eines realen Raums imaginiert wird. Der Prager Stadtraum stellt dabei durch seine Inskriptionen in Form von Straßenschildern, Gedenktafeln, Denkmälern oder Repräsentationsbauten einen semiotisch aufgeladenen Gedächtnisraum dar, dessen Semantiken im jeweiligen 2

Für dramatische Texte vgl. Osolsobě (1974) und in Bezug auf ihn auch Nekula (1995).

3

Zur Unterscheidung vgl. Lotman (1972) oder Bachtin (1979, 1981). Der reale Raum wird in der Literaturwissenschaft auch als referentieller, konkreter oder äußerer Raum, der erzählte Raum auch als Handlungs-, narrativer (»nachgeahmter«, mimetischer), repräsentierter bzw. als fiktiver, fiktionaler, literarischer oder innerer Raum bezeichnet.

4

Mehr dazu etwa Assmann (2000, 2006, 2009) oder Csáky (2010).

5

Mehr zum kultursemiotischen Ansatz vgl. etwa Lotman (2001) oder Posner (2008).

I MAGINATIONEN P RAGS IN

DER MODERNEN TSCHECHISCHEN

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literarischen Text aufgerufen oder verweigert werden können und so neu interpretativ verhandelt werden. Damit gehe ich also ebenfalls davon aus, dass in den ausgewählten Texten bei der Imagination des erzählten Raumes nicht nur auf bloße Orte, sondern auch auf tradierte und im zeitgenössischen Diskurs aktualisierte sowie neu geprägte Stadt- und Raumnarrative bzw. auf mentale Karten Bezug genommen wird. Insofern macht erst der in den Texten verhandelte referentielle Raum die intertextuelle Verknüpfung des im Text erzählten Raums mit den zeitgenössischen Diskursen möglich.6 Die Unterscheidung zwischen dem modellierten realen und dem erzählten Raum, der durch den referentiellen Bezug mit anderen Texten und Diskursen verknüpft werden kann, wird in diesem Beitrag deswegen betont, weil man bei der Lektüre des jeweiligen Textes so seine Spezifik sowie die Spezifik des vom Leser ko-imaginierten Raums herausstellen kann. Konkret bedeutet dies, dass man bei naivem Lesen den durch referentielle Hinweise aktivierten realen Prager Raum modelliert, während man bei kritischem Lesen neben der Topographie auch die Gedächtnisorte und damit verbundene Narrative identifizieren und in Verbindung mit deren spezifischer Inszenierung im Text kritisch verhandeln kann. Die Art und Weise, wie der reale Raum in den erzählten Raum eingeflochten wird, erinnert an das Vorgehen eines naiven Lesers, der bei der semantischen Lektüre den Erzähler oder das auktoriale Subjekt mit dem Autor gleichsetzt: so etwa wenn sich das referentielle Potential der Ich-Form dadurch erhöht, dass dem Erzähler die Rolle des Schriftstellers – angereichert um ausgewählte Biographeme des Autors – zugewiesen wird. Dieses Spiel mit dem (naiven) Leser betreiben so unterschiedliche Autoren wie Thomas Bernhard oder Michael Viewegh. Der kritische Leser hingegen hält diese unterschiedlichen Ebenen auseinander, bezieht sie aufeinander und verfolgt somit das Spiel zwischen naivem (semantischem) und kritischem Lesen.7 Eine ähnlich geartete, mehrdimensionale Lektüre kann auch hinsichtlich des Raumbezugs von Texten vorliegen.

2. D AS

SLAWISCHE N ARRATIV VON P RAG UND DIE TSCHECHISCHE LITERARISCHE M ODERNE

An anderer Stelle habe ich versucht das (tschecho)slawische Narrativ von Prag, das sich seit den 1860er Jahren in Form von Straßennamen, Gedenktafeln, Denkmälern 6

Zu textuellen Fäden, die aus dem Text in den zeitgenössischen Diskurs hinausführen und damit den Text im Text der Kultur lesbar machen, vgl. u.a. Montrose (1992) oder Baßler (2008). Zur syntagmatischen und paradigmatischen Intertextualität vgl. Kristeva (1980).

7

Zur Unterscheidung zwischen naivem (semantischen) und kritischem Leser vgl. Eco (1987, 1992).

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und Repräsentationsbauten immer stärker ins Straßenbild von Prag einschreibt, zu rekonstruieren.8 Textuell geht dieses Narrativ prominent von der sog. Grünberger Handschrift aus. Vyšehrad, das im 19. Jahrhundert ein Teil der Prager Agglomeration und damit auch semiotisch an das Stadtzentrum angebunden wurde, wird darin als Zentrum des slawischen Raumes entworfen, der bis zu den natürlichen Grenzen des Landes reiche.9 Von Vyšehrad aus soll Prag gegründet und sein künftiger Ruhm prophezeit worden sein, wodurch sich auch Vyšehrads Charakteristika auf Prag übertrugen. Aufgegriffen wurde dieses Narrativ der slawischen Gründung Prags sowie die slawische Kartographierung des böhmischen Territoriums mit dem Zentrum in Vyšehrad/Prag immer wieder: in der Literatur und der Musik sowie in der bildenden Kunst, wie etwa in der Oper Libuše nach dem Libretto von Josef Wenzig und im Zyklus Má vlast (Mein Vaterland) von Bedřich Smetana oder in der Ausgestaltung des Foyers des tschechischen Nationaltheaters. Der Abgrenzung der nationalen Kultur, die Prag als Zentrum ihres Raumes setzt, setzte die Moderne eine Vernetzung Prags mit anderen modernen Metropolen entgegen, die eine Alternative zu Wien darstellten.10 Vor dem Hintergrund national aufgeladener Narrative und mentaler Karten von Prag stellt sich die Frage, wie Prag und sein öffentlicher Raum in der modernen tschechischen Literatur konzeptualisiert werden. Diese Frage erweist sich deshalb als interessant, weil sich die Moderne vom Diktat der nationalen Ästhetik löst und sich in der Literatur und Kunst des Fin de siècle auf das Schöne einschwört und dem Nationalen abschwört.11 So werden in der Zeitschrift Moderní revue (Moderne Revue) einige Beiträge auf Deutsch publiziert, das Manifest der tschechischen Moderne aus dem Jahr 1895 geht auf Distanz zum nationalen Auftrag der Kunst. Der Beitrag setzt sich mit Blick auf den national aufgeladenen Prager Raum und dessen nationale Konzeptualisierungen mit Texten von drei tschechischen Autoren auseinander, die stellvertretend für die auf Prag bezogenen Raumnarrative der Moderne stehen können. Julius Zeyer (1841-1901) ist mit seinem Text am Übergang vom Symbolismus zur Dekadenz zu verorten, Jiří Karásek ze Lvovic (1871-1951) bleibt der dekadenten Ästhetik auch in jener Zeit verpflichtet,12 in der die Ästhetik 8

Vgl. Nekula (2006, 2008, 2009, 2010). Zur nationalen Symbolik des Nationaltheaters, des Gemeindehauses vgl. Marek (1995, 2004), Prahl (1999, 2002) u.a.m.

9

Vgl. Nekula (2012). Zur Rolle Prags im nationalen Diskurs, auch in Bezug auf Vyšehrad, vgl. Macura (1995, 1998).

10 So u.a. auch David-Fox (2004: 740). 11 Zum modernistischen Kanon vgl. u.a. Schmidt (1987), zum Historismus in der Moderne vgl. Řezníková (2004), zu Variationen der Moderne vgl. u.a. Blümlová/Jiroušek (2006). 12 Zum Symbolismus und zur Dekadenz vgl. Urban/Merhaut (1995), Med (2001), Nekula (2004), Urban (2006), Denisoff (2007). Die Auswahl von Zeyers Text stützt sich u. a. auch auf Demetz (2004).

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des Fin de siècle durch die »neue Moderne« überholt wird,13 während Miloš Marten (1883-1917) am Übergang von der Dekadenz zur neuen Moderne steht. Karásek und Marten verbindet neben ihrer Verehrung Julius Zeyers zudem ihre prominente Rolle in der Zeitschrift Moderní revue. Allen drei Autoren sind die Ablehnung der vom Realismus geprägten Ästhetik des Lebens und die Hinwendung zur symbolistisch und dekadent geprägten Ästhetik des Todes gemein. Was den erzählten Raum ihrer Texte anbelangt, ist ihnen gemein, dass sie mit ihrer Verhandlung des Prager Stadtraums das nationale Narrativ jeweils auf eigene Art und Weise hinterfragen oder ablehnen.

3. I NULTUS

VON

J ULIUS Z EYER

Julius Zeyer prägte dabei das slawische Narrativ von Prag in starkem Maße selbst mit – insbesondere durch seinen Zyklus epischer Gedichte Vyšehrad (1880), der sich u.a. auf die sog. Handschriften bezieht. Meine Aufmerksamkeit gilt hier aber der Prager Legende Inultus (1895), in der Zeyer ein anderes großes Narrativ aufgreift und im Prager Stadtraum verankert. Gemeint ist das Narrativ des nationalen Todes nach der Schlacht am Weißen Berg, der durch eine später einsetzende nationale Auferstehung erfolgreich überwunden worden sei. Zeyers Prager Legende beginnt »etwa zwanzig Jahre« (Zeyer 2004: 85 – »asi dvacet let«, Zeyer 1906: 7) nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) auf der Karlsbrücke. Die Handlung fällt damit in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und, lokal gesehen, in die Zeit nach der Niederschlagung des Aufstandes der protestantischen böhmischen Stände gegen den katholischen Monarchen, dem eine hart durchgreifende und umfassende Rekatholisierung der böhmischen Länder folgte. Die Karlsbrücke ist zu dieser Zeit noch nicht mit Skulpturen katholischer Heiliger gesäumt, welche die Brücke später zum Symbol der Rekatholisierung werden ließen und mit denen die tschechischen Nationalisten im 19. Jahrhundert fremdelten. Damit bietet sich auch die Möglichkeit von Gegenentwürfen dieses Raums. In der Legende greift Zeyer dem katholischen Repräsentationsanspruch der Brücke, der sich später im realen Raum in den Statuen manifestierte, voraus, indem er die Karlsbrücke zum Schauplatz der nationalen Erniedrigung macht und so – mit den Worten Pierre Noras (1989) – den nationalen Erinnerungsort abruft. Auf der Brücke werden in der Legende die Verlierer der Rekatholisierung mit den Gewinnern und Mitläufern konfrontiert. Neben Prälaten überqueren die Brücke »prunkende Fremdlinge […] in der reichen Tracht der Adeligen auf feurigen Rossen […], Eindringlinge, welche die Ämter und Rechte der verarmten heimischen Geschlechter innehatten« (Zeyer 2004: ebd. – »na ohnivých ořích […] skvěl[í] ciz[í] 13 Für mehr vgl. Papoušek (2010).

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vetřelc[i], zaujímající[..] místa a práva ochuzených domácích rodů«, Zeyer 1906: ebd.). Zu sehen sind auch »unselige Verräter«, »schöne Damen« mit »leeren Herzen« und »Bürger, feist und immer zufrieden, wenn sich ihnen nur der Beutel füllt und das Mittagsessen ihnen wohlbehagt« (Zeyer 2004: 85f. – »zrádn[í], proklet[í]«, »krásné dámy […] prázdných duší[..]«, »měšťané, tuční, věčně spokojení, plní-li se jejich měšec a jde-li jim oběd k duhu«, Zeyer 1906: 7 f.). Lediglich die »zerlumpten Bettler« (»tlupa rozedraných žebráků«) in der Nähe des Altstädter Brückenturms, also dort, wo nach der Hinrichtung der protestantischen Stände im Jahre 1621 Körbe mit ihren Köpfen platziert wurden, waren dem »böhmischen Lande treu geblieben […] wie das Elend, die Tränen und das Leid, die seine Grenzen noch immer nicht verlassen wollten« (Zeyer 2004: 86 – »[t]i byli české zemi věrni zůstali […] jako bída a slzy a utrpení, které z hranic jejich stěhovat se nechtějí«, Zeyer 1906: 8). Auf den ersten Blick sind die »alte[n], blinde[n], aussätzige[n] Bettler in Lumpen« (»staří, slepí, malomocní, v cárech«), die sich wie eine einzige Familie »aneinander schmiegten« (»tulili se k sobě«, ebd.), bemitleidenswert. Durch ihre Verdrängung an den Rand der Brücke nehmen sie aber den Platz der später aufgerichteten Heiligen ein, mit denen sie ihr leidvolles Schicksal teilen. Diesen werden sie durch die Verschmelzung von erzählter und modellierter realer Welt gleichgestellt und in ihrem Leid auf diese Weise aufgewertet. Die kollektive Dimension dieses Leids, das sich des christologischen Narrativs bedient, wird durch die Familienmetaphorik aufgerufen. So nutzt Zeyer den Rekurs auf den realen Raum, um mittels der erzeugten Spannung zwischen dem modellierten realen und dem erzählten Raum das nationale Leidens-, Todes- und Auferstehungsnarrativ aufzurufen und die handelnden Figuren auf der Werteskala zu verteilen. Dabei wird die spezifische Semantik der Statuen auf der Karlsbrücke, aufgrund derer die Brücke im 19. Jahrhundert nicht als positiv besetzter nationaler Erinnerungsort konzeptualisiert wurde, verkehrt und die Karlsbrücke wird narrativ zum nationalen Erinnerungsort par excellence. Hier hebt sich der erzählte Raum vom realen Raum und seinem Gedächtnis ab. Zu Beginn der Legende steht auf der Brücke unweit der Bettlergruppe »ein junger Mann« (»mladý muž«), dessen Kleider nicht besser, aber dennoch »reiner« (»čistší«) sind, und der »wunderbar schön« (»spanilý«) ist: »die Züge seines Angesichts waren von vollendeter Regelmäßigkeit« (»[r]ysy jeho obličeje byly idealně krásné«, ebd.). Der junge Mann beschenkt zwar die Bettler mit einem Geldstück, nach dem Anblick der Prager Burg, Residenz des Herrschers über Böhmen, die sich vor seinen Augen in »rosenroten Glanz« (»[r]ůžová záře«) hüllt, lässt er sich neben den Bettlern »auf den nackten Boden nieder« (»na zem«) und bedeckt »mit den Händen sein Gesicht« (»zakryl si dlaněmi tvář«, ebd.; Zeyer 1906: 9). Seinen edlen Gesichtszügen, seinem Stolz und dem Verhalten nach, das er an den Tag legt, scheint er ein Nachfahre eines adeligen Geschlechtes zu sein, das infolge der Entwicklungen nach der Schlacht am Weißen Berg arm geworden ist. Schließlich

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blickt er doch zur Burg auf, nimmt in den Farben der Dämmerung das Schicksal des Königreiches wahr und fühlt sich davon bedrückt. Als sich eine ihm unbekannte Frau auf der Brücke, die ihm begegnet, als Donna Flavia, eine Bildhauerin aus Mailand, vorstellt und ihn als Bettler beschenken will, wehrt er sich dagegen, ähnlich wie er sich der Einladung in ihr Haus auf der Kleinseite unterhalb der Burg zunächst widersetzt (vgl. Zeyer 2004: 90; Zeyer 1906: 11). Er sei »ein Dichter« (ebd.: 90 – »jsem poetou«, ebd.: 12), stellt sich Inultus Donna Flavia vor. Woher er wirklich stammt, bleibt vorerst unklar, genauso wie die Sprache, in der sich die beiden unterhalten. Jedenfalls kann er – obwohl er ein Dichter sei – nicht singen, »lastete doch Fluch und Unheil schwer, allzu schwer auf seinem ganzen Heimatlande« (»ležel balvan prokletí a neštěstí těžce, přetěžce […] na celé rodné jeho zemi», ebd.). »Tyrtäische Aufschreie« (»tyrteiské výkřiky«), »Trauergesänge ob dem Elend der Heimat und dem Untergang des eigenen Volkes« (»thrény nad bídou země a nad záhubou vlastní rodiny«, ebd.) lassen zunächst an den Balkan denken, der zu dieser Zeit vom Osmanischen Reich beherrscht wurde. »[I]m Todeskampfe dieses Landes [= Böhmens]« (ebd.: 90f. – »v agonii té země«, ebd.), das ihn verstummen lässt, sieht er sich jedenfalls an das Schicksal seines Volkes erinnert. Nach dem Namen gefragt, nennt er sich »Inultus«, worauf Donna Flavia bemerkt, dass wohl nur er so seltsam heißen könne, und darüber rätselt, ob der Namen »der Ungerächte« (»Nepomstěný«) oder »der Ungestrafte« (ebd.: 93 – »Netrestaný«, ebd.: 15) bedeute. Darauf reagiert Inultus mit der Feststellung, dass »jeder in diesem unglücklichen Lande so heißen« möge, »denn keine einzige Seele leb[e] hier, die nicht Rache oder Strafe zu erwarten hätte« (ebd.: 94 – »mohl by se tak každý v nešťastné této zemi nazývati, neb nežije zde ani duše jediná, která by nečekala buď pomsty nebo trestu«, ebd.). Mit dieser Bemerkung sowie durch seinen Namen macht sich der Dichter Inultus zum Repräsentanten und Symbol des Kollektivs, dessen Identität man gewöhnlich wie die seine von Wort und Sprache abzuleiten pflegte. Donna Flavia, die in ihm das »Urbild« (ebd.: 96 – »pravzor«, ebd.: 18) ihrer Vorstellung von Christus erkennt, sagt er zu, als »sterbende[r] Köni[g] der Juden« (»umírající[..] král[..] Židů«, ebd.) für eine Skulptur Modell zu stehen. Diese gab der Spanier Don Baltasar, der das »Schicksal des Böhmerlandes in Händen hielt« (ebd.: 102 – »v […] rukou spočívá […] osud této země«, ebd.: 19), bei Donna Flavia in Auftrag. Sie wollte damit »jedes Herz erschüttern« (ebd.: 95 – »zachvěl každým srdcem«, ebd.: 17), worauf auch Inultus hofft. Ihm ist besonders daran gelegen, dass das gegenüber dem »verdammten Ketzerland« (ebd.: 102 – »kacířské, proklaté zemi«, ebd.: 20) abgestumpfte Herz Don Baltasars durch den Anblick des Heilands erschüttert und darin »ein menschliches Gefühl« (»lidský cit«) geweckt wird, sodass daraus ein »Segen für Böhmen« (ebd.: 98f. – »spása […] pro Čechy«, ebd.) entspringe. Dies ist der Hintergrund, warum sich Inultus darauf einlässt, von Donna Flavia, die den authentischen Ausdruck des leidenden Christus nach seinem Modell

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gestalten will, als Christus porträtiert und dabei wie dieser gequält zu werden. Schlussendlich wird er – ans Kreuz gebunden und wehrlos – von Donna Flavia mit der Dornenkrone gekrönt und – um den authentischen Ausdruck Christi im Todeskampf kopieren zu können – erdolcht. Dieses Martyrium nimmt Inultus genauso bewusst auf sich wie seinen doppeldeutigen Namen, denn in Wirklichkeit ist er […] potomek někdy slavného, teď zničeného rodu, […] poeta, který slovo pro to nalézti nedovedl, co v něm vřelo, […] Čech, který viděl zrazenou vlast svou udupanou, zavlečenou v kal krvavý a hnusný, […] a smrt, která měla býti vykoupením nejen jemu, ale snad i celé jeho zemi, všemu jeho lidu, ta zdále se mu tím nejkrásnějším, nejvznešenějším, co člověka v tomto údolí slz a trudu potkati může. (Ebd.: 25) Abkömmling eines einst gefeierten, jetzt aber vernichteten Geschlechtes, […] ein Dichter, der für das, was in ihm tobte, keine Worte finden konnte, […] ein Böhme, der sein Vaterland verräterisch zerstampft und in einen Sumpf von Blut und Schande gezerrt sah […] und so schien ihm sein Tod, der nicht nur ihm, sondern vielleicht auch seinem ganzen Lande, seinem ganzen Volke Erlösung bringen sollte, das Schönste und Erhabenste, was einem Menschen in diesem Tal der Tränen und Trauer zuteilwerden konnte. (Ebd.: 104f.)

Die mit der Gestaltung der Christus-Statue verbundenen Hoffnungen werden nicht so erfüllt wie erwartet. Das Herz Don Baltasars bleibt ungerührt und ohne Erbarmen, dagegen rühren sich beim Begräbniszug des Inultus, der »unter großer Beteiligung des schlichten Volkes durch die Prager Gassen zog« (ebd.: 113 – »za velikého účastenství prostého lidu pražskými ulicemi bral«, ebd.: 34) und dabei die Pferde und Karossen der Ritter, schönen Damen und Kardinäle ausbremste, die Herzen der Armen und Elenden. Durch diese Resonanz erinnert sein Begräbnis nicht nur an die nationalen Begräbnisse, welche zur Zeit der Veröffentlichung der Erzählung noch in frischer Erinnerung waren und die Bewusstwerdung der Öffentlichkeit als Nation beförderten,14 sondern es ist auch eine räumliche Metapher der sozialen Prozesse des 19. Jahrhunderts. Vor allem erfolgt durch diese Szene jedoch eine Neubewertung der mit der Rekatholisierung einhergehenden Verehrung von Märtyrern und Heiligen, die den Leidenden insofern Trost spendeten, als diese in ihren Repräsentationen ihr eigenes Leid wiedererkannten. Damit relativiert Zeyer die Skepsis gegenüber dieser Schicht der Karlsbrücke, entdeckt sie als einen nationalen, akzentuiert ihn aber zugleich auch als einen christlichen Erinnerungsort. So kann der Bezug des erzählten Raums auf den modellierten realen Raum in dieser Erzählung einerseits als Kulisse gesehen werden, die der Charakterisierung der Personen dient: Die Mächtigen wie Don Baltasar und ihre Helfer wie Donna 14 Mehr dazu Nekula (2010, 2017).

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Flavia Gantini residieren auf der Kleinseite um den Hradschin herum, der oben auf dem Berg ragt, während die Bettler, die unter der Brücke oder auf der anderen Seite des Flusses leben, mit der Altstadt in Verbindung gebracht werden. Andererseits wird der erzählte Raum durch die Handlung der Personen – etwa der »Fremdlinge« und der »Böhmen« auf der Brücke – geschaffen: Die letzteren sind – physisch und sozial – unbeweglich und treten hier vor den in jeder Hinsicht mobilen Mächtigen auf Pferden und in Karossen zunächst zur Seite, während sie gegen Ende – durch den Opfertod des Inultus erlöst und gestärkt und durch seine Verehrung vereint – den öffentlichen Raum blockieren und so die Kontrolle über ihn übernehmen. Ihre Aufwertung erfolgt durch die Deformation des modellierten realen Raums im erzählten Raum, wo die Bettler auf der Brücke die Stelle der Märtyrer einnehmen. Damit wird auch die Karlsbrücke zum positiv aufgeladenen Erinnerungsort umgedeutet und das nationale Narrativ durch eine Legende verwandelt, die sich einer konfessionellen und schlussendlich auch nationalen Polarisierung verweigert: Märtyrerverehrung entfremdet nicht, sondern verbindet und stärkt; Inultus ist zugleich fremd und eigen, Opfer und Täter (Verräter) usw. So kann man Zeyers Darstellung des Prager Stadtraums als eine kritische Korrektur des nationalen Narrativs sehen.

4. R OMÁNY TŘÍ MÁGŮ (R OMANE J IŘÍ K ARÁSEK ZE L VOVIC

DER DREI

M AGIER ) VON

Jiří Karásek ze Lvovic steht bei der Konzeptualisierung des Raumes Julius Zeyer insofern nahe, als er die historischen Einschreibungen in den Prager Stadtraum und die nationalen Konzeptualisierungen von Prag sehr wohl wahrnimmt und indirekt auf sie anspielt. Von Zeyer unterscheidet ihn, dass er sie nicht nur korrigiert, sondern konsequent verweigert. Die in Prag stets präsente deutsch-tschechische Polarisierung wird nämlich durch die Verlagerung des erzählten Prag in Richtung Westen narrativ außer Kraft gesetzt. Was damit gemeint ist, versuche ich am Beispiel der in der Überschrift genannten Trilogie zu erläutern, die aus den Romanen Román Manfreda Macmillena (1907, Roman des Manfred Macmillen), Scarabeus (1908) und Ganymedes (1925) besteht. Das darin verfremdete Prag – laut Karásek »eine tote Stadt« (»mrtvé město«), in der der »Tod […] die letzte Pracht ist« (»smrt je […] poslední krásou«, Karásek 1924: 23)15 – ist dabei nicht nur Kulisse der Handlung, sondern – neben Venedig – auch Ikone dekadenter Stilisierung, die sich auf polemische Weise deutlich von nationalen Inskriptionen in und Narrationen von Prag abhebt:

15 Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir.

264 | M AREK N EKULA Chci-li míti v životě pocit, jaký by měli mrtví, uložení v chrámech do skříně z křišťálu, chci-li se na život dívat jako sklem vlastní rakve, jdu do Prahy. Její vzduch je tísnící a těžký od tragiky všeho, co se tam přihodilo. Vidím Hradčany, Malou Stranu, Staroměstské náměstí a cítím, že jen minulost je v Praze přítomna. Nemusím nic věděti ani o dějinách. (Ebd.: 22) Wenn ich im Leben je das Gefühl haben möchte, welches die Toten hätten, die in den Kathedralen in Kristallsärgen aufbewahrt werden, und wenn ich das Leben wie durchs Glas des eigenen Sarges betrachten möchte, dann gehe ich nach Prag. Die dortige Luft ist bedrückend und aufgeladen mit Tragik von all dem, was dort geschah. Ich sehe den Hradschin, die Kleinseite, den Altstädter Ring und spüre, dass nur die Vergangenheit in Prag präsent ist. Da muss ich nicht einmal etwas von der Geschichte wissen.

In dieser Textstelle wird durch referentielle Hinweise (an anderen Stellen werden auch die Theinkirche und die Mariensäule erwähnt, vgl. ebd.: 37f.) Bezug auf den realen Prager Stadtraum genommen, der damit als stilisierte Kulisse der Handlung geschaffen wird. Unter den Bezugsorten, die Karásek zur Modellierung des realen Prager Raums heranzieht, findet sich aber kein einziges jener Nationaldenkmäler und nationalen Repräsentationsgebäude, welche zur Entstehungszeit des Werks im öffentlichen Raum Prags bereits Bestand hatten (Nationaltheater, Nationalmuseum, Rudolphinum, das entstehende Gemeindehaus u.a). Dies ist als Schritt weg von der realen und hin zur erzählten Welt zu verstehen. Schließlich distanziert sich Karásek, wie etwa in seinem Brief an Miloš Marten vom 28. Dezember 1901, von »kleinbürgerlich-demokratischen Lebensformen« (»maloměstsko-demokratické formy«) in Prag, das ihn lediglich durch seine »tote, stumme mittelalterliche Schönheit« (»mrtvá, němá krása středověká«, Kuchař 1999: 67) anzieht. Durch eine solche narrative ›Säuberung‹ des modellierten realen Prag im erzählten Prag verweigert sich Karásek dem nationalen Diskurs, der sich in das Prager Stadtbild einschreibt und dabei mit dem Topos der Wiederauferstehung oder mit dem optimistischen Topos des prophezeiten und erreichten Ruhms operiert. Stattdessen zeichnet Karásek Prag als eine tote Stadt, wobei sein polemischer Gestus durch die wiederholte Bezugnahme auf den Weißen Berg erkennbar wird. Für Karásek ist dieser nämlich nicht Symbol einer nationalen Tragödie, der irgendwann die Auferstehung der Nation zu neuem Leben folgt. Der Weiße Berg ist für ihn vielmehr der Ausgangspunkt und Hintergrund des dekadenten Diskurses über den Tod und die Vergeblichkeit allen Handelns. So kann die tote Stadt mit der erwachten Nation nicht zum Leben, sondern lediglich zu neuem Schlaf erwachen: »V řídkých okamžicích náhlého zjasnění se mi zdá, jako by se probouzelo slavné mrtvé město a znova zahloubávalo do smutného, tmavého zrcadla své osudné marnosti.« (Karásek 1924: 23 – »In den seltenen Momenten plötzlichen Aufhellens scheint mir, als ob die berühmte tote Stadt erwachen und erneut in den traurigen, dunklen Spiegel ihrer schicksalhaften Vergeblichkeit versinken würde.«)

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Wird also im zitierten Satz – und an anderen Stellen – durch die Bezugnahme auf den Weißen Berg das nationale Narrativ von Tod und Auferstehung evoziert, so wird im gleichen Atemzug ein wirkliches Erwachen verweigert: der Weiße Berg ist hier nicht Sinnbild der nationalen Tragödie, sondern Sinnbild der Zersetzung in dekadenter Passivität. Jedenfalls bedeutet dieses Erwachen nicht eine Wiedergeburt der Nation durch national bewusste Aktivisten, die ihre Stadt durch zahlreiche, den Aufbruch vermittelnde Denkmäler und Repräsentationsbauten füllen. Daher kommt es auch auf die ethnische Zugehörigkeit der Einwohner Prags nicht an, da dem nationalen Ringen um die Stadt im Roman eine Absage erteilt wird: »V Praze je všechno ukončeno a vyvrcholeno. Je lhostejné, kdo tam nyní žije, jako je lhostejné, kdo obývá v zpustlém, starém paláci, když vymřeli jeho majetníci.« (Ebd. – »In Prag ist alles abgeschlossen und zum Höhepunkt gebracht. Es spielt keine Rolle, wer dort momentan lebt, genauso wie es keine Rolle spielt, wer den verkommenen, alten Palast belebt, wenn dessen Besitzer ausgestorben sind.«) Die Verweigerung einer Aufladung des Prager öffentlichen Raumes durch nationale Semantik drückt sich dann auch darin aus, welche Figuren Prag in Karáseks Romanen bevölkern und in welchen Sprachen sie sprechen. In Zeiten national verhärteter Fronten in Prag scheinen sie nicht eindeutig mit einer Nation oder einem national definierbaren Gebiet zu tun zu haben, wie dies etwa bei Manfred Macmillen zum Ausdruck kommt: Hrabě Manfred Macmillen byl ze šlechty, jež se přestěhovala v pěti stoletích několikráte ze země do země a z národu do národu, tak že nyní byla mimo všechna území a všechny rasy. Byl všude a nikde domovem. Žil střídavě v hlavních městech evropských, ale pravidelně se vracel pouze do dvou: do Vídně a do Prahy. (Ebd.: 13) Der Fürst Manfred Macmillen stammte aus einer adeligen Familie, die innerhalb von fünf Jahrhunderten mehrmals aus einem Land in ein anderes und aus einer Nation in eine andere zog, so dass sie jetzt außerhalb von allen Gebieten Territorien und allen Rassen stand. Er war überall und nirgendwo zu Hause. Er lebte abwechselnd in europäischen Hauptstädten, regelmäßig kehrte er aber nur in zwei zurück: nach Wien und nach Prag.

Durch den Adeligen Manfred Macmillen, der einem Stand angehört, der sich der Reduktion des Nationalen auf das Sprachliche am deutlichsten verweigerte, wird eine solche Weigerung überzeugend modelliert. Nicht nur bei Manfred lässt sich nur schwer sagen, welcher Nation er angehört. Auch die nationale Zugehörigkeit der anderen Figuren bleibt im Ungefähren. Max Duniecki entstammt »polnischer Aristokratie, aber ohne den slawischen Typus: Ein Pariser« (»z polské aristokracie, ale beze slovanského typu, Pařížan«, ebd.: 17). Der Erzähler, Francis Gaston, dürfte dem Vornamen nach Brite und dem Nachnamen nach Franzose sein. Auch die Nationalität von Walter Mora, dem Gegenspieler von

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Manfred Macmillen, kann nicht näher bestimmt werden. Er könnte Brite, aber auch Deutscher sein. Während die Nationalität der Figuren in Karáseks Roman ungeklärt bleibt, verdeutlicht eine Bemerkung zur Sprache, dass sie in Prag fremd, nicht einheimisch sind: »Nerozumím řeči, kterou v Praze lidé mluví. Nevím nic o přítomnosti toho města. Vše čeho tam hledám, je minulost.« (Ebd.: 22 – »Ich verstehe die Sprache, die in Prag gesprochen wird, nicht. Ich weiß nichts über die Gegenwart dieser Stadt. Alles, was ich dort suche, ist Vergangenheit.«) Dieses Entgleiten Prags aus dem mitteleuropäischen, national aufgeladenen, sprachlichen Raum, das durch die Protagonisten und ihre Geschichte erfolgt, kann man auch in Karáseks Roman Ganymedes feststellen. Hier ist die Zuordnung der nationalen Identität zwar eindeutiger, vor dem Hintergrund der modellierten Welt wird aber auch klar: Das deutsche Element fehlt in Karáseks Prag, während das tschechische Element – mit Blick auf die realen Verhältnisse in Böhmen – unterrepräsentiert ist. So heißt zwar die Hauptfigur des Romans sehr slawisch Radovan und dessen Schwester Miloslava, die Sprache, die sie nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch privat sprechen, ist jedoch – auch wenn die Dialoge im Roman auf Tschechisch geschrieben sind – kein Tschechisch, sondern Französisch. Durch die Verwendung des Französischen auch in privater Sphäre wird deutlich, dass dies nicht nur aus Rücksicht auf jene geschieht, die des Tschechischen nicht mächtig sind, wie den Engländer Adrian Morris oder den dänischen Juden Jörn Moller. Auf die Spitze getrieben wird die Verweigerung einer eindeutigen sprachlichen und nationalen Zuordnung sowie einer Gleichsetzung von Sprache und Nationalität in folgender Textstelle aus Karáseks Ganymedes: V jejím bytě to bylo často jako v mezinárodním hotelu. Hned tu bydlila žena anglického žurnalisty, rozená Italka, jež psala francouzské básně, hned tu byla hostem španělská tanečnice, jež byla hvězdou německých scén. Paní domu mluvila všemi jazyky. Stále byla veselá, vtipná, vervní. (Karásek 1925a: 15) In ihrer Wohnung war es oft wie in einem internationalen Hotel. Mal wohnte hier die Frau eines englischen Journalisten, eine geborene Italienerin, die französische Gedichte schrieb, mal war hier eine spanische Tänzerin zu Gast, die ein Star der deutschen Bühnen war. Die Hausherrin sprach alle Sprachen. Sie war stets fröhlich, witzig und energisch.

Damit befreit Karásek die erzählte Prager Welt von den slawischen bzw. national polarisierenden Bildern Prags. Prag wird durch die Herkunft, die Sprache, den Dandyismus und die dekadente Stilisierung der dort lebenden Romanfiguren aus Mitteleuropa Richtung Westen katapultiert. Trotz referentieller Bindung an Prag orientieren sich Karáseks Romane schließlich in ästhetischer Hinsicht am Kanon der modernen englischen und französischen Literatur. Hier und an anderen Stellen

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greift er Les Fleurs du mal von Charles Baudelaire, The Picture of Dorian Gray von Oscar Wilde oder Salome von Gustave Moreau auf. Zur Zeit der Veröffentlichung seines Romans unterschreibt Karásek seine Briefe gar als »Georges de Lwowicz«.16 Das geht so weit, dass ihn einige Rezensenten als einen Epigonen deklassieren (vgl. Lishaugen 2008: 203). Die kosmopolitische Stilisierung und die Hinwendung zum dekadenten Kanon brechen mit dem nationalen Kanon und provozieren nicht weniger als die Verletzung sexueller Tabus, der man in Karáseks Werken immer wieder begegnen kann. Beides verschränkt sich in Scarabeus, dem zweiten Roman der Trilogie. Seine Protagonisten sind der adelige Oreste Contarini, der einem venezianischen Dogengeschlecht entstammt, Marquis Marcel dʼOffémont und Gaston Béroalde dʼAmade, die sich miteinander auf Französisch, d.h. in der damals universalen Sprache unterhalten; der Italiener Oreste spricht sogar ein Pariser Französisch. Zu Beginn des Romans verlässt das homosexuelle Dreigespann Triest, die Heimat von Contarini, um ihre dekadente Geschichte in Venedig auszuleben, wo der Tod »ein vertrauter Freund und Geliebter aller Tage« (»důvěrným přítelem a milencem všech dní«, Karásek 1925b: 24) sei und wo diese Art von Dekadenz – etwa auch in Thomas Manns Der Tod in Venedig (1913) – zum zeitgenössischen Bild der verfallenen und untergehenden Stadt gehört. Eine dekadente homosexuelle Liebesgeschichte reißt die Protagonisten aus dem Alltag, ähnlich wie das Anderssein der Figuren in den ›Prager‹ Romanen Prag nach Westen verschob. Durch die offen ausgelebte homosexuelle Orientierung verweigern sich die drei der bürgerlichen Anpassung, ähnlich wie sich die Figuren durch ihre Sprache und kosmopolitische Orientierung ihrer alltäglichen, ›realen‹ Umgebung verweigern. Am offensichtlichsten tritt der Tabu- und Kanonbruch in Karáseks ambivalenten Figuren zutage: Adrian in Ganymedes, der – wie der Hermaphrodit Ganymed – sowohl Männer als auch Frauen anzieht, Radovan (ebenfalls in Ganymedes), der trotz seines Namens nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in privater Sphäre auf Französisch spricht, oder Gaston in Scarabeus, von dem »in intimen Momenten zwitterhafte Ausstrahlung« ausgeht und der »etwas vom Jungen und Mädchen in sich hat« (»v důvěrných chvílích vála [...] oboupohlavnost, něco z hocha a dívky«, Karásek 1925a: 8). Die Reaktion auf die Verquickung des erotischen Tabubruchs, dem man bei Karásek oder Arnošt Procházka mit Zensur begegnet, mit einer Verweigerung des nationalen Kanons ist für die damalige Zeit konsequent, man begegnet ihm – so zumindest in Karáseks Wahrnehmung der Reaktion auf Manfred – mit ablehnendem Schweigen.17

16 So Karásek im Brief an Miloš Marten vom 9. Juni 1909. Vgl. Kuchař (1999: 81). 17 Vgl. Karáseks Brief an Miloš Marten vom 18. November 1917. Vgl. Kuchař (1999: 76).

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5. N AD MĚSTEM (Ü BER DER S TADT ) VON M ILOŠ M ARTEN Miloš Marten hat mit Zeyer einiges gemeinsam. Martens Dialog Nad městem spielt sich ähnlich wie »Inultus« in der Nähe des Hradschin ab, wobei der Hradschin nicht nur die Stadt auf dem anderen Moldauufer dominiert, sondern auch Sinnbild des böhmischen Königreiches und seiner Geschichte ist.18 Der auf Tschechisch geschriebene Dialog zwischen Allan und Michal, der aber zwischen den beiden Gesprächspartnern in einer anderen Sprache – in der realen Welt wohl auf Französisch – stattgefunden haben dürfte, wird »auf der Terrasse eines Patrizierhauses aus dem 17. Jahrhundert auf dem Hradschin« (»na terase patricijského domu ze 17. století na Hradčanech«, Marten 1917: 7) geführt. Es fehlt aber ein eindeutiger referentieller Hinweis, durch den man den Dialog sicher zeitlich einordnen könnte. Gemein ist Zeyer und Marten auch die Evokation des Mythos des nationalen Leidens nach der Schlacht am Weißen Berg, der durch eine Rückbesinnung auf universale, ›höhere‹, d.h. nicht nationale Werte überwunden werden kann. Von Zeyer unterscheidet sich Marten dadurch, dass diese Werte durch eine modernistische Sprache außerhalb des christlichen Narrativs verortet werden. So beschwört Marten in Anlehnung an Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche ein »Bekenntnis zur (neuen) Ordnung« (»vyznávání (nového) řádu«, ebd.: 29), einen »höheren Willen« (»vyšší vůle«, ebd.: 28), eine »Überwindung des Chaos« und des »Dämons der Negation« wie auch eine »Freiheit jenseits jedes Gesetzes« (»[překonání] daemona negace«, »svoboda mimo každý zákon«, ebd.: 29). Der Unterschied besteht damit auch darin, dass Zeyers Inultus ein passives Instrument Gottes ist, das das »verdammte Ketzerland« (»kacířsk[á], proklat[á] zem[..]«) durch seine aufopfernde Liebe statt durch äußerliche rohe Gewalt bekehrt. Martens Michal wird dagegen als alttestamentarischer »Erzengel mit dem Schwert« (»archanděl[..] s mečem«) stilisiert.19 Er ist ein neuer Mensch, durch dessen »Kampfgeist« (»bojovn[ý] zápal[..]«) sich das Chaos legt und dessen »sieghafter Wille« (»vítězn[á] vůle«) die »gefangene Seele« (»uvězněn[á] duše«, ebd.: 34) der Stadt befreit, über die er wie ein Titan ragt. Welche Seele ist aber in der Stadt gefangen? Geht es in Martens Dialog um eine Fortsetzung des nationalen Diskurses mit modernistischem Vokabular? Biographisch spräche manches dafür, dass sich der Autor darin – im Vorwort zum Dialog – zu seinem »verneinten, deshalb aber nicht weniger wahren Tschechentum« 18 Das Vorwort zum Dialog ist auf den 7. Juni 1917 datiert, das Manuskript wurde demnach im Oktober 1915 beendet. Martens Bemerkung zufolge dürfte der Entwurf zum Dialog in Form von Notizen um das Jahr 1910 entstanden sein, als Marten mit Paul Claudel, dem dieser Dialog gewidmet ist, in Kontakt stand. 19 So akzentuiert auch auf dem Umschlag der französischen Ausgabe dieses Dialogs. Vgl. Marten (1935).

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(»popíran[é], proto však neméně pravdiv[é] češství«) bekennt. Im Text des Dialogs wird aber das Narrativ des Todes und der Auferstehung als Mythos der Schwächlinge abgelehnt. Die nationale Abgrenzung und die Negation, die durch die Niederlage am Weißen Berg begründet werden, werden von Allan wie Michal abgelehnt. Auch Martens erzählter Stadtraum hat mit dem referentiellen öffentlichen Raum Prags, in den der nationale Diskurs hineingetragen und der für die politische Agenda des 19. Jahrhunderts genutzt wird, wenig gemein. Vielmehr wird der modern rauschenden Metropole, die von sich aus, ohne einen von außen gegebenen höheren nationalen Sinn wächst, eigenes Leben eingehaucht, die Darstellung ist durch die Metapher eines den Menschen verzehrenden Lebewesens geprägt: Nechte mne pohlížeti v tuto propast, hemžící se domy, jako zakletými tvory. Na město, jak na obludnou bytost, o níž nevíme, proč vyrostla, strávivší nesčíslné síly ducha, vášně, myšlenky, tisíce životů, která pohltila v staletích […], ani kdy či jak pohltí nás, snad už předurčené pro její jícen. / […] Slyším, jak oddychuje přerývaně v prostor. Před hodinou zpěv milosrdných sester ze zahradní kaple naproti stoupal do výše jako tlukot stajeného, hlubokého srdce. Ale teď je to hukot města z dálky na přechodu dne a noci, hromadný šum davu, uvolněného z pout denní práce, na několik hodin svobodného náhle a zmateného svou svobodou, která je staví bezradna mezi dobré a zlé, pokoj a hřích, v něž by ji obrátil. A za nedlouho splanou v černý křišťál noci světla, steré oči, vzhlížející nejistě. […] Znám všecka! Strážné ohně nábřeží, zdvojené v zrcadle jiskřící řeky, – hořící alej, která stoupá po svahu jak v nekonečno – a onde, nahoře, keř rozežehnutých svěc na katafalku denně nové mrtvoly. I světélkující zrak dravce dole u mostu, i kosý pohled domku, podobného smějící se tváři Číňanově. Sta jiných …, v něž jsem hleděl po hodiny, jako by mně mohla říci tajemství spícího města pode mnou. / […] Je krásné. Svůdné jak žena, neurčité, jak žena, v modrých závojích soumraku, v kterých se choulí pod kvetoucí stráně, přepiato ocelovým pasem své řeky, poseto smaragdy měděných kupolí... (Ebd.: 7ff.) Lassen sie mich in diesen Abgrund schauen, in dem Häuser wie verzauberte Wesen irren. Auf die Stadt wie auf eine ungeheuerliche Kreatur, von der wir nicht wissen, warum sie aufwuchs, die unvorstellbare Geisteskräfte, Leidenschaften, Ideen, Tausende Leben verzehrte, die sie in den Jahrhunderten verschluckte […], auch nicht, wann und wie sie uns verschlingt, die wir vielleicht bereits für ihren Rachen vorbestimmt sind. / […] Ich höre, wie sie [= die Stadt] in den Raum gebrochen hineinatmet. Vor einer Stunde stieg der Gesang der Barmherzigen Schwestern aus der Gartenkapelle gegenüber in die Höhe wie der Schlag eines in der Tiefe angehaltenen Herzens. Aber nun ist da ein fernes Brausen der Stadt beim Übergang von Tag zu Nacht, das massenhafte Geräusch der Menschenmenge, der die Fesseln der alltäglichen Arbeit abgenommen und die für ein paar Stunden plötzlich frei und von ihrer Freiheit verwirrt sind, die sie ratlos zwischen Gut und Böse, Frieden und Sünde stellt, in die man sie [= die Freiheit] umkehren könnte. Und bald leuchten die Lichter in den schwarzen Kristall der Nacht hinein, hunderte Augen, die unsicher aufblicken. […] Ich kenne sie alle! Wachfeuer

270 | M AREK N EKULA am Quai, verdoppelt im Spiegel des funkelnden Flusses – eine brennende Allee, die bergauf steigt wie in das Unendliche – und da, oben, ein Strauch angezündeter Kerzen auf dem Katafalk eines jeden Tag frischen Leichnams. Auch der blinzelnde Blick des Raubtiers unten an der Brücke, auch der schräge Blick des Hauses, der dem Gesicht eines lachenden Chinesen ähnelt. Hunderte anderer … in die ich stundenlang hineinschaute, als könnten sie mir Geheimnisse der weit unter mir schlafenden Stadt verraten. […] Sie [= die Stadt] ist wunderschön. Verführerisch wie eine Frau, unbestimmt wie eine Frau, im blauen Schleier der Dämmerung, in dem sie sich unter die blühenden Abhänge duckt, umgürtet von der stählernen Taille ihres Flusses, mit Smaragden kupferner Kuppeln besät...

Marten greift hier zwar zu Ende des Zitates auch den zeitgenössischen patriotischen Diskurs auf, in dem Prag anthropomorphisch als eine Frau mit der Moldau als Gürtel um die Taille gezeichnet wird. Zugleich verfremdet er dieses Bild, indem er die Stadt als ein Wesen oder, besser gesagt, als eine »Kreatur« zeichnet, die ihre Einwohner, die an der Schwelle zwischen Tag und Nacht kurz aufatmen und frei werden, verzehrt. Das ist kein nationales Idyll, kein mit Geschichte aufgeladener Raum, sondern ein modernes, beinahe expressionistisches Bild einer Stadt, die von alltäglicher Arbeit und der Jetztzeit geprägt ist.20 Damit geht Marten auf Distanz zum historisierenden nationalen Diskurs und Historismus, die sich so stark und prominent des Prager Stadtraums bemächtigten. Insofern erscheint Michal als Erzengel mit dem Schwert nicht als der, der die Stadt wecken, sondern der sie lediglich – ohne konkret zu werden – befreien möchte. So wie die Stadt gezeichnet wird, geht es weniger um eine nationale als um eine modernistische Befreiungsagenda, zu der auch die Säuberung der Stadt vom nationalen Ballast gehört, wie sie Martens zeitweiliges Vorbild F. X. Šalda in seinem Text Mor pomníkový (Denkmalpest) aus dem Jahre 1929 fordert.

6. F AZIT Die drei ausgewählten Texte sind um die Jahrhundertwende in einer Zeitspanne von circa zehn Jahren entstanden. Ihre Autoren können durch ihre Ästhetik dem Fin de siècle zugeordnet werden. Die Texte verbindet ein kritischer Umgang mit dem Narrativ des nationalen Todes und der nationalen Auferstehung. Dieses hängt eng mit der Konzeptualisierung des Prager Stadtraums zusammen; dieser wird zwar einerseits durch referentielle Hinweise aufgerufen, andererseits wird in den ausgewählten Texten eine Distanz zu den nationalen Inskriptionen in den Prager Stadtraum und damit auch zur zeitgenössischen Imagination Prags als tschechische/slawische Stadt sehr deutlich. Gemeinsam ist diesen Texten der referentielle 20 Vgl. auch Nekula (2004).

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Bezug auf Prag und seine öffentlichen Räume und deren Verwandlung in der Narration. Die Differenz zwischen den Texten könnte man folgendermaßen zuspitzen: Während Zeyer in seiner erzählten Welt nationale Erinnerungsorte hinterfragt, neu interpretiert und als universal setzt, verweigert sich Karásek ze Lvovic in seiner Stadtbeschreibung von Prag und in der Narration von Prag und dessen Welt dem Nationalen, indem er sprachlich und national ambivalente Figuren schafft und Prag durch seine erzählte Welt aus Mitteleuropa Richtung Westen verlagert. Hier geschieht narrativ das, was auch bezüglich der künstlerischen Biographien – wie der von Miloš Marten, der lange auch in Paris lebte – oder hinsichtlich der ästhetischen Orientierung und des Aufbaus von literarischen und künstlerischen Netzwerken festgestellt werden kann. Miloš Marten entwirft schließlich Prag in Bezug auf den Raum in einer modernistischen Sprache als eine vom nationalen Sinn losgelöste Kreatur. Dabei verweigert er sich im Gegensatz zu Zeyer und Karásek im Sinne des modernistischen Kanons der Geschichte. Durch seine Zeitlosigkeit macht sich bei ihm bereits der Übergang zu späteren Variationen der Moderne bemerkbar.

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274 | M AREK N EKULA

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Die raumsymbolische Gestaltung Prags in Rainer Maria Rilkes Erzählung König Bohusch L ENA Z SCHUNKE »Warum schreibt man so und nicht so ... aber doch, wenn Sie mir gestatten wollen zu bemerken, daß die Dichter nichts vom Hradschin und vom Teyn erzählen, das macht nichts, das macht nichts. Ich meine, – sehen Sie, ich kenne mein Mütterchen Prag bis ins Herz, ja, und mir hat nie ein Dichter davon was gesagt. Man muß nur groß werden mitten unter diesen Kirchen und Palästen. Die brauchen, weiß Gott, keinen, der für sie spricht, die sprechen selbst, mein’ ich. Wenn man nur hören mag. Oh, was die für Geschichten wissen.« (Bohusch in Rilke 1961a: 114)

Während in Rainer Maria Rilkes Erzählung König Bohusch die Gespräche des Studenten Rezek und der Intellektuellengruppe um nationale Zugehörigkeit und künstlerische Eitelkeiten kreisen, verweist der spöttisch als ›König‹ titulierte Bohusch auf die poetische Eigendynamik Prags. Seine lauschend-zurückgenommene Wahrnehmungshaltung zeigt, dass die Stadt nicht nur bloßes Dekor für die Selbstdarstellung der Figuren oder zu behauptendes nationales Terrain ist, sondern dass ihren Bauwerken und topographischen Strukturen eine eigene Qualität innewohnt. ›König Bohusch‹, der Protagonist von Rilkes gleichnamiger Erzählung, die 1899 als eine der Zwei Prager Geschichten veröffentlicht wurde, ist unansehnlich und bucklig, ein »›verunglückte[r] Proletar‹« (ebd.: 122), wie der Novellist Pátek meint, dem niemand Beachtung schenkt. Dies ändert sich scheinbar kurzzeitig, als er an ei-

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ner von Rezek angeführten Verschwörung teilnimmt, die auf die historische ›Omladina‹-Affäre rekurriert,1 ohne indes die Tragweite seines Tuns zu begreifen. Als die konspirativen Treffen durch einen Brief Bohuschs auffliegen, wird er von Rezek umgebracht. Die Handlung dieser frühen Erzählung ist im Prag der Jahrhundertwende situiert, einem Brennspiegel der heterogenen ethnischen, sprachlichen und nationalen Strömungen des Habsburger Territoriums. Die aus den vielschichtigen kulturellen Verflechtungen resultierende Spannung verstärkt sich im Zuge wachsender nationaler Autonomiebestrebungen im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat Ende des 19. Jahrhunderts – »[d]er Zerfall und Niedergang des [Habsburger; L.Z.] Reichs verdoppelt die Krise, verschärft überall die Deterritorialisierungsbewegungen und weckt komplexe, archaisierende, mythische oder symbolistische Reterritorialisierungen« (Deleuze/Guattari 1976: 35). In Prag potenzierte sich der Nationalitätenkonflikt durch das mit ihm verquickte soziale Gefälle, da die deutsch-urbane Enklave zugleich die Oberschicht gegenüber der rural geprägten tschechischen Mehrheit bildete; dabei versprach »das Identifikationsangebot, das von den nationalen Ideologien ausging, [...] die Kompensation des aus lebenspraktischen Gründen immer notwendiger werdenden Miteinanders« (Schneider 2009: 14). Anders als es in der Forschung meist der Fall war, soll es in dieser Untersuchung der sich in König Bohusch entzündenden Konflikte nicht darum gehen, ob Rilke ein »im höchsten Maße berufene[r] Vermittler zwischen zwei sich entfremdeten kulturellen Welten« (Rozhledy, revue literární, politická a sociálni 1896: 391; zit. n. Černý 1977: 2) war, oder ob er doch, wie Jaromír Loužil ihm attestiert, ein anachronistisches Bild der tschechischen Kultur entwirft und »trotz seiner Sympathie und seinem Verständnis für sie der überheblichen deutschen Vorstellung von den Tschechen als einem ›Bedientenvolk‹ verhaftet geblieben ist« (Loužil 1998: 34). Diesen Ansätzen gemein ist das Konzept von Kulturen als statische Größen sowie die Fokussierung auf die unmittelbare Kommunikationsebene der Erzählung, deren propositionaler Gehalt dann (mehr oder weniger konsistent) mit der Haltung des Autors in Einklang

1

Vgl. Schneider (2009: 31): »In König Bohusch verarbeitet Rilke erstmals in seinem erzählerischen Werk einen aktuellen politischen Stoff: Den Prozess um die Omladina, eine illegale tschechisch-nationale Organisation, die u. a. im Zusammenhang mit der Ermordung eines agent provocateur 1893 Schlagzeilen machte. [...] Der Tapezierer Rudolf Mrva, der Rilke zu der Figur des König Bohusch inspirierte, hatte zusammen mit Mitgliedern der Omladina einen Sprengstoffanschlag auf das Palais des Statthalters geplant und seine Mitverschwörer bei der kaiserlichen Polizei denunziert. Dafür wurde er von zwei Anhängern der Organisation am 23. Dezember 1893 ermordet.«

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zu bringen versucht2 oder auf ›das tschechische Volk‹ übertragen wurde3. Den folgenden Ausführungen liegt hingegen die Beobachtung zugrunde, dass in der mit Bohusch verknüpften räumlichen Gestaltung der Erzählung ein poetologischer Gehalt verborgen liegt, der auf wichtige Fragestellungen der Moderne verweist. Daher soll das unterschwellige und dem offenen Diskurs entgegenlaufende produktive Potential des Textes über eine raumsymbolische bzw. eine sich daran anknüpfende poetologische Untersuchung eruiert werden. Um die spezifische Qualität der heterogenen Aneignungs- und Symbolisierungsprozesse in Prag zu fassen, wird im ersten Teil dieser Untersuchung die Stadt aus einer geopoetischen bzw. geokulturologischen Perspektive beleuchtet und die Eigentümlichkeit der mit Bohusch verbundenen Orte anhand von Foucaults Begriff der Heterotopie in den Blick genommen. Darauf aufbauend sollen in einem zweiten Schritt die poetologischen Implikationen von Bohuschs spezifischer Form der Raumwahrnehmung entwickelt werden. Der Fokus liegt zwar auf der räumlichen Gestaltung, indes spielt auch der zeitliche Aspekt eine wichtige Rolle, da sich der kulturelle Diskurs in König Bohusch wesentlich über die Verflechtung von Raum und Zeit konstituiert. Ein zentrales Paradigma für die Beurteilung kultureller Eigenheiten und Entwicklungspotentiale in den Diskussionen der Figuren stellt der Gegensatz von Jugend und Alter der Nationen dar, sodass das Prag der Erzählung als ein Chronotopos mit divergenten symbolischen Fluchtlinien aufgefasst werden kann. In König Bohusch – so die These – lassen sich zwei verschiedene topographisch entfaltete Kultur- bzw. Kunst-Entwürfe finden, die auf ganz unterschiedlichen Annahmen basieren. Zum einen wird auf der expliziten Ebene des öffentlichen Diskurses das Konzept von Kulturen als ontologische Entitäten aufgerufen, die sich in der geschichtlichen Zeit entfalten. Zum anderen aber lässt sich in der Figur Bohuschs die Utopie einer rezeptionsästhetisch-transnational ausgerichteten Poetik der sprechenden Dinge erkennen, die einen kulturellen Hegemonieanspruch, wie er mit der ideologischen Hypostasierung ›des Volkes‹ verbunden ist, transzendiert.

2

Vgl. Loužil (1998: 35f.) oder Naumann (1991: 55), der diese Tendenz zwar bei Peter Demetz kritisiert, ihr aber selbst verhaftet bleibt.

3

Vgl. Naumann, der in der Schlussszene zwischen Bohusch und seiner Mutter »die gemeinsame Traurigkeit, die zum Wesen dieses Volkes gehört« (Ebd.: 52), sowie die Heimkehr »zu seinem [Bohuschs; L.Z.] mütterlichen Volke« erkennt (Ebd.: 53), oder Vera Schneider, die konstatiert: »In seinen Zwei Prager Geschichten baut Rainer Maria Rilke die Stilisierung des tschechischen Volkes zu einer Gemeinschaft von Melancholikern weiter aus.« (Schneider 2009: 177)

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K ULTURELLE ANEIGNUNG

DES

R AUMES

Um sich der vielschichtigen Struktur Prags zu nähern, die von der träumerisch-poetischen Zugangsweise Bohuschs ebenso wie von dem national aufgeladenen Diskurs der Verschwörer und Intellektuellen geformt wird, bedarf es einer intensiveren Analyse der raumsemantischen Konstruktionen, wie sie aus einer geopoetischen bzw. geokulturologischen Perspektive möglich ist. Mit der Kategorie der Geopoetik, die im Kontext des spatial bzw. topological turn4 steht, wird »eine Relektüre von Territorien vorgenommen, die die Heterogenität Ostmitteleuropas neu erschließt« (Marszałek/Sasse 2010: 7). So lässt sich das spannungsvolle Wechselverhältnis zwischen der örtlichen Verankerung geschichtspolitischer Narrative und der künstlerischen Anverwandlung des Raumes fokussieren. In König Bohusch ist dieses national aufgeladene Thema in den um Volkstümlichkeit, Territorium und das deutsch-tschechische Verhältnis kreisenden Diskussionen überaus präsent. So sagt etwa Bohusch über die Deutschen: »Sie verstehen unser Land doch nicht, und deshalb können sie uns es niemals fortnehmen. An den Grenzen, da giebt es ja wohl große Wälder und Gebirge, wo die Deutschen ganz fest sitzen, nicht wahr? Aber die umrahmen doch eigentlich nur das Land. Was dazwischen liegt, die vielen Felder und Wiesen und Flüsse, das ist unsere Heimat, das gehört uns, wie wir dazu gehören mit allem in uns.« (Rilke 1961a: 116)

Um das Spannungsverhältnis von territorialem Besitzanspruch und affektivem Heimatbezug zu fassen, bietet sich das Konzept der Geopoetik an, da es »erlaubt, nicht prinzipiell zu unterscheiden zwischen ›realen‹ und ›fiktiven‹ Räumen«, und so »den Blick auf die Durchlässigkeit, die Überschneidungen zwischen beiden Kategorien« (Frank 2010: 30f.) lenkt. Der Begriff der Geopoetik, der auf den Essay Éléments de géopoétique (1987) von Kenneth White zurückgeht, fußt auf dem Paradigma einer symbolisch-kulturellen Konstruiertheit des Raumes, das sich gegen dessen vermeintlich ursprünglich-ontische Beschaffenheit wendet und die genuine Ortsgebundenheit jeder Kultur postuliert (vgl. Frank 2010: 19). Die begriffliche Verbindung von geo und poiesis verweist auf ein Raumverständnis, dem weder ein statisch-prädiskursiver Behälterraum zugrunde liegt, der auf seine Bewohner einseitig formierend einwirkt, noch ein rein intentional kreierter, der materielle Gegebenheiten in rhetorischen Konstruktionen auflöst. Während die Geopoetik von einem emanzipatorischen Impetus 4

Zu der begrifflichen Differenzierung von spatial turn, topographical turn und topological turn vgl. Günzel (2008); einen Überblick über die (kritischen) Perspektiven verschiedener Disziplinen auf den Raumdiskurs bieten etwa Döring/Thielmann (2008) und Günzel (2010); für einen Überblick über die Forschungsstränge zu verschiedenen Raumkonzepten aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive vgl. Hallet/Neumann (2009).

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getragen ist, der die Autonomie der Kunst gegenüber machtpolitischen Beschränkungen betont (wie es sich etwa in den programmatischen Bestrebungen des Krymskij klub zeigt, vgl. ebd.: 21), beschäftigt sich die Geokulturologie mit strategischen Verfahren, die eine kulturell-geographische Einheit bestimmter Raumgefüge (konstruierend) behaupten und die mit Besitzansprüchen verbunden sind. Ein solcher Konflikt um die Gebietshoheit verdichtet sich im Stadtraum Prag, der nach Marek Nekula als Modell fungiert »for the iconographic and linguistic transformation of many other towns that had previously been nationally indifferent into ›Czech‹ towns« (Nekula 2007: 143). Diese Umgestaltung, von der national ausgerichteten tschechischen Mittelschicht getragen, basiert auf der engen Verknüpfung von Sprache und Gebiet in der nationalen Ideologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd.: 135). Marek Nekula untersucht in seinem Aufsatz »Language and Territory in Modern Czech Literature« diesen Zusammenhang und hebt die Dominanz der Sprache und ihre symbolbildende und homogenisierende Funktion bei der Aneignung des öffentlichen Raumes hervor. Zentral war hierbei das Bestreben, sprachliche Ambivalenzen im öffentlichen Diskurs zu beseitigen und Prag ikonisch durch die Errichtung von Monumenten – eine bedeutende Rolle spielte das 1881 fertiggestellte und 1883 nach einem Brand wieder aufgebaute Nationaltheater – als einheitlichen ›tschechischen‹ Raum zu formieren. Diese Bauten verkörperten nationale Werte und politische Ziele und stützten und beeinflussten so wechselseitig den öffentlichen Diskurs im Sinne eines »continuum of intertextually active signs« (ebd.: 142). Zusätzlich zu der geopoetischen bzw. geokulturellen Dimension, die für den die Erzählung prägenden Diskurs um nationale Hoheitsansprüche und ihre semiotische Untermauerung zentral ist, soll die raumorientierte Vorgehensweise mit den Konzepten des Dritten Raumes und der Heterotopie um eine weitere Perspektive ergänzt werden, um so die spezifische semantische Aufladung Prags einholen zu können.

U NHEIMLICHE O RTE

DES

D AZWISCHEN

Mit Homi K. Bhabha kann man von Prag als einem ›Third Space‹ sprechen, in dem sich realgeographische Besitzansprüche und imaginär-kulturelle Symbolbildung verbinden und einen Zwischenraum generieren, der »unsere Auffassung von der historischen Identität von Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft, die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht und in der nationalen Tradition des Volkes am Leben gehalten wurde, sehr zu Recht in Frage [stellt]« (Bhabha 2000: 56). Prag als konzentrischer Ballungsraum heterogener Kulturen und Nationalitäten wird in König Bohusch als dynamischer und fortwährend kulturellen bzw. mythopoetischen Anverwandlungen unterzogener Dritter Raum gezeigt: »Prag

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– dieses reiche, riesige Epos der Baukunst. Voll Licht und Leben spannt es sich aus vor den Augen des Hradschin, und zu seinen alten fügen sich immer würdig neue, glänzende Strophen.« (Rilke 1961a: 131) Die widerstreitenden, kulturell jeweils überkodierten Ansprüche um das Weitererzählen dieses Epos manifestieren sich in König Bohusch in der Auseinandersetzung um Deutungs- und Diskursmacht. In der polyphonen Gemengelage Prags fungiert die Sprache als ein Machtdispositiv, das sich über die Parameter von Lautstärke und imposanter Gestik in einem räumlich degagierten intellektuellen Diskursfeld bildet, das von den mondänen Dichtern geprägt wird, die nach Rezek »›überhaupt gar nicht mehr hier, in Böhmen, zu Haus‹« (ebd.: 111) sind.5 Diesen nationalpolitisch-ästhetischen Auseinandersetzungen um eine Rede- und Gebietshoheit steht der kleinwüchsige Bohusch gegenüber, der ein an der Materialität der Stadt orientiertes, traumverhangenes Verstehen der Dingwelt verkörpert und der bei dem Versuch, in der redegewandten Sphäre des ›Großen‹ und ›Politischen‹ zu reüssieren (wobei auch er national Stellung bezieht), zugrunde geht. Er nimmt an der Verschwörung des Studenten Rezek gegen die deutschen Unterdrücker ohne Wissen um die tatsächlichen Verhältnisse teil, einzig aus dem Bestreben, anerkannt zu werden und Gehör zu finden. Die Charakterisierung der Figuren in diesem politisch-poetischen Spannungsfeld erfolgt vor allem über ihre Verortung in einem semantisch aufgeladenen Raum – die Künstler und Intellektuellen, die die kulturelle Diskurshoheit der Tschechen für sich reklamieren, sind an zentralen und lautstarken Knotenpunkten zu finden, im National-Café oder ›Am Graben‹, der Promeniermeile, »auf deren breiten Gangsteigen das ganze moderne Prag seinen Sonntagmittag verbringt« (ebd.: 122), wobei dabei sicher nicht zufällig ein prototypischer Ort des Nationalitätenzwists zwischen Deutschen und Tschechen aufgerufen wird.6 Dagegen befinden sich die mit Bohusch assoziierten Orte an der Peripherie der Stadt, sie sind dynamisch und instabil, wie sich an der Heterotopie des Friedhofs zeigt. Im Gegensatz zur Utopie stellt die Heterotopie nach Foucault einen lokalisierbaren Ort dar, der nur in dem doppelten Aspekt von Verbindung und Widerspruch zu den umgebenden Räumen zu verstehen ist und dem in seinem kontrafaktischen Moment ein macht- und kulturdiagnostisches Potential innewohnt. Anhand des Wandels 5

Zu der These einer besonderen Ausprägung der tschechischen Dekadenzliteratur aufgrund der mehr sprachlich-idealisch postulierten als real praktizierten Kultur im 19. Jahrhundert sowie der mangelnden Selbstverständlichkeit ihrer Existenz vgl. Macura (1994: 280f.).

6

Vgl. die Konkurrenz zwischen dem deutschen Kasino (1874 eröffnet), das das Zentrum des deutschen Lebens im Graben bildete, und dem tschechischen Gemeindehaus, das »nach den Vorstellungen des Prager Magistrats eine Tschechisierung des Grabens einleiten und überhaupt dazu verhelfen [sollte], dass sich das tschechische gesellschaftliche, kulturelle und schließlich auch wirtschaftliche Leben den bisher von der deutschen Minderheit besetzten Raum erobern könne« (Petrbok/Randák 2010: 47).

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dieser Räume lassen sich Verschiebungen von gesellschaftlichen Konfigurationen ablesen. So bildete nach Foucault der Friedhof – die zentrale Heterotopie in König Bohusch – bis Ende des 18. Jahrhunderts das Zentrum der Stadt, gleich neben der Kirche, bis er im 19. Jahrhundert im Zuge der bürgerlichen Individualisierung des Todes und der damit einhergehenden Angst vor diesem an die Peripherie gedrängt und gesellschaftlich marginalisiert wurde (vgl. Foucault 2005: 937). Der Friedhof wurde zu einem anrüchigen Ort, der das Ausgeschlossene des öffentlichen Raumes beinhaltet und, in der Dialektik der Selbstkonstitution über ›das Andere‹, trotzdem in einer Austauschbeziehung zu diesem steht. Die Heterotopie stellt gegenüber dem sie umgebenden Raum einen illusorischen Ort dar, der den gesellschaftlichen Raum als trügerisch entlarvt. Dieses kritische Potential lässt sich auch in den mit Bohusch assoziierten Orten erkennen (neben dem Friedhof ist hier das Kloster der Barnabiterinnen zu nennen7), die in ihrer ambivalenten, sich wandelnden und unbedingt transnationalen Beschaffenheit über die bornierte Enge der Alltagswelt und ihre national ausgerichteten Diskurse hinausweisen. Der Friedhof, an dem Bohusch sich bevorzugt aufhält und an dem er sonntags Frantischka erwartet, die Malvasinka, die zu den »ärmeren Friedhöfen, wo keine mächtigen Marmordenkmäler von Gärtnerhand mit berechnender Kunst verziert werden« (Rilke 1961a: 124), gehört, evoziert die durchgehend mit Bohusch verbundene Armseligkeit und Kleinwüchsigkeit, aber auch die Utopie von Unmittelbarkeit und Authentizität. Der Friedhof ist hier nicht nur Heterotopie, ihm eignet ebenfalls eine heterochrone Dimension: Ausgehend von der Malvasinka eröffnet sich in Bohuschs Wahrnehmung ein Gedächtnis-Raum, der die räumlich-zeitliche Begrenzung transzendiert und ein Tor in die eigene Vergangenheit eröffnet: »Er [Bohusch; L.Z.] stäubte die Blüten mürrisch von seinen schwarzen Ärmeln und schaute an dem sonnigen Sonntag vorbei in einen anderen – ganz anderen Tag. Das war auch auf einem Kirchhof. Vor drei Jahren ungefähr.« (Ebd.: 125) Es folgt eine Analepse zu der Beerdigung des Vaters. Dieses Verschwimmen von Gegenwart und Vergangenheit auf einer zeitlich-räumlichen wie identitären Ebene eröffnet einen Dritten Raum der Liminalität, einen unsicheren, unverortbaren Grenzbereich, der charakterisiert ist durch ein unauflösbares Oszillieren zwischen Vertrautem und Fremdem. Prototypisch für dieses Schwankende steht der in der Erzählung prominente Bereich des Träumerischen, der, selbst bereits eine Schwelle zwischen realen Versatzstücken und phantastischer Verdichtung markierend, die Wendung hin

7

An diesem Kloster eröffnet sich für Bohusch eine neue Sicht, ungetrübt von Vorurteilen, als Prinzessin Aglaja in dieses »schrecklichst[e] aller Klöster« (Rilke 1961a: 132) gebracht wird und Bohusch aufgeht, dass das Schicksal auch privilegierte Menschen treffen kann: »Ein ganzes Bündel Vorurteile fiel ihm damals mit einemmale aus den Händen, etwas von einer Weltanschauung, von einer Religion wurde ihm geschenkt.« (Ebd.: 134)

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zum Unheimlichen, Unvertrauten verstärkt: »Die Trauung war in der großen Kuppelkirche von St. Niklas, und auch den Pfarrer erkannte Bohusch gleich wieder. Bis dahin war es vernünftig und so wie am lichten Tage. Aber mit einemmale wurde es ganz seltsam.« (Ebd.: 130) Bohusch reklamiert in der Innen-Außen-Symbolik, deren scheinbare Eindeutigkeit gleichwohl immer wieder unscharf wird, ein esoterisch-subkutanes Wissen: Er kenne sein »›Mütterchen Prag bis ins Herz – bis ins Herz‹« und im Herzen sei »›immer das Heimlichste‹« (ebd.: 107). Dieses Heimliche aber lässt sich nicht bannen, vielmehr befindet sich im Kern der Stadt immer auch das Unheimliche, das sich in der Unentwirrbarkeit der vielen sich überschneidenden ober- und unterirdischen Wege Prags zeigt, mit Gängen, die laut Bohusch »›weit, weit unter der ganzen Stadt durch, vielleicht bis nach Wien‹« (ebd.: 108) führen und die eine, mit Deleuze/Guattari gesprochen, rhizomartige Wucherung der Stadt gegen Versuche ihrer binären Kartierung symbolisieren. Bleibt man in diesem Bildrepertoire, dann lässt sich feststellen, dass die gesellschaftlich integrierten Intellektuellen eine (geistige wie materielle) Reterritorialisierung vollziehen bzw. in dieser vollzogenen stagnieren, während Bohusch das Prinzip des Deterritorialisierten verkörpert, so sehr, dass es den Zusammenhang seiner Subjektstruktur sprengt. In dieser die Erzählung insgesamt grundierenden Instabilität erscheint das Heimliche gebrochen und untrennbar mit der Komponente des Unheimlichen als unheilvolles Wetterleuchten verknüpft. Zwischen diesen Momenten changiert Bohuschs Weltwahrnehmung als eine von fortwährenden Störungen und Dissoziationen gekennzeichnete, deren Bruchstücke er immer weniger zu synthetisieren vermag.

D EFIGURATION DES S UBJEKTS Das raumsymbolisch modellierte Phänomen einer widerspruchsvollen Semantik, die sich zu keinem Pol hin auflösen lässt, weil es keinen mit sich selbst identischen, diaphanen und vor jedem semiotischen Bruch angesiedelten Ursprung gibt, prägt auch die Subjektstruktur Bohuschs. Daraus ergibt sich ein deutlicher Kontrast zu den scherenschnittartig typisierten Figuren der Intellektuellenszene: Während diese alle einem (beruflichen) Paradigma zuzuordnen sind (der Maler Schileder, der Schauspieler Norinski, der Lyriker Machal, der Kritiker Karás, der Novellist Pátek), entzieht sich Bohusch konsequent einem binären Repräsentationsdenken. Nicht einmal zwischen ihm und seinen Gedanken besteht eine gesicherte Übereinstimmung, sie sind »nicht mehr in ihm, sie liefen vor ihm her, und er musste sie verfolgen, um sie wieder zu fangen« (ebd.: 106). Auf die Unterminierung dichotomischer Zuordnungen wie der von Wesen und Erscheinung, Signifikat und Signifikant, hat bereits Peter Zusi

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hingewiesen, der konstatiert: »While the two stories [König Bohusch und Die Geschwister; L.Z.] unfold within a binary structure, they repeatedly demonstrate the breakdown of precisely those binaries: analogous pairs are disrupted by a third element, and individual elements simultaneously embody opposing principles.« (Zusi 2006: 329) Die für ein Fortschrittsdenken kennzeichnende Vorstellung einer sich linear anreichernden Zeit zerfällt – und dies ließe sich durchaus als Signatur der Moderne lesen – in der Figur Bohuschs in zusammenhanglose Segmente. Dass es keine produktiv zu füllende Zeit gibt, in der das Subjekt sich entelechisch entfaltet, illustriert das Bild der »Uferlosigkeit seiner [Bohuschs; L.Z.] Zeit« (Rilke 1961a: 144). Tag und Nacht sind ihm nach der Teilnahme an der Verschwörung in »ein gleichmäßiges graues Hindämmern zusammengeschmolzen« (ebd.: 144). Die Raumadverbiale in folgendem Passus veranschaulichen, dass die Instabilität von Bohuschs Identität wesentlich räumlich gedacht wird: »Die Vorstellung wuchs in ihm ganz bestimmt und deutlich, aber gleichsam im Hintergrund seiner Seele, während vorn sein eigenes Ich stand [Hervorh. v. mir, L.Z.].« (Ebd.: 112f.) Diese Fragmentierung des Ichs kulminiert in der dissoziativen Direktive: »Du bist häßlich. Aber rede nur erst. Reden macht schön. Da hast du es gerade sehen können. Versprich mirs. – Und der arme Bohusch gab seinem Ich das Ehrenwort: Gewiß, von jetzt an werde ich reden.« (Ebd.: 113) Bohuschs grundsätzliche gesellschaftliche Deplatziertheit als »der Verwachsene«, der einer »giftige[n], gräßliche[n] Kröte, die man mitten in süß duftenden Beeten entdeckt« (ebd.: 148), gleicht, macht ihn analog zum Dritten Raum als einem Ort des Dazwischen zu einer Figur des Dazwischen und bildet den Ausgangspunkt für seine Flucht in die imaginäre Topographie der Phantasie. Diese figuriert in ihrer Überschreitung realer Verortbarkeit »das ›inter‹ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – [...], das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt« (Bhabha 2000: 58), wodurch die räumlich kodierte prekäre Disposition Bohuschs mit poetischer Verweiskraft aufgeladen wird. Die Fragilität des Subjekts zeigt sich in Bohuschs unbeständigem Verhältnis zu seiner Außenwelt und in den leitmotivisch wiederkehrenden Todessymbolen (der Friedhof, das nekrophile Begehren Bohuschs gegenüber seinem Vater, die Selbstmordphantasie, das »stumm[e] Sterben« [Rilke 1961a: 131] der Barnabiterinnen, die Farbe Gelb als Todesbote8), wobei die Motivwiederholungen, die die Ermordung Bohuschs ankündi-

8

Vgl. folgende Stellen: »Und so oft der Kleine das [Name und Amt seines Vaters auf einer Marmortafel; L.Z.] las, begann er immer mit gierigen Nägeln in Gras und Schollen zu graben, bis er immer matter und der Atem der feuchten Erde immer schwerer und dunstiger wurde und seine blutigen Nägel endlich kreischten auf dem glatten Holz eines großen gelben Sarges [Hervorh. v. mir, L.Z.].« (Ebd.: 106); »Nur eine Sekunde, dann kam ein Ent-

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gen bzw. retrospektiv motivieren, ebenfalls zur Unterminierung einer chronometrischen Struktur beitragen. Bohuschs psychischer Niedergang wird als Zerstückelung seines Ichs beschrieben, als Resultat des Verlusts der von ihm geliebten Frantischka und Aglaja (wobei aus der Erzählung nicht eindeutig hervorgeht, bis zu welchem Grad es sich bei diesen Beziehungen um Bohuschs Projektionen handelt), denen er »so viel aus sich gegeben hatte, daß nun nur ein ganz kleiner Rest sein eigen blieb« (ebd.: 148). Bei der Frage, wie der sich klaren Zuordnungen entziehende Aufbau der Erzählung zu bewerten ist, scheint Peter Zusis Analyse treffender als diejenigen, die Rilke »political naïveté or stylistic immaturity (or both)« (Zusi 2006: 329) attestiert haben. Während Helmut Naumann »gestalterische Mängel« (Naumann 1991: 54) moniert, die für ihn vor allem in der fragmentarischen Darstellungsweise liegen, entdeckt Peter Zusi in den Zwei Prager Geschichten »a complex literary structure that critiques the very notion of rounded subjektivity underlying the idea of national consciousness« (Zusi 2006: 330). Inwiefern mit der in Bohusch aufgeworfenen (räumlichen) Dekomposition des autonomen Subjekts auch eine Ablehnung stereotyper Nationalitätszuschreibungen verbunden ist, die über eine poetologische Ebene verläuft, soll im Folgenden eruiert werden.

N ATIONEN

ALS MORPHOLOGISCHE

E NTITÄTEN

Die Erzählung ist durchzogen von dem Motivfeld der Größe und des Wachstums, das eine Opposition aufspannt zwischen dem »kleine[n] kränkliche[n] Bohusch« (Rilke 1961a: 105) und den »›großen Herren, [...] diesen Künstlern‹« (ebd.: 109), wie Rezek sie nennt. Dem korrespondiert auf der Ebene der Nationen das Verhältnis zwischen

setzen über sie, sie empörten sich wie rebellische Sklaven, die Menge flüchtete mit verstörtem Flüstern und wilden Flüchen in die Tiefe des Ganges, und das Licht sprang dem Bohusch ins Gesicht wie eine gelbe Katze. Da erwachte und bebte er [Hervorh. v. mir, L.Z.].« (Ebd.: 142); »Das gelbe Tuch war unerträglich grell in der Nachmittagssonne. Sie schauten sich eine Weile schweigend an, diese beiden kleinen, verkümmerten Menschen. Dann trippelte die Alte zur Tür und nickte und nickte. Plötzlich war der Bohusch bei ihr. ›Maminko‹, sagte er, und seine Stimme war die eines kranken Kindes [Hervorh. v. mir, L.Z.].« (Ebd.: 154); »Dennoch beharrte er trotzig: Ich habe alles gesagt, die Mutter weiß alles – ›und du auch‹ – ergänzte er laut und suchte die Augen der gelben Katze, welche ihm langsam und listig aus der anderen Ecke entgegenkam [Hervorh. v. mir, L.Z.].« (Ebd.: 156); »Und dann glitt das gelbe Tuch über den armen Körper und deckte den Bohusch und sein Geheimnis zu [Hervorh. v. mir, L.Z.].« (Ebd.: 157). Vgl. zu diesem Aspekt auch Zusi (2006: 341).

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dem »›ganz junge[n], gesunde[n], kaum erwachte[n] Volk‹« (ebd.: 110) der Tschechen und den abgeklärt-gereiften, sogenannten ›großen Kulturvölkern‹ Deutschland und Frankreich. Das Bild von Nationen, die einen Prozess von ihrer Entstehung über die Blüte hin zum Verfall durchlaufen, der von teils kontingenten, teils aber auch essentialistisch zugeschriebenen Eigenschaften geprägt ist, evoziert analog zu der organischen Morphologie eine Morphologie der kulturellen Entfaltung und ruft gleichzeitig ein verbreitetes Thema der Dekadenzliteratur auf. Die Darstellung der friedvoll-ruralen slawischen Völker, von Rezek als »›Sklaven‹« (ebd.: 116) bezeichnet, die unter dem Joch deutscher Stämme und ihren christlich bemäntelten »Unterdrückungskriege[n]« (Herder 1978: 394) zu leiden hatten, geht auf das ›Slawenkapitel‹ in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zurück. Tadeusz Namowicz verweist hier auf die negative Wendung der Festschreibung auf agrarische Tätigkeiten bei Hegel, nach dem die Slawen »langsamer und schwerer zum Grundgefühl des subjektiven Selbst, zum Bewußtsein des Allgemeinen [...] gekommen« (Hegel 1961: 478) seien. Herder zeichnet das Bild der slawischen Völker, die von ihren »Sklavenketten« (Herder 1978: 395) befreit sein werden, in einer Welt, in der generell Krieg als ein Mittel der Auseinandersetzung durch Politik und Gesetzgebung abgelöst sein wird. In der Rezeption von Herders Ideen, die im osteuropäischen Raum so breitenwirksam für eine autochthone Identitätsbildung wurden, weil Herder eine idealisierte slawische Vergangenheit und, im triadischen Progress über den Zustand der Unterdrückung, eine dieser korrespondierende verheißungsvolle Zukunft entwirft, wurden dabei nach Tadeusz Namowicz »der Kategorie des ›Nationalen‹ [...] alle anderen Fragestellungen untergeordnet« (Namowicz 1994: 345). Die Auseinandersetzung um die nationale Entfaltung, die wesentlich auf einer räumlichen Ebene als Kampf um die Territorialhoheit bzw. deren kulturelle Repräsentationen ausgetragen wird, fällt in den Bereich der Geokulturologie. Laut Susi K. Frank besteht [u]nabhängig vom jeweiligen politischen Ziel [...] die diskursive Strategie von Geokulturologie darin, das Postulat eines regional spezifischen Kulturraums mithilfe der Rekonstruktion seiner historischen Entstehung in Beziehung zu und Wechselwirkung mit den geographischen Bedingungen zu erhärten und geokulturelle Einheiten mit gemeinsamer kultureller Identität, gemeinsamem kulturellen Gedächtnis, gemeinsamer Kulturproduktion (aktuelle Variante), gemeinsamer Beziehung zum Raum bzw. räumlicher Lebenspraxis zu konstruieren. (Frank 2010: 34)

Dieser Diskurs bildet in König Bohusch das Hauptgesprächsthema und stellt ein Motivinventar zur Verfügung, das sowohl für die Diskussionen der Intellektuellen als auch für die der beiden Außenseiterfiguren Rezek und Bohusch prägend ist. Die konspirative Gruppe, die sich um Rezek bildet, will, den »›Haß‹« (Rilke 1961a: 116) gegen die Deutschen schürend, eine nationale Erhebung erreichen. Die kulturelle Grundlage dafür stellt die Kritik an den kosmopolitischen Dichtern dar, die »›über Nacht fertig‹« und »›[ü]berreif‹« (ebd.: 110) geworden seien und einer dekadenten

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westlichen Velleität nacheiferten: »›Während das Volk sich rührt und zum erstenmal fühlt, wie jung und gesund es ist [...], schänden die Künstler seine Sprache dadurch, daß sie ihren Frühling für die kranke Kunst eines Endes mißbrauchen.‹« (Ebd.: 111) Diese Debatten verweisen auf den realgeschichtlichen Hintergrund der Auseinandersetzung um die Frage, inwieweit Kunst eine nationale Funktion zu erfüllen hat. Einen Höhepunkt dieser Kontroverse bildete um die Jahrhundertwende der Disput zwischen einer national orientierten Mittelschicht mit den Vorstellungen der »National Theatre Generation« (Nekula 2007: 145), die in der Kunst das Primat des Tschechischen realisiert sehen wollte, und den kosmopolitisch ausgerichteten symbolistischen Dichtern mit ihrem Postulat der Kunstautonomie. Eine solche die Anbindung an die europäische Moderne suchende Strömung, wie sie Dichter wie Jiři Karásek ze Lvovic verkörperten (vgl. Schamschula 1996: 363f.), wird von Rezek als importierte anämische Kultur kritisiert, die mit einer verdrehten Topologie zusammenhinge: »›Das ist eine Herzensfrage. Das ist nicht Zufall, dass ihnen jene entfernten Dinge ›liegen‹ und das Nahe, Vertraute ihnen nichts zu sagen hat. Sie sind einfach Fremde.‹« (Rilke 1961a: 113) Das ontologische Nationalitätenkonzept wird aber immer wieder durch die dargestellte Heterogenität der Ansichten und Deutungen konterkariert, die die Hybridität des ›tschechischen Volkes‹ im Sinne des oben beschriebenen Oszillierens zwischen vertraut und fremd, jung und alt ausstellen. Die Verschiebung im Raum-Zeit-Gefüge zeigt sich etwa an dem Motiv des Frühlings, der im Eingangsgespräch von dem Dichter Machal – seiner spätzeitlichen Ausrichtung entsprechend – als »›feige[r] traurige[r] Kampf‹« (ebd.: 103) bezeichnet wird, wohingegen Bohusch im Stillen an einer »Apologie des Frühlings« (ebd.: 104) dichtet, der sich auf der abgeschiedenen Malvasinka, auf der viele Kinder begraben liegen, besonders wohl fühlt: »Und weil es ihm doch so gut geht, wird der Frühling an einem solchen Orte früher groß als anderswo.« (Ebd.: 125) In Die Geschwister erläutert Rezek, der das Scharnier der Zwei Prager Erzählungen bildet, seine Auffassung über das tschechische Volk dahingehend, dass seine Tragödie auf das Zugleich von Kindlichkeit und Greisentum zurückzuführen sei und in ihm Anfang und Ende zusammenfielen (vgl. Dieterle 2004: 253); auch hier also greift der Abgrenzungsmechanismus zwischen Eigenem und Fremden nicht (auch und gerade nicht innerhalb eines Volkes), kulturelle Reinheits- und Ursprünglichkeitsvorstellungen erweisen sich als nicht haltbar.

U TOPIE

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Rezek strebt danach, diese von ihm diagnostizierte Heterogenität der Tschechen in einer überhöhten Einheitsvision aufzulösen. Er imaginiert den Künstler als Agitator

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für die Bewusstwerdung und Erhebung des Volkes, der es aus seinem somnambulen Zustand erwecken soll. Diese Haltung verweist auf die Zeit der Wiedergeburt, die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt, mit Ausstrahlungen bis ins 20. Jahrhundert, und in der die Entfaltung einer tschechischen Literatursprache und die Entwicklung eines nationalen Selbstbewusstseins eng verknüpft sind.9 Dem steht eine kontrapunktische, dingmagische Poetik gegenüber, wie sie durch Bohusch angedeutet wird. Die Eruption der Sprachkrise und ihre Bewältigungsformen werden gemeinhin in Rilkes späterem Werk verortet, indes lässt sich durchaus dafür plädieren, dass sich Züge einer sprachskeptischen Haltung und der Suche nach Kompensationsformen bereits in der frühen Erzählung König Bohusch finden lassen.10 Dem von Dirk Göttsche konstatierten »theoretische[n] Hintergrund der Komplementarität von Sprachskepsis und mystischer Augenblickserfahrung in der sprachproblematisierten Literatur der Jahrhundertwende« (Göttsche 1987: 60) entspricht Bohuschs (anfängliches) Schweigen, das auf die Erfahrung fehlgehender Kommunikation bzw. deren sinnentleerte Konventionalität innerhalb der Intellektuellenszene zurückgeht, und dem ein Kairos des Erlebens, das dem Zugriff des Subjekts und seiner sprachlichen Vermittlung entzogen ist, entgegengesetzt wird: Die Nebel um ihn begannen zu ihm zu reden in mächtigen, wachsenden Klängen, und alle Türme, von denen er früher hatte Abschied nehmen wollen, erhoben ihre feierlichen Ave-Stimmen. Es war, als würde oben über den Dächern, hinter den undurchdringlichen feuchten Falten, irgend ein großes Fest begangen, und die Seele des Verwachsenen war plötzlich oben, und ehe er es hindern konnte, ging sie auf in dem mystischen Jubel der Lüfte [Hervorh. v. mir, L.Z.]. (Rilke 1961a: 129)

Auch diese epiphanische Erfahrung ist über die Räumlichkeit ihrer Darstellung vermittelt, in der die Seele des kleinen, erdverhafteten Bohusch sich zu transzendenter Größe und Höhe aufschwingt. Auffällig ist weiter die Verkehrung der Pole von Subjekt und Objekt: Analog zu der oben thematisierten Zerrüttung des Subjekts als ein Charakteristikum der Moderne ist hier die Umwelt dynamisch und sprechend, während das Individuum den Geschehnissen passiv-erfahrend ausgesetzt ist (»ehe er es hindern konnte«). Die Dinge werden unmittelbar zeichenhaft und zum Kristallisationspunkt einer neuen Welterfahrung, die allerdings nur momenthaft und der Steuerung durch das Ich enthoben ist. Diese Art mystischer Erfahrung legt die mediale Begabung Bohuschs offen und erinnert an die Figur des prophetischen Dichters bei 9

Zu dem Wechselverhältnis von tschechischer Literatur und Ideologie im Hinblick auf die nationale Selbstbestimmung vgl. Wutsdorff (2017). Zu der Verbindung von Wiedergeburtsmythos und Pantheon vgl. Nekula (2017).

10 Zu einer kritischen Perspektive auf die Frage nach einer ›frühen Sprachskepsis‹ bei Rilke vgl. Koch (2004: 487f.).

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Rilke (vgl. Wacker 2013: 178f.). Allerdings fehlt Bohusch die Fähigkeit, seine Inspirationen in einem zweiten Schritt zu kommunizieren bzw. künstlerisch produktiv zu machen. Im Zuge des Fragmentierungsprozesses des Subjekts ist die Sprache als lautstarke und syntaktisch geschlossene nicht mehr möglich, einzig dem Abgebrochenen erwächst in einer Art Poetik des suggestiven, leisen Einzelworts noch eine transformierende Kraft: »Plötzlich war der Bohusch bei ihr. ›Maminko‹, sagte er, und seine Stimme war die eines kranken Kindes. Und die alte, verängstigte Frau verstand. Sie wuchs, sie wurde reich, sie wurde Mutter. Durch dieses eine leise Wort wurde sie so.« (Rilke 1961a: 154) Wenn es weiter beim Einkehren in die Arme der Mutter heißt, »dem Bohusch war es wie eine Heimkehr« (ebd.: 154), zeigt dies den Regress in die Mutter-Kind-Dyade an, nachdem der Versuch der Okkupation der väterlichen Stimmgewalt gescheitert war: Das Brett weicht – natürlich – wie eine Fensterscheibe, und der Bohusch holt sich mit heißer Hand aus dem dumpfen Dunkel die Brust des Vaters und schnallt sich dieselbe wie einen Harnisch um die schüchternen Schultern, und er langt wieder hinein [in den Sarg; L.Z.] und sucht und sucht mit krampfigen Fingern und schickt auch die andere Hand zu Hilfe und kann es gar nicht begreifen, daß er mit beiden wunden Händen die Stimme des Vaters nicht finden kann. (Ebd.: 105f.)

Diese Rückkehr bedeutet sowohl eine Rücknahme seiner Individuation – Bohusch vermag nicht mehr zwischen sich und seiner Mutter zu unterscheiden11 – als auch den Verlust der Redekompetenz, die er sich in der Sphäre der ›Großen‹ kurzzeitig angeeignet hatte.12 Identitäts- und Sprachkrise sind untrennbar verbunden, nicht nur klafft die Differenz von Wesen und Erscheinung, auch die sprachliche Repräsentation erweist sich als dysfunktional. Mit der Rückkehr in die vorsprachliche Einheit der Mutterwelt schließt sich Bohuschs Lebenskreislauf: Kurz nach der Umarmung geht die Mutter los, um Frantischka zu holen, und Rezek kommt, um Bohusch zu ersticken. Nach Peter Zusi gelingt es Luisa in der zweiten der Zwei Prager Geschichten, die Fragmentierung der Identität, die sich nicht mehr auf binäre Klassifizierungen stützen 11 Vgl. Rilke (1961a: 154): »Und da begann etwas in ihm zu weinen. Er hörte ganz genau, wie es anhub. Es mußte ganz tief in ihm sein, so leise war es. Es tat auch nicht weh. Und da öffnete er neugierig die Augen; er mußte sehen, wo das weinte. Und sieh: es weinte gar nicht in ihm; die Mutter war das.« 12 Vgl. ebd. (156): »Er dachte: So, nun ist es vorüber; ich habe ja alles schon gesagt, und er wußte doch, daß er nur geweint hatte, und das ist etwas anderes wie eine Rede, so ein Weinen. Dennoch beharrte er trotzig: Ich habe alles gesagt, die Mutter weiß alles – ›und du auch‹ – ergänzte er laut und suchte die Augen der gelben Katze, welche ihm langsam und listig aus der anderen Ecke entgegenkam.«

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kann, fruchtbar zu machen und zu einer positiven hybriden Identität zu gelangen. Dagegen bedinge der Niedergang einer logisch-dual organisierten Welt in König Bohusch den Untergang des Protagonisten (vgl. Zusi 2006: 340f.). Die Tragik von Bohuschs Tod liegt meines Erachtens jedoch nicht darin, dass er mit dem Zusammenbruch einer binären Weltordnung nicht zurechtkommt, sondern ist vielmehr dadurch zu erklären, dass er sich in die Sphäre der Politik und der ›großen Rede‹ begeben hat, ohne deren Mechanismen und gewaltfeste Implikationen zu verstehen, und er über eine Mimikry nicht hinauskommt – »seine Teilnahme an der Verschwörung erfolgt unter ganz und gar traumhaft-dämmrigen Umständen« (Dieterle 2004: 251). Er fühlt sich als der »längst Misskannte, der nun endlich zu Wort und Würde kam« (Rilke 1961a: 144), der nunmehr endlich eine Bühne für seine Reden gefunden zu haben glaubt, wobei es auf deren Inhalt im Bereich der sinnentleerten Worte nicht ankommt. Als er Rezek mit den anderen Verschwörern in einem Gang im Keller seines Hauses findet, gelingt es Bohusch, diesem trotz seiner völligen Unkenntnis zu suggerieren, er habe dessen Pläne durchschaut. Sein Blick findet »zwei lichte lebendige Mädchenhände, die in heftigen Gesten den Worten zu Hilfe kamen, die Bohusch immer noch nicht verstehen konnte. Aber die Hände verstand er.« (Ebd.: 141) Bohusch orientiert sich an dem sinnlich Wahrnehmbaren, den Händen und ihren Gebärden, und setzt damit gegen eine Wortsprache, deren Referenzen er nicht versteht, die Utopie einer unmittelbaren Aussagekraft des Gegebenen, wodurch er an der »mystisch konnotierten Selbstaussprache der Dinge« (Wacker 2013: 210) partizipiert. 1899, im Erscheinungsjahr der Zwei Prager Geschichten, verfasst Rilke das Gedicht Es ist die Stunde, da der Tag nichtmehr, welches das Zusammenspiel von Dichter und Dingen in der Nacht – einem weiteren Zustand der Grenzauflösung – thematisiert: »Da denken alle Dinge an den Dichter, / von dessen Freude sie noch immer leben«; »Der Dichter aber sammelt seine Kräfte, / um ihnen bald ihr Eigenstes zu sagen. / Und seine Seele ragt und wacht.« (Rilke 2004: 55) Bezeichnenderweise wird auch hier wie bei Bohusch das Sagen, die Umwandlung in Ausdruck, nicht vollzogen, sondern nur unbestimmt in Aussicht gestellt. Dass sich in der raumsymbolischen Charakterisierung Bohuschs Utopie und Heterotopie überschneiden, zeigt die Präsentation Bohuschs in der Anfangsszene im National-Café, in der er von Norinski durch einen Spiegel verfremdend wahrgenommen wird.13 Das Medium des Spiegels figuriert nach Foucault den Schnittpunkt von 13 Vgl. Rilke (1961a: 99): »Als der große Mime Norinski um drei Uhr nachmittags in das National-Café, welches vor dem Prager tschechischen Theater liegt, eintrat, erschrak er ein wenig, lächelte aber gleich darauf sein verächtlichstes Lächeln: in dem Spiegel, schräg gegenüber der Tür, hatte sich irgend eine entfernte Ecke des Saales gefangen, und er hatte drinnen eine schiefe Marmorsäule und unter dieser Säule einen kleinen, buckligen Mann erkannt, dessen seltsame Augen dem Eintretenden wie lauernd aus einem unförmigen Kopfe entgegenstarrten. Das Fremde dieses Blickes, in dessen Tiefen irgend ein unerhörtes

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Utopie und Heterotopie: »Und ich glaube, dass es zwischen den Utopien und diesen völlig anderen Orten, den Heterotopien, eine gemeinsame, gemeinschaftliche Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht.« (Foucault 2005: 935) Die Diskrepanz gegenüber dem realgesellschaftlichen Raum und dessen spezifischer Kommunikationsform als eine Sprache ohne konkrete Anbindung zeigt sich in Bohuschs fortwährendem Missverstehen – selbst im Kampf gegen das Ersticktwerden begreift er die Zusammenhänge nicht, »seine Hände wehrten krampfhaft ab, aber in seinen Augen war noch immer kein Verstehen. Sie lächelten noch.« (Rilke 1961a: 156) Dieses grundsätzliche und anhaltende Nicht-Verstehen, eine semiotische Fehllektüre, ist wesentlich verantwortlich für Bohuschs Ausschluss aus dem Wertesystem der Gesellschaft und die damit einhergehende Außenseiterposition »de[s] Einsamen« (ebd.: 126), die bei Rilke schon seit seinen frühen Artikeln mit dem Künstlerischen konnotiert ist (vgl. Koch 2004: 481). Bohusch ließe sich so durchaus als eine Art verhinderter poète maudit verstehen, dem der Übergang von seinem traumverhangenen Denken zu schöpferischem Handeln nicht gelingt. Dieses kreative Potential randständiger Bereiche kann mit Jurij Lotman dahingehend gedeutet werden, dass an der agilen Peripherie die semiotische Dynamik stärker ist als im immobilen Zentrum. 14 Auch Deleuze/Guattari konstatieren im Zusammenhang mit der am Pragerdeutsch illustrierten Vorstellung einer ›kleinen Literatur‹, dass, »wenn sich der Schreibende am Rande oder außerhalb seiner Gemeinschaft befindet, […] ihn das um so mehr in die Lage [setzt], eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken, die Mittel für ein anderes Bewußtsein und eine andere Sensibilität zu schaffen« (Deleuze/Guattari 1976: 26). Aus dieser unterschwellig aufscheinenden Perspektive erscheint der Bereich der ›großen Sprache‹ durchaus nicht als erstrebenswert. Vielmehr zeigt sich seine eindimensionale Beschränktheit, weswegen Helmut Naumanns Apostrophierung Bohuschs als eines »sprachunfähige[n] Krüppel[s]« (Naumann 1991: 31) in meinen Augen die negative Zeichnung der sogenannten Sprachfähigkeit verkennt. Gegen die Kommunikation der öffentlichen Sphäre, die über einen geronnenen Zeichen-Kodex funktioniert – auf der Beerdigung des Vaters haben die Männer »jene Falten um die Lippen, welche nach allgemeiner Übereinkunft Zeichen der Trauer und Ergriffenheit sind« (Rilke 1961a: 125) –, wird eine kratylische Utopie der Wahr-Zeichen gesetzt, die an der Stadt Prag und ihren Monumenten fixiert ist: »Dann steht nur noch der Turm von St. Veit in seinem ewigen greisen Grau aufrecht da. ›Er ist wirklich ein Wahrzeichen‹, sagte Bohusch zu dem schweigsamen Studenten.« (Ebd.: 107) Gegen Rezeks geokulturelle Forderung, der Künstler müsse gegenüber dem Volk als ein die nationale Vergangenheit vermittelnder Advokat fungieren, steht Bohusch für

Geschehen sich dunkel zu spiegeln schien, hatte ihn einen Augenblick in Schrecken versetzt. [...] Dem Original gegenüber empfand Norinski nichts Ähnliches.« 14 Vgl. Lotman (2010: 178). Zu diesem Gedanken auch Frank (2010: 22).

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eine rezeptive Dimension ein: »›Man muß nur groß werden mitten unter diesen Kirchen und Palästen. Die brauchen, weiß Gott, keinen, der für sie spricht, die sprechen selbst, mein’ ich. Wenn man nur hören mag.‹« (Ebd.: 114) Ein solches Gespür für die Eigenqualität der Dinge, deren heimlicher ›König‹ Bohusch ist, da sie in seiner Wahrnehmung zu sprechen beginnen, setzt eine Grunddisposition des Lauschens voraus, eine hyperästhetisch-kontemplative Haltung, die dem selbstbezogenen Gerede der Intellektuellenszene fehlt. Diese Stimmung, in der Bohusch »still für sich mit den vielen goldenen Gedanken [...] spiel[t]« (ebd.: 104), ist gekennzeichnet durch eine besondere Bereitschaft, die Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit zu erfahren. Das im Zusammenhang mit Bohuschs phantasmagorischen Träumereien wiederkehrende Attribut des Goldenen stiftet dabei ebenso wie das Königliche die Verknüpfung mit der ›goldenen Stadt‹ Prag und ihrer »alten Königsburg« (ebd.: 130) und zeigt so eine Ortsbindung an, die keine der anderen Figuren hat. Dieser besondere Zugang zu Prag ist weder zu kontrollieren noch begrifflich zu fassen, sondern nur epiphanisch zu erfahren. In diesen Momenten »eine[r] Äquivalenz von Außen und Innen, von sinnlicher Erscheinung und Wesen bzw. Bedeutung, die ihm [Rilke; L.Z.] im Medium der Sprache unerreichbar schien« (Büssgen 2004: 133), eröffnet sich ein Ausblick auf eine potentielle Überwindung der sprachlichen Arbitrarität. In der Vision einer solchen Kommunikation von Individuum und Gegenstandswelt scheinen diese, sich wechselseitig spiegelnd, die Wahrhaftigkeit des anderen zu verbürgen und die Kluft zwischen sich zu schließen. Hier ließen sich möglicherweise Ansätze für Rilkes Ideal eines ›einfachen Schauens‹ finden, verbunden mit dem Postulat »eines direkten, unverstellten Zugangs zum bildhaften Kunstwerk [...], der über das optische Sinnesorgan und nicht über rational-begriffliche Erkenntnisformen führe« (ebd.: 135). In dieser neu gewonnenen Schlichtheit des Sehens und Lauschens, das einem phänomenologischprädiskursiven Zugang erwächst, ist auch eine Reinigung von den unmittelbaren Blick verstellenden Konventionen sowie eine Dekonstruktion von fixen (Raum-) Grenzen angelegt. Als ein solches den Blick lenkendes und ihn verengendes Konstrukt kann das Nationalitätenkonzept mit seinen realgeographischen Einteilungen verstanden werden, das von Bohuschs Art der Wahrnehmung, die eine imaginäre Topographie der Phantasie aufspannt, unterminiert wird. Allerdings ist hier auch auf den trügerischen Charakter dieser Utopie einer unmittelbaren Dingsprache zu verweisen, bei der es sich bis zu einem gewissen Grad immer um eine nachträgliche Naturalisierung handelt. Tatsächlich ist die Stadt als ›Ding an sich‹ jenseits ihrer kulturellen Konstruktion und Anverwandlung nicht denkbar. Für die Utopie einer ›Herzenssprache‹, die den Umweg der Vermittlung umgeht und den Schmerz des Bruchs von Signifikat und Signifikant verwindet, ist folgender Kommentar von Alberto Destro aufschlussreich (gleichwohl sich dieser auf Rilkes Spätwerk bezieht): »Es versteht sich, daß in Wirk-

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lichkeit das perzipierende Subjekt gar nicht so unbeteiligt ist, und daß diese vermeintliche Objektivität des Blicks einen höchst subjektiven Blickwinkel verrät, daß also die Darstellung gar nichts mit naivem oder banalem Realismus zu tun hat, daß sie ja vielmehr oft willkürlich und be- oder mindestens verfremdend wirkt.« (Destro 1998: 202) So ließe sich Bohuschs Tod auf semiotischer Ebene als Markierung einer Sackgasse lesen, indem die mit ihm verbundene Utopie eines gelingenden unmittelbartraumhaften Zugangs zu Menschen und Gegenständen von den realpolitischen Konflikten durchkreuzt wird. Diese stehen Bohuschs eigenwilligen Bedeutungszuweisungen entgegen, wodurch der dynamisch-relative Charakter der semiotischen Konstruktion von Räumen offengelegt wird.15 Inwiefern aber auch Bohuschs Unfähigkeit, Bedeutungskonventionen zu begreifen, noch ex negativo eine Aussagekraft erwächst, soll im Folgenden mit Deleuzes/Guattaris Konzept einer ›kleinen Literatur‹ weiter beleuchtet werden.

P OTENTIAL EINER › KLEINEN L ITERATUR ‹ Als die drei spezifischen Elemente einer ›kleinen Literatur‹, deren Beschaffenheit anhand von Kafkas Werk illustriert wird, nennen Deleuze/Guattari die Deterritorialisierung der Sprache, die unmittelbare Anbindung des Individuellen an das Politische und die Tilgung des Subjekts in einer »kollektive[n] Aussageverkettung« (Deleuze/Guattari 1976: 27). Auch wenn sich diese Komponenten sicher nicht unmittelbar in der mit Bohuschs Daseinsform evozierten Poetik finden lassen, gibt es gleichwohl Anknüpfungspunkte. Für den politischen wie den produktionsästhetischen Aspekt als Fähigkeit des Ausdrucks fehlt der entscheidende Umschlag in die aktive Handlung. Bohusch ist gerade kein »Träumer, dem der Traum in die Hände stieg« (Rilke 1961b: 147), wie Rilke über Rodin schreibt: »Aber was Taten hätten werden können, die aus einem starken Körper frei und festlich herauswachsen, wurden bunte, seltsame Träume in dem armen Buckligen.« (Rilke 1961a: 134) So können die Unterminierung konziser Grenzziehungen, die tendenzielle Deterritorialisierung wie die Auflösung der Subjektposition, die sich bei Bohusch finden lassen, nicht produktiv gewendet werden. Bohusch entwirft ein Traumreich sui generis, das keinerlei Verbindung zu den realen Gegebenheiten aufweist; er stagniert auf dem Weg, »dem symbolischen oder bedeutungsschwangeren oder bloß signifikanten Gebrauch der Sprache einen rein intensiven Sprachgebrauch entgegenzustellen; zu einem perfekten und nicht geformten, intensiv-materialen Ausdruck zu gelangen« (Deleuze/Guattari 1976: 28), wie Deleuze/Guattari Kafkas Spielart einer ›kleinen Literatur‹ beschreiben. Während auf der primären Diskursebene in König Bohusch Möglichkeiten des 15 Zur Konstitution von Raum als Semiose vgl. Hallet (2009).

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Wachstums und Großwerdens sowie deren revolutionäres Sprengpotential thematisiert werden, formulieren Deleuze/Guattari das in der Erzählung unterschwellig vorhandene kontrapunktische Moment: »Doch es geht um den entgegengesetzten Traum: klein werden können, ein Klein-Werden schaffen.« (Ebd.: 39) Die Aufwertung des permanent abgewerteten ›Kleinen‹ wird in König Bohusch im polychromen Reich der Träume vorgeführt, vor dem binären Schwarz-Weiß gesellschaftlicher Hierarchien und realpolitischer Konflikte scheitert sie hingegen auf den ersten Blick. Nichtsdestotrotz lässt sich auch hier für die Auflösung konziser Trennungen argumentieren, für die jene Kippfigur des Unheimlichen steht, von der Homi K. Bhabha sagt, dass sie »das verbindende Element zwischen den traumatischen Ambivalenzen einer persönlichen, psychischen Geschichte und den umfassenderen Brüchen der politischen Existenz« (Bhabha 2000: 16) sei. Diese Transzendierung der Trennung von Politischem und Privatem lässt sich mit Deleuze/Guattari in der Überwindung der ödipal kodierten Triangularität der bürgerlichen Familie sehen, die in ihrem Privatismus ein abgeschottetes Segment darstellt, demgegenüber das Gesellschaftlich-Politische nur den dekorativen Rahmen stiftet. Im Gegensatz zu einer auf das Private fixierten Bürgerlichkeit können Bohuschs existentielle Betroffenheit gegenüber gesellschaftlichen Ereignissen – nach Deleuze/Guattari das Charakteristikum einer ›kleinen Literatur‹ – und die in seiner Weltwahrnehmung angelegte Transzendierung nationaler Kategorien durchaus politisch verstanden werden. Die mit Bohusch verbundene Poetik des Kleinen evoziert dabei den von Jurij Andruchovyč in einem Interview formulierten geopoetischen Gedanken einer Überwindung der »politischen Beschränkungen und Teilungen mit poetischen Mitteln« (Marszałek/Sasse 2006), ohne dass Bohusch dieses Desiderat umsetzen könnte. Zusammenfassend lässt sich nach der Untersuchung der Gestaltung des Raumes festhalten, dass es entgegen der planen Handlungs- und Diskursebene und ihrer schematischen Thematisierung des deutsch-tschechischen Konflikts in König Bohusch eine Tiefenstruktur des Dazwischen gibt, die jene vordergründig aufgeworfenen Etikettierungen unterwandert. Eine Lesart, die sich weniger auf die nationale Zuordnung der Figuren und ihre Aussagen und mehr auf die raumsymbolische Gestaltung des Textes und seine geopoetischen Implikationen stützt, zeigt die Verflüssigung konziser Grenzziehungen und zudem die Verkettung der Gefährdung von Raum, Subjekt, Zeit und Sprache. Während Bohuschs komplexe Denk- und Wahrnehmungsstruktur wiederholt intern fokalisiert präsentiert und an dynamischen und prekären Orten wie der Heterotopie des Friedhofs entfaltet wird, entspricht der statische Raumbezug der führenden Intellektuellen ihrer reduzierten Charakterisierung – man erfährt von ihnen so gut wie nichts. Die Überblendung heterogener Wahrnehmungen und das Unzusammenhängende von Bohuschs Sinnes- und Bewusstseinseindrücken lassen sich überdies als Ausdruck modernen Schreibens, als Versprachlichung eines ungefilterten subjektiven Erlebens verstehen. Die Vorstellung eines mit sich selbst identischen Ichs zerfällt in eine Vielzahl wechselnder Momenteindrücke, der Fokus auf der

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sprunghaften subjektiven Wahrnehmung löst die Kohärenz von Zeit und Raum als stabile Bezugsgrößen auf. An dieser Stelle ist die Untersuchung von Oliver Simons aufschlussreich, der für die Schwellenzeit um 1900 einen »folgenreiche[n] epistemologische[n] Bruch« (Simons 2007: 10) konstatiert. So büße die euklidische Geometrie aufgrund des zunehmenden Bewusstseins für den Konstruktcharakter geometrischer Räume ihren universalverbindlichen Anspruch ein, sodass auch eine sich an den dreidimensionalen Raum knüpfende epistemische Gewissheit verlorengehe, die mit Kants anthropozentrischem Raumverständnis noch gegeben war. Multidimensionale oder gekrümmte Raumkonzepte können alternativ (und gleichwertig) gedacht werden und »Euklids Geometrie [ist] offenkundig ungeeignet, die Topologie der neuen Ordnungsmuster zu ermessen« (ebd.: 10). Mit diesem Verlust eines durch das Subjekt internalisierten und seine Erkenntnis absteckenden statischen Raumes geht der Verlust der Selbstverständlichkeit des Subjekts als Ausgangspunkt aller Erkenntnis einher. So reflektiert die Darstellung des verfließenden Raumes auch die gefährdete Subjektstruktur Bohuschs, die immer wieder aufbricht, durch Momente der Depersonalisation bzw. Derealisation gekennzeichnet ist und die Inkongruenz des Subjekts räumlich abbildet. Dem Auseinanderfallen der Person in unzusammenhängende Einzelteile korrespondiert auf der Ebene der Sprache, die als Medium der Welterfassung untauglich geworden ist, die Zirkularität sinnentleerter konventioneller Floskeln, die, nur um sich selbst kreisend, einzig der Selbstdarstellung der Sprecher dienen. Dass es Bohusch nicht gelingt, aus den Ansätzen einer sensitiven, dingmagischtransnationalen Ästhetik ein positives Bild gegen die räumliche und sprachliche Eindimensionalität zu setzen, veranschaulicht jene Rückkehr zu seiner Mutter, auf die unmittelbar sein Tod folgt. Gleichwohl lässt sich diese Unmöglichkeit einer gelingenden alternativen Identitäts- und Sprachkonstitution auch als Ausdruck der condition moderne und der Auflösung der integralen Koordinaten der Weltwahrnehmung verstehen. Nach einer solchen Lesart wäre Bohuschs Scheitern nicht auf einer individualpsychologischen Ebene zu erörtern, sondern wiese signaturhaft über sich hinaus. So ist die Utopie in der Moderne nicht mehr in Form einer idealen Gegenwelt positivierbar, sondern nur noch als aufblitzendes unkonkretes Moment des utopischen ›Anderen‹.16 Wie gezeigt wurde, müssen deshalb die Unausgewogenheit und Hybridität der Erzählung sowie die »kaum noch nachvollziehbaren Verhaltensweisen« (Naumann 1991: 32) Bohuschs nicht als Zeichen der Unfähigkeit des Autors Rilke verstanden werden, eine klare und politisch ausgereifte Position im Prager Nationalitätenzwist zu beziehen. Vielmehr können sie – wie durch eine raumsymbolisch-poetologische Untersuchung dargelegt – positiv als Ausdruck einer Einsicht in 16 Vgl. Adorno (1970: 55): »So wenig wie Theorie vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal negativ. Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie.«

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die Kurzsichtigkeit und Unterkomplexität national-kultureller Schematismen gelesen werden.

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D IE RAUMSYMBOLISCHE G ESTALTUNG P RAGS IN K ÖNIG B OHUSCH

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Die Formierung des Prager Raums Narrative des Nationalen in Prag-Reiseführern (Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)1 J AN R ANDÁK

Praha, jíž se všichni podivují pro její přirozenou krásu i starobylost a jež dovede nadchnouti básníky i umělce, je schránkou starých tradic a naplněna památkami slavné i kruté minulosti, má výraznou mluvu, přinášející poučení, povzbuzení i výstrahu. I když v Praze pracovaly také cizí hlavy a cizí ruce, vytvořily ji v harmonický celek, posvěcený vnitřními hodnotami, jedině český duch a české srdce. A ty dovedly činit divy […]. O tom vydává svědectví stará Praha, kterou proto ctíme a její neporušitelnost chráníme, ale toho je výslednicí i nová Praha, jejíž dílo je projevem nejkrásnějších citů národní pospolitosti a nejvyšších občanských ctností. A ty, jsouce živeny českým vzdorem a tvrdostí, za nejtěžších podmínek a překážek, vybudovaly mocnou baštu, jež se v pravý čas stala východiskem všeobecného českého útoku a první vztyčila na znamení hrdého vítězství korouhev svobody. (Merhout 1929: 7) Prag, das alle für seine natürliche Schönheit und Ehrwürdigkeit bewundern und das es vermag, Dichter und Künstler zu begeistern, ist ein Hort alter Traditionen, und es ist angefüllt mit Andenken an eine ruhmreiche und harte Vergangenheit, hat eine ausdrucksvolle Sprache, in der Lehre, Ermunterung und Mahnung mitschwingt. Wenn auch in Prag ebenfalls fremde Häupter und fremde Hände gearbeitet haben, erschufen sie es doch zu einem harmonischen Ganzen, inneren Werten geweiht, einzig tschechischer Geist und tschechisches Herz. Und diese vermochten Wunder zu vollbringen […]. Davon legt das alte Prag Zeugnis ab, weshalb wir es verehren und seine Unverletzlichkeit bewahren, aber eine Folge davon ist auch das neue Prag, dessen Werk Ausdruck schönster Gefühle nationaler Gemeinschaft und höchster bürgerlicher Tugenden ist. Und diese, genährt von tschechischem Trotz und tschechischer Härte, bauten

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Diese Studie entstand an der Karls-Universität Prag im Rahmen des Programms PROGRES Q09: Geschichte – Der Schlüssel zum Verständnis der globalisierten Welt.

300 | J AN R ANDÁK unter härtesten Bedingungen und trotz großer Hürden eine mächtige Bastion, die zur rechten Zeit zum Ausgangspunkt des allgemeinen tschechischen Vorstoßes wurde und als erste zum Zeichen heldenhaften Sieges das Banner der Freiheit hisste.

So beschwingt und dabei durchaus charakteristisch beschrieb 1929 der erste Oberbürgermeister Prags, Karel Baxa, die Hauptstadt des tschechoslowakischen Staats. Zur Halbzeit der jungen Republik, zehn Jahre nach ihrer Entstehung und zehn vor ihrem Untergang, brachte er in wenigen Sätzen das Thema dieses Beitrags zum Ausdruck: die Verschmelzung des materialiter vorhandenen Ortes Prag und des symbolisch national aufgeladenen Raums. Indirekt erwähnt Baxas Text das tschechischdeutsche Aufeinandertreffen und Ringen, wenn er an ruhmreiche wie tragische Momente der nationalen Geschichte erinnert, die durch den »heldenhaften Sieg der Freiheit« gekrönt worden sei. Kein endgültiger Sieg, wie wir hinzufügen müssen. Und so lesen wir nun Baxa weiter, der bezeichnenderweise kundtut: Je nezbytno, aby každý Čechoslovák poznal Prahu a navštívil ji. Jako v minulosti i dnes ze všech československých krajů nechť přicházejí poutní výpravy do našeho města kouzla a krásy, nadšení a práce, síly i víry v nejkrásnější budoucnost. (Merhout 1929: 7) Es ist unentbehrlich, dass jeder Tschechoslowake Prag kennen lernt und besucht. Wie in der Vergangenheit so sollen auch heute Wallfahrten aus allen tschechoslowakischen Kreisen in unsere Stadt des Zaubers und der Schönheit, der Begeisterung und der Arbeit, der Kraft und des Glaubens an die schönste Zukunft stattfinden.

Tatsächlich stellen wir bei einem Blick auf die umfangreiche Reihe von Prag-Reiseführern, die zwischen der Mitte des 19. bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts erscheinen, fest, dass jeder angesprochen werden sollte: der erwachsene Tourist, das Kind auf Schulausflug, der Arbeiter, der Katholik, der Protestant wie der Sokol, also ein Mitglied des 1862 von Miroslav Tyrš gegründeten tschechisch national geprägten Turnvereins Sokol (Falke). Sie alle bekamen im Laufe der Jahre ihren eigenen PragFührer. Das ›lange‹ 19. Jahrhundert erhielt von Historikern zahlreiche Bezeichnungen, um mit Hilfe unterschiedlicher Metaphern das Wesen dieses Jahrhunderts in seinen Grundzügen zu erfassen. Im Hinblick auf die nationale Entwicklung kann es als Entstehungs- und Formationszeit der Nationalbewegungen gesehen werden. Insbesondere zu Beginn, aber auch im Verlauf des vorletzten Jahrhunderts begannen viele Nationen sich über einen Rekurs auf ihre Vergangenheit selbst zu entdecken, Traditionen zu mobilisieren, Beweise für ihre Eigenständigkeit im Kulturerbe vergangener Zeiten zu suchen und spezielle Ausprägungen und Eigentümlichkeiten zu artikulieren. Die damals typische Hinwendung zur nationalen Geschichte, die Argumente für

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emanzipatorische Bemühungen liefern sollte, führte auch zur Konstruktion emotionsgeladener Nationalsymbole, welche den Rezipienten die Identifizierung mit den angebotenen Nationalwerten erleichtern sollten. Zu den solcherart suchenden beziehungsweise sich formierenden Gesellschaften gehörte auch die tschechische. Diese erlebte – um das damalige Wort zu verwenden – ihre Wiedergeburt. Der Eigentümlichkeit der Wiedergeburtszeit entsprach dabei eine besondere Denkweise derjenigen Akteure, die sich aktiv am Entstehungsprozess der modernen tschechischen Nation beteiligten. In einer Reihe von Mythen finden wir auch Prag, gleichermaßen Hauptstadt der sich formierenden modernen tschechischen Gemeinschaft und Zentrum des vergangenen, glorreichen Staatslebens, in dem sich das Nationalleben und die Kultur konzentrierten. Dieser Stadt kam in der Vorstellungswelt der tschechischen Wiedergeburt eine führende Position zu, wobei sie in den 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts neben ihrer zeitgenössischen realen auch eine fesselnde emblematische Gestalt erhielt. Dieses Bild von der Stadt entsprach vor allem den aktuellen Bedürfnissen der Nationsbildung, wodurch die tatsächliche Wirklichkeit der sich rasch entwickelnden städtischen Siedlung sehr oft überdeckt wurde. Auf der Zeichenebene stellte Prag ein Aggregat von historisch konnotierten Emblemen dar, war ein Symbol der Heimat – ein heiliger Ort. Prag war ein Raum, in dem die aktuell erlebte tschechische Wiedergeburt der sakralen Sphäre der patriotischen Vorstellungen und Ideen begegnete und sich mit ihr verflocht (vgl. Macura 1995: 183-184). Es war ein Ort des historischen Gedächtnisses, der neben seinem erträumten idealen Gesicht auch eine reale Gestalt hatte, die des Stadtgrundrisses sowie der Stadtgebäude, -parks, -straßen und -plätze. Vereinfacht gesagt erschien Prag im Denken der Wiedergeburtszeit als eine Stadt, die gemeinsam mit der tschechischen Nation nach einem dreihundert Jahre währenden ›Schlaf‹ einem neuen Leben entgegenerwachte. Endlich gab es auf ihren Plätzen, in ihrem öffentlichen Raum Leben, d. h. Präsentationen, Manifestationen, Ausgrenzung und Konfrontation – zunächst vor allem im Zusammenhang mit der sich herausbildenden tschechischen nationalen Identität, im Verlauf des Jahrhunderts dann aber auch im Zusammenhang mit der Herausbildung anderer politischer und sozialer Teilidentitäten. Somit war Prag aus der Sicht der tschechischen Gesellschaft zu einem einzigartigen Symbol geworden. Die Straßen der Stadt verwandelten sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in eine imaginäre Bühne, auf der und zugleich auch mittels derer die Tschechen das Tschechentum ›ihrer‹ Stadt und ihrer selbst präsentierten. Man denke hier nur an die öffentlichen Aktivitäten, die die Prager Straßen, Plätze und die in nationaler Hinsicht relevanten Gebäude das ganze 19. Jahrhundert hindurch füllten (vgl. Marek 2004): Unter anderem Fackelmärsche zu Ehren von Taten und Jubiläen bedeutender Vertreter des Nationallebens, so z. B. 1868 anlässlich des siebzigsten Geburtstages František Palackýs, dessen mehrbändiges Werk Geschichte von Böhmen für die nationale Wiedergeburt und die tschechische Historiographie

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eine bedeutende Rolle gespielt hatte; ebenfalls 1868 die feierliche Grundsteinlegung des künftigen Nationaltheaters; außerdem Beerdigungen von wichtigen Patrioten, z. B. im Jahre 1847 die von Josef Jungmann, die von Zeitgenossen zugleich als erste nationale Demonstration verstanden wurde, war Jungmann doch als Sprachwissenschaftler und Autor des ersten deutsch-tschechischen Wörterbuchs eine der führenden Persönlichkeiten der tschechischen Nationalbewegung gewesen. Nicht zu vernachlässigen sind die verbalen Komponenten dieses Unterfangens, d. h. Mottos, Erklärungen, Gesänge oder Hymnen. Sie waren in einer Sprache formuliert, die dem bei den Feierlichkeiten entwickelten und präsentierten Weltbild zu entsprechen hatte. Hinzu kam gleichsam ein Gewand ikonographischer Merkmale: Nationalfahnen, rotweiße Kokarden und national-geschichtlich geprägte Portraits und Abbildungen. Durch Symbole im Raum – Statuen, Gedenktafeln, Denkmäler u. a. – visualisierte die tschechische Gesellschaft sich selbst in ihrer repräsentativen und häufig auch in ihrer geschichtlichen Gestalt und erzeugte so Zeichen für die gewünschte Form der nationalen Geschichte, die den Vorstellungen (nicht nur) der Prager Tschechen von ihrer Vergangenheit entsprachen und sie zugleich bestätigten. Es hätte auch kaum anders sein können, denn jedes Kollektiv, das seine Konsolidierung anstrebt, bemüht sich allgemein darum, Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur als Kulissen für verschiedene Formen der gesellschaftlichen Interaktion dienen, sondern auch Identitätssymbole für das Kollektiv und Anhaltspunkte für seinen Erinnerungsprozess liefern (vgl. Assmann 2001: 39). Dabei kommt es nicht auf die Größe dieser Orte an. Im historisierenden 19. Jahrhundert präsentierten die Tschechen im öffentlichen Raum vieler Städte, allen voran Prags, also ihre Geschichte bzw. jene aktualisierten (Be-)Deutungen ihrer Geschichte, die die Existenz der Tschechen belegen und rechtfertigen sollten. Die Tradition der Landeshauptstadt Prag symbolisierte dabei die Tradition der tschechischen Nation – da Kollektive danach streben, sich selbst unter Bezugnahme auf die Dauerhaftigkeit des Raumes als in der Zeit unveränderlich und stabil wahrzunehmen, indem sie an der Dauerhaftigkeit der sie umgebenden materiellen Welt teilhaben. Der Raum, in unserem Fall der Prager Raum, stellte so auf der einen Seite einen inhärenten Bestandteil konkreter sozialer, kultureller, nationaler oder politischer Prozesse dar, auf der anderen Seite konnte er genauso gut verschiedene soziale, kulturelle, nationale oder politische Prozesse reproduzieren oder erzeugen. Ähnlich verhielt es sich im 20. Jahrhundert. Neben der Modernisierung des Prager Raumes in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, vor allem während der tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit von 1918-1939 (vgl. Thomsen 2010), geriet Prag auch bei der Befreiung der Republik im Mai 1945 und dann wieder nach der Machtübernahme durch die kommunistische Partei im Februar 1948 in den Fokus und wurde ein Objekt historischer Vorstellungen. So unterstützte der Prager Oberbürgermeister Václav Vacek vor der Wahl im Mai 1948 die Kommunisten bezeichnenderweise mit folgenden Worten: »Věřím, že Praha si uchová své vůdčí

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postavení ve státě, které jí bylo určeno dějinami a v kterém se již tolikrát osvědčila […].« (Vacek 1948: 481 – »Ich bin zuversichtlich, dass Prag seine führende Rolle im Staat, zu der es durch die Geschichte bestimmt ist und die es schon so viele Male bewiesen hat, beibehalten kann […].«) Zur selben Zeit empfand der Kunsthistoriker und Publizist Václav Vilém Štech Prag – an der Schwelle zur kommunistischen Ära – als eine einzigartige Schicksalsstadt, in deren Raum die Geschichte der hastigen Gegenwart begegne. Auch für ihn war die Stadt eine Verkörperung der nationalen Geschichte und zugleich ein Denkmal der Auseinandersetzungen um die tschechische Nation (vgl. Štech 1948: 5-6). Das Prag der Nachkriegszeit charakterisiert er folgendermaßen: V ryze české Praze [Hervorhebung JR] slily se vjedno touhy národní a sociální, lid vystoupil z pasivní anonymity do popředí a ujímá se správy věcí svých i národa. Pracovní horečka obecné přestavby stoupá do výše nikdy nedosažené. […] Avšak je to neklid plodný, má směr určovaný velikou společnou vůlí. Vůlí stavět, tvořit řád, uspořádat město pro ty, kdož v něm žijí. Budovat novou společnost, která zase uvede ve veliký souzvuk život příslušníků, posvětí jejich dny nadosobní vírou v příští člověka, národa a lidstva. (Štech 1948: 18) Im rein tschechischen Prag [Hervorhebung JR] verschmolzen die nationalen und sozialen Wünsche, das Volk trat aus seiner passiven Anonymität heraus in den Vordergrund und nimmt sich der Verwaltung seiner Angelegenheiten wie der der Nation an. Das Arbeitsfieber des allgemeinen Umbaus steigt in bisher unerreichte Höhen. […] Diese Ruhelosigkeit ist allerdings eine fruchtbare und sie hat eine Richtung, die durch den großen gemeinsamen Willen bestimmt wird. Den Willen, zu bauen, eine Ordnung zu schaffen und die Stadt für die zu gestalten, die in ihr leben. Den Willen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, welche das Leben ihrer Mitglieder wieder in einen großartigen Zusammenklang bringt und ihren Tagen durch den überpersönlichen Glauben an den zukünftigen Menschen, die zukünftige Nation und die zukünftige Menschheit Weihe verleiht.

Schließlich hatte Prag – den offiziellen Ankündigungen im Zuge der politischen Veränderungen nach dem Februar 1948 zufolge – eine herrliche sozialistische Stadt zu werden, sollten die bisherigen Gedächtnisorte umcodiert werden und Umgestaltungen im Geiste eines pompösen sozialistischen Realismus stattfinden. Ein führender Ideologe der kommunistischen Partei, Gustav Bareš, zögerte nicht, sich nationaler Mythen zu bedienen, als er auf einer Konferenz des Prager städtischen Komitees der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei im Dezember 1950 erklärte, die Umgestaltung Prags in der Zeit nach dem Februar 1948 im Sinne des Aufbaus des Sozialismus bedeute die Verwirklichung der legendären Prophezeiung der mythischen tschechischen bzw. slawischen Fürstin Libussa über die zukünftige Größe Prags, deren Ruhm die Sterne berühre (vgl. Chamrád 1951: 3).

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Neben solchen mehr oder weniger offiziellen Äußerungen oder Zeitungsbeiträgen, neben der Besetzung des öffentlichen Raumes durch Statuen, Gedenktafeln, Denkmäler und Gebäude beanspruchten die modernen Tschechen den Prager Raum für ihre nationalen oder politischen Bestrebungen nicht zuletzt auch mithilfe von Touristenführern. Wenn wir nämlich die wirklich große Zahl tschechischsprachiger Prag-Führer der Zeit von 1850 bis 1950 in Augenschein nehmen, stellen wir fest, dass auch diese Texte zu einem Mittel nationaler oder politischer Agitation wurden. Wir sollten diese Stadtführer nicht als wertneutrale Texte auffassen, sondern als Instrumente kollektiver Aneignung von Räumen. In den Prager Raum konnten die Autoren ausgewählte geschichtliche Ereignisse projizieren, die sie – dem Genre benutzerfreundlicher Konsumliteratur entsprechend – vereinfacht schilderten. Die einzelnen historischen Geschehnisse wurden dabei nur oberflächlich und manchmal schematisch dargestellt. Allerdings hat auch diese Verzerrung für den Historiker seine Bedeutung. Denn es sind teilweise gerade diese fragwürdigen Aspekte, die auch für den Historiker von Relevanz werden können, wenn er die richtigen, also dem Untersuchungsgegenstand angemessene Fragen stellt. Und die können sich auf keinen Fall darauf beschränken, ob dieser oder jener historische Sachverhalt richtig, falsch oder schief wiedergegeben ist, sondern müssen vor allem darauf gerichtet sein, warum ein bestimmtes historisches Ereignis oder eine historische Persönlichkeit überhaupt in einem Reiseführer erwähnt wird, warum sie so und nicht anders abgehandelt wurden und warum andere historische Aspekte ausgeblendet sind. (Jaworski/ Loew/ Pletzing 2011: 9)

Diese Texte stellen in der Art, wie sie historische Ereignisse und Prozesse beschreiben, ein Instrument des Vorverständnisses dar. Sie sind eine Gebrauchsanweisung dafür, wie der gegebene Raum historisch zu ›lesen‹ ist, beziehungsweise wie er mit Bezug auf die geschichtlichen Zusammenhänge zu verstehen ist. Reiseführer dienen jedoch ebenfalls als Mittel der Kommunikation innerhalb einer gegebenen Gesellschaft – sei es einer nationalen oder einer politischen. Durch Verweise auf die Vergangenheit oder Gegenwart, auf Erfolge oder Misserfolge können diese Texte einzelne Werte akzentuieren, andere außer Acht lassen, sie können emotionale Bindungen an den beschriebenen Ort aufbauen, im Falle Prags, indem sie an die historische Bedeutung erinnern, auch eine Bindung an die Nation und den Staat. Prag-Reiseführer sollten den Leser zwar vor allem zum Besuch der Stadt animieren, freilich blieben dank dieser Publikationen aber auch diejenigen nicht ohne Information, die so weit gar nicht kamen. Prag wurde für die tschechische Gesellschaft als zentraler Ort der nationalen Geschichte erkennbar und zugänglich – ggf. auch allein durch Lektüre und Durchsicht der Reiseführer. So konnten sich die Bilder des tschechischen, später des sozialistischen Prag, in der tschechischen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ausbreiten und die nationalen oder politischen Vorstellungen

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von der Hauptstadt festigen. Gleichzeitig lassen sich in den Führern Instrumente der Herausbildung von Selbstbildern und der Konstruktion von Fremd- und Feindbildern sehen. Die Führer sollten darum nicht nur informieren, sondern auch im Sinne der Nation formen und bilden. So bezeichnet zum Beispiel Ladislav Horák in seinem Reiseführer Prahou a okolím (Prag und Umgebung) von 1918 Prag als einzigartig nicht nur in seiner Schönheit, sondern auch in seinem erzieherischen Wirken (vgl. Horák 1918: 7). Rudolf Jaworski zufolge sind Reiseführer ein Typus historischer Quellen, die tiefe Einsichten in die andauernden bzw. sich wandelnden Wahrnehmungsmuster der in ihnen beschriebenen Orte – seien es Städte oder Länder – ermöglichen. Zugleich sagen die Führer viel mehr über ihre Autoren aus, als über das, was in ihnen beschrieben und beurteilt wird (vgl. Randák/ Petrbok 2012: 21). Letzten Endes sollten wir diese Texte als ein Mittel der Aneignung des öffentlichen Raumes betrachten. Da es nicht möglich ist, die Prag-Führer in einem einzigen Beitrag bis ins kleinste Detail zu untersuchen, konzentriere ich mich auf einige der wichtigsten Motive, die im untersuchten Zeitraum der ca. hundert Jahre zwischen der Mitte des 19. und der des 20. Jahrhunderts eine gewisse Stabilität erlangten.

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HISTORISCHE DER N ATION

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ALS

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Der Raum an sich, aber auch die einzelnen Objekte, die darin gefunden bzw. in ihm akzentuiert werden, können Träger verschiedener, unter anderem historischer Informationen und Botschaften sein. Denn die Geschichte an sich, als Erzählung oder Abbildung der Vergangenheit ist eigentlich abstrakt. Selbstverständlich sollten wir, zumindest pro forma, fragen, inwieweit der Raum oder ein konkreter Ort ein Gedächtnis haben und über sich selbst berichten kann, bzw. inwieweit an diesem Prozess gerade der Mensch und die Gesellschaft als ›Leser‹ beteiligt sind. Jedenfalls gilt, dass gerade dank des Raums beziehungsweise in ihm einzelne Ereignisse deutlich werden können sowie historische Mythen und verschiedene Werte bei der ›richtigen Lesart‹ offenkundig – sichtbar und spürbar – werden können. Praktisch allen tschechischen Prag-Führern der untersuchten Zeit ist eine selbstverständliche Vorstellung von der historischen Wichtigkeit Prags eigen, aus der heraus die Stadt ebenso selbstverständlich ihr Slawen- und Tschechentum schöpfe – nach dem Krieg in Anknüpfung daran dann auch ihre Mission zum Aufbau des Kommunismus, die aber nach wie vor als eine slawische und nationale vorgestellt wurde. Gerade wenn wir einen Blick in den Prag-Führer von Karel Vladislav Zap aus dem Jahre 1848 werfen, erfahren wir, dass die Historie das Wesen Prags bestimme: »neboť Praha je naším Římem, v kterém se celá historie země soustředila a v ní sobě

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pomníky stavěla. Kdyby dnes Prahy nestálo, neměli bychom nejdůležitějšího svědka minulosti české.« (Zap 1848: IV - »denn Prag ist unser Rom, in dem sich die ganze Geschichte unseres Landes konzentrierte und in dem sie sich selbst Denkmäler erbaute. Wenn es Prag heute nicht gäbe, hätten wir den wichtigsten Zeugen der tschechischen Vergangenheit nicht.«) Der Glanz der Historie nahm in Zaps Darlegung den ersten Platz ein. Dieser Topos überdauerte in der Tat Jahrzehnte. Ein Beispiel dafür aus der Zeit der ersten tschechoslowakischen Republik ist Sokolská Praha (Prag für Sokolmitglieder) von Jan Pelikán, der Prag-Führer zum VIII. Gesamtsokol-Turnfest im Jahre 1926. Auf den Seiten dieser Broschüre wurde die Hauptstadt, genauer ihre Seele, letztlich zum einzigen Motor der Geschichte: Všichni velicí lidé našeho národa z veliké většiny nebyli rodáky pražskými, přinesli si z venkova sílu k úspěchům, čistotu života a víru v ideály, ale velikými se stali teprve v Praze a Prahou, jež jim dala moc ideály uskutečňovati. […] Bývaly doby, kdy lid bouřil na ulicích pražských, kdy zdálo se, že on vede, on rozhoduje. Ne, to byla vždy a všude v něm duše Prahy královské, ať lomcovala mříží své svobody, nebo manifestovala za nové pravdy a cíle, duše Prahy toužící opět a opět stavěti se v čelo, vésti, vládnouti, vítěziti. (Pelikán 1926: 8) Alle großen Menschen unseres Volkes waren zum Großteil keine Kinder Prags, sie brachten sich vom Lande Kraft zu Erfolgen mit, eine Reinheit des Lebens und einen Glauben an Ideale, aber groß wurden sie erst in und durch Prag, das ihnen die Macht gab, ihre Ideale zu verwirklichen. […] Es gab Zeiten, als das Volk auf den Prager Straßen stürmte, als es schien, dass es führt und dass es entscheidet. Nein, immer und überall war da die Seele des königlichen Prag in ihm, ob sie an den Gittern ihrer Freiheit rüttelte oder für neue Wahrheiten und Ziele demonstrierte, die Seele Prags, die sich danach sehnte, sich wieder und wieder an die Spitze zu stellen, zu führen, zu regieren, zu siegen.

Eine ähnliche Meinung teilt auch die Nachkriegszeit. Es genügt, in den Věstník hlavního města Prahy (Anzeiger der Hauptstadt Prag) zu schauen, wo die Leser gleich in der ersten Ausgabe vom Juni 1945 einen unmissverständlichen Text über das siegreiche Prag vorfanden, in dem der tschechische Historiker und Archivar Václav Vojtíšek die Stellung der Hauptstadt mit einer geschichtlichen Erzählung klar charakterisierte: Dějiny Čech dávají dějiny Prahy, dějiny Prahy určují dějiny Čech. Čechy i Praha stojí v podivuhodném svazku společného vývoje i osudů, jakého není rovného nikde ve světě, a ten jejich společný vývoj i osud představuje neobyčejný souhrn tužeb, činů, obětí, zkoušek i zkušeností a statků […]. (Vojtíšek 1945: 3) Die Geschichte Böhmens ergibt die Geschichte Prags, die Geschichte Prags bestimmt die Geschichte Böhmens. Böhmen und Prag stehen in wundersamem Bund gemeinsamer Entwicklung

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und gemeinsamer Schicksale, dem nichts auf der Welt gleichkommt, und diese ihnen gemeinsame Entwicklung und dieses ihnen gemeinsame Schicksal bietet einen ungewöhnlichen Komplex an Sehnsüchten, Taten, Opfern, Prüfungen und Erfahrungen wie auch Gütern […].

Und in demselben Geist, nur politisch verschärft, erscheinen die stalinistischen Aufrufe nach dem Februar 1948 von Věra Olivová-Pávová in ihrem Führer Praha v revolučních tradicích (Prag in revolutionären Traditionen) aus dem Jahre 1952. In der Einleitung misst die Autorin der Stadt eine außergewöhnliche geschichtliche Rolle bei, denn die Geschichte Prags entspreche der gesamtnationalen Historie. Eben in Prag, als dem Zentrum der Böhmischen Länder, liefen alle politischen Ereignisse zusammen, und wie die Autorin – der damaligen politischen Zeit verpflichtet – hinzufügt: »[Praha] jako hlavní město státu žila z tvůrčí iniciativy lidu našich zemí. A vše, co vytvořil a vybojoval náš lid, je vtesáno do kamenů Prahy.« (Olivová-Pávová 1952: 9 – »[Prag] als Hauptstadt des Staates lebte von der schöpferischen Initiative des Volkes unseres Landes. Und alles, was unser Volk herausbildete und erkämpfte, ist in die Steine Prags eingemeißelt.«) Diesem politischen Bild Prags fügte Jiří Chyský in seinem Prag-Führer aus dem Jahre 1955 eine geradezu multinationale Bemerkung hinzu. Zu den bedeutendsten historischen Meilensteinen, die die Leser seines Reiseführers in Erinnerung behalten sollten, gehörte für ihn auch jene Konferenz im Jahre 1912, auf der die russischen Bolschewiken »beschlossen, ihre faktische Trennung von den Menschewiken zu krönen und sie aus der Partei zu jagen […].« (»rozhodli dovršit svůj faktický rozchod s menševiky a vyhnat je ze strany […].«, Chyský 1955: 3).

E INZIGARTIGKEIT UND S CHÖNHEIT DES GOLDENEN , TSCHECHISCHEN P RAG

HUNDERTTÜRMIGEN ,

Mit der Geschichte verbanden einige Autoren voller Nationalstolz auch die unnachahmliche Einzigartigkeit des selbstverständlich tschechisch und slawisch gedachten Prag. Poetisch und mit Verweis auf die Schemata der nationalen tschechischen Erzählung artikulierte diese Tendenz Jaroslav Kamper 1910 in seinem Reiseführer: Je pravda, jestli kde, tož jistě v Praze kameny mluví. Hovoří o slavných bojích, kdy v jejích zdech rozhodováno nejen o osudech našich, ale i o osudech všech národů evropských, hovoří o dnech slávy, kdy sami jediní bili jsme se za svobodu a volnost všech, kdy sláva českého jména plnila Evropu a kdy město Libušino bylo zdrojem osvěty […]. Hovoří však také o staletích ponížení, kdy bezměrnou bolestí a ponížením nejpotupnějším krvavě jsme odpykali za své chyby a slzami splatili daň za tu krátkou dobu pyšného rozmachu […]. (Kamper 1910: 8-9)

308 | J AN R ANDÁK Es ist wahr, dass wenn überhaupt irgendwo, dann sicher in Prag die Steine sprechen. Sie reden von ruhmreichen Kämpfen, als in ihren Mauern nicht nur über unsere Schicksale entschieden wurde, sondern auch über die Schicksale aller europäischen Völker, sie reden von den Tagen des Ruhms, als wir selbst als einzige für die Freiheit und den freien Willen aller gekämpft haben, als der Ruhm des tschechischen Namens Europa erfüllte und als die Stadt Libussas eine Quelle der Aufklärung war […]. Sie reden jedoch auch von den jahrhundertelangen Erniedrigungen, als wir unter maßlosem Schmerz und schmachvoller Erniedrigung blutig für unsere Fehler sühnten und mit Tränen für jene kurze Zeit des hochmütigen Aufschwungs bezahlten […].

Mit deutlichem Nationalstolz präsentiert Kamper die Stadt weiter als eines der wichtigsten europäischen Bildungszentren, als einen Ort, in den das tschechische Volk seine Träume und Sehnsüchte projizierte. Auch über die Zeiten eines missgünstigen Schicksals hinweg bleibt Prag seiner Meinung nach eine der schönsten Städte der Welt, wo »jeder Stein von Geschichte, jeder Stein […] von der großartigen und ruhmreichen Vergangenheit spricht« (»každý kámen mluví o dějinách, každý kámen hovoří o veliké a slavné minulosti«, Kamper 1910: 7-8). Die Vorstellung von Prag als einer der schönsten und wunderbarsten Städte nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt kam in Prag-Führern häufig vor. Jedličkas Rychlý průvodce Prahou (Schneller Führer durch Prag), wahrscheinlich aus dem Jahre 1908, stellte in diesem Zusammenhang fest, dass es in Europa nicht viele Städte gebe, die durch ihre Lage und Schönheit »mit unserem hunderttürmigen Prag, reich an Denkwürdigkeiten und Historie« (»s naší stověžatou Prahou, bohatou památnostmi a historií«, Jedlička 1910: 5) konkurrieren könnten. Und die für Schulexpeditionen bestimmte Publikation Jaroslav Pošs und Vojtěch Walters Do Prahy (Nach Prag) aus der Ersten Republik (1925) erklärte (nicht nur) Kindern die in Prag vereinten Schönheiten mit deutlichen Worten: Praha jest z nejkrásnějších měst světa. Nejlepší znalci i slavní cestovatelé všech národů mluví s obdivem a nadšením o Praze jako o královně měst, vidí v ní hlavní město velikého, rozkvétajícího národa, středisko jeho slavné minulosti […]. (Poš/Walter 1925: 5) Prag zählt zu den schönsten Städten der Welt. Die besten Kenner und berühmten Reisenden aller Völker sprechen mit Bewunderung und Begeisterung von Prag als der Königin der Städte, sie sehen in ihr die Hauptstadt der großen, erblühenden Nation, Zentrum ihrer ruhmreichen Vergangenheit […].

Zu einer heute geradezu komisch anmutenden Vollendung brachte der Führer durch Prag (Průvodce Prahou) des Verbands tschechoslowakischer Arbeitertouristen aus dem Jahre 1934 die Vorstellung von der einzigartigen Herrlichkeit der Stadt:

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A tak se asi nestalo náhodou, když Alexander Humboldt […] vrátiv se z cesty kolem světa, sestavoval svou známou stupnici měst co do krásy, postavil Prahu hned za Cařihrad, Neapol a Lisabon, tedy na čtvrté místo. Stupnice Humboldtova říká však víc, než je na první pohled patrno. První tři jmenovaná města děkují totiž za svou proslulou krásu především tomu, že mají jako skvělý doplněk její hladinu mořskou, takže Humboldt neřekl o Praze, jíž se toho doplňku nedostává v takové míře, nic méně, než že je mezi všemi vnitrozemskými městy světa městem nejkrásnějším. (Chyský 1934: 4) Und so geschah es wohl nicht zufällig, dass Alexander Humboldt, […] zurückkehrend von seiner Reise um die Welt, als er seine berühmte Aufstellung von Städten nach Schönheit anfertigte, Prag gleich nach Konstantinopel, Neapel und Lissabon stellte, also auf den vierten Platz. Die drei erstgenannten Städte nämlich verdanken ihre namhafte Schönheit vor allem der Tatsache, dass sie als hervorragende Ergänzung die Meeresoberfläche haben, so dass Humboldt also von Prag, das dieses Attribut nicht in demselben Maße aufweist, nichts weniger sagte, als dass es unter den Binnenstädten der Welt die schönste ist.

Mit dem historisierenden Verweis auf das antike Rom unterstrich dies Springrův obrázkový průvodce Prahou a okolím (Springers bebilderter Führer für Prag und Umgebung) aus dem Jahre 1901: »I my [ Češi, JR] máme Forum romanum na Vyšehradě, svůj Kapitol a chrám Jupiterův na hradě sv. Václava a ve velechrámu sv. Víta.« (Teige 1901: IV – »Auch wir [die Tschechen, JR] haben ein Forum romanum auf dem Vyšehrad, unser Kapitol und den Jupitertempel in der Burg des heiligen Wenzel und im Dom des heiligen Veit.«)

S AG ,

WO DIESE

D EUTSCHEN SIND …

Die Problematik des Nationalen in den Prag-Führern kann man auch in Augenschein nehmen, indem man die Existenz der Deutschen in diesen Publikationen untersucht, oder besser, ihre Nichtexistenz. Touristische Texte, die ostentativ das Tschechentum der Hauptstadt ausstellen, schweigen eher von den Deutschen und ihrer Anwesenheit. Und falls sie doch erwähnt werden, wird ihr Auftreten im besten Falle unabsichtlich festgestellt. So bemerkt der Řivnáčův průvodce po Praze a okolí (Řivnáč-Führer durch Prag und die Umgebung) aus der Feder František Adolf Borovskýs von 1885 bei der Beschreibung der Straße Auf dem Graben/Na příkopech, dass das Haus »neben dem tschechischen Museum dem Deutschen Kasino gehört, das die gesellschaftliche Mitte der Prager Deutschen bildet. Es gibt hier ein Restaurant, einen Vortragssaal, Bälle […] und einen Garten.« (»vedle Českého musea náleží Německému kasinu, jež jest společenským střediskem Pražských Němců. Jest zde restaurace, sál pro přednášky, plesy […] a zahrada.«) Der Autor zögerte freilich nicht, augenblicklich – sei

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es absichtlich oder auch nicht – hinzuzufügen: »Podle domnění Tomkova stával zde dům Jana Žižky, když byl ve službách krále Václava IV.« (Borovský 1885: 80 – »Tomeks Annahme zufolge stand hier das Haus Jan Žižkas, als er König Václav IV. zu Diensten war.«) Indem – mit Verweis auf den Politiker und Geschichtsprofessor an der Karls-Universität in Prag, Václav Vladivoj Tomek (1818-1905), als verbürgende Autorität – erklärt wird, am Ort des derzeitigen Deutschen Kasinos habe einst der hussitische Heerführer Jan Žižka gehaust, wird der jetzt ›deutsch‹ markierte Raum als ursprünglich ›tschechisch‹ reklamiert. Ein anderer Reiseführer spricht von den Deutschen als Gästen auf tschechischem Boden, die die ›natürliche‹ tschechische Liebenswürdigkeit und Gutherzigkeit nur ausnutzten. Ein Beispiel dafür ist Průvodce Prahou Svatováclavskou (Führer durch das Prag des Heiligen Wenzel), wo im Rahmen einer Beschreibung des Ungelt die große Bedeutung dieses altstädtischen Handelshofs für Austausch und Sozialisierung in Erinnerung gerufen wird. Demnach saßen im Ungelt immer heimische mit fremden Händlern zusammen und erzählten sich bei Pinten herben Biers und Bechern von Wein Geschichten. Dabei erklangen verschiedene Sprachen: […] neboť bylo tu na vybranou mezi Poláky, Rusy, Uhry, Benátčany i Janovany, Nizozemci i Francouzi, Řeky, Armény, Turky i Araby, o Němcích ani nemluvě. Ti zde byli vždycky jako [Hervorhebung JR] doma. A protože Češi byli pohostinní a rytířští, navazovala se hojná přátelství. Nejeden cizinec se v Praze trvale usadil a stal se měšťanem. To mělo pro náš národ [domácí, sic!, JR] význam rozmanitý, ne vždy prospěšný. (Bitnar 1929: 57-58) Denn man konnte hier wählen zwischen Polen, Russen, Ungarn, Venezianern und Genuesern, Niederländern und Franzosen, Griechen, Armeniern, Türken und Arabern, von den Deutschen ganz zu schweigen. Die waren hier immer wie [Hervorhebung JR] zuhause. Und da die Tschechen gastlich und ritterlich waren, knüpften sie zahlreiche Freundschaften. Mehr als ein Ausländer hielt sich in Prag dauerhaft auf und wurde Stadtbürger. Das hatte für unser Volk [das einheimische, sic! JR] mannigfache Wichtigkeit, nicht nur zuträgliche.

Einige touristische Texte waren jedoch noch expliziter. So zögerte der schon erwähnte Führer durch das Sokol-Prag von 1926 nicht, die Deutschen direkt anzugreifen. In einem dem Prager Schulwesen gewidmeten Abschnitt schreckte Jan Pelikán nämlich nicht davor zurück, dem Leser mitzuteilen: Snad tě osud zavál dokonce do školy německé. Bylo by to dobře. Alespoň bys mohl porovnávat tuto budovu, kterou dává Praha dětem německým dnes, se stodolou, v níž byla škola českých dětí v Bílině před válkou. Alespoň bys mohl srovnávat, kterak stejně spravedlivě chová se Praha k dětem Němců, jako k dětem vlastního národa a mohl bys i v tom porozumět jejímu královskému gestu. Leč ne, není to gesto královské, ale lidské, lidské v pravé své podstatě, tak jako nelidské bylo zacházení Němců s našimi dětmi v menšinách. (Pelikán 1926: 17)

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Vielleicht hat dich das Schicksal gar einmal in eine deutsche Schule verschlagen. Gut wäre das. Wenigstens könntest du dieses Gebäude, das Prag den deutschen Kindern heute gibt, mit der Scheune vergleichen, in der sich vor dem Krieg in Bílina die Schule der tschechischen Kinder befand. Wenigstens könntest du vergleichen, wie gleichermaßen gerecht Prag sich den Kindern der Deutschen gegenüber verhält, wie den Kindern des eigenen Volkes gegenüber, und du könntest darin auch seine königliche Geste erkennen. Aber nein, das ist keine königliche Geste, sondern eine menschliche, menschlich gerade in ihrem Wesen, so wie die Behandlung unserer Kinder durch die Deutschen in den Minderheiten unmenschlich war.

Eine sehr deutliche Spur hinterließen die Deutschen in Publikationen über Prag natürlich in der Nachkriegszeit, als in der tschechischen Gesellschaft mehrheitlich eine antideutsche Stimmung herrschte und durch die Vertreibung der Deutschen das Palacký zufolge ›ewige‹ deutsch-tschechische Aufeinandertreffen und Ringen eine Fortsetzung fand – auf aus heutiger Sicht politisch unkorrekte Weise. Im Übrigen wurde in der Prager Presse die Vertreibung der Deutschen als Wiederholung ähnlicher Migrationen in der Vergangenheit präsentiert, als ein keinesfalls außergewöhnliches Vorkommnis: Vystěhování němců z našich zemí není ničím novým a už první náš dějepisec, kanovník kostela Pražského Kosmas, ve své Kronice české vypravuje nám svým pěkným slohem o knížeti Spytihněvu II., jak vyhnal němce ze země české […]. Byl přece mezi Přemyslovci jeden, který viděl lépe nežli jeho předchůdci a hlavně jeho potomci, kteří nám osazovali nejkrásnější místa naší vlasti přivandrovalými němci, kteří sem s prázdnem přicházeli a zde si hráli na velké pány. (Žipek 1946: 364) Der Auszug der Deutschen aus unseren Ländern ist nichts Neues und schon unser erster Geschichtsschreiber, der Prager Chorherr Cosmas, erzählt uns in seiner Tschechischen Chronik in seinem schönen Stil vom Fürsten Spytihněv II., wie er die Deutschen von tschechischem Boden vertrieb […]. Es war nämlich unter den Přemysliden einer, der besser sah als seine Vorgänger und vor allem seine Nachfolger, die uns die schönsten Flecken unserer Heimat mit zugewanderten Deutschen füllten, die hierher mit leeren Händen kamen und sich als große Herren aufspielten.

Die organisierte Vertreibung der Deutschen aus Prag war aus Sicht des nationalen Zentralkomitees der Hauptstadt Prag Teil des Aufbauprogramms. Sie wurde als die Korrektur eines jahrhundertealten Fehlers der Vorfahren präsentiert, die mit der deutschen Kolonisierung dem Land so fürchterliches Leid zugefügt hätten (vgl. Pražák 1948: 409). Eine Bestätigung dieser Einstellung finden wir auch im Průvodce starou Prahou (Führer durch das Alte Prag) von Alois Ladislav Kaiser aus dem Jahr 1947, wo wir gleich auf den einleitenden Seiten erfahren, dass die Deutschen das einzige große Kulturvolk seien, das bis ins 20. Jahrhundert die alte barbarische Art der

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Kriegsführung bewahrt habe, mit der einstmals »die plump-wilden und stumpfen Vandalen glänzten, die Westgoten und Langobarden, diese störrischen stinkenden Leute mit Pferdeköpfen und rohen körperlichen Bedürfnissen, wie der Chronist erzählt« (»vynikali neohrabaně zuřiví a tupí Vandalové, Visigoti či Langobardi, tito zarputilí páchnoucí lidé s koňskými hlavami a hrubými tělesnými potřebami, jak praví kronikář., Kaiser 1947: 9). Die »Brutalität« (»brutalit[a]«) bei der »Abschlachtung der Zivilbevölkerung« (»pobíjení[] civilního obyvatelstva«) und der »systematischen Zerstörung von Kulturgütern« (»systematické[] ničení[] kulturních památek«), bei »urgermanisch grausamen Repressalien« (»pragermánsky sveřep[é] […] represálie«), seien für die Völker, die seit einem Jahrtausend Nachbarn der deutschen Stämme sind und mit ihnen kämpfen, nichts Neues (Kaiser 1947: 9). Und in dem schon erwähnten Text über Prag in revolutionären Traditionen von Věra Olivová-Pávová, in dem Stadtgeschichte ansonsten gänzlich ohne Bezug auf die Deutschen dargestellt wird, erhalten die Deutschen ausschließlich die Rolle der Unterdrücker und Feinde in der Protektoratszeit.

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Wenn wir bestimmen wollen, auf welche Weise das Tschechische – also das Thema des Nationalen – in diesen Reiseführern eingeführt wird, so müssen wir in erster Linie in der Sprache suchen. Denn schon allein die Verwendung der tschechischen Sprache gab jene ›wirklichen‹ und ›richtigen‹ Werte vor, die diese Führer vertraten. Gerade die tschechische Sprache sagte, wie pro-national gestimmte Führer und so auch die von ihnen dargebotenen Prager Stätten zu lesen seien. Oder wie der schon zitierte Springersche Bildführer aus dem Jahre 1901 in der Einleitung vermerkt: Kratičkými, určitými a jen skutečných znamenitostí […] se dotýkajícími poznámkami svými, může se i touto knížkou dobře posloužiti inteligentnímu poutníku českému, může pomoci vytlačiti ještě dosud zahnízděné cizí – pravidelně i řečí i citem – výklady, které byť i někdy přeloženy v náš jazyk, význam české práce snižují a cizí vynášejí. (Teige 1901: III) Dank seiner bündigen, bestimmten und sich nur mit wirklichen Bedeutsamkeiten […] befassenden Bemerkungen eignet sich dieses Büchlein gut für den intelligenten tschechischen Wanderer, kann es helfen, bis heute noch – gerade in Sprache und Gefühl – eingenistete fremde Deutungen zu verdrängen, die, würden sie je in unsere Sprache übersetzt, die Bedeutung der tschechischen Arbeit herabsetzen und Fremdes einführen würden.

In der Mehrzahl der Führer geht es nicht darum, erneut national zu argumentieren und den Leser zu überzeugen – das tschechische Publikum brachte schon allein mit

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der Tschechischsprachigkeit dieser Texte seinen nationalen Standpunkt klar zum Ausdruck. Anhand dieses Beispiels lässt sich sagen, dass bereits die Beschreibung der jeweiligen Lokalitäten in einem bestimmten sprachlichen Code deren Aneignung durch philologische Werkzeuge sowie einen Bewältigungsversuch bedeutete. Es ist insofern nur folgerichtig, dass die deutschsprachigen Texte bzw. Texte deutscher Provenienz oft ein anderes bzw. ihr eigenes Bild von der Stadt formten. Sie boten die Version eines traditionellen deutschen Ortes, Sitz einer ehrwürdigen und als deutsch verstandenen gotischen und barocken Kultur. Beim Vergleich von tschechischen und deutschen Reiseführern haben wir es quasi mit zwei verschiedenen Städten zu tun (vgl. Thomsen 2010). Im weiteren wollen wir deshalb in den Führern jenes Nationale in den Beschreibungen konkreter Prager Örtlichkeiten, Gebäude und Statuen suchen, und zwar vor allem derjenigen mit national relevanter Vergangenheit – es geht also nicht nur um materielle Anhaltspunkte, sondern vielmehr um Symbole der aktuell jeweils propagierten und vorherrschenden sozialpolitischen oder nationalen Ideen und Werte. Die erinnerten lokalen Ereignisse werden auf den Seiten der Reiseführer zu Instrumenten nationaler bzw. politischer Erziehung. Man stößt etwa auf den Altstädter Ring, jene Inkarnation der nationalen Vergangenheit und Gegenwart, wo es, den Potulky Prahou (Streifzüge durch Prag) von Josef Sulík aus dem Jahre 1926 zufolge, scheint že srdce rychleji tu bije […], kroky dějin duní po této dávné dlažbě, kudy přešla století slávy i ponížení, odboje i osvobození. Kameny tu mluví k českému člověku. […] Všichni velcí a vzácní lidé ducha, rozumu a práce do očí se ti tu přímo dotazují: Cos obětoval, jaký příkaz životní naplníš, jak žiješ – chceš-li býti také účastníkem národní kultury? (Sulík 1926: 3-4) dass das Herz hier schneller schlägt […], die Schritte der Geschichte über jenes alte Pflaster hallen, über das Jahrhunderte des Ruhmes und der Erniedrigung, des Widerstandes und der Befreiung hinweggegangen sind. Die Steine sprechen hier zum tschechischen Menschen. […] Alle großen und edlen Menschen von Geist, Verstand und Arbeit erkundigen sich hier bei dir direkt, Auge in Auge: Was hast du geopfert, welchen Lebensauftrag erfüllst du, wie lebst du – und magst auch du beteiligt sein an der nationalen Kultur?

Man findet die Prager Burg, den Vyšehrad; von den neueren Bauten auch den »am schönsten Ort Prags« (»v nejkrásnějším místě Prahy«) stehenden »Stolz unseres Erwachens« (»chlouba našeho probuzení: Národní divadlo«, Horák 1931: 63) – das Nationaltheater (Marek 2004), das, dem Průvodce Prahou pro mládež (Pragführer für die Jugend) von Jiří Guth aus dem Jahre 1912 zufolge eines »der herrlichsten und bedeutendsten tschechischen Gebäude ist und mit dem Ertrag aus Sammlungen gebaut wurde, die unter den tschechischen Menschen mit dem Losungswort Das Volk sich selbst begonnen wurden, so dass es ein hervorragender Beleg dafür ist, wozu die

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Opferbereitschaft und Begeisterung der ganzen Nation imstande ist« (»z nejnádhernějších a nejvýznamnějších budov českých a bylo vystavěno z výnosu sbírek zahájených mezi českým lidem s heslem Národ sobě, jsouc takto skvělým dokladem, co dovede obětavost a nadšení celého národa«, Guth 1912: 82-83). Ein anderer Ort ist sodann laut der gleichen Publikation die hussitische Akropolis auf dem Žižkov-Hügel, jenes Befreiungsdenkmal also, das »ein weithin sichtbares Ehrenmal und förmlich die Vollendung von Žižkas berühmter Wache des Jahres 1420 [ist]. […] Nach seiner Fertigstellung können wir den Erinnerungshügel mit der Athener Akropolis vergleichen mit [ihren, JR] großartigen Bauten aus marmornen Tempeln, von Säulengängen getragen.« (»je daleko viditelným památníkem a jaksi završením Žižkovy slavné stráže z r. 1420. […] Po její dostavbě můžeme památný pahorek přirovnati k athénské Akropolis s velkolepými stavbami mramorových chrámů sloupovím nadnesených.«, Guth 1912: 108) Prag und der Prager Raum wurden als tschechisch stabilisiert, und zwar auch mit Hilfe von Reiseführern, die diesem Raum eine imaginäre Ruhe vermittelten, indem sie ihn für das tschechische Element sicherten. Um zum Schluss die hier verfolgte Präsenz des Tschechisch-Nationalen in den Prag-Führern zwischen 1850 und 1950 in einem größeren Fragehorizont zu problematisieren, lässt sich zunächst feststellen, dass derjenige, der Nationales in diesen Texten finden möchte, es ohne Probleme findet. Damit freilich bieten sich einige Anschlussfragen an: Was eigentlich sollen die Besucher der Stadt in deren Raum wahrnehmen? Werden sie durch die Führer lediglich zu Konsumenten einer vorgefertigten nationalen oder politischen Realität? Können touristische Führer an sich überhaupt wertneutral sein? Oder sind wir es, die unterschiedliche nationale und politische Tendenzen in sie hineininterpretieren? Oder ist die Publikation von Reiseführern immer schon politisch oder national motiviert? Das heißt, sind sie untrennbar mit einer Ideologie, einer Idee verbunden?

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Organischer Stadtkörper oder Durchhäuserstadt Deutsche popularisierende Prag-Bücher der 1930er Jahre ŠTĚPÁN ZBYTOVSKÝ

Der junge Prager Jura-Student Norbert Fried (1913–1976), später als tschechisch schreibender Schriftsteller Norbert Frýd bekannt, eröffnete 1933 seinen Debütgedichtband, die »lyrische Reportage« (wie der Untertitel angibt) Prag spricht dich an, mit dem Gedicht Der Berichterstatter beginnt: Die Stadt spricht dich an, Lebender, der du mit hellen Sinnen durch ihre Adern wandelst. Sie spricht zu dir aus tausend Munden und wirbt um dich und stellt sich vor dich hin mit gespreizten Beinen und sagt: So bin ich. Hörst du ihre Stimmen, die dir aus Türmen, Telephonen, Scheinwerfern, Hupen, Augen, Händen, Beinen, Bäuchen, Brüsten, Farben, Steinen, Fenstern, Röhren, Rinnen, Düften, Schatten, Wänden, Schienen zurufen ihre Losung? Hörst du sie die Ansprache der Stadt? (Fried 1933: 9)

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Die expressionistische O-Mensch-Geste, die topische Personifizierung der Stadt als werbende Frau sowie der Fokus auf emblematische Symptome der Beweglichkeit der modernen Großstadt werden hier integriert in einen Appell zu einer relationalen, seitens des Beobachters wie des Beobachteten aktiven bzw. aneignenden Gestaltung des erlebten Stadtraums. Trotz aller signifikanten Gattungsunterschiede lässt sich Frieds Gedicht als Knotenpunkt der Prag thematisierenden Literatur im weitesten Sinne wahrnehmen: Einerseits steht es in einer Linie mit zahlreichen journalistischen, (kunst-)historischen und belletristischen Texten, die Prag bildlich als einen autonomen Organismus stilisieren oder gar als Geliebte anthropomorphisieren, andererseits stellt es einen – in der deutschsprachigen Literatur selten vertretenen – Ausdruck der Faszination für das moderne, ›neue‹ Prag der Zwischenkriegszeit dar. Dieser Beitrag befasst sich mit der Darstellung Prags in einem kleinen Ausschnitt dieses Textkorpus: mit einigen deutschsprachigen popularisierenden, kunsthistorisch und reportagehaft ausgerichteten Prag-Büchern der 1930er-Jahre, einer Zeit, die sich betrachten lässt als die zweite Phase der ersten tschechoslowakischen Republik und zugleich als Periode, die einem nicht nur für deutsch-tschechische Zusammenhänge katastrophalen historischen Einschnitt vorausging. Das Erfassen des Stadtraums wird hier nicht konsequent an einem bestimmten raumtheoretischen Begriffswerk orientiert, es wird auch keine Suche nach dem ›passenden‹ Beschreibungsmodell betrieben. Es wird ein bescheideneres Ziel verfolgt, nämlich die je eigene Begrifflichkeit und Darstellungsweise der untersuchten Texte über Prag aufzuzeigen und zu vergleichen. Trotzdem werden sie nicht voraussetzungslos gelesen. Ausgehend etwa von der Kenntnis der Thesen Henri Lefebvres über die kulturelle Produziertheit des Raums und seiner Triade der Begriffsebenen (der räumlichen Praxis, der Raumrepräsentationen und der Repräsentationsräume) (Lefebvre 2006) wird versucht, komplexere begriffliche Zusammenhänge in den behandelten Prag-Darstellungen zu ergründen. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass jegliche Stadtdarstellung nicht nur die materielle Situation des urbanen Raums spiegelt, sondern auch die historischen Narrative gewissermaßen wertend (re-)konstruiert und interpretiert. Angesichts des historischen Kontextes scheint es angebracht zu fragen, mit welchen Darstellungsstrategien Prag in popularisierender Sachliteratur präsentiert wird, welchen Räumen besondere Repräsentativität in Bezug auf das Alltagsleben, die Geschichte oder das ästhetische Erscheinungsbild der Stadt zugeschrieben wird und welche bisherigen, unterschiedlich national, politisch oder ästhetisch geprägten Stadtnarrative (deutsches, slawisches, magisches Prag etc.) affirmativ oder polemisch mit welchen Räumen verknüpft werden und auf welche Weise der interkulturelle Charakter Prags dabei zur Sprache kommt. In Betracht kommen für die 1930er-Jahre nicht wenige repräsentative Publikationen, etwa die von tschechischen Autoren wie Jaroslav Šetelík (1932), Zdeněk Wirth

O RGANISCHER S TADTKÖRPER

ODER

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(1932) oder Edgar Havránek (1939). Hier konzentriere ich mich auf drei deutsch geschriebene Bücher, die das soziale und kulturelle Leben der Stadt und ihren urbanen Charakter thematisieren – und zwar vorrangig in Wort und eher ergänzend in Bild, vorrangig die gesamte Stadt umfassend und nicht nur in einem Aspekt darstellend, eher für ein breites kulturell interessiertes Publikum und nicht nur für Fachspezialisten bestimmt. Urheber dieser durchaus populär gewordenen Publikationen sind drei Nicht-Prager, die aus verschiedenen Gründen eine Etappe ihres Lebens in der Stadt verbracht haben: der Kunsthistoriker und Dichter Oskar Schürer (1892-1949), der Rundfunkpublizist und Kritiker Frank Warschauer (1892-1940) und der populäre Autor von Studentenromanen sowie historischer, phantastischer und humoristischer Prosa Karl Hans Strobl (1877-1946). Stellenweise haben sich Vergleiche damit als sinnvoll erwiesen, was das ›deutschnationale Prag-Narrativ‹ genannt werden kann. Damit ist hier das von deutschnationaler Ideologie und von den gesellschaftlichen Interessen der nationalistisch gesinnten Deutschböhmen geprägte Bild von Prag und seiner Geschichte gemeint. Als beispielhafte Ausformulierungen dieses Prag-Narrativs werden einige Texte aus dem Sammelband Deutsche Arbeit in Böhmen (1900) und der Zeitschrift Deutsche Arbeit herangezogen.

1. O SKAR S CHÜRER : P RAG . K ULTUR – K UNST – G ESCHICHTE (1930) Der in Augsburg geborene Sohn eines Nähfadenfabrikdirektors kam 1922 – nach seinen Studien der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in München, Berlin und Marburg und nach der Promotion bei dem Dilthey- und Wölfflin-Schüler Richard Hamann in Marburg – nach Dresden-Hellerau, wo er an der lebensreformerischen Neuen Schule unterrichtete.1 Die nachfolgenden Besuche in Prag begeisterten ihn für die Stadt. 1924 heiratete er die am Hellerauer Dalcroze-Institut lehrende tschechische Tänzerin und Choreographin Jarmila Kröschlová und bezog mit ihr eine Wohnung in Prag-Dejwitz. Hier entfaltete Schürer eine rege publizistische Tätigkeit2 und knüpfte

1

Schürer gab 1919 drei Bände expressionistischer Poesie heraus: Versöhnung (Leipzig: K. Wolff), Kleine Lieder (München: Dreiländerverlag), Drohender Frühling (München: Roland). Für weitere biographische Angaben einschließlich seiner Forschungen in Eger, auf der Zips und seiner akademischen Laufbahn seit 1937 in Darmstadt vgl. Gadamer (1952), Brosche (1969, Bibliographie auf S. 441-445), Trapp (2001/2002), Kropáček (2003), Fuhrmeister (2005), Kröschlová (2012).

2

In den deutschsprachigen Zeitungen sind zahlreiche Hinweise zu finden, v.a. auf seine Vorträge (z.B. Vortragsreihen im Prager Volksbildungsverein Urania »Über die heutige Kunst« [Ankündigung in Prager Tagblatt, 28.01.1928, S. 7], »Völkerschicksal und Kunst«

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Kontakte zu den Vertretern der Prager deutschen und tschechischen Kulturszene; eine Freundschaft verband ihn etwa mit dem Schriftsteller Johannes Urzidil oder dem Slavistikprofessor Gerhard Gesemann, mit den Malern Jan Zrzavý, Josef Čapek, Zdeněk Rykr und anderen aus dem Umkreis der Gruppe Tvrdošíjní (Die Hartnäckigen). Er publizierte u.a. in der tschechischen Revue Veraikon oder der Deutschen Kunst und Dekoration. Nach etwa vierjähriger Arbeit veröffentlichte er 1930 im Epstein-Verlag sein kunsthistorisches Hauptwerk, das umfassende Prag-Buch mit mehr als einhundert Photographien von Alexander Exax in der Bildbeilage. Es fand beträchtliche internationale Resonanz und wurde 1935, 1939, 1940 und 1943 neu aufgelegt.3 Die gattungsmäßige Einordnung des Buches fällt nicht leicht – Schürer bietet nicht nur einen streckenweise minutiösen Überblick der Kunst- und Architekturgeschichte Prags. Er belebt die Darstellung durch eine außerordentlich dynamische, stellenweise ausgesprochen furiose Metaphorik und Ausdruckskraft, die nicht nur Schürers expressionistische Anfänge verraten, sondern gleichzeitig seiner vitalistischen Weltanschauung und dem im weitesten Sinne kulturpolitischen Aspekt seiner Darstellung Rechnung tragen. In diesem Sinne ist der Charakteristik zuzustimmen, Schürer repräsentiere den Typus »Historiker als Erzähler mit großem Atem« (Trapp 2001/2002: 260). In der tschechischen Rezeption wurde auf die deutsche Tendenz des Buches hingewiesen.4 Der Autor äußerte sich jedoch bereits im Vorwort zur ersten Auflage zu seiner Position als Nicht-Prager und Deutscher: Als Deutscher sehe ich in bedeutenden Denkmalen der Prager Geschichte die Leistung meines Volkes. Ich übersehe darüber nicht die Leistung des tschechischen Volkes. Ja gerade das Fremde lockte zu klärender Auseinandersetzung. Meine redliche Mühe ging dahin, den Anteil

[Prager Tagblatt, 05.01.1929, S. 13], »Englands Beitrag zur Weltkunst« [Prager Tagblatt, 26.01.1929, S. 8] etc.), Führungen durch Ausstellungen des Kunstvereins für Böhmen (z.B. Prager Tagblatt, 08.04.1930, S. 8) oder Radiosendungen innerhalb der »Deutschen Sendung« des tschechoslowakischen Rundfunks (z.B. Prager Tagblatt, 14.04.1929, S. 6; 12.12.1929, S. 8 etc.) oder in der Berliner Funkstunde (z.B. Prager Tagblatt, 22.01.1932, S. 6). Außerdem begleiteten seine Texte mehrere Ausstellungskataloge (z.B. Schürer 1928). 3

V.a. die zweite Auflage beinhaltet umfassende Textergänzungen. Die positive Aufnahme in Prag selbst belegen z.B. wiederholte Lesungen Schürers aus dem Buch, vgl. die Ankündigungen im Prager Tagblatt (09.12.1930, S. 8; 18.03.1931, S. 5 etc.)

4

Der Kunsthistoriker Jaroslav Pešina hat Schürers Buch später zu denjenigen Darstellungen gerechnet, die die Autochthonie der böhmischen Kunst grundlegend bestritten haben (Pešina 1939).

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der Rassen zu erkennen, die gegenseitige Befruchtung zu würdigen. Und dazu trieb mich nicht nur der blutleere Begriff einer ›Objektivität‹, sondern persönlichstes Erleben, zu dessen Festigung dies Buch geschrieben wurde. (Schürer 1930: 2)

Bereits an diesem Aspekt der ›methodologischen Reflexion‹ sieht Trapp (ebd.: 263) einen Einfluss der Dilthey’schen hermeneutischen Schule, der seit der Marburger Studienzeit Schürers Denken und Schreiben prägte und in der Freundschaft mit Hans Georg Gadamer weiter entfaltet wurde. Angesichts der folgenden Ausführungen über Schürers Auffassung des Prager Stadtraums seien hier noch zwei kontextualisierende Hinweise hinzugefügt: Dilthey arbeitete keine eigenständige Raumtheorie aus, in seinen Berliner Psychologie-Vorlesungen von 1883-84 diskutierte er in Auseinandersetzung mit Hermann Lotzes Theorie der Lokalzeichen die Möglichkeiten eines Ausgleichs zwischen der empiristischen und der nativistischen Raumtheorie, ohne jedoch eine klar formulierte eigene Position zu beziehen (Dilthey 1997: 117-122). Dass die Raumwahrnehmung und -erkenntnis mit der psychophysischen Veranlagung des Menschen sowie mit der Struktur des Bewusstseins korreliert, ist eine sehr allgemeine These, die durchaus mit den phänomenologisch orientierten Raumkonzeptionen Edmund Husserls oder Ernst Cassirers kompatibel ist. Im Folgenden wird ersichtlich, dass sich auch Schürers Ansatz mit dieser Grundannahme gut vereinbaren lässt, und besonders mit den Cassirer’schen Ausführungen über den ästhetischen Raum als besondere Variante der symbolischen Form »Raum«. Cassirer postulierte in seinem Vortrag Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum von 1930 die Priorität der Sinn-Ordnung vor dem Sein: »Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.« (Cassirer 2004: 419) Schon in Schürers Vorwort fällt die z. T. zeitübliche biologistische Metaphorik auf, die besonders bei dem völkisch gesinnten Publikum erhebliche Resonanz finden konnte. Zu der heiklen Frage der ›nationalen Perspektive‹ Schürers äußerte sich auch Johannes Urzidil in seiner Rezension in der Slavischen Rundschau, indem er Schürer zwar die »Augen des Deutschen«, jedoch zugleich ein besonderes Verständnis für die »Triebkräfte čechischen Verhaltens« zusprach und ihn ausdrücklich von jeglichen Implikationen der nationalen Polemiken freisprach: »Schürer ist allerdings eine unpolitische Natur.« (Urzidil 1930, 603f.) Damit brachte er einerseits die strikt kultur- und kunstgeschichtliche Ausrichtung und in dieser Hinsicht ›Stärke‹ der Monographie zum Ausdruck, andererseits – mit der Diagnose des Unpolitischen – die Schwäche des Autors, der sich trotz allem privat geäußerten Missfallen über die NaziHerrschaft in den NS-Universitätsbetrieb einbeziehen ließ und auch in sein PragBuch einige Konzessionen eingehen ließ – wenngleich sie relativ umsichtig formuliert wurden, etwa im kurzen Vorwort zur 3. Auflage vom Juli 1939:

322 | ŠTĚPÁN Z BYTOVSKÝ Als die Märztage dieses Jahres das Schicksal Prags entschieden, war dies Buch über Prag vergriffen. Durch neun Jahre hindurch hatte es seine Arbeit geleistet […], den Deutschen bewußt zu machen, welch ein Reichtum deutscher Volkskraft eingegangen ist in den Jahrtausendbau dieser herrlichen Stadt. Die politische Entwicklung heute und morgen verpflichtet unser Volk, um ein tieferes Verstehen seines Ostschicksals sich zu mühen. Die schicksalsumwitterte Gestalt der Moldaustadt kann solchem Bekenntnis die Wege weisen, kann helfen Eigenes und Fremdes, wie es hier zur Stadteinheit sich verschmolzen hat, zu begreifen. […] (Schürer 1939: o.S.)

Das Vorwort zur ersten Ausgabe mit der proklamierten Anerkennung der Leistungen der Tschechen blieb hier sowie in den späteren Auflagen unverändert, bis auf die offensichtlich erzwungene (gleich ob durch Schürer oder durch den Verlag vorgenommene) Streichung der Dankesworte an die Prager Helfer und Mitarbeiter, unter denen Tschechen oder auch Urzidil figurierten. Die semantische Opposition des Eigenen und Fremden im Sinne eines Anspruchs auf ein ursprünglich deutsches, daher ›eigenes‹ Prag prägt die Stadtdarstellung Schürers keineswegs; in dieser Hinsicht gibt es auch keine Umstellungen im Text der dritten Auflage. Daher stellt das Vorwort von 1939 am ehesten einen taktischen Versuch dar, die Publikation durch politische Konzession gegenüber dem NS-Regime zu legitimieren.5 Die kompositionelle Gliederung bleibt in allen Auflagen erhalten: dem Vorwort (bzw. den Vorworten in den weiteren Auflagen) folgt eine Vorrede mit der Überschrift »Bild«. Diese betont metaphorisch-bildliche Exposition gibt den Grundton und in verdichteter Form auch die wesentlichen thematischen Aspekte der Gesamtkonzeption vor: Wer vermöchte diese Stadt mit Worten gebührend zu schildern? Durch die Jahrhunderte erklingen die rühmenden Berichte großer Europäer. Sie preisen die stolze Gebärde der Hügelstadt, sangen von ihren Domen, ihren Burgen, von den vielhundert Kuppeln und Türmen, die sie überschwingen. Sie wissen von der Verwunschenheit zerfallender Quartiere, vom Raunen uralter Gärten und vom Zauberton der nächtlichen Moldau. Und immer wieder beim Anblick dieser Stadt erinnern sie an Rom. (Schürer 1930: 9)

Der Vergleich »Rom […] des Nordens« wird weitergeführt als Hinweis auf das Schicksal, das »gleichnisweise in Bau und Mauern seinen Ausdruck schuf« (ebd.): Das materielle Erscheinungsbild der Stadt ist nicht der letzte Referent verschiedener zeichenhafter Zuschreibungen, sondern selbst nur ein Zeichen einer metaphysischen Größe – des Schicksals. Schürers Frage nach der gebührenden Schilderung ist nicht

5

Diese Feststellung soll jedoch keine generelle Legitimation derartiger Taktik bedeuten, sondern nimmt sie als Realität wahr, die einen Teil des Buchwesens unter totalitaristischer Herrschaft prägte.

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nur rhetorisch zu verstehen. Wiederholt geht er auf das Problem der sprachlichen (Nicht-)Greifbarkeit des »Schicksals« der Stadt ein und verbindet es mit der Grundformel: »Hier ist der Kampf zwischen Form und Unform noch nicht ausgetragen. Was als Gestalt uns entgegentritt, es ist nur augenblickliche Schwebe im ewigen Auf und Nieder dieses Kampfes. Wir leben ihn mit, wo wir betrachten. Werden selbst zur Formung aufgerufen.« (Ebd.) Auf die erhebliche Rolle der Polemos- und Kampfmotivik in der Historiographie Böhmens – etwa im Werk von František Palacký oder in den historischen Beiträgern der Deutschen Arbeit – sei hier lediglich hingewiesen.6 Das Spezifische bei Schürer scheint darin zu liegen, dass die Dynamik des unablässigen agonalen Verhältnisses konsequent das Gesamtbild des Stadtraums definiert: Da ragt der Hradschin gegen den Strom. Gerade wo dieser zum großen Bogen ausholt, stößt der Berg vor, treibt große Bewegung ins Bild. Der Kampf beginnt: aus der Waagerechten des Stromlaufs steigen die Hänge, dichte Bebauung staffelt sie hinauf. Doch von der langen Flucht der Burgtrakte oben werden sie wieder zur Waagerechten geebnet, zu großer Entsprechung zum Stromlauf unten. Das aber staut nur den Höhendrang des Gesamtbilds: mit gesteigerter Wucht stößt er hinter der Burgwand empor im trotzigen Koloß des Veitsturms, dem wenige Schritte ostwärts die hellen Türme von St. Georg Echo geben. Architektonische Kraft ist hier wunderbar gesammelt. Die Kleinseite unten mit Kuppeln und Türmen und der Dächervielfalt schafft das Fundament, die Hradschinstadt mit Palästen und Klöstern deckt ihr den Rücken, den die Moldauhänge umzirken. (Schürer 1930: 10)

Diese gleichsam kinetistische Darstellung soll eine strukturierende Spannung zum Ausdruck bringen, deren Materialisierung der Prager Stadtraum darstelle: Jetzt aber beginnt die hier gesammelte Spannung zu wirken: sie treibt hinüber über den Strom. Die steinerne Brücke Karls IV. wirkt wie Verleiblichung dieser rückschlagenden Spannung: in kraftvollen Bögen greift sie hinüber zur Altstadtseite, verankert sich mit festem Brückenturm am Uferrand, staut sich im Block der Bürgerstadt […]. Das schafft ein architektonisches Wi-

6

Zu Palackýs Geschichtsauffassung vgl. Stašková (2007). Der Prager Slavist und Bibliothekar Otto Brechler resümierte 1911 in der Zeitschrift Deutsche Arbeit die letzten hundert Jahre des deutsch-tschechischen Neben- und Miteinanders in den Böhmischen Ländern folgendermaßen: »Auf sämtlichen Feldern des öffentlichen und geistigen Lebens ist es zu Zwiespalt, Gegensatz und Kampf gekommen. Vertrauen wir doch auf die uns überkommenen Kräfte und auf das gewaltige Geschick, daß der Streit, in dem die Kampfmittel des Gegners zunehmen und wirkungsvoller werden, für uns Deutsche glücklich enden möge!« (Brechler 1911: 343)

324 | ŠTĚPÁN Z BYTOVSKÝ derspiel von Klang und Gegenklang, dem man fast erschrocken lauscht. Das reißt herüber, hinüber – droht zu zerreißen. Bis ins 19. Jahrhundert war die Karlsbrücke die einzige Kette, die beide Gewichte band. Die Heiligen auf der Brücke stehen wie im Sturm, ihre Gewänder wehen. (Ebd.)

Diese Beziehung zwischen Burg und Altstadt schafft das »Kraftfeld«, in dem sich die gesamte Darstellung Schürers inszeniert. Er spricht von der »das Stadtbild begründenden Figur«, in dessen Konturen sich der gesamte »Wechsel des Lebendigen« (ebd.) bzw. die »Stadtschöpfung« abspielt. Ihren Rhythmus bestimmt der Wechsel der senkrechten und horizontalen Linien: »Man denkt an alte Stiche, welche den Stadtkörper des mittelalterlichen Prag – fast noch der begrifflichen Vorstellung folgend – in die Vielheit der Türme zersplittern.« (Ebd.: 11) In diese »Rhythmik« des Raums fügt Schürer auch die neuen Stadtteile. Neben dieser Formenrhythmik ist in den angeführten Zitaten wieder eine organizistische Imagination der Stadt deutlich: Schürer spricht nie vom »Stadtraum«, sondern vom »Stadtkörper«, der »Stadtgestalt«, dem »Stadtdrang« oder vom »Stadtgefüge« (ebd.: 311, 320 u.a.) – und betont zugleich, dass hier immer nur historisch bedingte Objektivationen einer herauszulesenden, zu spürenden und mitzuerlebenden geistigen Substanz der Stadt zum Vorschein kommen. Über eine kulturell geteilte Stadt spricht Schürer nicht, stattdessen verwendet er die topographische Metapher des »Dreiklangs« (Schürer 1930: 3), welcher bestehe aus (1.) der hellen prachtvollen und sagenumwobenen Kleinstadt mit dem Hradschin, (2.) der winkligen Altstadt, an deren Pointe im »pittoresken Spuk« die Überreste der alten Judenstadt erinnern und die neuen »Universitäten und Ministerien« immer noch einen »grotesken Kampf« mit dem Alten führen, und (3.) der Neustadt, in der mit »großen Plätzen« und »geregelten Straßensystemen« die »Moderne […] ins alte Stadtbild eingezogen« sei (ebd.: 12). Immer wieder scheint die Figur dieses ›Dreiklangs‹ aus den Fugen zu geraten: »Dunstmassen sammeln sich im Kessel zwischen den Hügeln. […] Dumpf lagert die Kleinseite dann am Strom und ihr Brückenturm steht wie verwaist, des größeren Halts von oben beraubt. Dann ist es, als ob der Pulsschlag dieses Stadtgebildes auf Momente aussetzte, als ob das Ganze zerfallen müsse.« (Ebd.: 13) Bis es in immerwährendem Lichterwechselspiel, in »plötzlichem Leuchten« (ebd.) wieder die Form der Stadt aus »gemachtem« und »gewachsenen« Stein (Beton und Naturstein) hervorbringt. Dem bildhaften Vorspann – einer Art abstrakter Entstehungs- und Erneuerungsmythos jenseits jeglicher national markierter Gründungsnarrative – folgen zwei Hauptteile: der entwicklungsgeschichtliche Teil »Schicksal« und der auf die Erfassung des räumlichen ›Wesens‹ der Stadt orientierte Teil »Gestalt«. Die kreuzweise

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Anordnung der Inhaltsangabe seit der zweiten Auflage7 legt einerseits die enge Verschränkung des historischen »Schicksals« mit der phänomenalen »Gestalt« nahe, andererseits die Rhythmik beider Hauptteile, die der »Kampf zwischen Form und Unform« bestimmt, in historischer Dimension einhergehend mit den Perioden der Zuwendung zum und der Abkehr vom ›lateinischen Geist‹: Auf den ersten Anstieg unter den Přemyslidenkönigen folgt ärgste Bedrohung durch innere und äußere Wirren. Aus ihnen erhebt sich der große Aufschwung der Weltstadt Karls IV. Aber ihre Pracht zerfällt im Hussitenjahrhundert. Habsburgs Gegenreformation baut langsam und zielbewußt wieder auf. Der hohe Barock triumphiert im Glanz des Adels. Doch als er zersetzt ist, reicht die junge Kraft des Bürgertums nicht aus, vor dumpfem Rückfall in die Provinz zu retten. Aus ihr riß im vorigen Jahrhundert die tschechische Renaissance zu neuen Zielen. (Schürer 1930: 17)

Der tschechischen kulturellen und nationalen ›Wiedergeburt‹ schreibt Schürer eine höchst konstruktive Rolle zu.8 Es sei eine »naturgegebene« Disposition Prags, Vermittlerin zwischen West und Ost zu sein, die Rückseite der gleichen Schicksalsmünze besteht in der äußersten Spannung, die den gesamten Raum durchzieht: »schroff spannen sich hier die Gegensätze. Je tiefer man in die Einzelerscheinungen untertaucht, umso tiefer empfindet man diesen Kontrast. Erst die Entfernung läßt das ›Vermittelte‹ schauen.« (Ebd.: 19) Die nationalen Emanzipationsprozesse werden in zwei Aspekten verfolgt. Auf der einen Seite stehe der Formwille der »Tschechischen Renaissance«, in der allmählich »ein Stamm modern gerichteter Gelehrter […] der tschechischen Kultur den Wirklichkeitsstandpunkt« (Schürer 1930: 289) erobere – repräsentiert durch Masaryk

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Die übliche konsekutive Anordnung der Kapitelüberschriften in der ersten Ausgabe wird ab der zweiten Auflage durch eine kreuzweise ersetzt: auf der oberen Seitenhälfte sind in zwei Spalten die einführenden und die historischen Kapitel bis zur Vormärzzeit aufgelistet (»Schicksal«), auf der unteren Seitenhälfte in zwei Spalten die auf den Stadtraum bezogenen Passagen (»Gestalt«) und der Tabellen- und Registerapparat; in der Mitte in einer Spalte die gegenwartsnahen historischen Perioden, die die urbane Disposition und den symbolischen Raum der Stadt in Schürers Zeit am deutlichsten prägten: von der »Tschechischen Renaissance« bis zum »Heutigen Prag«.

8

Damit kontrastiert die spätere Aussage ganz im Sinne des üblichen deutschböhmischen Geschichtsnarrativs: Die Typologie von Formung und Formzersetzung wird pointiert auf die Periode des anationalistischen Landespatriotismus bzw. Bohemismus als »letzte große Stunde einer böhmischen Einigkeit« (Schürer 1930: 260) und ihre definitive Grablegung 1848 nach dem »blutige[n] Finale der Prager Revolutionstage« (Schürer 1930: 273) angewandt.

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und Gebauer. Und auf der anderen Seite die »Aufspaltung in Nationen«, der (erst seit der Auflage 1935) wiederum die »Deutsche Arbeit«, im Werk August Sauers gipfelnd, konstruktiv entgegengewirkt habe – mit ihrer Betonung der Volks-, Bodenund Heimatverbundenheit, aber auch der wohl bewussten »idealistischen« Steigerung über das Nationale zum Allgemeinmenschlichen hinaus. Die Raumdarstellung im Teil »Gestalt« wiederholt z.T. mehrere dem Leser bereits vertraute Gedankenfiguren. So wird der Stadtraum primär weder als stabile Gegebenheit noch ausgehend von einem abstrakten Entwurf oder von einem prägenden Narrativ gedacht, sondern vom »Raumerlebnis« her, in dem sich der Raum als schematisch-abstrakte oder als symbolische Größe erst konstituiert: »[W]as Stadtbeschreibungen, vor allem die Theorien, oft übersehen, Prag spendet es schon dem flüchtigen Besucher: den tiefen Atem des groß gerhythmeten Raumes.« (Schürer 1930: 311) Die überschwängliche Formulierung besagt gleichzeitig, dass in Prag nicht ein besonderer Raumtypus auffällt, sondern dass die Wahrnehmung dieser Stadt in besonderem Maße den Charakter einer Reflexion der Raumerfahrung gewinnt: »allüberall greift dies Räumliche tief in unser Empfinden« (ebd.); die »Räumigkeit im eigentlichen Sinne« setzt Schürer dezidiert von einem abstrakten Raumbegriff oder vom »Raum als augedehnte Örtlichkeit« ab (ebd.). Solche Räumigkeit »haftet nicht an bestimmten Gebilden, läßt sich nicht fassen als diese oder jene Eigentümlichkeit der Topographie, der Bauten, der Grundform. Sie ist Fluidum, das all jene greifbaren Gegebenheiten durchströmt und durchatmet und, obwohl durch sie bedingt, sie doch erst schafft« (ebd.). Bei der Erklärung der besonderen ›Räumigkeit‹ Prags bezieht sich Schürer weder auf die labyrinthische Gassenstruktur noch auf das »Kleinwerk der Giebel«: Nicht dies oder jenes – ihr merkwürdiges Zueinander ist das Bestimmende. Hier lagert nicht gewordener oder gestalteter Raum in großen abgeklärten Fügungen – hier schafft sich der Raum vor unseren Augen, hier wächst er mit jedem unserer Schritte in eine eigentümliche Spannung hinein. Nicht Raumfiguren erwarten uns hier – ein Raumgeschehen wächst uns in Prag entgegen. Dies spannungsvolle Geschehen, das sich zu großen Atemzügen weitet, packt uns an, macht uns zu Mitspielern in leiblichem Sinn, zwingt uns zu persönlichster Stellungnahme. (Schürer 1931: 312)

Schürers Raumdenken ist einerseits deutlich geprägt durch eine Schichten- und Zonenlogik, wobei die einzelnen Komponenten des Gesamtgefüges essentialistisch, als Wesenheiten betrachtet werden. Das betrifft die Opposition ›des Westlichen‹ und ›des Östlichen‹ genauso wie die Opposition von Natur/Organizität und Kunst/Urbanität. Wo allerdings etwa in Florenz oder in Paris die natürliche Disposition des Raums durch Straßen- und Brückensysteme verdrängt werde und damit klare Grenzen gesetzt seien, gebe es in Prag zwar auch einen »Ausgleich zwischen Natur und Kunst, zwischen Wuchs und Bau«, jedoch »nicht im Nebeneinander, sondern im

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Übereinander. Hier wird nicht wie in Paris ein Gleichnis der Natur in Form versucht – hier stößt die Form durch die Natur hindurch, überhöht sie.« Und gleichzeitig gilt vice versa: das »ganze Prager Bautum mutet im Gesamt und manchmal auch in der Einzelform so oft wie Vegetation an« (ebd.: 318f.). Wie es auch in der geistesgeschichtlichen Kulturhistoriographie der Fall war, betrifft eine ähnliche essentialistische ›Sichtung‹ bei Schürer die Betrachtung der Stadt durch das ästhetische Prisma der Epochenstile oder – wie gleich gezeigt wird – durch das Prisma der nationalen Elemente als Subjekte der Stadtgestaltung. Es ist für Schürer durchaus denkbar, eine wesentlich »deutsche« Gestaltung des Stadtraums zu denken, aber genauso wie für das Verhältnis von Natur und Form gilt auch hier die oben zitierte Formel des Kontrastprinzips: Überall, wo man zunächst eine Wesenseinheit vermuten würde, wird man beim näheren Blick mit einer Fülle von Kontrasten und Unterschieden konfrontiert. Statt der vermeintlichen Homogenität jeglichen Teils des Prager Raums tritt immer wieder Heterogenität zutage: So deutsch uns das Gesamtgefüge dieser Stadt auch anmutet – ihr plötzliches Abdumpfen ins Düstere, oft Melancholische ist Imprägnierung mit bodenständigem Geist. Deutsche waren es, die zweimal hier die Gesamterscheinung bestimmten: im Mittelalter der geniale Peter Parler, der Schwabe, im Barock der jüngere Dientzenhofer, der Franke. Wer aber könnte übersehen, dass auch ihre eigensten Schöpfungen, vor allem die Art, wie sie dem Gesamt sie einfügten, merklich sich unterscheiden von der Art ihrer Heimat? Hier in Prag mischte sich Deutsches unmittelbarer mit Französischem und Italienischem als in Deutschland selbst […] hier nimmt eine eigenartige Fremdbestimmung das deutsche Schaffen auf, wandelt es merklich und läßt einen Sondercharakter gedeihen. Daß es den andern Ausländern hier ähnlich ging, beweisen die Bauten der Franzosen (Mathias von Arras, Mathey), der Italiener (die Lugaros, Scamozzi, Orsiny) und vieler anderer. (Schürer 1930: 329)

Und damit kein Zweifel über die Rolle des tschechischen Elements entsteht, unterstreicht Schürer ausgerechnet in der dritten Ausgabe von 1939: »Einheimische Meister fügen sich bruchlos ein.« (Schürer 1939: 378) Gerade die paradoxe Verschränkung von ›bruchlos‹ und ›kontrastvoll‹ bringt am besten Schürers Erfassen des interkulturellen Charakters Prags zum Ausdruck. So nahe er dem deutschnationalen PragNarrativ etwa mit seiner organizistischen Metaphorik oder mit der Rede vom ›deutschen Gesamtgefüge‹ Prags zunächst zu stehen scheint, so sehr entfernt er sich davon mit seiner Auffassung, dass die erwähnten kulturellen Wesenheiten in Prag nirgends in ihrer Reinheit anzutreffen sind, sondern immer nur in einer eigenartigen, produktiven Verfremdung, Verformung und Verflechtung mit einem oder mehreren Gegenüber(n). Die Bewegung von der vorausgesetzten Identität zur vorgefundenen Diversität (vgl. oben: »Je tiefer man in die Einzelerscheinungen untertaucht […]«) bezieht sich dabei nicht nur auf den menschlichen Blick, sondern auch auf den Körper. Derjenige,

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der aufmerksam durch die Stadt schreitet, werde in die Bewegung des Ganzen einbezogen: »Nie, an keiner Stelle, genügte der Augenblick selbst, nie durfte man verweilen vor einem sicheren Gegenüber. Immer mußte die ganze Folge, zurück und vor, im Bewußtsein schwingen, um ein Gefühl der Ganzheit im Empfinden zu lösen. Das einzelne Monument gestaltete kein Selbsterlebnis, es trieb weiter.« (Schürer 1930: 328) Und gerade die ständige Spannung auf den nächsten Schritt im physischen urbanen Raum sowie auf den der Raumaneignung hin, die ständige Revision (und dadurch: Selbstthematisierung) jeglicher Raumentwürfe, begründet die Spezifik der Prager ›Räumigkeit‹. Dass diese Dimension der Schürer’schen Prag-Darstellung auch in der Protektoratszeit kaum zu übersehen war, bezeugt 1942 eine Besprechung der vierten Ausgabe aus der Feder des Prager Kunsthistorikers Götz Fehr (1918-1982) in der Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte: Prag sei definiert als eine Stadt, wo »mehr als zwei Völker aufeinanderprallen« (Fehr 1942: 346), als ein singulärer Ort »am Schnittpunkt der europäischen Achsen von Ost und West und vom Norden zum Süden« (ebd.: 347), als ein urbanes und architektonisches »deutsches Kleinod und ein deutsches Trotzdem zugleich« (ebd.). Es sei offensichtlich »nicht nur deutsches Schicksal, das da spricht, sondern auch slawisches, und wenn man beides zusammensehen will, so ist es europäisches Schicksal schlechthin« (ebd.).

2. K ARL H ANS S TROBL : P RAG . G ESCHICHTE EINER S TADT (1931)

UND

L EBEN

Der fast eine Generation ältere Karl Hans Strobl, am Anfang der 1930er-Jahre Vorsitzender der Deutsch-Österreichischen Schriftstellergenossenschaft und noch nicht Mitglied der NSDAP, gehörte zu den durchaus geachteten sudetendeutschen Autoren.9 Bekannt wurde er v.a. dank seiner in Prag angesiedelten Studentenromane wie Die Vaclavbude (1902) oder Der Schipkapaß (1908), die u.a. Reminiszenzen an die Zeit seiner eigenen Jura-Studien an der Prager deutschen Universität in den 1890er Jahren beinhalten. Gleichzeitig zeugen sie von seiner entschieden deutschnationalen Position.10

9

Strobl wurde etwa neben Hans Watzlik und den Vertretern der deutschen Literatur aus Prag in die repräsentative Anthologie Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei (1922) von Otto Pick aufgenommen. Mit dem tschechoslowakischen Staatspreis für Literatur wurde er jedoch, anders als die späteren Hitler-Anhänger Erwin Guido Kolbenheyer und Hans Watzlik, nicht geehrt – auch weil er ab 1918 überwiegend in Perchtoldsdorf bei Wien lebte.

10 Mehr zu Leben und Werk Strobls v.a. im Licht der Nationalitätenkonflikte vgl. Maschke (2003).

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Im Januar 1931 publizierte Strobl eine begeisterte Besprechung von Schürers Prag-Buch in der Neuen Freien Presse. Darin vergisst er nicht, seine eigene Vortragstätigkeit zur Kulturgeschichte Prags hervorzuheben: Schürers »Liebhaberversuch« habe sich »nach der gleichen Richtung hin bemüht« wie Strobls Aktivitäten (Strobl 1931). Außer dem eigenartigen Darstellungsstil Schürers mit »blitzartigen Erhellungen« und »Eingebungen« lobt er die Dramatisierung der Stadt. Weniger für Schürer und vielmehr für Strobl charakteristisch ist die Rede von der »magischen Transparenz« aller historischen Schichten der Stadt, die einen »Grund« im »Dunkel der Urzeit« erblicken lasse (ebd.). Schürers offensichtliche nationale und politische Unparteilichkeit kontrastiert Strobl mit dem nationalen Hass der Tschechen. Dabei lässt er seine eigene engagierte Position erkennen: Schürer werfe eine der wichtigsten Fragen der Zeit auf, nämlich wie »wir« (die Deutschen) mit den zu bewahrenden »Schätzen alter Kultur« (ebd.) umgehen sollen. Implizit wird der ›Verlust‹ Prags als Warnbild gesetzt, das als wesentlich deutsches Erbe nun einer »anderen Lebensform« (d.h. den Tschechen) anheimgefallen sei. Diese Einstellung impliziert aber ein von dem Schürer’schen deutlich unterschiedliches Verhalten gegenüber den nationalen Prag-Narrativen. Strobls Begeisterung für Schürers Stil ist in seinem eigenen Büchlein Prag. Geschichte und Leben einer Stadt (erschienen als vierter Band der Schriftenreihe der Studentenzeitschrift Deutsche Hochschulwarte) aufs Deutlichste erkennbar, manche Sätze imitieren gar den Schürer’schen Ton: »Was Raumerlebnis bedeutet, vermag man nirgends so deutlich zu empfinden als in Prag. Schon der erste Anblick gibt dieses Gefühl, daß hier starke Spannungen walten, ein großer Rhythmus, der die Lebenswellen dieser Stadt treibt und sich in ihrer steinernen Gestalt verkörpert.« (Strobl 1931: 5) Seine Ausführungen über Prag illustriert Strobl durch Zitate aus eigenen Romanen, v.a. aus Die Fackel des Hus (1929), einer Darstellung der Jan-Hus-Zeit aus der Sicht damaliger deutschsprachiger Studenten in Prag. Die emphatischen literarischen Stadtschilderungen bekräftigen das Narrativ von Prag als schicksalhafte Stadt. Zum Schluss der einleitenden Passage wird diese Zuschreibung vereindeutigt und auf das Schicksal der Nationalgemeinschaft angewandt: »Prag ist eine Schicksalsstadt, nicht bloß für jeden, der ihren Bannkreis betritt, sondern auch für die Völker, die an ihr Anteil haben, ja, für die deutsche Geschichte überhaupt, die mehr als einmal von hier entscheidende Wendungen empfing.« (Strobl 1931: 7) Damit greift er einen weiteren charakteristischen Aspekt des deutschnationalen Prag-Narrativs auf – bereits im Band Deutsche Arbeit in Böhmen war die Inszenierung von Prag als Schicksalsstadt unüberhörbar.11

11 Wenn dort Hermann Bachmann zu der Erkenntnis gelangte, dass »die Zukunft des gesamten österreichischen Deutschtums auf dem Boden Böhmens sich entscheiden wird« (DAB 1900: V), so war ihm v.a. Prag der Ort der »Schicksalsprüfungen« (ebd.: XI), wo »das

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Die Geschichte der Stadt wird zwar in den durchaus üblichen Stationen von der Gründung bis zur Tschechisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiedergegeben, doch wird dabei das Bild mancher Überlieferungen mehrmals als fragwürdig, ja von der tschechischen Seite verfälscht, vorgestellt. Zur Gründung der Burg Vyšehrad heißt es etwa: Um diese Gründung haben sich Fabeln gesponnen, die behaupten, Wyschehrad sei die ursprüngliche Gründung, älter als die Siedlung auf dem Hradschin; Fabeln, die von Wenzel Hanka in seine bekannten Fälschungen, die ›Königinhofer Handschrift‹ und die ›Grüneberger Handschrift‹ aufgenommen worden sind und vom Volke noch heute geglaubt werden. Es ist eine der kleinen Geschichtsfälschungen, wie sie in Prag (aus der polaren Spannung seiner Seele heraus) zu den verschiedensten Zeiten und den verschiedensten Zwecken immer wieder vorgenommen worden ist. (Strobl 1931: 8)

Die Konkurrenz der national markierten Prag-Erzählungen wird damit explizit zum Ausdruck gebracht und mit der semantischen Opposition wahr-falsch assoziiert. Typisch für die deutschnationale Prag-Erzählung ist die ebenfalls wertende Gegenüberstellung des Alten und des Neuen im Prager Stadtraum: [D]as neue Prag [hat es] wohl in den meisten Fällen nicht verstanden […] in seinen Bauten das Stadtbild dem großartigen künstlerischen Leben der Vergangenheit anzupassen. Wohl mag das Tempo der Entwicklung, das namentlich seit Begründung der Republik ein fast amerikanisches geworden ist, so manche notwendige Veränderung erfordern, aber es ist kein Zweifel, daß diese Wandlungen nur zu oft ohne das Gefühl der Pietät entstehen, das der Verpflichtung gegen das gut Alte entspräche. Freilich sei auch gerne anerkannt, daß dort, wo es nichts zu schonen gibt, sich das Selbstbewußtstein und die wirtschaftliche Kraft des neuen Prag in ganz großzügigen und kühnen Baugedanken entfaltet, die vor den gewagtesten modernen Aufgaben und Mitteln nicht zurückschreckt. (Strobl 1931: 9)

Auf jeden Fall ist das »Neue« bei Strobl mit der tschechisch dominierten Moderne konnotiert und das »Alte« mit der deutschen Vergangenheit – wieder ein Topos der

Deutschtum infolge wirtschaftlicher Vorgänge mehr und mehr in die Minderheit [geriet], und sich dennoch aller Entwurzelungsversuche mit zäher Kraft erwehrte und eine nationale Lebensführung in stattlichem Stile aufrecht hält« (ebd.: XIf.) und den Kampf um die Bewahrung seines kulturellen Erbes und seiner politischen Interessen auszukämpfen hatte. Alfred Klaar stellte Prag wiederum als schicksalhaftes Zentrum des »Wiedererwachen[s] der deutschen Litteratur in Böhmen« (ebd.: 163) dar.

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deutschnational geprägten Prag-Erzählung.12 Das Alte wird dabei immer wieder – im Gegensatz zur Darstellung Schürers – als ursprünglich und essentiell unterstrichen, das Neue in Bezug auf die Essenz Prags als problematisch; an dieser einzigen Stelle wird eine sehr allgemeine Wertschätzung des Neuen ausgesprochen, allerdings mit dem Vorbehalt »wo es nichts zu schonen gibt« und ohne jegliche Konkretisierung. Ausführlicher geschildert wird das neue Prag mit der Neustadt, dem Wenzelsplatz oder weiteren 1922 angegliederten Vierteln keineswegs. »Prag« ist für Strobl schließlich mit dem »alten Prag« identisch. Das bekräftigt er mit Hinweisen, dass die für das Gesicht der Stadt signifikantesten Orte und Denkmäler aus der deutschen Kultur und aus deutschem Handwerk hervorgegangen seien, oder direkt durch deutsche Hände und Mittel ausgebaut wurden, wie etwa die gotische Teynkirche, später eines der Zentren der böhmischen Reformation. Wie schon das letzte längere Zitat erkennen lässt, prägt die Opposition alt (= deutsch, ursprünglich) vs. neu (= tschechisch, fremd) die Ausführungen Strobls derart, dass er das neue Prag sogar zum Subjekt historischer Ereignisse stilisiert, auch wenn dabei so manche Ereignisse in einer offensichtlich falschen zeitlichen und kausalen Ordnung wiedergegeben werden. Z.B. bezüglich der Mariensäule auf dem Altstädter Ring behauptet Strobl: Das neue Prag hat offenbar, in der irrigen Annahme, die Mariensäule beziehe sich auf den Sieg des Kaisers über die böhmischen Rebellen in der Schlacht am Weißen Berge, diese Säule beseitigt und an ihrer Stelle eine ungeheure Plastik über den Platz hingegossen, das große Husdenkmal von Ladislaus Saloun. [...] [W]ieder nur ein Beispiel dafür, wie wenig das neue Prag seine modernen Zutaten mit wertvolleren Zeugen seiner Vergangenheit in Einklang zu bringen verstanden hat. (Strobl 1931: 12)13

Die teils erfahrungsgemäße, teils überzeichnete Rede von der Trennung der nationalen Elemente im Alltagsleben Prags, wie sie u.a. in Egon Erwin Kischs Rückblick

12 Alfred Klaar schrieb in Deutsche Arbeit in Böhmen über Prag, es vermittle eine Zeugenschaft über das »urdeutsche[] Wachstum[], in dem sich das alte Prag herausgestaltet hat. Die Erinnerungen an die deutschen Lebensquellen dieses Gemeinwesens aber knüpfen nicht an längst vergangene Tage und ›verfallene Schlösser‹ an, sie reichen in das Gestern hinein und begründen den Anspruch auf das Heute.« (DAB 1900: 448) 13 Als Metonymie des »neuen Prags« wird damit am Anfang der 1930er-Jahre Šalouns 1900 entworfenes und 1915 enthülltes Huss-Denkmal verwendet, das die Mariensäule (wie Strobl sicherlich wissen musste) nicht ersetzen konnte, da die Säule erst im November 1918 von der nationalistisch aufgehetzten Masse zerstört wurde.

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aus der Exil-Perspektive (Kisch 1942) zu finden ist, führt Strobl im Bild einer weitgehenden Zusammenhangslosigkeit von zwei monokulturellen städtischen Gesellschaften bei gleichzeitiger räumlicher Durchdringung: Der Nachbar wußte oft genug nicht, wer sein Nachbar sei und es gehört gewiß zu den heiteren Zügen der Prager Stadtgeschichte, daß einmal, als im Prager Rathaus vorne in der Sitzungsstube eine erregte Debatte darüber geführt wurde, daß sich das deutsche studentische Wesen in Prag so breit mache, einer der Stadtväter die Mitteilung machen konnte, man müsse, um es abzuschaffen, im Rathaus selbst den Anfang machen, da ja hinten im Rathaus selbst eine Studentenbude sei, in der so gar Mensuren gefochten würden. (Strobl 1931: 10)

Wohlgemerkt geht es hier um das seit einem halben Jahrhundert tschechisch dominierte Rathaus, welches wieder einmal ein mangelndes oder verspätetes Verständnis für die Situation seiner Stadt erwiesen habe. Der jüdischen Bevölkerung wird keine bedeutende Rolle bei der Gestaltung des Stadtraums zugesprochen; die Darstellung der jüdischen Stadt nutzt Strobl bloß zu einem Rekurs auf die romantisierende Prag-Topik: »was an malerischen Werten verloren ging [durch die Assanierung; Š.Z.], kann nur der ermessen, der sie in ihrer alten, düsteren und geheimnisvollen Gestalt gekannt hat« (ebd.). Die Häuser seien hier »von Schauern der Mystik, des Lasters, selbst des Verbrechens umwittert gewesen, aber diese verschrobenen Häuser, mit ihren finsteren Stiegen, Kellergewölben und fast geheimen Gemächern waren von einer einzigen und einmaligen Romantik umwittert, Zuflucht von dunkeln Existenzen, Dirnen und Studenten« (ebd.: 10). Angesichts der Thematik seiner Romane erscheint nur logisch, wenn unter den allertraditionellsten Stationen der Pragdarstellung (Universität, Altstadt, Kirchen, Türme etc.) bei Strobl gerade die Kneipen als Orte hervorragen, an denen sich eine besondere Qualität des Prager Studentenlebens verwirklicht. Und es scheint, als konkretisiere sich gerade die Position der Studentenschaft als deutscher »Außenposten« im Volkstumskampf in der peripheren Position der Studentenlokale: Das Prager Studentenleben ist ein eigenes Kapitel deutscher Kulturgeschichte, nicht glanzvoll und heiter wie auf anderen deutschen Universitäten, sondern ernst und der Verantwortung als Außenposten deutschen Volkstums bewußt und doch voll besonderen Übermutes und jugendlichen Kraftbewußtseins. Schon ehemals mußte sich das Leben des deutschen Studenten in Winkel- oder Vorstadt-Kneipen, wie die ›Kaisermühle‹, flüchten, aber es entwickelte sich dort zu einer unbekümmerten Eigenart. Keipen wie ›Vaclavbude‹ und ›Schipkapaß‹ [...] sind verkommen oder ganz verschwunden und vor kurzem erst hat das neue Prag eine der letzten alten Stätten abzuräumen begonnen, die ›Gifthütte‹. (Strobl 1931: 16)

Neben dieser Verdrängung des deutschen Elements aus dem zentralen Stadtraum beobachtet Strobl anhand mehrerer Orte auch die kulturelle Umcodierung desselben.

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Als hierfür signifikant führt er z.B. zu der Statue des gepanzerten Ritters mit Schild und Schwert, ein Symbol des Prager Stapelrechts auf der kleinseitner Seite der Karlsbrücke, aus: »Die Überlieferung des Volkes, das die deutsche Rechtssymbolik der Rolandsäule nicht verstand oder nicht verstehen wollte, nennt sie Brunswik-Säule,14 nach einem Helden der Sage, der hier sein Schwert in die Moldau versenkt haben soll, um es in Tagen der Not wieder auftauchen zu lassen.« (Strobl 1931, 22) Das Symbol der rechtlichen Ordnung und Selbstverwaltung wird verwandelt in ein Zeichen für die Sage über eine wunderbare, von außen kommende Errettung der (tschechischen) Gemeinschaft aus der Not – Strobl formuliert den Unterschied offensichtlich zugunsten der kulturell weiter fortgeschrittenen und historisch früheren Codierung. Eine überarbeitete und erweiterte Version seiner Broschüre über Prag erschien 1939 im Wiener nationalistischen Luser-Verlag unter dem Titel Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt; Strobl leitete zu der Zeit (seit Dezember 1938) die Wiener Zentrale der Reichsschrifttumskammer. Hier fällt eine Radikalisierung der nationalen Wertungen und ihre massive Anwendung auf die Prager Geschichte auf. Beispielsweise wird die Teilung der Prager Universität 1409 folgendermaßen besprochen: Was deutscher Geist und deutscher Fleiß durch Jahrhunderte in Böhmen aufgebaut hat, wurde in wenigen Jahrzehnten zertrümmert, und über der deutschen Geschichte schwebte, von Prag ausgesendet, eine düstere rote Glutwolke. Die Prager Universität aber verödete, verfiel und wurde auf lange Zeit völlig bedeutungslos für Europa, weil sie im Bann beschränkter, nationaltschechischer Unduldsamkeit stand. (Strobl 1939: 17)

Die wiederholte Kontrastfigur der deutschen kulturellen Produktivität und der tschechischen Destruktivität oder parasitären Aneignung bekräftigt die ›Ursprünglichkeit‹ des deutschen Elements. Dabei greift Strobl auch auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchliche Metapher des saxa loquuntur zurück:15 die Steine des urbanen Raums sprechen selbst – und Strobl ist es wichtig, in mehreren Passagen darauf wörtlich hinzuweisen, dass die Prager Steine deutsch sprechen (zumindest diejenigen der gotischen und barocken Bauwerke) allerdings mit der schlichtesten Begründung

14 Die tschechische Buncvík-Legende, eine Kombination der Überlieferungen über Heinrich den Löwen und des Ywein-Stoffes, schreibt diesem angeblichen tschechischen Fürsten den Erwerb des Löwen als böhmisches Wappentier und die Rolle eines eschatologischen Erretters des Landes zu. 15 So äußerte sich in den alten Prager Stadtteilen z.B. für Alfred Klaar »der unverwischbare deutsche Charakter einer großen Vergangenheit, der unverkennbar zu den Sinnen spricht« (DAB 1900: 447).

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durch die ethnische Herkunft ihrer großen Schöpfer, Peter Parler und der beiden großen Dientzenhofer. Die Architektur selbst verkündet somit für Strobl ihre essentielle Deutschheit. Noch deutlicher als in Strobls erstem Prag-Büchlein tritt der romantisierende Blick auf die Altstadt hervor: »diese Ineinanderschachtelung von Häusern, das Überschneiden der Dächer, die malerische Winkeligkeit, die gepreßte und doch behagliche Enge« (Strobl 1939, 34). Und gerade mit der Spannung zwischen den deutsch und den tschechisch geprägten Teilen bzw. Schichten Prags begründet Strobl den Eindruck der immerwährenden Uneinholbarkeit und Alterität der Stadt, der mehrmals mit dem Topos des ›magischen Prags‹ zusammenfällt: Denn Prag ist eine Stadt der Geheimnisse, eine magische Stadt der hundert wechselnden Gesichter. Wenn man in eines von ihnen hineinschaut, um seine Züge zu erforschen, dann ist es, als beuge man sich über ein dunkles, verzaubertes Wasser. Man glaubt zuerst die Spiegelbilder der wirklichen Dinge zu sehen, der Häuser, der Bäume am Ufer [...], aber dann zerfließt dies alles, ein Gesicht taucht aus der Tiefe auf. Es ist nicht unser eigenes Gesicht, das wir erblicken, es ändert seinen Ausdruck von lockender Verheißung zu wilder Feindseligkeit, es starrt mit drohender Fremdheit zu uns empor, es scheint das Gesicht der Tiefe aus der Ferne der Zeiten. (Strobl 1939: 64)

Die »wirklichen Dinge« des realen Stadtraums fügen sich für den Erlebenden dank der Vielfalt konkurrierender Prag-Narrative und symbolischer Zuschreibungen nicht in ein durch Raumaneignung entstandenes Sinnganzes (»Gesicht«), sondern stellen eine verwirrende Vielfalt wechselnder Gesichter dar. Strobl fasziniert diese ›magische‹ Ambivalenz, dennoch versteht er ihre Ursache, die Plurikulturalität, als Verfremdung. In der Geschichte sowie in der Gestaltung des Stadtraums bedeutet sie immer wieder eine Bedrohung und Barbarisierung. Somit stellt sie einen Störfaktor dar – welches aber in einem gleichsam eschatologischen Finale schließlich kultiviert werden konnte: Prag ist eine seltsame und unergründliche Stadt, der vom Schicksal eine magische Kraft verliehen worden ist. Wer dieser Stadt einmal in die Augen gesehen hat, der ist dazu verdammt, sie zu lieben [...]. Aber es ist für uns eine unglückliche Liebe gewesen. Durch Jahrhunderte hat das deutsche Volk tausendfach mit seinen besten Kräften um Prag geworben, um nichts als Haß dafür zu empfangen. Nun ist uns in diesen Tagen durch die Tat des Führers das Wissen gegeben, daß es anders wird. (Strobl 1939: 66)

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3. F RANK W ARSCHAUER : P RAG

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(1937)

Auch Frank Warschauer blickte als Fremder auf Prag, wo er die Jahre 1934-1938 als antifaschistischer Emigrant verbrachte. In den 1920er- und 1930er-Jahren war er in Deutschland als Fotograf und Kulturtheoretiker bekannt, verfasste medientheoretische Texte und Beiträge für und über den Rundfunk,16 äußerte sich als Schallplatten-, Theater-, Literatur- und Filmkritiker.17 Als Spezialist für Kritik in/an den neuen Medien hat er auch seinen vermutlich ersten Besuch in Prag im September 1930 gemacht, als er am Kongress der »Internationalen Kritiker-Konföderation« (neben Paul Eisner, Otokar Fischer, Jan Löwenbach u.a.) teilnahm. Seine kritischen Texte erschienen insbesondere in der Vossischen Zeitung und in der Weltbühne (unter dem Pseudonym Frank Aschau); während der Prager Exilzeit in den 1930er-Jahren auch in tschechischen Zeitschriften, v.a. in Ferdinand Peroutkas kulturpolitischer Revue Přítomnost18 oder auch in České slovo. Im April 1937 hat er als Editor Beiträge von sieben Autoren versammelt und im Prager Verlag Orbis19 im Band Prag heute herausgegeben. Neben Warschauers einleitendem Essay Prag heute sind Texte von Paul Eisner (»Zwei Literaturen und ein Argot«), Willy Haas (»Das geheime Prag«), Ernst Renaud (»Film in Prag«), Otokar Fischer (»Eigenes und Fremdes in unserem Schauspiel«) und Anna J. Patzaková (»Über die tschechische Oper«) enthalten. Illustriert

16 Vgl. etwa seine Aufsätze über die Technisierung der Kunst (Warschauer 1930a) oder über die Rolle der Oper im Rundfunk (Warschauer 1929a). 17 Z.B. wurde Warschauers Essay »Rundfunk heute und morgen« in die repräsentative Anthologie deutscher Publizistik Fazit von Ernst Glaeser aufgenommen (Warschauer 1929b). Warschauer wurde in eine jüdische Familie in Darmstadt geboren und seit der Münchener Studienzeit war er mit Bertold Brecht und Hedda Kuhn befreundet. Brecht hat er bei dessen ersten Besuchen in Berlin 1920 und 1921/22 in seiner Wohnung untergebracht und ihm Kontakte zu Schriftstellern und Schauspielern vermittelt (Brecht 2000: 400). Eine entschiedene Polemik Warschauers löste im Sommer 1930 Brechts Der Jasager aus, den Warschauer als Verteidigung des Kadavergehorsams kritisierte (Warschauer 1930b). Warschauers expressionistische Gedichte der frühen 1920er-Jahre wurden in der Auswahl Asphaltgesicht (Warschauer 2000) versammelt. 18 Z.B. sein Artikel »Německý antikrist« (»Der deutsche Antichrist«) über die Position der christlichen Kirchen in NS-Deutschland und die nationalsozialistischen christlichen Bewegungen (Warschauer 1935), eine anonyme Umfrage unter den deutschen Emigranten »Emigranti o nás« (»Die Emigranten über uns«, Warschauer 1936a) und eine Kritik am steigenden arabischen Nationalismus im Artikel »Arabové proti Židům« (»Die Araber gegen die Juden«, Warschauer 1936b). 19 Orbis stand der tschechoslowakischen Regierung nahe und gab u.a. auch die Zeitung Prager Presse heraus.

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wurde das Buch von Adolf Hoffmeister, Vlastimil Rada, Emil Weiss und Ludwig Wronkow. Bereits diese Mitarbeiterliste signalisiert eine durchaus repräsentative Auswahl der Prager deutschen und tschechischen, antifaschistisch gesinnten Journalisten, Übersetzer und Kulturhistoriker. In dem titelgebenden Essay zeichnet Warschauer ein Bild von Prag, das von den bis in die 1930er-Jahre üblichen Darstellungsmustern in der deutschsprachigen Publizistik abweicht. Weder das alte, traditions- oder magieträchtige noch das neue, vom tschechischen Element getragene moderne Prag wird dabei bevorzugt: »[D]as Prag der Kleinseite, der Altstadt, der mythisch ragenden Burg, der Kirchen und bizarr geborenen Gassen ist […] ein Glück und ein Märchen, das neue eine Überraschung für jeden, der seine Entwicklung nicht ununterbrochen miterlebte.« (Warschauer 1937: 8) Nicht der Gegensatz (wie bei Strobl) oder die kontrastvolle Spannung (wie bei Schürer) zwischen dem Alten und dem Neuen, sondern ihre gegenseitige Zugehörigkeit und Durchdringung werden unterstrichen: so kennt man viele Städte, wenn man durch ihre Hauptstraßen geht und ein paar Sehenswürdigkeiten ›erledigt‹ hat. Prag aber ist eine Stadt der Vielfalt und der Geheimnisse: sein uraltes Antlitz ist ebenso schwer zu ergründen wie sein neues. Alles wird hier, wie im Märchen, vielgestaltig und schwer durchdringbar; selbst die modernsten Häuser am Wenzelsplatz sind verzwickte Labyrinthe […] und wenn man auch Jahre und Jahre hier lebt, so findet man doch immer wieder Neues im Alten oder Altes im Neuen, es ist, wie wenn man ein Vexierbild betrachtet: und schließlich bleibt das Rätsel doch ungelöst. (Warschauer 1937: 8)

Die »uralte, die tausendjährige Stadt« sei dieselbe, die als »eine der jugendkräftigsten in Europa« gelten könne – und mit »Europa« ist auch ein völlig unterschiedlicher Bezugsrahmen eröffnet als mit »Nation« oder »Nationalkultur«. Den höchsten Repräsentationswert schreibt Warschauer dem Wenzelsplatz zu,20 welcher in seiner Darstellung nicht für das moderne Prag steht (wie es bei Schürer der Fall ist), sondern für eine Vielfalt, die u.a. das Neue mit dem Alten verknüpft: »Welch drolliges Durcheinander auf diesem Platz – von Bäuerlichem und Städtischem, von Mondänem und Volkstümlichen, von Gestrigem und Heutigem; und immer wieder spürt man dabei die Kraft, die Gegenwart zu bewältigen und sie in eine lebendige Entwicklung zu verweben.« (Warschauer 1937: 11) Prag wird damit als eine Stadt der produktiven

20 Koeltzsch (2012: 269) erwähnt außer Warschauer noch die Reisereportage von Zvi Hirsch Wachsmann Gute Nachbarschaft (Wien 1937, orig. Jiddisch-Ausgabe In land fun Maharal un Masaryk, 1936) als weitere deutschsprachige Darstellung, die das moderne Prag vom Zentrum um den Wenzelsplatz ausgehend lobt.

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Vielfalt präsentiert; im Unterschied zu Schürers Darstellung wird diese Vielfalt jedoch nicht als Konfrontation kultureller Wesenheiten gedacht, sondern Warschauer setzt die Vielfalt bereits an den Anfang. Warschauers Abkehr von der Zonen- und Schichtenlogik bezeugt auch seine Vorliebe für Räume, die prinzipiell nichts anderes leisten können, als ein ›Dazwischen‹ oder ›Darunter‹ zu etablieren und diese Logik zu unterlaufen: »Seit Jahrhunderten gibt es in Prag die ›Durchhäuser‹: wie ihr kurioser Name sagt, kann man durch sie hindurch von einer Gasse in die andere gelangen. In ihren Gängen und Höfen placierte man die Auslagen von Kleinhändlern und Handwerkern.« (Ebd.: 11) Warschauer bemerkt, dass den Durchhäusern in manchen bisherigen Prag-Darstellungen Aufmerksamkeit geschenkt wurde – und verweist auf Egon Erwin Kischs Abenteuer in Prag (1920), wo der ›rasende Reporter‹ die Bezeichnung »Gassenbuben« zurückweist und sich als »Antigassenbuben« bezeichnet, ja, als »Durchhäuserbuben«, denn »[u]nser Sinnen geht nur dahin, ein Hintertürchen zu entdecken, durch das sich plötzlich der Eingang in eine neue Welt öffnet […]« (Kisch 1920: 73). Ein ähnliches »Baumotiv« hebt Warschauer in der Neustadt um den Wenzelsplatz hervor: »aber in Dur: aus den Durchhäusern wurden die modernen Passagen. Der richtige ›alte Prager‹ sieht die scheel an.« (Warschauer 1937: 11) Das trifft tatsächlich auch für Kisch sowie Havránek zu, aber nicht für Warschauer, der die modernen Passagen nicht minder abenteuerlich und nicht minder konstitutiv für das Prag-Erlebnis findet. Auch deswegen, weil sie nicht nur Querverbindungen von Straßen und Innenräumen schaffen, sondern auch eine neue Dimension der Stadt abseits der ›Ordnung des Tages‹ eröffnen: Aus manchen Passagen führen Gänge in die Tiefe; man klettert durch sie hinunter wie in einen Schacht, findet aber unten Kinos, Konzertsäle, Theater – manchmal drei Stockwerke unter der Erde. Wieder ist hier ein altes Baumotiv mit Zähigkeit festgehalten und den Anforderungen dieser Zeit angepaßt; denn Prag war immer eine Stadt, die hunderttürmig hoch nach oben ragte und gleichzeitig tief hinabstrebte. (Ebd.: 13)

Das unterirdische Prag sei seit jeher der Raum der subversiven Kräfte gewesen: Dort, wo sich die Kellergänge »zu Sälen weiten, fanden Veranstaltungen statt, die oben auf der Erde verboten waren« (ebd.). Das besagen Legenden über die Geheimtreffen der Tempelritter nach der Auflösung ihres Ordens 1312 – und Warschauer inszeniert das avantgardistische Kulturleben als deren Nachfolger, beispielsweise das hochlobend besprochene Theater D 37 von Emil František Burian, das in einem Souterrainsaal in der Strasse Na Poříčí siedelte (heute Divadlo Archa). Warschauers Darstellung geht also vom Zentrum aus, welches als Raum der Vielfalt bestimmt wird. Als weitere Konstituenten des urbanen Raums setzt er diejenigen Orte, die in der üblichen Wahrnehmung nur als Grenzüberschreitungsorte oder – im Falle der unterirdischen Räume – gleichsam als Heterotopien des ›normalen‹ Raums

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gelten. Von anderen räumlichen, architektonischen Aspekten des urbanen Gesichts Prags (konkrete Sehenswürdigkeiten, Denkmäler etc.) wird kaum gesprochen. So konstruiert Warschauer Prag prinzipiell als eine Stadt, die schon in ihrem urbanen Grundriss stete Aufhebung kultureller Grenzziehungen anregt – gleich ob politischer, künstlerischer oder nationaler Natur – eine Stadt, die schon in ihrer Urbanität interund ›unter-‹kulturell ist. Außerdem fallen Warschauer die besonders vielen »Fenster in die Welt« (ebd.: 27) auf, die zu Prag untrennbar gehören – insbesondere das Fenster in die deutschsprachige Kultur oder in den »Osten« und Süden Europas. Warschauer schließt daher ab: »Der Zusammenbruch Österreichs, die Entstehung Sovjetrußlands [sic] und der neuen Staaten im Osten hat eine neue Situation geschaffen, die sich besonders stark in Prag auswirkt. […] Die alte Funktion Prags, ›Kreuzweg der Völker‹ zu sein, aber auch die ›Turmuhr der Welt‹, setzt sich wieder durch.« (Ebd.: 31f.) In dieser Funktion wird Prag zum mitteleuropäischen Brennpunkt epochemachender Umwälzungen und in diesem Sinne auch für Warschauer zu einer Schicksalsstadt – nicht weil hier Kämpfe auszufechten sind, sondern weil es ein Modell darstellt, Spannungen und Unterschiede zu integrieren. Der Übersetzer, Philologe und Publizist Paul Eisner steuerte zu Warschauers Band den Beitrag »Zwei Literaturen und ein Argot« bei, in dem zwar keine Hinweise auf den Charakter des Prager Stadtraums zu finden sind, jedoch immerhin auf ein räumlich schematisiertes Kulturmodell. Die zuerst vorgestellte tschechische Literatur schöpfe aus dem unmittelbaren Kontakt mit der tschechischsprachigen Peripherie und der Prager Unterschicht, deren Argot als die dritte Kultursprache Prags vorgestellt wird. Eisner kontrastiert damit die vom entsprechenden Substrat nicht genährte deutschsprachige Kultur – eine Figur, die in seiner später ausformulierten These vom ›dreifachen Ghetto‹ der Prager deutschen Literaten wiederkehrt. Von diesem grundlegenden soziokulturellen Aspekt ausgehend wird der Geist der hier entstehenden deutschsprachigen Literatur geprägt: auf den Wegen des Prager Erlebnisses, der Prager Symbiose entstehen die einzigen drei dichterischen Lebenswerke, die aus der sudetendeutschen Literatur in die Weltliteratur eingegangen sind: Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel. Braucht es noch Worte der Rühmung für den Genius einer Stadt, der in zwei Sprachen, in zwei Literaturen in alle Ewigkeit so fortzeugend fortwirkt? (Warschauer 1937: 45)

Mit dem Essay »Das geheime Prag« beteiligte sich auch der 1933 nach Prag reemigrierte Willy Haas an dem Band Warschauers. Mit seinem Text wollte er Impressionen des ›eigentlichen‹ Prag präsentieren, das den Reiseführer-Sehenswürdigkeiten entgegengestellt werden könne. Als der zentrale Nerv des urbanen Raums werden, ähnlich wie bei Warschauer oder Kisch, gewöhnlich versteckte, unscheinbare Orte hervorgehoben: die Pawlatschenhöfe, die das »südliche« Temperament der Stadt verraten:

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Man wird sich [in den Höfen] oft geradezu nach Italien versetzt fühlen. Ringsum läuft die ›Pawlatsch‹, ein offener balkonartiger Gang, in dem das Treppenhaus und die Wohnungseingänge münden, aber auch die Fenster der Küchen, Kammern und Hinterzimmer. Sie ist der Mittelpunkt des inneren Lebens dieses Hausorganismus, ihr Puls- und Herzschlag. Hier werden Teppiche geklopft, Wäsche getrocknet und Schuhe geputzt, die Köchin rührt ihren Teig ein, die Kinder spielen miteinander […]. (Warschauer 1937: 1958)

Hier zeige sich »das Kollektivistische, Öffentliche, Südliche der Prager kleinbürgerlichen Bevölkerung« (ebd.), welches sich in den neuen Arbeitersiedlungen aus Beton nach dem »Stil Le Corbusier« zu verlieren scheint. Trotzdem sind auch dort Fragmente der alten Pawlatsche zu entdecken: Petroleumkanne, altes zerschlissenes Sofa im Hof… »Prag bleibt Prag, trotz Beton, Glas, Chromnickelstahl« (ebd.: 60). Wie Koeltzsch bemerkt, handelt es sich in diesem Text von Haas um eine Art »Urbanisierungs-Folklorismus«21, weil hier das ursprüngliche Lokale dem neuen Mondänen entgegengestellt und mit der »Stadt als solche[r]« (Warschauer 1937: 51) identifiziert wird. Diese wertende Tendenz ist bei Haas (anders als bei Warschauer) tatsächlich spürbar. Es sei jedoch unterstrichen, dass sich Haas nicht nostalgisch nach einem schwindenden autochthonen Prag einer oder mehrerer Ethnien oder sozialer Schichten zurücksehnt, sondern Prag preist als »Stadt für ziellose Spaziergänger, für Menschen, die Zeit haben, für offene Augen und offene Herzen« (ebd.). Das heißt, dass er Prag als einen spezifischen Kommunikationsraum sieht, für dessen Wahrnehmung eine bestimmte Einstellung des Rezipienten notwendig ist. Die Pawlatschenhäuser und Hinterhöfe stellen dann eine architektonische Form dar, die eine besondere Durchdringung des privaten und öffentlichen Raums auszeichnet. Das eigentliche Prag wird somit auf eine Gemeinschaftsform zurückgeführt, die in der alten Pawlatsche einen repräsentativen Ausdruck und räumlichen Rahmen gewinnt. Das Prag der Deutschen, Tschechen und Juden tritt bei Haas überhaupt nicht auf; trotzdem ist von keiner tschechischen Monokultur die Rede – von Prag nicht wegzudenken sind ja die eingehend beschriebenen mährischen, slowakischen, karpathenrussischen Händler und Marktweiber. Fast scheint es, als ob hier ein deutschböhmischer Schriftsteller ein Plädoyer für einen slawischen Multikulturalismus in der Tschechoslowakischen Republik abgibt.

21 Koeltzsch (2012: 264) übernimmt diesen Begriff aus Gottfried Korffs Analyse der BerlinDarstellungen bei Heinrich Zille und Hans Ostwald (Korff 1985).

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4. ANSPRACHE

DER

V IELFÄLTIGKEIT

Jeder der hier besprochenen Texte entwirft die Situation Prags anders – sowohl hinsichtlich der Darstellung des alltäglichen Lebens und seiner Schwerpunkte im Stadtraum (oder, näher an Lefebvre formuliert, Darstellung der alltäglichen räumlichen Praxis) als auch hinsichtlich der variierten oder neu modellierten Repräsentationen des Raums und der Wiedergabe der (mit unterschiedlichen symbolischen Zuschreibungen ausgestatteten) Repräsentationsräume. Keiner der Texte bietet eine wissenschaftliche (Re-)Konstruktion des urbanen Raums, keiner will bloß den Informationsbedarf bedienen. Vielmehr haben sie immer etwas von dem eingangs zitierten Gedicht Frieds: auch sie versuchen eine Art »Ansprache der Stadt« zu vermitteln, d.h. eine persönliche Stellungnahme und eine Appellintention im Kontext der zeitgenössischen historischen Situation. Als nicht wegzudenkender Aspekt dieser »Ansprache« erscheint dabei – in sehr unterschiedlichen Beleuchtungen – das Phänomen der Plurikulturalität Prags. Während sie für Strobl zwar das Besondere des »Magischen« begründet, wird sie dennoch in der globalen Wertung eher in ihrem Bedrohungspotenzial (Dominanz der Tschechen) aufgegriffen und mit der Rückkehr in die Hände des »deutschen Volks« angeblich zurückkorrigiert. Bei Schürer handelt es sich um eine prinzipielle Wertschätzung der Produktivität einer spannungsvollen Überlagerung kultureller Wesenheiten, die den Prager Raum bestimme – jedoch immer noch vom Standpunkt einer Kulturbetrachtung, die von homogenen Essenzen ausgeht. In Warschauers Band wird mit der Begeisterung für Durchhäuser, Passagen und Pawlatschenhöfe der Charakter des Stadtraums anders perspektiviert – von den Räumen der Durchdringung und der Überwindung jeglicher Zonenschematik her. Dass Frank Warschauer am 18. Mai 1940, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, in Naarden Selbstmord begangen hat (Wronkow 1940), mag unter anderem als ein Zeichen dafür verstanden werden, dass ein derartiger Blick auf Prag für lange Zeit undenkbar geworden war.

L ITERATUR Brecht, Bertolt (2000): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 27. Hg. von Werner Hecht et al. Berlin / Frankfurt a. M. Brechler, Otto (1911): Das geistige Leben Prags vor hundert Jahren. In: Deutsche Arbeit 10, H. 6, S. 329-343. Brosche, Wilfried (1969): Oskar Schürer 22.10.1892-29.4.1949. In: Bohemia 10, S. 430-445. DAB (1900) = Bachmann, Hermann (Hg.): Deutsche Arbeit in Böhmen, Berlin. Dilthey, Wilhelm (1997): Psychologie [1883/84]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 21: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Erster Teil: Vorlesungen zur

O RGANISCHER S TADTKÖRPER

ODER

D URCHHÄUSERSTADT

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Psychologie und Anthropologie. Hg. von Guy van Kerckhoven u. Hans-Ulrich Lessing. Göttingen, S. 199-248. Fried, Norbert (1933): Prag spricht dich an. Eine lyrische Reportage. Böhmisch Budweis. Fehr, Götz (1942): Oskar Schürer: Prag. Kultur – (Kunst –) Geschichte. 3. veränderte Auflage, Georg D.W. Callwey Verlag, München, Rudolf Rohrer Verlag, Brünn. In: Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte 5, Nr. 4 (20.07.1942), S. 346f. Fuhrmeister, Christian (2005): Optionen, Kompromisse und Karrieren. Überlegungen zu den Münchener Privatdozenten Hans Gerhard Evers, Harald Keller und Oskar Schürer. In: Nikola Doll / Christian Fuhrmeister / Michael H. Sprenger (Hg.): Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950. Weimar, S. 219-242. Gadamer, Hans Georg (1952): Gedächtnisrede auf Oskar Schürer. Darmstadt. Havránek, Edgar (1939): Neznámá Praha. 2 Bde. Praha. Kisch, Egon Erwin (1920): Abenteuer in Prag. Wien / Prag / Leipzig. Kisch, Egon Erwin (1942): Deutsche und Tschechen. In: Ders.: Marktplatz der Sensationen. Mexico City, S. 72-81. Koeltzsch, Ines (2012): Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdischen Beziehungen in Prag (1918-1938). München. Korff, Gottfried (1985): Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur »inneren« Urbanisierung. In: Theodor Kohlmann / Hermann Bausinger (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. Berlin, S. 343-361. Kröschlová, Eva (2012): Pražská léta Oskara Schürera (1924-1937). K 120. výročí narození německého básníka a historika umění. 7 S. URL: http://www.franzkafka-soc.cz/clanek/120-vyroci-narozeni-oskara-schurera [16.08.2017]. Kropáček, Jiří (2003): Oskar Schürer. Stodeset let od narození monografa Prahy. In: Historica Pragensia: historický sborník Muzea hlavního města Prahy. Praha, S. 365-369. Lefebvre, Henri (2006): Die Produktion des Raumes. In: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M., S. 330-342. Maschke, Marta (2003): Der deutsch-tschechische Nationalitätenkonflikt in Böhmen und Mähren im Spiegel der Romane von Karl Hans Strobl. Berlin. Pešina, Jaroslav (1939): Německé články, popírající autochtonnost českého umění. In: Český časopis historický 45, Nr. 2, S. 378-379. Schürer, Oskar (1926): Die Baugeschichte der Klosterkirche zu Haina. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1926/2, S. 91-170. Schürer, Oskar (1928): Moderne deutsche Kunst in der Tschechoslowakischen Republik. In: Československé výtvarné umění 1918-1928, výstava soudobé kultury v Brně. Brno, S. 22-24. Schürer, Oskar (1930): Prag. Kultur – Kunst – Geschichte. Wien / Leipzig.

342 | ŠTĚPÁN Z BYTOVSKÝ

Schürer, Oskar (1939): Prag. Kultur – Kunst – Geschichte. Dritte veränderte Auflage. München / Brünn. Schürer, Oskar (1997): Das dichterische Werk. Hg. u. eingel. v. Armin Strohmeyr. Augsburg. Stašková, Alice (2007): Geschichte und polemos: Schiller, Palacký, Patočka. In: Dies. (Hg.): Friedrich Schiller und Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte. Heidelberg, S. 207-234. Strobl, Karl Hans (1931): Prag. Geschichte und Leben einer Stadt. Prag. Strobl, Karl Hans (1931b): Das Bilderbuch Prag. Kultur, Kunst, Geschichte. In: Neue Freie Presse 18.01.1931, S. 36. Strobl, Karl Hans (1939): Prag. Schicksal, Gestalt und Seele einer Stadt. Wien. Šetelík, Jaroslav (1932): Praha. Begleittext von Dr. F. X. Harlas. Praha. Trapp, Gerhard (2001/2002): Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil, 1924-1949. In: Brücken: Germanistisches Jahrbuch Tschechien-Slowakei. Neue Folge 9/10, S. 257-280. Urzidil, Johannes (1930): Schürer, Oskar: Prag. Kultur, Kunst, Geschichte. In: Slavische Rundschau 2, Nr. 8, S. 603-604. Warschauer, Frank (1929a): Die Zukunft der Oper im Rundfunk. In: Musikblätter des Anbruch. Monatsschrift für moderne Musik 11, H. 6, S. 274-276. Warschauer, Frank (1929b): Rundfunk heute und morgen. In: Ernst Glaeser (Hg.): Fazit. Ein Querschnitt durch die deutsche Publizistik. Hamburg, S. 303-307. Warschauer, Frank (1930a): Die Zukunft der Technisierung. In: Leo Kestenberg (Hg.): Kunst und Technik. Berlin, S. 409-446. Warschauer, Frank (1930b): Nein dem Jasager! In: Die Weltbühne 26, H. 28, S. 71. Warschauer, Frank (1935): Německý antikrist. In: Přítomnost 12, Nr. 28, 24.07.1935, S. 457-460. Warschauer, Frank (1936a): Emigranti o nás. In: Přítomnost 13, Nr. 1, 08.01.1936, S. 4-6. Warschauer, Frank (1936b): Arabové proti Židům. In: Přítomnost 13, Nr. 23, 10.06.1936, S. 358-361. Warschauer, Frank (1936c): Alter und neuer Territorialismus. In: Jüdische Revue 1, September, S. 16-20. Warschauer, Frank (1937) ( Hg.): Prag heute. Prag. Warschauer, Frank (2000): Asphaltgesicht. Gedichte 1923-24. Hg. v. Helmut Kreuzer u. Ingrid Meemken. Siegen. Wirth, Zdeněk (1932): Praha v obraze pěti století. Praha. Wronkow, Ludwig [L. W.] (1940): Frank Warschauer gestorben. In: Aufbau 6, Nr. 35, 30.08.1940, S. 16.

Autorinnen und Autoren

Escher, Georg (lic. phil.) ist Universitätsdozent für Tschechisch am Slavischen Seminar der Universität Basel und beschäftigt sich mit literarischen Stadtdarstellungen, deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen, tschechischer Literatur des 20. Jahrhunderts und der Didaktik des Zweitspracherwerbs. Ifkovits, Kurt (Dr.), Germanist, Kurator am Theatermuseum Wien (Handschriftensammlung), beschäftigt sich mit der Wiener Moderne, besonders Hermann Bahr, sowie den tschechisch-deutschen Kontakten in der k.u.k. Monarchie. Ausstellungen und Publikationen u.a. zu Gustav Klimt, Richard Teschner, Paula Wessely. Herausgeber von Bahrs Texten, zuletzt: Tagebuch aus dem „Neuen Wiener Journal“ 19271931 sowie (mit Martin Anton Müller) Hermann Bahr – Arthur Schnitzler. Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891-1931. Janka, Kathrin studierte Russisch, Tschechisch, Osteuropäische Geschichte, Germanistik und Komparatistik an der FU Berlin, an der Karls-Universität Prag und in Potsdam. 2002-2007 Mitarbeiterin der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, Herausgeberin des Bandes Geraubte Leben. Zwangsarbeiter berichten (2008). 2010/2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Excellenzcluster „Grundlagen kultureller Integration“ in Konstanz. Lebt und arbeitet als freie Literaturübersetzerin, Lektorin, Sprachlehrerin und Literaturvermittlerin in Berlin und Brandenburg. Krappmann, Jörg (Doc., Ph.D.) ist Stiftungsprofessor des BKM am Institut für Deutsche Philologie der Palacký Universität Olmütz und Leiter der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur. Neben der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte der Böhmischen Länder gehören die literarische Phantastik, die philosophischen Grundlagen der Moderne und die kulturelle Übersetzung zu seinen Forschungsinteressen.

344 | P RAGER M ODERNE (N )

Nekula, Marek ist Professor für Bohemistik und Westslavistik an der Universität Regensburg und Leiter des Bohemicum Regensburg-Passau. Neben der Sprachwissenschaft forscht und publiziert er zur tschechischen und deutschen Literatur und zu nationalen und transnationalen Erinnerungskulturen. Zuletzt erschienen sind seine Bücher Franz Kafka and his Prague Contexts: Studies in Language und Literature (2016) und Tod und Auferstehung einer Nation: Der Traum vom Pantheon in der tschechischen Literatur und Kultur (2017). Petrbok, Václav (Ph.D.) promovierte über die tschechisch-deutsch-österreichischen Literaturbeziehungen in der Frühen Neuzeit. Am Institut für tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften Tschechiens leitet er das neu gegründete germanobohemistische Team. Er beschäftigt sich mit den deutschsprachig-tschechischen Kulturbeziehungen des 18.-20. Jhs. (literarische Mehrsprachigkeit, Kulturvermittlung, Literaturkritik in den Böhmischen Ländern) und mit der Geschichte der Germanistik und Bohemistik (2016 Band über Arnošt Vilém Kraus mit einleitender Studie). Randák, Jan (Ph.D.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte Tschechiens der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Seine Forschungsinteressen umfassen Geschichtspolitik und Gedächtniskultur, Neuere und Zeitgeschichte, tschechische Nationalbewegung, historische Mythen der modernen tschechischen Gesellschaft. Schübler, Walter (Mag. Dr.), Publizist mit Schwerpunkt Biografik, lebt in Wien. Arbeitet seit 2005 über Werk und Vita Anton Kuhs. Herausgeber der Werke Kuhs (7 Bde., Göttingen 2016). Seine Monografie über den „Sprechsteller“ erscheint im Frühjahr 2018 ebenfalls im Wallstein Verlag. Tuckerová, Veronika (Ph.D.) lehrt an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Ihre Forschungsinteressen gelten der Slawistik und der Germanistik, Franz Kafka, der mehrsprachigen Literatur, der Übersetzungstheorie und -praxis, und der Samizdat-Kultur in der Tschechoslowakei. Ihr letzter Aufsatz „The Archeology of Minor Literature: toward the Concept of the Ultraminor“ wurde im Journal of World Literature veröffentlicht. Vojtěch, Daniel (Doc., Ph.D.) lehrt tschechische Literatur am Institut der tschechischen Literatur und Komparatistik der Karlsuniversität in Prag. Er widmet sich besonders der Geschichte der modernistischen Bewegungen in Zentraleuropa, der Geschichte der Literaturkritik und den Kreuzungen von Literatur- und Ideengeschichte. Weinberg, Manfred (Prof. Dr.) lehrt neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für germanische Studien der Karls-Universität in Prag. Er ist Leiter der Kurt

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur sowie Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik. Seine Forschungsinteressen sind die deutsche Literatur Prags und der Böhmischen Länder, Inter-/Transkulturalität, Gedächtnis/Erinnerung sowie Literaturtheorie. Wutsdorff, Irina (PD Dr.), lehrt Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. Als Juniorprofessorin für Transkulturelle Ostmitteleuropastudien initiierte und leitete sie in Tübingen eine kleine Forschungsgruppe zu Prager Moderne(n) in komparatistischer Perspektive. Ihre sonstigen Forschungsinteressen gelten den philosophischen Implikationen der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, der Literatur und Kultur der Jahrhundertwende und der (v.a. tschechischen) Avantgarde sowie der (Verflechtungs-)Geschichte von Literatur- und Kulturtheorien. Zbytovský, Štěpán (Ph.D.), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für germanische Studien der Karls-Universität in Prag. Neben der deutschsprachigen Literatur in den Böhmischen Ländern gehören die kulturelle Übersetzung, der deutsche Expressionismus und die literarische Mythos-Rezeption zu seinen Forschungsinteressen. Mit Schamma Schahadat gab er 2016 den Band Übersetzungslandschaften heraus. Zschunke, Lena (M.A.) arbeitet als Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks und Mitglied des PhD-Nets „Das Wissen der Literatur“ an der Humboldt-Universität zu Berlin an ihrer Dissertation über moderne Angelophanien.

Literaturwissenschaft Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart Mai 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Solvejg Nitzke

Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne Mai 2017, 358 S., kart. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3657-4 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3657-8

Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 € (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 1 August 2017, 208 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3817-2 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3817-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de